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Erster Vicksburg-Feldzug
= Erster Vicksburg-Feldzug = Der erste Vicksburg-Feldzug (2. November 1862 bis 29. März 1863) war eine gescheiterte militärische Operation der Nordstaaten während des Amerikanischen Bürgerkrieges auf dem westlichen Kriegsschauplatz. Der Feldzug fand beiderseits des Mississippi in den Bundesstaaten Mississippi, Arkansas und Louisiana statt. Ziel des Feldzuges war, den Mississippi militärisch und wirtschaftlich uneingeschränkt nutzen zu können. Durch die Eroberung der Stadt Vicksburg, Mississippi hätte dieses Ziel erreicht werden können. Es gelang der Tennessee-Armee unter Generalmajor Ulysses S. Grant in einer Serie von Schlachten, Gefechten und Umgehungsoperationen jedoch nicht, die Stadt zu erobern. == Vorgeschichte == Abraham Lincoln war davon überzeugt, dass die Festungsstadt Vicksburg der Schlüssel zum Sieg im amerikanischen Bürgerkrieg sein könnte. Vicksburg und Port Hudson, Louisiana waren die letzten Bollwerke der Konföderation, die die vollständige Kontrolle des Mississippi durch die Union verhinderten. Gegen Angriffe vom Fluss her war die Stadt gut geschützt. Admiral Farragut hatte dies bei dem fehlgeschlagenen Versuch festgestellt, Vicksburg im Mai 1862 mit Marinestreitkräften einzunehmen. Für die Konföderation war Vicksburg das Scharnier, mit dem die westlichen Teile der Konföderation mit dem Hauptgebiet verbunden waren. Der Verlust der Stadt bedeutete nicht nur den Wegfall der sicheren Verbindung mit dem Westen, sondern auch der Kontrolle des Verkehrs auf dem Mississippi und den Verlust großer Teile des Bundesstaates Mississippi. Der einfache Plan zur Eroberung von Vicksburg sah vor, die Tennessee-Armee Generalmajor Grants aus Memphis, Tennessee nach Süden und die Golf-Armee Generalmajor Banks’ aus New Orleans, Louisiana nach Norden antreten zu lassen. Banks Vormarsch ging jedoch nur langsam vorwärts und blieb vor Port Hudson, 135 Meilen südlich von Vicksburg, stecken. Grant übernahm die Hauptverantwortung in den beiden Feldzügen gegen Vicksburg, da Banks Angriffsbemühungen nur wenig erfolgreich waren. === Die Befehlshaber und Kommandeure === Die Hauptakteure auf Seiten der Union waren die Generalmajore Grant, Sherman, McClernand und Banks. Befehlshaber und Kommandierende Generale der Union Nach der Berufung Generalmajor Hallecks nach Washington, D.C. wurde Grant am 16. Oktober 1862 Befehlshaber des Wehrbereichs Tennessee. William T. Sherman und John A. McClernand waren unterstellte Divisionskommandeure und später Kommandierende Generale der Tennessee-Armee. McClernand war einer der vielen politischen Generale, die im US-Heer dienten, und erhielt von Lincoln am 20. Oktober 1862 die Erlaubnis, einen Großverband im südlichen Illinois aufzustellen und mit diesem einen Angriff auf Vicksburg durchzuführen. McClernand hoffte, durch militärischen Ruhm seinen politischen Einfluss wieder vergrößern zu können. Die Befehlshaber der konföderierten Truppen waren General Joseph E. Johnston, Befehlshaber West, Generalleutnant John C. Pemberton, Oberbefehlshaber der Mississippi-Armee und die Generalmajore Sterling Price und Earl Van Dorn als Kommandierende Generale der Mississippi-Armee. Diese Armee wurde eigens zur Verteidigung von Vicksburg am 7. Dezember 1862 aufgestellt. Oberbefehlshaber, Kommandierende Generale und Kommandeure der Konföderation === Gelände und Operationsplan === Vicksburg lag auf einem überhöhten Plateau an einer scharfen Biegung des Flusses. Von den Höhen konnte die Schifffahrt auf dem Mississippi überwacht und unterbunden werden, deshalb wurde Vicksburg auch das „Gibraltar des Mississippi“ genannt. Das sogenannte Mississippi-Delta – bestehend aus dem Yazoo und seinen Nebenflüssen – erstreckte sich nördlich und ostwärts der Stadt in einer Nord-Süd-Ausdehnung von ca. 200 Meilen und 50 Meilen in der anderen Richtung. Entlang des Höhenzuges, der sich beiderseits Vicksburgs auf dem östlichen Ufer des Mississippi und des Yazoo erstreckte, befanden sich mit Artillerie verstärkte Befestigungen der Konföderierten. Das Gebiet westlich des Mississippi in Louisiana durchschnitten unzählige Flüsse und ehemalige Flussarme und nur wenige, schlechte Landstraßen. Die Tennessee-Armee sollte im ersten Teil des Feldzugs aus Memphis vorgehend auf zwei Wegen angreifen: Grant marschierte entlang der Mississippi Central Eisenbahnlinie mit 40.000 Mann nach Süden durch Mississippi. Sherman sollte mit der anderen Hälfte der Tennessee-Armee mississippiabwärts marschieren und in einer Zangenbewegung die Ortschaft Grenada, Mississippi auf der Landbrücke nördlich des Mississippi-Deltas angreifen. Die Armee sollte aus einem Hauptdepot an der Eisenbahnlinie versorgt werden. Grant ließ das Depot in Holly Springs, Mississippi anlegen. Nachdem die Versorgung sichergestellt war, sollte die Tennessee-Armee über Grenada nach Süden Vicksburg angreifen und einnehmen. == Der Feldzug == === Vorstoß entlang der Mississippi Central Eisenbahnlinie === Grant begann den Vormarsch mit gewaltsamer Aufklärung am 8. November 1862. Die Truppen erreichten am 1. Dezember den Tallahatchie 40 Meilen südlich der Grenze zu Tennessee. Die Versorgung der Truppenteile gestaltete sich wegen Lokomotivenmangels schwierig; Holly Springs wurde das entscheidende Depot für die Fortsetzung des Angriffs. Johnston, der für das Territorium zwischen den Appalachen und dem Mississippi verantwortlich war, empfahl am 24. November dem Kriegsminister der Konföderation, mit der Mississippi-Armee und den Truppen Generalleutnant Theophilus Hunter Holmes' aus Trans-Mississippi zunächst Grant zu schlagen und dadurch Mississippi halten, um danach Missouri erobern zu können. Mit der derzeitigen Kräfteverteilung sei Vicksburg in Gefahr. Pemberton, Oberbefehlshaber der konföderierten Mississippi-Armee, bestand am 27. November erneut auf Verstärkungen durch Holmes, der sich weigerte 10.000 Mann abzustellen. Auf Weisung Johnstons stellte General Braxton Bragg am 29. November eine Brigade mit 1.000 Mann nach Meridian, Mississippi ab.Der Widerstand des konföderierten I. Korps der Mississippi-Armee unter Earl Van Dorn wuchs nach Aufgabe des Tallahatchie. Die Südstaatler bezogen nach Aufgabe Grenadas Verteidigungsstellungen am Südufer des Yalobusha. Gleichwohl waren die Konföderierten dem ihnen gegenüberstehenden Teil der Tennessee-Armee unterlegen. Wegen der frühzeitigen Einnahme Grenadas durch den linken Flügel der Tennessee-Armee war der erste Teil des Operationsplanes bereits Anfang Dezember erreicht, ohne dass der rechte Flügel eingesetzt worden war. Grant befahl Sherman am 8. Dezember deshalb in Abänderung des ursprünglichen Plans, nördlich Vicksburgs am Yazoo zu landen und die Mississippi Central Eisenbahnlinie nördlich und ostwärts von Vicksburg zu zerstören. Der linke Flügel der Tennessee-Armee sollte unter Grants Führung aus Norden vorrückend Sherman unterstützen. Anschließend sollte Vicksburg gemeinsam eingenommen werden. Dabei setzte Grant Sherman keine Termine, sondern befahl ihm, schnellstmöglich mit allen in Memphis versammelten Truppenteilen anzutreten. Einer seiner Beweggründe für diese Art der Befehlsgebung war Grants mangelndes Vertrauen in die Führungsfähigkeiten McClernands, der wegen seines höheren Dienstalters sofort nach seinem Eintreffen in Memphis das Kommando über den rechten Flügel der Tennessee-Armee übernommen hätte. Auch den Angriff am Yazoo wollte Grant nicht durch den politischen General McClernand geführt wissen und drängte deshalb zur Eile. Sherman schiffte sich in Memphis ein und marschierte am 20. Dezember flussabwärts. Nach dem Ablegen hatte Sherman keine Verbindung mehr zum Armeeoberbefehlshaber. Grant war nur 80 Meilen weit gekommen, als Van Dorns Kavallerie am 20. Dezember das bei Holly Springs eingerichtete Depot vernichtete. Gleichzeitig fiel Brigadegeneral Nathan Bedford Forrest auf seinem ersten Raid ins westliche Tennessee ein und zerstörte die Nachschublinien Grants beiderseits Jacksons, Tennessee nachhaltig. Weil Grant deshalb den Angriff entlang der Eisenbahnlinie auf absehbare Zeit nicht fortsetzen konnte, wich der linke Flügel der Tennessee-Armee bis zum 10. Januar nach Memphis aus. === Kämpfe am Yazoo === Der rechte Flügel der Tennessee-Armee unter Sherman erreichte Millikens Bend, Louisiana, 25 Meilen nordwestlich von Vicksburg, am 22. Dezember und zerstörte zunächst einen Teil der Vicksburg & Shreveport Eisenbahnlinie, bevor die Truppen am 25. Dezember zu einem geeigneten Landungspunkt zwölf Meilen yazooaufwärts übersetzten. Das Gelände vor den Soldaten der Tennessee-Armee war dicht bewaldet, sumpfig und von nahezu unüberwindlichen Bayous durchzogen. Das Chickasaw Bayou, das parallel zur Angriffsrichtung lag, trennte die angreifenden Divisionen und erschwerte die Verbindungen. Zusätzlich hatten die Konföderierten mit gefällten Bäumen Sperren errichtet. Die Flüsse und Bayous waren eingedeicht. Hinter den Deichen befanden sich Wege, auf denen die Konföderierten sich gegen Sicht geschützt bewegen konnten und so den Schwerpunkt der Verteidigung verschieben konnten. Die Klippe Chickasaw Bluffs verlief am Rand des Deltas mit einer Höhe bis zu 60 m und bot Einsatzmöglichkeiten für schwere Geschütze. Sherman griff nach zweitägigem Geplänkel die Konföderierten am Chickasaw Bayou am 29. Dezember mit 30.075 Soldaten an. Die Konföderierten verteidigten sich mit ca. 12.000 Mann und wehrten alle Angriffe ab. Sherman stellte wegen der großen Verluste am 1. Januar 1863 die Angriffe ein und schiffte das Korps nach Millikens Bend ein. Sherman schrieb in dem Bericht über die Niederlage am 5. Januar in caesarischer Manier: === Angriff am Arkansas === McClernand traf am 28. Dezember in Memphis ein und fuhr am 30. Dezember mississippiabwärts, um den Feldzug nach Vicksburg persönlich zu führen, so wie es ihm Präsident Lincoln erlaubt hatte. Er erreichte Millikens Bend am 2. Januar, übernahm zwei Tage später das Kommando über Shermans Divisionen und bildete aus seinen und Shermans Divisionen die Mississippi-Armee der Union mit zwei Korps, nicht ohne sich vorher beim Kriegsminister zu beschweren, der Einsatz Shermans sei absichtlich ohne ihn durchgeführt worden, um den Präsidenten und den Kriegsminister zu brüskieren. Da immer noch keine Verbindung zum Armeeoberbefehlshaber Grant bestand, meldete Sherman in einem Bericht am 5. Januar direkt dem Oberbefehlshaber des Heeres, General Halleck, die Niederlage am Chickasaw Bayou und seine Einflussnahme auf die Entscheidung McClernands, zunächst nicht weiter nach Vicksburg anzugreifen, sondern stattdessen Arkansas Post am Arkansas anzugreifen.Die Bedeutung Arkansas Posts lag nach der Einschätzung beider Generale darin, dass von dort eine ständige Gefahr für den Schiffsverkehr auf dem Mississippi ausging – war doch erst wenige Tage vorher ein Dampfer mit Flößen gekapert worden. Zum anderen würden die Soldaten der Armee beschäftigt. McClernand wollte sich nach Ausschaltung dieser Bedrohung aber nicht wieder dem ursprünglichen Ziel des Feldzugs, Vicksburg, zuwenden, sondern weiter in Richtung Little Rock, Arkansas vorgehen. Die Mississippi-Armee fuhr den Mississippi und Arkansas ca. 100 Meilen flussaufwärts und griff den Stützpunkt am 10. und 11. Januar 1863 in einer kombinierten Operation mit der Marine mit mehr als 32.000 Mann an. Die mehr als sechsfach unterlegene Besatzung von Arkansas Post ergab sich nach heftigen Kämpfen um das Fort. Die Verluste der Union betrugen 1.061 Soldaten, die der Konföderierten 140 Gefallene und Verwundete. 4.793 Soldaten ergaben sich. Die Mississippi-Armee kehrte am 17. Januar nach Millikens Bend zurück. === Sicht der Konföderierten === Durch die Abwehr des Angriffs auf Chickasaw Bluffs blieben die Konföderierten im Besitz des Yazoo, der bis in die Mitte des Staates bis zur Mississippi Central Eisenbahnlinie schiffbar war und auf dem eine große Anzahl Dampfschiffe für Truppentransporte vor Anker lagen. Die Höhenzug selbst blieb von Haynes Bluff am Yazoo bis südlich Vicksburg bei Warrenton in konföderierter Hand und war zum Fluss hin stark befestigt. Wegen des Ausweichens Shermans und des Abmarsches des gesamten rechten Flügels der Tennessee-Armee nach Arkansas Post, kam Pemberton zu der Auffassung, dass der Gegner den Plan, Vicksburg zu erobern, aufgegeben habe. Dies meldete er am 2. Januar dem Kriegsminister, jedoch nicht seinem Vorgesetzten, General Johnston. Das Hauptaugenmerk Pembertons lag von nun an auf den Annäherungsmöglichkeiten Grants nach Vicksburg, also dem Mississippi aus Norden und der Mississippi Central Eisenbahnlinie. === Übernahme des Kommandos für den Angriff auf Vicksburg === Generalmajor Grant wollte nach dem Ausweichen vom Tallahatchie den Angriff auf Vicksburg unter der Führung McClernands fortsetzen. Er erhielt erstmals am 11. Januar Informationen über Shermans Niederlage und die Absicht McClernands. Die Operation McClernands nannte Grant in der Meldung an den Oberbefehlshaber des Heeres ein fruchtloses Unterfangen („wild-goose chase“) und befahl McClernand folgerichtig, alle Bewegungen, die nichts mit dem Ziel des Feldzugs – Vicksburg – zu tun hatten, einzustellen und unverzüglich nach Millikens Bend zurückzukehren. Grant missbilligte ausdrücklich den Vorstoß nach Arkansas Post. Grant schiffte sich mit McPhersons Korps nach Lake Providence und Millikens Bend ein, um McClernand von der Führung des Angriffs auf Vicksburg zu entbinden und das Kommando selbst zu übernehmen. Das führte zu einer Beschwerde McClernands direkt an Lincoln. McClernand beklagte sich bitterlich über die „West-Point-Clique“, die ihm den Erfolg bei Arkansas Post neide und ihn seit Monaten mit Missgunst verfolge. Grant löste die Mississippi-Armee nach dem Eintreffen in Millikens Bend am 20. Januar auf. McClernand wurde Kommandierender General des XIII., Sherman Kommandierender General des XV. Korps der Tennessee-Armee. Grant richtete sein Hauptquartier am 30. Januar 1863 bei Millikens Bend ein und übernahm die Führung des Feldzuges gegen Vicksburg persönlich. Der Kommandobereich wurde auf die Gebiete westlich des Mississippi ausgedehnt, die Grant für die Durchführung des Feldzuges benötigte. Grant war überzeugt, Vicksburg mit den zur Verfügung stehenden Kräften einnehmen zu können; die Einnahme sei nur eine Frage der Zeit. Wegen der stark befestigten Ufer, war das Ziel von nun an, die Tennessee-Armee zunächst auf dem Höhengelände nördlich oder südlich von Vicksburg auf dem Ostufer des Mississippi zu positionieren und anschließend von dort aus Vicksburg anzugreifen. Die vier Korps der Tennessee-Armee waren wie folgt räumlich verteilt: XV. Korps (Sherman) bei Youngs Point (gegenüber der Yazoo-Mündung) 12 Meilen westlich von Vicksburg XIII. Korps (McClernand) bei Millikens Bend 25 Meilen nordwestlich von Vicksburg XVII. Korps (McPherson) am Lake Providence 50 Meilen nördlich von Vicksburg XVI. Korps (Hurlbut) im westlichen Tennessee 200 Meilen nördlich von VicksburgGrant glaubte nicht an die wiederholt angekündigte Unterstützung durch Banks, die bereits während der ersten Monate des Feldzuges ausgeblieben war. Sollte Banks jedoch tatsächlich nach Port Hudson vorgehen, beabsichtigte Grant, Banks zwei Divisionen auf dem rechten Ufer entgegenzuschicken. Nahezu gleichzeitig begann die Tennessee-Armee Ende Januar/Anfang Februar mit drei unterschiedlichen Ansätzen, die Voraussetzungen für die Eroberung der Höhen nördlich und südlich von Vicksburg zu schaffen. === Kanal über die DeSoto-Halbinsel === Shermans Korps sollte den schon im vergangenen Jahr begonnenen Kanal durch die De Soto Halbinsel fertigstellen. Nach der Fertigstellung sollten Kanonenboote und Transportschiffe, ohne von der Artillerie in Vicksburg beschossen werden zu können, den Mississippi südlich von Vicksburg erreichen und eine Landung dort unterstützen. Die Arbeiten begannen am 24. Januar und wurden durch anhaltende Regenfälle, die das Grundwasser und die Flüsse im Delta steigen ließen, behindert. Grant setzte zur Unterstützung der Soldaten Shermans zusätzlich dampfgetriebene Schwimmbagger ein und meldete die Fertigstellung der Arbeiten zunächst bis Anfang, später bis Ende März. Das Hochwasser führte im März zu einem Dammbruch am Einlass des Kanals und am 29. März zum Abbruch des Unternehmens. === Lake Providence === McPhersons Korps sollte am Lake Providence, ca. 30 Meilen nördlich von Millikens Bend, einen Kanal zu einem ehemaligen Arm des Mississippi bauen, der über den Red River ca. 150 Meilen südlich Vicksburgs wieder in den Mississippi mündete. Das Korps begann am 2. Februar die Bayous zu vertiefen und von inzwischen dort gewachsenen Bäumen zu befreien. Auch dieses Vorhaben ging nur zäh vorwärts, weil das Hochwasser McPherson zwang, die Camps für die eingesetzten Soldaten fünf bis sechs Meilen von deren Einsatzorten entfernt auf trockenem Untergrund zu bauen und die Soldaten ständig im Wasser arbeiten mussten. Trotzdem waren die Arbeiten Ende März weitgehend fertiggestellt. Das Unternehmen wurde wegen sinkender Wasserstände und des Beginns des zweiten Vicksburg-Feldzuges am 29. März abgebrochen. === Vorstoß über Yazoo Pass === Grant befahl ca. 200 Meilen nördlich von Vicksburg einen Kanal zu bauen, der den Moon Lake mit dem Mississippi verband. Über den Yazoo Pass und den Coldwater sollten dann Truppenteile ins Mississippi-Delta verlegt werden, so dass anschließend auf dem Tallahatchie und dem Yazoo Vicksburg von Norden angegriffen werden konnte. Am 4. Februar meldete Grant, dass durch diesen Kräfteansatz alle Truppentransporter auf dem Yazoo, zwei in Bau befindliche Kanonenboote und sogar die Eisenbahnbrücken im Landesinneren zerstört werden könnten. Die Konföderierten hatten von diesem Plan erfahren. Pemberton entsandte einen kleinen Verband, der die Bewegungen der Boote auf den schmalen Wasserwegen aufhalten sollte. Die Unionsflottille hatte deshalb nicht nur mit niedrigen Bäumen zu kämpfen, die immer wieder die Aufbauten und Schornsteine beschädigten, sondern auch mit gefällten Bäumen, die die Konföderierten als Sperren in die Fahrrinne warfen. Erst am 2. März dampfte eine eingeschiffte Division den Coldwater hinab und ging bei Greenwood, Mississippi am 10. März vor Anker. Pemberton hatte dort am Zusammenfluss des Tallahatchie und des Yazoo ein Fort – Fort Pemberton – anlegen lassen, das die Weiterfahrt der Unionsflottille verhinderte. Alle Angriffe auf das Fort Mitte März blieben erfolglos. Zur Unterstützung dieser Kräfte schlug Admiral Porter vor, die gepanzerten Kanonenboote mit Unterstützung einer Division Shermans von Süden am nördlichen Ende der konföderierten Stellungen bei Haynes Bluff vorbei durch das Delta vordringen zu lassen. Das Vorhaben begann am 16. März und litt unter denselben schlechten Bedingungen wie der Angriff über den Yazoo Pass. Fünf Kanonenboote gelangten durch die Bayous bis zur Mündung des Rolling Fork und wurden dort am 20. März von den Konföderierten zum Ausweichen gezwungen. Nur durch das Eingreifen der Infanteriedivision aus Shermans Korps konnten die Boote bis zum 27. März die Ausgangshäfen wieder erreichen. Anschließend kehrte auch die Yazoo Pass-Expedition nach Helena, Arkansas zurück. == Gründe des Scheiterns == Die Tennessee-Armee bestand aus ca. 70.000 Soldaten und war der konföderierten Mississippi-Armee mehr als dreifach überlegen. Der Kräfteansatz Generalmajor Grants verhinderte eine Schwerpunktbildung durch die Konföderierten; die Mississippi-Armee musste die Masse ihrer Kräfte unter Van Dorn Grant und den Rest unter Generalmajor Martin L. Smith Sherman gegenüberstellen. Der Schwachpunkt der auf dem Landweg entlang der Mississippi Central Eisenbahnlinie vorgehenden Truppenteile Grants waren die überdehnten Verbindungs- und Versorgungswege. Grant hatte deshalb das Hauptdepot für den Feldzug in Holly Springs dicht hinter den vorgehenden Korps eingerichtet. Die Versorgung dieses Depots erfolgte aus Columbus, Kentucky – 400 Meilen im Norden – über die Mobile & Ohio Eisenbahnlinie. Genau diese Schwachstellen griffen die Konföderierten am 19. und 20. Dezember an. Forrest zerstörte die Eisenbahnlinie und die Telegrafenverbindungen nördlich und südlich Jacksons nachhaltig und Van Dorn zerstörte das Depot bei Holly Springs und die Verbindungslinien nach Memphis. Grant musste ohne Verbindungen und Aussicht auf Versorgungsgüter nach Memphis ausweichen. Die Konföderierten konnten deshalb Kräfte in die Umgebung von Vicksburg verlegen und dadurch Shermans Angriff auf die Chickasaw Bluffs abwehren. Dieser Angriff durch unwegsames Gelände gegen eine starke Stellung hätte nach der Beurteilung Shermans nur erfolgreich sein können, wenn die Masse der Tennessee-Armee über Grenada weiter nach Süden vorgegangen wäre. Der Abbruch der Verbindungen nach Shermans Abmarsch aus Memphis war der entscheidende Grund für das Misslingen des Angriffs am Chickasaw Bayou. Grant ließ mit fast an Starrsinn grenzender Hartnäckigkeit keine Möglichkeit aus, Vicksburg zu erobern. Alle Pläne waren jedoch wegen der Umstände – Gegner, Gelände und Wetter – für Menschen und Material zu anspruchsvoll. Alle Versuche, Vicksburg zu umgehen und eine gute Ausgangsposition für einen Angriff zu finden, schlugen fehl. Grant erklärte später, dass er diese Fehlschläge erwartet hatte und damit nur versucht hatte, die Armee beschäftigt und motiviert zu halten. Wäre jedoch einer seiner Versuche erfolgreich gewesen, hätte Grant ihn sicherlich ausgenutzt und Vicksburg angegriffen. Grant blieben nun drei Möglichkeiten, Vicksburg anzugreifen: Frontal über den Mississippi aus Westen, aus Memphis heraus erneut entlang der Mississippi Central Eisenbahnlinie oder von Südosten nach Vicksburg vorgehend.Grant wählte die dritte Möglichkeit (siehe auch Zweiter Vicksburg-Feldzug). == Literatur == Robert Underwood Johnson & Clarence Clough Buell (Hrsg.): Battles and Leaders of the Civil War. New York 1887 (osu.edu). James M. McPherson: Battle Cry of Freedom. Oxford University Press, New York 1988, ISBN 0-19-516895-X. James M. McPherson: Für die Freiheit sterben. Anaconda Verlag GmbH, Köln 2008, ISBN 978-3-86647-267-9. James M. McPherson (Hrsg.): The Atlas of the Civil War. Courage Books, Philadelphia 2005, ISBN 0-7624-2356-0. The War of the Rebellion: a Compilation of the Official Records of the Union and Confederate Armies. Govt. Print. Off., Washington 1880 (cornell.edu). Bernd G. Längin: Der amerikanische Bürgerkrieg – Eine Chronik in Bildern Tag für Tag. Weltbild Verlag, Augsburg 1998, ISBN 3-86047-900-8. Edwin Cole Bearss: Vicksburg is the Key - The Campaign for Vicksburg. Morningside Bookshop, 1985, ISBN 978-0-89029-312-6. Michael B. Ballard: Vicksburg: The Campaign that Opened the Mississippi. Hrsg.: The University of North Carolina Press. Chapel Hill 2004, ISBN 0-8078-2893-9. == Quellen und Anmerkungen == == Weblinks == The War of the Rebellion: a Compilation of the Official Records of the Union and Confederate Armies Vicksburg National Military Park
https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Vicksburg-Feldzug
Filbinger-Affäre
= Filbinger-Affäre = Die Filbinger-Affäre oder der Fall Filbinger im Jahr 1978 war eine Kontroverse um das Verhalten Hans Filbingers (1913–2007) in der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Umgang damit als Ministerpräsident Baden-Württembergs. Sie begann im Februar 1978 mit Filbingers Unterlassungsklage gegen den Dramatiker Rolf Hochhuth, der ihn öffentlich als „furchtbaren Juristen“ bezeichnet hatte. Im weiteren Verlauf wurden vier Todesurteile entdeckt, die Filbinger als Militärrichter der Kriegsmarine 1943 und 1945 beantragt oder gefällt hatte. Er bestritt zuvor drei davon und gab dann an, sie vergessen zu haben, hielt aber an ihrer Rechtmäßigkeit fest. Angesichts der wachsenden öffentlichen Kritik verlor er den Rückhalt der CDU, der er seit 1951 angehörte. Daraufhin trat er am 7. August 1978 als Ministerpräsident zurück. Seine bis zu seinem Tod am 1. April 2007 fortgesetzten Rehabilitierungsversuche und eine umstrittene Trauerrede Günther Oettingers für ihn hielten die Erinnerung an die Affäre wach. Sie beeinflusste die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik Deutschland und die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz. Filbingers Verhalten in der NS-Zeit gilt heute als Beispiel für das Versagen vieler Täter und Mitläufer unter damaligen Juristen. == Vorgeschichte == === Militärrichter im und nach dem Zweiten Weltkrieg === Filbinger war während seiner Juristenausbildung 1937 NSDAP-Mitglied und 1940 freiwillig Soldat in der deutschen Kriegsmarine geworden. Im März 1943 wurde er in die Marinejustiz berufen. Er wirkte nacheinander an fünf Militärgerichten in Norddeutschland und Norwegen und nahm an mindestens 234 Strafverfahren teil. In 169 Fällen war er als Vorsitzender Richter direkt für Urteil und Strafverfügung verantwortlich, in 63 Fällen indirekt als Ankläger oder Untersuchungsführer. Nach Kriegsende wurde er als Kriegsgefangener der Briten in Oslo bis Februar 1946 zur Lageraufsicht weiter als Marinerichter eingesetzt.Dieses Kapitel seiner Biografie wurde erstmals 1972 zum Medienthema, aber erst 1978 bundesweit öffentlich debattiert. Bis dahin unbeachtete Akten von 41 Verfahren, an denen Filbinger beteiligt war, wurden bis zum 13. Juni 1978 im Bundesarchiv, Zweigstelle Kornelimünster, aufgefunden, aber von ihm nicht zur Einsicht freigegeben. === Filbingers Prozess gegen den Spiegel 1972 === Die Zeitschrift Der Spiegel berichtete am 10. April 1972 von Kurt Olaf Petzold, der sich als Gefangener in einem britischen Kriegsgefangenenlager Hakenkreuze von seiner Kleidung gerissen und einen Umzugsbefehl mit den Worten verweigert hatte: „Ihr habt jetzt ausgeschissen. Ihr Nazihunde, Ihr seid schuld an diesem Krieg. Ich werde bei den Engländern schon sagen, was Ihr für Nazihunde seid, dann kommt meine Zeit.“ Marinerichter Filbinger verurteilte ihn dafür am 1. Juni 1945 zu sechs Monaten Gefängnis und begründete dies mit einem „hohen Maß von Gesinnungsverfall“. Petzold habe „zersetzend und aufwiegelnd für die Manneszucht gewirkt“. Der Begriff „Manneszucht“ stammte aus preußischer Militärtradition und bestimmte im Nationalsozialismus Soldatenausbildung und Militärrecht. Mit einer „Gefahr für die Manneszucht“ hatten Wehrmachtsrichter, besonders oft die der Marine, in der letzten Kriegsphase tausende Todesstrafen für meist geringfügige Dienst- oder Disziplinvergehen begründet.Im Interview mit dem Spiegel erklärte Petzold 1972, Filbinger habe vor seinem Prozess „unseren geliebten Führer“ gerühmt, der „das Vaterland wieder hochgebracht hat“. Filbinger klagte auf Unterlassung dieser Aussagen. Er erinnere sich nicht mehr an den Fall, habe sich aber als „religiöse Persönlichkeit“ „vielfach aktiv gegen dieses Regime betätigt“. Er sei 1933 wegen antinazistischer Gesinnung von der Studienstiftung des deutschen Volkes ausgeschlossen worden und später Mitglied eines bekannten regimefeindlichen Freiburger Kreises gewesen. Zudem habe er als unbeteiligter Marinerichter für den wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilten Priester Karl Heinz Möbius im Frühjahr 1945 ein Wiederaufnahmeverfahren erreicht, in dem Möbius freigesprochen worden sei. Für den Oberleutnant Guido Forstmeier habe er durch Verzögern der Verhandlung ein drohendes Todesurteil abgewendet.Akten zu diesen Fällen legte Filbinger nicht vor; sie wurden auch im späteren Verlauf nicht aufgefunden. Doch beide Genannten bezeugten mehrfach schriftlich, dass Filbinger ihr Leben gerettet habe. Adolf Harms, Kollege Filbingers als Marinerichter und seit 1944 am gleichen Militärgericht tätig, bezeugte, dieser habe zum NS-Regime „eine ausgesprochen negative Einstellung“ gehabt. Das Gericht gab Filbingers Klage am 3. August 1972 statt, weil es die von Petzold zitierten Aussagen für unwahrscheinlich hielt und eine Verwechslung vermutete. === Filbingers Gedenkrede 1974 === Zum Gedenken an das Attentat vom 20. Juli 1944 hielt Filbinger als Bundesratspräsident im Berliner Reichstagsgebäude am 19. Juli 1974 eine Rede über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er beschrieb zunächst Hintergründe des Attentats und Gewissensnot der Teilnehmer. Dann erklärte er, er habe in der NS-Zeit zum Freiburger Freundeskreis um den katholischen Schriftsteller Reinhold Schneider gehört, der Kontakte zu Widerstandsgruppen gehabt habe, und habe „aus der Gesinnung, die diesen Kreis beseelte, gehandelt, unter Inkaufnahme der damit gegebenen Risiken“. Dennoch empfinde er sein damaliges Handeln angesichts des Notwendigen als „schwerwiegende Unterlassung“. Dies sehe er im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 treffend ausgedrückt, dessen Kernsatz er zitierte. Dann beschrieb er den Kirchenkampf der katholischen Bischöfe und der Bekennenden Kirche, der sich seit 1933 zu einer „Totalfront des Widerstandes“ entwickelt und „dem nationalsozialistischen System selbst“ gegolten habe.Schon im Vorfeld hatten manche Angehörige hingerichteter Widerständler gegen Filbingers Rederecht protestiert. Bei der Rede ertönten Zwischenrufe wie „Nazi“, „Heuchler“, „NS-Richter“, bis die Rufer aus dem Saal gewiesen wurden. Die Wochenzeitung Die Zeit kommentierte die Vorfälle mit Bezug auf den 1972 bekannt gewordenen Fall Petzold: „…wer nach Kriegsende einen Soldaten im Gefangenenlager wegen ‚Auflehnung gegen Zucht und Ordnung‘ und wegen ‚Gesinnungsverfalls‘ zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, der hat mit denen, die sich gegen die Ordnung jener Zeit aufgelehnt haben, wenig gemein.“Der Zeithistoriker Peter Reichel verglich die Reden und zeigte die Unterschiede von Filbingers Gedenkrede mit der Rede Gustav Heinemanns von 1969 auf. Das Auftreten und die Rede Filbingers habe „ein ganz anderes Bild“ geboten. Heinemann habe im Gegensatz zu ihm den kommunistischen Widerstand anerkannt, auf die undemokratische, deutschnationale Tradition der Attentäter des 20. Juli hingewiesen, die deutsche Teilung auch als Folge ihres Zu-Spät-Kommens und Scheiterns beschrieben und zuletzt eigene Versäumnisse in der NS-Zeit biografisch konkret benannt. == Verlauf == === Filbingers Prozess gegen Rolf Hochhuth und die Zeit 1978 === In einem Vorabdruck seines Romans Eine Liebe in Deutschland vom 17. Februar 1978 bezeichnete Rolf Hochhuth Filbinger als „Hitlers Marinerichter, der sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt hat“. Er sei „ein so furchtbarer Jurist gewesen, daß man vermuten muß – denn die Marinerichter waren schlauer als die von Heer und Luftwaffe, sie vernichteten bei Kriegsende die Akten – er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten.“Auf Filbingers erneute Unterlassungsklage hin untersagte das Landgericht Stuttgart am 23. Mai 1978 durch eine einstweilige Verfügung die Behauptung, er sei nur wegen Strafvereitelung einer Haftstrafe entgangen. Hochhuth hatte diesen Teil seiner Aussagen zuvor zurückgenommen: Sie seien absurd gewesen, da kein Richter der NS-Zeit in der Bundesrepublik je für Unrechtsurteile bestraft worden sei. Die übrigen Aussagen erlaubte das Gericht als freie und zum Teil faktengestützte Meinungsäußerung. Damit schien die Affäre zunächst abgeschlossen zu sein.Filbinger wollte jedoch auch Die Zeit gerichtlich verpflichten, Hochhuths gesamte Äußerungen zu ihm nicht mehr abzudrucken. Im Zuge dieses Prozesses gewährte das Bundesarchiv in Kornelimünster den Anwälten beider Seiten Einsicht in die Akten der Marinegerichte, an denen Filbinger tätig gewesen war. Dabei fand Hochhuth im April 1978 den Fall Walter Gröger, den der Chefredakteur der Zeit Theo Sommer Filbinger am 4. Mai vorlegte. Sommers Anwalt Heinrich Senfft präsentierte ihn in seinem Plädoyer am 9. Mai, nahm auf das Urteil von 1972 Bezug und fragte, wer Filbinger angesichts seiner angeblichen antinazistischen Gesinnung und seines Einsatzes für zum Tod Verurteilte gezwungen habe, diesmal das Todesurteil zu beantragen und seine Vollstreckung anzuordnen. Erich Schwinge erwiderte mit einem Rechtsgutachten, der Fall Gröger könne Filbinger weder rechtlich noch moralisch angelastet werden. Schwinge war führender Militärstrafrechtler der NS-Zeit gewesen, hatte mit seinem Gesetzeskommentar zum 1940 verschärften Militärstrafgesetzbuch unter anderem die Todesstrafe für „Wehrkraftzersetzung“ zur Generalprävention gefordert und als Wehrmachtsrichter selbst Todesurteile verhängt. Seit 1949 verteidigte er ehemalige Wehrmachts- und SS-Angehörige in etwa 150 Prozessen und beeinflusste die bundesdeutsche Rechtsprechung noch bis 1995 mit seiner These, die NS-Militärjustiz habe gegen den Nationalsozialismus rechtsstaatliche Prinzipien vertreten.Am 13. Juli 1978 bestätigte das Gericht die vorherige Verfügung und ließ die Aussagen „furchtbarer Jurist“, „Hitlers Marinerichter“ und „Filbinger verfolgte einen deutschen Matrosen noch in britischer Gefangenschaft mit Nazigesetzen“ als freie Meinungsäußerungen zu. Sein Urteil gegen Petzold und Urteilsantrag gegen Gröger passe nicht „zu einem Richter, der seine Gegnerschaft zum NS-Regime hervorhebt“. Zwar habe er in beiden Verfahren „im Rahmen des damals geltenden Rechts“ gehandelt, müsse sich aber heutige Anfragen an sein Verhalten gefallen lassen. === Der Fall Walter Gröger === Am 12. Mai 1978 veröffentlichte die Zeit Details zum Verfahren des zweiundzwanzigjährigen Matrosen Walter Gröger. Dieser hatte sich 1943 vier Wochen lang in Oslo bei einer norwegischen Freundin, Marie Lindgren, versteckt und erwogen, mit ihr in das neutrale Schweden zu fliehen. Sie erzählte einem befreundeten Polizeibeamten davon, der Gröger am 6. Dezember 1943 festnehmen ließ. Er wurde wegen vollendeter „Fahnenflucht im Felde“ am 14. März 1944 zu acht Jahren Zuchthaus und Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. Sein Fluchtplan wurde nicht als versuchte Fahnenflucht ins Ausland gewertet, weil er seine Uniform wiedergeholt und damit Rückkehrabsicht zur Truppe signalisiert habe. Der Gerichtsherr, Generaladmiral Otto Schniewind, hob das Urteil am 1. Juni 1944 auf, „weil auf Todesstrafe hätte erkannt werden sollen“. Er begründete dies mit Grögers Vorstrafen, einer „Führerrichtlinie“ zu Fahnenflucht vom 14. April 1940 und einem Erlass des Oberbefehlshabers der Marine (ObdM), Karl Dönitz, vom 27. April 1943. Die Führerrichtlinie verlangte die Todesstrafe für Fluchtversuche ins Ausland und erheblich vorbestrafte Täter, nannte aber auch mildernde Umstände, bei denen eine Zuchthausstrafe ausreiche: „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe“. Der Dönitz-Erlass dagegen verlangte bei jeder Fahnenflucht, die ein „Versagen treuloser Schwächlinge“ sei, die Todesstrafe.Filbinger wurde am 15. Januar 1945 anstelle des bisherigen Anklägers nach dessen Voruntersuchung mit dem Fall beauftragt. In der Hauptverhandlung am Folgetag wertete das Gericht negativ, dass Gröger ein Eisernes Kreuz und eine Ostmedaille als sein Eigentum ausgegeben hatte. Nun wurde sein Fluchtplan als Fluchtversuch ins Ausland ausgelegt. Dem Gerichtsherren folgend, beantragte Filbinger auf der Basis der „Führerrichtlinie“ wegen charakterlicher Schwächen und Vorstrafen im soldatischen Führungszeugnis die Todesstrafe für Gröger. Verteidiger Werner Schön bat für ihn um Gnade: Das Gericht habe eingeräumt, dass nach geltendem Militärgesetz kein Fluchtversuch ins Ausland vorgelegen habe. Er warf Ankläger und Richter damit kaum verdeckt Rechtsbeugung vor.Marineoberstabsrichter Adolf Harms verurteilte Gröger am 22. Januar 1945 zum Tod als „einzig angemessene Sühne“. Als die Urteilsbestätigung aus Berlin zunächst ausblieb, stellte Filbinger mehrere schriftliche und fernmündliche Nachfragen und trieb damit Grögers Hinrichtung ungewöhnlich zielstrebig voran. Am 27. Februar 1945 bestätigte das Oberkommando der Marine (OKM) in Berlin das Todesurteil und lehnte das Gnadengesuch ab. Am 15. März traf der Schriftsatz dazu am Oslofjord ein. Am selben Tag ordnete Filbinger die Vollstreckung an und verkürzte damit die übliche Dreitagesfrist bis zur Hinrichtung. Er setzte sich selbst zum leitenden Offizier dafür ein, wie es für Anklagevertreter üblich war. Am 16. März um 14:05 Uhr verkündete er dem Verurteilten die Anordnung des Gerichtsherrn und ließ Gröger den Empfang unterzeichnen. Um 16:02 Uhr ließ er ihn erschießen. Dabei war er anwesend und gab wohl als leitender Offizier den Feuerbefehl.Entgegen seiner Dienstpflicht hatte Filbinger Grögers Anwalt den Hinrichtungstermin nicht mitgeteilt. Dieser hätte seinem Mandanten beistehen dürfen und äußerte noch Jahrzehnte später sein Befremden über Filbingers Versäumnis. Grögers Angehörige erhielten keine Nachricht von seiner Hinrichtung. Seine Mutter Anna Gröger erfuhr 1954 davon, die genauen Umstände jedoch erst 1978 durch Hochhuth, ebenso Marie Lindgren. Nach zwei Ablehnungsbescheiden bewilligte der niedersächsische CDU-Sozialminister Hermann Schnipkoweit Anna Gröger am 24. September 1979 eine Versorgungsrente als NS-Opferangehörige, indem er das Todesurteil für ihren Sohn nun als „den Umständen nach ein offensichtliches Unrecht“ einstufte. === Filbingers Stellungnahmen === In Kenntnis der bevorstehenden Veröffentlichung erklärte Filbinger am 4. Mai 1978, Fahnenflucht sei 1945 weltweit mit Todesstrafe bedroht und an allen Fronten „mit besonderem Nachdruck verfolgt“ worden. Deshalb habe der Flottenchef für Gröger die Todesstrafe verlangt und damit von vornherein keine abweichenden Urteile akzeptiert. Der Ankläger habe diese daher beantragen müssen und Grögers Verfahren als Sitzungsvertreter nicht beeinflussen können. Er habe sich der Marinerichtertätigkeit „mit allen Mitteln“ zu entziehen versucht und sich dazu als U-Boot-Soldat angeboten, wissend, „dass dieser Dienst als Himmelfahrtskommando galt“. In der ganzen NS-Zeit habe er seine „antinazistische Gesinnung“ auch „sichtbar gelebt“ und darum seit seiner Studentenzeit beruflich „erhebliche Nachteile“ erfahren.Wie in der bundesdeutschen Justiz bis dahin üblich, setzte Filbinger also das Wehrmachtsstrafrecht formal mit dem Militärrecht der angegriffenen Staaten gleich, deutete die letzte Phase des verlorenen Angriffskriegs als „Vaterlandsverteidigung“ und legitimierte so die exzessive Anwendung des NS-Kriegsrechts und damit die Fortsetzung von Kriegsverbrechen und Völkermord. Er behauptete fehlenden Handlungsspielraum der beteiligten Juristen, so auch für sich, und erklärte sich zugleich zu einem NS-Gegner und NS-Verfolgten, der für seine antinazistische Überzeugung sein Leben riskiert habe. Am 10. Mai 1978 und öfter behauptete Filbinger: „Es gibt kein einziges Todesurteil, das ich in der Eigenschaft als Richter gesprochen hätte.“ Auch habe er außer bei Gröger „bei keinem anderen Verfahren, das zum Todesurteil geführt hat, mitgewirkt“. Am 15. Mai 1978 zitierte der Spiegel ihn wie folgt: „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!“Nachdem Gerd Bucerius den Satz in der Zeit vom 9. Juni 1978 aufgriff und auf „Hitlers Gesetze“ bezog, stellte Filbinger in der Folgeausgabe vom 16. Juni 1978 klar: Er habe den Satz so nicht gesagt, sondern die Spiegel-Journalisten hätten seine Reaktion auf ihren Vorwurf, er habe im Fall Gröger Recht gebeugt, so ausgelegt. Am 1. September 1978 erklärte er im Rheinischen Merkur: „Meine Äußerung bezog sich nicht auf die verabscheuungswürdigen NS-Gesetze, sondern auf die seit 1872 im Militärstrafgesetzbuch angedrohte Todesstrafe für Fahnenflucht im Felde.“Als Ankläger Grögers hatte er sich auf die Führerrichtlinie von 1940 bezogen, die einen Ermessensspielraum zuließ. Daher wurde er vielfach so verstanden, „dass damals ‚Recht‘ gesprochen worden sei“ und in einem Unrechtsstaat gefällte formal korrekte Urteile auch in einem Rechtsstaat weiter gälten. Diese in den Nachkriegsjahrzehnten übliche These einer Rechtskontinuität wirkte nun als Skandal. Erhard Eppler, damaliger SPD-Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer im baden-württembergischen Landtag, bescheinigte Filbinger darum ein „pathologisch gutes Gewissen“.Am 8. Juli 1978 gestand Filbinger bei einer Pressekonferenz zu, er habe sich über den Fall Gröger nicht rechtzeitig und deutlich genug betroffen gezeigt. === Bekanntwerden von Todesurteilen === Spiegelherausgeber Rudolf Augstein hatte Filbinger am 8. Mai 1978 nach seiner Beteiligung an weiteren Todesurteilen gefragt. Das ARD-Magazin Panorama berichtete am 3. Juli 1978 über zwei Todesurteile, die er als Vorsitzender Richter gefällt hatte. Am 9. April 1945 hatte er den Obergefreiten Bigalske wegen Mordes in Tateinheit mit Meuterei und Fahnenflucht zum Tod verurteilt. Bigalske hatte am 15. März 1945 den Kommandanten des Hafenschutzboots NO 31 erschossen und war dann mit der übrigen Besatzung in das neutrale Schweden geflohen. Am 17. April 1945 verurteilte Filbinger den Obersteuermann Alois Steffen wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung zum Tod. Dieser war Bigalske mit dem Hafenschutzboot NO 21 und 15 Mann Besatzung nach Schweden gefolgt. Beide Urteile konnten wegen der Flucht der Verurteilten nicht vollstreckt werden.Dies erwies Filbingers vorherige Falschaussagen. Er bezeichnete die Todesurteile nun als „Phantomurteile“, die weder vollstreckt werden konnten noch sollten und die er daher vergessen habe. Gegenüber dem damaligen Bundesarchivar Heinz Boberach erklärte er, falls noch ein viertes Todesurteil von ihm auftauche, werde er zurücktreten. Am 27. Juli 1978 fand eine Mitarbeiterin des Bundesarchivs zufällig eine ältere Gerichtsakte, die nicht zu den Aktenbeständen von Marinegerichten gehörte, von denen bis dahin Filbingers Mitwirken bekannt gewesen war. Bei der anschließenden systematischen Durchsicht der Verfahrensakten dieses Gerichts wurde ein weiteres Todesurteil entdeckt. Filbinger hatte es als Anklagevertreter 1943 wegen Plünderei gegen einen jungen Matrosen beantragt, der bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen auf Hannover einige Gegenstände von geringem Wert aus einer Drogerie an sich genommen hatte. Dem Antrag war der Richter gefolgt. Weil den vorgesetzten Militärjuristen das Urteil übertrieben erschienen war, hatten sie es in eine Lagerhaftstrafe umgewandelt. Deren Verbüßung überlebte der Matrose nicht. Am 1. August 1978 sandte Bundesinnenminister Gerhart Baum, der sich laufend über die Archivsuche unterrichten ließ, Filbinger eine Liste aller bisher ermittelten Todesurteile ohne Details dazu, aus der der vierte Fund hervorging.Am 3. August 1978 gab das Staatsministerium Baden-Württembergs das vierte Todesurteil bekannt, stellte den Verlauf aber wie folgt dar: Der Matrose Herbert Günther Krämer sei am 17. August 1943 wegen fortgesetzten Plünderns zuerst zu acht Jahren Zuchthaus, dann zum Tod verurteilt worden. Filbinger habe das Urteil beantragt, dem Gerichtsherrn zugleich aber Verhörergebnisse vorgelegt, die eine Begnadigung rechtlich möglich erscheinen ließen. Im Revisionsverfahren habe er als Ankläger dann die Umwandlung in eine Freiheitsstrafe erreicht. Diese Angaben wirkten nun umso unglaubwürdiger, nachdem er monatelang erklärt hatte, er habe kein weiteres Todesurteil beantragt und keines gefällt, und dann angab, er habe die Urteile wegen Belanglosigkeit vergessen. Er galt in den Medien nun als „Mann, der ein Todesurteil vergisst“. === Rücktritt === Heinrich Senfft hatte Filbinger im Hochhuthprozess am 9. Mai 1978 vor die Wahl gestellt, weitere Urteile selbst bekannt zu geben oder „abzutreten“. Theo Sommer hatte am 12. Mai gefragt: „Müsste Filbinger nicht zurücktreten – oder aber zu Mutter Gröger nach Langenhagen fahren und für die eigene Person jenen läuternden Kniefall vor der Vergangenheit tun, den Willy Brandt in Warschau für das ganze deutsche Volk vollzogen hat?“Nach Hochhuths Teilerfolg vor Gericht forderte die oppositionelle Landes-SPD ab dem 27. Mai Filbingers Rücktritt als Ministerpräsident. Die Landes-CDU wies dies geschlossen zurück. Helmut Kohl und Heiner Geißler gaben mehrmals Ehrenerklärungen für ihn ab; die Bundes-CDU stellte sich bis Anfang Juli nach außen einmütig hinter ihn. Kritisiert wurde intern nicht sein Verhalten als Marinerichter, sondern die Form seiner öffentlichen Verteidigung: Sie sei zu sehr auf die juristische Ebene fixiert und berücksichtige die moralische Ebene nicht. Dass er die Vorgänge am Kriegsende nicht ausdrücklich bedauert habe, empfanden manche CDU-Mitglieder als engstirnig und ungeschickt.Ab dem 3. Juli wandte sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen Filbinger. Parteifreunde kritisierten seinen Umgang mit den Vorhaltungen nun auch öffentlich. Norbert Blüm schrieb in einem Artikel vom 10. Juli über persönliche Schuld trotz formalen Rechthabens und folgerte, Kommunisten hätten dasselbe Recht zur „Umkehr“ wie NSDAP-Mitglieder. Der „Radikalenerlass“, dessen verschärfte Anwendung in Baden-Württemberg Filbinger verfügt und dies über den Bundesrat als Bundesgesetz durchzusetzen versucht hatte, sei infolge der Affäre zu überdenken. Er solle „Fehler“ zugeben, denn „die Selbstgerechten“ könne man nicht verteidigen.Am 11. Juli gab das Bundesarchiv bekannt, es habe Filbinger schon am 24. Mai von weiteren Aktenfunden zu seinen Urteilen 1945, darunter den „Phantomurteilen“, informiert. Daraufhin gingen die führenden Gremien von CDU und CSU zu ihm auf Distanz. Die Welt schrieb am 12. Juli, trotz der „Nibelungen-Gymnastik der CDU“ seien Filbingers politische Tage „selbstverständlich gezählt“; Matthias Walden kommentierte in der ARD am Folgetag, Filbingers Festhalten an seinem Amt schade dem „Geist der Demokratie“. Einige Medien (FAZ, 14. Juli, Der Spiegel, 17. Juli) machten den erwarteten Rücktritt zum Thema. Franz Josef Strauß sagte am 29. Juli vor Parteifreunden, Filbinger sei sein Verhalten am Kriegsende nicht vorzuwerfen, aber „mit Ratten und Schmeißfliegen führt man keine Prozesse.“Lothar Späth, damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag Baden-Württembergs, berief zum 27. Juli eine Sondersitzung seiner Partei ein, deren Teilnehmer Filbinger nochmals ihre „kritische Solidarität“ versicherten. Nach der Bekanntgabe des vierten Todesurteils am 3. August versuchten die Landesgremien jedoch, Filbinger zum Rücktritt zu bewegen, und begannen die Suche nach einem Nachfolger.Am 7. August 1978 nachmittags trat Filbinger von seinem Amt als Ministerpräsident zurück. Er erklärte dazu: „Dies ist die Folge einer Rufmordkampagne, die in dieser Form bisher in der Bundesrepublik nicht vorhanden war. Es ist mir schweres Unrecht angetan worden. Das wird sich erweisen, soweit es nicht bereits offenbar geworden ist.“ Schon vorher hatte Filbinger gegenüber dem Spiegel-Journalisten Felix Huby von einem „linken Abschusskartell“ gesprochen. Er sah sich zeitlebens als Opfer eines „Feldzugs linksliberaler Medien“. Seine Anhänger in der Landes-CDU, sein Vorgänger Gebhard Müller, sein Nachfolger Erwin Teufel und rechtskonservative sowie neurechte Autoren teilten diese Sicht.Für Filbingers Kritiker hatte er seinen Rücktritt selbst verursacht. Dass er keine Reue gegenüber den Opferangehörigen zeigte, kritisierte Theo Sommer als starr und uneinsichtig: „Er wehrt jede Schulderfahrung ab…“ Seine Haltung zu den damals diskutierten Antiterrorgesetzen stimme mit seinen Anträgen und Urteilen als Marinerichter überein: „Er bleibt dem Obrigkeitsstaat hörig … Er ist ein Mann von law and order geblieben…“.Der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger führt Filbingers Rücktritt auf damalige Forderungen konservativer Medien, der Zeitgeschichtler Knud Andresen auf eine damalige Liberalisierung der CDU zurück, durch die etwa Filbingers Einsatz für den Radikalenerlass nun hinderlich gewirkt habe. Der Politikwissenschaftler Klaus Kamps beschreibt den Rücktritt als Folge missglückten „Skandalmanagements“ Filbingers: Er habe mit einer „Salamitaktik“ reagiert und damit umso stärkere Recherchen zu seiner Vergangenheit herausgefordert. Doch nicht seine Tätigkeit als Marinerichter, sondern deren aufgedeckte Verschleierungsversuche seien ihm zum Fallstrick geworden. Nur Verzicht auf Lügen hätte den Schaden für den Skandalisierten begrenzen können; erst das Ertapptwerden dabei mache diesen unbeherrschbar.Ende März 1979 gab Filbinger auch sein Amt als einer von sieben stellvertretenden Bundesvorsitzenden ab. Die baden-württembergische CDU ernannte ihn 1979 zum Ehrenvorsitzenden. Im CDU-Bundesvorstand blieb er bis 1981. == Nachgeschichte == === Rehabilitierungsversuche === Filbinger versuchte in den folgenden Jahrzehnten, seine Rehabilitierung zu erreichen. Dazu veröffentlichte er unter anderem 1987 seine Memoiren. Mit deren Titel Die geschmähte Generation erklärte er sich zum Sprecher der Generation der NS-Zeit. Darin entfaltete er frühere Angaben, wonach er seit 1938 Mitglied eines widerständigen Freiburger Freundeskreises um Reinhold Schneider gewesen sei. Der spätere katholisch-konservative Publizist Karl Färber hatte ihm dies im Entnazifizierungsverfahren 1946 bezeugt. Für diesen christlichen Kreis sei Gegnerschaft zum Hitlerregime „selbstverständliche Voraussetzung“ gewesen. Seinen Dienst bei der NS-Marinejustiz bezeichnete er als „aristokratische Form der Emigration“. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 hätten ihn „für eine Verwendung nach geglücktem Attentat auf Adolf Hitler vorgesehen“. Der Sohn Paul von Hases, Alexander von Hase, habe ihm dies brieflich am 7. Juni 1978 bestätigt.Reinhold Schneider ist als Gegner des Nationalsozialismus bekannt. Doch er, Karl Färber und sein Freundeskreis waren keine Mitglieder des christlich-marktliberalen, im Dezember 1938 gegründeten Freiburger Kreises. Filbingers angebliche Rolle bei Stauffenbergs Putschversuch von 1944 beruht nur auf seiner Eigenangabe zu dem unveröffentlichten Brief Alexander von Hases. Infolge der Filbingeraffäre fanden Historiker heraus, dass Paul von Hase selbst an Todesurteilen der Wehrmacht mitgewirkt hatte.Ferner erklärte Filbinger, nur indem die Marinejustiz die Soldatendisziplin wahrte, habe die Kriegsmarine im Frühjahr 1945 Millionen ostdeutsche Flüchtlinge über die Ostsee retten können. Sein Anwalt Gerhard Hammerstein behauptete am 4. April 1995 in einem Leserbrief an die Badische Zeitung wahrheitswidrig, „der Matrose G.“ (Gröger) sei im Verlauf dieser Rettungsaktion fahnenflüchtig geworden. Fahnenflucht habe diese gefährdet.1992 gaben zwei ehemalige Offiziere beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR an, dessen Hauptverwaltung Aufklärung habe Filbinger seit seinem großen, mit dem Slogan Freiheit statt Sozialismus errungenen Wahlsieg 1976 als Anwärter auf das Bundespräsidentenamt beobachtet. Daraufhin traf sich Filbinger am 30. April 1993 mit einem der beiden Autoren, Günter Bohnsack, und veröffentlichte dann das von diesem unterzeichnete Gesprächsprotokoll als Anhang zu seinen Memoiren mit dem Titel Die Wahrheit aus den Stasiakten. Darin hieß es: „Wir haben Filbinger durch aktive Maßnahmen bekämpft, d.h., Material gesammelt, gefälschtes oder verfälschtes Material in den Westen lanciert.“ Was dieses Material war, wann es entstand und wer es verfasste, gab Bohnsack nicht an. Ungenannte Kollegen hätten es ihm erzählt, erklärte er Filbinger im Beisein eines Zeugen des MAD. Dass das MfS Hochhuth in Ost-Berlin damit versorgt habe, wie Filbinger es in das Protokoll aufnehmen wollte, bestritt er. Er und Brehmer hätten keine Dokumente mit Todesurteilen Filbingers fabriziert und westlichen Kontaktpersonen zugespielt. Bundesdeutsche Journalisten sahen in dem Protokoll daher einen Versuch, den Eindruck gefälschter Todesurteile zu erwecken und sich so zum Stasi-Opfer zu machen.Filbinger hielt bis an sein Lebensende daran fest, Opfer einer Medienhetze geworden zu sein und kein Unrecht getan zu haben, so dass er keine Schuld eingestehen müsse. Er erklärte in verschiedenen Interviews 2002 und 2003: „Ich hätte damals offensiv sagen sollen: ‚Durch den Filbinger ist kein einziger Mensch ums Leben gekommen.‘“ – „Wer meuterte, gefährdete das Ganze.“ Dieser Sicht stimmen Teile der CDU bis heute zu. Helmut Kohl hatte 1978 von einer „erneuten Entnazifizierungskampagne“ gesprochen und wiederholte dies in seinen Memoiren 2004, betonte dort aber auch, dass Filbinger die Affäre „mit einem menschlichen Wort des Bedauerns an die Angehörigen der Opfer“ hätte überstehen können. Dies habe er ihm damals vergeblich geraten.Das von Filbinger 1979 gegründete, bis 1997 geleitete rechtskonservative Studienzentrum Weikersheim stellte ihn auf seiner Homepage bis 2011 als NS-Gegner dar. Der ihm folgende Präsident Weikersheims, Wolfgang von Stetten, behauptete 1997 im Bundestag, Filbinger sei durch eine „ferngelenkte Stasikampagne“ gestürzt worden und inzwischen „absolut rehabilitiert“. Wer dies bestreite, entlarve sich als „Mittäter der Stasi“. Klaus Voss, Redakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, und der damalige Rechtsextremist Andreas Molau sahen Filbinger als „Opfer einer Hetze“. Sein Zeuge Guido Forstmeier verteidigte ihn 2000 in Weikersheim und nach seinem Tod 2007 in der rechtsextremen National-Zeitung.Demgegenüber beschrieb Ralph Giordano den Fall Filbinger als „schmähliches Beispiel“ für die „zweite Schuld“, die viele Deutsche durch Verdrängen und Verleugnen ihrer Beteiligung am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen nach 1945 auf sich geladen hätten. Für Neele Kerkmann und Torben Fischer verkörpert Filbinger durch „seine unbewegliche Rechtfertigungshaltung, die keinerlei selbstkritische Reflexion seiner Tätigkeit erkennen ließ, […] in den Augen der sensibilisierten Öffentlichkeit geradezu idealtypisch einen in Diktatur wie Demokratie erfolgversprechenden konservativ-autoritären Habitus, der sich durch ein ‚pathologisch gutes Gewissen‘ (Erhard Eppler) und – so die Ergänzung der Süddeutschen Zeitung – ein ‚pathologisch schlechtes Gedächtnis‘ auszeichnete.“Baden-Württembergs damaliger Ministerpräsident Günther Oettinger griff in seiner Trauerrede zum Staatsakt am 11. April 2007 Filbingers Behauptung, durch seine Urteile sei niemand zu Tode gekommen, wörtlich auf und bezeichnete ihn als „Gegner des Nationalsozialismus“. Dies löste bundesweit Empörung und Widerspruch bei vielen Opferangehörigen, Verbänden, Parteien und Prominenten aus; einige Historiker sprachen von Geschichtsfälschung. Nach deutlicher Kritik der Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm Oettinger den Ausdruck „Gegner“ am 16. April zurück. In diesem Zusammenhang wurden Filbingers Verhalten in der NS-Zeit und sein Umgang mit den Berichten darüber nochmals betrachtet. === Debatte über Filbingers Verhältnis zum Nationalsozialismus === Am 22. Mai 1978 veröffentlichte der Spiegel Auszüge aus einem Aufsatz Filbingers vom März/April 1935, in dem er die damals mit einer Denkschrift des preußischen Justizministers vorbereitete nationalsozialistische Strafrechtsreform erklärte. Erst der Nationalsozialismus, hieß es darin, habe den „wirksamen Neubau des deutschen Rechts“ geistig ermöglicht und schütze statt der Freiheitsrechte des Einzelnen die „Volksgemeinschaft“ durch einen starken Staat. Als „Blutsgemeinschaft“ müsse diese nach nationalsozialistischer Auffassung zudem „rein erhalten und die rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes planvoll vorwärtsentwickelt werden.“ Daher enthalte die Denkschrift „Schutzbestimmungen für die Rasse, für Volksbestand und Volksgesundheit, […]“. Weiter schrieb Filbinger: „Schädlinge am Volksganzen jedoch, deren offenkundiger verbrecherischer Hang immer wieder strafbare Handlungen hervorrufen wird, werden unschädlich gemacht werden.“ Darin habe das bisherige Strafrecht versagt, weil es Einflüsse von Erbanlagen, Erziehung und Umwelt auf das „Seelenleben des Verbrechers“ untersucht habe, um den „meist unverbesserlichen“ Täter zu resozialisieren, statt „auf eine eindrucksvolle und scharfe Strafe sowie wirksamen Schutz der Gesamtheit bedacht“ zu sein. Das neue Gesetz werde jedoch nur durch „lebendige Richterpersönlichkeiten“ in das Volk hinein wirken; es verlange daher „den neuen Juristen, der aus Kenntnis und Verbundenheit mit dem Volke des Volkes Recht spreche“, nicht bloß nach formaler Sach- und Gesetzeslage. Filbinger erklärte 1978 dazu, er habe damals nur Ansichten seines damaligen Lehrers Erik Wolf referiert, ohne diese zu übernehmen. Politikwissenschaftler und Historiker vermuten dennoch, dass Elemente der nationalsozialistischen Volkstums- und Rassenlehre, die sich im September 1935 in den Nürnberger Rassegesetzen niederschlug, seine Urteile als Marinerichter später mitbestimmten und er auch nach der deutschen Kapitulation „der nationalsozialistischen Denkweise noch sehr verhaftet“ gewesen sei. Laut Militärhistoriker Frank Roeser 2007 ließen die Nationalsozialisten nur für sie zuverlässige Juristen als Militärrichter arbeiten, und man konnte dieses Amt ohne Nachteile für sich ablehnen. Der Richter Helmut Kramer schrieb im Mai 2007 dazu: In einer Gedenkrede 1960 in Brettheim hatte sich Filbinger von nationalsozialistischem Unrecht distanziert. Dort hatte ein Standgericht die „Männer von Brettheim“ – einen Bauern, der Hitlerjugend-Angehörige entwaffnet hatte, und zwei Beamte, die ihn dafür nicht zum Tod verurteilen wollten – 1945 kurz vor Kriegsende erhängt. Das Ansbacher Gericht erklärte das Standgerichtsurteil in einem Verfahren gegen die Mörder 1960 für rechtsgültig, nachdem es den verurteilten Kriegsverbrecher Albert Kesselring und Erich Schwinge als Sachverständige gehört hatte. Als Reaktion darauf bezeichnete Filbinger die Erhängungen als „himmelschreiendes Unrecht“. === Debatte über Filbingers Handlungsspielräume === Ob und wie weit Filbinger Grögers Hinrichtung mitverursacht hatte, wurde zu einer zentralen Streitfrage der Affäre. Grögers ehemaliger Verteidiger Werner Schön erklärte am 4. Mai 1978 in einem Leserbrief, Filbingers Beteiligung sei ihm nicht erinnerlich; er habe wohl nur eine Statistenrolle gehabt. Zwar habe das Gericht der Weisung des Gerichtsherren nicht folgen müssen, und es habe durchaus rechtliche Argumente gegen die Todesstrafe gegeben. Aber der Ankläger hätte eine geringere Strafe nur mit neuen Fakten beantragen können. Diese seien jedoch schon in Grögers erstem Verfahren geklärt gewesen.Rudolf Augstein verwies am 8. Mai auf die von 1938 bis 1945 geltende Kriegsstrafverfahrensordnung, die die Weisungsbefugnis der Gerichtsherren eng begrenzte und Anklagevertreter verpflichtete, rechtliche Bedenken gegen eine Weisung vorzutragen und schriftlich festzuhalten, falls diese unberücksichtigt blieben. Davon hatte Filbinger bei Gröger abgesehen, weil er die Weisung, wie er Augstein gegenüber bestätigte, nicht für rechtswidrig hielt. Wegen seiner antinazistischen Haltung habe er aussichtslose Fälle „anstandslos passieren lassen, um in aussichtsreicheren Fällen erfolgreich tätig werden zu können“.Am 12. Mai fragte Zeitredakteur Theo Sommer, ob „Bemühung, Mannhaftigkeit, vielleicht schon ein wenig Schläue genügt haben könnten, das nur scheinbar Unabwendbare abzuwenden?“ Joachim Fest fragte in der FAZ am 26. Mai, „ob nicht etwas weniger beflissener Erledigungswahn dem Verurteilten das Leben hätte retten können“.Der Historiker Heinz Hürten meinte in einem 1980 erschienenen Aufsatz, Filbinger habe wegen der in der Verhandlung aufgedeckten Täuschungsversuche Grögers nur die Todesstrafe beantragen können. Er habe als Ankläger auch nicht auf die dem Urteil folgende gerichtliche Prüfung eines Gnadengesuchs einwirken dürfen. Die Hinrichtung habe sich nach der Urteilsbestätigung durch den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine nicht mehr hinauszögern lassen. Hürten erwähnte einen anderen Marine-Ankläger, der nach einem Todesurteil eine Eingabe an den Oberbefehlshaber gesandt und dafür zwar einen dienstlichen Verweis erhalten, jedoch die Aufhebung des Urteils erwirkt hatte. Golo Mann sprach schon am 6. August 1978 von einer „Menschenhatz“ gegen Filbinger. 1987 folgte er Filbingers Memoiren: Das Todesurteil gegen Gröger habe festgestanden, seine Rettung sei „von vornherein unmöglich“ gewesen. Filbinger sei kein Anhänger Hitlers, sondern eines „freiheitlichen Rechtsstaates“ gewesen, der sich gegen seinen Einsatz als Militärjurist gewehrt habe. In seinem Amt habe er sich dann so „human“ verhalten, „wie er irgend durfte.“ Er könne durchaus zwei ohnehin nicht vollstreckbare Todesurteile vergessen haben. Mann fragte, ob Hochhuth 1978 „eine Liste deutscher Politiker durchging, biographische Fakten studierte und sich dann für die Akten eines Marinerichters entschloß – oder, ob er Winke von anderswoher erhalten hat.“Zu Filbingers 90. Geburtstag 2003 untersuchten Historiker das Thema erneut. Florian Rohdenburg fand bei Recherchen im Bundesarchiv, dass Ankläger und Richter der NS-Militärjustiz nie bestraft wurden, wenn sie von Vorgaben der Gerichtsherrn abweichende Anträge stellten oder Urteile fällten. Ihm folgend meinte Wolfram Wette, Filbinger hätte seinen Vorgesetzten mitteilen können, dass er das erstinstanzliche Urteil gegen Gröger weiter für ausreichend halte. Denn Grögers militärischer Vorgesetzter hatte ihn in einer Stellungnahme für den zweiten Prozess als „hoffnungslosen Schwächling“ bezeichnet, „der nie seine Soldatenpflichten erfüllen wird“. Bei fehlender „Mannhaftigkeit“ konnte man nach dem NS-Militärrecht von der Todesstrafe absehen. Dass Filbinger dies nicht erwog, führt Wette auf seine Geringschätzung Grögers zurück: Dieser sei für ihn wegen seiner militärischen Vorstrafen „für die kämpfende Volksgemeinschaft ohne Wert“ gewesen. Dagegen zeige Forstmeiers Aussage, dass er sehr wohl Handlungsspielräume zum Vermeiden eines Todesurteils gehabt habe.Dagegen betonte Günther Gillessen im November 2003 im Anschluss an Hürten und Franz Neubauer erneut die damaligen Prozessumstände: Filbinger habe den Fall erst nach Abschluss der Untersuchung mildernder Umstände übernommen, also die Anklage nicht mit vorbereiten und der gesetzmäßigen Weisung des Flottenchefs nicht widersprechen können. Ein Gnadengesuch habe nur dem Verteidiger zugestanden, Gnadengründe hätte nur der Richter dem Gerichtsherrn darstellen müssen. 2004 erstattete Strafanzeigen gegen Filbinger wegen der Mitwirkung an Todesurteilen wurden nicht weiter verfolgt.Militärhistoriker Manfred Messerschmidt sagte nach Prüfung der Originalakten zum Fall Gröger im April 2007: „Filbinger hätte die Todesstrafe nicht fordern müssen, er hat trotzdem in dem Verfahren mitgespielt. Das war gut, um seine Position als Marine-Oberstabsrichter zu sichern. Aus anderen Fällen ist bekannt, dass es keinen Zwang dazu gab. Filbinger hätte nicht einmal ein Disziplinarverfahren fürchten müssen, hätte er sich anders entschieden…“ So sei etwa Reichkriegsgerichtsrat Hans-Ulrich Rottka für seine häufigen Anträge auf genauere Prüfung der Anklage, um voreilige Todesurteile zu vermeiden, nur entlassen worden.Helmut Kramer zufolge versuchte Filbinger zu verschleiern, dass er als Ankläger „ein ungerechtes Todesurteil gefordert und damit das Gericht in Zugzwang gebracht“ habe. Er sei einer der „furchtbaren Juristen“, aber nur ein typischer Mitläufer unter etwa 2.500 bis 2.800 Militärrichtern der NS-Zeit gewesen. === Historische und rechtliche Aufarbeitung der Wehrmachtsjustiz === Nach Filbingers Rücktritt eröffnete Franz Josef Strauß eine Bundestagsdebatte über die Verjährungsfrist für NS-Verbrechen am 14. August 1978 mit dem Vorwurf: „Das Materialsammeln, Schnüffeln, Drecksuchen, Anschießen, Hetzen, Rufmorden, Abschießen war eine beliebte Methode der Nazis, deren gelehrige Schüler die Roten heute sind.“ Er forderte eine Generalamnestie für NS-Täter. Herbert Wehners Gegeninitiative, Verjährung bei Mord generell aufzuheben, fand 1979 eine parteiübergreifende Mehrheit. Die Filbinger-Affäre verstärkte die um 1966 begonnene empirische Erforschung der Wehrmachtsjustiz. Der ehemalige Luftwaffenrichter Otto Peter Schweling und Erich Schwinge hatten diese 1977 als „antinationalsozialistische Enklave der Rechtsstaatlichkeit“ dargestellt und Todesstrafen auch für jugendliche Deserteure gerechtfertigt, die sogar nach Hitlers Erlass hätten freigesprochen werden können. Mit ihren Argumentationsmustern verteidigte sich Filbinger seit 1978.Dagegen wiesen Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg/Breisgau 1987 detailliert nach, dass die Wehrmachtsjustiz in „nahtloser Anpassung an die NS-Rechtslehre“ über 30.000 Todesurteile und zehntausende Hinrichtungen zu verantworten hatte. Ohne Hochhuths Angriff auf Filbinger, so die Autoren, wäre dies weiter kaum näher untersucht worden. 1987 erschien Ingo Müllers Buch Furchtbare Juristen, das die Rolle der NS-Justiz und den Umgang der bundesdeutschen Justiz damit behandelte. 1988 verwies Heinrich Senfft in einem Buch zur politischen Justiz in Deutschland darauf, dass die Todesurteile der NS-Richter nach 1945 nicht gesühnt wurden.Der Bundesgerichtshof (BGH), der die Strafverfolgung von Juristen der NS-Zeit lange Zeit weitgehend verhindert hatte, stellte am 16. November 1995 in einem obiter dictum (lat. „nebenbei Gesagtes“) fest: Die NS-Justiz habe die Todesstrafe beispiellos missbraucht. Ihre Rechtsprechung sei „angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als ‚Blutjustiz‘ bezeichnet worden“. Eine „Vielzahl ehemaliger NS-Richter“, die in der Bundesrepublik ihre Laufbahn fortsetzten, hätten „strafrechtlich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen… Darin, daß dies nicht geschehen ist, liegt ein folgenschweres Versagen bundesdeutscher Strafjustiz.“ Dies begrüßten Juristen und Militärhistoriker als Abkehr von alten Betrachtungsweisen und „selbstkritische Bilanz des Umgangs mit der NS-Militärjustiz“.Dieser Wandel ermöglichte allmählich auch die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz und Entschädigung ihrer Angehörigen, die vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland verlangte. Das am 23. Juli 2002 verabschiedete Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege rehabilitierte alle als Deserteure der Wehrmacht Verurteilten nachträglich. Am 8. September 2009 hob der Bundestag einstimmig auch alle wegen sogenannten Kriegsverrats gefällten NS-Urteile auf, die bis dahin noch einer Einzelfallprüfung überlassen waren.Am 22. Juni 2007 eröffnete die Berliner Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Wien eine Wanderausstellung unter dem an das bekannte Filbingerzitat angelehnten Titel „Was damals Recht war … – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“. Sie zeigt analog zur Wehrmachtsausstellung in Österreich und Deutschland Ergebnisse von zwei Jahren Forschung zur Unrechtsjustiz der NS-Zeit. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte zur Eröffnung der Ausstellung: „Die Jahrzehnte währenden Debatten um die Motive der Angeklagten verstellten den Blick auf die Justiz, die sie verurteilte. Die Wehrmachtgerichte waren ein Instrument des nationalsozialistischen Unrechtsstaates.“ === Künstlerische Verarbeitung === Am 29. Juni 1979 führte der Regisseur Claus Peymann, den Filbinger zuvor zum Rücktritt gezwungen hatte, in Stuttgart das Stück Vor dem Ruhestand, Eine Komödie von deutscher Seele von Thomas Bernhard erstmals auf. Die Hauptfigur ist ein ehemaliger KZ-Kommandant und nachmaliger Gerichtspräsident, der noch als Rentner jährlich zu Heinrich Himmlers Geburtstag seine alte Uniform anzieht. Wie Filbinger glaubt auch diese Figur eines Juristen, heute könne nicht Unrecht sein, was einst Recht gewesen sei. Das Drama war von der Filbingeraffäre angeregt und behandelte das Thema, dass sich die alten Nazis nicht geändert haben. Obwohl es nicht direkt auf der Affäre beruhte, wurde es als Antwort darauf und auf die damit verbundenen Themen verstanden.Im Oktober 1979 erschien Hochhuths Theaterstück Juristen, das im Anschluss an sein Buch Eine Liebe zu Deutschland, aber allgemeiner die Rolle von Wehrmachtsrichtern in der NS-Zeit thematisierte. Es wurde zum Teil als unzeitgemäß plakativ, effekthascherisch und künstlerisch wertlos kritisiert.2014 berichtete der ehemalige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Sergej Lochthofen von einem Interview, das er 1978 mit einem U-Boot-Maat geführt hatte. Dieser berichtete ihm, er habe im Krieg als Prozessbeobachter in Norwegen zwei Todesurteile Filbingers miterlebt, die beide kurz danach vollstreckt worden seien. In einem Fall habe Filbinger einen Elsässer des Hochverrats angeklagt, weil dieser sich als Franzose, nicht als Deutscher sah und sich darum nicht am Morden habe beteiligen wollen. Im zweiten Fall habe er einen Matrosen angeklagt, der laut Meldung eines Kameraden „Feindsender“ gehört haben sollte. Lochthofens Bericht dazu wurde in der DDR nicht veröffentlicht, angeblich, um sich nicht „in die inneren Angelegenheiten der BRD“ einzumischen. == Literatur == Verteidigend Bruno Heck (Konrad-Adenauer-Stiftung, Hrsg.), Heinz Hürten, Wolfgang Jäger, Hugo Ott: Hans Filbinger – Der Fall und die Fakten: Eine historische und politologische Analyse. Hase & Koehler, Mainz 1980, ISBN 3-7758-1002-1. Franz Neubauer: Der öffentliche Rufmord. 2., veränderte und überarbeitete Auflage. Roderer, Regensburg 2007, ISBN 978-3-89783-589-4.Kritisch Wolfram Wette (Hrsg.): Filbinger. Eine deutsche Karriere. Zu Klampen, Springe 2006, ISBN 3-934920-74-8. Helmut Kramer: Hans Filbinger. In: Helmut Kramer, Wolfram Wette (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt: Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Aufbau Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-351-02578-5, S. 43ff. Thomas Ramge: Der furchtbare Jurist. Marinerichter Hans Karl Filbinger und sein pathologisch gutes Gewissen. (1978) In: Thomas Ramge: Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37069-7 (Buchauszug online) Rolf Surmann: Filbinger. NS-Militärjustiz und deutsche Kontinuitäten. In: Dieter Schröder, Rolf Surmann (Hrsg.): Der lange Schatten der NS-Diktatur. Unrast, Münster 1999, ISBN 3-89771-801-4. Heinrich Senfft: Richter und andere Bürger. 150 Jahre politische Justiz und neudeutsche Herrschaftspolitik. Greno, Nördlingen 1988, ISBN 3-89190-957-8, S. 16–37. Rosemarie von dem Knesebeck (Hrsg.): In Sachen Filbinger gegen Hochhuth. Die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1983, ISBN 3-499-14545-6.Zeitgeschichtlicher Kontext Jörg Musiol: Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel in den späten 1970er Jahren. Tectum, Marburg 2006, ISBN 3-8288-9116-0. Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945 [Das Buch zur ARD-Fernsehserie]. Campus, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36790-4. Michael Schwab-Trapp: Konflikt, Kultur und Interpretation: eine Diskursanalyse des öffentlichen Umgangs mit dem Nationalsozialismus. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, ISBN 3-531-12842-6. == Weblinks == Baden-Württembergs Ministerpräsident muss 1978 zurücktreten: Die Filbinger-Affäre. SWR2, 14. Mai 2020 Horst Bieber, Joachim Holtz, Joachim Schilde, Hans Schueler, Theo Sommer: Dokumentation: Erschießen, Sargen, Abtransportieren. Die Zeit, 12. Mai 1978; aktualisierter Nachdruck, 30. März 2007 / 16. April 2007 Theo Sommer: Die Bürde der Vergangenheit. Die Zeit, 12. Mai 1978; Nachdruck 13. April 2007 Hans Filbinger – eine Karriere in Deutschland (Memento vom 29. April 2015 im Internet Archive) (DasErste.de, 4. November 2015) Umstrittene Trauerrede für Hans Filbinger In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Kapitel: Der „Fall“ Hans Filbinger) Jörg Beuthner: 07.08.1978 - Rücktritt von Hans Filbinger. WDR ZeitZeichen vom 7. August 2013 (Podcast). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Filbinger-Aff%C3%A4re
Ford-Aktion
= Ford-Aktion = Die Ford-Aktion war eine Kampagne der IG Metall zur Gewinnung von Mitgliedern innerhalb der Belegschaft der Ford-Werke Köln in den Jahren von 1960 bis 1966. Hans Matthöfer, damals Bildungsexperte dieser Gewerkschaft, war bis August 1964 der Spiritus Rector dieser Aktion, die aus seiner Sicht nicht nur den gewerkschaftlichen Organisationsgrad bei Ford erhöhen, sondern auch Impulsgeber für eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik sein sollte. In die Aktion band er gezielt junge Soziologen und Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) ein. Sie scheiterte an der Reaktion des Ford-Managements und an innergewerkschaftlichen Widersprüchen. == Vorgeschichte == === Ausgangssituation bei Ford === Nur fünf Prozent der Arbeiter und zwei Prozent der Angestellten bei Ford in Köln-Niehl waren 1960 Mitglieder der IG Metall. Aufgrund dieses außerordentlich schwachen Organisationsgrades galt Ford in der Gewerkschaft als „Krebsschaden für die Gewerkschaftsbewegung im Kölner Raum“, denn die Belegschaft – Ford beschäftigte damals rund 20.000 Personen – war hier im Vergleich mit anderen großen Unternehmen der westdeutschen Metallindustrie am schlechtesten organisiert.Ford war kein Mitglied im zuständigen Arbeitgeberverband, darum galten hier keine Flächentarifverträge. Löhne und Arbeitsbedingungen wurden zwischen der Geschäftsleitung und dem Ford-Betriebsrat in Betriebsvereinbarungen fixiert. Im Vergleich zu Tariflöhnen zahlte Ford deutlich mehr, diese positive Lohndrift war rechtlich jedoch schwächer abgesichert. === Schwerpunktaktion der Gewerkschaft === Ende 1960 wählte die IG Metall in verschiedenen Bezirken Unternehmen für sogenannte Schwerpunktaktionen aus, um dort die bislang schwache gewerkschaftliche Organisation und Mitgliedersituation zu verbessern. Ford zählte zu diesen Betrieben. Die Kampagne wurde vom neuen Bildungsexperten der IG Metall, Hans Matthöfer, koordiniert.Von Schwerpunktaktionen versprach sich die Gewerkschaft nicht allein einen verbesserten Organisationsgrad in traditionell kaum erreichten Betrieben, sondern auch die Hebung des Organisationsgrades in der Metallindustrie insgesamt. Dieser war seit Anfang der 1950er Jahre rückläufig. === Ford und Gewerkschaften === Matthöfer verfügte seit langem über exzellente Kontakte zu den United Automobile Workers (UAW). Dieser amerikanischen Gewerkschaft war es 1941 nach langen Kämpfen gelungen, das Ford-Werk am Firmensitz Dearborn nahe Detroit zu organisieren. Wenn die Ford-Aktion Erfolg haben würde, hätte sich vieles auch auf andere Unternehmen übertragen lassen – so das Kalkül. Das Unternehmen stand außerdem für eine epochemachende Arbeitsorganisation: den Fordismus. Ford erweiterte zudem seine Marktanteile in der expansiven deutschen Automobilindustrie.Die Kontakte zur UAW gingen auf den USA-Aufenthalt Matthöfers zurück. Er hatte von August 1950 bis Juni 1951 an der University of Wisconsin in Madison studiert. Im Mittelpunkt hatten dabei die industrial relations gestanden sowie Theorie und Praxis der amerikanischen Gewerkschaften. Ferner war er in Kontakt zur Independent Socialist League um Max Shachtman gekommen, einer am Demokratischen Sozialismus orientierten Splitterpartei mit Einfluss in der UAW. Auf diese Weise hatte Matthöfer die Bandbreite des Demokratischen Sozialismus kennengelernt sowie den Umgang mit unkonventionellen Ideen und praktische Möglichkeiten zur Verbesserung von Gewerkschaftsarbeit vor Ort. === Betriebsnahe Gewerkschaftspolitik === Für Matthöfer war Ford interessant, weil der Kampf um einen Betriebstarifvertrag der Einstieg für eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik hätte werden können. Ihm ging es in der Auseinandersetzung um die Chance, auch unter schwierigen Umständen eine betriebsnahe Tarifpolitik, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und eine betriebsbezogene Bildungsarbeit eng miteinander zu verzahnen. Die Fokussierung der Gewerkschaftsarbeit auf betriebliche Belange war für ihn ausschlaggebend, um ihr neuen Schwung zu verleihen. Sie sollte – so Matthöfer rückblickend 1968 – die Gewerkschaftsmitglieder auffordern, sich vor Ort, vor allem im Betrieb, zu engagieren, damit Gefahren der gewerkschaftlichen Bürokratisierung und lähmende Routinen gebannt würden; das Ziel sei eine Demokratisierung der Verhältnisse. Nicht nur in Betrieben sei die Machtfrage zu stellen, sondern auch in der Gewerkschaft selbst. Entscheidungen würden weniger von Gewerkschaftsvorständen und Bezirksleitern getroffen werden, sondern in betrieblichen Gremien, beispielsweise betrieblichen Tarifkommissionen. An der Basis würde es um die Aktivierung der Gewerkschafter gehen, um die Gewinnung neuer Mitglieder, um Einfluss auf die Arbeitsbedingungen sowie um die Tarifierung von Löhnen und Gehältern.Zentrale Akteure für diesen Prozess sollten nicht in erster Linie die gewerkschaftlichen Vertrauensleute oder Betriebsräte sein, sondern die sogenannten Bildungsobleute. Diese Aktivisten wurden von der unter Matthöfers Leitung stehenden Bildungsabteilung in großer Zahl ausgebildet – 1967 waren es bereits 4.000 – und mit modernen Lehrmaterialien ausgestattet. Das Lernen sollte dabei bei den aktuellen und alltäglichen Arbeitserfahrungen der Lernenden ansetzen. Mit Hilfe dieser Bildungsobleute sei es aussichtsreich, festgefahrene Konflikte zwischen Unternehmen und Gewerkschaften durch flexible und direkte Aktionen in Betrieben in Bewegung zu bringen. Dieser werde zu einem Ort des Kampfes, des Lernens und der Veränderung. Bewusstseinsbildung und Engagement der Gewerkschaftsmitglieder sowie Überwindung einer als Gefahr empfundenen Stagnation der Klassenauseinandersetzungen waren angestrebt. Im Ganzen handelte es sich um das Projekt einer Erneuerung der Gewerkschaften von innen heraus. Matthöfer entwickelte seine Überlegungen unter Rückgriff auf militärstrategische Ausführungen von Basil Liddell Hart und Erkenntnisse der westdeutschen Industrie- und Betriebssoziologie, die sich bereits in den 1950er Jahren als Kreis interessierter, empirisch arbeitender Soziologen sowie als Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gefunden hatte. == Durchführung == === Informationsbeschaffung === Über die konkreten Arbeitsbedingungen und über das Betriebsklima bei Ford lagen anfänglich nur wenige Informationen vor. Das resultierte aus dem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Auch die zögerlich-abwehrende Position der um ihren Einfluss fürchtenden Kölner Verwaltungsstelle der IG Metall und des weitgehend autonom agierenden Betriebsrats unter Leitung von Peter Görres, einem charismatischen Arbeiterführer alten Stils, kamen hinzu.Die Informationen wurden durch eine subversive Studie zum Betriebsklima erhoben. Den Auftrag dazu erhielt das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Die Durchführung übernahmen 1961 überwiegend dem SDS angehörende Frankfurter Soziologiestudenten. 50 organisierte und 50 nicht-organisierte Arbeitnehmer wurden dazu in halbstandardisierten Hausinterviews befragt. Manfred Teschner und Michael Schumann leiteten die Untersuchung und werteten sie aus.Zwei zentrale Ergebnisse kristallisierten sich unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Befragten heraus: Zum einen galt das Arbeitstempo durch die hohe Geschwindigkeit des Fließbands als extrem belastend. Sie verlangte von den Arbeitern eine sehr hohe Leistung. Zum anderen übten die Befragten Kritik an der Willkür der Vorgesetzten. Im Mittelpunkt standen hier „Nasenprämien“, die die Meister willkürlich als Leistungsprämie gewähren oder entziehen konnten. In den Interviews stellte sich zudem eine überraschend hohe Bereitschaft heraus, der Gewerkschaft beizutreten. Der geringe Organisationsgrad hing also offensichtlich nicht damit zusammen, dass Ford-Arbeiter zufrieden waren und Gewerkschaften grundsätzlich für überflüssig hielten. Erkennbar wurde auch eine weit verbreitete Skepsis gegenüber dem Betriebsrat, diesem mangele es an Kontakt zur Basis. === Betriebszeitung === Anfang 1961 hob Matthöfer eine Betriebszeitung aus der Taufe, die Tatsachen. Der Titel lehnte sich an die Ford Facts an, dem Organ der UAW für Ford-Mitarbeiter. Sie folgte dem Motto der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World: To Fan the Flames of Discontent (dt.: Die Flamme der Unzufriedenheit anfachen). Matthöfer betätigte sich als Herausgeber, als presserechtlicher Verantwortlicher (ab 1963), als Redakteur und oft auch als Autor für diese Zeitung. Tatsachen, dieser kollektive Organisator, sollte Argumente und Informationen der Gewerkschaften verbreiten, zum Gewerkschaftseintritt motivieren, für einen betrieblichen Tarifvertrag werben und Mythen über die Verhältnisse bei Ford zerstören. Zu diesen Mythen zählte die Behauptung, die Quote der Betriebsunfälle sei bei Ford unterdurchschnittlich. Tatsachen widerlegte diese Behauptung mit Zahlen und regte auf diese Weise die drastische Senkung der Unfallzahlen durch Schulung und Einsatz von Sicherheitsbeauftragten an. Das Medium griff die Sachverhalte auf, die zu besonders großer Unzufriedenheit mit der Arbeit führten. Um die vielen Katholiken in der Belegschaft anzusprechen, stellte Matthöfer immer wieder Bezüge zur katholischen Soziallehre her. === Verdeckte Aktionen === Matthöfer hatte nacheinander zwei Unterstützer in der Kölner Verwaltungsstelle der IG Metall. Schon zu Beginn der Ford-Aktion gelang es dort dem ersten, Theo Röhrig, einen vollständigen Lochkarten-Satz der Ford-Belegschaft zu besorgen. Deren Auswertung und der Abgleich mit Ford-Organisationsplänen ergab, bei welchen Arbeitnehmern anzusetzen war, wenn es um Schlüsselstellen des Produktionsprozesses ging, auch bei eventuellen Streiks. Die Lochkarten waren zudem die Basis für detaillierte Karteien der Beschäftigten nach Gewerkschaftsmitgliedschaft, Wohnort, Geschlecht, Altersgruppe und Herkunft. Nachfolger von Röhrig in der Verwaltungsstelle wurde Karl Krahn, gelernter Kfz-Mechaniker, bei Ford eingesetzter Bandarbeiter und später Lehrstuhlinhaber für Industriesoziologie an der Universität Bielefeld. Er wurde allerdings entlassen, nachdem er auf einer Gewerkschaftsversammlung den IG-Metall-Bevollmächtigten des Bezirks Köln wegen dessen massiver Behinderung der Ford-Aktion kritisiert hatte.Die spektakulärste Aktion war die Mitarbeit von Günter Wallraff, damals am Anfang seiner Laufbahn. Durch Vermittlung von Jakob Moneta, Chefredakteur von Metall und Freund Matthöfers, arbeitete dieser in der Lackiererei von Ford und verfasste darüber mehrere Artikel für die Metall. Mit anderen Reportagen später zu einem Buch zusammengestellt, erreichten sie hohe Auflagen. === Erste Erfolge === Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg und lag 1962 durchschnittlich bei 3.286, 1963 bei 4.002. Die Auflage der Tatsachen stieg ebenfalls. Die Aktivisten gewannen zunehmend Einfluss auf den Betriebsrat und die Vertrauensleute. Im April 1963 wurde der Betriebsrat neu gewählt, hier setzten sich die Aktivisten durch. Als Neumitglieder besetzten sie 25 von 28 Plätzen dieses Gremiums, bei den Wahlen erhielten die von Tatsachen unterstützten Kandidaten die meisten Stimmen. Auch der neue Betriebsratsvorsitzende gehörte zu den Befürwortern der Ford-Aktion. === Verbandsmitgliedschaft von Ford und Streikvorbereitung === Als nächsten Schritt der Ford-Aktion ging es nun um die Verhandlungen über einen Betriebstarifvertrag. Bevor darüber aber im Oktober 1963 nach langen Verzögerungen erstmals zwischen den potenziellen Vertragspartnern gesprochen wurde, war Ford zum 1. Mai 1963 dem Arbeitgeberverband beigetreten. Das Ford-Management behauptete, damit würden die im Flächentarifvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen, Löhne und Gehälter gelten. Die IG Metall betonte hingegen, der existierende Flächentarifvertrag enthalte gar keine Lohnrahmenbedingungen. Aus Gewerkschaftssicht existiere deshalb keine Friedenspflicht. Für eine betriebsnahe Betriebspolitik war der Eintritt von Ford in den Arbeitgeberverband ein Rückschritt, denn damit wurden Tarifentscheidungen nicht im Betrieb selbst getroffen, sondern betriebsfern. Auf Gewerkschaftsseite übernahmen die Funktionäre in der Kölner Bezirksverwaltung und im Frankfurter Gewerkschaftsvorstand die Zuständigkeit. Die Ford-Aktion verlor damit „ihren bisherigen experimentellen Spielraum“. Der Vorstand um Otto Brenner schlug aber zunächst einen scharfen Ton an und drohte mit Streik, wenn es nicht zu Verhandlungen über einen Betriebstarifvertrag kam. Matthöfer und seine Mitstreiter organisierten alles Notwendige, um für einen solchen Arbeitskampf gerüstet zu sein, der aus ihrer Sicht im März oder April 1964 zu führen sei. Mit Hilfe einer zweiten, im Frühjahr 1964 von infas durchgeführten Umfrage informierte sich die IG Metall erneut über die Stimmung in der Belegschaft. Die Erhebung zeigte unter anderem die Befürwortung eines Betriebstarifvertrages und eine hohe Streikbereitschaft, sowohl bei IG Metall-Mitgliedern als auch bei Unorganisierten. Weil Gespräche mit den Arbeitgebern nicht zustande kamen, erklärte der Gewerkschaftsvorstand im Mai 1964 das Scheitern der Verhandlungen. Die Urabstimmung wurde auf den 22. Juni festgelegt. === Gerichtliche Auseinandersetzungen und Kompromiss === Die Unternehmensleitung von Ford unter ihrem amerikanischen Chef John S. Andrews reagierte mit einer Einstweiligen Verfügung, die der Gewerkschaft die Durchführung der Urabstimmung untersagte. Der Widerspruch der Gewerkschaft wurde am 26. Juni 1964 endgültig abgewiesen. Die anschließende gerichtliche Klärung folgte der herrschenden Meinung: Weil der Flächentarifvertrag für Ford gelte, müsse sich die Gewerkschaft an die Friedenspflicht halten, Urabstimmungen seien nicht zulässig.Der Kölner Bezirksleiter der IG Metall erwies sich als Bremser jeder weiteren Initiative, doch noch zu einem Betriebstarifvertrag zu kommen. Der Vorstand der IG Metall suchte in einem Spitzengespräch mit Gesamtmetall nach einer gesichtswahrenden Lösung. Sie bestand in folgender Regelung: Die Gewerkschaft erkannte den Vorrang des Flächentarifvertrags an und auch die Friedenspflicht. Im Gegenzug sollten unverzüglich Verhandlungen über eine den Flächentarifvertrag ergänzende Regelung für Ford aufgenommen werden; die Entgelt- und Arbeitsbedingungen sollten als Zusatzvereinbarung zum Flächentarifvertrag so lange gelten, bis ein neuer Flächentarifvertrag diese Zusatzvereinbarung überlagert. Auch dieser Kompromiss bot noch Chancen, einen Betriebstarifvertrag zu erreichen. Die Arbeitgeberseite sträubte sich allerdings gegen alles, was den Anschein dieser Vertragsform annahm. Wichtiger aber war die Uneinigkeit im Arbeitnehmerlager: Der Kölner Bezirksleiter der IG Metall wollte kaum mehr, als die bisherige Lohndrift abzusichern. Die Bandgeschwindigkeit, Prämienregelungen oder die Organisation von Springern kümmerten ihn wenig. Aufgrund dieser Unstimmigkeiten kam keine Zusatzvereinbarung zum Flächentarifvertrag zustande. Schlussendlich blieb wieder nur eine Betriebsvereinbarung. == Ergebnisse == === Mitgliederwachstum und Gremien === Hans Matthöfer zog sich im August 1964 aus der Führung der Aktion zurück, weil er kaum noch Einfluss auf die Ereignisse in Köln hatte. 1966 verfasste er den offiziellen Schlussbericht. Dieser verdeutlichte, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder von 1.000 auf 7.000 gewachsen war, das bedeutete jährlich eine Steigerung der Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge um rund eine halbe Million DM. Der Organisationsgrad in den umliegenden Betrieben der Metallindustrie stieg ebenfalls, weil es bei Ford traditionell eine hohe Fluktuation gab. Zu den Erfolgen zählte Karl Krahn rückblickend auch die Etablierung eines Betriebsrats, der die innerbetrieblichen Probleme und Missstände angehen wollte, ferner den nun gewerkschaftlich orientierten Vertrauensleutekörper. === Nicht erreichte Ziele === Der Einstieg in die betriebsnahe Gewerkschaftspolitik war jedoch nicht gelungen. Hans Matthöfer hatte sich und seinen Mitstreitern noch im Mai 1963 hohe Ziele gesteckt: Der Lebensstandard der Ford-Arbeiter sollte durch höhere Löhne und mehr Urlaub steigen; die Arbeitsbedingungen sollten besser werden; in der Lohnfindung sollte es gerechter zugehen; die Mitbestimmung am Arbeitsplatz sollte durchgesetzt werden; die Unfallquote sollte gesenkt und die Arbeitssicherheit erhöht werden; ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad von 80 Prozent war angestrebt; der Kader der Vertrauensleute sollte 800 Mann umfassen; ein betriebsnaher Tarifvertrag sollte erreicht werden. In Anbetracht dieser Messlatte war die Ford-Aktion nicht erfolgreich. === Spanisches Echo === Ein fernes Echo erzeugte die Kampagne nach dem Tod Francos (1975) in Spanien. Unter der Leitung von Carlos Pardo, eines von Hans Matthöfer unterstützen Sozialisten, wurden die Beschäftigten von Seat nach dem Muster der Ford-Aktion ab 1977 für die sozialistische Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) gewonnen. Die UGT überflügelte dabei in einigen Seat-Werken die kommunistische Gewerkschaft Comisiones Obreras (CC.OO). == Forschung == === Kritische Betrachtungen === 1974, ein Jahr nach dem aufsehenerregenden wilden Streik bei Ford, setzten sich die drei Frankfurter Jura-Studenten Volker Delp, Lothar Schmidt und Klaus Wohlfahrt mit der Ford-Aktion auseinander. Sie fragten dabei, inwieweit bereits durch die Ford-Aktion Rahmenbedingungen geschaffen worden sind, die knapp ein Jahrzehnt später dazu führten, dass die bei Ford streikenden türkischen Arbeiter nicht vom Vertrauensleutekörper, dem Betriebsrat und der IG Metall unterstützt und von vielen deutschen Arbeitskollegen als Störer wahrgenommen wurden. Die Ford-Aktion sei, so die These, in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gescheitert, weil es ein Bündnis zwischen der Kölner IG-Metall-Verwaltungsstelle und der Mehrheit des Frankfurter Gewerkschaftsvorstands gegeben habe. Diese beiden Gruppen hätten eine betriebsnahe Gewerkschafts- und Tarifpolitik abgelehnt und letztere nur als Werbeversprechen eingesetzt, um Mitglieder zu gewinnen. Der Beitrag der Studenten übersah die Differenzen zwischen der Kölner Bezirksverwaltung und der Frankfurter Zentrale, die nach dem Verbot der Urabstimmung (Ende Juni 1964) in den Verhandlungen um einen Betriebstarifvertrag erkennbar wurden. Außerdem verstieg er sich zu der These, der Vertrauensleutekörper sei nach der Ford-Aktion korrumpiert worden. Die komplexen innergewerkschaftlichen Widersprüche wurden auf diese Weise „auf einen Basis-Apparat-Konflikt verkürzt“.Peter Birke behandelte die Ford-Aktion in einem Abschnitt seiner 2007 publizierten Dissertation über wilde Streiks in Deutschland und Dänemark. Sie sei eine „Kopfgeburt“ gewesen, die Gruppe um Matthöfer habe wie traditionelle Arbeiterfunktionäre gedacht. Auch Birke sprach das Verhältnis von IG Metall und türkischen Gastarbeitern an. Er erblicke darin einen der Faktoren, die zum Scheitern der Ford-Aktion geführt haben. Der Anteil der meist türkischen Arbeiter an der Belegschaft im Kölner Ford-Werk habe bereits 1964 bei mehr als 30 Prozent gelegen; die von der Gruppe um Matthöfer gewählte Konzeption sei ohnmächtig geblieben im Hinblick auf diese gravierende Veränderung innerhalb der Belegschaft. === Sozialwissenschaften und Gewerkschaften === Klaus Peter Wittemann, langjähriger Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, setzte sich mehrfach mit der Ford-Aktion auseinander. Mehrere Aufsätze behandelten das Thema bereits Mitte der 1980er Jahre. 1994 legte Wittemann eine 300-seitige Monografie vor. Entstanden ist sie im Rahmen des Projekts „Industriesoziologie und IG Metall“. Es zählte zum Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel „Verwendungszusammenhänge sozialwissenschaftlicher Ergebnisse“. Seine Beiträge erörterten die Möglichkeiten und Grenzen einer Zusammenarbeit von Gewerkschaftern und politisch links stehenden Sozialwissenschaftlern. Die Ford-Aktion betrachtete Wittemann als Fallbeispiel für eine solche Interaktion, bei der beide Seiten ein großes Interesse am Betrieb zeigten, dem Ort, der Arbeiter präge. Für Wittemann war das Wesentliche die Verwendung des erarbeiteten soziologischen Wissens. Der Optimalfall war für ihn, wenn „das neue Wissen die Verwender in die Lage versetzt, in den gegebenen Handlungsbedingungen Ressourcen zu entdecken, mit deren Hilfe eine veränderte Praxis möglich ist“.Wittemann maß die Ford-Aktion an der wesentlich von Matthöfer ausgearbeiteten Strategie, durch eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik tatsächlich zu einer Mobilisierung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaftsmitglieder sowie zu Machtveränderungen in Betrieb und Gesellschaft zu gelangen. Bezogen auf diese Ziele konstatierte er ein Scheitern. === Biografische Einordnung === In seiner umfassenden Biografie über Hans Matthöfer ordnete der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser die Ford-Aktion in den Lebensweg Matthöfers ein. Abelshauser machte darauf aufmerksam, dass sein Protagonist Ende 1960 drei umfangreiche Projekte gleichzeitig anging: die Ford-Aktion, den Umbau des Bildungswesens bei der IG Metall sowie seine (erfolgreiche) Kandidatur um ein Mandat für den Deutschen Bundestag. Matthöfer verband weitgefasste strategische Überlegungen mit Detailarbeit bei Planung und Durchführung der Kampagne. Auch Abelshauser bezeichnete den Ausgang der Ford-Aktion als Niederlage für Matthöfer, die sich dieser allerdings nie eingestand. Nach der Ford-Aktion befasste sich Matthöfer noch mit weiteren Schwerpunkt-Aktionen, beispielsweise bei der VDO Adolf Schindling AG, bei der AEG und bei Siemens. Aber auch in diesen Fällen, die Matthöfer als Fallstudien für die Bildungsarbeit ansah, blieben Erfolge, die deutlich über gesteigerte Mitgliederzahlen hinausgingen, aus. == Anhang == === Literatur === Werner Abelshauser: Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer. Dietz, Bonn 2009, ISBN 978-3-8012-4171-1. Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark. Campus, Frankfurt/ New York 2007, ISBN 978-3-593-38444-3. Klaus Peter Wittemann: Ford-Aktion. Zum Verhältnis von Industriesoziologie und IG Metall in den sechziger Jahren. Schüren, Marburg 1994, ISBN 978-3-89472-108-4. Karl Krahn: Die Schwerpunktaktion der IG Metall in den Kölner Ford-Werken von 1960–1966. In: Helmut Schmidt, Walter Hesselbach (Hrsg.): Kämpfer ohne Pathos. Festschrift für Hans Matthöfer zum 60. Geburtstag am 25. September 1985. Redaktion: Gerhard Beier. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1985, ISBN 3-87831-414-0, S. 38–43. Michael Schumann, Klaus Peter Wittemann: Betriebsnahe Politik – fast vergessener Versuch einer gewerkschaftlichen Offensive. In: Helmut Schmidt, Walter Hesselbach (Hrsg.): Kämpfer ohne Pathos. Festschrift für Hans Matthöfer zum 60. Geburtstag am 25. September 1985. Redaktion: Gerhard Beier. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1985, ISBN 3-87831-414-0, S. 44–49. Klaus Peter Wittemann: Industriesoziologie und IG Metall. Zum Verhältnis von „interner“ und „externer“ Sozialwissenschaft. In: SOFI-Mitteilungen. Nr. 10, Göttingen 1984, S. 22–28. (sofi-goettingen.de) Volker Delp, Lothar Schmidt, Klaus Wohlfahrt: Gewerkschaftliche Betriebspolitik bei Ford. In: Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch, Eberhard Schmidt (Hrsg.): Gewerkschaften und Klassenkampf. Kritisches Jahrbuch '74. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1974, ISBN 3-436-01969-0, S. 161–175. Einsehbar in: Vor 40 Jahren: Wilder Streik bei Ford-Köln – Zur Vorgeschichte: Gewerkschaftliche Betriebspolitik bei Ford. In: Trend Onlinezeitung. September 2013, abgerufen am 21. Februar 2023. === Weblinks === IG Metall: Front gegen Ford. In: Der Spiegel 23/1964. 3. Juni 1964, S. 41–42; abgerufen am 3. Mai 2019. Heinz Michaels: Sonderaktion Ford. In: Die Zeit 24/1964. 12. Juni 1964, archiviert vom Original am 23. Juni 2019; abgerufen am 3. Mai 2019. === Einzelnachweise ===
https://de.wikipedia.org/wiki/Ford-Aktion
Frankfurter Stadtgeläute
= Frankfurter Stadtgeläute = Das Große Frankfurter Stadtgeläute ist die harmonische Abstimmung aller 50 Glocken von zehn Kirchen in der Innenstadt von Frankfurt am Main, die seit der Säkularisation 1803 Eigentum der Stadt sind. Darüber hinaus bezeichnet es den seit 1856 bestehenden Brauch der Stadt Frankfurt am Main, unabhängig von den Gottesdienstzeiten viermal im Jahr für jeweils 30 Minuten alle Glocken läuten zu lassen. Traditionelle Termine für das Stadtgeläute, entsprechend den Hochfesten des Kirchenjahres, sind am Samstag vor dem Ersten Advent um 16:30 Uhr am Heiligen Abend um 17:00 Uhr am Samstag vor Ostern (Karsamstag) um 16:30 Uhr am Samstag vor Pfingsten um 16:30 Uhr.Auch in der Neujahrsnacht läuten um Mitternacht alle Glocken für eine Viertelstunde. == Geschichte == Bereits von alters her war es in Frankfurt Brauch, zu bestimmten Gelegenheiten alle Glocken der Stadt gemeinsam läuten zu lassen. Das erste überlieferte Gesamtgeläute fand am 28. und 29. Oktober 1347 zu Ehren des verstorbenen Kaisers Ludwig des Bayern statt. Bei den Kaiserwahlen gehörte das Stadtgeläute zum traditionellen Eröffnungszeremoniell, wenn die Kurfürsten gemeinsam vom Römer zur Wahlkapelle in der Bartholomäuskirche schritten. === Das Domgeläute vom Mittelalter bis heute === Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei immer das Geläute des Domes St. Bartholomäus. 1438 wurden die ersten Glocken im Turm der Bartholomäuskirche aufgehängt, dessen Neubau 1415 begonnen hatte. Nach und nach erhielt der Pfarrturm ein Geläute von zehn Glocken, von denen sechs dem Bartholomäusstift und vier der Stadt gehörten. Über den Gebrauch der Glocken lagen das katholische Stift und der Rat der Stadt in beständigem Streit, besonders nach der Einführung der Reformation in Frankfurt im Jahr 1533. Die Stiftsglocken durften im Wesentlichen nur zu liturgischen Anlässen läuten. Drei der städtischen Glocken dienten als Schlagglocken für die Turmuhr, während die Sturmglocke nur in Notfällen geläutet wurde. Alle Domglocken wurden am 15. August 1867 beim Dombrand zerstört. 1877 erhielt der wiederaufgebaute Dom ein neues Geläute, das von der Gießerei Hermann Große in Dresden geschaffen wurde. Die neun Glocken wiegen zusammen 23.385 kg. Darunter ist auch die 11.850 kg schwere Gloriosa, eine der größten Glocken in Deutschland. Vorbild für diese Glocke war die berühmte Erfurter Gloriosa des Gerhard van Wou im Erfurter Dom. Für das Geläute wurden fünf Tonnen Bronze aus den Trümmern der zerstörten Glocken sowie 13 Tonnen aus erbeuteten französischen Geschützen des Krieges von 1870/1871 verwendet. Am 22. März 1878 fand zum Geburtstag des deutschen Kaisers Wilhelm I. das erste Große Stadtgeläute unter Beteiligung der neuen Domglocken statt. Am 24. Dezember 1878 erließ der Magistrat eine bis heute gültige Satzung, in der der Gebrauch der städtischen Domglocken durch die katholische Kirchengemeinde geregelt ist. Im Gegenzug behielt sich die Stadt das Recht vor, das gesamte Domgeläute für städtische oder nationale öffentliche, nicht kirchliche Zwecke jederzeit zur Verfügung zu behalten. Die Läutemannschaft (für ein einstündiges Geläute aller Domglocken waren 44 Personen erforderlich) wurde zur Hälfte aus dem städtischen Etat bezahlt. Das Domgeläute überstand den Ersten Weltkrieg unbeschädigt, lediglich die historisch bedeutsame, aber musikalisch unwesentliche Sturmglocke wurde 1917 eingeschmolzen und nicht mehr ersetzt. Außer den Glocken in den sogenannten Glockenböden des Pfarrturms verfügte der Dom zeitweise noch über weitere Glocken, die nicht Teil des Stadtgeläutes waren. So befand sich z. B. bis zum Dombrand 1867 in der Laterne auf dem Turm eine kleine Sturmglocke, das Gemperlin. Im Dachreiter auf der Vierung hing ebenfalls bis 1867 die Prim- oder Ratsglocke, die zur ersten Morgenmesse um 6 Uhr sowie zu den Ratssitzungen geläutet wurde. Das Messglöckchen im kleinen Dachreiter auf dem Chor musste 1942 abgeliefert werden. Am 27. August 2005 wurde der Dachreiter auf der Vierung nach eineinhalbjähriger Restaurierung wieder an seinen Platz gesetzt. Bei dieser Gelegenheit wurde auch eine 132 kg schwere Sakramentsglocke aufgehängt, die seitdem während der Messe zur Wandlung läuten soll. Gleichzeitig erhielt auch der Dachreiter auf dem Chor wieder eine kleine Messglocke, die nur 76 kg schwere Marienglocke. Beide Glocken wurden 2004 von der Gießerei Petit & Gebr. Edelbrock in Gescher gegossen und sind nicht Bestandteil des Stadtgeläutes. === Dotationskirchen === Seit der Einführung der Reformation 1533 wurden die sechs lutherischen Kirchen von der Stadt unterhalten. Mit der Säkularisation 1803 fielen auch alle katholischen Stifts- und Klosterkirchen sowie der übrige Kirchenbesitz an die Stadt, die damit auch für ihren Unterhalt zu sorgen hatte. Am 2. Februar 1830 erließ die Freie Stadt Frankfurt nach langen Verhandlungen die beiden Dotationsurkunden für die evangelisch-lutherischen (nicht jedoch die evangelisch-reformierten) und die katholischen Kirchen, in denen die staatlichen Pflichten für den Unterhalt der Kirchen und ihrer Ausstattung sowie für die Besoldung der Geistlichkeit geregelt waren. Die Kirchen wurden den jeweiligen Gemeinden „für deren Cultus zum immerwährenden und alleinigen Gebrauch“ übertragen. Die Stadt ist verpflichtet, die „Kirchengebäude und Zugehörungen, wie die Orgeln und dergleichen, fortwährend in gutem Zustande“ zu erhalten. 1866 annektierte Preußen die Freie Stadt Frankfurt. Im Frankfurter Rezeß wurde 1869 das Vermögen der Freien Stadt aufgeteilt. Vermögen mit eher staatlichem Charakter sollte dem Königreich Preußen anheimfallen, kommunales Vermögen der preußischen Stadt Frankfurt am Main. Dabei wurden die Dotationsverpflichtungen auf die Stadt Frankfurt am Main übertragen. Nach einer Reihe von Veränderungen im Laufe der Zeit gibt es heute acht Dotationskirchen in Frankfurt am Main: fünf evangelische (Katharinenkirche, Peterskirche, Heiliggeistkirche, Dreikönigskirche und Alte Nikolaikirche), sowie drei katholische (Dom, Liebfrauenkirche und Leonhardskirche). Das Karmeliterkloster und die Paulskirche gehören ebenfalls der Stadt, zählen aber nicht zu den Dotationskirchen, weil sie nicht mehr kirchlich genutzt werden. Die Stadt Frankfurt hat ihre Verpflichtung aus der Dotation stets wahrgenommen. Dazu gehörte auch der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg während der Luftangriffe auf Frankfurt am Main zerstörten Kirchen. Aus der Dotation ergibt sich die im Vergleich zu anderen deutschen Städten einmalige Situation, dass auch sämtliche Glocken innerhalb der historischen Stadtmauern nicht den Kirchengemeinden, sondern der städtischen Gemeinde gehören. Einzige Ausnahme ist die Deutschordenskirche in Sachsenhausen, die bei der Säkularisation nicht an die Stadt Frankfurt fiel, sondern an den Fürsten Friedrich August von Nassau-Usingen und nach verschiedenen Eigentümerwechseln 1881 wieder in den Besitz der katholischen Kirche gelangte. === Das Große Stadtgeläute als städtische Institution === Am 6. Mai 1856 beschloss der Senat der Freien Stadt Frankfurt: „Es hat inskünftig an den hohen Festen: Ostern, Pfingsten und Weihnachten jeweils am Abend vorher von 5–6 Uhr, als auch am ersten Festtage Morgens von 7 bis 8 Uhr ein allgemeines Geläute durch sämtliche Glocken stattzufinden.“ Dieses heute so genannte Große Stadtgeläute wurde mehrmals bestätigt, zuletzt durch Magistratsbeschluss vom 29. September 1978. Seitdem findet das Große Stadtgeläute viermal jährlich „als Bereicherung für die Bürger“ und als „Beitrag zur Förderung des Fremdenverkehrs“ regelmäßig statt. === Zweiter Weltkrieg und Wiederaufbau === Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Glocken des Stadtgeläutes musikalisch nicht aufeinander abgestimmt. Obwohl schon im Ersten Weltkrieg viele wertvolle Glocken eingeschmolzen wurden, blieben die älteren Glocken der Dotationskirchen und auch das Domgeläute unbeschädigt. 1944 wurden sämtliche Dotationskirchen außer der Leonhardskirche im Bombenkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main zerstört. In den meisten Fällen bedeutete das auch für die in den Kirchen verbliebenen Glocken das Ende. Allerdings waren bereits 1940 alle Bronzeglocken im Reich als Metallspende des deutschen Volkes zur Schaffung einer langfristigen Rohstoffreserve beschlagnahmt worden. Lediglich eine Glocke, meist die kleinste eines Geläutes, durfte jeweils als Läuteglocke auf den Türmen verbleiben. Auch die meisten Frankfurter Glocken mussten 1942 an die Reichsstelle für Metalle abgeliefert werden, darunter acht der neun Domglocken bis auf die Bartholomäusglocke. Aufgrund günstiger Umstände blieben die Domglocken aber unversehrt. Sie befanden sich bei Kriegsende auf dem Hamburger Glockenfriedhof und konnten im Oktober 1947 wieder nach Frankfurt zurückgeholt werden, wo auch die verbliebene Bartholomäusglocke den Krieg unbeschädigt überstanden hatte. 1954 ließ die Stadt durch den Mainzer Glocken- und Orgelsachverständigen Paul Smets (1901–1960) und den Glockengießer Fritz Rincker (1895–1969) aus Sinn ein Gutachten erstellen, um die beim anstehenden Wiederaufbau der Dotationskirchen neu zu schaffenden Geläute zu konzipieren. Smets schlug vor, alle Glocken harmonisch aufeinander abzustimmen. Das zwei Oktaven umfassende neunstimmige Domgeläute bildet dabei die Grundlage. Die übrigen Dotationskirchen erhielten neue Geläute, deren Stimmung von Smets festgelegt wurde. Eine Besonderheit bildete lediglich die Paulskirche, die bereits 1948 wiederaufgebaut worden war und dabei ein neues Geläute erhalten hatte. Die drei erhaltenen historischen Glocken von 1685 bzw. 1830 waren dabei nicht berücksichtigt worden. 1987 wurden deshalb die klanglich nicht zum Stadtgeläute passenden Glocken von 1948 dem Historischen Museum der Stadt übergeben und durch neugegossene Glocken entsprechend dem Smets-Gutachten ersetzt. Mit dem neuen Paulskirchengeläute war das musikalische Konzept eines harmonisch abgestimmten Stadtgeläutes im Wesentlichen verwirklicht, wenn auch im strengen Sinne erst die 1995 gegossenen Glocken des Karmeliterklosters das Stadtgeläute vollendeten. Eine zentrale elektronische Steuerung erhielten die zehn Geläute nicht. Mit den in vielen Kirchen vorhandenen dezentralen Steuerungen können die Läutemaschinen individuell für das Stadtgeläute programmiert werden, wenn nicht die Handbedienung bevorzugt wird. Wegen der COVID-19-Pandemie in Deutschland und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen konnte das Stadtgeläute 2020 nicht wie üblich stattfinden. Die Stadt lud dazu ein, das Stadtgeläute stattdessen online auf der städtischen Website zu verfolgen. == Disposition == Die beiden kleinen Glocken der Paulskirche sowie die kleinste Glocke von St. Leonhard waren ursprünglich nicht in Smets’ Planung enthalten. Das Geläut der Karmeliterkirche war eine Oktave tiefer geplant. Smets unterschied drei Klanggruppen, deren eine das Domgeläut in Dur bildete, die zweite eines in Moll (Pauls-, Katharinen- und Liebfrauenkirche). Die Glocken der dritten Gruppe (Alte Nikolaikirche, St. Leonhard und Dreikönigskirche) fügten sich vermittelnd in den Gesamtklang ein. Daneben stehen noch die Geläute der Peterskirche und der Heiliggeistkirche, während die Karmeliterkirche die Klangkrone bilden sollte, um „den glanzvollen Abschluss des Gesamtgeläutes nach oben“ zu bewirken. Das vierstimmige Geläute der Deutschordenskirche in Sachsenhausen, auf der anderen Mainseite gegenüber der Innenstadt, ist ebenfalls harmonisch auf das Stadtgeläut abgestimmt. Die einzelnen Geläute werden im Folgenden in der Reihenfolge ihrer Entstehung beschrieben. === Dom St. Bartholomäus === Das neunstimmige Geläute des Domes wurde von Hermann Große in Dresden 1877 gegossen und hat ein Gesamtgewicht 23384,5 kg; die Hälfte davon entfällt auf die Gloriosa. Im Jahr 1987 mussten Gloriosa und Bartholomäus wegen Gussfehlern aufgeschweißt werden, wodurch sich auch ihre Abklingdauer um jeweils 60 Sekunden verlängerte.Vier Glocken dienen dem Uhrschlag: Den Viertelstundenschlag geben die Kleinste Glocke und Johannes (9 und 7), den vollen Stundenschlag Salveglocke und Bartholomäus an (4 und 3). Die Glocken haben, mit der größten beginnend, folgende – hier nicht buchstabengetreu wiedergegebene – Inschriften (in Klammern deutsche Übersetzung). === Katharinenkirche === Die Katharinenkirche erhielt 1954 ein Geläute aus vier Glocken, die von der Gießerei Rincker in Sinn gegossen wurden: Die vier Glocken wiegen zusammen 7943 kg, damit ist das Geläute nach dem Dom und der Paulskirche das drittgrößte des Stadtgeläutes. === Liebfrauenkirche === Die Liebfrauenkirche erhielt beim Wiederaufbau 1954 fünf Glocken der Gießerei Gebr. Rincker mit einem Gesamtgewicht von 3619 kg. Die Angelusglocke, die 1745 von Benedict und Johann Schneidewind in Frankfurt gegossen wurde, hängt im Dachreiter auf dem Chor der Kirche. Sie ist nicht Bestandteil des Stadtgeläutes. === St. Leonhard === Das sechsstimmige Geläute der katholischen Pfarr- und ehemaligen Stiftskirche St. Leonhard wurde 1956 von Friedrich Wilhelm Schilling in Heidelberg gegossen. Es hat ein Gesamtgewicht von 2619 kg. Die Glocken haben folgende Maße und Inschriften (Übersetzung in Klammern): === Alte Nikolaikirche === Aufgrund ihres schlanken Turmes sind die vier 1956 von der Gießerei Rincker in Sinn gegossenen Glocken relativ klein und klingen in ein- bis zweigestrichener Tonlage. Sie wiegen zusammen 1319 kg und tragen folgende Inschriften: Außerdem besitzt diese Kirche seit 1939 ein Glockenspiel, das nicht Teil des Stadtgeläutes ist. Es wurde 1957 gegossen und 1959 und 1994 auf insgesamt 47 Glocken erweitert. Es deckt den Tonumfang von g1 bis c5 ab (davon c2 bis c5 chromatisch) ab. Die Glocken wiegen zusammen 3500 kg, wobei die größte von ihnen allein 560 kg schwer ist. Es ist täglich dreimal um fünf Minuten nach der vollen Stunde um 09:05, 12:05 und 17:05 Uhr zu hören. Dabei werden jeweils zwei programmierte Melodien abgespielt, ein Kirchen- und ein Volkslied. Das Glockenspiel ist zudem über eine Klaviatur und Pedale spielbar. Solche Konzerte finden im Allgemeinen nur zu besonderen Anlässen statt. === Dreikönigskirche === Die fünf Glocken der Dreikönigskirche stammen von der Gießerei Gebr. Bachert in Bad Friedrichshall-Kochendorf. Sie wurden 1956 gegossen und wiegen zusammen 3984 kg. === Heiliggeistkirche === Die Heiliggeistkirche im Dominikanerkloster erhielt 1958 ein kleines Geläute aus drei Glocken von Gebr. Rincker. Sie wiegen zusammen 841 kg und decken sich mit den drei kleinsten Glocken des Domgeläuts. === Peterskirche === Als letzte der im Krieg zerstörten Innenstadtkirchen erhielt die Peterskirche beim Wiederaufbau 1964 ihr heutiges Geläute aus vier Glocken, die ebenfalls von der Firma Rincker stammen. Sie wiegen zusammen 5013 kg und tragen die Namen: === Paulskirche === Die Paulskirche hatte beim Wiederaufbau 1948 zunächst ein musikalisch misslungenes Geläute erhalten, das zudem nicht zum später entstandenen Konzept des Stadtgeläutes passte. Die Handelskammer der britischen Besatzungszone hatte eine monumentale Stahlglocke gestiftet, die Evangelische Kirche in Thüringen vier Bronzeglocken der Gießerei Schilling in Apolda. Alle Glocken waren musikalisch misslungen, was bei der Stahlglocke an ihrer falschen Konstruktion und bei den Bronzeglocken an dem zeitbedingten Mangel an hochwertiger Glockenbronze lag. Musikalischen Wert hatte nur die historische Christusglocke von 1830. Erst anlässlich der umfassenden Kirchenrenovierung 1987 wurde der Plan des Glockensachverständigen Paul Smets vollendet. Die Nachkriegsglocken wurden dem Historischen Museum übergeben, in dessen Bestand man inzwischen zwei erhalten gebliebene Glocken der Paulskirche von 1685 und 1830 wiederentdeckt hatte. Die drei historischen Glocken wurden 1987 durch drei neue Glocken der Karlsruher Glocken- und Kunstgießerei ergänzt. Die Bürgerglocke (fis0) erinnert an die Proklamation der Bürger- und Menschenrechte durch die Nationalversammlung. Sie trägt die Inschrift BÜRGERGLOCKE HEISSE ICH / DER BÜRGER RECHTE KÜNDE ICH / DIE KARLSRUHER GLOCKENGIESSEREI GOSS MICH 1987 und ein Bilderband mit Ereignissen der deutschen Geschichte 1848 bis 1949. Sie ist eine der größten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstandenen Glocken. Die Stadtglocke (h0) soll an die Toten des Krieges und die Zerstörung der Stadt erinnern. Die historische Christusglocke cis1 löste sich beim Stadtgeläut am Pfingstsamstag 1997 aus ihrem Joch und stürzte herab, wobei sie vollkommen zerstört wurde. Als Ersatz goss die Firma Rincker in Sinn 1998 eine neue gleichschwere cis1-Glocke, die Jubiläumsglocke, benannt nach dem 150-jährigen Jubiläum der Frankfurter Nationalversammlung. Die Paulskirche hat somit heute ein Geläute aus zwei historischen und vier modernen Glocken mit einem Gesamtgewicht von 15942 kg. Damit ist es nach dem Domgeläute das zweitgrößte in Frankfurt. === Karmeliterkloster === Das Karmeliterkloster erhielt 1995 vier kleine Cymbelglocken, die den Diskant des Stadtgeläutes bilden. Damit war die Disposition des Stadtgeläutes nach über 40 Jahren vollendet. Die Stimmung der Glocken ist allerdings eine Oktave höher als 1954 von Paul Smets geplant, das Gesamtgewicht beträgt daher statt 585 nur 141 kg. == Rundgang == Es gibt keinen Ort, von dem aus alle am Stadtgeläute beteiligten Glocken gleichzeitig zu hören sind. Vielmehr erschließt sich das Klangerlebnis nur durch einen Spaziergang. Erst dadurch kann man zu allen Kirchen, die sich auf ein Gebiet von ca. 1,1 × 0,75 km verteilen, eine Position einnehmen, die es erlaubt, alle Einzelgeläute zu hören, denn Klangweite und Stimmdurchsetzung der einzelnen Glocken sind sehr unterschiedlich. Da der Klang durch die dichte Bebauung der Innenstadt vielfach gebrochen und reflektiert wird, können sich die Klangeindrücke oft innerhalb weniger Meter entscheidend verändern. Da ein Stadtgeläute nur 30 Minuten dauert, sollte der Zuhörer dabei fast ununterbrochen in Bewegung bleiben, um alle Kirchen besuchen zu können; je nach Witterung kann es auch sinnvoll sein, den Weg mit einem Fahrrad zu absolvieren, was einen schnelleren Ortswechsel erlaubt. Allerdings kann es dabei zu erheblichen Behinderungen durch Fußgänger kommen, vor allem am Heiligen Abend, wenn tausende von Besuchern zum Stadtgeläute in die Innenstadt strömen. Die belebtesten Orte sind dabei meist die Neue Kräme, der Paulsplatz, der Römerberg und der Eiserne Steg. Die folgende Beschreibung ist eine Möglichkeit, ein Stadtgeläute zu erleben: Der Zuhörer beginnt an der Hauptwache mit dem Geläute der Katharinenkirche. Von dort führt der Weg über die Zeil bis zur Einmündung der Brönnerstraße. Hier sollte ein kleiner Abstecher hinüber zur Stephanstraße gehen, um die Peterskirche, die mit ihrem Geläute etwas dezentral liegt, gut hören zu können. Zurück auf der Zeil führt die Route in die Hasengasse direkt auf den Domturm zu, wo dessen mächtiges Geläute zum ersten Mal zu hören ist. Nach etwa 200 m geht es rechts durch die Töngesgasse. Am Liebfrauenberg ertönt das fünfstimmige Geläut der Liebfrauenkirche, und wenn der Besucher ein paar Meter weiter geht oder kurz rechts abbiegt, kombiniert sich deren Geläut mit dem der Katharinenkirche. Vom Liebfrauenberg geht es die Neue Kräme hinunter zum Paulsplatz. Auf dem Weg dorthin tritt das große Geläute der Paulskirche immer deutlicher hervor. Nach der Überquerung der Braubachstraße erreicht der Zuhörer den Römerberg. Hier verbinden sich die drei Geläute der Paulskirche, der Nikolaikirche und des Domes miteinander. Der Spaziergang führt über den Alten Markt in Richtung Dom, der an der Nord- und Ostseite umrundet wird. Dabei kann in Höhe des Domchores durch die Kannengießergasse das Geläute der Heiliggeistkirche gehört werden. Der beste Klangeindruck des Domes ist südlich des Turmes vom Weckmarkt aus zu hören. Hier ist besonders am Heiligen Abend, wenn das Stadtgeläute bei Dunkelheit stattfindet, deutlich die Gloriosa in der beleuchteten Glockenstube zu sehen. Ihr Klang dominiert so, dass die anderen acht Domglocken an dieser Stelle kaum wahrgenommen werden. Das ändert sich, sobald der Besucher ein paar Meter nach Westen in die Saalgasse geht und einen der Innenhöfe der dortigen Häuserblöcke betritt. Durch die Blockrandbebauung wird der Klang der Gloriosa so gedämpft, dass nun alle Domglocken und darüber die Glocken der Alten Nikolaikirche gehört werden können. Von hier geht der Weg zum Main, der etwa in Höhe der Saalhofkapelle erreicht wird. Über den Fluss erklingen die Glocken der Dreikönigskirche. Geht man von hier aus wenige Meter nach Norden in Richtung Saalgasse, so sind plötzlich die Glocken dreier Kirchen (Dom, Dreikönig, St. Nikolai) zu hören. Am Mainufer entlang geht die Beispielroute, am Eisernen Steg vorbei bis zum Leonhardstor, wo die Leonhardskirche mit ihren sechs Glocken zu hören ist. Auf dem Rückweg durch die Buchgasse erklingen noch die kleinen Glöckchen des Karmeliterklosters. Der Paulsplatz eignet sich als Abschlussort des Großen Frankfurter Stadtgeläutes. Die große Bürgerglocke der Paulskirche läutet noch fünf Minuten nach. == Das Stadtgeläute als Instrument der politischen Auseinandersetzung == 2005 fiel der erste Advent in den November. Daraufhin hatte der Frankfurter Magistrat erstmals an einem Adventssonntag die Öffnung der Geschäfte in der Innenstadt gestattet, weil die bis dahin gültige Rechtslage nur an den Sonntagen im Dezember die Ladenöffnung verbot. Am 18. November 2005 teilten die Evangelische und Katholische Kirche in Frankfurt in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit, dass die Glocken der Innenstadtkirchen am Samstag, den 26. November 2005 schweigen sollten als „Zeichen des stillen Protestes“ gegen den verkaufsoffenen ersten Adventssonntag. Die Kirchen sahen darin eine Abkehr von der „besonderen öffentlichen und politischen Wertschätzung der kirchlichen Feiertage“. Damit sei die Voraussetzung für das 1978 vertraglich vereinbarte Große Stadtgeläute von Seiten der Stadt entfallen. Die Katholische Kirche rief ihre Mitglieder zum Boykott des verkaufsoffenen Sonntages auf.Erstmals seit 1978 fiel damit ein Stadtgeläute aus. Der Magistrat hatte erklärt, mit der Ladenöffnung am Ersten Advent 2005 sollte verhindert werden, dass die Frankfurter zum Einkaufen ins Umland abwanderten. In zahlreichen Gemeinden des Rhein-Main-Gebietes sowie in den großen Einkaufszentren waren die Geschäfte am Ersten Advent 2005 ebenfalls geöffnet. Der Beschluss der Kirchen wurde in der städtischen Öffentlichkeit wochenlang kontrovers diskutiert. Der Präsident des Hessischen Einzelhandelsverbandes schätzte, dass über 90 % der Geschäfte in der Frankfurter Innenstadt und in Sachsenhausen am Ersten Advent 2005 geöffnet waren und bedauerte, dass man „im Vorfeld keinen vernünftigen Dialog geführt habe“.Am 19. Dezember 2005 kündigte das Hessische Sozialministerium an, dass Hessen – sobald der Bund die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen habe – ein eigenes Ladenöffnungsgesetz vorlegen werde. Am 23. November 2006 beschloss der Hessische Landtag das neue Ladenschlussgesetz, das am 1. Dezember 2006 in Kraft trat. Darin ist geregelt, dass künftig alle Adventssonntage von Sonderöffnungen frei bleiben müssen, auch wenn der erste Advent noch in den November fällt. == Literatur == Konrad Bund (Hrsg.): Frankfurter Glockenbuch. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-7829-0211-0. Erwin Hoheisel: Das Frankfurter Domgeläute – einst und jetzt. In: Almanach ’77, Jahrbuch für das Bistum Limburg. Verlag Josef Knecht, Limburg 1977, S. 106–108. Konrad Bund: Begleitheft zur Schallplattendokumentation (s. u.), 1986, ISBN 3-7829-0312-9. Michael Bermeitinger: Mainzer Erfindung ist Frankfurts ganzer Stolz – Großes Stadtgeläute – Professor Paul Smets schuf vor 60 Jahren die Glocken-Symphonie der zehn Innenstadtkirchen. In: Allgemeine Zeitung Mainz. Weihnachten 2014 (24. Dezember 2014); S. 14. == Tonträger == Stadtarchiv Frankfurt am Main (Hrsg.): Das Frankfurter Domgeläute und das Frankfurter Große Stadtgeläute. 1986. 2 Schallplatten 30 cm, stereo; mit Begleitheft von Konrad Bund (s. o.) Frankfurt am Main. Glocken, Glockenspiel, Großes Stadtgeläute. Axel-Gerhard-Kühl-Verlag, 1999, CD aufgenommen im Sommer 1999, digitale Qualität (DDD), mit ausführlichem Begleitheft. == Weblinks == Typisch Frankfurt: Das Große Stadtgeläute auf der städtischen Webseite www.frankfurt.de Frankfurt Großes Stadtgeläute Ostern 2015 auf YouTube. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Stadtgel%C3%A4ute
Frauenkirchhof (Dresden)
= Frauenkirchhof (Dresden) = Der Frauenkirchhof war der älteste bekannte Friedhof in Dresden. Er existierte seit dem ersten Bau der Frauenkirche, der auf das 10. oder 11. Jahrhundert datiert wird. Bis ins 16. Jahrhundert war der Frauenkirchhof der Hauptbestattungsplatz für die Einwohner Dresdens, die aufgrund großer Familiengrüfte ihre Toten oft über mehrere Generationen auf dem Friedhof beisetzten. Kunstgeschichtlichen Wert hatten vor allem reich ausgeschmückte und bemalte Schwibbogengräber. Durch Neubauten an der Frauenkirche wurde der Friedhof zunächst mehrmals verkleinert und schließlich trotz Protesten der Bevölkerung im Zuge des Baus der Bährschen Frauenkirche bis 1727 säkularisiert. Vom Friedhof haben sich Epitaphien und Grabsteine erhalten. Bei archäologischen Grabungen seit den 1980er-Jahren konnten Grabbeigaben, darunter mehrere Totenkronen, geborgen werden. == Geschichte == === Bis Anfang des 18. Jahrhunderts === Seit dem Bau der ersten Frauenkirche, der in der Forschung auf das Ende des 10. bzw. den Beginn des 11. Jahrhunderts gelegt wird, wurde der Kirchhof als Begräbnisstätte genutzt. Im Jahr 1987 durchgeführte Grabungen auf dem ehemaligen Frauenkirchhof legten Gräberreste vermutlich aus dem 11. oder frühen 12. Jahrhundert frei.Im Spätmittelalter verlor die Frauenkirche ihre Bedeutung als Stadtkirche zwar zunehmend an die Kreuzkirche, genoss jedoch als Begräbnisstätte das höchste Ansehen; um die Kreuzkirche konnte aus Platzgründen kein Friedhof angelegt werden und auch Begräbnisse innerhalb der Kreuzkirche waren verboten, sollte die Kirche als Versammlungsort doch „rein gehalten“ werden. Ansonsten war im Spätmittelalter nur Klöstern und Spitälern erlaubt, ihre Toten auf einem eigenen Kirchhof beizusetzen – außer dem Frauenkirchhof existierte zu dieser Zeit nur der Friedhof des Bartholomäushospitals. Andere ständige Friedhöfe, wie der Annen- und der Johanniskirchhof, entstanden erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Während Trauerfeiern in Dresden in der Kreuzkirche stattfanden, folgte anschließend stets der Leichenzug durch die Stadt hin zur Frauenkirche, wo die kurze Bestattungszeremonie stattfand. Seit der Reformation 1539 diente die Frauenkirche mit ihrem Kirchhof 20 Jahre lang ausschließlich für Bestattungen. Der Frauenkirchhof war ab Mitte des 16. Jahrhunderts von allen Seiten baulich eingefasst. Er wurde erstmals durch die Bebauung der Gegend zwischen Augustusstraße, Töpfergasse, An der Frauenkirche und dem Neumarkt verkleinert. Die Kirche war nun nicht mehr vom Kirchhof umschlossen, sondern lag im Westen direkt an einer Häuserzeile. Auch zum Neumarkt hin wurde der Kirchhof verkleinert. Eine Mauer erhielt der Kirchhof im Jahr 1561. Der Kirchhof konnte nun über vier Eingänge betreten werden: Von der Pirnaischen Gasse am Neumarkt, von wo auch die Leichen auf den Kirchhof gebracht wurden, vom Jüdenhof, von der Töpfergasse und von der Rampischen Gasse. Zwei Nebenpforten verbanden das Maternihospital und die Kirchnerwohnung mit dem Friedhof. Durch die Mauereinfassung und die umfassende Bebauung konnte der Frauenkirchhof nicht mehr erweitert werden. Eine Neubelegung der Grabstätten erfolgte daher in verhältnismäßig kurzen Intervallen. Die ausgescharrten Gebeine wurden jedoch nicht vernichtet, sondern im sogenannten Beinhaus auf dem Kirchhof in einem tiefen Gewölbe aufbewahrt. Der Vorgängerbau des Beinhauses war möglicherweise eine kleine Kapelle auf dem Kirchhof, die 1373, 1375 und 1388 bewidmet wurde und der Dreifaltigkeit und der heiligen Anna geweiht war. Vermutlich wurde sie abgerissen und durch das 1514 vollendete Beinhaus ersetzt. Am 24. April 1514 erfolgte die Einsegnung des Beinhauses durch Bischof Johannes von Meißen. Die Steinmetzen und Maurer stifteten dem Beinhaus auf dem Frauenkirchhof 1514 einen Altar der heiligen Anna, der vier gekrönten Märtyrer und des heiligen Stuhles Petri. Im Jahr 1558 wurde das Beinhaus oberirdisch abgetragen, wobei die unterirdischen Gewölbe erhalten blieben. Sie waren noch 1714 „mit Gebeinen gantz angefüllet und mit einer eisern Thüre verwahret zu finden“. Oberirdisch war um 1714 zwischen zwei Linden ein Gedenkstein angebracht. Wahrscheinlich vom Annenaltar des Beinhauses hat sich eine Holzstatue der heiligen Anna erhalten. Sie ist als Anna selbdritt dargestellt, als ältere Frau, die in ihren Armen Maria und Jesus hält. Die Entstehung der aus Lindenholz gefertigten, 131 Zentimeter hohen Statue wird auf das Jahr 1510 geschätzt. Die Rückseite der Skulptur ist ausgehöhlt; früher war die Statue bemalt. Sie befindet sich in der Skulpturensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. In der Frauenkirche selbst wurden zunächst ausschließlich Geistliche beerdigt. Später konnten auch Adelige und Hofbeamte für hohe Gebühren ein Grab in der Kirche erwerben. Die Frauenkirche war als Begräbnisstätte beliebt, sodass die potenziellen Gräber in der Kirche die Zahl der Interessenten weit unterschritt. Von 1561 bis 1562 errichtete daher der Maurermeister Voitt Grohe Schwibbögen an der Kirchmauer und später an der gesamten Friedhofsmauer. Zudem waren Steinmetze und Maurer am Werk; Lewin Lehmann deckte die Schwibbögen von 1564 bis 1565. So entstanden 112 exklusive Erbbegräbnisstätten, die Bürger und Adelige an der Friedhofsmauer und an der Kirche erwerben konnten. Für einen kapellenartigen Schwibbogen mit tiefer Gruft, der rund 11,5 Quadratmeter groß war, mussten vier Gulden gezahlt werden. Rund 30 Personen konnten in einem Schwibbogengrab beerdigt werden. Die ersten Schwibbogen-Käufer waren Adelige wie der kurfürstliche Oberfeldzeugmeister Caspar Vogt von Wierandt, in dessen Gruft auch der 1601 hingerichtete sächsische Kanzler Nikolaus Krell seine letzte Ruhe fand, der Bildhauer und Dresdner Bürgermeister Hans Walther und Kammermeister Hans Harrer. Die kurfürstliche Münzergesellschaft hatte einen Grabplatz an der Sakristei erhalten und stiftete ein großes Kruzifix in dessen Nähe. Kirche und Kirchhof konnten bereits 1572 nicht mehr alle Toten Dresdens fassen. Kurfürst August befahl daher, dass für Grabstellen in der Kirche fortan 15 Taler gezahlt werden müssen; Bestattungen auf dem Kirchhof kosteten drei Taler, Kinderbestattungen die Hälfte. Kostenfreie Bestattungen konnten hingegen auf dem Johanniskirchhof stattfinden, der im Jahr 1571 geweiht worden war. Die Bestattungskosten stiegen in den folgenden Jahren immer mehr, je größer der Platzmangel wurde. Im Jahr 1671 hatte sich die Gebühr für ein Grab auf dem Kirchhof auf sechs Taler verdoppelt. Auf Geheiß des Kurfürsten wurden im Jahr 1679 große Grabsteine verboten, Ausnahmen bildeten Gräber von „Respektsperson[en]“. Die Gebühren wurden weiter erhöht und die Zahl derer, die auf dem Friedhof beerdigt werden durften, weiter beschränkt: Hofdiener, Bürger und Gesinde mussten, selbst wenn sie die Gebühren für ein Grab auf dem Friedhof aufbringen konnten, auf dem Johanniskirchhof beerdigt werden. Otto Richter befand 1895: „Alles in allem bildete die Frauenkirche mit ihrer Umgebung ein wahres Museum altehrwürdiger Kunstwerke und geschichtlicher Erinnerungen. Dagegen mag freilich ihr Gesamtanblick bei der Baufälligkeit des Gebäudes selbst und dem verwahrlosten Zustande mancher Erbbegräbnisse keineswegs ein großartiger gewesen sein.“ === Verkleinerung und Abriss von 1714 bis 1727 === Im Januar 1714 wurden dem Rat der Stadt Dresden erstmals Abbruchpläne des Friedhofs bekannt. Geplant war, anstelle der alten Corps de Garde (Hauptwache) eine neuere, deutlich größere Hauptwache zu erbauen. Dies bedeutete, dass nicht nur die Wasserhäuser und Fischbuden, die an der Außenmauer des Kirchhofs standen, sondern auch einige Schwibbögen und Gräber von Stadtgeistlichen entfernt werden mussten. Im selben Jahr erweitere Kurfürst Friedrich August I. seine Abbruchpläne auf den gesamten Friedhof, untersagte am 21. November 1714 weitere Bestattungen auf dem Frauenkirchhof und gab Anweisung, noch unverweste Leichen umzubetten. Obwohl die Auflösung des gesamten Friedhofs nicht umgesetzt wurde, begann, trotz Beschwerden des Oberkonsistoriums unter der Führung des Superintendenten Valentin Ernst Löscher, im Jahr 1715 der Abbruch einzelner Grabstätten für den Hauptwacheneubau. Er entstand ab 1715 unter der Leitung von Johann Rudolph Fäsch. Feldmarschall Jacob Heinrich von Flemming schrieb an den Rat der Stadt, der sich mit der Bitte an ihn gewandt hatte, den Abriss der Gräber zu verhindern: Zunächst wurden 16 Erbbegräbnisstätten südwestlich der Kirche für den Bau der Hauptwache entfernt. Der Kirchhof blieb in den Folgejahren geschlossen. Erst 1721 begannen erneute Diskussionen, den Kirchhof für den Bau einer neuen Kirche zu säkularisieren. Der Rat der Stadt stellte sich diesmal hinter eine Säkularisation des Friedhofs, da er einen Kirchneubau anstelle der baufälligen alten Frauenkirche befürwortete. Er wandte sich damit auch gegen das Bürgertum, das vor allem seine viel belegten Erbbegräbnisstätten nicht aufgeben wollte – 97 Schwibbögen waren 1724 noch erhalten und teilweise reich verziert. Im Juli 1724 begannen Handlanger damit, Grabsteine zu entfernen. Auch der Abbruch der Schwibbögen begann. Das Oberkonsistorium ordnete an, dass die einzelnen Familien für eine Umbettung der Bestatteten sorgen durften – in Fällen, in denen dies nicht möglich war, übernahm der Rat der Stadt die Kosten für eine Umbettung auf den damaligen Johanniskirchhof. Andere Leichname wurden auf den Eliasfriedhof überführt. Ab 1725 diente der Frauenkirchhof als Lagerstätte von Baumaterialien für die neue Kirche. Friedhofsmauer und Schwibbögen wurden zunächst an der Seite des Maternihospitals entfernt, sodass dort die Bodenarbeiten für die neue Frauenkirche beginnen konnten, wie es der Rat der Stadt Dresden auf seiner Sitzung am 27. Juni 1726 beschlossen hatte. In der folgenden Zeit bis 1727 hoben Handlanger immer wieder Leichen aus und betteten sie um. Grabbeigaben wie goldene und silberne Ringe und Ketten wurden dabei gegen Trinkgelder abgeliefert. An der Außenmauer der Kirche befanden sich zu dem Zeitpunkt noch viele Epitaphien, sodass die Transportrechnungen von Februar 1727 „30 Fuhren Epitaphia von der Kirche vor das Wilsdruffer Thor“ verzeichnen. Bis Ende April 1727 dauerten die Abbrucharbeiten an der alten Frauenkirche und dem Kirchhof an. Nur die Westwand der Kirche und die unmittelbar anschließende Kirchhofsmauer blieben Ende April zunächst wahrscheinlich zum Schutz der Baustelle erhalten. Sie wurden schließlich im August abgetragen, sodass der Abriss der alten Frauenkirche und die Säkularisierung des Kirchhofs im August 1727 beendet waren. === Archäologische Untersuchungen in der Gegenwart === In den 1980er-Jahren wurde das Gelände des alten Frauenkirchhofs erstmals archäologisch untersucht. Grund war der Neubau des Hotels Dresdner Hof (später Hilton Dresden) an der Ecke Töpferstraße/Münzgasse, bei dem Gräben für Rohre und Kabel ausgehoben wurden und dabei auch die ehemalige Kirchhofsmauer angeschnitten wurde. Die nächsten Untersuchungen erstreckten sich auf die Westseite des ehemaligen Frauenkirchhofs am Rande des damaligen Trümmerberges der Bährschen Frauenkirche und fanden im Jahr 1987 statt. Der Schnitt war 40 Meter lang. Bei der Sondierung konnten eng beieinanderliegende Grüfte und Gräber sowohl innerhalb der Kirchenmauern als auch außerhalb auf dem Kirchhof festgestellt werden, auch wenn der untersuchte Kirchhofabschnitt sehr klein war und das Hauptinteresse der Grabung auf dem alten Kirchenbau lag.Eine zweite archäologische Grabung erfolgte von Oktober 1994 bis August 1995 während des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche. Dabei sollten außerhalb des Kirchenbaus unterirdisch Garderoben und weitere Räume entstehen, wodurch bisher archäologisch nicht untersuchte Flächen des ehemaligen Frauenkirchhofs zerstört werden mussten. Während der Rettungsgrabung an der Nordost-, Ost- und in kleinen Teilen Südostseite der Bährschen Frauenkirche wurden rund 300 Grabstellen dokumentiert, wobei es sich hauptsächlich um Grüfte an der alten Friedhofsmauer handelte. Während der Ausgrabung wurden Grabstätten verschiedener Belegungsschichten dokumentiert. Unter den Funden befand sich unter anderem die Familiengruft Kegeler aus dem frühen 17. Jahrhundert mit Grabstein sowie den aufgebahrten Skeletten der beiden Bestatteten davor. In den Gräbern ließen sich fragmentarische Kleiderreste nachweisen. Geborgen wurden zudem diverse Schmuckstücke.Langwährende archäologische Untersuchungen auch im Bereich des ehemaligen Frauenkirchhofs fanden aufgrund der Neubebauung des Dresdner Neumarkts von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre statt. Bei verschiedenen Grabungen im (Süd-)Westen des Kirchhofs konnten rund 700 Beisetzungen dokumentiert werden, wobei die Mehrzahl der Gräber zerstört war. Die Zerstörungen rührten von der Neubelegung der Gräber bis ins 18. Jahrhundert, geschahen aber auch durch Neubauten oder Leitungsverlegungen, nachdem der Friedhof säkularisiert worden war. Grabstätten wurden bei den Untersuchungen schichtweise freigelegt, wobei einzelne Grabgruben nur bei tiefsten Grabungen identifiziert werden konnten. Die gefundenen Skelette stammten mehrheitlich von älteren Kindern und Jugendlichen, die in der Regel in Rückenlage mit vor der Brust gekreuzten Armen bestattet worden waren. Zusammengedrückte Schultern bei einigen Funden weisen darauf hin, dass die Gruben bei der Bestattung sehr schmal waren. Als Grabbeigaben wurden in tonhaltigen Bodenschichten Holzkreuze geborgen. Zudem konnten acht einfache Holzsärge freigelegt werden. „Insgesamt dürften weniger als ein Zehntel der Bestatteten in Särgen beigesetzt worden sein“, so das Fazit der archäologischen Grabung. Im Gegensatz zum 1994 untersuchten Gräberbereich, der östlich von späteren Grabungen lag, fehlten barocke Grabbeigaben wie Totenkränze im untersuchten Gelände. Daher dürfte es sich um einen Friedhofsabschnitt handeln, der im 18. Jahrhundert nicht mehr zur Bestattung genutzt wurde.Kunsthistoriker Heinrich Magirius fasste 2005 zusammen, nach welchen Aspekten der Frauenkirchhof in Vergangenheit und Gegenwart Bedeutung erlangte: „Standen für [Johann Gottfried] Michaelis die […] noch lesbaren Inschriften an Denkmälern im Mittelpunkt des Interesses, interessierten die Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts vorrangig die künstlerisch wertvollen Grabdenkmäler, während die Archäologen der Gegenwart vor allem die Bestattungsformen und -riten interessieren.“ == Erhaltene Grabsteine und Epitaphien == Bei der Säkularisierung des Friedhofs und dem Abriss der Frauenkirche wurde ein Teil der Grabplatten und Epitaphien von den Familien der Verstorbenen geborgen. Die hohen Kosten der Überführung und Wiederaufstellung auf einem anderen Friedhof führte jedoch dazu, dass zahlreiche Kunstwerke des Friedhofs verloren gingen.Über 90 Grabplatten und Epitaphien des Frauenkirchhofs blieben erhalten, wobei der Erhalt oft „glücklichen Umständen“ zu verdanken ist. Während der Säkularisierung des Kirchhofs wurden Bruchstücke von Epitaphien, die als „unbrauchbar“ galten, zum Armenhaus der Stadt gebracht und dort eingelagert. Johann Georg Ehrlich erbat sich „das alte Steinwerk“ für den Umbau der Stiftskirche des Ehrlichschen Gestifts, der 1738 geweiht wurde. Das Mittelfeld des Epitaphs Christophs von Taubenheim diente in der Stiftskirche beispielsweise als Altarplatte, wobei hervorstehende plastische Arbeiten abgeschlagen wurden. Um 1888 hatten sich fünf Reliefs erhalten, wobei das Abendmahlrelief vom Sockelgeschoss des Epitaphs Christophs von Taubenheim, das sich auf der Empore der Stiftskirche befand, während der Schlacht um Dresden am 26. August 1813 von einer Kanonenkugel getroffen und beschädigt wurde.Beim Abbruch der Kirche kamen die Bruchstücke um 1900 in die Jakobikirche und wurden bei deren Abbruch 1947 in den Kellerräumen der Kreuzkirche in Dresden eingelagert. Zu den so erhaltenen Bruchstücken gehört neben dem Teil des Epitaphs Christophs von Taubenheim beispielsweise ein Aufsatz des Epitaphs von Caspar von Ziegler († 1547), der nach Walter Hentschel jedoch mindestens zehn bis 15 Jahre nach dem Epitaph angefertigt und diesem später beigefügt wurde.Verschiedene einfachere Grabplatten wurden beim Bau der Bährschen Frauenkirche als Steinmaterial verwendet. Erste so genutzte Grabplatten konnten bei Sicherungsarbeiten an der Frauenkirche zwischen 1924 und 1930 geborgen werden. Der damals leitende Baumeister Karl Pinkert dokumentierte und fotografierte sie. Die Dokumentation und die Grabplatten wurden im Keller der Frauenkirche eingelagert, wo sie beim Einsturz der Frauenkirche infolge der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 verschüttet wurden. Die Steine und Teile der Dokumentation konnten bei der Enttrümmerung der Kirche von 1994 bis 1995 geborgen werden. Zudem wurden bei der Enttrümmerung der Frauenkirche in den 1990er-Jahren weitere Grabsteine bzw. Grabsteinfragmente geborgen. Ein Großteil der Steine, die sowohl durch die Nutzung als Werksteine als auch durch den Brand der Kirche zum Teil stark beschädigt sind, wird im Lapidarium Zionskirche gelagert. Weitere Grabsteine, die bei Grabungen in den 1990er-Jahren gefunden wurden, befinden sich im Landesamt für Archäologie Sachsen. Wertvollere Epitaphien gelangten in Kirchen und Museen. === Einzelgrabsteine === Als das hervorragendste erhaltene Epitaph gilt ein lebensgroßer Ecce homo. Er gehörte zum Grab des Kanzlers David Peifer, der im Schwibbogengrab Nummer 64 beerdigt wurde. Das Schwibbogengrab mit Deckengemälden war eines der kostbarsten des Friedhofs; der Ecce homo war ursprünglich von Schrifttafeln und weiteren Verzierungen umgeben. Nach Säkularisierung des Friedhofs wurde die Figur in den Katakomben der neuen Frauenkirche gelagert, wo sie in Vergessenheit geriet. Sie wurde 1893 auf einer vermauerten Kellertreppe in der Frauenkirche wiederentdeckt und nach einer Restaurierung im selben Jahr unweit des Altars der Frauenkirche gegenüber der Kanzel aufgestellt. Anscheinend war damals auch die Originalkonsole der Figur erhalten geblieben. Im Zuge der Erneuerung des Innenraums der Frauenkirche im Jahr 1941/42 erhielt auch der Ecce homo. eine neue Farbfassung. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Figur ohne die Konsole in ein Gewölbe unter dem Altarraum eingelagert, wo sie den Einsturz der Kirche unbeschadet überstand; die Konsole wurde zerstört. Im September 1945 wurde die Figur geborgen und kam über das Oskar-Seyffert-Museum in die Annenkirche, wo sie rechts vom Altar aufgestellt wurde. Nach dem Wiederaufbau der Kreuzkirche wurde sie 1955 in der Vorhalle aufgestellt; dort ist sie bis in die Gegenwart geblieben.Eine Besonderheit stellt das erhaltene Epitaph von Hieronymus Schaffhirt dar. Er war der Besitzer der Dresdner Papiermühle und fand seine letzte Ruhe 1578 im 24. Schwibbogen des Frauenkirchhofs. Sein Grab schmückte das Relief der Kreuzigung Christi, das aus Papierteig gefertigt worden war. Das Papierteigrelief, das ursprünglich bemalt war, ging zunächst in den Besitz des Maternihospitals über und kam vor 1900 in das Dresdner Stadtmuseum. Es ist Teil der ständigen Ausstellung zur Geschichte Dresdens. Das Epitaph von Hans von Dehn-Rothfelser gelangte in den Besitz der Alten Kirche in Leuben. Es lagerte erst auf dem Leubener Kirchhof, wurde dort 1876 gefunden und im Folgejahr restauriert. Zunächst in der Alten Leubener Pfarrkirche aufgestellt, brachte man es 1901 am Altarplatz in der Himmelfahrtskirche an, wo es sich erhalten hat. Walter Hentschel bezeichnete es 1963 als „einziges nahezu vollständiges Werk“ des Friedhofs.Die Gedenktafel für Caspar Vogt von Wierandt befindet sich im Stadtmuseum Dresden; eine Kopie der Platte ist seit Ende 2004 im Museum Piatta Forma unter der Brühlschen Terrasse angebracht. Das Mittelstück des Epitaphs des Ernst von Miltitz befindet sich auf Schloss Siebeneichen in Meißen; von Miltitz war der Bauherr des Schlosses. Fragmente des Epitaphs Christophs von Taubenheim, das 1556 entstand und damit das älteste datierbare Grabmal des Frauenkirchhofs ist, besitzt die Dresdner Annenkirche. Das Mittelrelief des Epitaphs Heinrichs von Schönberg (1575) mit einer Kreuzigungsszene wurde zunächst auf den Eliasfriedhof überführt und dort Anfang des 19. Jahrhunderts als Grabdenkmal für die Familie Martiensen-Benads verwendet. Es befindet sich inzwischen im Besitz des Dresdner Stadtmuseums. Unter anderem ein Alabasterrelief vom Epitaph von Günther und Sarah von Bünau aus dem Jahr 1562 sowie der Aufsatz vom Epitaph des Caspar von Ziegler mit der Darstellung der Auferstehung Christi (zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts) sind ebenfalls im Besitz des Stadtmuseums Dresden, jedoch nicht Teil der Ausstellung zur Dresdner Stadtgeschichte. === Der Raum der Grabsteine === In der 1996 fertiggestellten Unterkirche der Frauenkirche wurde nordöstlich die Kapelle G eingerichtet, die als „Der Raum der Grabsteine“ bezeichnet wird. Für den Raum wurden 13 teilweise nur fragmentarisch erhaltene Grabmäler aus dem Bestand des Lapidariums Zionskirche ausgewählt und restauriert. Die Sandsteinwerke wurden an den Wänden angebracht. Es handelt sich um folgende Grabsteine: Grabmal eines Unbekannten, 17. Jahrhundert, Sandstein (Inventarnummer der archäologischen Enttrümmerung F 10077) Grabmal Anna Margaretha Brehme, Ehefrau von Christian Brehme, 1652 (F 10080) Doppelgrabmal von Michael und Christina Haupt, 1678 bzw. 1709 (F 10079) Grabmal Margaretha Helmert, 1664 (F 10065) Grabmal Daniel Voigt, 1657 (F 10094) Grabmal eines Unbekannten, 1678 (F 10084) Grabmal eines Unbekannten, 17. Jahrhundert (F 10073) Grabmal Khilian Richter, 1649 (F 10081) Grabmal Maria von Sütphen, 1651 (F 10085) Grabmal eines Unbekannten, 17. Jahrhundert (F 10091) Grabmal eines Unbekannten, 16. Jahrhundert (F 10082) Grabmal Johanna Sophia Dornblüth, 1704 (F 10078) Grabmal Anna Maria Schmidt, 1700 (F 11519) == Grabbeigaben == Bei archäologischen Grabungen von Oktober 1994 bis August 1995 wurden rund 300 Gräber und Grüfte untersucht. Geborgen werden konnten verschiedene Grabbeigaben, darunter rund 70 Goldringe und 40 Silberkruzifixe. Dabei fanden sich mit Edelsteinen besetzte Schmuckringe, Armbänder aus Gold sowie neben Ketten aus Bernstein und Glasperlen auch ein goldenes Pektorale. Grüfte enthielten Bucheinbandreste und Buchbeschläge, die möglicherweise von Bibeln oder Gesangsbüchern stammten. Zudem konnten Teile von Leichen- und Trauerkleidung in den Gräbern nachgewiesen werden. Ferner fanden sich Stoffreste sowie Teile von Lederschuhen. Untersuchungen eines im Block geborgenen Grabes eines elf- bis fünfzehnjährigen Mädchens ergaben darüber hinaus, dass die Toten teilweise auch in farbenfroher Alltagskleidung beigesetzt wurden.In Grüften und reicher ausgestatteten Begräbnissen wurden rund 50 Totenkronen geborgen. Totenkronen waren in Dresden bis dahin nur bei archäologischen Grabungen an der Sophienkirche gefunden worden. Die Totenkronen waren in einem unterschiedlichen Erhaltungszustand, so waren Kronen aus Erdbestattungen eher schlecht erhalten. Besser erhaltene Kronen entstammten Gruftbeisetzungen und waren teilweise bis auf leichte Deformierungen nahezu vollständig erhalten. Einzelne Kronen wurden restauriert. Sie bestehen aus Kupfer oder Eisen und weisen Verzierungen unter anderem mit Seidenblüten und Perlen (möglicherweise der Flussperlmuschel) auf.Bei Ausgrabungen Anfang der 2000er-Jahre wurden einfache Holzkreuze geborgen. Ein Teil der Befunde der Frauenkirchhofgrabungen, darunter restaurierte Totenkronen, wurde der Öffentlichkeit 2005 im Rahmen der Ausstellung Ausgrabungen am Dresdner Neumarkt – Zu Füßen der Frauenkirche präsentiert. == Rezeption == === Johann Gottfried Michaelis === Schon Anton Weck erkannte 1680 in seiner Chronik, dass die Epitaphien auf dem Friedhof und in der Kirche der Nachwelt durch eine Beschreibung erhalten werden müssten. Er beschränkte sich in seiner Chronik der Stadt Dresden auf eine Aufzählung der adeligen Familien, die in der Frauenkirche und auf dem Kirchhof beigesetzt wurden. Johann Gottfried Michaelis, Kirchner der Frauenkirche, erfasste schließlich alle 1351 Grabmonumente und Inschriften auf dem Friedhof sowie in der Kirche und veröffentlichte sie 1714 in seinem Werk Dreßdnische Inscriptiones und Epitaphia. Ziel war, dass „diese noch itzt vorhandene Epitaphia und Monumenta durch den öffentlichen Druck erhalten / und vor einen frühzeitigern Untergang verwahret werden mögen.“ Schon um 1714 waren die ältesten Gräber auf dem Kirchhof nur aus der Zeit um 1550; auch das Grab des 1527 verstorbenen Hieronymus Emser hatte sich schon nicht mehr erhalten. Michaelis merkte zudem an, dass „viel Epitaphia Alters wegen nicht zu erkennen / viel Grab-Steine nicht mehr zu lesen“ seien.Michaelis’ Werk gliederte sich in drei Bücher: Liber I behandelte die Epitaphien und Grabsteine in der Frauenkirche, Liber II befasste sich mit den Schwibbogengräbern an Kirche und Kirchmauer und Liber III beschrieb die Grabstätten auf dem Kirchhof. Jede Grabstelle wurde dabei in ihrer Lage beschrieben, Michaelis zitierte die Grabinschrift und bestimmte Material und die thematische Darstellung auf dem Grab bzw. beschrieb knapp den Grabschmuck. Walter Hentschel nannte Michaelis’ Werk 1963 „dankenswert“; sein Gehalt gehe über eine rein statistische oder familiengeschichtliche Bedeutung hinaus, da „erhaltene Werke […] uns wenigstens eine annähernde Vorstellung von der Gestalt der von ihm beschriebenen Denkmäler ermöglich[…]en.“ Andere Kunsthistoriker hoben das Werk hervor, da es aufgrund der genauen Beschreibung der Epitaphien und Grabsteine eine Identifizierung überlieferter Werke ermöglicht und daran erinnert, welch kulturhistorischer Verlust mit der Säkularisierung des Friedhofs einherging.Vermutlich in den 1960er-Jahren wurden im Kupferstichkabinett Dresden 13 unterschiedlich große Zeichnungen von Epitaphien aufgefunden, von denen Walter Hentschel zwölf als Abbildungen von Grabdenkmälern aus der Frauenkirche identifizieren konnte. Die Zeichnungen wurden mit Tusche ausgeführt und mit grauer Farbe laviert. Hentschel vermutete, dass die Bilder als Ergänzung zu Michaelis’ Werk gedacht waren, und legte die Entstehungszeit auf das erste Drittel des 18. Jahrhunderts fest. Bei den abgebildeten Epitaphien handelt es sich um die von Ernst von Miltitz, Wolf von Schönberg, Caspar von Ziegler, Christoph von Taubenheim, Antonius von Ebeleben, Haugold Pflug, Heinrich von Schönburg, Heinrich von Schönberg, Balthasar von Worm, das Doppelepitaph Georg von Zschieren und Margarethe von Kalckreuter, das Doppelepitaph Christoph und Maria von Ragewitz sowie das Epitaph von Eustachius von Harras. Die Entdeckung der Bilder ermöglichte, zahlreiche erhaltene Epitaphfragmente zu identifizieren. === Mythen === Um den Frauenkirchhof rankten sich verschiedene Mythen. Der bekannteste Mythos ist der des sogenannten Mönchsteins. Es handelte sich dabei um einen Grabstein aus dem Jahr 1388, auf dem ein Mönch in Lebensgröße abgebildet war und der noch 1680 in der Nähe des Zugangs zur Rampischen Gasse lag. Bereits 1714 war er nicht mehr erhalten. Cornelius Gurlitt vermutete, dass dieser Stein 1471 gefunden wurde. In diesem Jahr erhielten die Steinmetzen Bier, „do sy denn leichstein zu der sonnenn erhubenn“. Die Inschrift des Mönchsteins war unleserlich. Michaelis schrieb, dass die Leute „mit [dem Stein] viel Aberglauben sollen getrieben haben“.Von einem anderen Grab auf dem Friedhof erzählte man sich, dass die dort beerdigte Frau Perpetua Geißin wiedererstanden sei und später siebenfache Mutter wurde. Sie wurde durch den Totengräber „erweckt“, der der vermeintlich Verstorbenen die Goldringe von den Fingern ziehen wollte. == Persönlichkeiten, die auf dem Frauenkirchhof beerdigt wurden == Tobias Beutel (um 1627–1690), Mathematiker und Astronom, Kunstkämmerer und kurfürstlicher Sekretär Christian Brehme (1613–1667), Dichter und Bürgermeister Abraham Conrad Buchau (1623–1703), Bildhauer Conrad Buchau (um 1600–1657), Bildhauer Paul Buchner (1531–1607), Baumeister Wilhelm Dilich (1571–1650), Topograph und Geschichtsschreiber Hieronymus Emser (1478–1527), katholischer Theologe und Gegenspieler Martin Luthers Heinrich Göding (1531–1606), Hofmaler, Kupferstecher und Miniaturist Hans Hase (1525–1591), Bürgermeister von Dresden Melchior Hauffe († 1572), Feldhauptmann, Baumeister Zacharias Hegewald (1596–1639), Bildhauer Peter Heige (1559–1599), Rechtswissenschaftler Elias Jentzsch (1599–1652), Ratsherr, Stadtrichter und Bürgermeister Franz Jünger (1613–1680), Bürgermeister Jakob Krause (1531/32–1585), kursächsischer Hofbuchbinder Nikolaus Krell (um 1550–1601), Kanzler Adam Krieger (1634–1666), Komponist Bastian Kröß (1524–1602), kurfürstlicher Kammerdiener, Dresdner Ratsherr und Bürgermeister Jonas Möstel (1540–1607), Dresdner Stadtschreiber und Bürgermeister David Peifer (1530–1602), Jurist, Hofrat, Kanzler Antonio Scandello (1517–1580), italienischer Komponist Valentin Schäfer (1592–1666), Ratsherr und Bürgermeister Hieronymus Schaffhirt (1530–1578), Papiermacher, Stadtrichter Christian Schiebling (1603–1663), Maler Heinrich von Schönberg († 1575), kurfürstlicher Oberhofmarschall Aegidius Strauch I. (1583–1657), Theologe Benedetto Tola (vor 1525–1572), Maler Gabriele Tola (vor 1525–um 1583), Musiker und Maler Melchior Trost (um 1500–1559), Steinmetz und Baumeister Andreas Walther II (um 1530–um 1583), Bildhauer und Büchsenmacher Andreas Walther III (um 1560–1596), Bildhauer Christoph Walther I (1493–1546), Bildhauer Christoph Walther II (1534–1584), Bildhauer Christoph Walther III (1550–1592), Maler, Bildschnitzer und Hoforganist Christoph Walther IV (1572–1626), Bildhauer Christoph Abraham Walther (1625–1680), Bildhauer Hans Walther (1526–1586), Bildhauer und Bürgermeister von Dresden Michael Walther (um 1574–1624), Bildhauer Sebastian Walther (1576–1645), Bildhauer Centurio Wiebel (1616–1684), Maler Caspar Vogt von Wierandt (um 1500–1560), FestungsbaumeisterIn der Frauenkirche fanden unter anderem Heinrich Schütz, Christian Schiebling und Johannes Cellarius ihre letzte Ruhe. == Literatur == Jens Beutmann: Die Ausgrabungen auf dem Dresdner Neumarkt – Befunde zu Stadtbefestigung, Vorstadtbebauung und Friedhof. In: Landesamt für Archäologie mit Landesmuseum für Vorgeschichte (Hrsg.): Arbeits- und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege. Band 48/49, 2006/2007. DZA, Altenburg 2008, S. 155–243 (darin: Friedhof. S. 197–201). Peter Witzmann: Wiederentdeckte Grabdenkmäler vom Kirchhof der Alten Frauenkirche zu Dresden. In: Landesamt für Archäologie mit Landesmuseum für Vorgeschichte (Hrsg.): Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege. Band 53/54, 2011/2012. DZA, Altenburg 2012, S. 501–516. Cornelius Gurlitt: Die Frauenkirche. In: Cornelius Gurlitt (Bearb.): Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 21. Heft: Stadt Dresden. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1900, S. 41–79. Johann Gottfried Michaelis: Dreßdnische Inscriptiones und Epitaphia. Welche Auf denen Monumentis derer in Gott ruhenden, so allhier in und außer der Kirche zu unser Lieben Frauen begraben liegen …. Schwencke, Alt-Dresden 1714 (Digitalisat). Otto Richter: Der Frauenkirchhof, Dresdens älteste Begräbnisstätte. In: Dresdner Geschichtsblätter. Nr. 2, 1894, S. 124–134. Edeltraud Weid: „Keine armen Seelen“. Die Ausgrabung auf dem Frauenkirchhof in Dresden. In: archäologie aktuell im Freistaat Sachsen. Nr. 3, 1995, S. 223–225. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenkirchhof_(Dresden)
Der Ursprung der Welt
= Der Ursprung der Welt = Der Ursprung der Welt (französisch L’Origine du monde) ist ein Gemälde von Gustave Courbet (1819–1877) aus dem Jahr 1866. Das seinerzeit skandalträchtige Gemälde befindet sich heute im Musée d’Orsay in Paris. Es ist in Öl auf Leinwand gemalt. == Beschreibung == Das Bild zeigt eine Nahsicht der behaarten Vulva einer liegenden, nackten Frau mit gespreizten Schenkeln. Der Rest des Körpers ist, mit Ausnahme des Bauches und einer Brust mit Brustwarze, nicht abgebildet. Die naturalistische Darstellung des unverhüllten weiblichen Geschlechts im Zentrum des Bildes wird durch die weichen Linien des seidenartigen Stoffes, der den Körper der Frau zum Teil verhüllt, noch unterstrichen. Der braune Bildhintergrund steht im Kontrast zu der hellen, glänzenden menschlichen Haut im Bildvordergrund. == Geschichte == Gustave Courbet malte das Bild „Der Ursprung der Welt“ 1866 als Auftragsarbeit für den türkischen Diplomaten und Kunstsammler Halil Şerif Paşa, auch als Khalil Bey bekannt, der neben anderen Aktbildern Courbets auch „Das türkische Bad“ von Jean-Auguste-Dominique Ingres besaß. Unklar ist, wer die Abgebildete war. Hierfür kommt neben der Geliebten von Khalil Bey vor allem Joanna Hiffernan in Frage, die Courbet mehrfach als Aktmodell zur Verfügung stand. Während Khalil Bey die anderen Aktbilder seiner Sammlung in seinem Salon auch Besuchern zeigte, hielt er das Bild „Der Ursprung der Welt“ vor Gästen verborgen. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten musste Khalil Bey 1868 seine Kunstsammlung versteigern. „Der Ursprung der Welt“ ging zunächst an den Antiquitätenhändler Antoine de la Narde. Als Edmond de Goncourt das Bild 1889 in dessen Laden entdeckte, war es hinter einer Abdeckung aus Holz versteckt, die mit dem 1874–1877 entstandenen Bild „Le château de Blonay“ dekoriert war. Der Holzrahmen dieser Darstellung einer Schneelandschaft mit Kirche ließ sich nur mit einem Schlüssel öffnen, wodurch das Bild „Der Ursprung der Welt“ dahinter neugierigen Blicken verborgen blieb. Der ungarische Maler und Sammler Baron Ferenc von Hatvany kaufte das Bild „Der Ursprung der Welt“ 1910 von der Pariser Galerie Bernheim-Jeune und brachte es nach Budapest. Dort verblieb es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Familie lagerte Hatvany 1942 die wertvollsten Bilder seiner Kunstsammlung in verschiedenen Budapester Banktresoren ein. Das Bild „Der Ursprung der Welt“ deponierte er unter dem Namen seines nichtjüdischen Sekretärs János Horváth, wodurch es von den deutschen Besatzern unentdeckt blieb. Nachdem 1945 russische Truppen die Banktresore geöffnet hatten, gelangte „Der Ursprung der Welt“ zunächst auf den Budapester Schwarzmarkt. 1946 gelang es Hatvany, das Bild für 10.000 Forint von einem Händler zurückzuerwerben. Da er das Bild bei seiner Emigration nach Paris 1947 nicht mitnehmen konnte, schmuggelte es kurze Zeit später Claire Spiess nach Frankreich, die Frau seines Neffen. Hier zeigte Hatvany das Bild 1949 dem Kunsthändler Fritz Nathan.Im Jahr 1955 kaufte der Psychoanalytiker Jacques Lacan das Original aus unbekannter Privathand. Er und seine Frau, die Schauspielerin Sylvia Bataille, hängten es in ihrem Landhaus in Guitrancourt auf. Aber auch dort wurde es den Blicken der Öffentlichkeit entzogen: Lacan bat seinen Schwager André Masson, ihm einen verschiebbaren Doppelrahmen dafür zu bauen, der vorn ein anderes Gemälde zeigte. Masson malte daraufhin eine Landschaft, die exakt der Linienführung des Originals folgte. Um den Surrealismus dieser Version zu verstärken, trug es denselben Namen („L’Origine du monde“). Erst mit Lacans Tod 1981 tauchte das Bild wieder auf und blieb zunächst in Frankreich. Im Brooklyn Museum in New York City wurde es 1988 erstmals öffentlich präsentiert. Nachdem auch Sylvia Bataille gestorben war, gelangte es 1995 ins Pariser Musée d’Orsay, wo es seither ausgestellt ist. Das französische Magazin Paris Match und das deutsche Magazin Der Spiegel veröffentlichten 2013 eine Theorie, wonach L’Origine du monde ursprünglich Teil einer größeren Komposition gewesen sei. Nach Angaben des Courbet-Experten Jean-Jacques Fernier ist 2010 ein möglicherweise von Courbet stammendes Gemälde eines Frauenkopfes entdeckt worden. Beide Bilder könnten aus einem größeren Aktbild einer liegenden Frau herausgeschnitten worden sein. In einer Pressemitteilung vom 8. Februar 2013 hat das Musée d’Orsay die Spekulationen über eine mögliche Zusammengehörigkeit der beiden Gemälde als „hypothèses fantaisistes“ zurückgewiesen. == Identifikation des Modells == Alexandre Dumas fils soll an George Sand geschrieben haben: „On ne peint pas de son pinceau le plus délicat et le plus sonore l’interview de Mlle Queniault [sic] de l’Opéra“ ("Man malt nicht mit seinem zartesten und klangvollsten Pinsel das Interview mit Miss Queniault [sic] von der Oper"). Der Dumas-Forscher Claude Schopp fand das „Interview“ in der Transkription seltsam und nahm Einblick in den Originalbrief. Dort steht statt „l’interview“ (ein offensichtlicher sinnentstellender Transkriptionsfehler) „l’intérieur“. Statt dem „Interview“ mit jener Frau wurde also ihr „Inneres“ („Interieur“) gemalt, was dieser Aussage Sinn verleiht. Dem französischen Literaturwissenschaftler zufolge soll es sich bei der abgebildeten Person um Constance Quéniaux handeln, eine Balletttänzerin der Pariser Opéra und zugleich Geliebte des Bildbestellers Khalil Bey. == Relation von Titel und Bild == „Der Ursprung der Welt“ als Bildbezeichnung verweist auf die Doppelnatur des weiblichen Geschlechtsorgans: einerseits als Objekt der sexuellen Begierde und Eingang der Vereinigung, andererseits als Ausgang der Geburt, von wo aus jedes Kind zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt. Insofern ist der Unterleib der Frau der Ursprungsort des Menschen, der jegliche Welterfahrung erst möglich macht. In diesem übertragenen Sinn stellt das Bild den „Ursprung“ alles Existierens, Wahrnehmens und Gestaltens der menschlichen Welt dar. Der Titel wurde vielfach als metaphysische Anspielung aufgefasst. Der Mensch ist in dieser Perspektive der Ursprung der geordneten „Welt“ (monde), im Gegensatz zu der wilden Ursprünglichkeit der „Erde“ (terre). Ist der Mensch Daseinsgrund eines die „Erde“ transzendierenden und beherrschenden Netzes von sozialen Ordnungen und Ortungen, so ist der weibliche Schoß im Wortsinn der „Ursprung der Welt“. Die „Polarität von Welt und Erde“ diente der deutschen Mystik als Manifestation des Gegensatzes von „Geistig-Seelischem“ und „Physisch-Materiellem“. Die Welt gründet sich auf die Erde und die Erde durchragt die Welt. Der Begriff „Welt“ steht dabei für die „Unverborgenheit des Seienden“ (Aletheia). „Erde“ ist das „zu nichts gedrängte Hervorkommen“ des „ständig Sichverschließenden und Bergenden“. Dieser „Streit zwischen Welt und Erde“, den Martin Heidegger 1936 als „Ursprung des Kunstwerks“ bezeichnen sollte, scheint hier bereits angelegt. Die „Welt“ gilt als Daseinsgrund von „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“, der Mensch erscheint somit als deren „Ursprung“. Auch auf die Unverborgenheit des Seienden und Werdenden im Sinne der Aletheia (griech. Wahrheit) kann die Explizitheit der Darstellung anspielen. Solche verborgenen Motive und Referenzen waren es, die Courbet interessant für die Psychoanalyse machten. Der Doppelcharakter des „Ursprungs“ – einerseits als Ziel aller Sehnsucht, andererseits als Beginn des Lebens – kommt z. B. in einem Gedicht von Hans Arnfrid Astel über das Motiv zum Ausdruck, das er Courbet und Lacan zugleich widmet: „L’ORIGINE DU MONDE (November 1996) für Courbet & LacanDie Innenlippen blinzeln aus den äußern. Im Lebenswasser spiegelt sich das Land, lachendes Ufer aller Landungswünsche. Hier springt die Welt zur Welt bei der Geburt, nachdem zuvor die Welt zur Welt gedrungen.“Die Enthüllung des weiblichen Schoßes als Ursprung der Welt lässt sich in mehrere Richtungen ausdeuten: Bild und Titel können als Erinnerung an den Urzustand vor dem „Sündenfall“, als Adam und Eva nackt waren, ohne sich dafür zu schämen, aufgefasst werden. Nach dieser Lesart will Courbet dem Betrachter den Sinn seiner Menschlichkeit, sein triebhaftes Angewiesensein auf den Anderen, wieder nahebringen. Die Vulva als Enthüllung des Ursprungs aller Dinge kann wiederum große Verehrung für die unverstellte Sexualität ausdrücken. In direkter Schlichtheit wird der Betrachter auf das Wesentliche hingewiesen: Der Zustand vor allem Wissen, aller Reflexion, vor aller Entzweiung und Fremdheit scheint in der sexuellen Vereinigung mit dem dargebotenen Körper zum Greifen nahe. Die Persönlichkeit der Frau – ihr „Gesicht“ – bleibt dem Auge jedoch entzogen. Das Bild wirkt daher wie eine Einladung zum reinen Geschlechtsakt. „Idealistischer“ Titel und „realistisches“ Bildmotiv stehen unverkennbar in Spannung zueinander. Bei jeder möglichen Deutung – das weibliche Geschlecht als Ort der Lust, Ausgangspunkt des Lebens oder Hinweis auf den Zustand paradiesischer Unschuld – ist der „Ursprung der Welt“ entgegen seiner vordergründigen Enthüllung kein unmittelbar greifbares Objekt. Das Bild zeigt nicht das, was der Titel verspricht: Es ist sinnlich, emotionserregend, konkret in Bezug auf seinen Gegenstand. Es beabsichtigt keine Veranschaulichung eines Begriffs oder einer allgemeinen Abstraktion. Das Spannungsverhältnis zwischen Titel und Gegenstand soll eventuell von der Skandalwirkung des Bildes ablenken und diese mildern: Dann hätte der Titel „verhüllende“ Funktion entgegen dem „enthüllenden“ Inhalt. Andererseits kann die Spannung zwischen Bildtitel und Bildinhalt dessen skandalisierende Wirkung noch verstärken: Der Titel enthält einen universalen Anspruch, lässt eine philosophische oder religiöse Reflexion auf die Gesamtheit der Natur erwarten und regt diese an. Der Inhalt konfrontiert den Betrachter dann tatsächlich mit der Natur: aber eben seiner eigenen, unmittelbaren „Fleischeslust“ und sinnlichen Welterfahrung. Der Schockeffekt ist vom Maler beabsichtigt: Courbet sah sein ganzes Wirken als Protest gegen überkommene künstlerische Konvention und Dogmatismus. Er suchte diese mit seinen Bildern zu sprengen. Gerade als reine Pornographie hätte das Bild diese Wirkung kaum erzielt. Courbet hat sein Bild so gemalt, dass den Betrachtern gleichfalls ein Blick begegnet. Die halb geöffnete Vulva erblickt den Blick des Betrachtenden, sie blinzelt ihn an. == Wirkung == Die Konfrontation mit der konkreten Realität der menschlichen Sexualität ist das offensichtliche Thema des Bildes. Es galt schon zu Lebzeiten Courbets als Wendepunkt in der Geschichte der Malerei und machte nicht nur wegen des anstößigen Motivs in den Pariser Salons die Runde. Danach wurde es – auch weil es niemand mehr zu Gesicht bekam – zu einem Mythos. Die Geschichte seines Verstecktwerdens zeigt, dass es die Tabugrenzen der Kunst verschob. Auch seit seiner Wiederentdeckung und erstmaligen Ausstellung rief das Bild teilweise heftige Reaktionen hervor. In Feuilletons und Debatten wurde immer wieder der Vorwurf der Pornographie laut: Die Grenzen der Kunst schienen hier überschritten worden zu sein. Die unverhüllte Darstellung der Vulva löst auch heute noch heftige Reaktionen beim Publikum aus. Im Musée d’Orsay wurde deswegen ein Wachmann mit der permanenten Bewachung nur dieses Kunstwerkes beauftragt. So gehören Bildmotiv und das, was unsichtbar-sichtbar außerhalb des Rahmens stattfindet, untrennbar zusammen: Das unverhüllte Geschlecht und die Verhüllung, mit der es umgeben wurde, aber auch die erneute Enthüllung ohne die vorherige Abdeckung zeigen die Aussagekraft des Bildes und gehören zu seiner Wirkung. In der Kunstgeschichte markiert das Bildmotiv einen gewissen Endpunkt des Realismus: Die realitätsnahe Darstellung und der Bildausschnitt widersprachen einander. Ein Zeitgenosse Courbets bemerkte dazu: Der Künstler, der sein Modell naturalistisch kopierte, hat vergessen, die Füße, die Beine […] und den Kopf wiederzugeben.Dieses Weglassen des Kopfes ist dabei genau diejenige Perspektive, die der Feminismus hundert Jahre später als charakteristisch für die Pornographie bezeichnen sollte: Die Frau wird zum Objekt der männlichen Ausbeutung, zum reinen Körper ohne Gesicht und Persönlichkeit. Das Bild rührt hier – neben der Darstellung von Sexualität und expliziter Nacktheit – an ein weiteres Tabu: die gesellschaftlichen Machtstrukturen und ihre ikonographische Aktualisierung. Das macht das klassische Tafelbild trotz seiner figurativen Exaktheit und traditionellen Maltechnik modern. === Rezeption === Das Bild fand in der Kunst vielfältige Rezeption. Die Künstlerin Orlan (Mireille Suzanne Francette Porte) malte 1989 eine Paraphrase und nannte sie L’origine de la guerre (Der Ursprung des Krieges). Das Bild ist in Komposition und Perspektive exakt jenem von Courbet nachempfunden, nur ist es kein weiblicher Akt, sondern ein männlicher, und die dem Betrachter zugewandte Vulva ist durch einen Phallus ersetzt. Das Werk wurde unter anderem im Jahr 2014 zum hundertjährigen Gedenken nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einer Ausstellung in Besançon gezeigt. Zu den bekanntesten Bildern, die durch Der Ursprung der Welt inspiriert wurden, gehört die Fotografie L’origine du monde des Fotografen Balthasar Burkhard, die ebenso wie das Vorbild einen unbekleideten Torso mit gespreizten Beinen zeigt. Das Bild EU-Unterhose der aus Jugoslawien stammenden Künstlerin Tanja Ostojić wurde vor allem in Österreich bekannt. Es zeigt eine Frau mit einer Unterhose in den Farben der EU-Flagge. 2003 zeigte Sophie Matisse auf einem Gemälde mit dem Titel Origin of the World im Rahmen ihrer „back in five minutes“-Serie den Hintergrund des Bildes ohne den weiblichen Körper. Der Comic-Zeichner Jacques Tardi lässt in seiner Adaption des Romans Die Macht des Volkes von Jean Vautrin (Bd. 1: Die Kanonen des 18. März, Ed. Moderne, 2002) Courbet als Bekannten des fiktiven Protagonisten Hauptmann Tarpagnan auftreten. Dieser ist in die schöne Italienerin Gabriella Pucci, auch Caf’Conc’ genannt verliebt. Courbet zeigt stolz seinen Freunden sein neuestes Werk, eben Der Ursprung der Welt – liebevoll von Tardi kopiert. Auf die Frage nach seinem Modell nennt er die Prostituierte Pucci. Marcel Duchamp schuf mit seinem Étant donnés ein Werk, das sich als Fortsetzung Courbets Ursprung lesen lässt. Gleichzeitig wird Duchamp angeführt, sobald es um das Ende des Aktbildes in der Moderne geht. Ein Ende, das seinen Anfang mit Courbet gefunden hat. Ein weiteres Indiz, dass Courbet als ein Wegbereiter der Moderne gesehen werden kann. Im Landhaus des Psychoanalytikers Jacques Lacan hing viele Jahre das verhüllte Gemälde. Er hatte das Bild 1955 erworben. Seine Freundschaft mit Duchamp lässt vermuten, dass der Künstler dort das Original Courbets betrachten konnte. Für Lacan hatte Der Ursprung der Welt eine ausschlaggebende Bedeutung. 1955 besuchte er Martin Heidegger im Schwarzwald, um seinen Aufsatz über die Wahrheit als Aletheia, als Unverborgenheit, mit ihm zu diskutieren. Unter anderem Lacan verdankt Heidegger, dass er in Frankreich anders rezipiert wurde als in Deutschland. Am 29. Mai 2014 besuchte die luxemburgische Performance-Künstlerin Deborah De Robertis das Pariser Musée d’Orsay, setzte sich vor Courbets L'Origine du monde und stellte es leibhaftig nach. In einem Video mit dem Titel Mirror of Origin (Spiegel des Ursprungs) ist die Künstlerin in einem goldenen Paillettenkleid zu sehen, wie sie ihre Vulva entblößt, während das Sicherheitspersonal des Museums sich um sie schart und die jubelnden Besucher aus der Galerie führt. Die Performance wurde im gleichen Jahr von Artnet.com zu den 10 größten Kunstskandalen des Jahres gezählt.Die schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist veröffentlichte 2014 ein Comic zur Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts, der 2017 unter dem Namen Der Ursprung der Welt in deutscher Sprache erschien. Die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn malte 2017 L’origine du monde schaut zurück, dabei trägt die Frau auf dem Kopf eine Burka.Das Gemälde war titelgebend für Ulrich Tukurs ersten Roman Der Ursprung der Welt (2019). == Literatur == 1881: Maxime DuCamp: Les Convulsions de Paris. Nachdruck der 5. Auflage von 1881 (Hachette, Paris). AMS, New York, ISBN 0-404-07180-5 (Zeitungsartikel). 1994: Florence Noiville: Le retour du puritanisme. In: Le Monde, 25. März 1994, 1995: Philippe Dagen: Le Musée d’Orsay dévoile «L’Origine du monde». In: Le Monde, 21. Juni 1995. 1996: Ferenc Jádi: Aki van, kíván: Jacques Lacan és Courbet – A világ eredete című festménye [Lacan und der „Ursprung der Welt“ von Courbet] in: Thalassa (7), 1996, 1: S. 119–134. 1996: Philippe Dagen: Sexe, peinture et secret. In: Le Monde, 22. Oktober 1996. 1997: Günter Metken: Gustave Courbet „Der Ursprung der Welt“. Ein Lust-Stück (Übersungene aus den zeitgenössische französischen Stimmen von Stefan Barmann). Prestel, München 1997, ISBN 3-7913-1775-X. 1997: Jochen Hörisch: Der erblickte Blick – Günter Metken über Courbets Skandal-Bild. In: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte. Band 11, 1997, S. 1050–1052. 1997: Linda Hentschel: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. (= Studien zur visuellen Kultur, Band 2). Jonas, Marburg 2001, ISBN 3-89445-287-0 (= Dissertation Universität Bremen, 150 Seiten). 2004: Thierry Savatier: L’origine du monde: histoire d’un tableau de Gustave Courbet. Bartillat, Paris 2006 ISBN 2-84100-377-9. == Filmografie == Die Enthüllung. Fernseh-Dokumentation, Deutschland, 2005, 26 Min., Regie: Rudij Bergmann, Produktion: SWR, Reihe: Nackt ist die Kunst, Inhaltsangabe von arte Der Ursprung der Welt. (OT: Courbet, l’origine du monde.) Fernseh-Dokumentation, Frankreich, 1996, 26 Min., Buch und Regie: Jean-Paul Fargier, Produktion: Ex Nihilo, La Sept/arte, RMN, deutsche Erstausstrahlung: 19. Oktober 2007, Inhaltsangabe von arte == Weblinks == Pazzini: „Auf meinem Leib steht nichts geschrieben“ (PDF) (3,55 MB) Hans Arnfrid Astel: Gedicht „L’Origine du monde“ Vgl. mit Marcel Duchamp (Memento vom 19. Januar 2008 im Internet Archive) Vgl. mit Marcel Duchamp Das „Tarn“-Gemälde Lacans Stefan Simons: Berühmtes Courbet-Gemälde : Die Nackte hat jetzt ein Gesicht, in: Der Spiegel, 8. Februar 2013. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Ursprung_der_Welt
Fußball im Ruhrgebiet
= Fußball im Ruhrgebiet = Der Fußball im Ruhrgebiet spielt eine maßgebliche Rolle im deutschen Fußballgeschehen. Insgesamt 16 deutsche Meisterschaften und elf Titel im DFB-Pokal wurden durch Mannschaften aus dem Ruhrgebiet gewonnen. 1937 wurde der FC Schalke 04 erster Double-Sieger in Deutschland, Borussia Dortmund konnte 1966 als erster deutscher Verein einen Europapokal gewinnen und im Jahr 1997 gewann Dortmund die Champions League und der FC Schalke 04 den UEFA-Pokal. Insgesamt spielten in der Bundesliga bislang sieben Vereine aus dem Ruhrgebiet, aktuell (2022/23) spielen mit Schalke, Dortmund und dem VfL Bochum drei Vereine in der höchsten Spielklasse. Insbesondere Borussia Dortmund und der FC Schalke 04 nehmen eine bedeutende Rolle im deutschen Fußball ein und sind auch überregional populär. == Geschichte des Ruhrgebietsfußballs == === Entstehung der ersten Fußballvereine im Revier === Als erster reiner Fußballverein des Ruhrgebiets (und fünftältester Deutschlands) gründete sich 1892 der Wittener Fußballclub. Wie in vielen anderen Städten des Landes und entgegen dem verbreiteten Klischee waren die ersten aktiven Fußballer des Reviers jedoch keine Arbeiter, sondern Schüler aus der Oberschicht, die den in den Jahren zuvor aus England „importierten“ und zunächst nur an den Gymnasien und Realgymnasien Westdeutschlands populär gewordenen Sport nun auch in ihrer Freizeit gemeinsam ausübten. Wie und wann genau der Fußball seinen Weg in den Sportunterricht an deutschen Schulen fand, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Zwar waren in England schon um 1845 die ersten Vorläufer von Fußball und Rugby entstanden, in Deutschland wurde bis in die 1870er Jahre (und auch danach) an den Lehranstalten jedoch vor allem geturnt. Dennoch wurde Fußball in den 1860ern auf dem Kontinent durch englische Emigranten bekannt, deren Kinder in ihren Schulen und Pensionaten den Sport ausübten und ihre deutschen Freunde zum Mitspielen aufforderten. Nachdem 1872 das Braunschweiger Gymnasium als erste deutsche Schule freiwillige Ballspiele anbot, breitete sich der Fußball sukzessive im Land aus und wurde vielerorts in den Unterricht integriert. Parallel zu den reinen Fußballvereinen, die sich verbreitet nach Wittener Vorbild als Organisationen von Oberschülern gründeten, entstanden in den 1890ern auch viele Fußballabteilungen in den Turnvereinen der Region. Auch der erste bedeutende Verein des Ruhrgebiets, der Duisburger SpV, war ursprünglich als Spielabteilung des Duisburger Turnvereins von 1848 entstanden und hatte sich erst 1900, acht Jahre nach Gründung der Abteilung, vom Stammverein getrennt. In den ersten Jahren der Ausübung des Sports in Vereinen existierten noch keine verbindlichen Regeln, weder zur Durchführung des Spiels selbst noch in Hinblick auf Vereinswettbewerbe. Als erster Verband in Westdeutschland entstand dann im September 1898 der Rheinische Spielverband, der zunächst nur aus neun Gründungsmitgliedern bestand, sich jedoch schnell zum einflussreichsten Verband der Region entwickelte und bereits zwei Jahre später als Rheinisch-Westfälischer Spielverband (ab 1907 dann: Westdeutscher Spielverband, kurz WSV) für den gesamten westdeutschen Raum zuständig war. Regelmäßige Meisterschaftsrunden in Westdeutschland wurden ab 1902 ausgespielt, zunächst in drei Bezirken mit jeweils drei Leistungsklassen. Bereits drei Jahre später waren so viele neue Vereine dem Verband beigetreten, dass eine Neueinteilung der Bezirke nötig wurde. Das Ruhrgebiet wurde erstmals geteilt, der westliche Teil (zum Rheinland gehörig) wurde dem Bezirk Ruhr, der westfälische Teil im Osten dem Bezirk Mark zugeordnet. Dies hatte zur Folge, dass anfangs mehrere erste Ligen im Verbandsgebiet existierten und die stärksten Mannschaften der Region nur noch in Endrunden oder Pokalspielen gegeneinander antraten. Aus diesem Grund wurde 1909 die Einrichtung einer „Ligaklasse“ beschlossen, in der die zehn besten Vereine der Bezirke die Westdeutsche Meisterschaft ausspielen sollten; entsprechend der Leistungsstärke der Mannschaften zur damaligen Zeit entstammten alle Mannschaften dem Rheinland, in der Gründungssaison waren neben dem Duisburger SV nur noch Preußen Duisburg und der Essener Turnerbund aus dem Ruhrgebiet vertreten. Trotz dieser Bündelung der Kräfte erreichte in den Jahren vor dem Krieg nur der Duisburger SV ein Endspiel um die deutsche Meisterschaft, in dem man 1913 dem VfB Leipzig mit 1:3 unterlag. Dennoch entwickelte sich der Fußball auch im Ruhrgebiet rasant. Bereits 1914 gehörten dem Westdeutschen Verband 603 Vereine an, von denen ein gutes Drittel aus dem Revier stammte. Allerdings setzte sich zunächst die Tradition fort, dass die Aktiven überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht stammten und sich nur sehr vereinzelt Vereine aus dem direkten Umfeld des Arbeitermilieus gründeten. Die Ursachen hierfür sind vielfältiger Natur, liegen aber vor allem in der neu definierten Rolle des Sports im Bürgertum. Während sich das Turnen spätestens seit der Gründung des Kaiserreichs zum Sport der Konservativen entwickelt hatte, übte der progressive Teil des Bürgertums um die Jahrhundertwende eher englisch geprägte Sportarten wie Fußball, Tennis oder Rudern aus. Zudem hatte die Arbeitszeitverkürzung für Angestellte aus dem Jahr 1891 den arbeitsfreien Sonntag zur Folge, an dem Zeit für soziales Leben insbesondere auch im Sport war. Jedoch spitzte sich der Konflikt zwischen Turnern und Fußballern in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu, Lehrer und Behörden setzten vielfach Verbote des Spiels durch.Der Fußball konnte sich letztlich dennoch ausbreiten, nicht zuletzt dank guter Verbindungen seiner Offiziellen zum Militär. Vielfach wurde in der Armee Fußball zur körperlichen Ertüchtigung gespielt, zudem hatten sich der Deutsche Fußball-Bund nebst seinen Landesverbänden bereits früh als Kriegsbefürworter bekannt. So ruhten während des Kriegs zwar die Meisterschaftsrunden, jedoch hatte der DFB einen Kriegspokal ausgelobt, um den die wenigen Sportler, die nicht eingezogen wurden, spielten. Gleichzeitig wurden in der Armee selbst Regiments- und Kompaniemeisterschaften ausgetragen, die zur weiteren Popularisierung dieses Sports beitrugen. === Nach dem Ersten Weltkrieg – Fußball wird zum Sport der Massen === Politisch wie sozial waren die Arbeiter in den Zechen und Industrieanlagen zur Zeit des Kaiserreichs weitgehend isoliert. Die neu errichteten Wohngebiete für das Industrieproletariat entstanden außerhalb der Innenstädte des Ruhrgebiets, die von Angestellten und Gewerbetreibenden dominiert wurden. Entsprechend wenige Kontakte entstanden demnach zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschicht; zudem blieben die Einwanderer aus Ostpreußen und Polen vorwiegend unter sich und siedelten sich vornehmlich dort an, wo bereits große Gruppen von ihnen lebten. Unter diesen Rahmenbedingungen konnte sich das Proletariat nur zögernd für den Fußball begeistern. Erst nach der Jahrhundertwende, also gut zehn Jahre nach der Gründung des ersten Fußballvereins der Oberschicht, begann die Zeit des Arbeiterfußballs – zunächst in Form von Straßenmannschaften und Unterabteilungen kirchlicher Jünglingsvereine, die im Umfeld der Arbeitersiedlungen rund um die Zechen des Reviers beheimatet waren. Beeinflusst wurden die zumeist jungen Aktiven vom Treiben auf den Sportplätzen, auf denen nach Gründung des Spielverbands 1902 nun auch regelmäßig Meisterschaftsspiele stattfanden. Begünstigt wurde die wachsende Zahl aktiver Fußballer in der Arbeiterklasse durch die Vorteile, die der Fußball gegenüber anderen prominenten Sportarten der Zeit besaß. Nicht nur hielt sich der finanzielle Aufwand für das unorganisierte „Pöhlen“ in Grenzen, auch besaßen viele Arbeiter die notwendigen Fähigkeiten zur Ausübung des Sports, der gleichermaßen körperliche Durchsetzungsfähigkeit wie Kooperationsbereitschaft benötigt. Dennoch war es bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein für viele Arbeiter unmöglich, einem „echten“ Fußballverein beizutreten – die Preise für Trikots und Fußballschuhe übertrafen den Lohn für eine Schicht um ein Vielfaches. Und in den nicht seltenen Fällen, wo sich, zumeist unter finanzieller Unterstützung von Gastwirten, Arbeitervereine gründeten und um Eintritt in den WSV baten, wurde ihnen dieser verwehrt – häufig aus politischen Gründen, mitunter jedoch auch zur Sicherung des Spielbetriebs, da viele Vereine nur für wenige Monate existierten.Mit der neuen Rolle der Arbeiterschicht im Zuge der Novemberrevolution von 1918 beschleunigte sich der Aufstieg des Fußballs zum Volkssport dann noch einmal massiv. Nicht nur erhielten die arbeitenden Massen politische Freiheiten, sie profitierten auch von den sozialen Errungenschaften der Zeit; insbesondere die Einführung freier Wochenenden auch für Arbeitskräfte in der Industrie ließ den Sport zu einem Vergnügen für die gesamte Bevölkerung werden. Bis in die 1930er Jahre verzeichnete der DFB einen Anstieg seiner Mitgliederzahlen von 161.000 aus dem Jahr 1913 hin zu über einer Million Mitglieder, zudem gründeten sich die Deutsche Jugendkraft als katholischer Sportverband und vielerorts wurden Werksmannschaften eingerichtet. Neben einer Explosion der Aktivenzahlen begann in den 1920ern auch der große Erfolg des Fußballs als Publikumssport. Dadurch, dass viele der Spitzenvereine noch eng in ihrem lokalen Milieu verankert waren, konnten sich die Zuschauer leicht mit „ihrem“ Verein identifizieren. Als Konsequenz schnellten die Zuschauerzahlen in die Höhe, neue Stadien wie das Wedaustadion in Duisburg oder das Essener Stadion am Uhlenkrug wurden gebaut. Zudem entdeckte die Presse den Sport; die ersten Fußballzeitschriften entstanden, und 1926 wurde mit der Partie Schwarz-Weiß Essens gegen den VfL Osnabrück eine der ersten Fußballbegegnungen im Radio übertragen.Sportlich gehörten die Mannschaften des Ruhrgebiets zwischen 1918 und 1930 noch nicht zur absoluten Leistungsspitze in Deutschland. Zwar konnte die DJK Katernberg zweimal (1921 und 1924) die DJK-Meisterschaft erringen, unter dem Dach des DFB reichte es jedoch für keinen der Vereine des Reviers zum großen Triumph. Regional dominierten bis zum Ende des Jahrzehnts vor allem die Vereine, die auch in der wilhelminischen Zeit führend waren, der Duisburger Spielverein und der Essener Turnerbund/Schwarz-Weiß Essen; ab 1926, als der BV Altenessen 06 Ruhrbezirksmeister werden konnte, liefen ihnen jedoch viele der Arbeiterclubs sportlich den Rang ab. Besonders der FC Schalke 04 dominierte ab 1928 den Fußball im Revier und schwang sich mit vier Westdeutschen Meisterschaften zwischen 1929 und 1933 zur erfolgreichsten Mannschaft im Westen der Republik auf. Unterbrochen wurde der Aufstieg der „Knappen“ nur von einem Urteil des Verbandes, das acht Verantwortliche und 14 Spieler (die komplette erste Mannschaft der Gelsenkirchener um Fritz Szepan und Ernst Kuzorra) im August 1930 wegen Verstößen gegen das Amateurstatut aus dem Verband ausschloss. Erst nach Protesten der Öffentlichkeit und anderer Vereine des Landes wurde das Urteil im Juni 1931 aufgehoben. Dennoch blieb ein Verbot des Profisports formal wirksam. === Große Zeit der „Knappen“ === Nach der Westdeutschen Meisterschaft erreichte der FC Schalke 04 im Sommer 1933 zum ersten Mal ein Endspiel um die deutsche Meisterschaft, unterlag jedoch Fortuna Düsseldorf in Köln mit 0:3. Dennoch hatten sich die Gelsenkirchener längst zur spielerisch besten Mannschaft Deutschlands entwickelt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Schalker als erste Mannschaft die Victoria ins Revier holen sollten. Der Aufstieg von Schalke 04 in den 1920ern hatte viele Ursachen. Neben der bereits erwähnten Professionalisierung des Vereins, die finanziell vor allem durch die Partnerschaft des Clubs zur Zeche Consolidation möglich gemacht wurde, war es eine mit dem „Schalker Kreisel“ für deutsche Verhältnisse völlig neuartige Spielweise, die die Gelsenkirchener zelebrierten. Bereits in der Frühphase des Vereins, als die Gelsenkirchener noch Westfalia hießen, machten die Schalker sich lokal einen guten Namen durch ihren schnellen Kombinationsfußball, der sich vom „Kick and Rush“ abhob, das viele deutsche Mannschaften vorwiegend spielten. Nach dem Ersten Weltkrieg behielten die Schalker ihre Spielweise bei, perfektioniert wurde das System jedoch erst unter „Bumbes“ Schmidt, der 1933 Trainer des FC Schalke wurde. Wirtschaftlich hatte neben der Zeche auch die Stadt Gelsenkirchen ihren Anteil an den Schalker Erfolgen. Beide gemeinsam griffen dem Verein beim Bau der Glückauf-Kampfbahn, die zwischen 1927 und 1928 errichtet wurde, finanziell unter die Arme und stellten Bürgschaften beziehungsweise Darlehen bereit. Die Zeche Consolidation hatte zudem, wie es bei vielen Arbeitervereinen mit enger Verbindung zur lokalen Industrie üblich war, die Baupläne für das Stadion in Auftrag gegeben und dem Verein gleichzeitig das Gelände für ein geringes Entgelt verpachtet. Ferner waren einige der wichtigsten Spieler bei Stadt oder Zeche angestellt und genossen so vergleichsweise große Freiheiten. Insgesamt konnte Schalke zwischen 1934 und 1942 sechsmal die deutsche Meisterschaft erringen und zudem 1937 den Tschammer-Pokal gewinnen. Überschattet wird die große Zeit der Gelsenkirchener jedoch durch die Nähe einiger seiner Spieler und Funktionäre zum nationalsozialistischen Regime.Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden jüdische Mitglieder aus dem Verein ausgeschlossen; auf einen Bericht des Kicker aus dem Juli 1934, in dem Presseberichte polnischer Zeitungen zusammengefasst wurden und der unter dem Titel „Die deutsche Fußballmeisterschaft in Händen der Polen“ erschien, reagierte der Verein ferner mit einer minutiösen Aufstellung der Stammbäume seiner Spieler und versuchte so nachzuweisen, dass die Aktiven ausschließlich deutscher Herkunft seien. Aufgrund seiner Popularität wurde Schalke 04 zu NS-Propagandazwecken benutzt; Spieler wie Szepan und Kuzorra nutzten ihre Popularität, um durch Wahlaufrufe für die NSDAP zu werben und ihre Nähe zum Regime zu demonstrieren. Das Engagement dieser beiden Spieler für das NS-Regime blieb jedoch ein Einzelfall. Ein Beispiel für Vorteilsnahme eines Spielers ist sicherlich die „Arisierung“ eines ehemals jüdischen Kaufhauses durch Fritz Szepan im Herbst 1938. Allerdings gehörte er zu den wenigen NSDAP-Mitgliedern unter den sportlich Aktiven des FC Schalke 04. Nicht nur Schalke 04 hatte sich schnell mit den neuen Machtverhältnissen arrangiert. Politisch waren auch viele Fußballverbände schon während der Weimarer Zeit im konservativ-nationalistischen Lager verankert; und trotz Öffnung gegenüber den Arbeitervereinen bezogen die Oberen in WSV und DFB zum Teil offen revanchistische Positionen. Bekennende Nationalsozialisten wie Guido von Mengden als Geschäftsführer des WSV und späterer Pressewart des DFB und Josef Klein, der zunächst Jugendbeauftragter der Verbände und seit 1932 Mitglied des Reichstags für die NSDAP war, konnten bereits vor der Machtergreifung Hitlers in der Schaltzentrale der Verbände hohe Positionen bekleiden. Entsprechend wurde am 24. Mai 1933 durch Verordnung einer Einheitssatzung für alle Vereine, in welcher der Vereinsvorsitzende nun Vereinsführer hieß, sofort mit der Umsetzung des nationalsozialistischen „Führerprinzips“ begonnen; der DFB wurde gleichgeschaltet und als Fachamt Fußball in den Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen eingegliedert. Der Westdeutsche Spielverband wurde 1935 im Zuge einer völligen Neustrukturierung des Spielbetriebs aufgelöst, an deren Ende 16 Gauligen standen, deren Meister in einer Endrunde um die deutsche Meisterschaft spielten. Diese Neustrukturierung des Ligensystems brachte für das Ruhrgebiet eine erneute Aufteilung in verschiedene Gaue mit sich, der westliche Teil um Essen, Oberhausen und Duisburg spielte nun in der Gauliga Niederrhein, der östliche Teil wurde dem Gau Westfalen zugeordnet. Zudem griffen die Nationalsozialisten nun auch in die internen Angelegenheiten der Vereine ein und erzwangen neben der Gleichschaltung und Arisierung auch Vereinsfusionen innerhalb einer Stadt. Ziel war eine Konzentration der starken Spieler in wenigen Vereinen. Sportlich führte die Zeit des Nationalsozialismus zur endgültigen Dominanz der Arbeitervereine im Ruhrgebiet. Neben Schalke 04, das bis 1944 in jeder Saison Meister der Gauliga Westfalen werden konnte, übernahmen „proletarische“ Mannschaften wie Borussia Dortmund, der VfL Bochum oder Rot-Weiß Oberhausen langsam die fußballerische Vorherrschaft in ihren Städten, die sie auch nach dem Krieg nicht mehr abgeben sollten. Dies war vor allem eine Fortschreibung des Trends aus den Zwanzigern, wurde von den Machthabern aber auch indirekt durch die Zwangsfusionen unterstützt. Diese Tendenz setzte sich mit Kriegsbeginn sogar noch fort, viele Aktive aus den Arbeitervereinen waren in der Rüstungsindustrie tätig und konnten zumindest bis 1942 vergleichsweise oft vom Dienst an der Front freigestellt werden. Der Spielbetrieb wurde auch danach weitgehend aufrechterhalten; bis in den Herbst 1944 hinein wurden reguläre Meisterschaftsspiele ausgetragen. === Die Ära der Oberliga West === Nach dem Kriegsende im Ruhrgebiet, das im April 1945 durch die alliierten Truppen vollständig befreit worden war, schlossen sich die zurückgekehrten und daheimgebliebenen Sportler rasch in ihren Vereinen zusammen und besserten in mühevoller Kleinarbeit die Schäden aus, die ihre Vereinsanlagen im Bombenkrieg genommen hatten. Bereits vor der offiziellen Wiederzulassung der Vereine im September des Jahres fanden erste Freundschaftsspiele auf lokaler Ebene statt, in Castrop-Rauxel wurde bereits Anfang Juli das erste genehmigte Spiel zweier Auswahlmannschaften (der Norden trat gegen den Süden der Stadt an) ausgetragen. Auf innerstädtische Duelle beschränkte sich auch im Folgenden der Spielbetrieb, die britische Besatzungsmacht hatte zunächst nur für „Lokalderbys“ grünes Licht gegeben. Dies änderte sich zur Saison 1946/1947, als auch Niederrhein- und Westfalenmeisterschaften ausgetragen wurden. Als neuer Fußballverband für das Ruhrgebiet wurde im Februar 1947 zunächst der Fußballverband Nordrhein-Westfalen gegründet, der sich ein Jahr später in den Westdeutschen Fußball-Verband umwandelte. Das vertretene Gebiet umfasste das neu gegründete Bundesland Nordrhein-Westfalen und war damit deutlich kleiner als das des 1935 aufgelösten WSV. Als höchste Spielklasse des WFV wurde zur Spielzeit 1947/1948 die Oberliga West eingerichtet, in der zunächst 13 Mannschaften vertreten waren. Im Sommer 1949 wurde die Liga dann auf 16 Mannschaften aufgestockt. Mit der Gründung der Oberliga West begann die zweite große Zeit des Westens. Erfolgreichste Mannschaft dieser Ära war Borussia Dortmund, die bereits im Endspiel um die Westfalenmeisterschaft 1947 durch einen 3:2-Erfolg gegen Schalke 04 dessen Vormachtstellung im Ruhrgebietsfußball brechen und sich zunächst zum Seriensieger im Westen aufschwingen konnte. Die erste Finalteilnahme um die deutsche Meisterschaft ging 1949 jedoch in der „Stuttgarter Hitzeschlacht“ gegen den VfR Mannheim mit 2:3 verloren, sodass erst Rot-Weiss Essen um „Boss“ Helmut Rahn 1955 als erste Ruhrgebietsmannschaft nach dem Krieg den nationalen Titel erringen konnte. In den beiden folgenden Spielzeiten konnte dann der BVB seine ersten beiden Meisterschaften feiern, 1958 wurde Schalke 04 zum bis dato letzten Mal Deutscher Meister. Die Schalker Meisterschaft von 1958 stellt den Abschluss der großen Zeit der Arbeitervereine des Ruhrgebiets dar. Erstmals nach 1913 waren die Spitzenvereine der Region wieder in einer einheitlichen Liga vertreten, bereits bei Gründung der Oberliga West 1947 waren acht der 13 teilnehmenden Vereine im Revier beheimatet. Die Vielzahl an Derbys in den folgenden Jahren elektrisierten die Massen wie seit den 1920ern nicht mehr; die Zuschauerzahlen in der neuen „Straßenbahnliga“ lagen durchweg im fünfstelligen Bereich und damit weit vor allen anderen Oberligen Deutschlands. Insbesondere Duisburg und Essen waren Hochburgen der neuen Spielklasse: Essen stellte mit Rot-Weiss, Schwarz-Weiß und den Sportfreunden Katernberg zeitweise drei Oberligisten, Duisburg besaß mit dem Meidericher SV, Hamborn 07, dem Spielverein und DFV 08 insgesamt sogar vier Teilnehmer an der Oberliga. Neben den „arrivierten“ Arbeitervereinen wie Schalke 04, Borussia Dortmund und Rot-Weiss Essen begeisterten die Erfolge der kleineren Zechenvereine in den 1950er Jahren das Ruhrgebiet. Es war die besondere Situation kurz nach Kriegsende, die den Werksvereinen der Zechen Startvorteile gegenüber vielen anderen Vereinen des Reviers offerierte. Neben Nahrungsmitteln war vor allem Kohle als Energieträger gefragt; den Zechen kam entsprechend eine große wirtschaftliche Bedeutung zu, die diese auch zur Unterstützung lokaler Mannschaften durch Naturalien nutzten. Zudem hatten viele Spieler aus Vereinen mit Nähe zur Industrie bis kurz vor Kriegsende in der Region bleiben können, so dass nur wenige Aktive zu Tode gekommen waren und nun wieder mit dem Fußballspiel beginnen konnten. Größter Erfolg einer reinen Zechenmannschaft war die Teilnahme des SV Sodingen an der Endrunde zur deutschen Meisterschaft 1955. Der Vizemeister der Oberliga West hatte als Werkself der Zeche Mont Cenis unter anderem dem mit Weltmeistern gespickten 1. FC Kaiserslautern ein 2:2 abtrotzen können. Zuvor hatten sich auch die Sportfreunde Katernberg (1948) und der STV Horst-Emscher (1950) für die Meisterschaftsrunde qualifizieren können, beide waren jedoch jeweils in der Vorrunde gescheitert. Das Ende der 1950er Jahre einsetzende „Zechensterben“ machte langfristige Erfolge der Werksvereine jedoch unmöglich, viele Clubs mussten ihre besten Spieler zu wirtschaftlich potenteren Vereinen ziehen lassen. Schon 1963 hatte sich keiner dieser Vereine mehr für die Fußball-Bundesliga qualifizieren können; am erfolgreichsten war noch Hamborn 07, das in den letzten Spielzeiten der Oberliga West jedoch nicht die nötigen Platzierungen für eine Teilnahme an der Bundesliga hatte erreichen können. Aus dem Ruhrgebiet wurden schließlich Borussia Dortmund, Schalke 04 und der Meidericher SV ausgewählt, und auch wenn die Borussia das Abenteuer Bundesliga als amtierender Deutscher Meister begann, war die große Zeit des Ruhrgebietsfußballs erstmal beendet. === Die ersten Jahre der Bundesliga – Kampf um Geld und Punkte === Die Abschaffung der Oberliga West brachte für den Fußball zwischen Ruhr und Lippe eine tiefe Zäsur mit sich. Zwar hatten sich fast alle Vereine des Reviers bei der entscheidenden Sitzung des DFB-Bundestages für die Einführung der Bundesliga ausgesprochen, die kritischen Stimmen hatten jedoch bereits im Vorfeld der Abstimmung vor den Folgen für die kleineren Vereine des Ruhrgebiets gewarnt. Da parallel zur Gründung der neuen Liga auch das Amateur- beziehungsweise Vertragsspielerstatut in der Erstklassigkeit abgeschafft und durch ein neues Lizenzspielerstatut ersetzt wurde, wurden die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den erfolgreichen Vereinen in der Erstklassigkeit und den „zurückgebliebenen“ Regionalligisten schnell zementiert: Diejenigen, die den Sprung in die Eliteklasse aus wirtschaftlichen oder sportlichen Gründen nicht schaffen konnten, mussten einerseits auf die finanziell lukrativen Partien gegen die großen Vereine der Region verzichten (und hatten entsprechend mit rapide sinkenden Zuschauerzahlen zu kämpfen) und andererseits ihre talentiertesten Akteure an die finanzstärkeren Rivalen veräußern. Als Konsequenz dieser „Flurbereinigung“ entwickelten sich die in den jeweiligen Städten erfolgreichsten Clubs vollends zu städtischen Repräsentationsvereinen, die sich endgültig vom lokalen Milieu ihrer Entstehungszeit abnabelten und enge Beziehungen zu den kommunalen Entscheidungsträgern pflegten. Die Vereine kompensierten so in Zeiten des wirtschaftlichen Umbruchs im Ruhrgebiet die nachlassende finanzielle Unterstützung aus der lokalen Industrie und ließen sich finanziell unter die Arme greifen, für die Städte wurden die Bundesligisten zum Aushängeschild und Werbeträger. Auch personell verwischten sich vielerorts die Grenzen zwischen Vereinen und Gemeinden, nicht selten waren wie im Falle Walter Kliemts, der zwischen 1968 und 1974 Oberstadtdirektor Dortmunds und Vorsitzender der Borussia war, die Vereinspräsidenten zugleich hochrangige Beschäftigte der Verwaltung. Sportlich begann die Zeit in der Bundesliga für zwei der Ruhrgebietsvereine durchaus erfolgreich: Der Meidericher SV beendete unter seinem Trainer Rudi Gutendorf die erste Spielzeit überraschend als Vizemeister, konnte die folgenden Spielzeiten ebenso wie die für wenige Jahre erstklassigen Mannschaften von Rot-Weiss Essen und Rot-Weiß Oberhausen jedoch nur im unteren Mittelfeld der Liga beenden. Borussia Dortmund wurde in der Premierensaison Tabellenvierter und gewann im Jahr darauf den DFB-Pokal. 1965/1966 beendeten die Schwarz-Gelben die Saison als Vizemeister und feierten mit dem Triumph im Europapokal der Pokalsieger, den die Borussia als erste deutsche Mannschaft gewann, den bis dahin größten Erfolg der Vereinsgeschichte. Mit dem Außenseitersieg Dortmunds im Finale gegen den FC Liverpool begann für den BVB dann jedoch eine Zeit der sportlichen Misserfolge, die 1972 mit dem Abstieg in die Regionalliga ihren Tiefpunkt fand. Schlechter startete Schalke 04 in die neue Liga. 1964/1965 entkamen die Gelsenkirchener dem Abstieg nur durch die Aufstockung der Liga auf 18 Mannschaften, finanziell rettete erst der Verkauf der mittlerweile maroden Glückauf-Kampfbahn an die Stadt den Verein. Zuvor hatte sich der Vereinsvorsitzende Hans-Georg König wegen Steuerhinterziehung vor Gericht verantworten müssen. Zudem war der Club 1963 in die Schlagzeilen geraten, als er beim Kauf des Karlsruher Nationalspielers Günter Herrmann gegen die im Lizenzspielerstatut verankerte Deckelung der Ablösesummen auf maximal 50.000 DM verstieß und Herrmann gemeinsam mit Hans-Georg Lambert, der jedoch nur ein Spiel für die „Knappen“ absolvierte, für den doppelten Betrag erwarb. Das Urteil des DFB, das zunächst für beide Vereine einen Punktabzug und eine Geldstrafe vorgesehen hatte, wurde jedoch in zweiter Instanz aufgehoben. Die Angst vor dem Abstieg in die ebenso unrentable wie unattraktive Regionalliga West führte in Schalke neben finanziellen Winkelzügen zu einer neuen Zuschauerbegeisterung. Die Sorge um den Fortbestand des Clubs zog regelmäßig 40.000 Zuschauer in die Glückauf-Kampfbahn und sorgte so für einen neuen Rekord im deutschen Fußball. === Der Bundesliga-Skandal und die Folgen === Am Ende der Spielzeit 1970/1971 erschütterte der Bundesliga-Skandal die deutsche Öffentlichkeit. Der Offenbacher Vereinspräsident Horst-Gregorio Canellas präsentierte zur Feier seines 50. Geburtstags im Juni 1971 der anwesenden Prominenz ein Tonband mit Gesprächsmitschnitten zur Schiebung von Spielen der Bundesliga. In den folgenden Monaten untersuchte der Kontrollausschuss des DFB um Hans Kindermann die Vorgänge und stellte in seinem Abschlussbericht fest, dass mindestens 18 Spiele der Bundesliga manipuliert worden waren. Vor allem die abstiegsgefährdeten Mannschaften von Kickers Offenbach und Arminia Bielefeld hatten Beträge bis zu einer Million Mark eingesetzt, um gegnerische Vereine zu bestechen und so den Klassenerhalt zu sichern. Aus dem Ruhrgebiet waren Vereinsfunktionäre und Aktive von Schalke 04 und Rot-Weiß Oberhausen wesentlich an den Vorgängen beteiligt, zudem mussten sich drei Spieler des MSV Duisburg vor Gericht verantworten. Oberhausen war selbst in den Abstiegskampf verwickelt und hatte sich ein 4:2 gegen den 1. FC Köln erkauft, dessen Torhüter Manfred Manglitz zu den Schlüsselfiguren der Affäre gehörte. Als Konsequenz wurde Vereinspräsident Peter Maaßen für zwei Jahre aller Ämter enthoben. Die Spieler von Schalke 04 gaben im Verlauf der Prozesse ein widersprüchliches Bild ab. Über mehrere Jahre hinweg leugneten neun Aktive der Gelsenkirchener ihre Teilnahme am Bundesliga-Skandal unter Eid und erstritten sich so ihre Spielerlaubnis trotz Sperre des DFB. Erst im Dezember 1975 gaben die Beteiligten mit Ausnahme Klaus Fichtels zu, das Spiel gegen Arminia Bielefeld im April 1971 für insgesamt 40.000 Mark verkauft zu haben. Vor dem Essener Landgericht wurden die Spieler später wegen Meineids mit Geldstrafen belegt, der Verein hatte danach seinen Spitznamen als „FC Meineid“ weg. Unverständlich war vor allem, warum die Schalker Aktiven wegen vergleichsweise läppischer Summen ihre weitere Karriere aufs Spiel setzen. Nach dem knapp vermiedenen Abstieg 1965 hatten sich die Verantwortlichen in Gelsenkirchen auf die Jugendarbeit besonnen und es gegen Ende der 1960er-Jahre geschafft, sich mit einer jungen Mannschaft in der Liga zu etablieren. Zwar war die Mannschaft bis zur Saison 1970/1971 im Endklassement niemals besser als auf Rang sechs platziert, dennoch traute die Öffentlichkeit Schalke 04 zu, sich langfristig neben den Mannschaften von Borussia Mönchengladbach und dem FC Bayern München als dritte Kraft in der Bundesliga zu positionieren. Die Erfolge des Clubs in der Saison 1971/1972, als Schalke Vizemeister und Pokalsieger wurde, wurden dann bereits vom Skandal und seinen Folgen überschattet. Dennoch blieb Schalke in den 1970ern stärkste Mannschaft des Reviers, schlitterte nach einer weiteren Vizemeisterschaft 1977 jedoch in die Krise und stieg 1981 erstmals in die Zweitklassigkeit ab. Als Konsequenz aus dem Skandal hob der DFB bereits 1972 alle Obergrenzen für Lizenzspielergehälter und Ablösesummen auf und führte zur Saison 1974/1975 in zwei Staffeln die 2. Bundesliga als Unterbau zur ersten Liga ein. Speziell durch die neue zweite Liga sollte die Kluft zwischen Profi- und Amateurbereich geschlossen werden, um zu verhindern, dass ein Abstieg aus der Bundesliga einen Verein allzu leicht wirtschaftlich ruiniert. Das Ruhrgebiet war in der Nord-Staffel der zweiten Liga regelmäßig mit vier bis sechs Mannschaften vertreten, nach Einführung der eingleisigen zweiten Liga 1981 waren es meist noch drei Vereine. Im ganzen Land sank nach Bekanntwerden der Affäre das Interesse an der Bundesliga rapide. Zwar befanden sich die Zuschauerzahlen bereits nach der zweiten Spielzeit 1964/1965 im Abwärtstrend, dennoch verschärfte der Skandal die Situation in den folgenden Jahren. Der Tiefpunkt wurde 1972/1973 bei einem Zuschauerschnitt von knapp 16.000 erreicht. Auf einen Anstieg der Zahlen im Zuge der WM 1974 folgte ab 1978 ein langer Rückgang, der erst 1986 endete. Im Ruhrgebiet waren sie traditionell besser, obwohl die Vereine weit von nationalen oder internationalen Erfolgen entfernt waren: Borussia Dortmund war zwar 1976 in die erste Liga zurückgekehrt, blieb jedoch zunächst höchstens Mittelmaß und musste zuletzt 1985/1986 ernsthaft um den Klassenerhalt bangen. Der MSV Duisburg hatte seine größten Erfolge Ende der 1970er, als die Meidericher das Halbfinale des UEFA-Pokals erreichten. Danach ging es abwärts, 1982 folgte der Abstieg in die zweite und 1986 in die dritte Liga. Rot-Weiss Essen stieg 1977 letztmals aus der ersten Liga ab. Einzige Konstante in der Bundesliga war der VfL Bochum, der ab 1971 Erstligist, sportlich aber auch keine große Nummer war. Wirtschaftlich ging es den Vereinen der Region nicht besser; neben Dortmund und Schalke, die in den 1970ern und 1980ern öfters am Rande der Existenz wandelten, machten vor allem die Zweitligisten Rot-Weiss Essen und Westfalia Herne Schlagzeilen, denen zum Teil mehrfach die Lizenz entzogen wurde. === Die Neunziger – Neue Erfolge im Revier === Hauptgrund für den Niedergang des Spitzenfußballs im Revier in den Jahrzehnten zuvor war die fehlende Professionalisierung in den Strukturen der Vereine. Die meisten Vereinsvorstände führten ihre Clubs ehrenamtlich ohne professionelle Unterstützung und waren nicht in der Lage, wirtschaftlich profitabel zu arbeiten. Als erster Verein im Ruhrgebiet passte sich Borussia Dortmund Ende der 1980er an die neuen Verhältnisse im deutschen Fußball an und änderte unter Präsident Gerd Niebaum und Manager Michael Meier sukzessive die Vereinspolitik: Der BVB wurde vom Repräsentant Dortmunds zu einer landesweit bekannten Marke ausgebaut. Nicht mehr die Eintrittsgelder, sondern Einnahmen aus Fernsehen, Werbung und Merchandising machten die größten Einnahmen im Etat aus.Sportlich stellten sich die ersten nationalen Erfolge schnell ein. Bereits 1989 wurde der BVB Pokalsieger und löste neue Begeisterung im Vereinsumfeld aus. Drei Jahre später wurde der Club unter Trainer Ottmar Hitzfeld Vizemeister und erreichte in der Folgesaison das Finale im UEFA-Pokal. Die generierten Einnahmen wurden umgehend wieder in die Mannschaft investiert, die 1995 die vierte deutsche Meisterschaft nach Dortmund holen konnte. Nach der erfolgreichen Titelverteidigung im folgenden Jahr gewann der BVB 1997 die Champions League und wurde im selben Jahr Weltpokalsieger. Durch die radikale Umgestaltung des Vereins erweiterte sich die Kluft zwischen dem BVB und den anderen Erstligisten der Region schnell. Einzig Schalke 04 war ab Mitte der 1990er in der Lage, es der Borussia nachzumachen und den Club Stück für Stück in ein erfolgreiches Wirtschaftsunternehmen umzubauen. In beiden Fällen wurde nach der sportlichen Konsolidierung in der oberen Hälfte der Tabelle und Erfolgen auf europäischer Ebene (Schalke gewann 1997 den UEFA-Pokal) gleichermaßen in die Qualität der Mannschaft wie in das Stadion investiert; so entstand in Gelsenkirchen die Arena Auf Schalke als neues Multifunktionsstadion, in Dortmund wurde das Westfalenstadion mehrfach erweitert und ist heute das größte reine Fußballstadion der Republik. In Duisburg, Bochum oder Wattenscheid, wo nach der Wende ebenfalls Bundesligafußball gespielt wurde, waren ähnliche Pläne nicht von Erfolg gekrönt: Den Clubs fehlte nicht nur ein großer Name, auch die Anhängerschar dieser Mannschaften war deutlich kleiner. Einzig Rot-Weiss Essen verfügte über ein mit Schalke 04 und Borussia Dortmund vergleichbares Mobilisierungspotential, sportlich kam RWE in den Neunzigern aber nie über den Abstiegskampf in der zweiten Liga hinaus. Auch für den Frauenfußball im Ruhrgebiet waren die Neunziger ein erfolgreiches Jahrzehnt. Seit 1990/1991 existiert landesweit die Frauen-Bundesliga, in der sich der FCR Duisburg, Pokalsieger von 1998 und Meister von 2000, als dritte Kraft im deutschen Fußball etablieren konnte. Zuvor hatte es der KBC Duisburg bereits in den 1980ern zu Meister- und Pokalsiegerehren gebracht. Mit Ausnahme der SG Wattenscheid gibt es allerdings keinen Verein, der im Männer- und Frauenfußball gleichermaßen erfolgreich ist. Ein Grund ist das vormals ignorante „Belächeln“ der ersten Frauenmannschaften seitens der Verbands- und Vereinsgrößen, die die Ausübung des Sports unter dem Dach des DFB bis 1970 verboten hatten und den Frauen auch danach nur wenig Unterstützung zukommen ließen. Stattdessen entwickelten sich eigene Vereine für Frauenfußball; neben den beiden Duisburger Clubs ist vor allem die SGS Essen als aktueller Bundesligist zu nennen. Seit Einführung der Bundesliga hat sich das Ansehen des Frauenfußballs stark verbessert, auch wenn er in Deutschland hinsichtlich der Professionalisierung noch weit hinter dem Standard beim Männerfußball zurückbleibt. === Heute === Borussia Dortmund war Ende 2004 in eine existenzbedrohende finanzielle Krise geraten, nachdem die Vereinsführung die Erlöse des Börsengangs aus dem Herbst 2000 durch Investitionen in Neueinkäufe (insgesamt wurden zwischen 1998 und 2002 fast 100 Millionen Euro allein für Ablösesummen ausgegeben) sowie in die dritte Ausbaustufe des Westfalenstadions vollständig aufgebraucht hatte. Erst ein umfassendes Sanierungskonzept konnte den Gang in die Insolvenz vermeiden, so dass sich der Verein heute wirtschaftlich erholt hat und sportlich wieder zur ersten Garde in Deutschland zählt. Nach der sechsten Meisterschaft 2002 mussten zunächst im Zuge der wirtschaftlichen Konsolidierung wichtige Spieler verkauft werden. Adäquater Ersatz wurde nicht geholt, so dass die Mannschaft in den folgenden Jahren nur mittelmäßige Tabellenränge belegte. In der Saison 2007/2008 schaffte man es jedoch immerhin ins Finale des DFB-Pokals. Zu Beginn der Saison 2008/2009 übernahm Trainer Jürgen Klopp dann die Borussia und es konnten neue Erfolge gefeiert werden. In der Saison 2009/2010 holte der Verein sich am Ende den vierten Tabellenplatz, was gleichbedeutend mit der Qualifikation zur Play-off-Runde der UEFA Europa League war. 2010/2011 war Borussia Dortmund vom achten Spieltag an Tabellenführer und sicherte sich am Ende die Meisterschaft. In der darauffolgenden Saison konnte der Verein die Meisterschaft verteidigen und mit dem Gewinn des DFB-Pokals erstmals das Double in seiner Vereinsgeschichte feiern. Auch der FC Schalke 04 hat seit 2006 mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, die nur zwischenzeitlich durch den Einstieg des russischen Ölmagnaten Gazprom als Hauptsponsor gelöst werden konnten. Zur Saison 2009/2010 wurde bekannt, dass der Verein einen erheblichen Schuldenstand aufgebaut hat, der zunehmend schwieriger macht, im laufenden Geschäft kostendeckend zu arbeiten. Sportlich gehörte der Club in den letzten Jahren des Öfteren zur Spitzengruppe der Bundesliga, auch wenn die Gelsenkirchener mit vier Vizemeisterschaften in den 2000ern den deutschen Meistertitel mehrfach knapp verfehlten. Insbesondere 2001 und 2007 hatte Schalke bis zum letzten Spieltag auf den ersten Titel seit 1958 gehofft. 2001, 2002 und 2011 wurde der Club Sieger im DFB-Pokal. Die Saison 2010/2011 war die beste Saison für den Ruhrgebiets-Fußball seit der Saison 1996/1997: Borussia Dortmund errang die Meisterschaft und der FC Schalke 04 drang in der Champions League bis ins Halbfinale vor, gewann zudem den DFB-Pokal nach einem Finale, bei dem mit dem MSV Duisburg der Finalgegner ebenfalls aus dem Ruhrgebiet kam und gewann nach Saisonende den Supercup gegen Borussia Dortmund. In der Saison 2011/2012 gewann Borussia Dortmund erstmals in seiner Vereinsgeschichte das Double aus Meisterschaft und DFB-Pokal. 2013 erreichte der BVB das CL-Endspiel. Aktuell (Stand: 2023/24) sind Borussia Dortmund und der VfL Bochum in der ersten Bundesliga. Schalke 04 ist in der Saison 2022/23, nach einem Erstligajahr, wieder in die 2. Bundesliga abgestiegen. Der MSV Duisburg und Rot-Weiss Essen spielen in der 3. Liga, und komplettieren damit die fünf Ruhrgebietsvertreter im Profifußball. Die in der Vergangenheit vorhandene Vielfalt ist zugunsten weniger größerer Vereine gewichen. Diverse in der Vergangenheit erfolgreiche Clubs spielen heute nur noch unterklassig. == Klubs == Diese Tabelle listet alle Klubs auf, die im Ruhrgebiet ansässig sind und in der Saison 2022/23 in einer der ersten vier Ebenen des Fußball-Ligasystems in Deutschland aktiv sind. Zweite Mannschaften bleiben hierbei unberücksichtigt. == Fan- und Fußballkultur == === Fanszene im Revier === Die Bedeutung des Fußballs geht im Ruhrgebiet weit über das Spiel am Wochenende hinaus; der Sport besitzt eine große kommunikative Rolle, für viele Anhänger ist der Verein ein zentraler Aspekt ihres Lebens. Diese enge Beziehung der Fans zu ihrem Verein hat auch den Wandel des Publikums von den eher proletarischen Zuschauern der 1960er und 1970er Jahre zur heutigen Anhängerschaft aus der Mittelschicht überdauert. ==== Historischer Überblick ==== Obwohl der Fußball in Deutschland schon nach dem Ersten Weltkrieg die Massen in seinen Bann zog, entwickelte sich eine „echte“ Fanszene erst seit den späten Sechzigern. Erster Fanclub in Deutschland waren die „Bochumer Jungen“, die sich 1972 in Anlehnung an die englische Tradition im Umfeld des VfL gründeten. In Großbritannien existieren bereits seit den 1950ern die „Supporter Clubs“, deren Mitglieder sich vorwiegend aus jungen fußballbegeisterten Männern rekrutieren und die Ehre ihrer Teams durch Gesang und Gewalt verteidigen. Im Ruhrgebiet gab es zwar schon vor der Gründung der Fanclubs Ausschreitungen im Umfeld von Fußballspielen (soziologische Studien sprechen beispielsweise in den 1920ern von mehreren hundert Auseinandersetzungen jährlich), durch die organisierten Anhängerschaften änderte sich jedoch die Qualität der Gewalt und auch ihre Rezeption in der Presse. Vor der Weltmeisterschaft 1974 wurde praktisch jede Woche von Ausschreitungen rund um den Fußball berichtet, was als Reaktion seitens des Staates den Einsatz von Hundertschaften und Hundestaffeln in der Begleitung von Auswärtsfans hervorrief. Die Folge war eine weitere Radikalisierung der Fanszenen, während sich die „normalen“ Anhänger teilweise vom Fußball abwendeten. Im Ruhrgebiet sorgten in den Achtzigern vor allem rechtsextreme Gruppen wie die Dortmunder „Borussenfront“ oder die Schalker „Gelsenszene“ (die sich später entpolitisierte) für Schlagzeilen, die die Fanszenen unterwanderten und den Fußball als Bühne für ideologische Auseinandersetzungen nutzten. Die zeitgleich aus England importierte Hooligankultur mit martialischem Auftritt und Massenprügeleien zwischen verschiedenen Fangruppen verfestigte in der Öffentlichkeit das Bild vom Fußballfan als rechtem Schläger. Heute sind insbesondere die Fanszenen in Gelsenkirchen und Dortmund um eine Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus im Umfeld des Fußballs bemüht; beispielsweise wurden im Frühjahr 2007 das Dortmunder Fanprojekt und der Schalker Verein „Dem Ball is' egal wer ihn tritt“ mit dem Julius-Hirsch-Preis des Deutschen Fußball-Bundes ausgezeichnet. Nach dem deutschen Erfolg bei der Weltmeisterschaft 1990 gewann der Sport an Popularität in der Bevölkerung zurück. Vom Privatfernsehen wurde die Bundesliga zum „Event“ für die ganze Bevölkerung stilisiert, was insbesondere im fußballgeprägten Ruhrgebiet auf fruchtbaren Boden fiel. Dort strömt das Publikum seitdem regelmäßig in die Stadien und beschert der Liga immer wieder neue Zuschauerrekorde. Die organisierten Fanszenen reagierten erst spät auf die neuen Entwicklungen und versuchten sich vom „Mainstream“ zu distanzieren. Eine Plattform dafür bot vor allem die italienisch geprägte Ultra-Bewegung, deren Gruppierungen heute auch im Ruhrgebiet die Wortführerschaft bei zahlreichen Anhängerschaften besitzen. Ultras verstehen sich als besonders treue Anhänger ihres jeweiligen Vereins und sehen sich gleichsam als Hüter der Tradition gegenüber der zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs. Während viele Ultras in Deutschland ihre politische Neutralität betonen, ist die Bewegung aufgrund ihrer reaktionären und totalitären Philosophie anfällig für politischen Extremismus. ==== Revierderby ==== Trotz der Fülle an Fußballvereinen im Ruhrgebiet und der entsprechenden Zahl an Lokalderbys in den höheren Ligen haben sich zuletzt die Partien zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04 als die Revierderbys herauskristallisiert. Die Spiele zwischen den beiden erfolgreichsten Vereinen der Region sind seit vielen Jahren ausverkauft und elektrisieren die Fußballfans des Reviers wie kein anderes Duell. Dabei ist die Rivalität zwischen beiden Vereinen im Gegensatz zu großen internationalen Derbys wie Old Firm oder El Superclásico ebenso jung wie friedvoll – erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus der Borussia ein Konkurrent auf Augenhöhe für die Gelsenkirchener, und auch die Vereinsgeschichten sind nicht so verschieden, als dass sich religiöse oder weltanschauliche Konflikte zwischen beiden Clubs hätten herausbilden können. Sowohl Schalke 04 als auch Borussia Dortmund sind in Arbeitervierteln entstanden und haben von Beginn an eine integrative Funktion für die vielen polnischen und ostpreußischen Immigranten besessen, und auch wenn sie heute Anhänger in allen sozialen Schichten besitzen, stehen die Vereine weiterhin sinnbildlich für Herz und Leidenschaft als Tugenden des „Ruhrpotts“. Nach drei Spielen Mitte der 1920er zwischen beiden Vereinen kam es zu den ersten Partien auf höherem Niveau ab 1936 in der Gauliga, nachdem der BVB den Aufstieg geschafft hatte. Schalke 04 war zu jener Zeit jedoch bestimmend für den Fußball im gesamten Reich und entsprechend ohne Konkurrenz im Revier, so dass die Gelsenkirchener die Partien zumeist ohne große Schwierigkeiten für sich entscheiden konnten. Aufgrund der großen Unterschiede in der Spielstärke der Mannschaften gab es zunächst auch keine wirkliche Rivalität zwischen beiden Vereinen; nach der ersten Schalker Meisterschaft 1934 beispielsweise wurde der Zug der Meistermannschaft im Dortmunder Bahnhof frenetisch bejubelt. Von dort wurden die „Knappen“ ins Rathaus der Stadt eskortiert, wo sie sich ins Goldene Buch der Stadt eintrugen.Insgesamt verlor der BVB 14 von 16 Spielen gegen Schalke in der Gauliga; selbst in den Spielzeiten 1937/1938 und 1941/1942, als der BVB hinter Seriensieger Schalke Zweiter im Westen wurde, wurden die Schalker nicht geschlagen. Einziger Sieg vor Kriegsende war ein 1:0 im Oktober 1943, in dem August Lenz als erster Nationalspieler Dortmunds den entscheidenden Treffer erzielte. Nach Kriegsende entwickelte sich der BVB dann allerdings zum ernstzunehmenden Kontrahenten von Schalke 04. Bereits die erste Partie nach Kriegsende konnte Borussia Dortmund für sich entscheiden und wurde 1947 durch einen 3:2-Erfolg Westfalenmeister. Es folgte die Wachablösung in der Ära der Oberliga West; Dortmund wurde dreimal Meister und belegte auch in der „ewigen Tabelle“ den ersten Platz vor Schalke. Diese Jahre gelten als die Entstehungszeit des Revierderbys, denn erst mit Borussia Dortmund konnte sich ein Verein langfristig als ernsthafte Alternative zu Schalke 04 im Ruhrgebietsfußball etablieren. Seitdem wechselten sich die Zeiten der Erfolge weitgehend ab; der BVB war in den Sechzigern und Neunzigern deutsche Spitzenmannschaft und ist dies auch in den 2010er-Jahren, Schalke konnte sich in den Siebzigern leicht von der Borussia absetzen. Dennoch stellten die Spiele zwischen beiden Vereinen immer ein besonderes Highlight dar, und vielfach konnte der jeweilige „Underdog“ die Partien für sich entscheiden. Beide Vereine besitzen heute mit Abstand die meisten Anhänger im Revier und der Umgebung, und abgesehen vom FC Bayern München ist auch kein Club in Deutschland in der Lage, mit den Zuschauerzahlen von Schalke und Dortmund mitzuhalten. Regelmäßig über 40.000 verkaufte Dauerkarten pro Saison zeugen von einer großen Begeisterungsfähigkeit der Anhängerschaft. === Die Stadien im Revier === Nachdem die ersten Spiele auf bestenfalls umzäunten Wiesen stattfanden, die je nach Zuschauerinteresse von Erdwällen umgeben waren, begann in den 1920ern der Bau der ersten „echten“ Stadien des Reviers; zwar entstanden im Ruhrgebiet keine Universalstadien mit Schwimmbahnen und Sprungturm wie von Carl Diem, dem Generalsekretär des zuständigen Reichsausschusses, gefordert, jedoch wurden sie in vielen Fällen mit Rad- oder Leichtathletikbahnen geplant. Erster großer Stadionbau war die Errichtung des Wedaustadions in Duisburg, wo die Stadt nach Diems Plänen ein weites Rund ohne Tribünen bauen ließ, dem vier Jahre später nur wenige Kilometer entfernt das Schwelgernstadion folgte. 1928 wurde in Dortmund die Kampfbahn Rote Erde eingeweiht, die heute ähnlich wie die im selben Jahr fertiggestellte Vestische Kampfbahn in Gladbeck unter Denkmalschutz steht. Beide Stadien sind auch architektonisch bedeutend, sie verfügen insbesondere über prachtvolle Eingangsbauten und Marathontore und sind wie im Fall des Dortmunder Volksparks in ein gestalterisches Gesamtkonzept integriert. Wo es nicht die Städte waren, die den Stadionbau forçierten, mussten die Vereine selbst Hand anlegen; teilweise waren es auch die Zechen, die auf ihrem Betriebsgelände Stadien für den lokalen Klub errichteten (Mont Cenis in Sodingen 1928, Ewald-Fortsetzung in Erkenschwick ab 1929). In Gelsenkirchen war Schalkes Platz an der Grenzstraße, der nur 5000 Anhängern Platz bot, bereits früh den Zuschauermassen nicht gewachsen. Dennoch dauerte es bis ins Jahr 1928, dass der Club seine Glückauf-Kampfbahn eröffnen konnte. In Essen entstand 1922 zunächst das 35.000 Zuschauer fassende Stadion am Uhlenkrug von Schwarz-Weiß, in Herne wurde 1934 das Stadion am Schloss Strünkede eröffnet. Rot-Weiss Essen baute erst nach und nach seinen früheren Sportplatz zum Georg-Melches-Stadion aus. Bei der Eröffnung 1939 bestand das Stadion aus einer Holztribüne und insgesamt 25.000 Plätzen, 1956 wurde dort die erste Flutlichtanlage Deutschlands eingeweiht. Von 1990 bis zum Beginn des vollständigen Abriss im März 2012 war das Stadion eine Besonderheit in Deutschland, da die Westtribüne wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste und der Bau daher nur noch aus drei Tribünen besteht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die zerstörten Stadien größtenteils wiederaufgebaut, zudem entstanden im Umfeld der Zechenvereine neue Arenen. In Sodingen wurde 1953 das Stadion Glück-Auf fertiggestellt; in Horst-Emscher entstand zur Saison 1948/1949 das Fürstenbergstadion, nachdem in der ersten Oberliga-Saison noch auf Asche gekickt worden war. Diese Stadien waren meist nicht für Großereignisse geeignet, Sodingen musste daher auch in seinen Endrundenspielen zur deutschen Meisterschaft nach Gelsenkirchen ausweichen. Der nächste große Bauboom setzte dann in den 1970ern ein. Waren zuvor vielerorts in Deutschland Großstadien mit mehr als 50.000 Zuschauern Fassungsvermögen entstanden, so bekam das Ruhrgebiet mit dem Gelsenkirchener Parkstadion und dem Dortmunder Westfalenstadion erst zur Weltmeisterschaft 1974 neue Arenen. Letzteres wurde als reines Fußballstadion konzipiert und ist bis heute das größte seiner Art in Deutschland. Fasste es zur Eröffnung 54.000 Plätze, so finden nach mehreren Ausbaustufen aktuell über 80.000 Anhänger Platz. Auch in Bochum wurde mit dem Ruhrstadion eine Arena ohne Laufbahnen errichtet; bis heute gilt das „Schmuckstück“ als eines der schönsten Stadien Deutschlands. Schalkes Parkstadion besaß dagegen wie alle großen Stadien des Landes eine Leichtathletikbahn und galt schnell als ebenso altmodisch wie ungemütlich. Nach den großen Erfolgen in den Neunzigern begann der Verein daher 1998 mit dem Bau der „Arena AufSchalke“, einer Multifunktionsarena auf dem Berger Feld, die 2001 eröffnet wurde. Mit diesem Gebäude hat der Verein neue Maßstäbe in der Verbindung von Fußball und Event gesetzt, sich nach Meinung mancher Kritiker jedoch auch weit von seiner Entstehung als Verein der „kleinen Leute“ entfernt. Ein riesiger Videowürfel, herausfahrbarer Rasen, unzählige VIP-Logen und die Stadionwährung „Knappe“ zeugen von der intensiven Vermarktung des Sports. Letzter großer Stadionumbau im Ruhrgebiet war die Umgestaltung des Wedaustadions in ein reines Fußballstadion, das 2004 neu eröffnet wurde. Abgesehen vom Lohrheidestadion in Wattenscheid, das in den letzten Jahren ebenfalls modernisiert wurde und heute das wichtigste Leichtathletikstadion der Region ist, befinden sich die Stadien der unterklassigen Clubs im Niedergang. Vielerorts lässt sich zwar in Nostalgie schwelgen, ohne umfangreiche Sanierungen werden viele der Kampfbahnen in naher Zukunft jedoch nur noch eingeschränkt benutzbar sein. === Fußball abseits des DFB === ==== Arbeiterfußball ==== Die Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Hitler-Diktatur waren die Hochzeit des Arbeitersports in Deutschland. Unter dem Dach des Arbeiter-Turn- und Sportbundes trieben viele hunderttausend Menschen Sport, beispielsweise waren 1930 über 140.000 Aktive in mehr als 8.000 Fußballmannschaften organisiert. Die Nachfolgeorganisation des 1893 als Gegenpol zur kaisertreuen Deutschen Turnerschaft gegründeten Arbeiter-Turner-Bundes verstand den Sport als Teil der politischen Erziehung und betonte die Bedeutung von Fairness und Kameradschaft im Sport. Nationalismus war verpönt; Höhepunkt im Arbeitersport waren stattdessen die „Arbeiterolympiaden“, an denen Sportler aus aller Welt teilnahmen. Trotz seiner vielen Fabriken und Zechen war das Ruhrgebiet zu keiner Zeit eine Hochburg des Arbeitersports im Land. Ein Großteil der Arbeiter des Reviers waren Immigranten aus Polen und vorwiegend katholisch sozialisiert, viele von ihnen traten daher in die bürgerlichen Vereine der Region oder die katholische DJK ein und ließen sich von den sozialdemokratisch oder kommunistisch geprägten Arbeitersportvereinen nicht für ihre Sache gewinnen. Fußball war im Arbeitersport zudem bis 1910 nicht möglich, ähnlich wie die reinen Turnverbände hatte der ATB den Fußball für nicht mit seinen Zielen vereinbar gehalten und auf die Organisation entsprechender Wettbewerbe verzichtet. Aus diesen Gründen waren die erfolgreichsten Fußballvereine im deutschen Arbeitersport nicht im Revier beheimatet. An den Endspielen zur Bundesmeisterschaft des ATSB nahmen keine Mannschaften aus dem Ruhrgebiet teil, zu stark war die Konkurrenz aus Hamburg, Berlin, Franken oder Sachsen. Dennoch war das Niveau der Arbeitersportvereine im Vergleich zu den Clubs des DFB keineswegs niedrig, immer wieder wurden Spieler durch das Angebot von Arbeitsplätzen oder anderer finanzieller Anreize abgeworben. Zur Spaltung des Arbeitersports im Land kam es Ende der Zwanziger, nachdem sich SPD und KPD im Zuge der Reichstagswahl 1928 endgültig zerstritten hatten. Der eher sozialdemokratisch geprägte ATSB begann in der Folgezeit, oppositionelle Vereine auszuschließen; nach offiziellen Angaben blieben von den über 400 Vereinen im Bezirk Rheinland-Westfalen 261 im Verband, die übrigen traten der 1929 gegründeten Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit bei. Diese war stärker politisiert und unterstützte vielerorts offen die politischen Aktionen der KPD. Ab 1932 forderten die immer hitzigeren Auseinandersetzungen zwischen den Rotsportlern und der Polizei auch die ersten Todesopfer, beispielsweise starben im Umfeld der Ruhrspartakiade in Essen zwei Arbeiter bei Zusammenstößen mit der Staatsmacht.Für beide Verbände kam das Ende mit der Machtergreifung der Nazis 1933. Nach dem Reichstagsbrand Ende Februar wurden zahlreiche Funktionäre der Rotsportler inhaftiert und ermordet, der ATSB wurde vom Reichsausschuss für Leibesübungen ebenfalls verboten. Den Vereinen wurde die Austragung von Spielen untersagt, den Aktiven die Aufnahme in die Clubs des DFB nur unter strengen Auflagen erlaubt. Im Untergrund wurde die illegale Rotsport-Organisation zunächst weitergeführt, ab 1935 waren jedoch alle Beteiligten verhaftet oder umgebracht worden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf eine Neugründung eines Arbeitersportverbandes verzichtet, organisierter Fußball wurde fortan ausschließlich unter dem Dach des DFB gespielt. ==== Deutsche Jugendkraft ==== Erfolgreicher als im Arbeitersport waren die Mannschaften des Reviers in der Reichsmeisterschaft der Deutschen Jugendkraft. Drei der vier Endspiele fanden unter Beteiligung Essener Vereine statt; 1921 und 1924 wurde jeweils die DJK Katernberg Reichsmeister (zunächst durch ein 3:2 gegen die DJK Ludwigshafen, drei Jahre später wurde die DJK Offenbach-Bürgel mit 4:2 bezwungen), 1932 war die DJK Adler Frintrop der DJK Sparta Nürnberg mit 2:5 unterlegen. Die Deutsche Jugendkraft hatte sich 1920 als Dachverband für die katholischen Vereine Deutschlands gegründet und versuchte ähnlich wie der Arbeitersport, ihren Mitgliedern körperliche Ertüchtigung ohne übertriebenes Konkurrenzdenken zu ermöglichen. Üblicherweise wurden die sportlichen Aktivitäten jeder Kirchengemeinde in einer Abteilung der DJK zusammengefasst, so dass gerade der rheinische Teil des Ruhrgebiets aufgrund seiner katholischen Prägung eine Vielzahl der Aktiven des Verbandes stellte. Bis zum Ende der Weimarer Republik hatte sich der Verband zum drittgrößten Sportverband des Landes entwickelt, Fußball wurde von mehr als 80.000 Menschen gespielt.1933 wurde der Verband zunächst gleichgeschaltet und zwei Jahre später verboten. Nach dem Krieg kam es 1947 zur Neugründung zweier Verbände, die 1961 fusionierten und bis heute als Deutsche Jugendkraft existieren. Anders als in der Weimarer Republik sind die Mannschaften der DJK heute jedoch in den allgemeinen Spielbetrieb des DFB und der anderen Sportverbände integriert. ==== Frauenfußball vor 1970 ==== Unter dem Dach des DFB, aber auch in ausländischen Fußballverbänden, war die Ausübung des Sports durch Frauen viele Jahrzehnte lang nicht möglich; Fußball galt als Männersport und wurde als der weiblichen Natur wesensfremd angesehen. Zwar wurde Frauenfußball in Deutschland durch den Verband erst 1955 offiziell verboten, das Spiel in der Öffentlichkeit galt aber auch zuvor als unschicklich und gesundheitsgefährdend. Ein geordneter Kick war daher auch im Ruhrgebiet kaum möglich, wenn man von den einigen wenigen Arbeitersportvereinen absieht, die wie in Essen oder Herne Frauen in ihren Reihen hatten. Das Verbot von 1955 war die Antwort auf die Gründung mehrerer reiner Frauenfußballmannschaften, die insbesondere im Ruhrgebiet entstanden waren und deren erste Partien bereits einige Tausend Zuschauer angezogen hatten. Bereits 1951 spielte und trainierte bei Blau-Weiß Oberhausen eine Frauenelf regelmäßig. Die Entscheidung des DFB untersagte den Vereinen nicht nur die Einrichtung von entsprechenden Abteilungen, sondern verbot auch die Nutzung der Sportanlagen sowie das Ausleihen von Schieds- und Linienrichtern. Bundesweite Wellen schlug ein Vorfall, der eine Partie zwischen dem DFC Duisburg-Hamborn und Gruga Essen am 31. Juli 1955 nach zwanzig Minuten abrupt beendete – auf Intervention des Platzeigentümers Hertha Hamborn rückte die Polizei mit einem Überfallkommando an: „… dann wurde der Damen-Fußball liquidiert. Es war diesmal nichts mit der Gleichberechtigung“, witzelte die WAZ am Tag darauf.Als Konsequenz wurden neue Vereine wie Fortuna Dortmund oder Rhenania Essen gegründet, die sich in eigenen Verbänden organisierten und auf städtische Sportplätze auswichen. Ab 1956 wurde auch mit der Austragung von Länderspielen begonnen; erste Partie war dabei das 2:1 der deutschen Mannschaft vor 18.000 Zuschauern gegen die Niederlande im Essener Mathias-Stinnes-Stadion.Trotz aller Widrigkeiten wurde der unorganisierte Frauenfußball zu einer Erfolgsgeschichte; bis Ende der 1960er waren etwa 50.000 Spielerinnen im Land aktiv, zudem wurden mehr als 150 Auswahlspiele ausgetragen. Im Ruhrgebiet sahen 1956 laut NRZ „im Schnitt immerhin 5.000 Besucher“ Damenspiele; und viele junge Frauen waren ähnlich fußballbegeistert wie Helga Tönnies, die bis 1960 bei Rhenania Essen spielte, schon mit 17 ihr erstes Länderspiel bestritt und zweimal wöchentlich nach der Schicht in einer Essener Brauerei zum mehrere Kilometer entfernten Trainingsplatz lief. Nach ihrer Hochzeit hörte sie mit dem aktiven Sport zunächst auf, nur um ab 1969 als Helga Nell bei Rot-Weiß Resser Mark erneut die Fußballschuhe zu schnüren und später mit dieser Elf ins Westdeutsche Pokalfinale einzuziehen.Bereits ab 1963 wurde das Verbot in einigen Vereinen und Untergliederungen des DFB umgangen, ehe es 1970 im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland endgültig beseitigt wurde und der DFB einen regulären Spielbetrieb – wenn auch zunächst mit Sonderregeln, die in den Folgejahren jedoch sukzessive abgebaut wurden – gestattete. Im ersten Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft 1974 der Frauen stand dann mit der DJK Eintracht Erle aus Gelsenkirchen auch ein Verein aus dem Ruhrgebiet auf dem Platz, der jedoch dem TuS Wörrstadt mit 0:4 unterlag. ==== Freizeitfußball und Bunte Ligen ==== Ab den 1970ern entstanden vielerorts in Deutschland unorganisierte Freizeitmannschaften, die sich als Gegenbewegung zur Kommerzialisierung des Sports verstanden und an die Tradition der Anfangszeit des Sports im Land anknüpften. Seitdem existiert auch im Revier eine bunte Mischung von Thekenmannschaften, Betriebssportlern und Straßenmannschaften, die sich zum Teil in eigenen Ligen miteinander messen oder nur gemeinsam auf dem Bolzplatz kicken. Diese Mannschaften eint bei aller Heterogenität, dass sie sich nicht den strengen Regularien des Verbandes unterwerfen, sondern den Spaß am Spiel in den Vordergrund ihrer Aktivitäten stellen. Prominentestes Beispiel von Fußball abseits des DFB sind heute die Bunten Ligen, die sich seit den Achtzigern vorwiegend in Universitätsstädten gründeten und ihre Mitglieder vor allem im grün-alternativen Milieu besitzen. Diese verbinden ihre Lust am Sport wie im Arbeitersport mit Kritik an den politischen Verhältnissen und insbesondere am DFB. == Die Fußballgeschichte in den einzelnen Städten des Reviers == Die Bedeutung des Fußballs für die Region lässt sich daran ablesen, wie viele bekannte Vereine mit ihren jeweiligen Facetten das Ruhrgebiet hervorgebracht hat. Der folgende Abschnitt gibt eine kleine Fußballgeschichte in den großen Städten des Ruhrgebiets an und verweist so auf die wichtigsten Clubs des Reviers. === Westliches Ruhrgebiet === ==== Duisburg ==== Duisburg war bis zum Ende der Oberliga West 1963 die Fußballhochburg im Ruhrgebiet schlechthin. Wohl keine andere Stadt dieser Größenordnung hat so viele Erstligisten hervorgebracht wie die Stadt am Rhein, und auch wenn der ganz große Erfolg eines Duisburger Clubs im nationalen Fußball bis heute ausgeblieben ist, sind Vereine wie der Meidericher SV, Hamborn 07 oder der Duisburger SpV landesweit ein Begriff. Schließlich hat in Duisburg auch der Westdeutsche Fußballverband seinen Sitz, zu dem die Fußball-Landesverbände Niederrhein, Mittelrhein und Westfalen gehören. Neben dem Duisburger Spielverein als deutscher Vizemeister 1913 war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg der SC Preußen Duisburg eine der ersten Adressen im niederrheinischen Fußball. Ebenso wie der DSV waren die Preußen ein Verein der Oberschicht, und gemeinsam mit dem Spielverein war Preußen der einzige Verein, der vom Beginn der Meisterschaftsspiele 1902 bis zur kriegsbedingten Aussetzung erstklassig spielte. Größter Erfolg war der Einzug in das Endspiel um die Westdeutsche Meisterschaft 1909, das mit 2:3 nach Verlängerung gegen den FC München-Gladbach verloren ging. Zumeist war der DSC den Lokalrivalen vom Spielverein jedoch unterlegen; nach dem Krieg überholten auch andere Vereine die Preußen, die sich 1929 aus Protest gegen die gängige Prämienpraxis gänzlich von den Meisterschaftsspielen des Westdeutschen Spielverbands zurückzogen. Ende der Zwanziger machte zunächst der Meidericher SV, der sich 1929 erst im Endspiel um die Westdeutsche Meisterschaft Schalke 04 geschlagen geben musste und auch 1931 und 1932 Bezirksmeister am Niederrhein werden konnte, auf sich aufmerksam. Für die Gauliga konnten sich die Meidericher jedoch nie qualifizieren (auch der Spielverein war während des Dritten Reichs nur für die Dauer einer Spielzeit erstklassig), Gründungsmitglieder aus Duisburg waren Duisburg 99, Hamborn 07 und der DFV 08. Später waren auch der Homberger SV, Union 02 Hamborn, Westende Hamborn und Gelb-Weiß Hamborn Gauligisten, so dass normalerweise drei Clubs aus der Stadt in der ersten Spielklasse vertreten waren. Erfolgreichster Verein dieser Ära war Hamborn 07, das 1933 Zweiter im Westen wurde und danach in allen elf Spielzeiten in der Gauliga vertreten war. 1941/1942 feierten die „Löwen“ ihre einzige Niederrhein-Meisterschaft, schieden in der Endrunde zur deutschen Meisterschaft aber gegen Werder Bremen aus. In der Folgesaison wurde Westende Meister der Gauliga, ein Jahr später konnte die Kriegssportgemeinschaft aus Spielverein und 99 den Titel erringen. Auch während der Zeit der Oberliga West bildeten die Duisburger Vereine die stärkste Fraktion im westdeutschen Fußball. Zunächst war es wieder Hamborn 07, das als Vierter der Auftaktsaison erste Akzente setzen konnte. Zur Saison 1949/1950 stießen der Spielverein und der FV 08 hinzu, letztere stiegen jedoch direkt wieder in die zweite Liga ab. Dafür erreichte der Meidericher SV zur Saison 1951/1952 erstmals seit 1933 wieder die Erstklassigkeit. Trotz insgesamt vier Vereinen in der Oberliga konnte keine Duisburger Mannschaft Westmeister werden. Am nächsten war noch der Spielverein dem Titel, der 1956/1957 hinter Borussia Dortmund Vizemeister im Westen wurde; sonst waren die Vereine jedoch immer wieder Abstiegskandidaten und mussten mehrfach den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. Der Spielverein war zwischen 1951 und 1954 sowie 1963 in die zweite Liga abgestiegen, Meiderich 1955/1956. Hamborn entwickelte sich Mitte der Fünfziger zur „Fahrstuhlmannschaft“ und stieg bis zum Ende des Jahrzehnts regelmäßig auf und ab. Nur mit Glück erhielt der Meidericher SV – später MSV Duisburg – als Duisburger Vertreter die Aufnahme in die Bundesliga; um den letzten freien Platz stritt sich vor allem Alemannia Aachen mit den Meiderichern. Größter Erfolg des MSV nach 1963 war die Vizemeisterschaft in der Premierensaison, sonst spielte der Verein zumeist im unteren Tabellendrittel. Erstklassig blieb der MSV bis in die Achtziger. Danach erfolgte der Abstieg in die 2. Bundes- und in die Oberliga, seit Anfang der Neunziger pendelt der Verein regelmäßig zwischen Erst- und Zweitklassigkeit. Die beiden anderen Vereine wurden 1963 in die Regionalliga versetzt, aus der sich 1969 Eintracht Duisburg als Fusionsverein aus Spielverein und 48/99 verabschiedete. Hamborn 07 konnte sich zwei Jahre länger in der Zweitklassigkeit halten, danach blieb der Verein bis Anfang der Neunziger drittklassig. In dieser Zeit fanden die „Nullsiebener“ durch regelmäßige Berichterstattung im TV-Politmagazin Privatfernsehen mit Friedrich Küppersbusch sogar wieder bundesweite Beachtung. Aktuell sorgt neben dem MSV vor allem der FCR Duisburg als Frauenbundesligist für positive Schlagzeilen. Der FCR ist einer der erfolgreichsten Vereine im Frauenfußball und wurde unter anderem 2000 Deutscher Meister. Zudem wurde der Verein 1998 und 2009 DFB-Pokalsieger, DFB-Hallenpokal-Sieger in den Jahren 1996 und 2000. 2009 gewannen die „Löwinnen“ gegen Swesda 2005 Perm den UEFA Women’s Cup. In den 1980er und frühen 1990er Jahren gehörte der KBC Duisburg zu den stärksten deutschen Vereinen. Die Kasslerfelder holten 1983 den Pokal und zwei Jahre später die Meisterschaft. 1990 gehörte der Club zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga. Nach dem Abstieg aus der Bundesliga 1994 verschwand die Mannschaft von der Bildfläche und die Abteilung wurde aufgelöst. ==== Mülheim ==== Erfolgreichster Club der Stadt war in den Jahren zwischen den Weltkriegen der VfB Speldorf. Nach Gründung des Vereins im Januar 1919 konnte sich der VfB schnell in den 1920ern im Mülheimer Fußball etablieren. Die erste Mannschaft Speldorfs um den späteren Nationaltorhüter Fritz Buchloh schaffte 1930 dann den Aufstieg in die höchste Spielklasse am Niederrhein, in der sich die Speldorfer bis 1939 hielten. Trotz zweier Teilnahmen an der Aufstiegsrunde zur Gauliga reichte es jedoch nicht zum Aufstieg in die Erstklassigkeit. 1946/1947 wurden der VfB als Mülheimer Stadtmeister für eine Spielzeit erstklassig, im Folgenden spielte der Club aber vorwiegend in der Amateurliga des Fußballverbandes Niederrhein. Größter Erfolg in den 1950ern war der Gewinn der Niederrhein-Meisterschaft 1956, der den Verein bis ins Endspiel um die deutsche Amateurmeisterschaft brachte, in dem die Speldorfer jedoch der Spielvereinigung Neu-Isenburg mit 2:3 unterlagen. In der zweiten Liga konnte sich der Verein auch nur für eine Saison halten. Nach dem Krieg begann der Aufstieg des 1. FC Styrum (später 1. FC Mülheim) zur ersten Adresse im Mülheimer Fußball. Bereits 1952/1953 waren die Styrumer Niederrhein-Meister geworden, dennoch blieb der Verein im weiteren Verlauf der 1950er und 1960er drittklassig. 1972 stieg der Club dann jedoch in die Regionalliga West auf und konnte sich mit zwei guten Spielzeiten für die neu gegründete 2. Bundesliga qualifizieren. Zu den bekanntesten Spielern dieser Zeit gehörten Holger Osieck (Nationaltrainer und Weltmeister 1990) und Norbert Eilenfeldt (später Arminia Bielefeld und 1. FC Kaiserslautern). Nach dem Abstieg 1976 folgte eine lange Talfahrt des Vereins, die aktuell in der Bezirksliga endete. Nach vielen Jahren in der Unterklassigkeit wurde in den 1980ern nun wieder der VfB Speldorf zum wichtigsten Verein Mülheims. Sowohl in der Saison 1983/1984 als auch zwischen 2005 und 2008 war der Verein in der Oberliga Nordrhein vertreten. Mit Einführung der NRW-Liga wird der Club in der Saison 2008/2009 jedoch nur noch in der sechstklassigen Niederrheinliga spielen. ==== Oberhausen ==== Die Fußballgeschichte Oberhausens ist eng mit der Struktur der Stadt verbunden, die 1929 als Zusammenschluss der drei Gemeinden Alt-Oberhausen, Osterfeld und Sterkrade entstand. Zuvor hatten sich in jeder der drei Kommunen Fußballvereine gebildet, die zwar in der höchsten Spielklasse am Niederrhein spielten, jedoch keine überregionalen Erfolge feiern konnten. Aus Alt-Oberhausen ist vor allem die Spielvereinigung Oberhausen-Styrum zu nennen, die bis 1933 durchweg erstklassig spielte. In Osterfeld war zunächst der Spielclub Osterfeld mäßig erfolgreich, in Sterkrade die Spielvereinigung 06/07. Letztere scheiterten 1929 erst im Endspiel um die Niederrhein-Meisterschaft am Meidericher SV. Anfang der 1930er wurde dann Rot-Weiß Oberhausen als Nachfolgeverein der Spielvereinigung Styrum (im Zuge der Teilung Styrums entstand auf Mülheimer Stadtgebiet der 1. FC Styrum, in Oberhausen wurde Rot-Weiß gegründet) zum wichtigsten Verein der Stadt. Die Rot-Weißen stiegen 1934 in die Gauliga auf, der sie bis 1943 durchgängig angehörten, ohne sich jedoch für Endrunden um die deutsche Meisterschaft zu qualifizieren. Mit Willy Jürissen hatten sie immerhin ebenfalls einen Nationaltorhüter in ihren Reihen. Nach dem Krieg schaffte neben RWO auch die Spielvereinigung Sterkrade den Aufstieg in die Oberliga West; aus wirtschaftlichen Gründen verzichtete die Spielvereinigung jedoch auf die Einführung des Vertragsspielerstatus und blieb im Amateurbereich. Größter Erfolg in dieser Zeit war die Teilnahme an der Endrunde zur deutschen Amateurmeisterschaft 1955. In Osterfeld schaffte der Ballspielverein von 1956 bis 1960 den Sprung von der Landesliga bis in die zweite Liga und stand 1960 sogar im Endspiel um die Amateurmeisterschaft, das nach einem 1:1 in der ersten Partie mit 0:3 im Wiederholungsspiel gegen Hannover 96 verloren ging. Die Spielzeit in der Zweitklassigkeit beendete der BVO dann allerdings abgeschlagen als Tabellenletzter. Rot-Weiß blieb bis zur Gründung der Bundesliga immer erst- oder zweitklassig und qualifizierte sich 1963 für die Regionalliga West. 1969 errang RWO dort die Meisterschaft und schafften in den Entscheidungsspielen gegen den Freiburger FC den Aufstieg in die erste Bundesliga. Insgesamt war RWO über vier Spielzeiten in der Bundesliga vertreten, spielte sportlich jedoch nur eine untergeordnete Rolle und sorgte insbesondere durch die Verstrickung in den Bundesliga-Skandal 1970/1971 für eher unangenehme Schlagzeilen; Stürmer Lothar Kobluhn wurde immerhin 1970/1971 Bundesliga-Torschützenkönig. In den folgenden Jahrzehnten stieg der Verein bis in die Viertklassigkeit ab, erst Ende der 1990er gelang dem Club die Rückkehr in den Profibereich, als RWO über mehrere Spielzeiten in der zweiten Bundesliga vertreten war. In jüngster Zeit hatte RWO als höchstklassiger Oberhausener Verein zwar zwischen 2006 und 2008 den Durchmarsch von der Oberliga in die 2. Bundesliga geschafft, findet sich nach zweimaligem Abstieg 2012/13 jedoch nur noch in der Regionalliga West wieder. Adler Osterfeld war zwischen 1998 und 2005 in der Oberliga Nordrhein vertreten. ==== Kreis Wesel ==== Vereine aus dem Kreis Wesel erreichten im Gegensatz zu den Vereinen der anderen Ruhrgebiets-Regionen nie die höchsten Spielklassen des deutschen Verbandsfußballs. Zwischen 1959 und 1975 spielte der VfB Lohberg aus Dinslaken in der Verbandsliga, der damals höchsten Amateurspielklasse, und schrammte mehrfach knapp am Aufstieg in die zweite Liga beziehungsweise die Regionalliga West vorbei. Später konnten unter anderem der MSV Moers, die SuS 09 Dinslaken sowie die TuS Xanten kleinere Erfolge mit Teilnahmen an der drittklassigen Amateurliga Nordrhein beziehungsweise der Fußball-Oberliga Nordrhein erzielen. Bei Teilnahmen am DFB-Pokal konnte nur selten die zweite oder dritte Runde erreicht werden, so beispielsweise durch den VfB Lohberg 1962/1963 und die TuS Xanten 1979/1980. Derzeit erfolgreichste Vereine im Kreisgebiet sind die in der fünftklassigen Oberliga Niederrhein antretenden Vereine TV Jahn Hiesfeld und SV Sonsbeck (Stand Saison 2014/15). === Nördliches Ruhrgebiet === ==== Gelsenkirchen ==== Auch wenn der FC Schalke 04 erst in den 1920ern zum bedeutendsten Verein der Stadt wurde, beginnt die Gelsenkirchener Fußballgeschichte in Schalke: 1896 wurde von Schülern des Schalker Gymnasiums der Spiel und Sport gegründet, der im Gründungsjahr gegen den Dortmunder FC von 1895 das erste reguläre Spiel in Westfalen austrug. Auch wenn dieses Spiel ebenso wie das Rückspiel verloren ging, entwickelte sich SuS Schalke schnell zum Vorzeigeverein Gelsenkirchens. Die Qualifikation für die A-Klasse des Westdeutschen Spielverbandes wurde in den Jahren vor dem Krieg dennoch verfehlt, jedoch nahmen die jungen Schalker Arbeiterkinder von Westfalia, dem späteren FC Schalke 04, Anschauungsunterricht beim SuS und seinen zum Teil hochkarätigen Gegnern. In den Jahren der Weimarer Republik entwickelte sich Gelsenkirchen dann schnell zur Fußballhochburg im mittleren Ruhrgebiet. 1921 wurde der SC Gelsenkirchen 07 Meister der Emscherkreisliga und hinter dem SC Dortmund 95 Zweiter im Ruhrbezirk. Ein Jahr später folgte Union Gelsenkirchen dem Sportclub in die neu gegründete Ruhr-Liga, in der auch Erle 08 und Buer 07 aus den damals noch eigenständigen Gemeinden Erle und Buer vertreten waren. Bis zum Ende des Jahrzehnts schafften zudem noch der STV Horst-Emscher, der SuS Schalke und Schalke 04 den Sprung in die höchste Liga des Ruhrgebiets. Schalke 04 entwickelte sich schnell zur unangefochtenen Spitzenmannschaft der Stadt, dennoch blieben auch die anderen Mannschaften bis 1945 höchst erfolgreich: Union Gelsenkirchen hatte nicht nur in der Saison 1930/1931, als Schalkes erste Mannschaft suspendiert war, den Titel im Ruhrbezirk erringen können, sondern sich auch in der Spielzeit 1940/1941 für die Gauliga qualifizieren können. Daneben waren auch Erle 08 (1935 bis 1937), der Spielverein Rotthausen (1936 bis 1938), der STV Horst (1942/1943) und Alemannia Gelsenkirchen (ab 1939) in der ersten Liga vertreten. Nach dem Krieg änderte sich zunächst wenig an den sportlichen Kräfteverhältnissen in der Stadt. Hinter Schalke sorgten Eintracht Gelsenkirchen (als 1950 entstandener Fusionsverein aus Union und Alemannia) und der STV Horst regional für Furore. Erstere blieben über die gesamte Oberligazeit zweitklassig und spielten ab 1963 zunächst in der Regionalliga West, später in der Verbandsliga Westfalen. Horst dagegen schaffte 1947 gemeinsam mit Schalke 04 den Aufstieg in die Oberliga. Mit finanzieller Unterstützung der Zeche Nordstern erreichten sie in den ersten Jahren der neuen Liga zwei dritte und einen vierten Platz und konnten sich so zeitweise vor dem Lokalrivalen aus Schalke positionieren. Dem Abstieg 1954 folgten noch eine Oberliga-Spielzeit (1957/1958) sowie der überraschende Gewinn der deutschen Amateurmeisterschaft 1967 gegen Hannover 96. 1973 fusionierten Eintracht und Horst zum Verein des Gelsenkirchener Südens, die angestrebte Qualifikation für die 2. Bundesliga wurde jedoch weit verfehlt. Im Frauenfußball konnte der FC Schalke 04 in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern einige nennenswerte Erfolge erzielen. Die Mannschaft wurde fünfmal Westfalenmeister und zweimal Westfalenpokalsieger. Sowohl bei der deutschen Meisterschaft als auch im DFB-Pokal war dann aber jeweils in der ersten Runde Endstation. Mitte der achtziger Jahre wurde die Abteilung aufgelöst. Vorher erreichte die DJK Eintracht Erle 1974 das erste Endspiel um die deutsche Meisterschaft im Frauenfußball, unterlag jedoch dem TuS Wörrstadt mit 0:4. Zurzeit ist der Erler SV 08 in der Bezirksliga der am höchsten spielende Verein in Gelsenkirchen. ==== Herne/Wanne-Eickel ==== ===== Herne ===== Auch wenn Westfalia Herne als aktuell erfolgreichste Kraft im Herner Fußball nur in der Oberliga kickt, gehört die Stadt in der Mitte des Ruhrgebiets zu den Hochburgen des Sports im Revier. Und es war die Westfalia, die als erster Verein des alten Herne sportlich für Furore sorgen konnte: 1934 stieg der Club vom Schloss Strünkede in die Gauliga Westfalen auf und hielt sich dort bis zum Kriegsende. Zwar waren die Herner nicht in der Lage, Serienmeister Schalke 04 als Titelträger ernsthaft zu gefährden, 1937 gelang ihr allerdings die Vizemeisterschaft. Nach dem Krieg begann die große Zeit des SV Sodingen. Der Zechenclub schaffte bis 1953 den Aufstieg aus den Niederungen des Amateurfußballs bis in die Oberliga West und avancierte zur Legende des Ruhrgebietsfußball schlechthin. Die „Stars“ der Mannschaft wie Leo Konopczynski, Johann Adamik oder Hans Cieslarczyk stammten aus der unmittelbaren Umgebung der Zeche Mont Cenis und blieben zeit ihres Lebens Fußballer „zum Anfassen“. Die Erfolge Sodingens Mitte der Fünfziger gründeten sich daher auch weniger auf der individuellen Klasse der einzelnen Spieler, sondern auf Zusammenhalt und Leidenschaft. Nach dem Aufstieg wurde der SVS zunächst Vierzehnter und sicherte sich knapp den Klassenerhalt, um in der folgenden Spielzeit bis auf den zweiten Tabellenplatz vorzustoßen und hinter Meister Rot-Weiss Essen die Qualifikationsrunde zur Endrunde um die deutsche Meisterschaft zu erreichen. Nach einem Qualifikationssieg über den SSV Reutlingen 05 stand Sodingen unter den besten Acht und maß sich mit Fußballgrößen wie dem Hamburger SV, dem 1. FC Kaiserslautern und dem BFC Viktoria 1889, wo die Mannschaft einen achtbaren dritten Platz erreichte. Die Teilnahme an der Endrunde zur deutschen Meisterschaft blieb der größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Nach dem Abstieg 1959 konnte die Mannschaft zwar noch den direkten Wiederaufstieg schaffen und sich bis 1962 in der Oberliga halten, seitdem spielt der Club nur noch im Amateurbereich und ist aktuell in der fünftklassigen Verbandsliga vertreten. Westfalia dagegen hielt sich für längere Zeit im Profifußball. Ein Jahr nach dem Rivalen aus dem östlichen Vorort stieg der Club in die Oberliga West auf, der er bis zur Gründung der Bundesliga 1963 angehörte. Größter Erfolg war der Gewinn der Westdeutschen Meisterschaft 1959, als die vergleichsweise junge Herner Mannschaft um Helmut Benthaus, Hans Tilkowski und Alfred Pyka unter anderem den deutschen Meister Schalke 04 hinter sich lassen konnte. Auf nationaler Ebene war der Westfalia jedoch weder 1959 noch im folgenden Jahr, als sie Zweiter im Westen wurde, Erfolg beschieden. Ab 1963 spielte der Club zumeist zweitklassig und stieg zuletzt 1975 in die 2. Bundesliga auf. Unter Mäzen Eberhard Goldbach, der mittels Westfalia seine Petrolfirma Goldin bundesweit vermarkten wollte, wurde in Herne 1978/1979 dann sogar vom Bundesligafußball geträumt, als viele ehemalige Bundesligakicker ans Schloss Strünkede geholt wurden. Nach dem verpassten Aufstieg erschütterte die Pleite von Goldbachs Firma jedoch die Stadt; Westfalia gab nach dem ersten Spieltag der Saison 1979/1980 seine Lizenz für die zweite Liga zurück und ließ sich in die Amateur-Oberliga zurückstufen. Seitdem pendelt der Verein zwischen der vierten und sechsten Spielklasse und war in der Saison 2008/2009 in der neugegründeten NRW-Liga vertreten. ===== Wanne-Eickel ===== Im bis 1975 eigenständigen Wanne-Eickel sind es ebenfalls zwei Vereine, die überregionale Erfolge feiern konnten. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die SpVgg Röhlinghausen eine der großen Nummern im Ruhrgebietsfußball. 1937 aufgestiegen, hielten sich „die Schwarz-Grünen vom Stratmanns Hof“ bis Kriegsende in der Gauliga Westfalen. Größter Erfolg war der dritte Platz in der Abschlusstabelle 1942/1943 hinter Meister Schalke 04 und dem VfL Altenbögge. Nach dem Krieg musste sich der Verein schnell aus wirtschaftlichen Gründen aus dem höherklassigen Fußball zurückziehen und spielt heute in der Kreisliga A. Erst Mitte der Siebziger machte ein Verein aus Wanne-Eickel wieder von sich reden: Dank finanzieller Unterstützung des Sponsors Heitkamp stieg der DSC Wanne-Eickel 1978 in die 2. Bundesliga auf und hielt sich für zwei Jahre im Profifußball. Der Abstieg kam jedoch nicht aus sportlichen Gründen; die in der Regel nur knapp 3000 Zuschauer im Sportpark Wanne-Süd rechtfertigten die finanziellen Aufwendungen für Profifußball in der Stadt nicht. ==== Kreis Recklinghausen ==== Im weitläufigen Kreis Recklinghausen, der vom Niederrhein bis in den Dortmunder Norden reicht, war die 1912 gegründete SpVgg Herten der erste überregional erfolgreiche Verein. Die „Elf vom Katzenbusch“ stieg 1927 in die Westfalenliga auf und qualifizierte sich 1929 nach dem Sieg gegen Arminia Bielefeld als Bezirksmeister für die Endrunde zur Westdeutschen Meisterschaft, in der die Hertener Schalke 04 nur knapp mit 4:5 unterlegen waren. Drei Jahre später war der Meidericher SV Endstation. Nach der erfolgreichen Qualifikation für die 1933 eingerichtete Gauliga Westfalen gehörte der Verein endgültig zu den stärksten Vereinen der Region, auch wenn der 1937 erreichte vierte Platz die höchste Platzierung im Abschlussklassement einer Spielzeit in der Gauliga war. Nach dem Abstieg 1939 kehrte die Spielvereinigung zwei Jahre später in die Gauliga zurück, musste aber in der Folgesaison wieder den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. Nach dem Krieg etablierten sich die Hertener in der 2. Liga West, der sie von der Gründung 1947 bis zur Auflösung 1963 angehörten. Mit dem Abstieg aus der Regionalliga West 1964 endete die Zeit des höherklassigen Fußballs in Herten. Führender Verein der Region wurde nach 1945 die SpVgg Erkenschwick. Bereits 1943 hatte der Club den Aufstieg in die Gauliga geschafft und wurde auf Anhieb Vierter, kriegsbedingt blieb die Spielzeit 1943/1944 aber zunächst die einzige erstklassige Saison der Erkenschwicker. 1947 wurde der Verein dann Gründungsmitglied der Oberliga West und konnte sich dank der wirtschaftlichen Unterstützung durch die Zeche Ewald Fortsetzung in der neuen Spielklasse etablieren. Die erfolgreichste Saison am Stimberg-Stadion war 1949/1950, als die Spielvereinigung Siebter wurde. Prominenteste Spieler dieser Zeit waren Julius Ludorf, Siegfried Rachuba und Horst Szymaniak – Ludorf blieb immer am Stimberg, Rachuba wechselte 1949 als Teil des „100.000-Mark-Sturms“ zu Preußen Münster, Szymaniak ging 1955 zum Wuppertaler SV und später nach Italien. Erkenschwick war in diesem Jahr bereits zweitklassig, 1953 erfolgte der Abstieg aus der Oberliga, der 1957 seine Fortsetzung beim Abstieg ins Amateurlager fand. An die erfolgreiche Tradition von Clubs aus dem Recklinghäuser Umfeld knüpfte ab 1954 der TSV Marl-Hüls an, der sich als Zechenverein von Auguste Victoria in diesem Jahr (noch als TSV Hüls) die Westfalenmeisterschaft sicherte und mit einem 6:1 über die Spielvereinigung Neu-Isenburg Deutscher Amateurmeister wurde. Auch in der 2. Liga West setzen die Hülser ihre Erfolge fort und schafften 1960 den Aufstieg in die Oberliga. Als einziger Verein der Liga bewarben sich der TSV 1963 allerdings nicht für die Bundesliga und trat freiwillig den Gang in die Regionalliga an, der die Hülser bis 1970 angehörten. Seitdem spielt der Verein in den unteren Amateurklassen. Ebenfalls in den späten 1950ern und frühen 1960ern waren die Sportfreunde Gladbeck in der zweiten Liga vertreten. Der Aufstieg gelang 1957 nur aufgrund des Verzichts der SpVg Beckum, die nach zwei Entscheidungsspielen westfälischer Meister geworden war. Dort belegten die Sportfreunde durchweg Mittelfeldplätze; 1962/1963 verpassten sie die Qualifikation zur Regionalliga West als Zehnter nur um zwei Zähler. Bis 1965 blieb der Verein Verbandsligist, seitdem spielt der Verein vorwiegend in den Bezirks- und Kreisligen der Region. Mit dem Aufstieg von 1969 in die Regionalliga begann die zweite große Zeit der Spielvereinigung Erkenschwick. Der Club aus der kleinsten Regionalligastadt der Geschichte spielte bis zur Gründung der 2. Bundesliga Nord 1974 durchgehend in der Regionalliga und konnte sich so für den neuen Unterbau zur Bundesliga qualifizieren. Nach dem Abstieg 1976 kehre die Spielvereinigung 1980 noch einmal in die Zweitklassigkeit zurück, konnte aber nicht genügend Punkte für die Qualifikation zur ein Jahr später gegründeten eingleisigen zweiten Bundesliga sammeln. Seitdem ist der Verein in den höheren Amateurklassen vertreten und spielt aktuell wie der VfB Hüls in der Oberliga Westfalen. Recklinghausen selbst ist fußballerisches „Niemandsland“. Die großen Vereine der Stadt fusionierten mehrfach miteinander und konnten nie die nötige Anhängerschar hinter sich vereinigen, um das immerhin 30.000 Zuschauer fassende Stadion Hohenhorst zu füllen. Zuletzt spielte der 1. FC Recklinghausen bis 1992 in der Oberliga Westfalen, nach dem Konkurs von 1996 sind die höchstklassigen Vereine der Stadt jedoch nur noch in der Bezirksliga zu finden. Höchstklassiger Verein ist aktuell (2008) der in die Verbandsliga aufgestiegene FC 96 Recklinghausen. Ähnliches ist über Castrop-Rauxel zu sagen: auch diese Mittelstadt im Herzen des Reviers hat nie einen Verein in der jeweils höchsten deutschen Spielklasse besessen. Am bekanntesten ist noch SV Castrop 02, (nach einer Fusion im Jahre 1962 mit SG Erin 11 zu SG Castrop) aus dem mit Alfred Niepieklo immerhin ein späterer, zweifacher deutscher Meister hervorging. Arminia Ickern gewann 1952 die Westfalenmeisterschaft der Amateure. Der bekannteste Fußballer aus den Reihen dieses Vereins ist Klaus Fichtel. Die Hochzeit des Castroper Fußballs waren wie in vielen Ruhrgebietsstädten die 1950er, als drei Castroper Mannschaften (neben Castrop 02 und Arminia Ickern noch der VfB Habinghorst) in der Verbandsliga spielten. Im Frauenfußball konnte der FFC Flaesheim-Hillen aus Haltern am See zwei Jahre lang Bundesligaluft schnuppern. 2001 belegte die Mannschaft den fünften Platz und erreichte das Finale des DFB-Pokals. Trotz einer 1:0-Halbzeitführung unterlagen die Flaesheimerinnen mit 2:1 gegen den 1. FFC Frankfurt. Der Verein litt in der Folge unter finanziellen Schwierigkeiten, so dass man mit dem FC Schalke 04 über eine Lizenzübertragung verhandelte. Als dies scheiterte, musste der Verein Insolvenz anmelden. Aktuell ist der SV Zweckel aus Gladbeck als Oberligist der sportlich erfolgreichste Verein des Kreises. === Mittleres Ruhrgebiet === ==== Bottrop ==== Der bedeutendste Fußballverein Bottrops ist der VfB, der zwischen 1920 und 1970 für viele Jahre zweitklassig war und heute in der siebtklassigen Bezirksliga spielt. Der Club gilt als „ewiger Zweiter“, da er über viele Jahre hinweg zu den spielstärksten Vereinen der zweiten Liga beziehungsweise der Regionalliga gehörte und dennoch nie – sieht man einmal von der Zeit in der Gauliga Niederrhein zu Beginn der Zwanziger und zwischen 1931 und 1933 ab – den Sprung in die Erstklassigkeit schaffte. Gegründet wurde der VfB durch die Fusion der Fußballer vom BV 04 mit dem eher bürgerlichen Verein Turn- und Volksspiele Bottrop im Jahr 1919. Unter der Regie des Mittelläufers Raimond Zwinz, der zuvor aus Nürnberg ins Ruhrgebiet übergesiedelt war, machte sich der neue Verein schnell einen Namen und schaffte pünktlich zur Einweihung des Jahnstadions 1923 den Aufstieg in die Gauliga. Nach dem schnellen Abstieg konnte der VfB erst 1931 wieder erstklassig spielen; mit der Neustrukturierung des Ligensystems endete zwei Jahre später jedoch die Zeit in der ersten Liga. Der Bezirksklasse als Unterbau zur Gauliga gehörte der Club bis zum Ende des Kriegs an, da er sich im Aufstiegskampf regelmäßig der Konkurrenz der Industrie- und Zechenvereine Westfalens geschlagen geben musste. Auch ab 1945 änderte sich für die Anhänger des Vereins wenig: Obwohl der VfB regelmäßig zu den stärksten Vereinen seiner Klasse gehörte, wurde der Aufstieg in die jeweils erste Liga jedes Jahr verfehlt. Zwischen 1951 und 1963 spielte der VfB Bottrop durchgängig in der 2. Liga West; trotz mehrerer Herbstmeisterschaften wurde der zum Aufstieg in die Oberliga nötige zweite Tabellenplatz nie erreicht. 1952 scheiterte man noch im Aufstiegsspiel an der SpVgg Erkenschwick, unter Trainer Willi Multhaup, der ab 1954 beim VfB tätig war, verhinderten drei dritte Plätze in Folge den Aufstieg. 1955 war man dem Rheydter Spielverein im letzten Punktspiel mit 1:2 unterlegen, ein Jahr später wurde der zweite Platz durch ein 0:2 bei Absteiger VfB 03 Bielefeld verspielt. Nach der dritten Enttäuschung 1957 verließ Multhaup den Club, der in der Folge eher im Abstiegskampf zu finden war und bezeichnenderweise erst 1963 die Meisterschaft in der zweiten Liga gewinnen konnte. Aufgrund der Einführung der Bundesliga blieb der Verein jedoch zweitklassig und wurde nur in die neu gegründete Regionalliga West eingegliedert. Dort entwickelte sich der VfB Bottrop zur „Fahrstuhlmannschaft“; in den folgenden sieben Jahren stieg der Verein viermal ab und dreimal auf. Nach 1969 blieb der Verein noch für viele Jahre in Verbands- und Oberliga vertreten, erreichte aber nicht wieder den Bereich des Vertragsfußballs und verschwand ab 1986 in den Niederungen des Amateurfußballs. In jüngerer Vergangenheit war der VfB Kirchhellen aus dem 1975 eingegliederten Stadtteil Kirchhellen der erfolgreichste Club der Stadt. Nach Jahrzehnten in den unteren Klassen des westfälischen Amateurbereichs gelang dem VfB zwischen 1991 und 1998 der Aufstieg von der Bezirks- bis in die Oberliga, in der die erste Mannschaft bis 2001 spielte. Nach dem Abstieg wurde jedoch auch der VfB Kirchhellen bis in die Kreisliga durchgereicht. ==== Essen ==== Als erster Verein in Essen gründete sich 1899 in Huttrop der Essener SV 99, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts regionale Erfolge feiern konnte. Erfolgreichste Spielzeit in der Vereinsgeschichte war die Saison 1902/1903, die den Club bis in die Endrunde zur Westdeutschen Meisterschaft führte. Bis zum Ende der Weimarer Republik spielte der Verein erstklassig, blieb in der lokalen Bedeutung jedoch schnell hinter dem Essener Turnerbund zurück. Der ETB, dessen Spielabteilung sich im Rahmen der reinlichen Scheidung zwischen den Turnern und den übrigen Sportarten Mitte der 1920er Jahre als SC Schwarz-Weiß Essen abspaltete, und der seit der Wiedervereinigung beider Vereine 1937 seinen heutigen Namen ETB Schwarz-Weiß Essen trägt, hatte seine Heimat in Bredeney im Süden der Stadt und entstammte wie der ESV dem bürgerlichen Milieu. Gegründet wurde der Turnerbund 1881, die Fußballabteilung entstand 1900 und nahm seit 1902 an den westdeutschen Meisterschaftsspielen teil. Größter Erfolg vor dem Ersten Weltkrieg war die Teilnahme am Entscheidungsspiel um die Westdeutsche Meisterschaft im April 1912, das mit 1:2 gegen den Kölner BC 01 verloren wurde. Auch nach dem Krieg qualifizierten sich die Mannen vom Uhlenkrug mehrfach für die Endrunde zur Westdeutschen Meisterschaft, konnten diese jedoch nie gewinnen. Auch die Endrunde zur deutschen Meisterschaft wurde regelmäßig knapp verfehlt, nur 1925 hatte sich Schwarz-Weiß als Zweiter im Westen qualifizieren können, schied jedoch mit 1:3 gegen den FSV Frankfurt aus. 1926 war das erfolgreichste Jahr in der Vereinsgeschichte des BV Altenessen 06, der nicht nur vor Schwarz-Weiß den Titel in der Ruhrbezirksmeisterschaft gewann, sondern als Vizemeister in Westdeutschland auch die Endrunde zur deutschen Meisterschaft erreichte, in der die Altenessener jedoch in der ersten Runde ausschieden. Mit dem Ende der 1920er Jahre endete die erste große Zeit von Schwarz-Weiß Essen, und auch die anderen Vereine der Stadt zählten in den Jahren des Nationalsozialismus nicht zu den großen Adressen in Deutschland. Zwar blieb der ETB bis zum Ende der Saison 1942/1943 als Mitglied der Gauliga Niederrhein erstklassig, bis auf drei Vizemeisterschaften wurden jedoch keine Titel errungen. Auch der Aufstieg der drei großen Vereine aus dem Essener Norden, dem TuS Helene, den Sportfreunden Katernberg und Rot-Weiss Essen, in die Gauliga führte zunächst zu keinen wesentlichen Erfolgen, einzig Helene konnte sich 1942 als Titelträger des Niederrheingaus für die Endrunde zur deutschen Meisterschaft qualifizieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann auch in Essen bereits im Herbst 1945 wieder der reguläre Spielbetrieb, der in der ersten Saison aus Stadtteilmeisterschaften bestand. Nach dem Spieljahr 1946/1947 in der Ruhrbezirksliga konnten sich die Sportfreunde Katernberg als Meister für die Oberliga West qualifizieren, in der sie bis zum Ende der Saison 1954/1955 verblieben. Den Sportfreunden erging es dabei nicht anders als den meisten anderen Zechenvereinen des Reviers, die speziell in den Jahren nach Kriegsende ihre größten sportlichen Erfolge feiern konnten, ab Mitte der 1950er jedoch an Bedeutung verloren. Ein Jahr nach den Sportfreunden Katernberg stieg auch Rot-Weiss Essen erneut in die höchste deutsche Spielklasse auf und entwickelte sich unter dem Mäzen und Ehrenvorsitzenden Georg Melches schnell zu einem der finanzstärksten Vereine im Westen. Im Sommer 1951 wechselten die späteren Nationalspieler Fritz Herkenrath und Helmut Rahn zum Club aus Bergeborbeck; bereits in der folgenden Saison gewann RWE die Meisterschaft in der Oberliga West und erreichte die Endrunde zur deutschen Meisterschaft. Ein Jahr später konnte der DFB-Pokal an die Hafenstraße geholt werden, zwei Jahre später feierte Rot-Weiss Essen den Gewinn der bisher einzigen deutschen Meisterschaft. Auch der ETB Schwarz-Weiß spielte längere Zeit in der Oberliga und feierte 1959 mit dem Gewinn des DFB-Pokals den größten Erfolg der langen Vereinsgeschichte. Dennoch begann spätestens zur Saison 1960/1961 der Niedergang des Essener Fußballs. Schwarz-Weiß stieg zum letzten Mal aus der Oberliga ab, ein Jahr später folgte Rot-Weiss der Mannschaft vom Uhlenkrug in die 2. Liga West. Beide Vereine waren entsprechend nicht mit von der Partie, als 1963 die Bundesliga gegründet wurde, und mussten mit der Zweitklassigkeit in der Regionalliga West vorliebnehmen. Während RWE mehrfach den Aufstieg in die Bundesliga schaffte (zuletzt stieg die Mannschaft von der Hafenstraße 1977 in die Zweitklassigkeit ab) und bis 2007 noch in der 2. Bundesliga aktiv war, ist Schwarz-Weiß seit vielen Jahren nur noch Viert- oder Fünftligist. Nach der Auflösung der Regionalliga West 1974 war der ETB noch bis 1978 in der neu gegründeten 2. Bundesliga Nord vertreten, seitdem ist der Verein überregional nicht mehr in Erscheinung getreten. In der Saison 2008/2009 wird RWE in der viertklassigen Regionalliga West spielen, Schwarz-Weiß in der neu gegründeten NRW-Liga. Stattdessen hat sich mittlerweile die Frauenmannschaft der SGS Essen als erste Mannschaft Essens in der Frauen-Bundesliga etabliert. === Südliches Ruhrgebiet === ==== Bochum/Wattenscheid ==== ===== Bochum ===== Die Geschichte des Fußballs in Bochum besitzt im Vergleich zu den anderen Städten des Ruhrgebiets nur wenige Höhepunkte; nationale Erfolge konnten nicht errungen werden, und auch regionale Ausrufezeichen sind selten gesetzt worden. Bis zur Mitte der 1930er war der SV Langendreer 04 der erfolgreichste Club der Stadt. 1920 als Fusionsverein entstanden, gehörte die Mannschaft zehn Jahre lang der Gauliga an, konnte jedoch keine Titel erringen. Nach dem Krieg feierte der SVL seinen größten Erfolg im Jahr 1957, als im Pokal der amtierende Deutsche Meister Borussia Dortmund besiegt werden konnte. Der Aufstieg des VfL Bochum zur wichtigsten Fußballmannschaft Bochums begann 1938, als der TuS Bochum 08 (der bereits seit 1919 einen Sportplatz an der Castroper Straße besaß, wo heute das heimische Stadion des VfL steht) mit dem TV 1848 und Germania Bochum zum neuen Verein für Leibesübungen zwangsfusioniert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Verein für insgesamt sieben Spielzeiten Mitglied der Oberliga West, hatte sich 1963 jedoch nicht für die Bundesliga qualifizieren können. Unter Präsident Ottokar Wüst wurde in den späten 1960ern mit Macht der Aufstieg in die höchste deutsche Spielklasse in Angriff genommen; neben der Verpflichtung von Trainer Hermann Eppenhoff war der Bau des Ruhrstadions ein wichtiger Schritt hin zur Etablierung des VfL im Profifußball. Nach dem Aufstieg in die Bundesliga 1971 (zuvor hatte man sich bereits 1968 für das Pokalfinale qualifizieren können) konnte sich der VfL 22 Jahre lang in der Bundesliga halten, blieb aber ohne Titelgewinne in Meisterschaft oder DFB-Pokal. Nach dem ersten Abstieg 1993 entwickelte sich der VfL dann zu einer „Fahrstuhlmannschaft“, fünf Aufstiegen stehen vier weitere Abstiege gegenüber. Jedoch wurde auch zweimal die Teilnahme am UEFA-Cup erreicht, 1997 und 2004 wurde der VfL jeweils Fünfter in der Bundesliga. Abgesehen vom VfL und Langendreer 04 sind heute nur die DJK TuS Hordel und der SV Vorwärts Kornharpen leidlich erfolgreiche Vereine; beide Clubs haben in den vergangenen Jahren mehrfach in der damals viertklassigen Oberliga gespielt. ===== Wattenscheid ===== In der Frühzeit des Fußballs in Deutschland war der SV Höntrop der bedeutendste Verein der bis 1975 eigenständigen Stadt. 1926 als Fusionsverein gegründet, waren die Höntroper über viele Jahre in der Gauliga erfolgreich und belegten sogar zweimal (1934 und 1935) den zweiten Platz in der Abschlusstabelle hinter dem vielfachen Deutschen Meister FC Schalke 04. Nach dem Krieg spielte der Club noch in der Saison 1950/1951 in der neu gegründeten Amateuroberliga Westfalen mit, stieg jedoch direkt ab und ist seither nur noch unterklassig vertreten. Nach dem Abstieg der Höntroper aus der Amateuroberliga begann der Aufstieg der beiden Vereine aus Günnigfeld, namentlich der Union und der DJK Westfalia. Beide Vereine, die mittlerweile zum VfB Günnigfeld fusionierten, waren im Amateurfußball erfolgreich, Union verpasste 1957 nur knapp den Aufstieg in die 2. Liga West, Westfalia erreichte in der Deutschen Jugendkraft in den 1960ern mehrfach den Titel des Verbandsmeisters. Der Aufstieg der SG Wattenscheid 09 zum wichtigsten Fußballverein der Stadt begann Mitte der 1950er, als der Unternehmer Klaus Steilmann aus Berlin nach Wattenscheid übersiedelte und als Mäzen und Präsident der SG 09 begann. Nach dem Aufstieg der Schwarz-Weißen in die Regionalliga West im Sommer 1969 begann der Ausbau des Lohrheidestadions, das zuvor dem Lokalrivalen Rot-Weiß Leithe gehört hatte, zudem etablierten sich die 09er im Profifußball. Größter Erfolg des Vereins war zweifellos der Aufstieg in die Bundesliga, der der Club von 1990 bis 1994 angehören konnte. Damals begeisterte die Mannschaft um Uwe Tschiskale und Souleyman Sané mit frischem Offensivfußball und stieg 1993 – sehr zur Freude der vielen Wattenscheider Lokalpatrioten – sogar zum höchstklassigen Verein der Stadt Bochum auf, als der VfL den bitteren Gang in die zweite Liga antreten musste. Seitdem ging es jedoch sportlich und finanziell bergab; nach dem Ausstieg Steilmanns als Mäzen wurde der Verein bis in die Verbandsliga durchgereicht. In der Saison 2008/2009 war die SGW Gründungsmitglied der NRW-Liga. Die Frauen der SG Wattenscheid 09 schafften 1994 den Aufstieg in die Frauen-Bundesliga. Nach dem sofortigen Wiederabstieg gehörte der Verein viele Jahre lang der damals zweitklassigen Regionalliga an und qualifizierte sich 2004 für die neue 2. Bundesliga. In den beiden bisherigen Spielzeiten belegte die Mannschaft jeweils den vierten Platz; im Sommer 2007 folgte der erneute Aufstieg in die Bundesliga. ==== Ennepe-Ruhr-Kreis ==== Mit Ausnahme des VfL Witten, der 1947/1948 in der ersten Spielzeit der neu gegründeten Oberliga West Tabellenletzter wurde, konnte sich kein Verein aus der Region am südlichen Rand des Ruhrgebiets für die ersten beiden Ligen qualifizieren. Die Wittener profitierten dabei von der guten Jugendarbeit, die im Verein bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich betrieben wurde; die Mannschaft, die in der Hinrunde der Saison 1946/1947 Herbstmeister der Landesliga Westfalen wurde, bestand fast ausschließlich aus „Wittener Jungs“. Nach der Episode in der Oberliga und den beiden folgenden Jahren in der Zweitklassigkeit konnte der Verein jedoch nie wieder an die Erfolge der unmittelbaren Nachkriegszeit anknüpfen. In den Sechzigern und Siebzigern feierte TuS Hattingen mit insgesamt sechs Spielzeiten in der Verbandsliga als höchster westfälischer Amateurklasse seine größten Erfolge. Der Fusionsclub war 1945 aus insgesamt neun Vereinen entstanden, nachdem die britische Besatzungsmacht 1945 nur einen Gesamtverein in Hattingen gestattet hatte. Der Aufstieg von 1969 stand am Ende einer steilen Entwicklung des Vereins, der erst 1958 aus der Kreisliga aufgestiegen war und sich sukzessive einen Namen in Westfalen machte. Nach dem Abstieg 1975 ging es ähnlich schnell wieder bergab; bereits 1977 war wieder die Kreisliga A erreicht; heute spielt der Verein in der Bezirksliga. Praktisch zeitgleich mit dem Absturz Hattingens begann die große Zeit des VfL Gevelsberg, der 1976 den Aufstieg in die Verbandsliga sicherstellen konnte. Siegtorschütze im entscheidenden Spiel gegen die SG Castrop war Jugendspieler Joachim Benfeld, der später zum FC Bayern München wechselte und 1988 mit dem KV Mechelen Europapokalsieger wurde. 1978 qualifizierte sich der VfL als Dritter für die neu gegründete Amateur-Oberliga Westfalen und stand 1980 kurz vor dem Aufstieg in die 2. Bundesliga. Nach Rang Zwei 1981 folgte im Folgejahr der Abstieg in die Verbandsliga, der der Club für elf Jahre angehörte. 1991 wurde erneut die Oberliga erreicht, vier Jahre später erfolgte der erneute Abstieg. Hochverschuldet wurde der Verein bis in die Kreisliga A durchgereicht. Zu Saisonbeginn 2005/2006 fusionierte der VfL mit dem Lokalrivalen Sportfreunde Eintracht Gevelsberg. Der Nachfolgeclub FSV Gevelsberg spielt in der Saison 2007/2008 in der Bezirksliga. Aktuell ist die TSG Sprockhövel die stärkste Mannschaft der Region; nach mehreren Spielzeiten in der Oberliga ab 2000 ist der Verein nun in der Westfalenliga aktiv. ==== Hagen ==== Der Fußball in Hagen wird von zwei Vereinen dominiert, von denen der SSV Hagen als Nachfolgeverein des ehemaligen Gauligisten Deutscher SC der erfolgreichere ist. Gegründet wurde die Fußballsparte des Clubs 1905 als Hagener FC, 1933 wurde der Verein nach dem von den Nationalsozialisten erzwungenen Zusammenschluss mit Hagen 11 zum DSC. Dessen erste Mannschaft war Gründungsmitglied der Gauliga Westfalen, wo sie 1934 als Sechster ihr bestes Ergebnis erzielte. Ein Jahr später erfolgte der Abstieg in die Bezirksklasse, in der sie abgesehen vom erneuten Intermezzo in der Gauliga 1940/1941 bis Kriegsende vertreten war. Nach dem Krieg trennten sich die beiden Fusionsclubs wieder; Hagen 11 wurde unter dem alten Namen selbständig, der Restverein firmierte von nun an als SSV Hagen. 1950 gelang den Fußballern der Aufstieg in die damals zweigleisige 2. Liga West, mit der Vereinigung beider Liga zur Spielzeit 1952/1953 stieg der Verein jedoch in die dritte Spielklasse ab. 1960 wurde der SSV Meister seiner Verbandsligastaffel, stieg aber nur nach Verzicht des Westfalenmeisters BV Selm, der die Hagener in den Entscheidungsspielen um den westfälischen Titel besiegen konnte, erneut in die zweite Liga auf. Als Fünfzehnter musste der Verein jedoch direkt wieder absteigen und verpasste später auch die Qualifikation für die neu gegründete Regionalliga West. In diese stieg der SSV Hagen erst 1966 auf; trotz eines Zuschauerschnitts von fast 7000 Zuschauern im Ischelandstadion wurde der Klassenerhalt jedoch knapp verfehlt. In der Folgezeit spielte die erste Mannschaft zumeist in den westfälischen Verbands- und Landesligen, 1988 löste sich der Verein aus finanziellen Gründen auf. Die Fußballsparte wurde erst 1993 neu gegründet, hat sich jedoch schnell wieder in den höheren Bereichen des Amateurfußballs etabliert und ist aktuell Landesligist. In den Neunzigern entwickelte sich der Hasper SV zu einem ernsthaften Anwärter auf den Aufstieg in die Regionalliga West; nach dem Aufstieg in die Oberliga vom Sommer 1994 platzierte sich der Verein viermal unter dem besten Fünf und wurde 1997 Vizemeister hinter den Sportfreunden Siegen. Nach dem Abstieg 1999 spielte der Verein mehrere Jahre in der Verbandsliga und ist nun gemeinsam mit dem Lokalrivalen vom SSV wieder in der Landesliga vertreten. === Östliches Ruhrgebiet === ==== Dortmund ==== Der Fußball in Dortmund wird seit vielen Jahrzehnten von der Borussia dominiert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur deutschen Spitzenmannschaft avancierte. Vor dem Krieg, jedoch auch in den späten 1940ern und 1950ern, haben aber auch weitere Vereine der Stadt regionale und überregionale Erfolge feiern können. Wichtigster Verein in Dortmund war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Dortmunder Fußball-Club 1895, der sich am 10. Mai 1895 als einer der ersten Fußballvereine des Ruhrgebiets gründete. Im Gegensatz zur Borussia und vielen anderen Clubs der Stadt stammte der DFC jedoch aus dem Dortmunder Süden, einem eher bürgerlichen Wohngebiet. Gemeinsam mit dem BV 04, mit dem man 1913 zum Dortmunder SC 95 fusionierte, sorgte man für die ersten Erfolge Dortmunder Vereine auf überregionaler Ebene; vor dem Ersten Weltkrieg spielte der Ballspielverein mehrfach um die Westdeutsche Meisterschaft, 1921 wurde der Fusionsverein Ruhrgaumeister und erreichte das Endspiel um eben jenen Titel. Vor dem Aufstieg des BVB in die Gauliga 1936, zum Teil aber auch noch danach, stritten mehrere Clubs um die Vorherrschaft im Dortmunder Fußball. Neben dem DSC, der nach der Gründung der Gauliga 1933 aus politischen Gründen und ohne sportliche Qualifikation erstklassig wurde, waren der VfL Hörde (1932 konnten die Hörder als erster Dortmunder Verein dem FC Schalke 04 eine Niederlage zufügen), Alemannia Dortmund (der in den 1920ern regelmäßig vierstellige Zuschauerzahlen verzeichnen konnte) sowie der TBV Mengede (1939 verpasste der TBV nur aufgrund einer 1:3-Heimniederlage gegen den VfB 03 Bielefeld den Aufstieg in die Gauliga) wichtige Rivalen der Borussia. Am erfolgreichsten war zu dieser Zeit jedoch die Mannschaft von Arminia Marten, die 1937 den Aufstieg in die Gauliga schaffte und erst 1941 wieder den Gang in die Zweitklassigkeit antreten musste. Bis heute gelten ein torloses 0:0 in der Saison 1938/1939 gegen den späteren deutschen Meister Schalke 04 sowie ein 10:0 gegen den BVB zwei Jahre später als die wichtigsten Erfolge der Vereinsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich zunächst neben der Borussia nur der TBV Mengede für die höchste westfälische Spielklasse qualifizieren können, nach dem Abstieg 1950 verschwand der Verein jedoch in den unteren Klassen des Amateurbereichs. Stattdessen begann die große Zeit des Hombrucher FV 09, das 1949 in die 2. Liga West aufstieg und im Jahr darauf nur knapp den Aufstieg in die Oberliga verpasste. In den folgenden Spielzeiten etablierte sich die Mannschaft im Amateurfußball und gewann 1958 die deutsche Amateurmeisterschaft durch ein 3:1 gegen den ASV Bergedorf 85. Auch nach Gründung der Bundesliga blieb Hombruch 09 ein wichtiger Vertreter Dortmunds im deutschen Fußball; erst nachdem 1970 am letzten Spieltag durch eine 2:3-Niederlage bei Westfalia Herne der Aufstieg in die Regionalliga West verpasst wurde, begann der langsame Abstieg des Clubs. Seitdem sind Erfolge Dortmunder Clubs im deutschen Amateurfußball rar gesät; mit Ausnahme von DJK Hellweg Lütgendortmund, das in den 1980ern drittklassig war, und des VfR Sölde, der in den 1990ern mehrere Jahre lang in der Amateur-Oberliga spielte und nur knapp am Aufstieg in die 2. Bundesliga scheiterte, sorgen die Vereine der Stadt abseits der Erfolge der Borussia nur noch durch ihre herausragende Jugendarbeit für Furore. Zu nennen ist neben dem TSC Eintracht Dortmund, dem Nachfolgeverein des DSC 95, dessen A-Jugend seit vielen Jahren in der Westfalenliga spielt, vor allem der TuS Eving-Lindenhorst als Stammverein prominenter Fußballer wie Michael Zorc, Stefan Klos und Lars Ricken. Der TuS war zudem in den 1960ern und 1970ern über viele Jahre in der höchsten westfälischen Amateurklasse vertreten. Im Frauenfußball ist die SG Lütgendortmund zurzeit die Nummer eins in der Stadt. 2002 schaffte die Mannschaft den Aufstieg in die Regionalliga und zwei Jahre später mit etwas Glück die Qualifikation zur neu eingeführten 2. Bundesliga. Nach zwei Jahren in dieser Klasse musste die Mannschaft jedoch wieder absteigen, schaffte zur Saison 2008/2009 aber den Wiederaufstieg. ==== Kreis Unna ==== Auch das regionale Umfeld Dortmunds ist seit Kriegsende stark vom Einfluss Borussia Dortmunds geprägt, so dass sich in den vergangenen Jahrzehnten keine Vereine der Region längerfristig in höheren Ligen halten konnten. Am erfolgreichsten war noch die Spielvereinigung Holzwickede, die 1976 durch ein 1:0 gegen den VfR Bürstadt die deutsche Amateurmeisterschaft gewinnen konnte und zuletzt Anfang der Neunziger als Amateur-Oberligist drittklassig war. Im nördlich von Dortmund gelegenen Lünen war es zunächst der BV Brambauer, der auf regionaler Ebene bedeutend war. Sowohl von 1934 bis 1945 wie auch in den ersten Nachkriegsjahren war der „kleine BVB“ Mitglied der höchsten Spielklasse Westfalens, 1961 wurde das Endspiel um die Westfalenmeisterschaft nur knapp gegen Arminia Bielefeld verloren. Zwei Jahre später machte es der Lokalrivale Lüner SV besser, der nach einem 3:1 gegen den VfB Bielefeld Westdeutscher Meister wurde und in die Regionalliga aufstieg, in der der Verein mit Unterbrechungen bis 1973 blieb. Während des Zweiten Weltkriegs waren die „Roten Husaren“ vom VfL Altenbögge, der in einem Stadtteil Bönens beheimatet ist, der Borussia mindestens ebenbürtig und mehrere Jahre in der Gauliga vertreten. Auf den Aufstieg im Sommer 1941 folgte zunächst ein guter vierter Platz; die beiden letzten regulären Spielzeiten schloss der Club als Vizemeister ab. Insbesondere die Verbindung zur Zeche Königsborn ließ viele Spieler auch in den entscheidenden Kriegsjahren als unabkömmlich gelten. Nach 1945 war der Verein zunächst noch in der Landesliga vertreten, konnte aber keine überregionalen Erfolge mehr erzielen und verschwand ab Mitte der 1960er in den Amateurbereich. ==== Hamm ==== Im am Rande des Ruhrgebiets gelegenen Hamm konnte sich die Hammer Spielvereinigung schnell zum wichtigsten Verein der Stadt entwickeln. Der Fusionsverein aus Hammer FC und Hammer SV 04 war nach dem Ersten Weltkrieg zeitweise größter Fußballclub Westfalens, gewann 1920 die regionale Meisterschaft, scheiterte in der Endrunde zur Westdeutschen Meisterschaft jedoch an Borussia Mönchengladbach. In der Folge blieb der Verein aus dem bürgerlichen Osten der Stadt aber hinter den aufstrebenden Clubs VfR Heessen (der ab 1938 in der zweitklassigen Bezirksliga spielte) oder VfL Altenbögge zurück und fand erst in den 1950ern wieder in die Erfolgsspur zurück, als 1957 der Sprung in die Verbandsliga gelang. Dort entwickelte sich der Verein sukzessive vom Abstiegskandidaten zum Anwärter auf den Aufstieg in die Regionalliga West, der in der Spielzeit 1965/1966 unter Trainer Arthur Gruber gelang. Dabei entschied eine Münze, nachdem es nach Verlängerung im Entscheidungsspiel um den Titel gegen den SSV Hagen 2:2 gestanden hatte. Die Spielzeit 1966/1967 blieb die einzige in der Regionalliga, nach dem direkten Wiederabstieg blieb der Verein erneut für viele Jahre drittklassig. 1978 erfolgte der Abstieg in die Landesliga. Parallel begann der Aufstieg des SC Eintracht Hamm, der den Club zu Beginn der 1980er bis in die Oberliga Westfalen führte. Die 1970 als Fusionsclub aus TuS und VfR Heessen entstandene Eintracht konnte dank enger Verbindungen zur Hammer Bank kräftig investieren und schaffte zwischen 1979 und 1981 den Durchmarsch von der Landes- in die Oberliga. Größter Erfolg waren die beiden Westfalenmeisterschaften 1983 und 1985, die in den darauffolgenden Aufstiegsrunden jedoch nicht mit dem Sprung in die zweite Bundesliga gekrönt werden konnten. Nach finanziellen Unregelmäßigkeiten beim Hauptsponsor, die sich schnell auf den Verein übertrugen, endete die Oberligazeit der Eintracht im Sommer 1987. Heute spielt der 2007 aus der Fusion des SC Eintracht Hamm mit dem SV 26 Heessen hervorgegangene SV Eintracht Heessen in der Landesliga; dafür ist die Hammer Spielvereinigung als NRW-Ligist wieder das Aushängeschild des Hammer Fußballs. == Literatur == Die Fussballfans aus dem Revier – Rot-Weiss Oberhausen, FC Schalke 04, VfL Bochum, Borussia Dortmund, Rot-Weiss Essen, MSV Duisburg, SG Wattenscheid 09. Strohhalm, 1993, ISBN 3-9801874-7-0. Wolfgang Emscher: Tribüne Ruhrgebiet – Stadtgeschichte und Fußball an Ruhr und Emscher. Viehweger, Essen, 2005, ISBN 3-89861-463-8. Wolfgang Ettlich: Im Westen ging die Sonne auf: Kleine Geschichten von Kohle, Stahl und Fußball im Ruhrgebiet. Ruhr, Essen, 2007, ISBN 978-3-89861-694-2. Siegfried Gehrmann: Fussball, Vereine, Politik – Zur Sportgeschichte des Reviers 1900–1940. Hobbing, Essen, 1988, ISBN 3-920460-36-7. Dirk Hallenberger: Revier-Fußball in der Literatur. In: Hermann Beckfeld (Hrsg.): … der Boss spielt im Himmel weiter. Fußball-Geschichten aus dem Ruhrgebiet. Henselowsky Boschmann, Bottrop 2006, ISBN 3-922750-62-1. Torsten Haselbauer und Uwe Wick: Fußballregion Ruhrgebiet: Katalog zur Ausstellung. Hrsg.: Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen (FLVW) und Willibald-Gebhardt-Institut (WGI), Göttingen, 2005, ISBN 3-89533-507-X. Hartmut Hering (Hrsg.): Im Land der tausend Derbys. Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets. Die Werkstatt, Göttingen 2002, ISBN 3-89533-372-7. Sebastian Kisters: „Ruhrpott, Ruhrpott!“ – Wie die Europapokaltriumphe von Schalke 04 und Borussia Dortmund Image und Identität des Ruhrgebietes veränderten. Geographisches Institut der Ruhr-Universität Bochum. Materialien zur Raumordnung Band 56, ISBN 3-925143-27-0. Rolf Lindner und Heinrich Th. Breuer: Sind doch nicht alles Beckenbauers – Zur Sozialgeschichte des Fussballs im Ruhrgebiet. Syndikat, Frankfurt am Main, 1979, ISBN 3-8108-0073-2. Klaus-Hendrik Mester: Fußball leben im Ruhrgebiet. Eine Zeitreise durch 13 Städte voller Fußball-Leidenschaft. Arete Verlag, Hildesheim 2014. ISBN 978-3-942468-18-3. Dietmar Osses (Hg.): Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet (= Begleitbuch zur Ausstellung des LWL-Industriemuseums in der Zeche Hannover). Klartext-Verlag, Essen 2015, ISBN 978-3-8375-1484-1. Ralf Piorr (Hrsg.): Der Pott ist rund. Das Lexikon des Revierfußballs. Klartext, Essen – Band 1 (Die Chronik 1945–2005, 2005) ISBN 3-89861-358-5, Band 2 (Die Vereine, 2006) ISBN 3-89861-356-9. Dietrich Schulze-Marmeling: Der Ruhm, der Traum und das Geld: Die Geschichte von Borussia Dortmund. Die Werkstatt, Göttingen 2005, ISBN 3-89533-480-4. == Filmdokumentation == Wolfgang Ettlich: Im Westen ging die Sonne auf (Filmdokumentation über den Fußball im Revier), Rough Trade Distribution GmbH, 2003 === Einzelnachweise ===
https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fball_im_Ruhrgebiet
Geologie des Pfälzerwaldes
= Geologie des Pfälzerwaldes = Die Geologie des Pfälzerwaldes kennzeichnen vorwiegend Gesteinsschichten des Buntsandsteins und in geringerem Maße auch des Zechsteins, die im ausgehenden Perm (vor 256–251 Millionen Jahren) und zu Beginn der Trias (vor 251–243 Millionen Jahren) unter vorwiegend wüstenhaften Bedingungen abgelagert wurden. Typisch sind feinkörnige und grobkörnige bis konglomeratische Sedimentabfolgen von unterschiedlicher Festigkeit, Dichte und Färbung. Es kommen stark verfestigte, kieselig gebundene mittel- und grobkörnige Sandsteine vor, zum Beispiel in den Trifels-Schichten des Unteren Buntsandsteins; aber auch feinkörnige Sandsteine mit toniger Bindung sind verbreitet, zum Beispiel in den Annweilerer Schichten des Oberen Zechsteins. Man unterscheidet Felszonen mit einheitlicher Gesteinsstruktur (Trifels-Schichten) und solche mit heterogener Gesteinsstruktur; ein Beispiel für den heterogenen Fall sind die Rehberg-Schichten im Unteren Buntsandstein, in denen die Sedimentstrukturen auf engem Raum wechseln. Vor etwa 48 Millionen Jahren im Paläogen begann der Oberrheingraben einzubrechen, dadurch wurden diese Gesteinsformationen tektonisch umgelagert; sie wurden ungleichmäßig gehoben, in Teilschollen zerbrochen, der Buntsandstein wurde freigelegt und schräggestellt. Seine heutige Gestalt erhielt das Buntsandsteinpaket gegen Ende der Erdneuzeit (vor 5–0,01 Millionen Jahren). Es entwickelte sich ein komplexes Relief, mit tief eingeschnittenen Kerbtälern, vielfältigen Bergformen und nährstoffarmen Böden, auf denen dichte Wälder stehen. Im Süden des Pfälzerwaldes entstand eine besonders abwechslungsreiche Felsenlandschaft mit Kegelbergen und bizarren Felsgebilden (Annweilerer und Dahner Felsenland). == Naturräumliche Abgrenzung == Die vorherrschenden Gesteine des Buntsandsteins und Zechsteins bestimmen die Oberflächengestalt des Pfälzerwaldes und damit seine naturräumliche Abgrenzung. Dabei erstreckt sich ihr Verbreitungsgebiet nicht nur auf den Pfälzerwald, sondern auch auf die sich südlich der deutsch-französischen Grenze ohne geomorphologische Trennung anschließenden nördlichen und mittleren Vogesen. Es endet erst mit dem Weilertal (frz. ‚Val de Villé‘), ab dem die Gesteine des Sockels die Oberfläche des Gebirges bilden. Der gesamte Gebirgsraum gehört zum System des deutsch-französischen Schichtstufenlandes, wobei Pfälzerwald und Nordvogesen (frz. ‚Vosges du Nord‘) zu einem einheitlichen Naturraum zusammengefasst werden, der sich bis zur Zaberner Steige erstreckt.Der deutsche Teil des Gebirges, der Pfälzerwald, wird nördlich des Stumpfwaldes und des Otterberger Waldes bogenförmig vom Nordpfälzer Bergland abgegrenzt; ab hier dominieren nicht mehr Gesteine des Buntsandsteins und Zechsteins, sondern des Permokarbons das Landschaftsbild. Im Osten bilden der Rheingrabenrand und im Westen die jüngeren Gesteinsschichten des Muschelkalks, welche dort den Buntsandstein überdecken, die natürlichen Begrenzungen. Im Süden trennt die deutsch-französische Grenze den Pfälzerwald von den geologisch gleichartigen Nordvogesen. == Entwicklungsgeschichte == === Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins === Im Karbon (vor 358–296 Millionen Jahren) kam es durch Kollision der beiden Urkontinente Gondwana und Laurussia zu Auffaltungen der Erdkruste, die vom östlichen Nordamerika bis nach Zentralasien reichten und unter anderem auch im heutigen West- und Mitteleuropa zur Entstehung des Variszischen Gebirges führten. Dieses Faltengebirge wurde zwar im nachfolgenden Zeitalter des Perms (vor 296–251 Millionen Jahren) wieder abgetragen, die aus Schiefer, Granit und Gneis bestehenden Rumpfflächen blieben jedoch erhalten und bilden, wie in anderen Mittelgebirgen, das Fundament des heutigen Pfälzerwaldes.Zu Beginn des Oberkarbons vor etwa 315 Millionen Jahren entstand das Senkungsgebiet des Saar-Nahe-Beckens, das auch weite Gebiete der heutigen Pfalz umfasste. In ihm sammelten sich vom Oberkarbon bis zum Unterperm (unteres Rotliegend) vor 315 bis 270 Millionen Jahren verschiedene Sediment- und Vulkangesteine, zum Beispiel magmatische Gesteine der Donnersberg-Formation oder tonig gebundene Sandsteine der jüngeren Standenbühl-Formation (siehe auch Abschnitt Permokarbon und Rotliegend). Tektonische Prozesse verursachten gegen Ende des Unterperms (vor etwa 270–260 Millionen Jahren) eine Anhebung der Gesteinsschichten des Saar-Nahe-Beckens, sodass sich das Pfälzer Sattelgewölbe mit Nahe- und Prims-Mulde im Nordwesten und Pfälzer Mulde im Südosten entwickelte.Großräumige Absenkungen, die während des Oberperms (vor 260–251 Millionen Jahren) einsetzten und zur Bildung des Germanischen Beckens führten, ließen das Zechstein-Meer zeitweilig von Norden in das Gebiet der heutigen Pfalz vordringen. Es kam zur vorwiegend fluviatilen Ablagerung von Gesteinsschichten mit einer Mächtigkeit von etwa 100 Metern, wobei die Gesteinseinheit des Zechsteins für den Bereich des südlichen Pfälzerwaldes vier Schichten umfasst, die neben Fein-, Mittel- und Grobsandsteinen auch Tonsteine enthalten (siehe Abschnitt Zechstein). === Entstehung des Buntsandsteins === In der Trias (vor 251–200 Millionen Jahren) erweiterte sich das Germanische Becken nach Süden und Westen, wobei für das Gebiet der heutigen Pfalz das Senkungsgebiet der Hessischen Senke und Pfälzer Mulde von Bedeutung ist, da sich dort die Sedimente dieses Zeitalters ablagerten. Von der Untertrias bis zum Beginn der Mitteltrias (vor 251–243 Millionen Jahren) war Mitteleuropa von einer Wüstenlandschaft bedeckt, in der insbesondere äolische und gelegentlich fluviatile Kräfte formend wirkten. Diese Prozesse führten zu Sandablagerungen, die aus den Hochlagen um das Germanische Becken stammten. Im Bereich des heutigen Pfälzerwaldes entstanden Gesteinsschichten mit einer Mächtigkeit von bis zu 500 Metern. Dabei kam es durch Beimengung von Eisenoxid zu verschiedenartigen Färbungen des Gesteinspakets und je nach Art der Bindung in der Körnung – zum Beispiel tonig gebundene Sandsteine im Gegensatz zu verkieselten Sandsteinen – zur Ausbildung von Gesteinsschichten unterschiedlicher Festigkeit. Es entstanden die Untergruppen des unteren, mittleren und oberen Buntsandsteins, die durch „Dünnschichten“ mit stark grobkörnigen Sandsteinen (Konglomerate) voneinander abgegrenzt sind (siehe Abschnitt Schichten des Buntsandsteins). Diese Buntsandsteinformationen wurden vor 243 bis 235 Millionen Jahren durch ungefähr 190 Meter mächtige Muschelkalkablagerungen (Mergel- und Kalksedimente) eines großen Binnenmeers überdeckt, gefolgt von den Sedimenten der Keuperzeit (234–200 Millionen Jahren). Weitere Ablagerungen entstanden im Jura (vor 200–142 Millionen Jahren) und in der Kreidezeit (vor 142–65 Millionen Jahren), deren Dicke im Inneren des Germanischen Beckens ursprünglich etwa 1300 Meter betrug. Teile dieser Sedimente wurden jedoch bis zum Beginn des Paläogens vor etwa 65 Millionen Jahren durch Erosion wieder abgetragen. === Lagerung des Buntsandsteins === Zu Beginn der Erdneuzeit, dem Känozoikums, begann im Paläogen vor ungefähr 48 Millionen Jahren die Kollision afrikanischer und eurasischer Platten, die zu massiver Auffaltung der Gesteinsschichten und als Folge zur Entstehung der Alpen führte. Das damit zusammenhängende starke Spannungsfeld beeinflusste die Gebiete nördlich der Alpen, wobei Zugspannungen, wahrscheinlich entlang einer alten variszischen Schwächezone, den harten, oberen Teil des Erdmantels, der subkrustalen Lithosphäre, aufrissen und dadurch weiche Erdmantelmaterie (Peridotit) nach oben drang und die subkrustale Lithosphäre überlagerte. Diese Ausstülpung des Erdmantels führte zur Ausdünnung der darüber liegenden Erdkruste, die zum Beispiel im Bereich des späteren Oberrheingrabens eine Dicke von nur 24 Kilometern aufweist und deren Gesteinsformationen ebenfalls Aufwölbungsprozessen („Aufdomung“) mit erheblichen Zugspannungen unterworfen wurden (passives Rifting). Diese Spannungen erreichten vor ungefähr 35 Millionen Jahren im Scheitel dieser Wölbung ihren Höhepunkt, sodass bei maximaler Dehnung im Bereich des heutigen Oberrheins tiefgehende Brüche und Einsenkungen auftraten. Die Erdkruste im Inneren des Oberrheingrabens senkte sich in einer Mächtigkeit von mindestens 20 Kilometern um etwa 3300 Meter, was an der Oberfläche zur Bildung einer Tiefebene führte. Parallel dazu wurden die Grabenränder angehoben, im Falle des Pfälzerwaldes um etwa 1000 Meter. Diese tektonischen Prozesse, welche gegenwärtig noch anhalten, hatten und haben für das heutige Landschaftsbild des Mittelgebirges als Schichtstufenlandschaft vier wichtige Auswirkungen: Erstens wurden während der Hebevorgänge etwa 800 Meter Deckgebirge (Dogger, Lias, Keuper, Muschelkalk) abgetragen und in der neu entstandenen Tiefebene abgelagert. Dies bewirkte eine Freilegung der Gesteinsschichten des Buntsandsteins, Zechsteins und an wenigen Stellen auch von Ablagerungen des Permokarbons vor allem des Rotliegend. Zweitens verursachte die Aufwölbung eine Schrägstellung der verschiedenen Schichten. Sie sinken allmählich vom Grabenrand im Osten mit einer Neigung von ein bis vier Grad nach Westen. Drittens kam es zu einer ungleichmäßigen Heraushebung des Buntsandsteins. Die Gesteinsschichten lagern nämlich nicht völlig eben, sondern besitzen eine Sattel-Muldenstruktur, die sich von Südwest nach Nordost erstreckt (siehe auch Abschnitt Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins). So steht einer sattelförmigen Aufwölbung im Bereich des Nordpfälzer Berglands (Pfälzer Sattel) südöstlich eine durch den zentralen Pfälzerwald parallel verlaufende Mulde (Pfälzer Mulde) gegenüber, der noch weiter im Südosten im Wasgau eine erneute Aufwölbung (Südpfälzer Sattel) folgt. Dies bedeutet, dass die Gesteinsschichten im nördlichen und südlichen Abschnitt des Pfälzerwaldes höher und in seinem mittleren Teil tiefer liegen. Während hier – zum Beispiel im Gebiet um Johanniskreuz und Eschkopf – jüngere Gesteine der Rehberg-, Schlossberg- und Karlstal-Schichten das Relief prägen, dominieren in den nördlichen und südlichen Bereichen Schichten des Zechsteins und des Unteren Buntsandstein und hier vor allem die Trifelsschicht das Landschaftsbild. Viertens zerbrachen die Gesteinsschichten durch Heraushebung und Schrägstellung in einzelne Teilschollen. Es entstanden verschieden große Spalten und Klüfte, an denen die Gesteine vertikal gegeneinander verschoben wurden. Dieses Phänomen zeigt sich besonders entlang größerer Verwerfungen, die das Gebirge von Nordost nach Südwest durchziehen. Beispiele sind neben der Hauptverwerfung am Grabenrand die dazu parallel verlaufenden Lambrechter und Elmsteiner Verwerfungen, an denen die verschiedenen Schichten um bis zu 100 Meter gegeneinander versetzt sind. === Entwicklung der heutigen Oberflächengestalt === Im späteren Paläogen (vor 34–23,8 Millionen Jahren) und Neogen (vor 23,8–2,8 Millionen Jahren) standen wieder Erosionsprozesse im Vordergrund, sodass es zu einer weiteren Aufschüttung der Oberrheinischen Tiefebene kam. Erneute tektonisch verursachte Hebungen gegen Ende des Neogens (vor 5–2,8 Millionen Jahren) führten zur heutigen Höhe des Pfälzerwaldes und durch Abtragung zu weiterer Freilegung des Buntsandsteins. Im Quartär (vor 2,8–0,01 Millionen Jahren), dem letzten geologischen Zeitabschnitt der Erdneuzeit, schufen erneute Verwitterung und Abtragung, vor allem während der verschiedenen Kalt- und Warmzeiten, die Oberflächengestalt des heutigen Pfälzerwaldes. Es entwickelten sich ein differenziertes, tief eingeschnittenes Talsystem, vor allem in seinem Nord- und Mittelteil, vielfältige Bergformen und bizarre Felsformationen; Beispiele hierfür sind der Teufelstisch bei Hinterweidenthal und der Eilöchelfels bei Busenberg. == Gliederung == Aus seiner Entwicklungsgeschichte ergibt sich die geologische Gliederung des heutigen Pfälzerwaldes: Gneise, Schiefer und magmatisches Gestein bilden das Fundament des heutigen Pfälzerwaldes, werden jedoch meist durch jüngere Gesteinsschichten überdeckt. Sie treten nur an wenigen Stellen des östlichen Gebirgsrandes an die Oberfläche, wo sie beispielsweise in den tief eingeschnittenen Tälern der Queich und des Kaiserbaches anstehen. Entsprechend befinden sich dort große Steinbrüche, in denen Granodiorit bei Waldhambach und Orthogneis mit granitischem Habitus bei Albersweiler aufgeschlossen sind und als „Hartsteine“ abgebaut werden. === Permokarbon === ==== Rotliegend ==== Die vom Oberkarbon bis Unterperm im Saar-Nahe-Becken gebildeten Gesteinsschichten (siehe auch Abschnitt Gebirgssockel und Sandstein des Zechsteins) sind nur an einigen Stellen des Pfälzerwaldes freigelegt und prägen dort dessen Relief. Dies trifft beispielsweise für den im Norden gelegenen Stumpfwald und im Südosten für das Queichtal mit Seitentälern zu, in denen rote Ton-, Silt- und feinkörnige Sandsteine der Kreuznach- und Standenbühl-Formation und im unteren Teil eine Wechselfolge aus roten Siliziklastika, Tuff und Effusiva der Donnersberg-Formation aufgeschlossen sind. Da mergelig und tonig gebundene Sandsteine eine relativ weiche Konsistenz besitzen, wurden sie vor allem im Raum Ramsen zu breiten Tälern ausgeräumt. Gleiches gilt auch für das Queichtal vor seinem Austritt in die Rheinebene, das zwischen Annweiler und Albersweiler ebenfalls beckenartige Züge trägt. ==== Zechstein ==== Im oberen Perm (vor 256–251 Millionen Jahren) entstanden Gesteinsschichten (siehe Abschnitt Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins), welche am Nordrand des Pfälzerwaldes zwischen Eisenberg und Waldmohr als Stauf-Schichten – nach dem Ort Stauf bei Ramsen – an die Oberfläche treten und im Raum Schwedelbach eine Mächtigkeit von 70 bis fast 300 Metern besitzen. Sie bestehen hauptsächlich aus geröllreichen, grobkörnigen, vorwiegend braunroten Sandsteinen (Konglomerate), die durch Beimengung von Eisenoxid besonders stark verfestigt wurden. Lithostratigrafisch werden sie in einen ähnlich aufgebauten oberen und unteren Teil gegliedert, zwischen denen jeweils fast geröllfreie, feinkörnige Sandsteine von geringerer Festigkeit (Formsande) abgelagert sind. Die Erzhaltigkeit des Gesteins brachte es mit sich, dass an mehreren Stellen der Region, bei Ramsen schon zur Zeit der Kelten, bei Erzenhausen seit dem Mittelalter und bei Erzhütten seit 1725, Eisenerz gefördert und beispielsweise in Eisenberg verarbeitet wurde.Im südöstlichen Teil des Pfälzerwaldes bestehen die Gesteinsschichten dagegen eher aus feinkörnigeren Sandsteinen mit toniger Bindung und Schiefertonen. Sie erstrecken sich in einer Mächtigkeit von etwa 80 bis 100 Metern vom Raum Annweiler über Gossersweiler und Silz bis in die südöstlich von Dahn gelegenen Bereiche um Vorderweidenthal, Busenberg und Bundenthal. Da das Material eher von weicher Konsistenz ist und daher besser ausgeräumt wurde, kam es auch dort zu größeren Verebnungsflächen, zwischen denen die kegelförmigen Berge des Wasgaus häufig isoliert emporragen. Im Gegensatz zu anderen Regionen des Mittelgebirges sind diese Ablagerungen relativ nährstoffreich und verwittern zu fruchtbaren Böden, sodass diese schon frühzeitig – seit dem Hochmittelalter – gerodet und landwirtschaftlich genutzt wurden. Daneben sind die Ablagerungen des Zechsteins auch hydrogeologisch interessant, da die tonreichen Schichten häufig Quellhorizonte bilden, an denen sich das Grundwasser stauen kann. Gegliedert wird der südpfälzische Zechstein nach Untersuchungen aus den Jahren 1995 und 1996 in vier Schichten: Sie beginnen mit der etwa 40 Meter dicken Queich-Schichten – benannt nach dem gleichnamigen Fluss – und Rothenberg-Schichten des Unteren Zechsteins, in welchen fein-, mittel- und grobkörnige Sandsteine und vor allem in der Rothenbergschicht auch rotbrauner Tonstein und rötlich-grauer Dolomit („Zechstein-Horizont“) abgelagert sind. Ihnen folgen im Oberen Zechstein die 40 bis 60 Meter mächtigen Annweilerer- und darüber Speyerbach-Schichten, wobei die Annweilerer-Schichten eher aus roten, massigen bis schräggeschichteten fein- und mittelkörnigen Sandsteinen und die darüber liegenden Speyerbach-Schichten aus braunroten bis grauroten Tonsteinen bestehen. === Trias === ==== Buntsandstein ==== Große Teile des gesamten linksrheinischen Gebirges – Pfälzerwald, Nord- und Mittelvogesen – werden durch die zu Beginn der Trias entstandenen Buntsandsteinformationen bestimmt. Dabei wird dieses Gesteinspaket für den Bereich der Pfalz in folgende Schichten oder Gruppen mit Untergruppen gegliedert (Buntsandstein-Stratigraphie der Pfalz): ==== Unterer Buntsandstein ==== Er ist das charakteristische Gestein des Pfälzerwaldes und bestimmt mit einer Mächtigkeit von 280 bis 380 Metern – mit Ausnahme der Verebnungsflächen im südöstlichen Wasgau – weite Teile des Mittelgebirges. Im Gegensatz zu den Sandsteinen aus der Zechstein-Zeit enthält er viel Quarz, dagegen wenig Feldspat und Glimmer und verwittert deshalb zu sandigen, nährstoffarmen Böden. Dieser Sachverhalt und die Schwierigkeiten des Geländes, das heißt starke Zertalung mit Kerbtälern und felsigen Steilhängen (siehe Abschnitt Täler), hatten zur Folge, dass seit dem Mittelalter in weiten Bereichen des Pfälzerwaldes kaum Rodungen und damit landwirtschaftliche Nutzung erfolgten, sodass das Waldgebiet bis heute in seiner Kompaktheit erhalten blieb. Typisch für den Unteren Buntsandstein ist außerdem die Ausbildung mehrerer harter Felszonen, die von dünngeschichteten, tonreicheren Sandsteinen getrennt werden. Damit ergibt sich eine Gliederung in folgende drei Teilschichten: ===== Trifels-Schichten ===== Diese kompakten, vorwiegend fluviatil entstandenen Gesteinsschichten in einer Mächtigkeit von bis zu 145 Metern, die nach dem Felsenriff auf dem Burgberg des Trifels bei Annweiler benannt sind, bestehen aus violett bis hellrot gefärbten schräggeschichteten mittel- und grobkörnigen Sandsteinen, die im Korngefüge kieselig gebunden sind und daher eine besondere Festigkeit besitzen. Sie nehmen vor allem im nordwestlichen und südlichen Teil des Pfälzerwaldes einen größeren Raum ein und bilden dort seine Oberfläche. Im Mittleren Pfälzerwald ist diese Gesteinsfolge aufgrund ihrer Schrägstellung hauptsächlich in den östlichen Regionen zwischen Frankenweide und Rheingrabenrand anzutreffen, wobei sie vor allem in Tälern und Seitenhängen bis in mittlere Höhen aufgeschlossen ist. Eine besondere Bedeutung kommt den Trifels-Schichten im südöstlichen Pfälzerwald zu. Hier bilden sie aufgrund ihrer Härte zusammen mit den Rehberg-Schichten die oft kegelförmigen Bergformen des Wasgaus, die zwischen den Verebnungsflächen des Rotliegend und Zechsteins emporragen und häufig bizarre Felsgebilde tragen (siehe genauer Abschnitt Berge). ===== Rehberg-Schichten ===== Namengebend ist der Rehberg, mit 577 m ü. NHN der höchste Berg des deutschen Wasgaus in der Nähe des Trifels, dessen Gipfelbereich durch diese Gesteinsschichten aufgebaut wird. Sie treten in weiten Bereichen des mittleren und südwestlichen Pfälzerwaldes an seine Oberfläche und werden erst etwa westlich einer Linie Johanniskreuz (470 m ü. NHN), Leimen, Münchweiler, Hohe List (476 m ü. NHN) und Erlenkopf (472 m ü. NHN) von den jüngeren Gesteinen des Mittleren und Oberen Buntsandsteins abgelöst. Eine schmale, Sandsteinschicht, die einen höheren Gehalt an Tonmineralen besitzt, grenzt die etwa 145 Meter mächtige Gesteinsfolge von den Trifels-Schichten ab; sie bildet wegen ihrer geringeren Wasserdurchlässigkeit einen wichtigen Quellhorizont. Im Gegensatz zur kompakten Gesteinseinheit der Trifels-Schichten besteht die Rehberg-Stufe nicht aus einem einheitlichen Felspaket, sondern aus mehreren schräggeschichteten und kleinräumigen Felszonen, die durch Dünnschichten voneinander getrennt sind. In den Felszonen dominieren ebenfalls kieselig gebundene und damit stark verfestigte mittel- und grobkörnige Sandsteine, die meist unter fluviatilen Bedingungen abgelagert wurden. Die vorwiegend äolisch entstandenen, eher tonisch gebundenen Dünnschichten verlaufen dagegen meist horizontal, besitzen eine vorwiegend feinkörnige, geringer kristallisierte Struktur und unterliegen deshalb stärker Verwitterung und Abtragung. Diese Wechselfolge unterschiedlich stark erodierter Felszonen spiegelt sich unter anderem in charakteristischen Felsbildungen wider, wobei zum Beispiel Felsüberhänge, Felsentore und vor allem pilz- und tischförmige Strukturen auffallen. Ein bekanntes Beispiel ist der Teufelstisch bei Hinterweidenthal, an dessen tischförmiger Gestalt die Wirkung dieser kleinräumigen Verwitterungsprozesse besonders deutlich wird. ===== Schlossberg-Schichten ===== Benannt wurden diese Formationen nach ihrem Auftreten in den Schlossberghöhlen der saarländischen Stadt Homburg. Es handelt sich um eine bis zu 90 Meter hohe Felsstufe, die vorwiegend aus gröberem Material vorwiegend aus Roll- und Springkörnern von Wanderdünen besteht. Besonders ins Auge fallen die unterschiedlichen farblichen Schattierungen des Materials, das meist rot bis orangegelb, in geringerem Maße aber auch weiß, grün oder lila gefärbt ist. ==== Mittlerer Buntsandstein ==== Zwischen Mittlerem und Oberem Buntsandstein lagert eine weitere tonreiche Gesteinsschicht, die erneut einen wichtigen Quellhorizont bildet. Auch diese Gesteinseinheit wird durch verschiedene Teilschichten aufgebaut: ===== Karlstal-Schichten ===== Namengebend ist das Karlstal bei Trippstadt im Nordwesten des Pfälzerwaldes, in dem diese Sandsteinformationen in exemplarischer Form auftreten. Dabei wird zwischen der etwa 30 bis 40 Meter mächtigen Karlstal-Felszone und den sich anschließenden Oberen Karlstalschichten unterschieden. Die Karlstal-Felszone setzt sich aus massigen, grobkörnig verkieselten Gesteinspaketen zusammen, die häufig als graurote, harte Felsblöcke mit mehreren Metern Durchmesser an die Oberfläche treten. Diese Blockfelder sind außer im Karlstal auch an anderen Talhängen des mittleren Pfälzerwaldes zu finden; als Beispiel dient unter anderem das unterhalb des Annweilerer Forsthauses gelegene Eiderbachtal, in welchem diese Felszone in etwa 300 bis 400 m ü. NHN aufgeschlossen ist. Aufgrund der Elmsteiner Verwerfung, einer westlich des Eiderbachtals von Nord nach Süd verlaufenden Verwerfungslinie, liegen dort die einzelnen Gesteinsschichten etwa 100 Meter höher, sodass auch die höchsten Erhebungen im zentralen Pfälzerwald durch diese Gesteine aufgebaut werden. So treten zum Beispiel am Eschkopf wie auch am Südwesthang und Gipfelplateau des Weißenbergs die typischen Blockfelder der Karlstalstufe an die Oberfläche. Da die Gesteinsschichten des Mittelgebirges generell schräg gestellt sind, das heißt von West nach Ost ansteigen, wurden Gesteine des Mittleren und Oberen Buntsandsteins östlich der Elmsteiner Verwerfung in verstärktem Maße abgetragen, sodass hier eher die Trifels- und Rehberg-Schichten des Unteren Buntsandsteins dominieren. Eine Ausnahme bilden einige der höchsten Erhebungen am östlichen Gebirgsrand, deren Gipfelbereich ebenfalls von der Karlstal-Felszone aufgebaut wird. Dieser Gebirgszug, naturräumlich auch als Haardt bezeichnet, wird durch die Lambrechter Verwerfung vom Bereich des inneren Pfälzerwaldes abgegrenzt; sie erstreckt sich in einem Abstand von zwei bis fünf Kilometern parallel zum Grabenrand und führt im Bereich der Haardt zur Versetzung der verschiedenen Gesteinsfolgen um 80 bis 100 Meter nach unten. Wegen dieser tektonisch bedingten Absenkung waren die Karlstalschichten deshalb zunächst der Abtragung entzogen und erodierten erst später, vor allem im Laufe der verschiedenen Kalt- und Warmzeiten, zu ihrer heutigen Gestalt. Entsprechende Blockfelder bestehen zum Beispiel auf dem Hochberg und vor allem im Gebiet der Kalmit. So befindet sich auf dem Hüttenberg, einem südwestlichen Ausläufer der Kalmit, in etwa 600 m ü. NHN ein besonders ausgedehntes Felsenmeer, welches außer von der Karlstal-Felszone auch durch Gesteine der Oberen Felszone (siehe unten) gebildet wird.Abgeschlossen wird die Karlstalstufe schließlich durch weichere Gesteine der Oberen Karlstalschichten, die hauptsächlich aus gerundeten, rot bis orangegelb gefärbten Grobsandsteinen bestehen und deshalb stark den Schlossbergschichten ähneln. ===== Obere Felszone, Hauptkonglomerat und Violette Grenzzone ===== Die Obere Felszone in einer Mächtigkeit von 9 bis 26 Metern setzt sich aus stark verkieselten, geröllführenden Mittel- und Grobsandsteinen von besonderer Festigkeit zusammen und bildet vor allem im zentralen Pfälzerwald im Bereich der inneren Pfälzer Mulde felsdurchsetzte Steilhänge. Ein typisches Beispiel bietet der Wartenberg im südwestlichen Weißenberggebiet, welcher durch Steilwände der Oberen Felszone in Kombination mit Blockfeldern der Karlstal-Schichten charakterisiert ist. Das sich anschließende, bis zu 15 Meter mächtige Hauptkonglomerat befindet sich vorwiegend im Südteil der Pfälzer Mulde. Es ist Folge der Ablagerungen eines früheren, tief eingeschnittenen Flusssystems und besteht aus dunkelroten, geröllführenden Grobsandsteinen. Abgeschlossen wird der Mittlere Buntsandstein mit einer Mächtigkeit von etwa 1,5 Meter durch die Violette Grenzzone, die vor allem im nördlichen Teil der Pfälzer Mulde, das heißt im nordwestlichen Teil des Pfälzerwaldes aufgeschlossen ist und in erster Linie aus glimmerreichen Feinsedimenten mit Dolomitknauern (Dolomitknollen) besteht. Karlstal-Felszone, Obere Felszone und Hauptkonglomerat bilden aufgrund ihrer Verwitterungsresistenz mehrere markante Felsriffe, wobei die Altschlossfelsen bei Eppenbrunn mit fast zwei Kilometern Länge die bekanntesten Beispiele sind. Der etwa ein bis zwei Meter mächtige Kugelfelshorizont, welcher der Oberen Felszone zuzurechnen ist, enthält kugelförmige Gebilde, die aufgrund unterschiedlicher Eisenanreicherung im Gestein in dieser Form erodiert sind. Sie werden häufig von einem lockeren Mantel umgeben und können deshalb leicht aus dem Felsen herausfallen oder herausgelöst werden. Diese geologische Besonderheit kennzeichnet verschiedene Felsen im Raum Pirmasens, wobei der namengebende Kugelfelsen auf dem Rödelschachen ein besonders prägnantes Beispiel ist. ==== Oberer Buntsandstein ==== Zwischenschichten und Voltziensandstein sind Untergruppen des Oberen Buntsandsteins, der die älteren Sedimente dieser Gesteinseinheit mit einer Mächtigkeit von etwa 100 Metern überdeckt. Sie beeinflussen das Relief vor allem im westlichen und südwestlichen Teil des Pfälzerwaldes, zum Beispiel im Gräfensteiner Land, Holzland und in den Gebieten südlich und südöstlich von Pirmasens; dagegen wurden sie in östlicher gelegenen Regionen wegen der generellen Schrägstellung der Gesteinsschichten abgetragen. ===== Zwischenschichten ===== Diese etwa 75 Meter mächtige Gesteinseinheit ist ebenfalls das Ergebnis von Ablagerungen eines Flusssystems und setzt sich in ihren unteren Bereichen aus grau- bis hellroten, teilweise geröllführenden Mittel- bis Grobsandsteinen zusammen, während die oberen Bereiche eher aus violett- oder braunroten Feinsandsteinen mit höherem Gehalt an Glimmer, Karbonaten und Tonmineralien bestehen. ===== Voltziensandstein ===== Der etwa 25 Meter mächtigen Voltziensandstein enthält versteinerte Pflanzenreste der Koniferenart Voltzia heterophylla der Voltziales; sie sind Indikatoren für veränderte Ablagerungsbedingungen zu Beginn des Muschelkalkzeitalters. Sein unterer Teil – die Werksteinzone – besteht aus roten, fein- und mittelkörnigen Sandsteinen, die neben Gesteinen des Mittleren Buntsandsteins auch heute noch in Steinbrüchen zum Beispiel im Schweinstal bei Schopp, ferner in Eselsfürth bei Kaiserslautern gewonnen werden und eine beachtliche historische Anwendungstradition besitzen. Sie wurden im südwestdeutschen Raum seit alters her mit unterschiedlicher Zwecksetzung als beliebtes Baumaterial verwendet, prägen das Erscheinungsbild von Burgen, Kirchen, ja sogar ganzer Dörfer in der Region und kommen beim Bau von Dorfbrunnen, Denkmälern, Brücken und Eisenbahntunneln bis heute häufig zum Einsatz. Im Bereich der Baukunst fertigte man ornamentale Architekturteile und aus hellen Varietäten Grabsteine. Bedeutende Baudenkmäler wie der im romanischen Stil erbaute Dom zu Speyer oder die ebenfalls romanische Abteikirche Otterberg, außerdem viele der barocken Bauten des ursprünglich anhalt-zerbstschen Baumeisters Friedrich Joachim Stengel in Saarbrücken sind mit diesem Sandstein ausgestattet worden.Den oberen Bereich – die Lettenregion – kennzeichnen tonige Ablagerungen, welche auf beginnende Einflüsse des Muschelkalkmeeres verweisen. Zwischenschichten und Voltziensandstein verwittern aufgrund ihrer Eigenschaften zu nährstoffreicheren Böden, welche sich zur landwirtschaftlichen Nutzung besser als die „armen“ Sandböden des Unteren und Mittleren Buntsandsteins eignen. So entstanden vor allem im Holzland schon früh hochgelegene Rodungsinseln, in denen sich in der Folgezeit Höhendörfer wie zum Beispiel Heltersberg, Schmalenberg und Trippstadt entwickeln konnten. == Oberflächengestalt == === Landschaftscharakter === Unterschiedlich harte Gesteinsschichten führten im Pfälzerwald zu mehr oder weniger starker Verwitterung und Abtragung. So wurden beispielsweise Formationen des Rotliegend und Zechsteins stärker zu Verebnungen und breiten Tälern ausgeräumt, während die widerstandsfähigeren Gesteine des Unteren und Mittleren Buntsandsteins als Schichtstufen erhalten blieben. Gemeinsam mit einem dichten, tief eingeschnittenen Talsystem entwickelte sich das komplexe Schichtstufenrelief des heutigen Pfälzerwaldes. Während sich das Gebirge im Süden ohne geomorphologische Begrenzung als Nordvogesen fortsetzt und nach Westen allmählich in die Westricher Hochfläche übergeht, bestehen in seinem nördlichen und östlichen Teil mehrere Schicht- und Bruchstufen. So fallen am Nordrand zwei Schichtstufen ins Auge, die das Mittelgebirge gegenüber dem Nordpfälzer Bergland abgrenzen. Dies sind einerseits die Staufer Schicht bei Ramsen mit einer Höhe von 40 bis 70 Metern und andererseits eine wesentlich höhere Landstufe aus Rehberg- und Karlstalschichten, die bei Landstuhl in einer Mächtigkeit von etwa 200 Metern parallel zur Westricher Niederung verläuft. Im Osten bildet der Gebirgsrand eine markante, etwa 300 bis 400 Meter hohe Bruchstufe, die in ihrem Nord- und Mittelteil hauptsächlich aus Gesteinen des Unteren und Mittleren Buntsandstein besteht und nur von engen Kerbtälern unterbrochen wird. Südlich der Queich setzt sich aufgrund der veränderten geologischen Voraussetzungen diese Bruchstufe nicht mehr als kompakte Gebirgsmauer, sondern als offene Kette eher voneinander getrennter Kegel- und Rückenberge fort. Dieses Landschaftsbild gilt für den gesamten südöstlichen Teil des Pfälzerwaldes, sodass sich in diesem Bereich keine zusammenhängenden Schichtstufen ausbildeten. Auch die Karlstalschichten treten im zentralen und östlichen Pfälzerwald nicht als zusammenhängende Gesteinsschicht, sondern nur als isolierte Felsstufen auf. Da die Gesteinsschichten generell schräg gestellt sind, werden diese in höheren Bergregionen wie auf dem Rahnfels (516,5 m), dem Teufelsberg bei Burrweiler (597,6 m) und der Kalmit (672,6 m) angetroffen (siehe Abschnitt Mittlerer Buntsandstein). === Täler === Charakteristisch für den Unteren und Mittleren Buntsandstein sind tief in das Gesteinspaket eingeschnittene enge Kerbtäler mit schmaler Talsohle und steilen Seitenhängen. Sie sind die typische Talform im mittleren Pfälzerwald, während in seinem südlichen und nördlichen Teil eher sogenannte Kastentäler mit breiterer Talsohle überwiegen. Im Oberlauf der Bäche nimmt die Höhendifferenz zwischen Talboden und umgebenden Berghängen mehr und mehr ab, sodass Muldentäler mit Fließgewässern und Dellen ohne Fließgewässer das Relief charakterisieren. Ein Beispiel für diese Formen ist das Wellbachtal: Vom Eschkopf talabwärts Richtung Annweiler ist es zunächst ein Muldental, das nach wenigen Kilometern in ein Kerbtal übergeht. Nach Einmündung des Modenbachs am Zwiesel entsteht ein Kastental, das sich nach fünf bis sechs Kilometern mit dem Queichtal vereinigt. Im südwestlichen Pfälzerwald, zum Beispiel im Bereich Eppenbrunn, Fischbach und Ludwigswinkel, prägen Woogtäler das Landschaftsbild. Ihr Talboden ist besonders breit und eignet sich deshalb gut zur Anlage von Teichen (Wooge), Weihern und kleinen Seen. Aufgrund der dort siedelnden vielfältigen Pflanzengesellschaften und der sie umgebenden naturnahen Mischwälder sind diese Täler, wie das Stüdenbachtal bei Eppenbrunn, wertvolle Biotope und Naturreservate. === Berge === In Abhängigkeit jeweils vorherrschender Gesteinsfolgen besteht im pfälzischen Buntsandsteingebirge eine Vielfalt unterschiedlicher Bergformen. Typisch für den nördlichen und mittleren Pfälzerwald sind hochaufragende Bergklötze und langgezogene trapezförmige Bergrücken mit häufig felsigem Gipfelbereich, wofür der Almersberg (564 m ü. NHN) und der am östlichen Gebirgsrand liegende Kesselberg (661,8 m ü. NHN) charakteristische Beispiele sind. Diese Landschaftsformen gehen im westlichen Pfälzerwald im Bereich des Oberen Buntsandsteins mehr und mehr in hochflächenähnliche Bergformationen mit Rodungsflächen über, an die sich westlich einer Linie Landstuhl, Waldfischbach, Pirmasens, Eppenbrunn die vom Muschelkalk dominierte Westricher Hochfläche anschließt (siehe Abschnitt Oberer Buntsandstein). Während im südwestlichen Teil des Pfälzerwaldes ähnliche geomorphologische Verhältnisse wie weiter im Norden herrschen, gelten in seinem südöstlichen Teil andere geologische Voraussetzungen. Im Bereich des Südpfälzer Sattels wurden die Schichten des Buntsandsteins besonders stark aufgewölbt und verbogen, was zu erheblicher Verwitterung und Abtragung dieser Schichten und zur Freilegung der Sedimente des Rotliegend und Zechsteins führte. Gleichzeitig blieben jedoch Teile der besonders widerstandsfähigen Trifels- und Rehberg-Schichten erhalten, sodass eine besonders vielfältige Oberflächengestalt entstand. Das typische Landschaftsbild des südöstlichen Wasgaus ist deshalb durch häufig isoliert stehende, die Schichten des Zechsteins überragende Bergformen gekennzeichnet, die einen großen Formenschatz aufweisen und häufig bizarre Felsformationen tragen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Geiger sechs verschiedene Bergformen, wobei vor allem Bergklötze (z. B. Rindsberg), Kegelrückenberge (z. B. Rehberg), Bergrücken (z. B. Dimberg) und reine Bergkegel (z. B. Burgberg des Lindelbrunn) das Mittelgebirge kennzeichnen. === Felsen === Verwitterung und Abtragung haben über Jahrmillionen je nach witterungsbedingter Widerstandsfähigkeit des Sandsteins eine Vielzahl bizarrer Felsformationen geschaffen, die aufgrund der besonderen geologischen Voraussetzungen – wie im vorigen Abschnitt beschrieben – vor allem im südöstlichen Teil des Mittelgebirges zu finden sind. So werden je nach Erosion der Trifels-Schichten Felstürme (z. B. Hundsfelsen bei Waldhambach), Felswände (z. B. Asselstein bei Annweiler), Felsmauern (z. B. Dimberg bei Dimbach) und Felsklötze (z. B. Lindelbrunn bei Vorderweidenthal) unterschieden. Durch kleinförmige Verwitterung schmaler, unterschiedlich harter Schichten entstanden Felsöffnungen, Torfelsen (z. B. Eichelberg bei Busenberg) und Tischfelsen (z. B. Teufelstisch bei Hinterweidenthal) (siehe Abschnitt Rehberg-Schichten). An dem fast zwei Kilometer langen Felsenriff des Altschlossfelsens sind außerdem Felsspalten, Überhänge und Wabenverwitterung zu sehen; Felsenmeere und Blockfelder kennzeichnen dagegen eher Tal-, aber auch Bergregionen im Mittleren Pfälzerwald (siehe Abschnitt Karlstal-Schichten). Bei ungestörtem Verlauf der Gesteinsschichten würde die typische Landschaftsstruktur des Felsenlandes bereits kurz hinter Annweiler enden. Tektonische Prozesse (siehe auch Abschnitt Lagerung des Buntsandsteins) führten jedoch zu Verschiebungen und Versetzungen der einzelnen Schichten, sodass westlich der Elmsteiner Verwerfung etwa von Wilgartswiesen, Spirkelbach, Schwanheim, Erlenbach bis nach Niederschlettenbach die felsbildenden Trifels-Schichten um ungefähr 80 bis 100 Meter emporgehoben wurden und deshalb im Dahner Felsenland auch weiterhin die Oberflächenstruktur prägen. Erst westlich der (Wies-)Lauter tauchen diese Schichten endgültig unter die jüngeren Rehberg- und Karlstalschichten, sodass das Landschaftsbild des westlichen Wasgaus ab dort eher dem des Mittleren Pfälzerwaldes entspricht. === Wasserhaushalt === Ein typisches Merkmal des Pfälzerwaldes ist sein Wasserreichtum, der zu einem differenzierten System von Bächen, kleinen Flüssen und Feuchtgebieten, z. B. Mooren, Weihern und kleinen Seen geführt hat. Seine Wasserführung ist im Allgemeinen sehr gleichmäßig, sodass auch bei anhaltenden Trockenperioden oder sehr niederschlagsreicher Witterung ein ausgeglichener Wasserhaushalt gewährleistet ist. Dafür sind nicht nur die überdurchschnittlich hohen Niederschlagsmengen im Gebirge, die in mittleren und höheren Lagen etwa 900 bis 1100 mm betragen, sondern vor allem auch die hydrogeologischen Eigenschaften der verschiedenen Gesteine des Buntsandsteins verantwortlich. Die durch Verwitterung entstandenen Sandböden sind sehr wasserdurchlässig, sodass Niederschlagswasser schnell in den Boden einsickern und als Grundwasser durch Klüfte und Spalten des Sandsteinpakets weitergeleitet werden kann (Kluftgrundwasserleitung). Dieses Grundwasser wird anschließend in verschiedenen Felszonen, sogenannten Grundwasserstockwerken, gespeichert und nur verzögert als Quellwasser wieder an die Oberfläche abgegeben. Von den einzelnen Schichten des Buntsandsteins sind in diesem Zusammenhang die umfangreichen Felsbänke und -zonen der Trifels-Schichten im Unteren Buntsandstein und die Felszone der Karlstalschichten im Mittleren Buntsandstein von besonderer Bedeutung, da in ihnen auch umfangreichere Grundwassermengen, unter anderem durch teilweise Erweiterung der Klüfte zu größeren Hohlräumen und Kleinhöhlensystemen (Sandsteinverkarstung), rasch weitergeführt und längerfristig gespeichert werden. Auch die Bedingungen für die Grundwasserneubildung sind günstig: Aufgrund hoher Versickerungsraten und damit geringem Oberflächenabfluss verdunsten nur zwei Drittel der jährlichen Niederschlagsmenge, sodass der Rest direkt dem Grundwasser und seiner Neubildung zur Verfügung steht. Das reichlich vorhandene Grundwasser tritt in einer Vielzahl von Quellen und Feuchtgebieten an die Oberfläche und wird zum Teil durch den Bau ergiebiger Tiefbrunnen für die Bevölkerung genutzt. Es ist ein Charakteristikum des Buntsandsteins, dass in seiner Schichtfolge grundwasserleitende Felszonen von Dünnschichten mit eher tonig gebundenen Sandsteinen abgelöst werden (siehe Abschnitt Buntsandstein). Diese Schichtserien sind nur wenig wasserdurchlässig und bilden deshalb häufig Quellhorizonte, in denen das Grundwasser als Schichtquelle an die Oberfläche treten kann; ein Beispiel bietet hierfür die Rehbergquelle, die an einer Dünnschicht der Rehberg-Schichten im Gipfelbereich dieses Berges entspringt. Schichtquellen sind daher der am häufigsten vorkommende Quelltyp des Pfälzerwaldes, während Verwerfungsquellen im Grenzbereich von wasserleitenden und wasserstauenden Schichten wie der Wolfsbrunnen bei Bad Bergzabern und Talrandquellen wie der Lauterspring bei Kaiserslautern weniger häufig vorkommen. Nicht nur die Menge, sondern ebenso die Qualität des zur Verfügung stehenden Grundwassers machen den Pfälzerwald für viele pfälzische Gemeinden zu einem besonders wertvollen Trinkwasserreservoir. Da der Sandstein sehr mineralarm ist und sein Grundwasser deshalb nur geringe Lösungsinhalte aufweist, handelt es sich um Wasser mit niedrigem Härtebereich (Härtebereich weich). Auch Belastungen durch anthropogene Einflüsse vor allem durch Abwasser und landwirtschaftliche Düngung, sind aufgrund der Siedlungsferne vieler Brunnen und der Filterfunktion des Sandsteins selten nachweisbar. Dabei wird raumplanerisch angestrebt, die zukünftige Trinkwassergewinnung noch genauer an hydrogeologischen Kriterien auszurichten und gleichzeitig ökologische Belange, zum Beispiel den Erhalt von Feuchtbiotopen, verstärkt zu berücksichtigen. == Besonderheiten == === Haardtsandstein === Am östlichen Gebirgsrand ist in einigen Regionen hellgelber, gebleichter Sandstein aufgeschlossen, der früher bei Bad Bergzabern, Frankweiler und Hambach in großen Steinbrüchen abgebaut wurde oder wie bei Leistadt und Haardt noch abgebaut wird. Seit Entstehung der Oberrheinischen Tiefebene bildeten sich in der Bruchzone zwischen Pfälzerwald und Rheingraben zahlreiche Verwerfungen und Klüfte, durch die heiße Lösungen aufstiegen und die rötlichen Eisenoxide wegführten. Dadurch kam es am Haardtrand zur Entfärbung des Sandsteins, während diese Prozesse an anderen Stellen des Gebirges zu Ablagerungen des Eisenerzes in Klüften und Spalten führten, das vor allem zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert in Bergwerken abgebaut wurde (siehe auch Abschnitt Formationen des Zechstein). Eines dieser Bergwerke der St.-Anna-Stollen bei Nothweiler, ist als Besucherbergwerk ausgebaut. Bei einer Führung und in einem kleinen Museum werden die geologischen Vorgänge veranschaulicht und die teilweise extremen Arbeits- und Abbaubedingungen unter Tage direkt erlebt. === Frühere vulkanische Aktivitäten am Pechsteinkopf === ==== Grundlagen ==== Als im Paläogen der Oberrheingraben entstand, kam es unter anderem durch Zugspannungen im Bereich des Grabenbruchs zur Ausdünnung und Schwächung der Erdkruste (siehe auch Abschnitt Lagerung des Buntsandsteins) und damit zur Druckverminderung mit anschließenden Schmelzprozessen im plastischen Gestein des darunter liegenden Erdmantels. Diese Schmelzen besaßen eine geringere Dichte und damit ein geringeres Gewicht als das feste Umgebungsgestein und begannen deshalb in den Bruchstellen der Erdkruste nach oben zu steigen. Durch Druckentlastung während des Aufstiegs wurde das Magma dekomprimiert, sodass Gase, welche vorher in ihm gelöst waren, entweichen konnten. Es entstand ein Gasüberdruck, dessen Intensität unter anderem davon abhing, wie stark das Magma vorher mit Gasen durchsetzt war. Bei einem Vulkanausbruch treten deshalb entweder explosive – bei hohem Gasdruck – oder länger anhaltende, effusive Eruptionen – bei niedrigerem Gasdruck – auf. ==== Entstehung des Vulkans ==== Während es bei der Bildung des Oberrheingrabens in verschiedenen Regionen zu erhöhtem Vulkanismus kam – Beispiele sind der Kaiserstuhl in Südbaden, der Vogelsberg in Mittelhessen und der Katzenbuckel im Odenwald –, wurden im Gegensatz dazu im Bereich des pfälzischen Grabenbruchs nur am Pechsteinkopf bei Forst vulkanische Aktivitäten nachgewiesen. Dabei erfolgte seine Entstehung in mehreren Abschnitten: In einer ersten Phase kam es durch explosive Eruption zur Ausbildung eines Sprengtrichters, der sich mit vulkanischen Lockermassen (Tephra) wie etwa Bomben, Schlacke, Lapilli und Asche füllte. Anschließend stieg in einem zweiten Abschnitt Magma wahrscheinlich in ruhiger und nicht explosiver Form (effusive Eruption) nach oben, sodass es allmählich abkühlen und erstarren konnte. Es sonderten sich im Förderschlot des Vulkans innerhalb der Tephra dunkle, aufrecht oder schräg stehende Säulen aus Olivinnephelinit ab, wobei nicht sicher ist, ob das Magma die damalige Oberfläche erreichte. In diesem Zusammenhang äußern einige Autoren die Auffassung, dass während der effusiven Phase ebenfalls Gasexplosionen auftraten und Säulen zu Brocken zertrümmerten. Andere Autoren vertreten eine andere Erklärung. Die im Vulkanschlot erkennbaren, steil verlaufenden Spalten sind demnach nicht das Ergebnis der vulkanischen Aktivitäten, sondern späterer tektonischer Bewegungen im Grabenbruch. Zum Alter des Vulkans liegen unterschiedliche Angaben vor: Während ältere Untersuchungen von 29 oder 35 Millionen Jahren ausgingen, ergaben neuere geologische Untersuchungen unter anderem mit Hilfe der Kalium-Argon-Methode ein Alter von 53 Millionen Jahren.Bis in die 1980er Jahre wurde in einem Steinbruch das basaltartige Gestein großflächig abgebaut; das stillgelegte Gelände bildet ein Geotop, in welchem die verschiedenen, oben beschriebenen vulkanischen Prozesse und ihre Gesteinsablagerungen vor Ort besichtigt werden können. == Siehe auch == == Literatur == Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Der Pfälzerwald, Porträt einer Landschaft. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 1987, ISBN 3-9801147-1-6, S. 21–46. Michael Geiger: Die Landschaften der Pfalz. In: Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Geographie der Pfalz. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 2010, ISBN 978-3-9812974-0-9, S. 98–101. Jost Haneke/Michael Weidenfeller: Die geologischen Baueinheiten der Pfalz. In: Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Geographie der Pfalz. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 2010, ISBN 978-3-9812974-0-9, S. 74–91. Adolf Hanle: Meyers Naturführer, Pfälzerwald und Weinstraße. Bibliographisches Institut, Mannheim 1990, ISBN 3-411-07131-1, S. 7–12. Ulrike Klugmann (Hrsg.): Naturpark PfälzerWald Naturmagazin draußen, Nr. 24. Harksheider Verlagsgesellschaft, Norderstedt o. J., S. 20–29. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Geologie von Rheinland-Pfalz. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2005, ISBN 3-510-65215-0. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Geologische Übersichtskarte von Rheinland-Pfalz 1: 300 000. Mainz 2003. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Steinland-Pfalz. Verlag von Zabern, Mainz 2005, ISBN 3-8053-3094-4. Roland Walter: Geologie von Mitteleuropa. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-510-65225-9. Ludwig Spuhler: "Einführung in die Geologie der Pfalz". Verlag der pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Speyer, 432 S., 4 Karten, 55 + 106 Abb., Speyer 1957. Wolfgang Stucke: “Geologie und Tektonik im Bereich der Elmsteiner Störung zwischen Wilgartswiesen und Eschkopf (Pfälzerwald)”, 198 S., 94 Abb., (Doktorarbeit Universität Karlsruhe) Karlsruhe, 1977 Geologische Übersichtskarte 1 : 200 000 Blatt Mannheim, CC 7110, Hannover 1986. == Weblinks == Pollichia, Verein für Naturforschung und Landespflege e. V., Arbeitskreis Geowissenschaften Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz Deutsche Stratigraphische Kommission == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Geologie_des_Pf%C3%A4lzerwaldes
Armee
= Armee = Armee (frz. armée, zu armer‚ aufrüsten, ausrüsten, bewaffnen, und letztlich zu lat. arma‚ Waffen, Kriegsgerät) ist eine im späten 16. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche entlehnte Bezeichnung für eine militärische Streitmacht.Je nach Kontext bezeichnet der Begriff einen großen militärischen Verband, insbesondere einen aus mehreren Korps bestehenden Heeresverband, dem ein bestimmtes Einsatzgebiet zugewiesen ist (z. B. Rheinarmee, 1. US-Armee) das Heer, also die Gesamtheit der regulären Landstreitkräfte eines Landes, insbesondere in Abgrenzung zur Marine, also den Streitkräften zur See (so im Falle der napoleonischen Grande Armée, der Roten Armee bzw. Sowjetarmee oder auch der Gemeinsamen Armee Österreich-Ungarns) das Militär, also die Gesamtheit aller Verteidigungskräfte eines Landes (so im Falle der Nationalen Volksarmee der DDR oder auch der Schweizer Armee, die aus den Teilstreitkräften Heer und Luftwaffe besteht). == Armeen als Großverbände == Eine Armee ist ein unter der einheitlichen Führung eines Armeeoberkommandos stehender großer Truppenkörper der Heeresstreitkräfte, dessen Umfang und Zusammensetzung sehr verschieden ausfallen kann. Armeen werden häufig für einen bestimmten Zweck oder Kriegsschauplatz aus mehreren Korps und Armeetruppen (dem Armeeoberkommando direkt unterstellte Verbände und Einheiten) gebildet. Armeen haben organisatorisch und logistisch den Unterbau, der eigenständige und weiträumige Operationen ermöglicht. Neben den eigentlichen Kampftruppen gehören dazu besonders Truppen für die Logistik und das Sanitätswesen. Das Armeeoberkommando, geführt von einem Oberbefehlshaber, ist eine höhere Kommandobehörde, die alle Maßnahmen innerhalb ihres Operationsgebietes und in der Etappe (Erster Weltkrieg)/im Rückwärtigen Armeegebiet (Zweiter Weltkrieg) steuert. Der einer Armee übergeordnete Verband ist die Heeresgruppe, die größten untergeordneten Verbände sind Korps, die sich weiter in Divisionen gliedern. Zur Unterscheidung der einzelnen Armeen benutzt man üblicherweise eine Nummerierung, wie 1. Armee. Andere Unterscheidungen sind Himmelsrichtungen, die sich nach dem Operationsgebiet von irgendeiner Basis aus ergeben, wie Ostarmee. Auch nach geographischen Gegebenheiten werden Armeen benannt, wie Rheinarmee oder Alpenarmee. Daneben kann der Zweck der Armee zur Namensgebung dienen, z. B. Invasions-, Okkupations- oder Observationsarmee. Man spricht auch von Operations- oder Feldarmee, Reserve- und Besatzungsarmee. Diejenige Armee, bei der sich der Hauptkommandierende befand, wurde früher Hauptarmee, unter Napoleon I. auch Große Armee, genannt. Das Kommando über eine Armee führte ein Oberbefehlshaber, meist mit einem Chef des Stabes als erstem Führungsgehilfen und einem Armeestab. In der Bundeswehr gab und gibt es keine Armeen, ihre größten ständigen Verbände sind Divisionen, die im Einsatzfall den multinationalen Korps oder einem Hauptquartier zur Führung auf operativer Ebene, z. B. Multinationales Kommando Operative Führung, unterstellt werden. Im Kalten Krieg war die direkte Unterstellung der acht NATO-Korps auf deutschem Gebiet unter die beiden Heeresgruppen (army groups) NORTHAG und CENTAG vorgesehen. Diese Heeresgruppen entsprachen von der geographischen Ausdehnung ihres Kommandos her etwa denen des Zweiten Weltkriegs, in ihrer Größe eher Armeen. Nur die beiden amerikanischen Korps bildeten im Frieden die 7. US-Armee. Die NATO-Kommandostruktur konnte mit dem Ende des Kalten Krieges gestrafft werden, der Bedarf für Verbände über Korpsgröße entfiel für die NATO. Die jetzt multinationalen Korps, denen die Bundeswehr angehört, sind direkt SHAPE unterstellt. Diesem untergeordnet sind die Allied Joint Force Command als Kommandos, für Europa Mitte Brunssum. Diesem nachgeordnet ist für die Landstreitkräfte Europa Mitte das Land Command Izmir als Nachfolger von NORTHAG und CENTAG. == Erster Weltkrieg == === Deutschland === Im Heer des deutschen Kaiserreichs existierten als Kommandobehörden oberhalb der Armeekorps die Armee-Inspektionen (zuletzt Nr. I bis VIII), die im Ersten Weltkrieg in Armeeoberkommandos umgewandelt/umbenannt wurden. In Österreich-Ungarn war das bei Kriegsbeginn im Sommer 1914 eingerichtete Armeeoberkommando (A.O.K.) – es gab nur eines – Befehlszentrale für sämtliche im Einsatz befindlichen Land- und Seestreitkräfte der Doppelmonarchie. == Zweiter Weltkrieg == === Deutschland === Im Zweiten Weltkrieg führte bei der Wehrmacht ein AOK (Oberbefehlshaber: i. d. R. Generaloberst aufwärts) mehrere Armeekorps und verfügte über eigene (Armee-)Truppen z. B. schwere Artillerie, Pioniere und sonstige Sondertruppen, die ihm nach Verfügbarkeit und Auftrag unterstellt wurden. Das AOK war als Führungsmittel zwischen der Heeresgruppe und den Armeekorps angesiedelt. Anforderung und Verteilung von Nachschub lief jedoch in der Regel direkt über den Oberquartiermeister des AOK; das Heeresgruppenkommando war damit nur in Krisensituationen befasst. Das Zuständigkeitsgebiet eines AOK teilte sich in das Operationsgebiet, das wiederum auf Korps- und Divisionsebene unterteilt war, und das Rückwärtige Armeegebiet, das dem „Kommandanten rückwärtiges Gebiet“ (Korück) unterstand. Im Kriegsverlauf wurden in bestimmten Lagen als Provisorium neben den AOKs auch Armeeabteilungen und Armeegruppen gebildet. Diese verfügten oftmals nicht über alle vorgesehenen Führungsmittel und waren nach dem jeweiligen Befehlshaber benannt. ==== Gliederung eines AOK ==== Die normale Gliederung eines Armeeoberkommandos im Zweiten Weltkrieg umfasste: Befehlshaber des Armeeoberkommandos Chef des Generalstabes (z. B. Generalmajor) Abteilung I (Führungsabteilung) Erster Generalstabsoffizier (Ia) (Operationen) Dritter Generalstabsoffizier (Ic) (Feindlage) Vierter Generalstabsoffizier Id (Ausbildung) Nationalsozialistischer Führungsoffizier (NSFO; ab 1944) Abteilung II (Adjutantur – Verwaltung) 1. Adjutant IIa (Personalangelegenheiten der Offiziere) 2. Adjutant IIc (Personalangelegenheiten der Unteroffiziere und Mannschaften) Oberquartiermeisterabteilung (Nachschub) Zweiter Generalstabsoffizier (Oberquartiermeister) Armeearzt IVb Armeeveterinär IVckommandiert: Höherer Artilleriekommandeur (Harko) Armeepionierführer (A.Pi.Fü) Armeenachrichtenführer (A.Nachr.Fü.) Stabsoffizier für Gasabwehr Stabsoffizier für Panzerbekämpfung (Stopak) ==== Armeeoberkommandos ==== ==== Panzer-Armeeoberkommandos ==== === Frankreich === Frankreich stellte insgesamt vier Heeresgruppen in der Verteidigung gegen den Westfeldzug der Wehrmacht auf: ==== Heeresgruppe 1 (GA1) ==== Unter Gaston Billotte und später Georges Maurice Jean Blanchard. Während sich die Heeresgruppe 1 im Juni 1940 auf Dünkirchen zurückzog, besetzte die 2. Armee die „Weygand-Linie“. 1. Armee (Georges Blanchard, René Prioux, Jean de Lattre de Tassigny) 2. Armee (Charles Huntziger, Henry Freydenberg) 7. Armee (Henri Giraudd, Aubert Frère) 9. Armee (André Georges Corap) ==== Heeresgruppe 2 (GA2) ==== Unter André-Gaston Prételat und später Charles-Marie Condé 3. Armee (Charles-Marie Condé) 4. Armee (Édouard Réquin), im Juni 1940 schloss sie sich der 4. Heeresgruppe an. 5. Armee (Victor Bourret) 8. Armee (Marcel Garcherey, Émile Laure), ab 20. Mai 1940. ==== Heeresgruppe 3 (GA3) ==== Unter Benoît Besson 6. Armee (Robert Touchon) 7. Armee 8. Armee, bis 20. Mai 1940 ==== Heeresgruppe 4 (GA4, „Weygand-Linie“) ==== Unter Charles Huntziger. Die Weygand-Linie von General Maxime Weygand war eine im Mai 1940 geschaffene militärische Auffangstellung der französischen Armee. 2. Armee 4. Armee 10. Armee (Robert Altmayer), am 31. Mai 1940 wurde am Unterlauf der Seine erneut eine 10. Armee aufgestellt == Weblinks == == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Armee
Geschichte Matreis in Osttirol
= Geschichte Matreis in Osttirol = Die österreichische Marktgemeinde Matrei in Osttirol mit ihren heute knapp 5.000 Einwohnern gehörte ab dem Beginn des 13. Jahrhunderts zum erzbischöflichen Herrschaftsgebiet Salzburg. Dadurch wurde das Gebiet lange Zeit vom zu Tirol gehörenden, umliegenden Gebiet isoliert. Erst die Ereignisse rund um die Napoleonischen Kriege bewirkten, dass Matrei Teil Tirols wurde. Wirtschaftlich blieb Matrei lange ein unterentwickeltes, von der Landwirtschaft geprägtes Gebiet. Durch den Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Tourismus begann jedoch ein allmählicher Aufschwung der Gemeinde. == Namensgebung == Erstmals urkundlich erwähnt wurde Matrei im Jahr 1170 als Matereie. Wie der Name von Matrei am Brenner dürfte auch der Name von Matrei in Osttirol aus vorrömischer Zeit stammen und illyrischen Ursprungs sein. Abgeleitet wird der Ortsname vom indo-europäischen mater, der auf eine im Ostalpen- und Mittelmeerraum verehrte, göttliche Mutter zurückgeht, deren heimische Lautung Anna divia Damatria (die göttliche Herrin Erd-Mutter) war. 1335 wurde der Ort in einem Weihebrief für die nach einem Brand neu errichtete Kirche als in bindisch Matrey (Windisch-Matrei) bezeichnet. Die Bezeichnung Windisch ist jedoch nicht auf die zu dieser Zeit bereits assimilierten Alpenslawen zurückzuführen, sondern diente der Unterscheidung des Ortes von Matrei am Brenner und war auch als Bezeichnung für die Zugehörigkeit zum Land Kärnten gebräuchlich. Die Bezeichnung Windisch-Matrei setzte sich jedenfalls auch in der Salzburger Kanzlei durch und blieb bis nach dem Ersten Weltkrieg amtlich. Um die oft irreführende Bezeichnung „Windisch“ zu ändern und auch um den Tourismus anzukurbeln, beschlossen 1921 Vertreter der Markt- und Landgemeinde eine Umbenennung in „Matrei am Großvenediger“, dies wurde jedoch von der Landesregierung abgelehnt. Deshalb wählten die Gemeindevertreter den Namen „Matrei in Osttirol“. Nachdem 1938 Osttirol jedoch Kärnten zugeschlagen wurde, stand der Name „Matrei in Kärnten“ zur Diskussion. Da sich aber die Matreier gegen diese Bezeichnung wehrten, setzte sich nun das früher propagierte „Matrei am Großvenediger“ durch. 1945 wurde der Name jedoch wieder in die heutige Form Matrei in Osttirol (offizielle Schreibweise Matrei i. O.) geändert. == Ur- und Frühgeschichte == Aufgrund fehlender Funde liegt die Urgeschichte des Matreier Gemeindegebietes im Dunkeln. Neolithische Jäger waren jedoch in Osttirol bereits im 7. bis 6. Jahrtausend vor Christus anwesend, wie eine 1987 am sogenannten Hirschbichl in St. Jakob im Defereggental entdeckte Fundstelle beweist. Mit der Jungsteinzeit (6. bis 3. Jahrtausend v. Chr.) setzten sich in Osttirol Ackerbau und Viehzucht sowie Töpferei und Hausbau durch, Funde aus Matrei fehlen jedoch auch für diese Periode. Aus der frühen und mittleren Bronzezeit (ca. 22. bis 13. Jahrhundert v. Chr.), in der die Bronze den Stein als bestimmenden Werkstoff ablöste, sind erstmals auch Funde auf dem Gemeindegebiet Matreis bekannt. Am Matreier Klaunzerberg befand sich in der frühen Bronzezeit ein Schmelzplatz, an dem Keramikfunde ausgegraben wurden. In der späten Bronzezeit (Urnenfelderkultur) war Osttirol von der sogenannten Laugen-Melaun-Kultur geprägt, die sich vom Alpenrheintal über Tirol bis ins Kärntner Drautal erstreckte. In Matrei wurden aus dieser Zeit schlanke mittel- und endständige Lappenbeile aus Bronze entdeckt. == Eisen- und Römerzeit == Mit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. begann in Osttirol die ältere Eisenzeit, die auf Grund des Hauptfundortes auch Hallstattzeit genannt wird. Diese Periode war vor allem von der verstärkten Verwendung des Eisens geprägt, das zuvor kaum verwendet worden war. Funde aus dieser Zeit sind besonders aus dem benachbarten Virgen bekannt. Die folgende jüngere Eisenzeit (La-Tène-Zeit), war in Osttirol von der Fritzens-Sanzeno-Kultur geprägt. Kennzeichen dieser Kultur sind unter anderem die typische Hausform (eingetiefte Häuser mit winkeligen Zugängen) und Keramiken mit seicht eingestrichenen oder gestempelten Mustern. Diese Keramiken entdeckte man auch in Matrei (Weißenstein). Etwa um 100 v. Chr. fiel der Osttiroler Raum an die Kelten. Das Römische Reich schloss einen staatlichen Freundschaftsvertrag mit dem keltischen Königreich Noricum, um sich den Zugriff auf die Erzlagerstätten zu sichern. Im Gegensatz zum benachbarten Rätien kam Noricum jedoch 15 v. Chr. friedlich ans Römische Reich. Als Zentrum Osttirols entwickelte sich zu dieser Zeit Aguntum. Matrei spielte jedoch als Ausgangspunkt in das kupferreiche Virgental und als Kreuzungspunkt des Saumwegs über den Felber Tauern bereits früh eine gewichtige Rolle. Die Funde aus Matrei und Umgebung werden heute vom örtlichen Museumsverein gesammelt und ausgestellt. == Matrei im Mittelalter == === Matrei im Frühmittelalter === Ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. drangen immer stärker germanische und slawische Stämme in die römischen Provinzen ein und zerstörten das benachbarte Aguntum. Zunächst rückten im 6. Jahrhundert die Baiern von Norden aus vor und stießen bis ins Pustertal vor. Als jedoch die Slawen von den Awaren bedroht wurden, drangen die Slawen immer weiter nach Westen vor und besiedelten schließlich das Drau- und Iseltal und somit auch das Gebiet von Matrei. Die Landnahme dürfte dabei großteils friedlich gegenüber der einheimischen Bevölkerung verlaufen sein, da durch die Abwanderung der Römer ausreichend freier Siedlungsraum vorhanden war. Zusätzlich erschlossen die Slawen neue Wirtschafts- und Siedlungsgebiete. Im 8. Jahrhundert geriet das slawische Karantanien, das eine wesentlich größere Ausdehnung als das heutige Kärnten hatte, an das Herzogtum Bayern und wurde von bairischen Kolonisten besiedelt. Slawische Machtträger wurden immer mehr durch bayrisch-fränkische Adelige verdrängt. Es folgte die Christianisierung der Region, wobei sich zunächst das Patriarchat Aquileia durchsetzte und wahrscheinlich die Urpfarrei Virgen (später Landdekanat Virgen mit Matrei, Kals und Defereggen) gründete. Für das Gebiet um Matrei setzte sich jedoch letztlich das Erzbistum Salzburg durch. Durch die Festlegung der Diözesangrenzen 811 durch Karl den Großen konnte das Erzbistum Salzburg seine Grenzen über die Iselregion sowie über das Gebiet links der Drau ausdehnen. === Matrei im Hochmittelalter === Der Kärntner Lurngau reichte im Hochmittelalter etwa von Spittal an der Drau bis zum Anraser Bach. Der Lurngau umfasste aber auch das Iseltal und die Region um Matrei. Urkunden belegen die Zugehörigkeit des Matreier Ortes Zedlach (Cetulic) zum Lurngau in den Jahren 1022 und 1029. Auch durch die Besitzverhältnisse war Matrei mit dem Lurngau verbunden. Der aus Oberschwaben stammende Graf Wolfrat von Alshausen-Isny-Veringen hatte zunächst Güter im Lurngau erworben. Sein Sohn Wolfrat II., der sich im Jahr 1121 erstmals Graf von Treffen nannte, verfügte jedoch nicht nur über Besitz am Ossiacher See, er gelangte auch in den Besitz von Lengberg und einer großen Grundherrschaft in Matrei. Während Wolfrats Sohn Ulrich II. zum Patriarchen von Aquileia ernannt wurde, heiratete Wilbirgis, eine seiner beiden Töchter, den Grafen Heinrich von Lechsgemünd, dessen Herrschaftsbereich im Oberpinzgau lag. Als Heiratsausstattung brachte Wilbirgis die Besitzungen und Burgen von Lengberg und Matrei in die Ehe ein. Heinrich konnte somit seine Herrschaft über den Alpenhauptkamm nach Süden ausdehnen, sein Stammschloss lag jedoch an der Mündung des Lechs in die Donau. Nach seinen Besitzungen in Matrei nannte sich Heinrich in der Folge oftmals auch „Graf von Matrei“, der Ort war jedoch nie eine Grafschaft, sondern immer nur eine „Herrschaft“. In ihrem Testament vermachte Wilbirgis die Schlösser Matrei und Lengberg jedoch rechtsgültig dem Patriarchat Aquileia, ihr Gatte verkaufte jedoch all seine Besitzungen im Jahr 1207 für 2850 Mark Silber dem Erzbischof Eberhard von Salzburg. Nur den Ertrag der Herrschaft Lengberg behielt Heinrich bis zu seinem Tod. Nach dem Tod Heinrichs (vor 1212) entbrannte zwischen Salzburg und Aquileia ein Streit um den Besitz von Matrei und Lengberg, wobei jedoch auch andere Besitzstreitigkeiten zur Klärung anstanden. Ein Schiedsgericht in Anras legte 1212 schließlich fest, dass alle Güter der Kontrahenten an den jeweiligen Inhaber des Diözesangebiets übergehen sollten. Dadurch fielen Matrei und Lengberg, weil im Salzburger Diözesangebiet gelegen, an das Erzbistum Salzburg. Ob der Auslöser für den Verkauf Matreis an den Salzburger Erzbischof die Zerstörung des Ortes im 12. Jahrhundert durch eine Naturkatastrophe war, bleibt Spekulation. Nach einer Sage soll sich der Hauptort einst zwischen dem heutigen Westende des Marktes und dem Schloss Weißenstein befunden haben. === Matrei als Teil Salzburgs === Matrei wurde durch die neue Zugehörigkeit zu Salzburg in eine Randposition gedrängt. Vom Salzburger Kernland war es durch den Felber Tauern abgetrennt, der nur wenige Monate im Jahr passierbar war. Engere Beziehungen zu Tirol, das nun „Ausland“ war, wurden hingegen durch Handelsbehinderungen und amtliche Schikanen eingeschränkt. Zum Salzburger Gebiet gehörten neben Matrei-Markt und Matrei Land (so die spätere Bezeichnung) auch Streulagen im Defereggental. Ob die Kienburg, deren Besitz oftmals den Lechsgemündern zugeschrieben wird, zu diesem Zeitpunkt im Besitz Salzburgs war, geht aus den Quellen jedoch nicht hervor. Spätestens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte Matrei auch bereits das Marktrecht erhalten. Wann genau der Ort zum Markt erhoben worden war, ist jedoch nicht nachgewiesen. Matrei galt zudem als Salzburger Urpfarre, die neben dem heutigen Pfarrgebiet auch Mitteldorf, Huben und das Defereggental mit Ausnahme von St. Jakob umfasste. Das Erzbistum hatte jedoch nicht nur kirchlichen und politischen Einfluss, es stellte auch den größten Grundbesitzer in Matrei dar und besaß so viele Leibeigene, dass diese auf den eigenen Gütern nicht alle eingesetzt werden konnten. Neben dem Erzstift traten als Grundherren vor allem die Grafen von Görz sowie kirchliche Institutionen auf. Als Lehensformen gab es in Matrei das Beutellehen und das Freistift, das jedoch immer mehr an Bedeutung verlor. Zur Verwaltung residierte einst ein Burggraf mit einem Richter auf Schloss Weißenstein, um 1300 werden hingegen erstmals ein Pflegrichter und ein Amtmann (Urbarbeamter) genannt, die die Besitztümer des Erzstiftes verwalteten. Die unterschiedlichen Besitzverhältnisse und Interessen brachten Mitte des 13. Jahrhunderts aber auch Krieg und Verwüstung nach Matrei. Philipp von Spanheim, seit 1247 Elekt-Erzbischof von Salzburg, stand im Konflikt mit Kaiser Friedrich II. Da er einen Einfall kaiserlicher Truppen ins Ennstal fürchtete, nahm der Erzbischof präventiv die kaiserlichen Burgen ein. Graf Meinhard III. von Görz, der auf der Seite des Kaisers stand, griff daraufhin dreimal Matrei und Virgen an und plünderte die Dörfer. 1252 wurde der Konflikt schließlich durch den Frieden von Lieserhofen beigelegt, durch den die Festung Virgen an Salzburg ging und Schloss Matrei zurückgegeben werden musste. Die Kienburg blieb jedoch auch in der Folgezeit umstritten und wechselte immer wieder den Besitzer. Auch die Pfarrkirche blieb nicht von Katastrophen verschont. 1326 brannte sie ab, der Neubau wurde 1335 geweiht. == Matrei in der frühen Neuzeit == === Der Markt Matrei === Die Bürger des Marktes Matrei besaßen ab 1500 durch die Einführung des Marktrichteramtes eine gewisse Selbstverwaltung. Dieses Amt umfasste zwei Kämmerer (Kassierer) und drei bis acht Ausschussmitglieder, darunter später auch einige aus den umliegenden Rotten. Von den erwachsenen männlichen Bürgern wurde der Marktrichter gewählt. Den Pflegrichter für die Pflegschaft Matrei stellte hingegen ab 1617 die Familie Lasser, von 1721 bis 1804 war das Amt in dieser Familie zudem erblich. Die Familie Lasser baute auch den 1530 errichteten Amtskasten zu einem Gerichtsgebäude mit Gefängnis und Pferdestall um, woraufhin die Pflegeverwaltung vom Schloss in den Amtskasten wechselte. 1616 gab es 30 Bürgerhäuser im Markt Matrei. Sie waren alle bereits seit etwa 1600 in Privatbesitz und nicht mehr Burglehen. Der Bürgerstand war mit Hausbesitz verbunden, und die Bürger hatten Privilegien wie Gastbetrieb, Handelsgeschäfte, Bierbrauen und Alkoholausschank inne. Die Bürger selbst waren in der Regel Nachkommen früherer Edelfreier, erzfürstliche Dienstleute, aber auch tüchtige Leibeigene gewesen. Daneben lebten in Matrei die Söllhäusler, die kleine Häuser innerhalb des Burgfrieds errichten durften, und Einwohner, die weder Grund- noch Hausbesitz hatten. Beide Gruppen stellten im Ort die Gruppe der Gewerbetreibenden und Arbeiter. Die Lebensgrundlage des Marktortes blieb auch in der frühen Neuzeit die Landwirtschaft. 1592 gab es im Ort lediglich 18 Handwerker und Gewerbetreibende, die zunftmäßig organisiert waren. Verdienstmöglichkeiten boten auch die zahlreichen Erzgruben um Matrei sowie der Verkehr über den Felber Tauern. Der Handel spielte hingegen keine große Rolle. Zahlreiche Menschen verließen Matrei im Frühjahr auch über den Tauern und arbeiteten im angrenzenden Pinzgau als Weber, Handwerker oder Tagelöhner. === Aufstände und Pestepidemien === Durch die massiven Steuererhöhungen Anfang des 16. Jahrhunderts verschlechterte sich die Lage der Landbevölkerung in Salzburg und Tirol massiv. Zudem bereicherten sich die örtlichen Beamten durch die Eintreibung willkürlicher Steuern. In Tirol und Salzburg löste dies ähnlich wie in weiten Teilen des Deutschen Reichs Bauernaufstände aus, an denen sich auch die Matreier 1525 beteiligten. Während der örtliche Pfleger flüchten konnte, sperrte die Bevölkerung alle anderen Beamten im Schloss Weißenstein ein und plünderten Schloss und Amtshof. König Ferdinand I. nützte die Gelegenheit und besetzte Matrei. Er anerkannte die Aufrührer, während diese ihm huldigten und so kurzfristig Tiroler wurden. Bereits im November 1526 musste die Tiroler Regierung jedoch die Herrschaft und das Schloss an den Erzbischof zurückgeben. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts sind immer wieder starke Ausbrüche von Pest und anderen Epidemien überliefert. 1564/65 starben an einer pestartigen Seuche 99 Personen. 1571 und 1592/93 lassen hohe Sterbezahlen ebenfalls auf ansteckende Krankheiten schließen. 1649 wurde erneut die Pest eingeschleppt. Willkürliche Steuererhöhungen sorgten im 17. Jahrhundert immer wieder für Aufstände. 1645 führte die Einführung einer Sondersteuer im Zillertal zu einem Aufstand, der sich auch auf Matrei ausbreitete. Auch 1672, 1678 und 1685 musste Salzburg Soldaten nach Matrei senden, um die Untertanen in die Schranken zu weisen. Zum größten Aufstand kam es jedoch zur Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs. Nachdem die Kleine Eiszeit geringe Ernten bewirkt hatte, erschöpften sich die Bergwerke und 1702 kam es zu einer starken Vermurung. Als 1703 nun die Weihesteuer für den neuen Dompropst zu zahlen war, sahen sich die Bürger außerstande, diese Steuer zu zahlen. Eine Beschwerdekommission der Bürger wurde jedoch in Salzburg gefangen genommen. Andere Rebellen wurden mittels gefälschter Briefe aus Matrei gelockt. Schließlich erreichte der Aufstand jedoch einen Steuernachlass und einen gerechteren Steuerschlüssel. == Matrei im 18. und 19. Jahrhundert == === Neubau der Pfarrkirche === Wichtigstes Ereignis im Matrei des 18. Jahrhunderts war der Neubau der Pfarrkirche St. Alban. Auf erzpriesterliches Urteil und mit einer Genehmigung aus Salzburg wurde zunächst zwischen 1737 und 1741 der baufällige Pfarrhof abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. 1776 wurde mit dem Neubau der Kirche begonnen, die zu dieser Zeit zwar nicht baufällig, aber viel zu klein geworden war. Die Arbeiten hierzu wurden 1783 vollendet, die Weihe fand jedoch erst am 28. Oktober 1789 statt. === Matrei während der Napoleonischen Kriege === Kurze Zeit später warfen bereits die napoleonischen Kriege ihren Schatten auf Matrei voraus. 1797 beteiligten sich die Matreier an der Abwehr des Franzoseneinfalls durch die Tiroler Schützen, 1800 musste der Salzburger Erzbischof Hieronymus Franz Josef von Colloredo-Mannsfeld nach Wien flüchten. Er regierte sein Land bis 1803 von Wien aus, als der Reichsdeputationshauptschluss des Deutschen Reiches alle geistigen Fürstentümer auflöste. Salzburg fiel somit als Austausch für die nun napoleonische Toskana an Erzherzog Ferdinand III., den Bruder von Kaiser Franz. Der Rekrutierung zur Sicherung des Landes widersetzten sich jedoch die Matreier, nur unter Zwang konnten vier der elf geforderten Rekruten nach Salzburg gebracht werden. Nach dem Frieden von Pressburg erhielt Österreich nun endgültig Salzburg zugesprochen. Tirol war bereits 1805 zu Bayern gekommen, Matrei hingegen gehörte nun zu Österreich. Deshalb beteiligten sich die Matreier zunächst auch nicht am Aufstand der Tiroler gegen die bayrische Herrschaft. Erst als Napoleon im Herbst 1809 Österreich besiegte, kam auch Salzburg an Bayern. Der Matreier Pflegsverwalter Ägidius Kienberger versuchte, die Matreier aus dem herannahenden Konflikt herauszuhalten, was ihm jedoch nicht gelang. Nachdem die Tiroler am 1. November die Schlacht am Bergisel gegen die Franzosen verloren hatten, drangen zwei Tage später die Franzosen in Osttirol ein. Die Osttiroler erzielten zwar am 10. November im Iseltal und am 8. Dezember bei Ainet einen Sieg, danach brach jedoch der Widerstand zusammen. Am 24. Dezember drangen die Franzosen schließlich in Matrei ein und bezogen Quartier im Ort. Da man der gesuchten Schützenführer Anton Wallner und Johann Panzl nicht habhaft werden konnte, richtete man stattdessen am 29. Dezember Franz Obersamer und Johann Weber hin. Matrei wurde schließlich 1811 endgültig von Salzburg abgetrennt und den neugeschaffenen drei illyrischen Provinzen zugeschlagen, im engeren Sinn der illyrischen Provinz Kärnten. Es folgte die Einführung von französischen Gesetzen, französischem Geld und französischer Verwaltung. Matrei wurde als größere Verwaltungseinheit („Canton“) Sitz eines Richters und eines Einnehmers. Darunter standen die „Arrondissements“ (Gemeindebezirke), denen ein „Maire“ (Bürgermeister) vorstand. Die ursprüngliche Verwaltung mit dem Pfleggericht wurde aufgelöst, Johann Josef Wohlgemut wurde zum ersten Bürgermeister Matreis ernannt. Bereits am 12. November 1813 endete jedoch die Herrschaft der Franzosen in Matrei mit dem Einrücken österreichischer Truppen. Kaiser Franz I. ordnete anschließend die Vereinigung Windisch-Matreis und Lengbergs mit Tirol an. Die Übergabe erfolgte am 26. Februar 1814, wodurch die 600-jährige Isolation Matreis endgültig beendet wurde. === Matrei als Teil Tirols === Die Angliederung Matreis an Tirol bewirkte insbesondere eine allmähliche Befreiung der Bauern von den drückenden Grundlasten. 1835 erwirkte die Hofkammer eine Abschaffung aller nicht ursprünglichen Abgaben wie Vogtei-, Jäger- und Burgrechte. Gleichzeitig wurden die unter staatliche Verwaltung gekommenen Freistifte in Erblehen umgewandelt und die hohen Freistiftehrungen abgeschafft. Der jährliche Grundzins für staatliche Güter wurde 1843/44 auf die Hälfte reduziert. 1848 wurde schließlich vom österreichischen Parlament die Erbuntertänigkeit abgeschafft. Grundherren durften nur jenen Teil behalten, den sie bewirtschaften konnten, alle Leistungen der Bauern an die Grundherren wurden abgeschafft und der Agrarbesitz ging in das Eigentum der Bauern über. Diese mussten lediglich ein Drittel des Wertes an den Grundherren zahlen, ein weiteres Drittel wurde dem Eigentümer vom Staat erstattet. Durch das Inkrafttreten der Tiroler Gemeindeordnung im Jahr 1866 wurde auch das Gemeindewesen in Matrei grundlegend reformiert. Als Bestandteil Salzburgs hatte das Land- oder Pfleggericht Windisch-Matrei noch aus 28 Rotten oder Steuergemeinden bestanden, von denen 16 im heutigen Gemeindegebiet und 12 im Defereggental liegen. Als Matrei 1810 den illyrischen Provinzen zugeschlagen wurde, bildete man drei Gemeinden, Windisch-Matrei, Virgen (mit Prägraten) und Defereggen, die dem Friedensgericht (Kanton) Matrei unterstanden. Kals hingegen gehörte bereits zum Kanton Lienz. 1817 folgte eine Neueinteilung der Gemeinden, die im Wesentlichen den heutigen Zustand widerspiegelt, allerdings wurde je eine Gemeinde Windisch-Matrei-Markt sowie Windisch-Matrei-Land gebildet, erst 1938 wurden die beiden Gemeinden zusammengeschlossen. Die Gemeindegrenzen wurden nun auf Dauer festgelegt, lediglich 1856 erhielt Matrei die früher zu Virgen gehörende Schattenseite des Frosnitztales zugesprochen. Zur Verwaltung der Gemeinden wurde 1866 das Amt des Bürgermeisters geschaffen, allerdings hatten die Bürgermeister noch wenige Rechte und unterlagen der Aufsicht des Landgerichts. Ihnen standen die Ausschussmitglieder (Gemeinderäte) zur Seite, im Markt waren es drei, in der Landgemeinde 14 Mitglieder. Die Wahlen waren jedoch durch das eingeschränkte Wahlrecht sehr undemokratisch und verliefen auch nach der Wahlrechtsänderung 1907 sehr einseitig, da die Matreier lediglich Abgeordnete der Christlichsozialen Partei bzw. des Tiroler Bauernbundes wählten. Zwischen 1868 und 1895 verfügte Matrei auch über einen Vertreter im Tiroler Landtag. === Aufschwung des Tourismus === Um 1860 basierte die Lebensgrundlage der Matreier Bevölkerung noch fast ausschließlich auf der Landwirtschaft. Wenig später kam der Tourismus als Erwerbsquelle hinzu. Für Matrei ausschlaggebend war der Alpinismus, denn als 1865 die Erstbesteigung des Großvenedigers von der Tiroler Seite aus gelang, wurden das Innergschlöß, das Matreier Tauernhaus und der Markt selbst zu einem der ersten Tourismuszentren der Ostalpen. Vor allem die Geschäfte der Gastwirte und das Verkehrsgewerbe florierten nun, aber auch Bauern und Hirten konnten sich als Bergführer ein Zubrot verdienen. Wegbereiter für den Tourismus war der Deutsche und Österreichische Alpenverein, der 1871 die älteste Prager Hütte am Großvenediger errichtet. Alpenvereinsmitglied Hermenegild Hammerl, Rauterwirt in Matrei, errichtete die Hütte im Auftrag der Sektion Prag und erbaute auch das Haus am Kals-Matreier-Törl sowie den Reitweg dorthin. Auch die Sektion „Iseltal in Windisch-Matrei“ dürfte auf ihn zurückgehen. In den folgenden Jahrzehnten errichtete man weitere Berghütten und baute Wanderwege aus. Ende des 19. Jahrhunderts wurden schließlich die Schlossbesitzer von Weißenstein zu den Förderern des Tourismus. Baron Adalbert von Mengershausen, selbst Alpenvereinsobmann, und der Münchner Versicherungsdirektor Karl von Thieme investierten viel Geld in den Fremdenverkehr und gaben der Matreier Alpenvereinssektion den finanziellen Rückhalt um beispielsweise zwischen 1902 und 1912 den Wanderweg durch die Prosseggklamm zu bauen. 1914 gab es bereits neben dem großen Gasthof Rauter (40 Zimmer) weitere sechs Gasthöfe (Wohlgemuth, Plangger, Brau, Hutter, Panzl und Tobias Unterrainer) sowie fünf Vermieter von Privatzimmern. === Armut, Vermurung und der Großbrand Ende des 19. Jahrhunderts === Wirtschaftlich hatte sich die Lage der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich verändert. Immer noch litten große Teile an Armut und mussten außerhalb der Gemeinde nach Arbeit suchen. So verließen etwa im Jahre 1889 100 junge Matreier über die Sommermonate den Ort, um in den Bergwerken der Steiermark (vor allem in Eisenerz) zu arbeiten. Die Armut führte auch dazu, dass es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Auswanderungsbewegung kam, die mit starken Schwankungen bis zum Zweiten Weltkrieg andauerte. Zur alltäglichen Not kamen Ende des 19. Jahrhunderts aber auch schwere Katastrophen. Zunächst brannte vom 30. auf den 31. März die Ortschaft Bichl nieder, wobei neun Anwesen vernichtet wurden. Am 21. und 22. Juli 1895 verwüstete der Bretterwandbach Matrei und vermurte Teile des Ortes. Zur größten Katastrophe kam es jedoch am 10. Mai 1897. Nachdem im Bereich des Matreier Spitals ein Haus in Brand geraten war, löste der durch den Tauernwind ausgelöste Funkenflug einen Großbrand aus. Der Hintermarkt brannte völlig nieder und auch der Vordermarkt war betroffen. Innerhalb von drei Stunden standen 78 Objekte in Flammen. Gerettet werden konnten lediglich 10 Häuser in der oberen Patergasse, drei Häuser in der Rieglergasse und ein Haus im Hintermarkt. Auch die Kirche, das Widum und das Pfarrfutterhaus konnten dank des Einsatzes der Virgener und Mitteldorfer Feuerwehr vor dem Brand bewahrt werden. Es dauerte zwei Jahre, bis der Ort wieder aufgebaut war. Einen Wiederaufbau des Ortes abseits des Bretterwandbaches verwarf man hingegen zu Gunsten der Verbauung des Baches. == Matrei im 20. Jahrhundert == === Investitionen in die Infrastruktur === Während Lienz durch den Bau der Drautal- und Pustertalbahn 1870/71 an höherrangige Verkehrsnetze angeschlossen wurde, blieb Matrei dies vorerst verwehrt. Eine Bahnlinie über den Felber Tauern wurde zugunsten des Bahnprojekts Mallnitz-Bad Gastein (Tauernbahn) verworfen, und auch einer Lokalbahn erteilte man nach Debatten Anfang des 20. Jahrhunderts eine Absage. Um den Tourismus in Matrei zu steigern, wurde nun der Straßenbau forciert. Die Iseltalstraße im Gemeindegebiet Matreis bis Huben erneuerte man bereits in den 1880er Jahren völlig und nach langen Verhandlungen über die Teilung der Erhaltungskosten begann im Jahr 1901 der Bau der neuen Iseltalstraße. Zur Finanzierung wurde beim Gasthaus Brühl eine Mautstation errichtet. Der Straßenzustand war aber in der Folge so schlecht, dass die Straße für Autos gesperrt wurde und erst 1923 wieder für Autos freigegeben werden konnte, ohne dass sich jedoch etwas am Straßenzustand geändert hatte. Ab 1913 führte man immerhin eine dreimal täglich verkehrende Autobuslinie ein. Pläne zur Verwirklichung eines Kraftwerks in der Proseggklamm gab es erstmals 1903, wobei dieses Kraftwerk auch die Stadt Lienz und die geplante Iseltalbahn hätte versorgen sollen. Da die Verhandlungen jedoch scheiterten und auch ein Kraftwerk bei Huben nicht zustande kam, wurde im November 1913 ein kleines, privates Elektrizitätswerk fertiggestellt. Nach einer „Energiekrise“ 1919 wurde weiters ein Gemeindekraftwerk am Steiner Wasserfall verwirklicht. Insgesamt wurde das Gemeindekraftwerk dreimal erweitert und 1979 von der TIWAG übernommen. Zwischen 1943 und 1969 versorgte es auch das Virgental. Die Versorgung mit einer Hochdruckwasserleitung dauerte hingegen länger. Zwar war ein Projekt dafür bereits 1913 ausgearbeitet, doch erst 1930 gab es die notwendige Mehrheit im Gemeinderat. Im August 1931 konnten bereits die ersten Hydranten durch Bürgermeister Obwexer eröffnet werden, die Hausanschlüsse wurden zu dieser Zeit noch fertiggestellt. Auf eine moderne Kanalisation mussten die Matreier jedoch noch bis in die 60er Jahre warten. === Matrei in der Zwischenkriegszeit === Die Dominanz konservativer Parteien blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg in Matrei erhalten. Bei den Landtagswahlen 1921 gab es beispielsweise für die Sozialdemokraten in beiden Matreier Gemeinden keine einzige Stimme. Nur die Nationalsozialisten erreichten zu Beginn der 1930er Jahre einigen Zulauf, jedoch kam es in Matrei zu keinen tätlichen Auseinandersetzungen. Um die Sozialdemokraten blieb es weiterhin ruhig, nur in Huben wurde in einer Flugblattaktion der Zusammenschluss von Bauern und Arbeitern gefordert. Die Ausrufung des autoritären Ständestaats 1934 machte sich jedoch auch in Matrei bemerkbar. Zahlreiche Organisationen der Austrofaschisten beherrschten nun mit Kundgebungen und Veranstaltungen das Ortsbild. Die Wahlen zum Gemeinderat wurden abgeschafft, die Gemeinderäte nun noch vom Landeshauptmann ausgewählt. Die Bedeutung des Tourismus stieg auch in der Zwischenkriegszeit an. 1929 profitierten von ihm 8 Gasthausbesitzer und 23 Privatzimmervermieter. Ein weiterer Aufschwung blieb jedoch aus, da ein Ausbau der Felbertauernstraße unterblieb und die Tausendmarksperre ab 1933 den Urlaubsverkehr aus dem Deutschen Reich massiv einschränkte. 1935 zählte man in Matrei bereits 5828 Nächtigungen, wobei 78 % der 2532 Besucher aus Österreich (davon 57 % Wiener) und 12 % aus der Tschechoslowakei kamen. === Matrei in der Zeit des Nationalsozialismus === Der nach 1934 so genannte Gemeindetag hatte nur kurze Zeit Bestand. Nach dem Einmarsch Hitlers wurde er aufgelöst und ehemals illegale österreichische Nationalsozialisten sowie neue Parteimitglieder übernahmen die Macht. Die bereits geplante Zusammenlegung der Marktgemeinde mit der Landgemeinde wurde am 20. Mai 1938 beschlossen. Die Bevölkerung wurde nun durch freiwillige Teilnahme oder Pflichtmitgliedschaften streng im nationalsozialistischen Sinne organisiert. Hinzu kamen der Reichsarbeitsdienst und die Rekrutierungen für das Militär. Im September 1940 entstand am alten Marktplatz auch eines der drei Osttiroler Arbeitsmaidenlager, von wo die Mädchen nach 14 Tagen Ausbildung zum Einsatz in den Bauernhöfen kamen. Auch französische Kriegsgefangene standen in Matrei im Arbeitseinsatz. Am Klaunz-Bühel wurde eine Flugwache und am Gries eine Heeresbaracke errichtet. Nach der Kapitulation erreichte noch am 8. Mai 1945 der erste englische Soldat auf einem Motorrad den Ort. === Matrei nach 1945 === Bereits im Frühjahr 1946 wurde in Matrei ein neuer Gemeinderat gewählt, und während die Zusammenlegung der beiden Gemeinden bestehen blieb, wurde die Angliederung Osttirols an Kärnten 1947 wieder rückgängig gemacht. Die Dominanz der ÖVP bestand jedoch auch in den kommenden Jahrzehnten trotz Bevölkerungswachstum und Strukturwandel weiter. Einen außerordentlichen Boom erlebte der Tourismus. Bereits 1948 erzielte man mit fast 10.000 Nächtigungen das bisher beste Ergebnis. Auch Prominente kamen nach Matrei, darunter Leopold Figl, der den Ort zwanzigmal besuchte. In den 50er Jahren gelang es erstmals auch, den Wintertourismus in Matrei zu verstärken. Zwischen den Wintersaisons 1952/53 und 1960/61 erhöhte sich die Zahl der Nächtigungen von 783 auf 5654. Eine weitere Steigerung des Tourismus wurde durch den Bau der Felbertauernstraße erreicht. Da der Bau der Straße erneut aus Geldmangel zu scheitern drohte, gründeten die Osttiroler die Felbertauern-Aktiengesellschaft und die Gemeinde belastete ihr Budget zum Bau der Straße. Matrei investierte damals 1,7 Millionen Schilling und ist heute nach Bund und Land der drittgrößte Gesellschafter. Die 1967 eröffnete Straße sowie der allgemeine Aufschwung des europäischen Tourismus ab den 60er Jahren bescherten der Gemeinde in der Wintersaison 1971/72 27.000 Winter- und im Jahr 1973 230.000 Sommerübernachtungen. In der Folge stagnierte der Tourismus jedoch, weshalb Anfang der 1980er Jahre das Skigebiet Goldried eröffnet wurde. 1982/83 konnte somit die Zahl der Winternächtigungen auf über 60.000 gesteigert werden und auch der Sommertourismus konnte Anfang der 90er Jahre die Hürde von 300.000 Nächtigungen nehmen. Die Gründung des Nationalparks Hohe Tauern lenkte den Tourismus schließlich in die Richtung des sanften Tourismus. == Matrei im 21. Jahrhundert == Sorgte in den 1970er und 1980er Jahren der geplante Stausee in der benachbarten Gemeinde Kals am Großglockner (Kalser Dorfertal) für Aufregung, so führte der 2005 veröffentlichte Optionenbericht der TIWAG zu Widerständen in der Matreier Bevölkerung. Der Optionenbericht sieht neben anderen Kraftwerksprojekten auch die Errichtung eines Pumpspeicherkraftwerks Matrei-Raneburg vor, wozu es zur Errichtung eines riesigen Stausees oberhalb des Weilers Raneburg und einer Aufstauung des Tauernbaches käme. Weiters wäre ein Ausgleichsbecken oberhalb des Marktes vonnöten. Während sich die Landesregierung und der Matreier Bürgermeister Andreas Köll für das Projekt aussprachen, stimmte der Matreier Gemeinderat und der Bezirksbauernbund gegen das Projekt. Neben der lokalen Bevölkerung, die sich in einer Bürgerinitiative organisiert hat, sprechen sich auch die Grünen sowie Bezirksparteien der SPÖ und der FPÖ gegen das geplante Kraftwerk aus. Im Jahr 2002 wurde das Bezirksgericht Matrei aufgelöst. Damit ist Lienz nun einziger Gerichtsort in Osttirol. Im Juni 2006 wurde das neue Matreier Tauernstadion eröffnet. Das erste Spiel fand gegen den Lokalrivalen Rapid Lienz vor 1300 Zuschauern statt. == Wirtschaftsgeschichte == === Tourismus === Der Tourismus begann sich in Matrei erst mit der Verbreitung des Alpinismus zu entwickeln. Bedeutend für Matrei in diesem Zusammenhang war die Erstbesteigung des Großvenedigers 1865. Danach wurde das Innergschlöß, das Matreier Tauernhaus und der Markt selbst zu einem der ersten Tourismuszentren der Ostalpen. Der Tourismus entwickelte sich auch in der Zwischenkriegszeit weiter. 1929 gab es bereits 8 Gasthausbesitzer und 23 Privatzimmervermieter und 1935 zählte man in Matrei bereits 5828 Nächtigungen, wobei 78 % der 2532 Besucher aus Österreich (davon 57 % Wiener) und 12 % aus der Tschechoslowakei kamen. Nach 1945 konnte der Tourismus weiter sukzessive gesteigert werden. Nachdem 1948 mit fast 10.000 Nächtigungen das bisher beste Ergebnis erzielt werden konnte, wurde in der Folge auch der Wintertourismus aktiviert. Zwischen 1952/53 und 1960/61 steigerte sich die Zahl der Nächtigungen im Winter von 783 auf 5.654. Einen weiteren Boom löste der Bau der Felbertauernstraße aus. 1971/72 konnten bereits 27.000 Winter- und im Jahr 1973 230.000 Sommerübernachtungen gezählt werden. Um eine bessere Auslastung im Winter zu erreichen, wurde Anfang der 1980er Jahre das Skigebiet Goldried eröffnet, wodurch die Winternächtigungen mehr als verdoppelt werden konnten. 1998 wurde schließlich auch eine Einseilumlaufbahn errichtet. Wichtigstes Standbein blieb jedoch der Sommertourismus, der mit der Gründung des Nationalparks „Hohe Tauern“ in eine sanfte Richtung gelenkt wurde. Derzeit werden ganzjährig ca. 260.000–300.000 Übernachtungen pro Jahr gezählt. === Industrie, Handel und Gewerbe === Gewerbe- und Handwerksbetriebe waren schon im 19. Jahrhundert auf den Markt Matrei konzentriert. 1888 gab es im Markt 70 Betriebe (bei 98 Häusern), allerdings waren auf Grund der geringen Wirtschaftsleistung 1878 nur 14 Betriebe zur Teilnahme an den Wahlen der Handels- und Gewerbekammer berechtigt, in der Landgemeinde war es nur ein Betrieb. In der Regel unterhielten die Marktbürger nebenbei eine kleine Landwirtschaft, in der Landgemeinde waren die Bauern hingegen oft auch handwerklich tätig. Die Betriebsgrößen blieben auch in der Folge klein, nur die größeren Gasthöfe beschäftigten eine größere Anzahl von Menschen. Immerhin belebten größere Bauvorhaben nach dem Ersten Weltkrieg die Bauwirtschaft und das Transportgewerbe. Bedeutende Betriebe, mit Ausnahme einer 1930 gegründeten Sennerei, entstanden jedoch nicht. Erst durch die allgemeine Hochkonjunktur der 1960er und 1970er Jahre sowie den Fremdenverkehr und den Bau der Felbertauernstraße begann sich die Situation zu wandeln. Zahlreiche Gewerbebetriebe errichteten ab dem Ende der 1960er Jahre Zweigniederlassungen in Matrei und konnten so die Abwanderung der rasch gewachsenen Bevölkerung stoppen. Auch ein Industriebetrieb siedelte sich an. Heute besteht im Markt Matrei neben zahlreichen Handwerks- und Handelsbetrieben ein Industriebetrieb mit mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie vier Banken. Der Lebensmittelhandel hat sich hingegen vom Ortszentrum auf Grund der Parkplatzsituation an den Ortsrand verlagert. In der Katastralgemeinde Matrei-Land, insbesondere im Gewerbe- und Industriegebiet Seblas haben sich weitere Unternehmen angesiedelt. === Landwirtschaft === Die große Rodungsperiode in der Region erfolgte zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert. In den ersten beiden Jahrhunderten wurden die günstigeren Böden kultiviert, im 13. Jahrhundert die ungünstigeren. Zuerst entstanden hauptsächlich große Viehhöfe, die keinen Getreideanbau betrieben und von der Schafzucht lebten. Erst im 15. Jahrhundert setzte die Rinderzucht ein. Bis Mitte des 16. Jahrhunderts waren jedoch die Großhöfe der ehemaligen Beutellehen durch Vererbungen bereits in mehrere Teilhöfe aufgesplittert. Andere Höfe waren aus den Maierhöfen hervorgegangen. Der Getreideanbau blieb auch im 17. Jahrhundert von geringer Bedeutung, vorherrschend waren vor allem Roggen- und Gerstenanbau. Der Viehbestand im Jahr 1624 betrug in Markt und Land Matrei 2.204 Stück Rindvieh, 3.650 Schafe und 113 Pferde. Lange Zeit gab es kaum Veränderungen im landwirtschaftlichen Bereich. Um 1870 setzten in Matrei jedoch schließlich Bestrebungen ein, die durch eine Informations- und Bildungskampagne Reformen in der Landwirtschaft durchsetzen wollten. Insbesondere wurde versucht, die Bauern zum Wechsel vom Getreideanbau zur Viehzucht zu animieren. 1900 wurde hierzu auch ein Viehzuchtgenossenschaft gegründet, die Rinder- und Zuchttierausstellungen veranstaltete. Die Milchwirtschaft blieb hingegen ein Stiefkind der Bauern und erst im November 1930 wurde eine Sennerei im Markt Matrei gegründet. Die Unsicherheiten der Viehwirtschaft und die allgemeine Not ließen auch den Getreideanbau nicht verschwinden. Erst um 1960 kam es zu einem gravierenden Wandel. Zwischen 1961 und 1977 sank der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung von 40,1 % auf 19,8 %. Der Getreideanbau wurde praktisch aufgegeben. Während die Schweine-, Geflügel- und Ziegenhaltung seit dem frühen 19. Jahrhundert kontinuierlich zurückging, wurde die Rinderhaltung, insbesondere durch wachsende Betriebsgrößen, gesteigert. Ein Auf und Ab erlebte hingegen die Schafzucht, die nach einem starken Rückgang Mitte des 20. Jahrhunderts wieder Zuwächse verzeichnet. 1995 bestanden in Matrei noch 66 Vollerwerbsbetriebe, 75 Zuerwerbsbetriebe und 165 Nebenerwerbsbetriebe, wobei die wichtigste Wirtschaftsform die Viehzucht war. Die Betriebsgröße lag dabei im Durchschnitt bei 10 bis 15 Stück Großvieh. == Geschichte des Matreier Schulwesens == Erstmals urkundlich überliefert ist ein Lehrer aus dem Jahr 1562. Als Marktort hatte Matrei wahrscheinlich aber bereits um 1300 einen Schulmeister. Als Lehrer dienten zunächst oft Handwerker oder Forstmänner, als Schulzimmer fungierte eine Bauernstube. Für eine fundierte Ausbildung schickte man die Kinder hingegen in eine Kloster- oder Domschule, später kam auch Lienz als Schulstandort hinzu. In Matrei erhielt der Lehrer in späterer Zeit eine eigene Schulstube und die Eltern bezahlten ein niedriges Schulgeld. Weitere Einkünfte erhielt der Lehrer durch eine jährliche Beihilfe, später koppelte man den Lehrerposten an das Amt des Mesners und Organisten. Im 18. Jahrhundert erwuchs den bestellten Lehrern immer wieder Konkurrenz durch die verbotenen sogenannten Winkelschulen. Auch nach der Einführung der Salzburger Landesschulverordnung zur Zeit Maria Theresias besuchten aus Geldmangel von 210 schulfähigen Kindern nur 60 bis 70 Kinder die Winterschule (von Advent bis Ostern) und sechs bis acht Kinder die Sommerschule. 1803 wurde immerhin das erste Schul- und Mesnerhaus errichtet, das heute noch am Kirchenplatz steht und eine Klasse beherbergte. Bis zum Jahr 1814 besuchten nur knapp die Hälfte der schulfähigen Kinder die Schule, ein Jahrzehnt später erreichte man immerhin, dass kaum noch ein Kind Analphabet war. Hierfür sorgten auch die kleinen Schulen in Seinitzen, Feld, Moos und die 1816 errichteten Schulen in Zedlach und Hinteregg. Die Schulzeit dauerte um 1850 aber nur von Martini bis Georgi. 1865 wechselte das Schulwesen von der kirchlichen Seite in die Hände der zivilen Verwaltung, die 1866 das neue Schulhaus am Kirchenplatz einweihte. 1927 besuchten bereits 229 Kinder die Marktschule, 1934 waren es 356 Schüler (im Schnitt 58 pro Klasse). 1943 kam es zur Bildung der ersten Hauptschule im alten Schulhaus, in der begabte Volksschüler nach dem Hauptschullehrplan unterrichtet wurden. 1944 übersiedelte die Hauptschule provisorisch in einen zuvor geplanten Kindergarten. Ab 1960 besuchten auch Kinder aus dem Virgental, dem Kalser Tal und dem Defereggental hier die Hauptschule; in den 1970er Jahren erfolgte dann eine Expositur in Kals bzw. die Gründung der Hauptschule in St. Jakob. 1961 erfolgte die Eröffnung eines neuen Schulzentrums am ehemaligen Pfarranger, in das zunächst die Volksschule und nach 1970 auch die Hauptschule übersiedelte. 1968 kam es zur Gründung einer Sonderschule, für die 1978 bis 1980 ein Zubau am Schulzentrum erfolgte. 1966 wurde der Polytechnische Lehrgang eingerichtet. == Siehe auch == Geschichte Osttirols == Literatur == Michael Forcher (Red.): Matrei in Osttirol. Ein Gemeindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der ersten Erwähnung als Markt 1280–1980. Tyrolia, Matrei 1980, 1996. Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001. ISBN 3-7066-2267-X Günther Ipsen: Der Name Matrei. In: Beiträge zur Heimatkunde von Matrei am Brenner. Festschrift zur 1700-Jahrfeier. Wagner, Innsbruck 1950, S. 9–16.
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Matreis_in_Osttirol
Geschichte Osttirols
= Geschichte Osttirols = Der Name Osttirol ist zwar bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugt, gebräuchlich wurde diese Bezeichnung für den österreichischen politischen Bezirk Lienz (Osttirol) aber erst, nachdem Südtirol 1919 Italien zugeschlagen wurde. Osttirol liegt dadurch abgetrennt von Nordtirol zwischen Salzburg im Norden, Südtirol im Westen, der italienischen Region Venetien im Süden und Kärnten im Osten. == Urgeschichte == Der älteste Beweis für die Anwesenheit von Menschen in Osttirol wurde im Jahre 1987 am sogenannten Hirschbichl im Defereggental auf 2143 Metern Seehöhe entdeckt. Unter den Artefakten fanden sich eine Geschossspitze aus Bergkristall und kleine Klingen aus Feuerstein, die auf einen saisonalen Jägerrastplatz mesolithischer Jäger aus dem 7. bis 6. Jahrtausend v. Chr. hindeuten. Mit der Jungsteinzeit (Neolithikum, 6. bis 3. Jahrtausend v. Chr.) setzten sich auch in Osttirol Ackerbau und Viehzucht sowie Töpferei und Hausbau durch. Der wichtigste Fund dieser Zeit, ein Steinbeil aus Serpentin, stammt aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. und wurde am Schlossberg von Lienz gefunden, später jedoch aus dem Schloss Bruck gestohlen. Weitere Funde (Keramiken) auf dem Breitegg (Nußdorf-Debant), Burg (Obermauern) und am Lavanter Kirchenbichl weisen auf neolithische Siedler hin. Von besonderer Bedeutung ist auch das Abri Gradonna bei Kals am Großglockner, das vermutlich als Kult- und Opferplatz diente. Hier wurden die ältesten Keramiken Osttirols (Gefäße mit quadratischen Öffnungen) sowie Feuersteine gefunden. == Bronzezeit == Nach einer kurzen Kupfer-Übergangszeit löste mit der frühen und mittleren Bronzezeit (ca. 22. bis 13. Jahrhundert v. Chr.) die Bronze den Stein als bestimmenden Werkstoff ab. Das in Osttirol verwendete Erz dürfte dabei insbesondere aus dem oberen Iseltal stammen. Es wurde zunächst im Tagebau, später auch im Untertagebau abgebaut. Gegossen in Barren und als Ösenhalsringe wurde das Metall danach in den Handel gebracht oder diente als prämonetäres Zahlungsmittel. Metallene Einzelfunde dieser Periode stammen vor allem aus der Umgebung von Virgen. Zahlreicher sind Keramiken, die unter anderem am Lienzer Schlossberg, in Matrei (Klaunzerberg), Heinfels (Burghügel), Strassen (Jakobibichl) und Lavant (Kirchbichl) gefunden wurden. Planmäßige Siedlungsgrabungen und Gräberfunde aus dieser Zeit fehlen jedoch. In der späten Bronzezeit war der Osttiroler Raum von einer weitgehend einheitlichen Kultur geprägt, die ihre Toten in Urnen beisetzte (Urnenfelderkultur). Die Verbreitung der sogenannten Melauner- oder Laugner Kultur erstreckte sich dabei vom Alpenrheintal über Tirol bis ins Kärntner Drautal. In Osttirol konnte man Siedlungsschwerpunkte insbesondere durch Keramikfunde im bereits während der Steinzeit besiedelten Gebiet nachweisen. Prunkstücke sind eine steinerne Mehrfachgussform für Sicheln und Beile aus Virgen und ein Dreiwulstschwert aus Assling. Gräberfunde fehlen jedoch auch aus dieser Periode. == Eisenzeit == Mit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. begann auch in Osttirol die ältere Eisenzeit, die auf Grund des Hauptfundortes auch Hallstattzeit genannt wird. Diese Periode war vor allem von der verstärkten Verwendung des Eisens geprägt, das zuvor kaum verwendet worden war. Sind aus der älteren Hallstattzeit nur wenige Streufunde aus dem oberen Iseltal bekannt, so wurde in Welzelach bei Virgen ein ganzes Gräberfeld aus der jüngeren Hallstattzeit entdeckt. Zwischen 1889 und 1891 legte Alexander Schernthanner hier 56 Steinkistengräber frei, die auch Waffen, Schmuck, Bernsteinperlen und einen figural verzierten Bronzeblecheimer enthielten. Weitere Siedlungs-, Grab- und Streufunde wurden im gesamten Bezirk gemacht, haben jedoch ihren Schwerpunkt im Virgental. Während der folgenden, jüngeren Eisenzeit (La-Tène-Zeit) war Osttirol von der Fritzens-Sanzeno-Kultur der Räter geprägt, die sich im Raume Alttirols um 500 v. Chr. auf großteils heimischer Grundlage entwickelte. Kennzeichen sind unter anderem die typische Hausform (eingetiefte Häuser mit winkeligen Zugängen) und die typische Keramik mit seicht eingestrichenen oder gestempelten Mustern. Etwa um 100 v. Chr. fiel der Osttiroler Raum an die Kelten (Laianken). Diese Periode dauerte jedoch nur kurz, da dieses Gebiet bereits ca. 15 v. Chr. friedlich an das Römische Reich fiel. == Römerzeit == === Ausbreitung der römischen Herrschaft === Angelockt von den zahlreichen Metallen der Tauern wie Gold, Bleiglanz, Antimon und Kupfer traten die Römer bereits früh in Osttirol auf. Um sich den Zugriff auf diese Bodenschätze zu sichern und das oberitalienische Gebiet vor Einfällen anderer Stämme zu schützen, schlossen die Römer in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. einen staatlichen Freundschaftsvertrag (hospitium publicum) mit dem Königreich Noricum. Dieses keltische Königreich war zu dieser Zeit ein lockerer Stammesbund unter mehreren Kleinkönigen. Als Drusus und Tiberius 16/15 v. Chr. den Alpenraum in meist blutigen Feldzügen eroberten, dürfte Noricum davon nur wenig berührt worden sein. Vielmehr ging es unter Kaiser Claudius um 50 n. Chr. friedlich in der römischen Provinz Noricum auf. Das Interesse der Römer an den reichen Metalllagerstätten brachte auch der einheimischen Bevölkerung Wohlstand, gleichzeitig wurde sie jedoch einer straff organisierten Romanisierung unterzogen. Nahelegen dies die zwar nicht schlagartig, jedoch rapide abnehmenden Ausgrabungsfunde der keltischen Kultur nach der Machtübernahme der Römer. Dominierendes Zentrum Osttirols während der Römerzeit wurde die Stadt Aguntum mit ihrem Hinterland. Dieses Hinterland entsprach dabei in etwa dem heutigen Osttirol und dem Pustertal mit seinen Nebentälern. Das Einflussgebiet der Stadt reichte dabei im Norden bis zum Felber Tauern, im Osten bis zum Kärntner Tor, im Westen bis Mühlbachl (Pustertal) und im Süden bis zu den Übergängen zum Gailtal, Kreuzbergsattel und Enneberg. === Aguntum === Durch das Auftreten der Römer verloren die zuvor angelegten Höhensiedlungen wie etwa der Lavanter Kirchbichl oder der Matreier Klaunzerberg an Bedeutung. Aguntum entstand vielmehr am hochwassergefährdeten Talgrund eines Beckens insbesondere aus verkehrsgeographischen Gesichtspunkten. Durch die Lage am Kreuzungspunkt der Drautalstraße mit der Straße über den Iselberg profitierte Aguntum vom Metallhandel aus dem Tauern- und Glocknergebiet sowie vom Kupferhandel aus dem inneren Iseltal und seinen Nebentälern, dem Virgen- und Defereggental. Dennoch sprechen Gegebenheiten wie ein unregelmäßiges, nicht rechtwinkeliges Straßensystem für eine Vorgängersiedlung auf dem Stadtgebiet Aguntums. Die Blütezeit der Stadt dürfte während des 1. und 2. Jahrhunderts gewesen sein. Sie erhielt das claudische Stadtrecht. Zahlreiche Ausgrabungen wie die Stadtmauer, ein Atriumhaus und ein Prunkbau zeugen noch heute vom Reichtum der Stadt. Obwohl durch die Stadt im 3. Jahrhundert mehrfach germanische Scharen gezogen waren, erholte sich die Stadt wieder von den Zerstörungen. Dennoch zog sich die Bevölkerung ab dem 3. Jahrhundert und insbesondere im frühen 4. Jahrhundert immer mehr aus den Tälern in die Höhensiedlungen zurück und verlieh ihnen damit einen Entwicklungsschub. Vor allem die Bergsiedlung in Lavant blühte nach einer 200-jährigen Pause im 3. Jahrhundert n. Chr. auf. 400/406 wurde Aguntum jedoch schließlich schwerst beschädigt und 610 bei einer großen Schlacht zwischen den Baiern und den Slawen von Grund auf zerstört. === Sonstige Siedlungsschwerpunkte === Neben dem römischen Zentrum von Aguntum waren während der Römerzeit auch zahlreiche andere Siedlungen im Lienzer Becken besiedelt. So waren besonders die gegen Süden geneigten Hänge wie in Grafendorf, Oberdrum, Thurn und Oberlienz von Villae rusticae und vornehmen Wohnhäusern besiedelt. Weitere Siedlungsschwerpunkte finden sich in Matrei und Umgebung, das als Ausgangspunkt für das kupferreiche Virgental galt und als Kreuzungspunkt mit dem Saumweg über den Felber Tauern eine Rolle spielte. Auch in Kals lassen sich römische Funde nachweisen, wobei hier ebenfalls Tauernübergänge geografisch wichtig waren. Weitere Funde sind vom Mortbichl in der Gemeinde Bannberg und Tristach bekannt, wogegen von Lienz ostwärts bis zum Kärntner Tor archäologische Fundstätten aus der Römerzeit rar sind. Durch den Niedergang Aguntums erlangte ab dem 3. Jahrhundert auch die Siedlung am Lavanter Kirchbichl wieder steigende Bedeutung. Sie war nur durch ihre Lage am schwer zugänglichen Hügel geschützt und war ein Zentrum der Eisen- und Metallverarbeitung. Auch zwei frühchristliche Kirchen befanden sich hier. Die dortige, meist bäuerliche Bevölkerung lebte vor allem von der Viehzucht und ergänzte ihren Speiseplan durch Fischfang und Jagd. Der Wohlstand der Bevölkerung spiegelt sich insbesondere in den zahlreichen Funden von importierten Gläsern, Glasperlen sowie Schmuck und Gerätschaften wider. Um 610 wurde auch diese Siedlung im Krieg zwischen den Baiern und Slawen großflächig zerstört, verlor aber nicht ganz ihre Bedeutung. == Mittelalter == === Völkerwanderung === Ab dem 5. Jahrhundert drangen germanische und slawische Völker auf breiter Front in die römischen Provinzen ein (siehe vor allem Spätantike). Im 6. Jahrhundert drangen von Norden her auch die Baiern in Tirol ein und stießen bis ins Pustertal vor. Als jedoch die Slawen von den Awaren bedroht wurden, stießen diese immer weiter nach Westen vor und besiedelten das Drau- und Iseltal. Den Baiern wurde somit der weitere Weg nach Osten versperrt. Im 8. Jahrhundert geriet jedoch das slawische Karantanien, das eine wesentlich größere Ausdehnung als das heutige Kärnten hatte, an das Herzogtum Bayern und wurde von bairischen Kolonisten besiedelt. Auch das Christentum wurde nun in diesen Gebieten verbreitet. Die Romanen im Pustertal sowie die Slawen und Romanen im Drau- und Iseltal assimilierten sich kulturell allmählich, ihre Sprachen starben vermutlich im Hochmittelalter aus. === Christianisierung === Baiernherzog Tassilo III. schenkte 769 dem Abt von Scharnitz einen Gebietsstreifen im mittleren Pustertal mit dem Auftrag, die Slawen zu missionieren. Dieser gründete daraufhin das Kloster Innichen, das jedoch bald dem Hochstift Freising überlassen wurde. Daneben versuchten zwei weitere Bistümer ihren Einfluss in Karantanien zu vermehren, das Erzbistum Salzburg und das Patriarchat von Aquileia. Kaiser Karl der Große legte 811 die Diözesengrenze schließlich mit der Drau fest, die bis ins 19. Jahrhundert hielt. Die Erzdiözese Salzburg behielt die Kontrolle über die Iselregion sowie über das Gebiet links der Drau und besaß mit der Pfarre Assling auch einen Außenposten im Pustertal. Während das Bistum Aquileia in Osttirol mit der Pfarre Lavant-Tristach vertreten war, wurde das Pustertal von der Diözese Brixen kontrolliert. === Früh- und Hochmittelalter === Langsamer als das kirchliche entwickelte sich das weltliche Machtgefüge in der Region. Oftmals wurde die formelle Macht von reichen adeligen oder kirchlichen Grund- und Leibherren untergraben. Erstes Ziel der römisch-deutschen Könige und Kaiser war die Schwächung der einflussreichen Bayern, die 976 durch die Errichtung des selbstständigen Herzogtums Kärnten entkräftet wurden. Das neue Herzogtum reichte dabei im Westen bis in die Tauernregion und umfasste das Lienzer Becken. Im Pustertal erstreckte sich das Gebiet bis zur Lienzer Klause. Der südwestliche Machtbereich der Bayern wurde zusätzlich durch die Übertragung der Grafenrechte der Grafschaft Pustertal an den Brixener Bischof ausgedünnt. Während sich im Westen die Grafen von Tirol durchsetzten, entwickelte sich zwischen Tirol und Kärnten ein neues Machtzentrum, die Grafschaft Görz, deren Einfluss auf Kosten des Bistums Aquileia und des Hochstifts Freising wuchs. Die Grafen von Görz entstammten dabei dem bayrischen Hochadel und tauchten im 11. Jahrhundert am historischen Horizont auf. Ihre Machtbasis baute auf das Grafengeschlecht von Lienz auf, das das Verwaltungszentrum des Lienzer Gaues in der kärntnerischen Grafschaft Lurngau war. Als die Grafen im Lurngau 1100 die Vogtei Aquileia erwarben, vereinigten sie ihre Besitzungen mit den neuen Ländereien und benannten sich 1120 durch den verschobenen Machtschwerpunkt in von Görz um. Paroli wurde den Görzern in Osttirol insbesondere vom Erzbistum Salzburg geboten, das um 1200 den Raum Matrei, das Defereggental und um Nikolsdorf die Ländereien der Grafen von Lechsgemünd erwarb. Die Strategie der Görzer, Salzburg und die Kärntner Spanheimer im Bündnis mit den Grafen von Tirol militärisch zurückzudrängen, scheiterte 1252 jedoch. === Spätmittelalter === Trotz der Niederlage von 1252 (Frieden von Lieserhofen) profitierten die Görzer von ihrem Bündnis mit Tirol. Meinhard III. von Görz (später Meinhard I. von Tirol) hatte um 1237 Adelheid, eine der beiden Töchter des Grafen Albert von Tirol, geheiratet und erbte nach dessen Tod 1253 die Kernzonen des späteren Tirol nördlich und südlich des Brennerpasses. Nach Meinhards Tod 1258 wurden 1271 die umfangreichen Besitzungen schließlich unter seinen Söhnen aufgeteilt. Meinhard IV. von Görz erhielt als Meinhard II. die Grafschaft Tirol, Albert von Görz hingegen das görzische Erbe, vermehrt um die tirolerischen Herrschaftsrechte im Pustertal. Die meinhardinische Linie konnte sich jedoch nicht lange behaupten, bereits Meinhards Enkelin Margarete von Tirol überantwortete 1363 die Grafschaft Tirol den Habsburgern, nachdem die männliche Linie ihrer Familie 1335 erloschen war. Im Gegensatz dazu gelang es den albertinischen Görzern ihr Erbe zu konsolidieren und schließlich zu vermehren. Um 1300 erreichten aber auch sie bereits ihren Zenit. Hauptgegner der Görzer waren die Habsburger, die bereits 1335 den Tiroler Görzern das Herzogtum Kärnten abgenommen hatten und 1363 auch die Grafschaft Tirol übernahmen. Dadurch gerieten die Görzer zwischen das Herrschaftsgebiet der Habsburger, die nun versuchten, die territoriale Lücke zwischen ihren Gebieten zu schließen. Auch im Süden war das Reich der Görzer bedroht. Hier versuchte sich vor allem die Republik Venedig als Landmacht zu etablieren und auch die Habsburger bedrohten mit ihrem Zugang zur oberen Adria die Interessen der Görzer. Die beiden voneinander getrennten Hälften der Görzer Besitzungen (später Vordere und Hintere Grafschaft Görz) gerieten so immer mehr in Gefahr. Da der Einfluss im Süden durch Venedig immer stärker eingeschränkt wurde, rückte Lienz zur Hauptresidenz der Görzer auf. Als 1460 die Brüder Johann und Leonhard von Görz an der militärischen Eroberung des Erbes der Grafen von Cilli scheiterten, entriss ihnen Kaiser Friedrich III. die Herrschaft Lienz und alle Gerichte östlich des Kärntner Tors im Drautal sowie weitere Besitzungen im Gailtal und Mittelkärnten. Obwohl es Leonhard zwei Jahre später noch gelang, die Herrschaft Lienz durch einen von Söldnern vorgetäuschten Volksaufstand zurückzuerobern, arbeitete die Zeit für die Habsburger. Nachdem die Ehe Leonhards kinderlos geblieben war, fiel das Tiroler Gebiet der Görzer nach seinem Tod 1500 an Maximilian I. == Neuzeit == === Einverleibung in die Grafschaft Tirol === Maximilian I. konnte das neue Gebiet rasch gegen Venedig verteidigen und schickte einen Beamtenstab aus Innsbruck zur Verwaltung nach Osttirol. Der Anschluss an Tirol, zunächst nur ein Provisorium, war wenig später jedoch bereits eine Tatsache, an der auch die Kärntner nichts mehr ändern konnten. Das der Grafschaft Tirol zugeschlagene Gebiet umfasste dabei die Herrschaft Lienz mit seinen fünf Gerichten (Stadt Lienz, Landgericht Lienz, Virgen, Kals und Lienzer Klause), (im heutigen Südtirol) das Pustertal von der Mühlbacher Klause Richtung Osten, die Gerichte Schöneck mit Burgfrieden, Ehrenburg, Uttenheim oder Neuhaus, Sankt Michelsburg, Altrasen, Welsberg sowie (großteils bereits in Osttirol gelegen) Heinfels. Trotz dieses umfangreichen Gebietes befanden sich noch wesentliche Teile des späteren Osttirols in der Hand anderer Mächte. So behauptete das Hochstift Brixen das Gericht Anras, das zwischen den Gerichten Heinfels und Lienzer Klause sowie der Kärntner Grenze lag und das Gebiet der heutigen Gemeinden Anras, (großteils) Assling, Obertilliach und Untertilliach umfasste; es erstreckte sich von Osttirols Südgrenze bis zum Kamm des Defereggengebirges, wo es an das Salzburgische Pfleggericht Windisch-Matrei grenzte, das auch Teile des Defereggentals umfasste. Durch diese geistlichen Territorien war der Ostteil Osttirols mit Lienz vom übrigen Tiroler Gebiet getrennt. Die Ostspitze des heutigen Osttirols bildete die kleine Herrschaft Lengberg, ebenfalls salzburgisches Territorium. Die Integration der görzischen Herrschaft in die Grafschaft Tirol verlief ohne Probleme. So war etwa Tirol nicht nur wohlhabender, sondern auch wesentlich fortschrittlicher in Verfassung, Verwaltung und Recht. Weiters hatten die Landstände in Tirol im Gegensatz zu Görz ein wichtiges Wort mitzureden. Durch die Einführung der hierarchischen Tiroler Verwaltung wuchs jedoch auch der herrschaftliche Zugriff. Osttirol wurde in die Landmiliz eingegliedert. Darüber hinaus mussten alle Grundbesitzer im Gegensatz zu früher Grundsteuer zahlen und wirtschaftlich büßte Lienz seine Stellung ein, da es die herrschaftliche Residenz verlor. Im Gegenzug gelang es der Bürgerschaft jedoch, die zuvor niedergehaltene Autonomie auf den Status anderer Tiroler Städte anzuheben. === 16. bis 18. Jahrhundert === Von den sozialen Unruhen im 16. Jahrhundert blieb Osttirol großteils verschont. Während die Bauernkriege 1525 im zentraleuropäischen Bereich wüteten, kam es in Osttirol kaum zu Unruhen. Windisch-Matrei wurde jedoch kurzfristig von Tirol besetzt, um einen Übergriff der revolutionären Tendenzen zu verhindern. Auch die Reformation stieß in Osttirol auf wenig Widerhall, protestantische Bewegungen konnten hier kaum Fuß fassen. Nur im damals salzburgischen Defereggental fielen die von Salzburger Saison- und Wanderhändlern mitgebrachten Ideen auf fruchtbaren Boden. Der Salzburger Erzbischof griff jedoch hart durch und zwang 1684 900 Deferegger, die auf ihrem Glauben beharrten, zur Auswanderung. Wirtschaftlich bedeutete diese Zeit eine schwere Belastung für das Gebiet. Zwar blieb man von kriegerischen Zerstörungen verschont, Bergbau, Handel und Verkehr waren jedoch rückläufig. Zusätzlich ließ die Kleine Eiszeit die landwirtschaftlichen Erträge zurückgehen. Erst im 18. Jahrhundert erholte sich die Wirtschaft mit anziehender Konjunktur. Zudem gebärdete sich der Staat unter Maria Theresia wesentlich investitionsfreudiger. Immer mehr rückten die Untertanen als Wirtschaftssubjekte in den Vordergrund und wurden als Steuerzahler oder Soldaten benötigt. Die Reformen trafen aber auch die Kirche. Unter Kaiser Joseph II. wurde nicht nur das Pfarrwesen neu organisiert, auch zahlreiche Orden, die keinen öffentlichen Nutzen hatten, wurden aufgelöst. So wurde etwa das Haller Damenstift 1783 geschlossen, seine Gerichte kamen unter staatliche Verwaltung. Weiters traf es das Karmelitenkloster in Lienz, in das später die Franziskaner einzogen. Auch auf die staatliche Organisation wirkten sich die Reformen aus. Die traditionellen Rechte der Länder, Städte und Zünfte wurden abgeschafft und an deren Stelle trat eine straffe und zentralistische Organisation. Einheitliche Rechtsgrundlagen folgten. === 19. Jahrhundert === Der Staatsumbau setzte sich auch im 19. Jahrhundert fort. 1803 wurden die geistlichen Reichsfürstentümer aufgelöst und der Territorialbesitz der Hochstifte säkularisiert. Die Gebiete der Fürstentümer Brixen und Trient wurden der Grafschaft Tirol angegliedert, die Hofmark Innichen und das Gericht Anras wurden ebenfalls tirolerisch und den Landgerichten Sillian (Heinfels) bzw. Lienz zugeschlagen. ==== Osttirol unter den Franzosen ==== Kurzfristig wurde die Reformarbeit jedoch durch die napoleonischen Kriege unterbrochen. Infolge der Niederlage Österreichs im Dritten Koalitionskrieg und des folgenden Pressburger Friedens in den Jahren 1805/06 wurde Tirol auf drei neue bayerische Provinzen aufgeteilt, wobei das südliche Tirol an den Eisackkreis fiel. Danach begann Bayern in den neuen bayerischen Provinz Reformen durchzuführen, wobei die Missachtung der alten Tiroler Wehrverfassung (Landlibell) und die Wiedereinführung der josephinischen Kirchenreform für Unmut sorgten. Die massiven Eingriffe führten zum so genannten Kirchenkampf des Klerus und der einfachen Bevölkerung. Die Zwangsrekrutierungen führten schließlich 1809 zum Aufstand unter Andreas Hofer. Dem Aufruf Hofers folgten auch die Osttiroler Schützen aus dem Isel-, Drau- und Pustertal. Sie sammelten sich an der Lienzer Klause und blockten erfolgreich den Vorstoß der französischen Truppen im Pustertal ab. Aus Rache steckte der französische General Rusca einige Dörfer in der Umgebung von Lienz in Brand. Im Dezember folgte der letzte Aufstand der Osttiroler, als ein Aufgebot aus dem Iseltal die Franzosen aus seinem Tal bis vor Lienz jagte. Als Folge des Aufstandes wurde Tirol 1810 auf drei Staaten aufgeteilt. Das Tirol östlich von Toblach (Osttirol) wurde nämlich den Illyrischen Provinzen zugeschlagen und 1811 um das bisher salzburgische Windisch-Matrei erweitert. ==== Neuorganisation ==== Nachdem Österreich den Südosten Tirols 1813 zurückerobert hatte, wurde das Gebiet neu organisiert. Ab 1816 wurden drei Verwaltungs- und Justizsprengel eingeführt. Dies waren die Landgerichte Windisch-Matrei (mit Virgen und Kals), Lienz (inklusive Anras und dem 1816 an Tirol gewanderten Lengberg) sowie Sillian (inklusive Innichen und Tilliach). Damit zeichnete sich erstmals auch der spätere Bezirk Lienz ab. Gleichzeitig passte sich die katholische Kirche den neuen Gegebenheiten an. Nach dem Rückzug von Salzburg und Görz gehörte Osttirol ab 1814 einheitlich zur Diözese Brixen. 1817 schuf das Gemeindegesetz in Tirol auch erstmals einen einheitlichen Ordnungsrahmen und beseitigte die rechtliche Bevorzugung von Märkten und Städten. Die Gemeindeordnung von 1866 hob schließlich auch die heutige, politische Gemeinde aus der Taufe. Als 1868 in der Österreichischen Reichshälfte Justiz und Verwaltung auf lokaler Ebene getrennt wurden, konstituierten sich die Bezirksgerichte Lienz, Windisch-Matrei und Sillian als Instanzen der Justiz und die Bezirkshauptmannschaft Lienz als umfassende Verwaltungsinstanz. ==== Wirtschaftlicher Wandel ==== Die beginnende Industrialisierung zog an Osttirol fast spurlos vorüber. Trotzdem verschob sich das wirtschaftliche und soziale Gefüge innerhalb der Region. Die wachsende Bevölkerung konnte nicht mehr in der Landwirtschaft unterkommen und musste in das Gewerbe oder den Dienstleistungssektor abwandern. Die bevorzugten Gebiete waren dabei Lienz oder auch außerhalb des Bezirkes. Kleinere Handwerksbetriebe siedelten sich zwar in den Landgemeinden an, die Bevölkerungszahl stagnierte hier jedoch. Einen Investitionsschub bewirkte der Bau der Pustertalbahn im Jahr 1871. Sie brachte die Eisenbahner ins Land und öffnete die Region für den Tourismus. Von den Sommerfrischlern profitierte insbesondere Lienz, das seine Größe zwischen 1868 und 1910 von 2111 auf 6045 Einwohner steigern konnte, während die Bevölkerung des Bezirks nur von 30.000 auf 33.000 Einwohner stieg. Dennoch blieb die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig, um 1900 lebten rund zwei Drittel der Osttiroler von ihr. Im kleinstrukturierten Gewerbe spielte vor allem das Gast- und das Baugewerbe eine wichtige Rolle. == Zeitgeschichte == === Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit === Durch den Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 wurde das Hinterland Tirol von den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs direkt getroffen. Tirol wurde zum Operationsgebiet, die Osttiroler Gemeinden im Westen und Süden (Sexten bis Untertilliach) lagen direkt an der Italienfront. Nach der Einnahme des Porze-Gipfels am Kamm der Karnischen Alpen im Juni 1915 gerieten insbesondere Obertilliach und Kartitsch ins Schussfeld der italienischen Artillerie. Weitere Artillerieangriffe konzentrierten sich vor allem auf die Pustertalbahn und somit auf Sillian und Innichen. Ein Luftangriff auf den Lienzer Bahnhof am 7. September 1918 forderte weiters ein Todesopfer und vier Verletzte. Nach dem Ende der Kampfhandlungen versuchte ein rasch gebildeter Lienzer Nationalrat die Nachkriegswirren in geordnete Bahnen zu lenken. Der Einmarsch der Italiener im November 1918 bei Sillian und Tassenbach brachte Osttirol wie auch den übrigen Teil Tirols unter italienische Besatzung. Der Vertrag von Saint-Germain, der am 10. September 1919 geschlossen wurde und 1920 in Kraft trat, hatte die Abtrennung Südtirols an Italien zur Folge. Der Bezirk Lienz, in der Folge immer öfter auch als Osttirol bezeichnet, erhielt dadurch seine endgültigen Grenzen. Die Abtrennung Südtirols verstärkte die Randlage des Gebietes noch zusätzlich, weshalb man sich nun mehr nach Osten, d. h. nach Kärnten umorientieren musste. Kurzfristig kam es 1920 sogar zur Ausrufung des Anschlusses an Deutschland als Deutscher Gau Osttirol. Dominante politische Macht während der Zwischenkriegszeit wurde die Tiroler Volkspartei. Erst weit dahinter folgten Sozialisten und Kommunisten. Auf Grund der katholisch-konservativen Prägung Osttirols erfuhr hier die Errichtung des autoritären austrofaschistischen Ständestaates eine breite Zustimmung. Die Weltwirtschaftskrise hatte ähnlich wie im übrigen Österreich zu einer hohen Arbeitslosigkeit geführt, der man mit Großprojekten entgegenwirkte. Projekte wie die zwischen 1930 und 1935 errichtete Großglockner-Hochalpenstraße zwischen Kärnten und Salzburg wurden im Zuge der Krise aus dem Boden gestampft. Der Bau der Felbertauernstraße, der die dringende Verbindung zwischen Osttirol und Salzburg herstellen sollte, konnte jedoch erst 1967 abgeschlossen werden. === Osttirol und der Nationalsozialismus === Der Zulauf zur NSDAP erfolgte in Osttirol etwas später als im restlichen Österreich, beginnend mit der Machtergreifung Hitlers 1933. Auch das Verbot der NSDAP im Juni 1933 konnte diesen Zuwachs nicht bremsen. Während des Juliputsches der Nationalsozialisten blieb es in Osttirol vergleichsweise ruhig, Angehörige des Bundesheeres und der Heimwehr wurden jedoch bei der Niederschlagung des Putsches im benachbarten Oberkärnten bis Spittal an der Drau eingesetzt. Daraufhin gewann immer mehr eine monarchistische Strömung an Einfluss, während die illegalen Nationalsozialisten allenfalls durch Appelle der SA in Oberlienz auf sich aufmerksam machen konnten. Am 11. März 1938, unmittelbar vor dem Anschluss, zog ein Fackelzug der Nationalsozialisten durch Lienz, während die ersten Postenbesetzungen befehlsmäßig nach Vorgaben aus Innsbruck durchgeführt wurden. Erste Verhaftungen von Juden sowie Verantwortlichen des Ständestaates oder der Heimwehr begannen augenblicklich. Die Wehrmacht erreichte Osttirol hingegen erst mit einigen Tagen Verspätung. Bei der am 10. April durchgeführten „Volksabstimmung“ über den „Anschluss“ erreichte der Bezirk Lienz mit 98,68 % Ja-Stimmen die geringste Zustimmung aller Tiroler Bezirke, die Gemeinde Innervillgraten hatte mit 73,7 % Zustimmung gar den niedrigsten Wert in Österreich. Bereits im Juli/Oktober 1938 folgte eine Verwaltungsänderung, die auf heftige Ablehnung in der Osttiroler Bevölkerung traf. Der Kreis Lienz wurde dem Gau Kärnten zugeteilt, und die Bezeichnung Osttirol verschwand für mehrere Jahre. Die kirchliche Organisation des Gebietes blieb hingegen auch während der Zeit des Nationalsozialismus unverändert als „Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch“ bei der Diözese Brixen. Im Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Männer zum Militärdienst einberufen, 1300 bis 1400 kehrten davon nicht zurück. Zudem verstärkte sich der Zugriff auf die „Heimatfront“, der sich insbesondere gegen die Kirche richtete und das Brauchtum instrumentalisierte. Das massive Vorgehen gegen die Kirche und Religion löste im konservativen Osttirol auch ein gewisses Resistenzverhalten aus, etwa 70 bis 80 Zivilpersonen aller Gesellschaftsschichten, insbesondere Widerstandskämpfer fielen den Nationalsozialisten zum Opfer. Mit dem Heranrücken der Alliierten wurde Osttirol, insbesondere 1945, auch von Bombenangriffen betroffen. Im April 1945 wurden der Lienzer Hauptplatz sowie der Bahnhof fast völlig zerstört. Insgesamt starben 18 Menschen in Osttirol durch Luftangriffe. Der Einmarsch britischer Truppen am 8. Mai 1945 bedeutete schließlich das Ende der Nazi-Herrschaft in Osttirol. == Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts == === Erste Nachkriegsjahre === Kurz nach Kriegsende kam es zur Lienzer Kosakentragödie, der größten Tragödie in Osttirol: Anfang Mai 1945 flüchteten rund 25.000 Kosaken, die auf der Seite Hitlerdeutschlands gekämpft und im Zuge der Partisanenbekämpfung am Balkan und Norditalien in Kriegsverbrechen verwickelt waren, vor den Alliierten und Partisanenverbänden über den Plöckenpass nach Oberkärnten und Osttirol, wobei sie in Lienz ihr Hauptquartier aufschlugen. Entgegen anderer Zusage verfrachteten die Briten die Kosaken in Eisenbahnwaggons, um sie an die Sowjetunion auszuliefern. In den Lagern um Lienz und Oberdrauburg begingen aus diesem Grund zahlreiche Kosaken Selbstmord, andere wehrten sich und wurden erschlagen. Der Großteil der Kosaken wurde jedoch in Judenburg den sowjetischen Truppen übergeben, wobei viele schon den Transport nicht überlebten bzw. durch Selbstmord oder Hinrichtungen starben. In Lienz erinnert heute noch der Kosakenfriedhof an diese Geschehnisse. Für die Osttiroler Bevölkerung spielte neben der Nahrungsmittelsicherung und der Behebung der Bombenschäden auch die Lösung der Verwaltungsfrage eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zum französisch besetzten Nordtirol gehörte Osttirol zur Besatzungszone der Briten, die jedoch hier schon im Oktober 1953 und nicht wie allgemein erst 1955 das Besatzungsgebiet verließen. Durch die vorübergehende Lösung der Südtirol-Frage (Gruber-De-Gasperi-Abkommen) und das Einlenken der Briten kam es jedoch bereits im September/Oktober 1947 zur Rückgliederung Osttirols an Tirol. 1948/49 erleichterte zudem ein Abkommen mit Italien den Eisenbahn- und Straßenverkehr über Südtirol. Die Entnazifizierung war in Osttirol hingegen weniger erfolgreich. Im Vergleich mit anderen Regionen Österreichs wurden hier nur wenige ehemalige Nationalsozialisten verurteilt. === Tourismus, Großprojekte und Kraftwerksstreit === War der Tourismus, der Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, schon in der Zwischenkriegszeit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Region gewesen, so erlangte er nach 1945 bald eine noch größere ökonomische Bedeutung. Matrei in Osttirol konnte beispielsweise 1948 seine Nächtigungszahlen gegenüber der Zwischenkriegszeit verdoppeln. Probleme bereitete hingegen die Anbindung des Bezirks Lienz an das Umland. In dieser Hinsicht spielte der Bau der Felbertauernstraße 1962 bis 1967 eine herausragende Rolle, da Osttirol eine bessere Verbindung nach Salzburg und Innsbruck bekam und die Felbertauernstraße eine wichtige Anbindung für den Tourismus bedeutete. Parallel zur Straße wurde auch die Transalpine-Ölleitung (TAL) Triest–Ingolstadt gebaut. Der Bau der Felbertauernstraße und das Wirtschaftswunder sorgten für eine weitere Steigerung der Nächtigungszahlen, die zwischen 1965 und den 90er Jahren fast verdoppelt werden konnten, jedoch stark auf den Wintertourismus fokussiert blieben. Ein Ereignis prägte Osttirol in den 60er Jahren wie kein anderes: Die Hochwasserkatastrophen von 1965/66, die im September 1965, August und November 1966 unvorstellbare Schadensereignisse darstellten. Warme Südwinde, die Schnee und Gletscher zum Schmelzen brachten, sorgten in Verbindung mit starken Niederschlägen in ganz Osttirol für Abgänge von Muren und ließen Flüsse und Bäche über die Ufer treten. Insgesamt forderten die Naturkatastrophen 23 Todesopfer und zerstörte zahlreiche Brücken, Gebäude (darunter Kirche und Kapelle), Wohngebäude und vor allem Landwirtschafts- und Kulturflächen. Die Großprojekte und die Beseitigung der Folgen der Hochwasserkatastrophe hatten in Osttirol zu einer überhitzten Baukonjunktur geführt. Der Ruf nach weiteren Großprojekten wurde daher laut. In diesem Zusammenhang tauchte daher Anfang der 70er Jahre ein jahrzehntealtes Megaprojekt auf, das die Entwässerung von 20 Bächen und den Bau des größten Staudamms Österreichs (220 Meter) im Kalser Dorfertal vorsah. Hatten in den 50er und 60er Jahren das Fehlen von Ersatzweidegründen sowie Finanzierungsprobleme und der Bau der Felbertauernstraße das Projekt verhindert, so erwuchs dem Projekt nun in der vermehrt Zulauf findenden Umweltbewegung ein ernsthafter Gegner. Auch die ersten Politiker der Grünen sowie Bundesvertreter von ÖVP und SPÖ traten gegen das Projekt auf, während sich ÖVP-Landes- und Bezirkspolitiker, der ÖGB, die Energiewirtschaft sowie auch lange Zeit die betroffenen Gemeinden für die Verwirklichung einsetzten. Der Streit um das Dorfertal lähmte Osttirol lange Zeit, bis sich die Kalser Bevölkerung 1987 schließlich mit 63,49 % gegen das Projekt stellte. Wirtschafts- und Energieminister Robert Graf verkündete 1989 schließlich das endgültige Ende des Dorfertalkraftwerks. === Nationalpark und erneuter Kraftwerksstreit === Durch die Neuorientierung hin zum Naturschutz war auch eine Neupositionierung Osttirols möglich geworden. Der 1984 gegründete Nationalpark Hohe Tauern wurde zu einem Bestandteil Osttiroler Identität und auch ein wichtiges Element der Tourismuswerbung. Gleichzeitig wurde in den 90er Jahren ein vermehrter Ausbau von Qualitätsbetten betrieben, während die Anzahl der Nächtigungen bei Privatzimmervermietern durch Eigenbedarf, wachsenden Wohlstand und den Strukturwandel zurückgingen. Der rückläufige Sommertourismus konnte durch den Wintertourismus teilweise aufgefangen werden. Der Beitritt zur EU erleichterte schließlich auch das Zusammenwachsen der Region mit Südtirol. Die Grenzkontrollen wurden abgeschafft und erste Niederlassungen Südtiroler Firmen entstanden. 2005 keimte der Streit um die Nutzung der Osttiroler Berge wieder auf. Nach der Veröffentlichung ihres Optionenberichts 2004 gelangten vier Kraftwerksprojekte der TIWAG 2005 in die engere Auswahl. Osttirol ist hierbei durch die geplante Errichtung des Pumpspeicherkraftwerks Matrei-Raneburg betroffen. Gegen die Errichtung des Kraftwerks, das von Grünen, FPÖ und SPÖ geschlossen abgelehnt wird, bildete sich rasch auch ein Netzwerk der lokalen Bevölkerung, die den Kraftwerksbau am Rande des Nationalparks ablehnt. Das geplante Pumpspeicherkraftwerk würde nicht nur den Tauernbach aufstauen, sondern auch den Bau eines Kraftwerks an der Isel vorbereiten, die nach der Meinung zahlreicher Wissenschaftler und Umweltschützer längst als Natura-2000-Gebiet gemeldet hätte werden müssen. == Literatur == Andrej Werth: Erinnerung und Region. Regionale Erinnerungskultur(en) am Beispiel Osttirol. Salzburg: Universität Salzburg 2012. Harald Stadler, Martin Kofler, Karl C. Berger: Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol. Studien Verlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, ISBN 3-7065-4152-1. Martin Kofler: Osttirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Studien Verlag, Innsbruck 2005, ISBN 3-7065-1876-7. Michael Forcher (Red.): Matrei in Osttirol. Ein Gemeindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der ersten Erwähnung als Markt 1280–1980. Matrei 1980, 1996. Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001, ISBN 3-7066-2267-X. Martin Kofler: Osttirol im Dritten Reich 1938–1945. Studien Verlag, Innsbruck/Wien 1996, ISBN 3-7065-1135-5. Franz Miltner: Lavant und Aguntum. Die frühgeschichtlichen Ruinen bei Lienz in Osttirol. Lienz 1950. Josef Thonhauser: Osttirol im Jahre 1809. Wagner, Innsbruck 1968. == Weblinks == Eintrag zu Geschichte Osttirols im Austria-Forum (im AEIOU-Österreich-Lexikon) Wilfried Beimrohr: Das Görzer Archivinventar. In: Tirol.gv.at.
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Osttirols
Geschichte der Juden in Ostfriesland
= Geschichte der Juden in Ostfriesland = Die Geschichte der Juden in Ostfriesland umfasst einen Zeitraum von ungefähr über 400 Jahren seit ihren Anfängen im 16. Jahrhundert. Während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit war Ostfriesland das einzige Gebiet in Nordwestdeutschland, in dem Juden geduldet wurden. Nach dem Aussterben des Fürstenhauses Cirksena 1744 und dem damit einhergehenden Ende der Grafschaft Ostfriesland als souveräner Staat wurden die ostfriesischen Juden Staatsbürger Preußens, dessen restriktive Gesetzgebung auch gegenüber Juden in Ostfriesland zur Anwendung kam. Im 19. Jahrhundert wechselte die Souveränität über Ostfriesland mehrfach, was für die Juden wechselnde rechtliche Rahmenbedingungen mit sich brachte. Bis 1870 brachten neue Gesetze schließlich die Bürgerrechte für Juden in Ostfriesland. Die letzten rechtlichen Diskriminierungen wurden bis zum Ende des Ersten Weltkrieges beseitigt. Ab Mitte der 1920er Jahre gab es eine Häufung antisemitischer Vorfälle in Ostfriesland. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Juden schrittweise entrechtet und verfolgt. Endgültig erstarb das jüdische Leben in Ostfriesland im Jahr 1940. Ungefähr 50 Prozent der Juden der bei der Volkszählung im Deutschen Reich vom 16. Juni 1925 in Ostfriesland erfassten Juden (und damit etwa 1000 von 2146) wurden während des Holocaust von den Nationalsozialisten ermordet. Die wenigen heute in Ostfriesland lebenden Juden sind Teil der jüdischen Gemeinde in Oldenburg. == Mögliche Zuwanderung im Mittelalter == Wann genau sich die ersten Juden in Ostfriesland niederließen, ist unbekannt. Der Legende nach sollen die ersten Juden von Ocko I. tom Brok in Ostfriesland angesiedelt worden sein. Dieser hielt sich in den 1370er Jahren in Italien auf und wurde dort nach Ableistung von Kriegs- und Hofdiensten durch Königin Johanna I. von Neapel zum Ritter geschlagen. Dort soll er mit Juden in Kontakt getreten sein, damit diese sich in Ostfriesland niederließen, um die wirtschaftliche Entwicklung der Region voranzutreiben. Tatsächlich bestanden Verbindungen zwischen Friesen und Juden außerhalb Frieslands schon spätestens seit dem 11. und 12. Jahrhundert. So stellten Juden (seit 1084) und Friesen in Speyer im hohen Mittelalter des 11. und 12. Jahrhunderts die Mehrzahl der Fernkaufleute (negotiatores manentes), wobei beide ihre Sitze in der Kaufleute-Siedlung vor der Dom-Immunität hatten.Obwohl dies bis dato nicht belegbar ist, gibt es Hinweise auf eine Verbindung der ostfriesischen Juden nach Italien. So nutzte die jüdische Gemeinde Aurich lange Zeit ein jüdisches Gebetbuch (Machsor), das um 1600 in Venedig erschien. Die gesicherte Ansiedlung von Juden begann Mitte des 16. Jahrhunderts in den Hafenstädten Ostfrieslands. Möglicherweise haben die Vertreibungen der jüdischen Gemeinden aus dem Rheinland die Ansiedlung in Ostfriesland begünstigt. == 16. Jahrhundert bis 1618 == Seit dem Mittelalter lebten Juden im Weser-Ems-Gebiet und bereits um 1530 ließen sich die ersten Juden in Emden nieder. In der Grafschaft Ostfriesland besaß zunächst die Stadt Emden das Recht, Judenschutzbriefe auszustellen. Anschließend wurden in allen ostfriesischen Städten und einigen Flecken Synagogengemeinden gegründet, so in Norden (1577), Jemgum (1604), Leer (1611), Aurich (1636), Esens (1637), Wittmund (1637), Neustadtgödens (1639), Weener (1645), Bunde (1670) und Dornum (1717). Ab 1878 gab es eine Außenstelle der Synagogengemeinde Norden auf Norderney (siehe hierzu: Geschichte der Juden auf Norderney). Während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit war Ostfriesland das einzige Gebiet in Nordwestdeutschland, in dem Juden geduldet wurden. Oldenburg mussten sie infolge der Pestepidemie von 1349/50 verlassen und Wildeshausen 1350, nachdem sie der Brunnenvergiftung beschuldigt wurden. Erst Ende des 17. Jahrhunderts durften sie sich dort wieder niederlassen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Juden in Ostfriesland wurden durch „Schutzbriefe“ oder „Generalprivilegien“ geregelt, welche die ostfriesischen Herrscher für die verschiedenen Bezirke (Ämter) des Landes ausstellten. Sie hatten eine Laufzeit von 10, 15 oder 20 Jahren und wurden danach verlängert. In den Schutzbriefen sind die in Ostfriesland lebenden Juden namentlich aufgeführt. Nachweisbar sind solche Schutzbriefe für die Jahre 1635 (Verlängerung 1647), 1651, 1660, 1671, 1690, 1708 bis zum Generalprivileg des letzten Cirksena-Fürsten Carl Edzard aus dem Jahre 1734. Im Wesentlichen regelten die Generalprivilegien: Schutz der Wohnung und Persönlichkeit Sicherung ungestörter ritueller Lebensführung, Religionsausübung und Totenbestattung Die Organisation der Gemeinde unter dem Rabbiner mit eigener Gerichtsbarkeit Handelserlaubnis mit Begrenzung des Wuchers, dem Recht der Pfandnahme und Verwertung Den Zu- und Wegzug, Spezialschutzbriefe für Niederlassung, Heirat und Traugeld Geleitzusicherung und Schutzbefehl an alle Behörden des Landes.Geleitet wurden die jüdischen Gemeinden in Ostfriesland zunächst vom Hofjuden, später durch das Landesrabbinat in Emden, welches auch für Osnabrück zuständig war. Geistliches Oberhaupt war der Landesrabbiner. In den einzelnen Gemeinden verwalteten gewählte Vorsteher alle Angelegenheiten des Synagogen-, Schul- und Armenwesens. Das religiöse Leben wurde in den kleineren Gemeinden vom jüdischen Lehrer geprägt. Er war beim Gottesdienst in der Synagoge auch als Vorbeter tätig und sorgte als Schächter für koscheres Fleisch. Den Juden in Ostfriesland war es verboten, als Handwerker oder Bauern zu arbeiten, weshalb sie meist als Händler oder Schlachter tätig waren. Dies führte dazu, dass Märkte ohne jüdische Händler, Schlachter und Viehhändler undenkbar waren, obwohl der Anteil der Juden an der ostfriesischen Bevölkerung nur 1 % betrug. Die meisten Juden in Ostfriesland lebten in einfachen oder durchschnittlichen Verhältnissen. == Dreißigjähriger Krieg == Der Dreißigjährige Krieg sicherte kapitalkräftigen Juden durch den ständig wachsenden Geldbedarf der Kriegsparteien zwar einerseits ein Bleiberecht, belastete sie andererseits in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Die Liste ihrer finanziellen Verpflichtungen war lang. 1629 zahlten die Emder Juden (als Vertreter der jüdischen Gemeinden Ostfrieslands) 180 Gulden Schutzgeld im Jahr, 200 Gulden Torfgeld (Abgabe für eine Feuerstelle) sowie etwa 2.000 Gulden an diversen Verbrauchssteuern, insgesamt also etwa 2.380 Gulden. Hinzu kamen noch Mietzins, Heiratsgelder, außerordentliche Abgaben an den Landesherrn: 4 Gulden Schutzgeld pro Haushalt plus 150 Reichstaler Antrittsgeld. Dieses musste der Sohn eines verstorbenen Mitgliedes zahlen, um in die Rechte des Vaters einzutreten. Als im Ausgang des Dreißigjährigen Krieges der Graf Ulrich II. viel Geld für den Abzug der hessischen Truppen aus Ostfriesland aufbringen musste, verpfändete die Gräfin Juliane Juwelen im Wert von 54.650 Gulden durch Vermittlung des Hofjuden in Amsterdam und erhielt dafür in mehreren Raten größere Darlehen. == 1645 bis 1744 == Insgesamt war die Lage der Juden in Ostfriesland bis 1744 im Vergleich zu anderen Gebieten relativ gut. So wurde der jüdischen Gemeinde in Emden erlaubt, ihren Friedhof innerhalb der Stadtmauern anzulegen (1700). Dieses war ein außergewöhnliches Zugeständnis, aber noch bis ins 19. Jahrhundert mussten die Juden ohne Bürgerrechte bleiben und unter Sondergesetzen leben. Der von Graf Ulrich II. 1645 ausgestellte Generalgeleitsbrief gestattete den Juden Ostfrieslands, nach eigener „jüdischer Ordnung“ leben zu dürfen. 1670 ließ die Fürstin Christine Charlotte einen Generalgeleitsbrief verfassen, der den Juden die Abhaltung von Gottesdiensten in ihren Wohnungen oder in eigenen Synagogen erlaubte. Weiterhin legte er fest, dass sie ihre Toten nach jüdischer Gewohnheit bestatten durften. Beschwerden der Krämergilden über die jüdischen Händler fanden beim jeweiligen Landesherren kein Gehör. Georg Albrecht entgegnet auf eine Beschwerde aus dem Jahr 1710: „daß in Ostfriesland die mit Geleit versehenen Juden und in specie der Stadt Aurich in unvordenklicher Posession des freien Handels und Wandels sich jederzeit befunden haben.“ == 1744 bis 1806 == Die liberale Haltung gegenüber den Juden änderte sich mit der Machtübernahme durch Preußen im Jahre 1744. Dies führte zu einer deutlichen Verschlechterung auch der Lage der Juden; denn die restriktive preußische Gesetzgebung gegenüber Juden galt nun auch in Ostfriesland. Erklärtes Ziel der preußischen Regierung war die Senkung des jüdischen Bevölkerungsanteils in Ostfriesland. Die von Juden zu leistenden Abgaben wurden deutlich erhöht, Immobilienbesitz wurde ihnen verboten und den jüdischen Gewerbetreibenden wurden zahlreiche Einschränkungen und Verbote auferlegt. Zu dieser Zeit zahlten die Juden Ostfrieslands die jährliche Summe von 776 Talern. Nun war der Schutzbrief nur an den ältesten Sohn vererbbar, zwei weitere Söhne konnten ihn gegen die vergleichsweise hohe Summe von 80 Talern erlangen. Die übrigen Söhne mussten unverheiratet und damit kinderlos bleiben oder auswandern. Außerdem war an den Zollschranken der erniedrigende, sonst nur für Vieh übliche Leibzoll, zu entrichten. Die gewünschte Senkung des jüdischen Bevölkerungsanteils wurde damit zwar nicht erreicht, viele Juden verarmten jedoch, so dass schon im Jahre 1765 zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung unter erbärmlichsten Bedingungen lebte. Dem stand eine kleine Oberschicht gegenüber, welche hauptsächlich aus Großkaufleuten und Bankiers bestand. Insgesamt gehörten die jüdischen Gemeinden Ostfrieslands zu den ärmeren Deutschlands. Antisemitische Äußerungen und Handlungen waren bis Anfang der 1930er Jahre selten. Nur die Calvinistische Kirche in Emden protestierte gegen die Duldung der Juden, was jedoch beim Magistrat der Stadt kein Gehör fand. 1761 und 1762 kam es in Zusammenhang mit den Wirren des Siebenjährigen Krieges erstmals zu größeren Ausschreitungen gegen Juden. Mehrere Häuser wurden geplündert, weil die Bevölkerung Juden für die schlechte Versorgungslage verantwortlich machte. == 1806 bis 1815 == Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt wurde Ostfriesland in das Königreich Holland und damit in den französischen Machtbereich eingegliedert. 1810 kam es als Département Ems-Oriental („Osterems“) unmittelbar zum französischen Kaiserreich. Für die Juden bedeutete dies eine deutliche Verbesserung ihrer Lage. In zwei Dekreten vom 4. Juni 1808 und vom 23. Januar 1811 wurden ihnen die Bürgerrechte und die völlige Gleichberechtigung zugestanden. In dieser Zeit ist von einem sehr guten Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung auszugehen, was sich unter anderem an der Spendenbereitschaft der Auricher abmessen lässt, als die jüdische Gemeinde 1810 plante, eine eigene Synagoge zu bauen. Noch in der holländischen Zeit begann die Auricher Gemeinde mit der Errichtung der Synagoge, welche nach Plänen des Architekten Bernhard Meyer gebaut und am 13. September 1811 geweiht wurde. Trotz dieser Verbesserungen empfanden auch die Juden die Fremdherrschaft als bedrückend und beteiligten sich an den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Nach der Niederlage Napoléons und dem Zusammenbruch seines Reiches kam Ostfriesland in den Jahren 1813 bis 1815 erneut unter preußische Herrschaft. Infolgedessen erlangte das preußische Judenedikt vom 11. März 1812 in Ostfriesland Geltung. Juden, bis dahin im preußischen Staat als „Judenknechte“ angesehen, wurden vollberechtigte Staatsbürger, sofern sie bereit waren, bleibende Familiennamen anzunehmen und sich der Wehrpflicht zu unterwerfen. == 1815 bis 1866 == Nach dem Wiener Kongress (1814/1815) musste Preußen Ostfriesland jedoch an das Königreich Hannover abtreten. Durch mangelnde Anweisungen der neuen Machthaber stellte sich die Rechtslage für Juden äußerst verworren dar. So war laut Artikel XVI der deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 vorgesehen, dass die Bundesversammlung (…) in Berathung ziehen (wird), wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sey, und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Uebernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten verschafft und gesichert werden könne; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben von den einzelnen Bundesstaaten eingeräumten Rechte erhalten. Die Hannoversche Regierung berief sich auf den letzten Satz dieses Artikels, gab jedoch keine klaren Anweisungen zur Situation der Juden in Ostfriesland. Insbesondere die Administration agierte deshalb auf diesem Gebiet zunächst nach preußischem Recht unter Berücksichtigung des Juden-Ediktes. Noch 1829 plädierte die Landdrostei Aurich in Hannover für eine judenfreundliche Auslegung, erhielt jedoch anders lautende Anweisungen. 1819 wurden die Zünfte wieder eingeführt, was die Juden weitgehend vom Handwerk ausschloss. Im Unterschied zum übrigen Königreich Hannover wurde der Schutzjudenstatus in Ostfriesland nicht wieder eingeführt. An dessen Stelle war seit 1824 der „oberlandespolizeiliche Erlaubnisschein“ getreten. Ohne diesen war Juden in Emden eine Niederlassung und Heirat nicht mehr möglich. Auch blieb Juden das Wahlrecht und die Übernahme städtischer Ämter untersagt. Die Erlaubnis zur Niederlassung konnte nur an einen einzigen Sohn übertragen werden, wenn der Vater sein Geschäft aufgegeben hatte oder verstorben war. Die Verwaltungsstrukturen innerhalb der Juden Ostfrieslands waren zu dieser Zeit ungeklärt. Für die Landdrostei war offiziell immer noch der von den Preußen eingesetzte, jedoch schon 1808 pensionierte Isaak Beer der Landesrabbiner. So standen die ostfriesischen Juden außerhalb Emdens ohne Rabbiner da. Der schon in französischer Zeit 1813 von den jüdischen Gemeinden im Département de l’Ems oriental zum Oberrabbiner des Départements gewählte Abraham Lewy Löwenstamm schlug der Landdrostei 1820 vor, ihn zum Landesrabbiner zu machen, da Beer sein Amt gar nicht mehr ausübe. Er erhielt nicht einmal eine Antwort. Erst als Isaak Beer 1826 starb und der Emder Magistrat Löwenstamm als Nachfolger im Landrabbinat vorschlug, erhielt der Emder Rabbiner das Amt eines Landrabbiners übertragen, und die Landdrostei erklärte sich 1827 damit einverstanden, dass er seinen Amtssitz in Emden nahm. Wie schon vorher die Preußen versuchten nun die Hannoveraner die Anzahl der Juden in Ostfriesland zu vermindern, hatten damit aber nur mäßigen Erfolg. Erst mit dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden vom 30. September 1842 wurde eine einheitliche Rechtsgrundlage für alle Juden im Königreich Hannover geschaffen. Es gestand den Juden die Wahl des Wohnortes und die Ausübung verschiedener Berufe zu. Damit hatten sie immer noch keine politischen Rechte und waren von staatlichen Ämtern noch ausgeschlossen. == 1866 bis 1901 == Nach der Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen 1866 wurde Ostfriesland erneut preußisch und das Judenedikt fand wieder Anwendung. Bis 1870 brachten neue Gesetze schließlich die Bürgerrechte für Juden in Ostfriesland. Die letzten (rechtlichen) Diskriminierungen wurden bis zum Ende des Ersten Weltkrieges abgebaut. Nun konnten die Ostfriesischen Juden in die Stadträte gewählt oder Mitglied eines Vereins werden. So wurden Juden Stadträte oder Mitglieder des vom gehobenen Emder Bürgertum getragenen Vereins „Maatschappy to’t Nut van’t Allgemeen“ (Gesellschaft zum Nutzen der Allgemeinheit) und der Handelskammern Ostfrieslands. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Emdens, Jacob Pels, wurde 1890 Mitglied des Bürgervorsteherkollegiums. == Landes- bzw. Landrabbiner == Nach der napoleonischen Annexion Norddeutschlands wurde nach französischem Vorbild der Consistoire Emden für die Départements de l’Ems-Supérieur und Ems Oriental eingerichtet. Ein Großrabbiner (grand-rabbin) betreute die Gemeinden im Konsistorialbezirk. Er amtierte ab 1827 als Landesrabbiner. 1842 richtete das Königreich Hannover Landrabbinate in Emden, Hannover, Hildesheim und Stade ein. Dabei umfasste das Landrabbinat Emden die Landdrosteien Aurich und Osnabrück. 1939 hob die NS-Obrigkeit die Landrabbinate auf. 1812–1839: Abraham Heymann Löwenstamm (1775–1839), ab 1812 Großrabbiner des Consistoires Emden, ab 1827 Landesrabbiner für Ostfriesland 1839–1841: Vakanz 1841–1847: Samson Raphael Hirsch (1808–1888), Landrabbiner von Emden 1848–1850: Josef Isaacson (1811–1885), Landrabbiner in Vertretung 1850–1852: Vakanz 1852–1870: Hermann Hamburger (ca. 1810–1870), Landrabbiner von Emden 1871–1873: Philipp Kroner (1833–1907), Stadtrabbiner von Emden, interimistisch als Landrabbiner 1875–1892: Peter Buchholz (1837–1892), 1873 gewählt, dann 1875 eingeführt als Landrabbiner von Emden 1892–1894: Vakanz 1894–1911: Jonas Zvi Hermann Löb (1849–1911), Landrabbiner von Emden 1911: Abraham Lewinsky (1866–1941), Landrabbiner von Hildesheim vertretungsweise 1911/13–1921: Moses Jehuda Hoffmann (1873–1958), Landrabbiner von Emden 1922–1939: Samuel Blum (1883–1951), Stadt- und Landrabbiner von Emden == Bäder-Antisemitismus == Auf Borkum machte sich Ende des 19. Jahrhunderts der Bäder-Antisemitismus breit. In dieser Zeit warben zahlreiche Bäder ungeniert damit, „judenfrei“ zu sein, nachzulesen unter anderem in einem Inselführer für Borkum aus dem Jahr 1897. Das Borkumlied wurde verfasst, welches täglich von der Kurkapelle gespielt und von den Gästen gesungen wurde. Hier heißt es im Refrain: Borkum war bereits zur Jahrhundertwende eine Hochburg der Antisemiten. An Hotels hingen Schilder mit der Aufschrift „Juden und Hunde dürfen hier nicht herein!“, innen gab es einen „Fahrplan zwischen Borkum und Jerusalem (Retourkarten werden nicht ausgegeben)“. Ein 1910 erschienener Reiseführer über die Nordseebäder riet „Israeliten“ vor allem vom Besuch Borkums ab, „da sie sonst gewärtig sein müssen, von den zum Teil sehr antisemitischen Besuchern in rücksichtslosester Weise belästigt zu werden.“ Noch standen den Juden mit Erholungsinseln wie der Judeninsel Norderney einige Räume weiterhin offen, in denen sie ihren Urlaub weitgehend ungestört von Diskriminierungen verbringen konnten. == Zionismus == Der Zionismus trat erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts in Emden in Erscheinung. 1901 gründeten 35 jüdische Bürger die Ortsgruppe „Lemaan Zion“ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Wie im übrigen Reich fand diese Bewegung nur bei einem sehr geringen Teil der jüdischen Bevölkerung Anklang. Die Gemeindeleitung um Rabbiner Dr. Löb und Lehrer Selig stand dem Zionismus skeptisch bis ablehnend gegenüber und bezeichnete die Anhänger des Zionismus in Gemeindeversammlungen als „vaterlandslose Gesellen“. == Weimarer Republik == In den 1920er Jahren stachelte Pastor Ludwig Münchmeyer aus Borkum mit antisemitischen Hasstiraden das Publikum auf; weitere aus der Arbeiterschaft oder dem Handwerk stammenden Agitatoren fanden aufgrund ihrer beruflichen wie sozialen Nähe zum Proletariat vor allem in den größeren Orten gute Resonanz. Ab jetzt häuften sich antisemitische Vorfälle. Im August 1926 kam es auf dem Leeraner Viehmarkt zu Handgreiflichkeiten zwischen Studenten, die ein großes Hakenkreuz an der Jacke trugen, und jüdischen Leeraner Viehhändlern. Die Völkische Freiheitsbewegung verteilte kurz vor Weihnachten 1927 Handzettel, die sich mit eindeutig rassistischem Hintergrund gegen die jüdischen Geschäftsleute richteten. Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise verstärkte sich der Antisemitismus, der sich unter anderem gegen den jüdischen Viehhandel richtete, dem manche in der Zeit der damaligen Agrarkrise mit Vorurteilen und Misstrauen begegneten. Selbst auf Norderney, das vordem wohlhabende jüdische Gäste umworben hatte, wurden Juden in den 1920er Jahren eher geduldet als gern gesehen. == 1933 bis 1938 == Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 hatten die Juden in Ostfriesland unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Zwei Monate nach der Machtergreifung und vier Tage früher als in anderen Teilen des deutschen Reiches begann in Ostfriesland der Boykott jüdischer Geschäfte. Am 28. März 1933 postierte sich die SA vor den Geschäften. In der Nacht wurden in Emden 26 Schaufensterscheiben eingeworfen, was die Nationalsozialisten später den Kommunisten anlasten wollten. Am selben Tag erließ Anton Bleeker, der SA-Standartenführer in Aurich (für Oldenburg-Ostfriesland ab Juli 1934), ein Schächtverbot für alle ostfriesischen Schlachthöfe und ordnete an, die Schächtmesser verbrennen zu lassen. Dies führte zum ersten größeren Zwischenfall am 31. März 1933, als die Synagoge in Aurich von bewaffneten SA-Männern umstellt wurde. Die SA erzwang die Herausgabe der Schächtmesser, um diese anschließend auf dem Marktplatz zu verbrennen. In Weener und Emden fanden ebenfalls öffentliche Verbrennungen der Schächtmesser statt. Die Ostfriesische Tageszeitung (OTZ) veröffentlichte begleitend Hetzartikel wie „Deutscher Volkskampf gegen Israels Weltverschwörung. Judas Stunde hat geschlagen“. Zwar gab es während der eigentlichen Boykott-Tage durchaus noch nicht-jüdische Nachbarn, die heimlich an der Hintertür oder nach Ladenschluss kauften, aber im Großen und Ganzen blieb dies die Ausnahme. War der Antisemitismus bis 1933 eine unbedeutende Randerscheinung in Ostfriesland (die Ausnahme stellte der oben erwähnte Bäder-Antisemitismus auf Borkum dar) geblieben, wurde er nun von der Mehrheit getragen. Die Aufrufe der Nationalsozialisten zum Judenboykott verfehlten ihr Ziel nicht. Ein Auricher Bürger – Wilhelm Kranz, der Gründer der NSDAP-Ortsgruppe – fotografierte die Bürger, welche in jüdischen Geschäften kauften, um sie in den Kdf-Schaukästen an den Pranger zu stellen. Dadurch verschlechterte sich die ökonomische Lage der Inhaber dieser Geschäfte. Eines nach dem anderen musste aufgegeben werden und wurde somit auf dem kalten Wege „arisiert“. Der Boykott wurde zwar nach einigen Tagen offiziell beendet, die Diskriminierung wurde jedoch mittels Propaganda, Verordnungen und Gesetzen weiter betrieben. Auf dem wöchentlichen Viehmarkt in Weener gab es einen, durch ein Schild gekennzeichneten, „Platz für Juden“. Dort konnten die jüdischen Viehhändler ihr Vieh anbieten. Doch wurde dieser Platz so überwacht, dass sich niemand an diese Ecke heranwagte. Ähnlich sah es auf dem Viehmarkt in Leer aus, dem größten Markt dieser Art. Dort war jetzt ein Teil für Juden abgezäunt. In Norden gab es Übergriffe der SA gegen einen jungen Juden und seine „arische“ Freundin wegen sogenannter „Rasseschändung“, bei denen Zuschauer Beifall klatschen. Wenig später wurde eine weitere junge Frau aufgegriffen, der Beziehungen zu einem Juden vorgeworfen wurde, und man führte sie durch die Stadt. Auf dem Schild, das sie um den Hals tragen musste, war zu lesen: „Ich bin ein deutsches Mädchen und habe mich vom Juden schänden lassen“. Die Ostfriesische Tageszeitung schaltete mehrere Sonderbeilagen unter dem Titel: „Die Juden sind unser Unglück“. Mit dem Aufruf „Volksgenossen, kauft nicht in folgenden jüdischen Geschäften“, führte die Zeitung alle noch in den Orten Ostfrieslands bestehenden Geschäfte Ostfrieslands auf. Derartige Aktionen lösten reichsweit eine erste jüdische Auswanderungs- und Fluchtwelle aus, die in Ostfriesland zunächst vor allem kleine Orte wie Dornum und Esens erfasste. Dornum verlor 1933 bereits ein Drittel seiner jüdischen Einwohnerschaft. Die Mehrheit verzog innerhalb Deutschlands. In den Städten wie Aurich und Emden war die Abwanderungsquote viel niedriger. Eine verstärkte Abwanderung aus Aurich setzte erst um 1937 ein; dennoch waren bis zur Pogromnacht erst rund ein Viertel der jüdischen Einwohner abgewandert. Unter den schon 1933 geflohenen Juden befand sich auch Max Windmüller, der sich in den Niederlanden unter seinem Decknamen Cor später dem Widerstand der Gruppe Westerweel anschloss und viele jüdische Kinder und Jugendliche rettete. Die Zeitung des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ berichtet am 14. Dezember 1933, dass die Kurverwaltung auf der Nordseeinsel Norderney Briefverschlussmarken habe drucken lassen mit der Aufschrift: „Nordseebad Norderney ist judenfrei!“. Zugleich seien von der Kurverwaltung Schreiben an jüdische Zeitungen gesandt worden, in denen es beispielsweise hieß, „dass jüdische Kurgäste auf Norderney nicht erwünscht sind. Sollten Juden trotzdem versuchen, im kommenden Sommer in Norderney unterzukommen, so haben sie selbst die Verantwortung zu tragen. Bei vorkommenden Reibereien müsste die Badeverwaltung im Interesse des Bades und der anwesenden deutschen Kurgäste die anwesenden Juden sofort von der Insel verweisen.“ Im Jahre 1935 wurden Kunden jüdischer Geschäfte fotografiert und angeprangert. Dadurch verschlechterte sich die ökonomische Lage der Geschäftsinhaber, so dass ein Geschäft nach dem anderen aufgegeben werden musste und auf diese Weise „arisiert“ wurde. Wer weiterhin mit Juden handelte, musste mit Beschimpfungen, Nachteilen und Anzeigen seitens der Nationalsozialisten rechnen. Eine Anzeige gegen einen Oldersumer Händler ist erhalten geblieben. Die städtische Badeanstalt an der Kesselschleuse in Emden verwehrte Juden im selben Jahr den Eintritt, weil die Bevölkerung sich angeblich belästigt gefühlt habe. Dennoch sah nur eine Minderheit der ostfriesischen Juden im Verkauf ihres Besitzes und der Emigration einen Ausweg. Die meisten ostfriesischen Juden schwankten noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Eine exakte und gesicherte Statistik der Aus- und Abwanderung ist wegen der sich teilweise widersprechenden Quellen nicht möglich. 1937 veröffentlichte Heinrich Drees einen Artikel in der Ostfriesische Tageszeitung, in dem er die Verfolgung der Sinti und Juden historisch zu begründen versuchte und schrieb, dass „vagabundierende Juden die Provinz Hannover und Ostfriesland unsicher machen“. Für den Zeitraum von 1765 bis 1803 listete er diverse Durchzüge von Diebesbanden in Ostfriesland auf und unterstellte dabei stets, dass deren Mitglieder „Juden und Zigeuner“ seien. Weiter hieß es: „In den ostfriesischen Städten, besonders in Aurich wurden ständig Vagebundenjagden abgehalten, die im Volksmunde auch ‚Kloppjagden‘ genannt wurden Bei diesen Kloppjagden wurde viel Diebesgut beschlagnahmt und auch viele Juden über die Grenze gejagt.“Die jüdische Gemeinde in Ostfriesland sah sich veranlasst, Vorkehrungen für eine Unterbringung der älteren Gemeindemitglieder zu treffen. Zusätzlich zum Altenheim in der Schoonhovenstraße (Emden) errichtete sie dafür einen Anbau am Waisenhaus in der Klaas-Tholen-Straße. Bis zum Novemberpogrom 1938 verließen etwa die Hälfte der im Regierungsbezirk Aurich ansässigen Juden ihre Ostfriesische Heimat. == Novemberpogrome 1938 == Am 7. November 1938 schoss der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan in der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Dieser erlag am 9. November seinen Verletzungen. Am Abend traf die Nachricht vom Tod vom Raths im Alten Rathaussaal in München ein, wo die nationalsozialistische Führung versammelt war, um des Hitlerputsches 1923 zu gedenken. Gegen 22 Uhr hielt Goebbels dann vor den versammelten SA und Partei-Führern eine antisemitische Hetzrede, in der er „die Juden“ für den Tod vom Raths verantwortlich machte. Er lobte die angeblich „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien, und verwies dazu auf Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Dabei erklärte er, dass die Partei öffentlich nicht als Organisator vorzunehmender antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten solle, diese aber nicht behindern werde. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden Sinn dieser Botschaft. Es war eine indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum organisierten Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Nach Goebbels’ Rede telefonierten sie gegen 22:30 Uhr mit ihren örtlichen Dienststellen. Danach versammelten sie sich im Hotel „Rheinischer Hof“, um von dort aus weitere Anweisungen für Aktionen durchzugeben. Goebbels selbst ließ nach Abschluss der Gedenkfeier nachts Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. An diesem Tag gab es zwei Befehlsstränge in Ostfriesland, die zum Teil zusammenarbeiteten, zum Teil aber auch gegensätzlich agierten. Die SA (1. Befehlsstrang) wollte ganz offen in Uniform auftreten und die NSDAP Gauleitung (2. Befehlsstrang) wollte die Aktionen wie einen spontanen Ausbruch des Volkszorns aussehen lassen, daher gab sie einen Befehl heraus, alle Aktionen in „Räuberzivil“ auszuführen. Für Nordwestdeutschland erteilte der in München anwesende Gauleiter Carl Röver über die NSDAP-Gauleitung um 22:30 Uhr den Befehl zu den Aktionen. Die wichtigere Befehlskette für die Aktionen lief jedoch über die SA-Dienststellen. Der ebenfalls in München anwesende Führer der SA-Gruppe Nordsee (mit Sitz in Bremen), Obergruppenführer Johann Heinrich Böhmcker, gab telefonisch den Befehl durch, der die örtlichen SA-Stürme mobilisierte: In Emden erhielt NS-Kreisleiter Bernhard Horstmann um 22:30 Uhr einen Anruf von der Gauleitung in Emden. Dieser beriet sich danach mit weiteren Parteifunktionären, um die Aktionen der Nacht zu koordinieren. Der Kreisleiter von Norden wurde erst um Mitternacht von dem zufällig in Emden anwesenden Gauhauptstellenleiter Meyer erreicht. Dieser teilte ihm mit, dass der zuständig SA-Führer in Norden, Sturmbannführer Wiedekin, nicht erreichbar sei. Ewerwien sollte dies persönlich in die Hand nehmen. Nachdem dieser zunächst untätig blieb, wurde er gegen 1 Uhr in der Nacht direkt von Oldenburg aufgefordert, Wiedekin zu wecken. Wiedekin gab nach der Alarmierung der SA den Befehl an die ihm unterstellte SA in Dornum weiter.Erich Drescher, Bürgermeister der Stadt Leer, wurde von der Gauleitung Oldenburg zu Hause angerufen und in groben Zügen über die geplanten Aktionen informiert. Zusammen mit seinem Neffen, der zufällig zu Besuch weilte, wurde er von seinem Fahrer Heino Frank zum Rathaus gebracht, wo er mit dem Standartenführer Friedrich Meyer eine Unterredung führte, die der Abstimmung der Aufgabenbereiche diente. Beide wurden in dieser Nacht wahrscheinlich unabhängig voneinander über die Vorgänge informiert. Meyer begab sich nach dem Gespräch nach Weener, um hier den Befehl an den Führer der SA, Sturmbannführer Lahmeyer, weiterzugeben. Die Befehlskette von Aurich lief über SA-Sturmbannführer Eltze aus Emden. Dieser alarmierte zunächst den Auricher Kreisleiter Heinrich Bohnens, um sich anschließend in Begleitung eines SA-Trupps nach Aurich zu begeben und dort gemeinsam mit Bohnens alle weiteren Aktionen zu veranlassen. Die SA-Führer von Esens (SA-Obersturmführer Hermann Hanss), Wittmund (SA-Sturmführer Georg Knoostmann) und Neustadtgödens (SA-Sturmführer Friedrich Haake) wurden von der SA-Standarte Emden telefonisch instruiert. Nun begannen in allen ostfriesischen Orten mit jüdischer Bevölkerung die organisierten Pogrome, die später als „Reichskristallnacht“ oder Novemberpogrome 1938 bezeichnet wurden. Zerstört wurden in dieser Nacht die Synagogen von Aurich, Emden, Esens, Leer, Norden und Weener. Die Synagoge in Bunde war schon vor 1938 an den Kaufmann Barfs verkauft worden. Die Synagoge von Jemgum war bereits um 1930 verfallen. In Neustadtgödens hatte ein Kaufmann das Gebäude 1938 erworben und nutzte das Gebäude als Farblager, weshalb die Nazis wahrscheinlich kein Feuer legten. Das erhaltene Gebäude wird heute als Erinnerungsort und Museum genutzt. Die Synagoge von Norderney wurde 1938 verkauft. Heute wird sie baulich verändert als Restaurant genutzt. Die Synagoge Wittmund war im Juni 1938 auf Abbruch verkauft worden. Erhalten ist heute nur noch die Synagoge von Dornum, welche am 7. November 1938 an einen Tischler verkauft wurde. In Emden starb ein Jude an den Folgen eines Lungendurchschusses, den ihm die SA in der Pogromnacht beigebracht hatte. Alle Juden wurden zusammengetrieben und verhaftet, Frauen und Kinder jedoch bald wieder entlassen. Die männlichen Juden mussten unter Schikanen ihrer Bewacher Aufräum-Arbeiten verrichten, ehe sie nach Oldenburg überführt wurden. In Oldenburg wurden sie in der Polizeikaserne am Pferdemarkt (heute Landesbibliothek) zusammengetrieben. Dort trafen auch die jüdischen Oldenburger ein, die am 10. November in einem beschämenden Marsch durch die Innenstadt zum Gerichtsgefängnis getrieben worden waren. Noch am 11. November wurden etwa 1.000 jüdische Ostfriesen, Oldenburger und Bremer mit dem Zug über Berlin nach Oranienburg gebracht. Hier wurden sie in der folgenden Nacht von SA-Männern aus den Zügen und anschließend im Laufschritt in das etwa 2 km entfernte Konzentrationslager Sachsenhausen getrieben. Auf dem Weg zum Lager waren schon vier Tote zu beklagen. Anschließend mussten die Juden 24 Stunden auf dem Sammelplatz stehen und wurden dann in eine Baracke geführt, wo sie sich vollkommen zu entkleiden hatten. Geld und Wertsachen wurden ihnen gegen Quittung abgenommen und ein Personalbogen musste ausgefüllt werden, der, wie sich der Oldenburger Landrabbiner Leo Trepp erinnerte, zwei Vermerke hatte: Entlassen am …, gestorben am …. Die Juden blieben bis Dezember 1938 oder Anfang 1939 inhaftiert. Ihre Freilassung erfolgte erst, nachdem sie sich zur Auswanderung verpflichtet hatten. == Exodus, Vertreibung und Ermordung == Die jüdischen Gemeinden waren nicht mehr Körperschaften öffentlichen Rechts, sondern wurden als „Jüdische Kultusvereinigungen e. V.“ in das Vereinsregister eingetragen. Am 12. und 13. Februar 1940 versuchte die Gestapo, die noch in Ostfriesland verbliebenen Juden in das besetzte Polen abzuschieben. Die Organisation gab das Vorhaben wegen fehlender Transportkapazitäten auf. Zudem gab es eine massive Intervention der Vertreter der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland gegen das Vorhaben. Eine Initiative ostfriesischer Landräte und des Magistrats der Stadt Emden führte schließlich Ende Januar 1940 zu der Weisung der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven, wonach Juden Ostfriesland bis zum 1. April 1940 verlassen sollten. Lediglich Personen über 70 Jahre war ein Aufenthalt im jüdischen Altenheim in Emden gestattet. Im April 1940 meldeten die ostfriesischen Städte und Landgemeinden dem Regierungspräsidenten, früher als anderswo im Reich, dass sie „judenfrei“ seien. Die ostfriesischen Juden mussten sich andere Wohnungen innerhalb des deutschen Reiches (mit Ausnahme Hamburgs und der linksrheinischen Gebiete) suchen. Zwischen Januar und März 1940 wurden auf Weisung der Gestapo Wilhelmshaven 843 Juden aus dem Regierungsbezirk Aurich und dem Land Oldenburg zum Verlassen ihrer Wohnorte und Umsiedlung in andere Regionen Deutschlands gezwungen.Ostfriesland wurde für judenfrei erklärt und war es de facto auch. Reste der jüdischen Bevölkerung konnten im jüdischen Altersheim in Emden ihr Leben fristen. 1941 gehörte Emden zu den ersten 12 Städten im Reich, aus denen Juden in den Osten deportiert wurden. Wenige Tage nach dem Beginn der systematischen Deportationen im Oktober 1941, am 23. Oktober, wurden 122 Emder Juden in das Ghetto Łódź verschleppt. 23 Personen wurden noch aus dem jüdischen Altenheim in Emden in das jüdische Altenheim in Varel (Oldenburg) verlegt und von dort aus im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Nur einige wenige Juden, die in sogenannter Mischehe lebten, blieben während des Krieges in Ostfriesland wohnen. Ein sehr großer Teil der Juden des Weser-Ems-Gebietes, die bereits im Frühjahr 1940 in andere Teile des Reiches vertrieben worden waren, wurde am 18. November 1941 nach Minsk deportiert und dort fast ausnahmslos bis Juli 1942 „durch Arbeit vernichtet“ oder ermordet. In Minsk-Stadt sind am 28. und 29. Juli 1942 rund 10.000 Juden (davon ca. 6.500 russische Juden) liquidiert worden, darunter vermutlich auch Juden aus Ostfriesland. Viele Juden aus Ostfriesland waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges emigriert, der Großteil wurde aber von den Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern umgebracht. Eine genaue Zahl der Ermordeten ist nicht zu ermitteln; es kann von einer Zahl von 1000 getöteten Juden in Ostfriesland ausgegangen werden, was etwa die Hälfte der 1925 in Ostfriesland gezählten Juden (2146) bedeutet. Ab 1943 fuhr jeden Dienstag ein Güterzug aus dem Durchgangslager Westerbork eine große Gruppe Häftlinge über Assen, Groningen und den Grenzbahnhof Nieuweschans nach „Osten“, überwiegend in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Sobibór. Die Fahrt dauerte ungefähr drei Tage. Der Zug wurde bis Nieuweschans von niederländischem Bahnpersonal unterstützt, und ab dort von deutschem Personal übernommen. In Leer hatten diese Züge meistens zwei bis drei Stunden Aufenthalt an Gleis 14 des Hauptbahnhofs inmitten der Stadt. Dort wurden sie von SS-Männern mit Maschinenpistolen bewacht. == Exodus-Flüchtlinge in Ostfriesland == Die Exodus war ein Immigrantenschiff, das 1947 eine entscheidende Rolle bei der Vorgeschichte der Staatsgründung Israels spielte: Am 11. Juli begann das Schiff mit 4.515 Passagieren die Überfahrt in Sète, Frankreich. Die Fahrt wurde von Anfang an vom britischen Geheimdienst überwacht. Am 18. Juli wurde die Exodus vor Haifa von der britischen Marine in internationalen Gewässern aufgebracht; im heftigen Widerstand starben drei der Mannschaftsmitglieder und viele wurden verletzt. Die Rückführung der Immigranten hatte für die britische Administration hohe Priorität, da sie hoffte, damit ein Zeichen zu setzen und die Einwanderung zu stoppen. Die Maßnahme wurde von ihr „Operation Oasis“ genannt. Im Hafen von Haifa wurden die erschöpften Passagiere auf drei Gefangenenschiffe (Ocean Vigour, Runnymede Park und Empire Rival) verladen und zurück nach Frankreich geschickt. Dort trafen sie am 29. Juli ein. Obwohl die Situation an Bord menschenunwürdig war, weigerten sich die meisten Passagiere drei Wochen lang, die Schiffe zu verlassen. Um den Widerstand zu brechen, drohte die britische Verwaltung, die Passagiere nach Deutschland zu bringen. Nachdem diese Maßnahme keinen Erfolg gezeigt hatte, stachen die Schiffe am 22. August erneut in See. Da der Druck auf die britische Regierung wuchs und sie die Entscheidung zu einer Deportation nach Deutschland noch einmal diskutieren wollte, machten die Schiffe Ende August einen fünftägigen Zwischenstopp in Gibraltar. Am 30. August fuhren sie weiter und erreichten am 8. September den Hamburger Hafen. Dort wurden die Passagiere vor den Augen der internationalen Presse mit Gewalt von Deck gebracht und in die Lager „Pöppendorf“ und „Am Stau“ bei Lübeck, die zuvor zur Versorgung von Wehrmachtsangehörigen und Displaced Persons gedient hatten, verbracht. Zur Internierung der Passagiere wurden sie mit Stacheldraht und Wachtürmen zu Gefangenenlagern ausgebaut. Die internationalen Reaktionen auf diesen Umgang mit den Menschen waren verheerend. Selbst US-Präsident Harry S. Truman schaltete sich ein, um die britische Regierung zum Umdenken zu bewegen. Auch innerhalb der Lager ging der Widerstand weiter, was die Verwaltung unter anderem mit Kürzung der Lebensmittelrationen bestrafte. 1947 wurden 2.342 bis dahin im Lager „Pöppendorf“ internierte Juden mit Zügen in ehemalige Kasernen nach Emden transportiert. In den Monaten nach der Umquartierung verließen viele Menschen die Lager in Ostfriesland; im April 1948 lebten dort nur noch 1.800 Personen von den einst rund 4.000 nach Niedersachsen gebrachten jüdischen Menschen. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Darum entfielen bald die Einwanderungs-Restriktionen. Mitte Juli 1948 wurde das Emder Lager nach fast achtmonatiger Belegung geräumt. Die noch in Emden verbliebenen Flüchtlinge wurden in andere Lager überführt, von wo aus sie die Reise nach Israel antraten. == Jüdisches Leben in Ostfriesland nach 1945 == Die jüdischen Einwohner (und mit ihnen die jüdische Kultur) verschwanden im Jahre 1942 aus Ostfriesland. Nur 13 Juden kehrten bis 1947 nach Emden zurück. Sie gründeten 1949 eine neue Synagogengemeinde als Verein. Dieser löste sich im Jahre 1984 auf, da er nur noch aus einem Mitglied bestand. Die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Emden fand im Jahre 2004, in Aurich im Jahre 2007, statt. Heute leben kaum noch Menschen jüdischen Glaubens in Ostfriesland, die Religion wird daher nicht öffentlich praktiziert. Die wenigen ostfriesischen Juden sind Teil der jüdischen Gemeinde in Oldenburg. In den ehemaligen ostfriesischen Synagogengemeinden bildeten sich Arbeitskreise, die das Geschehene aufarbeiteten und Überlebende einluden. Denkmäler wurden errichtet und die jüdischen Friedhöfe instand gesetzt. == Juristische Aufarbeitung == Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurden vor allem in den Jahren 1949/50 Strafprozesse in Zusammenhang mit den Novemberpogromen geführt. Diese Prozesse gab es für nahezu alle Orte mit ehemaligen Synagogengemeinden mit Ausnahme von Dornum und Jemgum, wo die staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine Anklage nicht ausreichten. In Aurich wurde von vier Angeklagten einer freigesprochen, die drei anderen wurden zu Gefängnisstrafen von drei Jahren, einem Jahr und zehn Monaten verurteilt.In Leer fanden 1948 bis 1950 Strafgerichtsprozesse gegen verschiedene verantwortliche Personen aus dem Landkreis Leer statt, darunter auch gegen Oldersumer. Sie endeten mit vergleichsweise milden Urteilen. Die meisten der verhängten Freiheitsstrafen mussten aufgrund von Amnestiebestimmungen nicht angetreten werden; viele Verantwortliche wurden gerichtlich nicht belangt. In Norden wurden die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen 1948 und 1951 geführt. Das Gericht verhängte in beiden Prozessen Freiheitsstrafen zwischen ein und vier Jahren bei sieben Freisprüchen und 13 Verfahrenseinstellungen. == Synagogenwesen == Die Aufsicht über die 11 ostfriesischen Synagogengemeinden (und die Außenstelle der Norder Gemeinde auf Norderney) nahmen die Magistrate der Städte oder Vertretungen der Gemeinden/Flecken, die Regierung/Landdrostei in Aurich und das Landesrabbinat in Emden. Der Landesrabbinatsbezirk Ostfriesland umfasste die Gebiete des ehemaligen Fürstentums. 1844 wurde das Landesrabbinat um den Bezirk Osnabrück erweitert. Der Bezirk Stade wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts für 10 Jahre ebenfalls von Emden verwaltet. Wilhelmshaven war nach Gründung einer eigenen Gemeinde ebenfalls Teil des Landesrabbinatsbezirkes Ostfriesland. In Ostfriesland waren folgende Landesrabbiner tätig: Nächsthöhere Instanz in der Provinz Hannover war das Landrabbiner-Kollegium in Hannover, das aus den Landesrabbinaten Hannover, Hildesheim sowie Emden bestand und bei Bedarf zusammentrat. == Bildungswesen == Bis zum Untergang der Jüdischen Gemeinden in der Zeit des Nationalsozialismus gab es in Ostfriesland bis zu zehn jüdische Elementarschulen. Diese wurden von den Gemeinden in Aurich, Bunde, Emden, Esens, kurzfristig auch in Jemgum, Leer, Neustadtgödens (von 1812 bis 1922), Norden, Weener und Wittmund unterhalten. Die jüdischen Schulen litten unter stark schwankenden Schülerzahlen und konnten den Regelbetrieb deshalb nicht immer aufrechterhalten, weshalb einige Schulen sich auf den Religionsunterricht beschränkten. Der Elementarunterricht dann in den öffentlichen Schulen statt. Dieser Trend verstärkte sich im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit sandten liberal gesinnte jüdische Bürger, denen eine gute Bildung ihres Nachwuchses wichtig war, auf weiterführende Schulen in den Städten. Die ersten jüdischen Lehrer in Ostfriesland lebten häufig in den Haushalten von Eltern, deren Kinder sie unterrichteten. Dadurch benötigten sie keinen eigenen Geleitbrief, mussten aber bei der preußischen Kriegs- und Domänenkammer in Aurich angemeldet werden erhielten eine Duldung für vier Jahre. Im Anschluss mussten sie sich einen neuen Haushalt suchen, der sie anstellte und dessen Vorstand sie erneut anmelden musste. Den Lehrern war es verboten, zu heiraten oder einem anderen Beruf nachzugehen. Wer dennoch heiratete, mussten mit der Ausweisung aus Ostfriesland rechnen, denn für den Erwerb eines Geleits fehlte den Lehrern, deren Situation bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts prekär war, die Mittel. Die erste jüdische Elementarschule Ostfrieslands eröffnete die jüdische Gemeinde in Leer 1803 auf Empfehlung der Kriegs- und Domänenkammer in Aurich. Mit dem Beginn der französischen Landesherrschaft änderte sich die Situation ab 1815. Nach französischem Vorbild betreute ein Großrabbiner (grand-rabbin) die Gemeinden im Konsistorialbezirk. Er amtierte ab 1827 als Landesrabbiner. Dieser kontrollierte und lenkte unter der Aufsicht der Landdrosten von Aurich und Osnabrück die Schulen der jüdischen Gemeinden in diesen Landdrosteibezirke und hatte damit die gleichen Befugnisse, wie das königliche Konsistorium, das als Behörde einer Landdrostei die Aufsicht gegenüber den christlichen Kirchengemeinden und deren Schulen innehatte. Damit konnte der Landesrabbiner direkt in die Schulorganisation der ihm unterstellten Gemeinden eingreifen. Nach 1815 wurde die Schulträgerschaft im Königreich Hannover grundsätzlich an die christlichen und jüdischen Gemeinden übertragen und ab 1842 das jüdische Schulwesen neu geregelt. Die Gemeinden waren danach für Organisation und Verwaltung sowie Bezahlung der Lehrkräfte verantwortlich und wurden verpflichtet, nur qualifiziertes Personal einzustellen. Unterrichtssprache hatte laut einem Dekret von 1831 Deutsch zu sein. Daneben wurden beispielsweise in Aurich die Fächer Hebräisch, Pentateuch in der Ursprache, Biblische Geschichte und Religionskenntnisse, Deutschlesen, Gebete in der Ursprache, Orthografie, Deutsche Grammatik, Schreiben, Rechnen, Geographie und Weltgeschichte unterrichtet. Einwände gegen die Lehrpläne gab es vonseiten der hannoverschen Behörden nicht.In Emden eröffnete die Jüdische Gemeinde ihre erste Schule 1841 in einem Gebäude in der Judenstraße (der heutigen Max-Windmüller-Straße), in Aurich begann der Unterricht im Jahre 1843. In Weener wurde die jüdische Schule 1853 errichtet und bis 1924 genutzt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtete das Königreich Hannover die Lehramtsprüfung, Anstellung und Entlassung der Lehrkräfte, Schulaufsicht und Lehrpläne als innerjüdische Angelegenheit. Ab 1848 übernahmen lokale Behörden und die Landesrabbiner die Oberaufsicht über die Schulen. Die Finanzierung der Lehrkräfte oblag weiter den Gemeinden. Im November 1848 nahm die Jüdische Lehrerbildungsanstalt in Hannover ihre Arbeit auf. Lehramtsanwärter erhielten dort Unterricht in den religiösen Fächern Bibelkunde, Religionslehre, jüdischer Geschichte und Hebräisch, sowie in Deutsch, Geschichte, Naturgeschichte, Geographie, Schreiben, Rechnen, Zeichnen und Gesang. Nach der Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen 1866 wurde Ostfriesland erneut preußisch. An der Schulsituation änderte das zunächst nichts Preußen übernahm die Verwaltungsstrukturen des annektierten Welfenstaates und veränderte sie nur allmählich. Dem Landrabbiner oblag damit weiterhin die Oberaufsicht über die jüdischen Schulen. Er selbst war dem königlichen Konsistorium, einer für Schul- und Kirchenwesen zuständigen Behörde der Landdrostei, später der königlichen Regierung zu Aurich untergeordnet. Die Schulträgerschaft blieb Aufgabe der jüdischen Gemeinden. An einigen staatlichen Schulen war während des Ersten Weltkriegs wegen Lehrermangels der reguläre Schulbetrieb gefährdet. In dieser Zeit übernahm der jüdische Lehrer Lasser Abt den Unterricht an der staatlichen Volksschule in Leer, während die jüdische Volksschule geschlossen blieb. Den umgekehrten Fall gab es in Neustadtgödens. Während der dortige jüdische Lehrer Kriegsdienst leistete, unterrichtete ein katholischer Geistlicher die jüdischen Schüler. Der Religionsunterricht wurde allerdings grundsätzlich von einem jüdischen Religionslehrer erteilt.In der Zeit der Weimarer Republik änderte sich an der Organisation des jüdischen Schulwesens nur wenig. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 hatten die Juden in Ostfriesland unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Auch die Schüler an deutschen weiterführende Schulen waren innerhalb ihrer Klassen der Isolierung und Diskriminierung ausgesetzt und wurden mit der Verkündung der Nürnberger Rassegesetze 1935 von den Schulen verwiesen. Die jüdischen Schulen in Ostfriesland wurden rechtlich zu Privatschulen, die ab 1937 der Reichsvereinigung der deutschen Juden. Sie erließ für die Israelitischen Schulen einen Lehrplan, der auch die Vorbereitung auf die Auswanderung, insbesondere nach Palästina, enthielt. In der Folgezeit schrumpften die Schülerzahlen durch Abwanderung. Bis 1940 schlossen die Nationalsozialisten die letzten jüdischen Schulen Ostfrieslands. Die Schulgebäude sind größtenteils erhalten. Im ehemaligen jüdischen Gemeindehaus mit Schule in Esens, dem August-Gottschalk-Haus, ist heute eine Dauerausstellung zur neueren Geschichte der ostfriesischen Juden zu sehen. In Leer eröffnete im Jahre 2013 die Ehemalige Jüdische Schule als Kultur- und Gedenkstätte. == Entwicklung des Anteils der jüdischen Bevölkerung in Ostfriesland == Aufgrund der zu unterschiedlichen Zeiten erhobenen statistischen Daten ist eine gesicherte Angabe der Anzahl der Juden in Ostfriesland nur für den Zeitraum von 1833 bis 1925 möglich. 1925 stellten die Juden 0,84 % der Gesamtbevölkerung Ostfrieslands. Die zahlenmäßig größte Gemeinde stellte Emden mit 700 Mitgliedern, den höchsten prozentualen Bevölkerungsanteil hatte Dornum mit 7,3 %. Nähere Informationen zu den einzelnen jüdischen Gemeinden gibt folgende Tabelle: Quelle: Das Ende der Juden in Ostfriesland (s. Literaturangaben) == Gedenkstätten == In allen Orten, in denen es früher jüdische Gemeinden gab, wurden nach 1945 Gedenkstätten eingerichtet. Meist wird der jüdischen Gemeinden mit Gedenksteinen gedacht, die an den Orten der ehemaligen Synagogen stehen. Mehrere Straßen wurden nach jüdischen Personen benannt. Die jüdischen Friedhöfe wurden nach 1945 wieder hergerichtet. In Dornum ist die ehemalige Synagoge zu einer Gedenkstätte mit einer ständigen Ausstellung unter anderem zur Geschichte der Dornumer jüdischen Gemeinde umgestaltet. 1988 wurde anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht die Ausstellung „Das Ende der Juden in Ostfriesland“ von Mitgliedern des Arbeitskreises „Geschichte der Juden in Ostfriesland“ bei der Ostfriesischen Landschaft in Aurich zusammengestellt. Diese ist heute Teil der Gedenkstätte mit Dauerausstellung zur neueren Geschichte der ostfriesischen Juden im „August-Gottschalk-Haus“, dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus in Esens. Die Ausstellung wird vom „Ökumenischen Arbeitskreis Juden und Christen in Esens e. V.“ betreut. In Emden wurde der „Arbeitskreis – Juden in Emden e. V.“ gegründet, dessen Ziel es ist, die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Emdens zu erforschen und pädagogisch zu vermitteln. In Leer eröffnete im Jahre 2013 die Ehemalige Jüdische Schule als Kultur- und Gedenkstätte. == Jüdische Persönlichkeiten aus Ostfriesland == Jacob Emden (1697–1776), Rabbiner und Talmudgelehrter Recha Freier (1892–1984), Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus, Lehrerin und Dichterin Minnie Marx (1865–1929), Mutter und Managerin der Marx Brothers Moritz Neumark (1866–1943), Industrieller und Politiker jüdischer Herkunft Eduard Norden (1868–1941), Klassischer Philologe und Religionshistoriker Max Sternberg (1856–1930), Arzt und Kommunalpolitiker, Mitbegründer des Bundes deutscher Bodenreformer Max Windmüller (1920–1945), Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus == Siehe auch == Liste der ehemaligen ostfriesischen Synagogen Liste jüdischer Friedhöfe in Ostfriesland Liste der ehemaligen jüdischen Schulen in Ostfriesland Ostfriesland zur Zeit des Nationalsozialismus == Literatur == Gesamtdarstellungen Heike Düselder (Bearbeitung), Hans P Klausch (Bearbeitung), Albrecht Eckhardt, Jan Lokers, Matthias Nistal: Quellen zur Geschichte und Kultur des Judentums im westlichen Niedersachsen vom 16. Jahrhundert bis 1945. Teil 1: Ostfriesland. Ein sachthematisches Inventar. Vandenhoeck & Ruprecht 2002, ISBN 3-525-35537-8. Herbert Reyer (Bearb.): Das Ende der Juden in Ostfriesland. Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9. Herbert Reyer, Martin Tielke (Hrsg.): Frisia Judaica. Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-40-0 Herbert Obenaus (Hrsg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Wallstein, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-753-5Sonstiges Günter Stein: Stadt am Strom, Speyer und der Rhein, Zechner, 1989, S. 35/36 (Erwähnung von Friesen und Juden als Fernkaufleute im hohen Mittelalter), ISBN 3-87928-892-5 Frank Bajohr: Unser Hotel ist judenfrei. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer, Frankfurt/M. 2003. ISBN 3-596-15796-X Werner Teuber: Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871–1942. Eine vergleichende Studie zu einer jüdischen Berufsgruppe in zwei wirtschaftlich und konfessionell unterschiedlichen Regionen. Runge, Cloppenburg 1995, ISBN 3-926720-22-0 Michael Wildt: Der muß hinaus! Der muß hinaus!- Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920–1935. in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. HIS-Verl. Ges., Hamburg 4/2001. ISSN 0941-6382 == Weblinks == Reise ins jüdische Ostfriesland, Herausgeberin: Ostfriesische Landschaft – Kulturagentur, Aurich 2013. Land der Entdeckungen. Reise ins jüdische Ostfriesland. Dokumentation zum Kooperationsprojekt, Herausgeberin: Ostfriesische Landschaft, Aurich 2014 Synagoge Dornum „Max Windmüller Gesellschaft Emden“ Juden in Oldersum Jüdische Familien in Rhauderfehn bethhahayim.info: über jüdische Gemeinden in Ostfriesland == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Ostfriesland
Pferdebahn Timișoara
= Pferdebahn Timișoara = Die Pferdebahn Timișoara wurde 1869 eröffnet und bildete den Grundstein der, seit 1899 elektrifizierten, Straßenbahn Timișoara. Die normalspurige Pferdestraßenbahn im heute zu Rumänien gehörenden Timișoara – ungarisch Temesvár und damals Teil des Königreiches Ungarn – wurde von der Aktiengesellschaft Temesvári Közúti Vaspálya Társaság – abgekürzt TKVT, deutsch: Temesvarer Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft – betrieben. Diese hieß ab 1897 Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság (TVVV), heute firmiert sie – wiederum als Aktiengesellschaft – unter der Bezeichnung Societatea de Transport Public Timișoara, abgekürzt S.T.P.T. == Geschichte == === Vorgeschichte === Bereits am 15. November 1857, noch zur österreichischen Zeit, erhielt das damalige Temeswar einen Anschluss an das Eisenbahnnetz der privaten Österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft. Damals erreichte eine neue Strecke von Szeged her die Hauptstadt des Banats. Jedoch lag der neue Temeswarer Bahnhof – der heutige Gara de Nord – im Stadtbezirk Josefstadt und damit weit außerhalb des Stadtzentrums. Zwischen der Inneren Stadt und dem Josefstädter Bahnhof (später Józsefvárosi pályaudvar) lag das damals noch unbebaute Festungsvorland. Vom zentralen Paradeplatz (später Jenő Herceg tér, heute Piața Libertății) aus waren beispielsweise rund zweieinhalb Kilometer Fußweg zum Bahnhof zurückzulegen. Schon am 20. Juli 1858 ging die Erweiterung der Bahnstrecke nach Karasjeszenö in Betrieb, heute Jasenovo in Serbien. Diese führte fortan nur wenige hundert Meter südlich der massiven Festungsmauern an der Inneren Stadt vorbei, dennoch wurde dort aus militärstrategischen Gründen keine Station eingerichtet. Die Verlängerung änderte somit nichts an der mangelhaften Erreichbarkeit der Eisenbahn. Außerdem machte sich im Zuge der beginnenden Industrialisierung das Fehlen einer Verkehrsverbindung zwischen der Inneren Stadt und der ebenfalls peripher gelegenen Fabrikstadt immer stärker bemerkbar. Unabhängig von den zahlreichen Industriebetrieben dort war die Fabrikstadt seinerzeit außerdem der größte Temesvárer Stadtteil; 1850 lebten dort 70 Prozent der Einwohner. === Konzessionserteilung und Baubeginn === Zur Verbesserung der städtischen Verkehrsverhältnisse gründete sich daher am 3. November 1867 – wenige Monate nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich – die spätere Pferdebahn-Betreibergesellschaft. Am 11. Dezember 1867 erhielt das neue Unternehmen die Baugenehmigung Nummer 11.981 für die Errichtung der Anlage. Am 12. Februar 1868 reichte es die Baupläne ein, am 20. Februar 1868 folgte auch die ursprünglich für eine Dauer von 50 Jahren ausgestellte Konzession. Erfolglos blieb hingegen das konkurrierende Angebot der beiden Unternehmer J. Krammer und A. Herzberg aus der damaligen ungarischen Hauptstadt Pest. Zwar erkannte der Stadtrat im März 1868 an, dass deren Offerte günstiger sei. Da die Genehmigung jedoch zuvor schon dem lokalen Unternehmen erteilt wurde, wurde der neue Antrag abgelehnt. Im Gegenzug kam dieses der Stadt in mehreren Punkten entgegen; so akzeptierte die Gesellschaft beispielsweise die nachträgliche Verkürzung der Konzessionsdauer von 50 auf 40 Jahre. Diese erfolgte durch das zuständige Bauministerium in Pest am 15. Juli 1868 per Dekret Nummer 6530. Am 29. Oktober 1868 begannen schließlich die Bauarbeiten für die Bahn, ungarisch als lóvasút für Pferdeeisenbahn bezeichnet. Im April 1869 wurde der Ingenieur Heinrich Baader mit der weiteren Leitung der Bauarbeiten beauftragt und kurz darauf am 1. Juli 1869 zum Direktor des Unternehmens ernannt. Im Mai 1869 schloss die Gesellschaft mit der Stadt einen Landnutzungsvertrag. Dieser enthielt zusätzlich zu den üblichen Klauseln eine Vereinbarung, nach welcher die Pferdebahngesellschaft ein Viertel der Kosten für den Bau und die Instandhaltung der von ihr benutzten Brücken bezahlen musste. === Eröffnung (Juli 1869) === Am Donnerstag, dem 8. Juli 1869 erfolgte schließlich die Aufnahme des Pferdebahnbetriebs, zunächst jedoch nur zwischen der Inneren Stadt und der Fabrikstadt. Nach New York (1832), Montbrison (1839), Paris (1855), Boston (1856), Mexiko-Stadt (1857), Havanna und Santiago de Chile (1858), Rio de Janeiro (1859), Birkenhead (1860), London, Sydney und Toronto (1861), Genf (1862), Buenos Aires, Alexandria, Kapstadt, Kopenhagen, Sankt Petersburg und Valparaíso (1863), Berlin und Wien (1865), Hamburg und Pest (1866), Buda und Stuttgart (1868) sowie Brüssel (Mai 1869) war Temesvár mit seinen damals 32.725 Einwohnern unter den ersten Städten weltweit, die eine Pferdestraßenbahn eröffneten. Wie in nahezu allen anderen Städten entschieden sich auch die Planer in Timișoara für die Normalspur, lediglich Santiago de Chile, Rio de Janeiro und Valparaíso (alle Kolonialspur von 1676 Millimetern) sowie Sankt Petersburg (Russische Breitspur von 1524 Millimetern) hatten damals andere Spurweiten. Die Endstelle in der Inneren Stadt befand sich auf der verkehrsgünstig gelegenen heutigen Piața Sfântu Gheorghe, damals Szent György tér beziehungsweise Sankt-Georgs-Platz genannt. Der Platz liegt nur etwa 100 Meter östlich der zentralen Piața Libertății und 200 Meter südlich der Piața Unirii, dem zweiten zentralen Platz der Inneren Stadt. In der Fabrikstadt war die Endstation auf der heutigen Piaţa Romanilor, ehemals Piaţa Coronini beziehungsweise ungarisch Coronini tér. Diese Bezeichnung kam jedoch erst in den 1880er Jahren auf, weshalb in den meisten Quellen der Gasthof Zur Königin von England – ungarisch Angol Királynő – als erste Endstation der Pferdebahn angegeben wird. Hierbei handelte es sich um das Eckhaus an der nordöstlichen Seite des Platzes, heute Piaţa Romanilor Nummer 1. Diese erste Strecke war 1896 Meter lang und wich an zwei Stellen von der heutigen Linienführung der Straßenbahn ab. In diesen beiden Abschnitten verkehrte die Pferdebahn südlich der heutigen Trassierung: Vom Ausgangspunkt aus führte die Strecke zunächst in südöstliche Richtung durch die Strada Enrico Caruso bis zum Haupttor der ehemaligen Siebenbürger Kaserne, von dort aus wieder in nordöstliche Richtung durch die – in den 1960er Jahren teilweise durch das Kaufhaus bega überbaute – Strada Carol Telbisz zur heutigen Trasse. Diese wurde an der Einmündung der Strada Martin Luther in den Bulevardul Revoluţiei din 1989 erreicht, das heißt vor dem heutigen Hotel Continental.Zwischen dem früheren Siebenbürger Tor (Erdélyi kapu, beim heutigen Hotel Continental gelegen) und dem Eingang zum Parcul Poporului (Stadtpark, Városliget) in der Fabrikstadt verlief die Verbindungsstraße und somit auch die Straßenbahntrasse ursprünglich weiter südlich als heute. Sie folgte – quer über das damals noch unbebaute Postpalais-Gelände hinweg – den heutigen Straßen Ludwig van Beethoven und Martir Leontina Bânciu. Die Bega verlief damals – vor ihrer Kanalisierung – noch etwas weiter südlich und musste von der Pferdebahn nicht überwunden werden. Stattdessen querten Straße und Straßenbahn circa 100 Meter südlich der – erst 1909 fertiggestellten – Decebal-Brücke den sogenannten Holzschwemmkanal, einen ehemaligen Seitenarm der Bega. Erst beim Neptunbad erreichte die Pferdebahn die gegenwärtige Straßenbahnstrecke.Den Festungsgraben überquerte die Bahn auf einer Holzbrücke; die Stadtmauer selbst wurde mittels eines zweiflügeligen Bahnfestungstors passiert. Im Belagerungsfall hätte die Straßenbahngesellschaft, gemäß einem am 7. September 1868 unterzeichneten Vertrag, auf Ersuchen des Militärs innerhalb von maximal 24 Stunden die Brücke demontieren und die Mauer in ihren ursprünglichen Zustand versetzen müssen. Im Bereich des Festungsvorlands verliefen die Schienen über mehr als einen Kilometer ähnlich einer Überlandstraßenbahn durch weitgehend unbebautes Gebiet. An Personal und Betriebsmitteln standen anfangs zunächst 1 Inspektor, 6 Schaffner, 7 Kutscher, 3 Streckenwärter, 5 Personenwagen und 15 Paar Pferde zur Verfügung, wovon 1 Wagen und 3 Paar Pferde als Reserve dienten. Das heißt, jedem Kurs waren 3 Pferde zugeordnet, von denen jedoch nur 2 gleichzeitig zum Ziehen des Wagens benötigt wurden, während das dritte an der Endstelle pausierte. Als Besonderheit verfügten die Fahrzeuge der Pferdebahn anfangs über zwei Wagenklassen, wie es damals vor allem bei der Eisenbahn üblich war. Der Fahrgastraum war in der Mitte geteilt, der Durchgang zwischen den beiden Abteilen war jedoch offen. Bereits am 16. August 1869 ereignete sich nahe der Festungsmauer ein tödlicher Verkehrsunfall; der letzte Kurs in Richtung Fabrikstadt überfuhr gegen 21:00 Uhr eine mutmaßlich angetrunkene Person. === Erweiterung in die Josefstadt (Oktober 1869) === Dreieinhalb Monate nach der Eröffnung – am Montag, dem 25. Oktober 1869 – erhielt schließlich auch die Josefstadt ihren Anschluss an die neue Pferdebahn. Es verkehrte fortan eine zweite Linie zwischen der Piața Sfântul Gheorghe und dem Gasthaus Wilder Mann (ungarisch Vad-ember) am nördlichen Ende der heutigen Strada Iancu Văcărescu, das heißt an der Einmündung in das heutige Splaiul Tudor Vladimirescu. Die dortige T-Kreuzung am linken Bega-Ufer fungierte als provisorische Endstelle, weil die zum Anschluss des Josefstädter Bahnhofs erforderliche Brücke über die Bega, die spätere Bem-híd und heutige Podul Eroilor, nicht rechtzeitig fertiggestellt werden konnte. Die neue Linie war circa 2,9 Kilometer lang, in der Inneren Stadt benutzte sie auf den ersten 100 Metern die bereits bestehende Infrastruktur in Richtung Fabrikstadt. Erst vor dem Haupttor der damaligen Siebenbürger Kaserne teilten sich die beiden Strecken. Von dort aus führten sie über die Piața Iancu Huniade und die Piața Victoriei, bevor sie bei der heutigen Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen auf die heutige Straßenbahntrasse trafen. Die Festungsanlage beim Peterwardeiner Tor (Péterváradi kapu) wurde wiederum mittels einer rasch demontierbaren Holzbrücke und eines eigenen Tores passiert. Anschließend verlief auch die Strecke in die Josefstadt auf circa einem Kilometer Länge als Überlandstraßenbahn über freies Feld. Eine betriebliche Besonderheit des neuen Abschnitts war die niveaugleiche Kreuzung mit der seit 1858 bestehenden Eisenbahnstrecke nach Karasjeszenö. Die beiden Verkehrsmittel kreuzten sich exakt auf Höhe der heutigen Kathedrale. Zur besseren Erschließung der Josefstadt nahm die Pferdebahnstrecke ab der Piața Alexandru Mocioni einen Umweg über die Kreuzung des Bulevardul 16 Decembrie 1989 mit der Strada Iancu Văcărescu. In der Inneren Stadt musste zwischen den beiden Radiallinien in die Fabrikstadt und in die Josefstadt umgestiegen werden. === Verlängerung in der Fabrikstadt (Oktober 1869) === Am 26. Oktober 1869 erfolgte schließlich die Verlängerung der bereits bestehenden Fabrikstädter Strecke. Die Erweiterung war circa 650 Meter lang und führte bis zur großen Kreuzung bei der heutigen Haltestelle Prințul Turcesc (Türkischer Prinz), früher Împăratul Turcesc beziehungsweise zu Pferdebahnzeiten ungarisch Török Császár respektive deutsch Türkischer Kaiser genannt. Die Endstelle lag noch in der heutigen Strada Titu Maiorescu. Auch diese Trasse entsprach nicht der heutigen Straßenbahnstrecke, sondern verlief südlich davon. Sie nahm demnach nicht den direkten Weg über die Piața Traian, sondern führte diagonal über die Piața Romanilor und erreichte anschließend über ein circa 60 Meter langes Privatgrundstück der Pferdebahngesellschaft die Strada Ștefan cel Mare. Diesen – nach Einstellung der Pferdebahn wieder überbauten – Hausplatz mit der Konskriptionsnummer 15, heute Strada Ștefan cel Mare Nummer 22, hatte das Unternehmen eigens zu diesem Zweck bereits 1868 dem vormaligen Besitzer Krausz für 7500 Gulden abgekauft. Beim ehemaligen Gasthaus Zum Schwarzen Bären kreuzte die Bahn – ab hier wieder auf öffentlichem Grund – etwas nördlich der Brauerei die gegenwärtige Straßenbahntrasse im rechten Winkel. Anschließend überquerte die Pferdebahn auf der langgestreckten Piața Aurel Vlaicu – damals Rózsa tér beziehungsweise Rosenplatz – ein weiteres Mal den Mühlkanal und folgte schließlich der heutigen Strada Titu Maiorescu bis zur Endstelle. === Verlängerung in der Josefstadt (1871) === Nach Fertigstellung der aufwändig konstruierten Bem-híd – seinerzeit die erste Stahlbrücke über die Bega – wurde die Josefstädter Linie am Freitag, den 29. September 1871 um circa 700 Meter verlängert. Damit erhielt der Josefstädter Bahnhof einen direkten Anschluss an die Pferdebahn. Die Erweiterung war dringend notwendig, da die Station mit der am 6. April 1871 erfolgten Eröffnung der Strecke nach Arad vom einfachen Durchgangsbahnhof zum Eisenbahnknoten aufgewertet wurde. Nördlich der neuen Brücke führte die Straßenbahn an der Tabakfabrik vorbei auf direktem Weg zum Bahnhof, das heißt durch die Strada Dimitrie Bolintineanu und im Anschluss daran durch das heutige Werksgelände des Unternehmens ELBA. Anschließend bog sie beim Güterbahnhof nach rechts in die Strada Gării ab und endete direkt vor dem Haupteingang des Empfangsgebäudes. Damit war die Pferdebahn – bezogen auf den Personenverkehr – vollendet. === Nicht ausgeführte Planungen === Weitere Streckenabschnitte waren zwar in Planung, gingen aber nicht mehr in Betrieb beziehungsweise konnten erst im Zuge der Elektrifizierung 1899 verwirklicht werden. So forderte die Stadt die Pferdebahngesellschaft wiederholt auf, die Fabrikstädter Linie um circa 500 Meter zum Malom-tér, der heutigen Piața Sarmisegetuza, zu verlängern. Dieser erschien das Vorhaben jedoch nicht profitabel. Des Weiteren führte das Unternehmen auch eine etwa 200 Meter lange Verlängerung von der Piața Sfântul Gheorghe zur Piața Unirii nicht aus. Abgesehen davon bemühte sich auch die Gesellschaft selbst um einen Ausbau. Sie erhielt im Herbst 1873 die Genehmigung für zwei Zweigstrecken von der Piața Aurel Vlaicu zur Podul Dacilor einerseits und zur Kreuzung der Strada Ștefan cel Mare mit der Calea Ioan Vidrighiu und der Strada Petre Cermena andererseits. Beide Routen konnten aber angesichts der wirtschaftlichen Krise in der die Temesvári Közúti Vaspálya mittlerweile steckte, nicht mehr realisiert werden. Außerdem äußerten viele Bürger der Fabrikstadt ihren Protest gegen diese Strecken. Sie fürchteten die engen Gassen und Brücken in diesem Bereich wären für den Pferdebahnbetrieb nicht geeignet. === Aufnahme des Güterverkehrs (1872) === Die im Laufe des Jahres 1871 erfolgte Fertigstellung der stählernen Losonczy híd, die eine ältere baufällige Holzbrücke ersetzte, ermöglichte im Mai 1872 die Aufnahme des Güterverkehrs mit der Pferdebahn. Hierzu lag bereits von Beginn an die nötige Konzession vor, die in den ersten Betriebsjahren allerdings ungenutzt blieb. Mit dem direkten Anschluss des Bahnhofs an die Pferdebahnstrecke im Jahr zuvor stieg die Nachfrage nach Gütertransporten mit der Pferdebahn enorm an. Vorher wurden hingegen nur Gepäckstücke befördert. Wichtigster Güterkunde war die heutige Timișoreana-Brauerei in der Fabrikstadt, die das Pferdebahnprojekt von Beginn an unterstützte und sich daran auch finanziell beteiligte. Eigens für den Güterverkehr existierte vor der Siebenbürger Kaserne ein Gleisdreieck, womit durchgehende Fahrten von der Fabrikstadt in die Josefstadt und umgekehrt ohne Fahrtrichtungswechsel möglich waren. === Aufhebung des Zwei-Klassen-Systems (1875) === Ebenfalls im Jahr 1872 beantragte die Pferdebahn-Gesellschaft bei den zuständigen Behörden die Aufhebung des Zwei-Klassen-Systems zugunsten eines Einheitstarifs. Statt der beiden Wagenklassen wollte man den Fahrgästen fortan ein Raucher- und ein Nichtraucherabteil anbieten. Doch wurde dieses Gesuch erst am 10. Juli 1875 beantwortet. Während der Einheitstarif und damit die Abschaffung der getrennten Wagenklassen am 21. Juli 1875 in Kraft treten konnte, wurden die Raucherabteile von der Verwaltung nicht genehmigt. Das Rauchen in den Wagen blieb somit weiterhin verboten. Damit behandelten die ungarischen Behörden durch Gesetz alle Fahrzeuge gleich, unabhängig davon ob sie, wie die zweiklassigen Pferdebahnwagen, im Innenraum aufgeteilt waren oder nicht. Dafür wurden den Wagen später in den Sommermonaten in jeweils einer Hälfte die Fensterscheiben entfernt und durch Vorhänge ersetzt, ähnlich einem Sommerwagen. === Drei weitere niveaugleiche Kreuzungen mit der Eisenbahn === Am 23. Oktober 1876 ging die neue Eisenbahnstrecke von Temesvár nach Karánsebes in Betrieb; dadurch entstanden zwei weitere niveaugleiche Kreuzungen mit der Österreichisch-ungarischen Staatseisenbahngesellschaft. Die eine von ihnen lag nur wenige Meter nördlich der bestehenden mit der Strecke nach Karasjeszenö, das heißt ebenfalls bei der heutigen Kathedrale. Die zweite befand sich zwischen der Inneren Stadt und der Fabrikstadt, an der heutigen Kreuzung des Bulevardul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven. Dort liegen heute gar keine Schienen mehr, beide Verkehrsmittel wurden im Laufe der Jahre verlegt – die Eisenbahn 1902 und die spätere elektrische Straßenbahn 1909. Die neue Bahnstrecke verschärfte insbesondere die Situation bei der heutigen Kathedrale, wo fortan deutlich mehr Züge Straßenbahn und Straßenverkehr behinderten. Für zusätzlichen Verkehr sorgten einige Jahre später außerdem die von der ungarischen Staatsbahn Magyar Államvasutak (MÁV) eröffneten Strecken nach Buziaș (ab 1896) und nach Radna (ab 1897). Die Häufung der Zugfahrten – zeitweise waren bei der heutigen Kathedrale auf beiden Strecken zusammen bis zu 40 täglich abzuwickeln – verursachte lange Schließzeiten.In den 1880er Jahren kam außerdem auf dem Bahnhofsvorplatz eine vierte Gleiskreuzung mit der Eisenbahn hinzu. Dort querte fortan das Anschlussgleis zur Pannonischen Dampfmühle, die gegenüber dem Empfangsgebäude auf der anderen Straßenseite lag, die Trasse der Pferdebahn im rechten Winkel. === Weltausstellung (1891) === Vom 19. Juni bis zum 30. September 1891 fand in Temesvár eine Weltausstellung statt, die Universalausstellung für Industrie und Landwirtschaft. Der eigens anlässlich dieser Veranstaltung angelegte Franz-Joseph-Park wurde von der Pferdebahnstrecke in die Fabrikstadt tangiert, der Haupteingang befand sich an der Kreuzung des Buleverdul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven, was der Straßenbahn ein entsprechendes Fahrgastaufkommen bescherte. Um die Besuchermassen bewältigen zu können, beschaffte die Gesellschaft im Vorfeld der Veranstaltung weitere fünf Personenwagen. Damit konnten die vier Umläufe der Fabrikstädter Linie fortan bei Bedarf dreifach geführt werden, der fünfte Wagen diente als zusätzlicher Reservewagen. Die Expo führte letztlich zu einem Fahrgastrekord; so beförderte die Pferdebahn im gesamten Jahr 1891 964.264 Fahrgäste – diesen Wert erreichte sie bis zur Elektrifizierung nicht mehr. === Konkurrenz durch Pferdeomnibusse (1894) === Um auch den 1890 nach Temeswar eingemeindeten Stadtbezirk Alte Mayerhöfe – seit 1896 Elisabethstadt genannt – an das städtische Verkehrsnetz anzubinden, erlaubte die Stadt einem weiteren Privatunternehmer die Einführung von Pferdeomnibussen in Konkurrenz zur Straßenbahn. Dessen Unternehmen Temesvár–Majoroki Társaskocsi Részvénytársaság mit einem Kernkapital von 12.000 Kronen bediente ab dem 24. Oktober 1894 die Strecke zwischen der Inneren Stadt und der heutigen Piața Nicolae Bălcescu. Dieser Platz war damals wie heute das Zentrum der Elisabethstadt, während die Pferdebahn den neuen Stadtteil nur an dessen nordwestlicher Seite tangierte. Am 27. Mai 1895 erhielt die Omnibusgesellschaft schließlich die Genehmigung zur Einführung zweier weiterer Linien, die zwischen der Inneren Stadt und dem Josefstädter Bahnhof einerseits und dem Fabrikstädter Bahnhof andererseits verlaufen sollten. Der peripher gelegene 1876 eröffnete Fabrikstädter Bahnhof hatte damals noch gar keinen Verkehrsanschluss, er lag in damals noch unbebautem Gelände nördlich des Fabrikstädter Zentrums, von der zentral gelegenen Piața Traian über einen Kilometer entfernt. Im Gegensatz dazu stellte die Direktverbindung zum wichtigeren Bahnhof in der Josefstadt eine ernsthafte Konkurrenz für die Straßenbahngesellschaft dar, mussten deren Wagen doch weiterhin den Umweg durch die südliche Josefstadt nehmen. Letztlich erhob die Temesvári Közúti Vaspálya erfolgreich Einspruch gegen die Ausweitung des neuen Verkehrsmittels, weil dieses den Ausbau des Straßenbahnnetzes erschwere. Schon im Juni 1895 zog der Stadtrat seine Genehmigung daher weitgehend zurück. Infolgedessen verkehrte die zweite Omnibuslinie – im Anschluss an die Pferdebahn – nur auf der kurzen Strecke Piaţa Romanilor – Gara de Est, die dritte kam gar nicht mehr zustande. Letztlich konnte sich das neue Unternehmen mit diesem Rumpfbetrieb wirtschaftlich nicht durchsetzen, weshalb die Temesvári Közúti Vaspálya Ende 1896 die Omnibusgesellschaft aufkaufte. Anschließend bediente die Straßenbahngesellschaft die kürzere Linie in der Fabrikstadt selbst, während die längere Verbindung in die Elisabethstadt damals gänzlich entfiel. === Trassenkorrekturen in der Fabrikstadt (1896) und der Josefstadt (1897) === Der Neubau der Millenniumskirche, die zwischen 1896 und 1901 auf der zuvor unbebauten Piața Romanilor entstand, erforderte drei Jahre vor der Elektrifizierung noch eine Trassenkorrektur in der Fabrikstadt. Um das Baufeld zu räumen, umrundete die Pferdebahn den Platz zuletzt an dessen nördlicher und östlicher Seite, anstatt ihn wie zuvor diagonal zu queren. Dadurch verlängerte sich die Wegstrecke geringfügig, außerdem musste die dortige Ausweiche ebenfalls an die Ostflanke des Platzes verlegt werden. Der zwischen 1897 und 1899 erfolgte Neubau des Josefstädter Bahnhofsgebäudes führte außerdem zu einer weiteren Trassenkorrektur auf dem Bahnhofsvorplatz. Dabei entfiel die ursprüngliche – direkt an das Stationsgebäude anschließende – Endstelle von 1871, die sich nördlich der heutigen Strada Gării befand und über eine kleine Brücke über den früher dort verlaufenden Kanal erreicht wurde. Die neue – letztlich nur zwei Jahre genutzte – Endstelle befand sich hingegen mitten auf dem Vorplatz, in direkter Verlängerung der Strecke aus Richtung Innenstadt. Damit entfielen sowohl die frühere S-Kurve als auch die Kanalbrücke. === Vor der Elektrifizierung (1897) === Nach langwierigen Verhandlungen zwischen Stadt und Straßenbahngesellschaft erteilte das Ministerium in Budapest am 5. Juni 1897 die Lizenz zur Elektrifizierung, woraufhin sich das Unternehmen zum 21. Juli gleichen Jahres in Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság, zu deutsch Temeswarer Elektrische-Straßenbahn-Aktiengesellschaft, umbenannte. Die Gesellschaft hatte die Auflage – neben dem Umbau der bestehenden Strecken – vor allem die Erweiterung des Netzes voranzutreiben. Insbesondere die Bewohner der Elisabethstadt, die seit der 1896 erfolgten Einstellung der Pferdeomnibuslinie dorthin wieder ohne Verkehrsanschluss waren, forderten seit längerem ebenfalls an das Straßenbahnnetz angeschlossen zu werden. Ebenso dringlich war die Anbindung des Fabrikstädter Bahnhofs, der mit dem Pferdeomnibus nur unzureichend erschlossen war. Auch war das Verkehrsbedürfnis im Laufe der Jahre stark gestiegen und konnte mit der Pferdebahn nur noch bedingt befriedigt werden. So hatte sich die Einwohnerzahl Temesvárs während der Betriebszeit der Pferdebahn nahezu verdoppelt, 1900 wohnten bereits 59.229 Menschen in der Stadt. Ferner galt eine pferdebetriebene Straßenbahn gegen Ende des 19. Jahrhunderts als nicht mehr zeitgemäß. In der Hauptstadt Budapest gab es beispielsweise bereits seit 1887 elektrische Straßenbahnen, in Wien, der anderen Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, seit 1897. === Aufnahme des elektrischen Betriebs (1899) === → siehe Hauptartikel Umstellung auf elektrischen BetriebIm Juli 1898 begannen die Bauarbeiten für das neue Liniennetz. Dabei wurde das Netz von zuletzt 6,636 beziehungsweise 6,672 auf 10,315 Kilometer erweitert. Am Donnerstag, dem 27. Juli 1899, wurde der elektrische Betrieb aufgenommen. Statt der beiden Pferdebahnlinien – die keine Liniennummern trugen – verkehrten fortan die fünf elektrisch betriebenen Linien I, II, III, IV und V. Nur die beiden Streckenteile Piața Romanilor–Piața Balaș und Oper–Piața Alexandru Mocioni wurden direkt umgestellt, das heißt etwa 2,4 Kilometer. Diese beiden Abschnitte wurden im Vorfeld der Elektrifizierung zweigleisig ausgebaut. Der Großteil des ab 1899 betriebenen Netzes waren hingegen komplett neu errichtete Trassen. Mit der Umstellung war außerdem eine massive Steigerung der Verkehrsleistung verbunden. Beförderte die Pferdebahn 1898 noch 874.901 Fahrgäste, so waren es bei der elektrischen Straßenbahn 1900 bereits 2.397.492, das heißt mehr als zweieinhalb mal so viele.Die beiden ehemaligen Pferdebahnstrecken sind – abgesehen von den Trassenkorrekturen im Laufe der Jahre – bis heute die Hauptachse der Straßenbahn Timișoara geblieben. Die Route Fabrikstadt – Innere Stadt – Josefstadt wird heute im Wesentlichen von den Linien 1 und 2 bedient. Insbesondere gilt dies für die Hauptlinie 1, sie bedient beide Endpunkte der ehemaligen Pferdebahn. Als Besonderheit verkehrte jedoch der Nachtkurs zum Josefstädter Bahnhof und zurück noch bis 1904 als Pferdebahn, weil das anfänglich vorhandene betriebseigene Kraftwerk nachts nicht arbeitete. Erst die im gleichen Jahr erfolgte Kommunalisierung der Straßenbahn und der damit verbundene Anschluss an das städtische Elektrizitätswerk beendete den Pferdebahnbetrieb in Timișoara endgültig. == Betrieb und Infrastruktur == Die gesamte Gleislänge der Pferdebahn, das heißt inklusive aller Ausweichen, Depotgleise sowie der für den Güterverkehr benötigten Nebengleise, betrug nach Vollendung aller Abschnitte 7584 Meter. Für den Gleisbau verwendete die Gesellschaft überwiegend Loubat-Rillenschienen mit einer Masse von 23 Kilogramm je Meter, die auf Eichenschwellen montiert waren. Lediglich auf zwei kürzeren Teilstücken der Überlandabschnitte zwischen der Inneren Stadt und den beiden Vorstädten kamen auf einem Schotterbett verlegte Vignolschienen mit einer Masse von 16 Kilogramm je Meter zum Einsatz, deren Zwischenraum mit Sand aufgefüllt war: circa 400 Meter zwischen dem Siebenbürger Tor und der heutigen Kreuzung des Bulevardul Constantin Diaconovici Loga mit der Strada Ludwig van Beethoven circa 300 Meter zwischen dem Peterwardeiner Tor und dem ehemaligen Bahnübergang bei der heutigen KathedraleHersteller der Schienen war das Stahlwerk in Reșița, sie kosteten 18 Forint je Kubikmeter. Beide Strecken der Pferdebahn waren durchgehend eingleisig; von der Inneren Stadt aus betrachtet lag das Gleis in Fahrtrichtung Fabrikstadt auf der rechten Straßenseite, in Fahrtrichtung Josefstadt auf der linken. Der etwa 100 Meter lange und von beiden Linien bediente Abschnitt durch die Strada Enrico Caruso war als gemeinsam genutzte Ausweiche ausgeführt. Diese Ausweiche wiederum mündete in eine viergleisige Umsteigestation auf der Piața Sfântul Gheorghe, wo auch die Pferde gewechselt wurden. Die beiden Linien benutzten die Ausweiche in der Inneren Stadt zeitversetzt; das heißt zunächst fand die überschlagende Wende der Fabrikstädter Linie statt, 6 Minuten später dann die überschlagende Wende der Josefstädter Linie. Dadurch ergab sich in beiden Fahrtrichtungen eine Übergangszeit von jeweils 6 Minuten. Insgesamt betrug die Reisezeit über die Gesamtstrecke der Pferdebahn somit – inklusive Umstieg – 45 Minuten je Richtung.Zusätzlich zur gemeinsam genutzten Ausweiche in der Strada Enrico Caruso standen den beiden Pferdebahnlinien sechs weitere Begegnungsmöglichkeiten zur Verfügung: Die Ausweichen hatten einen mittleren Abstand von circa 950 Metern zueinander und waren jeweils etwa 70 Meter lang; das heißt sie ermöglichten fliegende Kreuzungen. Nach vollendetem Ausbau wurden die beiden Linien mit zusammen zehn Kursen jeweils alle zehn bis zwölf Minuten bedient, die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit betrug etwa neuneinhalb Kilometer in der Stunde. Auf der Josefstädter Linie waren sechs Umläufe eingeplant beziehungsweise bis zur Verlängerung im Jahr 1871 nur fünf. Auf der Fabrikstädter Linie waren es von Beginn an vier. Betriebsbeginn war um 6:00 Uhr morgens, um 22:00 Uhr verkehrte der letzte Kurs ab Fabrikstadt. Dieser wiederum hatte in der Inneren Stadt Anschluss an den letzten Wagen des Tages in die Josefstadt. Zusätzlich verkehrte außerdem täglich gegen 3:30 Uhr ein spezieller Nachtkurs zum Josefstädter Bahnhof, der von dort um 4:00 Uhr wieder zurück fuhr. Er bot Anschluss an einen um diese Zeit nach Budapest fahrenden und einen weiteren von dort kommenden Zug. Obwohl gemäß Konzessionsvertrag mit der Stadt auch in Timișoara fest definierte Haltestellen ausgewiesen waren, konnten die Fahrgäste – wie damals bei vielen Pferdebahnen üblich – jederzeit auf Zuruf vom Wageninneren beziehungsweise mittels Zuwinken vom Straßenrand aus das Anhalten nach Bedarf verlangen. Diese Praxis endete erst mit der Elektrifizierung. Bei großem Fahrgastandrang standen für beide Linien je drei Zusatzwagen bereit, die – so zum Beispiel als sogenannte Theaterwagen nach Theatervorstellungen – spontan die regulären Kurse verstärkten und ebenfalls auf der Piața Sfântul Gheorghe bereitgehalten wurden. So konnten bei Bedarf auf der Josefstädter Linie im Schnitt jeder zweite, auf der Fabrikstädter Linie sogar drei von vier Kursen doppelt geführt werden. Die Zusatzwagen verkehrten im Folgezugbetrieb direkt hinter dem Regelzug, entgegenkommende Kurse mussten also in den Ausweichen stets beide Wagen vorbeilassen. In den Hauptverkehrszeiten war es mit den zusammen 21 Wagen sogar möglich, alle Kurse doppelt zu führen und zusätzlich einen Wagen in Reserve vorzuhalten. Eine Taktverdichtung wäre auf der durchgehend eingleisigen Infrastruktur ohne den Bau zweigleisiger Abschnitte oder weiterer Ausweichen nicht möglich gewesen. Mit der Beschaffung fünf weiterer Wagen zur Weltausstellung von 1891 konnten schließlich bei entsprechender Nachfrage die Kurse der Fabrikstädter Linie sogar dreifach geführt werden. == Betriebsgebäude == === Erstes Depot von 1869 === Zur Betriebsaufnahme im Sommer 1869 überließ die Stadt der Pferdebahngesellschaft ein kostenloses Depot-Areal auf der Südseite der Piața Romanilor, dem heutigen Grundstück Piața Romanilor Nummer 11. Seinerzeit befand sich dort der westliche Bebauungsrand der Fabrikstadt, das Depot selbst befand sich bereits auf der sogenannten Seilerwiese, das heißt auf dem damals noch unbebauten Gelände zwischen der Verbindungsstraße von der Inneren Stadt in die Fabrikstadt (heute Bulevardul 3 August 1919) im Norden, der heutigen Piaţa Romanilor im Osten, der Bega (heute Strada Joseph Nischbach) im Süden und dem Holzschwemmkanal (heute Strada Episcop Joseph Lonovici) im Westen. An Stelle des vormaligen kaiserlich-königlichen Bettenlagers, errichtete das Unternehmen dort bis Ende des Jahres 1869 eine hölzerne Wagenhalle, die 27 Klafter (51,2 Meter) lang und elf Klafter (20,8 Meter) breit war. Die dreigleisige Remise war über eine Drehscheibe erreichbar und bot allen 24 damals vorhandenen Wagen Platz. Die Stallungen für die Pferde waren anfangs – räumlich vom Depot getrennt – im benachbarten Haus mit der Fabrikstädter Konskriptionsnummer 16 untergebracht, heute Piața Romanilor Nummer 10 bzw. Strada Ștefan cel Mare Nummer 20. Dieses hatte die Gesellschaft am 6. März 1869 für 18.500 Gulden dem Vorbesitzer Carol Schiller abgekauft und bis 1870 entsprechend ihren Zwecken umgebaut. Die Verwaltung wiederum hatte sich im Haus des Lloyd’s of London in der Inneren Stadt eingemietet.Der erste Betriebshof besaß jedoch nur einen provisorischen Charakter, die Straßenbahngesellschaft hatte die Auflage sich ein eigenes Depotgrundstück zu suchen und das ihr überlassene Areal gegebenenfalls innerhalb von sechs Wochen wieder zu räumen. Diese Kündigung erfolgte am 4. November 1871, jedoch sah sich die Gesellschaft nicht in der Lage ihr nachzukommen. Sie trat in Verhandlungen darüber, der Stadt das 468 Quadratklafter große Areal abzukaufen, was diese jedoch ablehnte. Letztlich zwang erst ein Gerichtsbeschluss im Herbst 1873 die Gesellschaft ihr vorläufiges Depot auf der Seilerwiese zu liquidieren, bevor die Stadt schließlich 1884 – anlässlich der Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung – dort ihr erstes Elektrizitätswerk errichtete. === Zweites Depot von 1874 === Als Ersatz für das erste Depot kaufte die Straßenbahngesellschaft am 31. Dezember 1873 einer Isabela Schmidt für 22.000 Gulden das Haus mit der Fabrikstädter Konskriptionsnummer 400 ab. Dieses Gebäude – heute Piața Aurel Vlaicu Nummer 4 – befand sich auf der Nordseite der genannten Platzes, zwischen den Anlagen der Ersten Kunstmühl Gesellschaft auf der linken und dem Hotel Rosen auf der rechten Seite. Das neu erworbene Gebäude selbst diente der Gesellschaft ab 1874 als neuer Verwaltungssitz, in seinem Hinterhof errichtete sie im gleichen Jahr eine fünfgleisige Remise. Hierzu erhielt das ehemalige Schmidt’sche Haus ein breites Durchfahrtstor, die Depotzufahrt war wiederum über eine Drehscheibe an das Streckengleis angeschlossen. Im Innenhof befand sich eine zweite Drehscheibe zur Anbindung der einzelnen Abstellgleise.Das neue Depot beherbergte auch eine ebenfalls 1874 fertiggestellte Hufschmiede, während die Pferdeställe erst im Februar 1876 endgültig fertig wurden. Nichtsdestotrotz hatte die Straßenbahngesellschaft ihr erstes Stallgebäude auf dem Grundstück mit der Konskriptionsnummer 16 schon am 13. Oktober 1875 für nur 10.000 Gulden wieder verkauft; das heißt, sie machte damit innerhalb von sechs Jahren einen Verlust von 8500 Gulden.Das Betriebsgelände an der Piața Aurel Vlaicu wurde mit der Elektrifizierung 1899 aufgegeben, sowohl Depot als auch Verwaltung bezogen damals das bis heute genutzte Areal südlich des Bulevardul Take Ionescu. Das Gebäude selbst blieb jedoch erhalten – erhielt aber schon vor 1928 einen neuen Eingang, der das alte große Durchfahrtstor für die Pferdebahnwagen ersetzte. == Tarif == Eine Einzelfahrkarte zwischen der Fabrikstadt und der Inneren Stadt oder der Inneren Stadt und der Josefstadt kostete 10 Kreuzer, das heißt ein Sechserl, in der ersten und 8 Kreuzer in der zweiten Klasse. Für die Gesamtstrecke war jeweils das Doppelte zu bezahlen. Nach Einführung der Einheitsklasse im Jahr 1875 war grundsätzlich der bisherige höhere Tarif der ersten Klasse zu entrichten; gleichzeitig wurden Fahrkarten für Kinder unter zehn Jahren zum halben Preis eingeführt, ebenso Schülerfahrkarten. Ab 1878 erhielten dann auch Studenten eine Ermäßigung, sofern sie entsprechende Bescheinigungen vorweisen konnten. 1879 führte die Gesellschaft außerdem für eine Fahrt mit beiden Linien ermäßigte Umsteigefahrscheine zu 15 Kreuzern ein.Stammfahrgästen und Pendlern wurden Sammelkarten für 50 Fahrten angeboten. Diese gab es anfangs ebenso wie die Einzelfahrscheine für beide Wagenklassen, später für die Einheitsklasse. Sie war um 20 Prozent günstiger als der Preis für eine Einzelfahrt, musste jedoch innerhalb eines Monats verbraucht werden. Dieses Abonnement bestand aus einem perforierten Papier, ähnlich einem Briefmarkenbogen. Von diesem Bogen löste der Schaffner bei jeder Fahrt jeweils einen Abschnitt ab.1895 wurden außerdem stark ermäßigte Rückfahrkarten eingeführt. Sie kosteten nur 12 Kreuzer und waren eine Reaktion der Pferdebahngesellschaft auf die im Vorjahr eingeführten Pferdeomnibusse, die ebenfalls nur 6 Kreuzer je Fahrt kosteten. == Fahrgastzahlen == Die Verkehrsleistung der Pferdebahn ist wie folgt überliefert, für die übrigen Jahre liegen keine Daten vor: == Fahrzeuge == === Personenwagen === Im Eröffnungsjahr der Pferdebahn lieferte die K.k. landesbefugte Maschinenfabrik und Wagenbauanstalt Johann Spiering aus Wien insgesamt 21 Pferdebahn-Personenwagen nach Temesvár. 5 dieser Spiering-Wagen standen bereits zur Betriebseröffnung zur Verfügung, die restlichen folgten im Laufe des Jahres 1869. Jedem Wagen wurden zwei Pferde vorgespannt, bei Schneefall waren es drei. 10 der 21 Spiering-Personenwagen wurden noch bis 1919 als Beiwagen der elektrischen Straßenbahn weiterverwendet. Für die fünf 1891 anlässlich der Weltausstellung nachgelieferten Wagen bekam abermals ein neues Unternehmen den Produktionszuschlag, diesmal die Wagen- und Waggonfabrik, Eisen- und Metallgießerei Joh. Weitzer aus Graz. Diese Fahrzeuge waren etwas leichter als diejenigen der Erstlieferung und konnten daher von nur jeweils einem Pferd gezogen werden. Sie wurden anlässlich der Elektrifizierung ausgemustert; von ihnen blieb keiner erhalten. === Gepäckwagen === Außer den Personenwagen lieferte Spiering im Eröffnungsjahr zusätzlich drei reine Gepäckwagen, darunter zwei geschlossene (poggyaszkocsi) zu 820 Forint je Stück und ein offener (poggyaszkocsialváz, wörtlich übersetzt Gepäckwagenuntergestell) zu 520 Forint. Wie lange sie im Einsatz waren, ist nicht überliefert; auch von ihnen blieb keiner erhalten. === Güterwagen === Anlässlich der Aufnahme des Güterverkehrs im Mai 1872 beschaffte die Gesellschaft sieben kleine offene Flachwagen für die Pferdebahn, die von der Maschinen- und Waggon-Fabriks-Aktiengesellschaft Simmering stammten und bis zur Elektrifizierung von 1899 im Dienst standen. == Personal == Insgesamt beschäftigte die Pferdebahngesellschaft 39 Personen, darunter neben dem Direktor 2 Inspektoren, 10 Schaffner, 20 Kutscher, 1 Wagenmeister, 1 Tierarzt, 2 Stallmeister und 2 Rangierer. Täglich waren acht Schaffner im Einsatz, während zwei frei hatten. Es kam dabei auf jeder Linie jeweils ein Schaffner weniger zum Einsatz, als Wagen unterwegs waren. Das heißt, die Schaffner mussten an den Endstellen sofort mit dem dort wartenden Gegenkurs zurückfahren, während die Kutscher samt Pferden jeweils eine Pause von zehn bis zwölf Minuten hatten. Dies hatte zur Folge, dass der jeweils erste morgendliche Kurs einer Linie nur mit einem Kutscher besetzt war. == Pferde == Insgesamt standen der Gesellschaft 70 Pferde zur Verfügung, die jeden Tag um die Mittagszeit auf dem Sankt-Georgs-Platz gewechselt wurden. == Literatur == Mihály Kubinszky, István Lovász und György Villány: Régi Magyar Villamosok. Budapest 1999. 60 de ani de la înființarea tramvaiului în Timișoara, Monografie 1869–1929. Timișoara 1929. Vasile Deheleanu, Sabin Indrieșu: Monografia întreprinderilor electromecanice municipale Timișoara. Timișoara 1944. Dorin Sarca, Gh. Radulovici: Centenarul tramvaielor din Timișoara, Monografie 1869–1969. Timișoara 1969. 1869–1994, 125 de ani de circulație cu tramvaiul în Timișoara, Monografie. Timișoara 1994. Regia Autonomă de Transport Timișoara, 130 de ani de activitate, 1869–1999, Monografie. Timișoara 1999. Heimatortsgemeinschaft Temeschburg-Temeswar: Temeschburg-Temeswar, Eine südosteuropäische Stadt im Zeitenwandel. Karlsruhe 1994. == Weblinks == A temesvári lóvasút és villamos (ungarisch) Tramvaiul cu cai din Timișoara (PDF-Dokument, rumänisch) (970 kB) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Pferdebahn_Timi%C8%99oara
Geschichte von Höchst am Main
= Geschichte von Höchst am Main = Die Stadt Höchst am Main, heute der Frankfurter Stadtteil Höchst, hat eine über zwölfhundertjährige Geschichte. Lange Zeit war Höchst eine eigenständige Stadt und Vorposten des Kurmainzer Gebiets vor den Toren Frankfurts. Erst 1928 erfolgte die Eingemeindung nach Frankfurt. == Geografische Einordnung == Höchst entstand an der Kreuzung frühgeschichtlicher Verkehrswege. Unmittelbar nach der Mündung der Nidda in den Main, zweier damals schiffbarer Flüsse, schiebt sich eine Hangkante fast bis ans Flussufer heran. Das Plateau ist hochwassersicher und war gut zu verteidigen. Am Fuße des Hangs führte eine Furt durch den Main, oben verlief eine vorrömische Altstraße, die Antsanvia oder Hohe Straße, ein Vorläufer der späteren Elisabethenstraße, die von der Mainmündung bei Kastel über Höchst bis in den Vogelsberg führte. Ausgehend von der Niddamündung strebte der Lindenweg (auch Linienweg genannt), eine vor-römische, geradlinige Verbindung über den Taunus-Übergang bei der heutigen Saalburg ins Lahngebiet. Nördlich von Sossenheim zweigte von diesem die alte Handelsstraße, die hessische Weinstraße (Wagenstraße) in die Wetterau ab. == Vor- und Frühgeschichte == Einzelne Funde von Werkzeugen und von bearbeiteten Geweihstücken vom Ende des Jungpaläolithikums im Bereich der Höchster Altstadt lassen den Schluss zu, dass das Höchster Gebiet zu dieser Zeit bereits gelegentlich von Menschen bewohnt war. Eine dauerhafte Besiedelung ist jedoch nicht nachweisbar. Erst mit Beginn der Jungsteinzeit lässt sich eine ständige menschliche Ansiedelung im Raum der Altstadt, der Höchster Neustadt und des Oberfeldes feststellen. Bei Bauarbeiten und Ausgrabungen wurden Siedlungsreste und Gefäßscherben aus der Bandkeramikzeit und der Glockenbecherkultur gefunden. Hügelgräber und Urnenfelder aus der Bronzezeit geben Aufschluss über eine fortdauernde menschliche Besiedlung des Höchster Raums. Ebenfalls bei Bauarbeiten gefunden wurden eisenzeitliche Gräber aus der Hallstatt- und La-Tène-Zeit, die auf keltische Bewohner hinweisen. Ein Oppidum lässt sich jedoch nicht nachweisen, wie auch noch von keiner festen Ortsstruktur im Sinne eines Dorfes ausgegangen werden kann. == Römische und vorfränkische Zeit == Kurz nach der Zeitenwende errichteten die Römer auf dem Hochufer über dem Main ein Kastell. Nicht genau nachgewiesen, aber möglich ist, dass in Höhe der Wörthspitze bei der Niddamündung eine Brücke den flachen Main überspannte und die römische Ansiedlung mit den südmainischen Gebieten um die heutigen Orte Kelsterbach und Groß-Gerau verband. Die Römer bauten bestehende keltische Altstraßen aus und legten zahlreiche neue Verbindungen an: Zur Saalburg bzw. dem dortigen Taunus-Übergang den Linden- oder Linienweg, über diesen nach dem Elisabethenstraßen-Übergang zur Wetterau die Weinstrasse, auf der Wasserscheide Main / Nidda die Hohe Straße zum Vogelsberg und nach Thüringen. In nordwestlicher Richtung zum Feldberg zieht heute noch die Königsteiner Straße, und die Strecke entlang dem Mainlauf findet sich nach der Niddabrücke als Verbindung über Griesheim und den Gutleuthof nach Frankfurt. Dies sind heute der Nieder Kirchweg sowie die Stroofstraße. In der geschützten Niddamündung wurde ein Flusshafen eingerichtet, am nördlichen Niddaufer entstand eine Militärziegelei im Bereich der heutigen Nieder Gemarkung. Die Legio XXII Primigenia stellte hier zwischen den Jahren 85 und 120 Ziegel her. Mit Weiterbau des Limes zur Mitte des 2. Jahrhunderts wurde die zeitweilig eingestellte Ziegelproduktion wieder aufgenommen. Erhalten sind mehr als 200 verschiedene Ziegelstempel, die meisten von der XXII. Legion. Die Siedlung verlor mit dem Bau der Elisabethenstraße über Hofheim und der Anlage des Limes an wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung. Sie entwickelte sich zu einer zivilen Siedlung. Als die Alamannen ab 260 den Limes überwanden und in römisches Gebiet einfielen, zogen sich die Römer in ihre linksrheinischen Gebiete zurück und gaben ihre Besitzungen rechts des Rheins auf. Die Siedlung an der Niddamündung wurde zur Wüstung, Überlieferungen und Berichte über eine Wiederbesiedelung des Höchster Gebietes nach dem Rückzug der Römer gibt es nicht. Lediglich einige Indizien weisen auf ein alemannisches Gehöft im 4. Jahrhundert und einen merowingischen Königshof am Rande der heutigen Altstadt im 5. Jahrhundert hin. == Unter dem Krummstab: Die mainzische Zeit – 790 bis 1803 == === Das Dorf Höchst im Früh- und Hochmittelalter === Erst aus dem 8. Jahrhundert gibt es wieder Hinweise auf eine Besiedelung des Hochplateaus über der Nidda mit Gehöften. Von einem Dorf im heutigen Sinn kann dabei allerdings keine Rede sein, es handelte sich vielmehr um eine lockere Ansammlung von Einzelgehöften. Die erste urkundliche Erwähnung dieser Ansiedlung erfolgte am 5. August 790 im Lorscher Codex, als der fränkische Gutsherr Thiotmann dem Kloster Lorsch ein Anwesen „in villa hostat in Nitahgowe“ schenkte, im „Dorf auf der hohen Stätte im Niddagau“. Zu späteren Zeiten schrieb der Renaissancelyriker Georg Calaminus die Hostato-Sage in Versform auf, nach der der Knappe Hostato als einziger die Schlacht von Roncesvalles überlebte und deswegen von Karl dem Großen als Dank für seine Tapferkeit zum Ritter geschlagen und zum Vogt der hohen Stätte ernannt wurde. Spätestens ab dem frühen 9. Jahrhundert hatte das Erzbistum Mainz, das nach Ausbau seiner Territorialherrschaft strebte, so viele Einzelprivilegien nach fränkischem Recht in den Gebieten entlang des Mains von Mainz bis Frankfurt auf sich vereinigt, dass Höchst Teil des Mainzer Besitzes war und nicht mehr zum Niddagau gehörte. Annalen des Klosters Fulda aus dem Jahr 849 berichten vom „Hofgut Höchst im Gebiet von Mainz“. Die Mainzer Herrschaft dauerte fast tausend Jahre bis zum Jahr 1803, noch heute erinnert das Mainzer Rad im Höchster Wappen daran. Ab ungefähr 830 ließ der Mainzer Erzbischof Otgar von Mainz auf dem hohen Ufer über dem Main die Justinuskirche errichten, die bis heute weitgehend erhalten ist. Sie ist eine der ältesten Kirchen Deutschlands und das älteste Bauwerk Frankfurts. Die für die Siedlung viel zu große Kirche war ein Machtsymbol des Mainzer Erzbischofs gegenüber dem Frankfurter Königshof. Zugleich diente sie im Rahmen kirchlicher Siedlungspolitik dazu, die Entstehung einer dörflichen Ansiedlung und Konzentration der bis dahin in verstreuten Einzelgehöften lebenden Bevölkerung um die Kirche zu fördern. Otgars Nachfolger Rabanus Maurus weihte den Bau nach seiner Fertigstellung im Jahr 850. Die Justinuskirche diente als Dorfkirche. In der Folgezeit entwickelte sich das Dorf Höchst entlang der Hauptstraße zwischen einem mainzischen Fronhof im Westen, der im Bereich der Wed gelegen war, und der Justinuskirche im Osten. Die westliche Grenze Höchsts bildet ein Mündungsarm des Liederbachs, der über den Bereich des heutigen Schloßplatzes zum Main floss. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts konnte von einem Dorf Höchst die Rede sein.Aus dem 11. Jahrhundert ist die Entstehung eines weiteren erzbischöflichen Hofes westlich der Justinuskirche überliefert. Zusammen mit der Justinuskirche wurde er dem Kloster St. Alban in Mainz geschenkt. Die Kirche wurde in Schriften des Stifts gezielt als einsturzgefährdet bezeichnet; St. Alban erhielt auf diese Weise als Dreingabe weitere Ländereien und Privilegien in Höchst. Renovierungsarbeiten an der angeblich baufälligen Kirche fanden jedoch nicht statt. Die Höchster Niederlassung der Abtei St. Alban blieb bis zum Jahr 1419 in Höchst. Im 12. Jahrhundert setzte das Bistum Mainz einen Burggrafen in Höchst ein; urkundlich erwähnt wird ein Graf Gotfried von der Wartburg, ein Verwandter des Erzbischofs Heinrich I. Ein solcher Statthalter hatte üblicherweise seinen Sitz in einer Stadt oder einer Burg. Höchst war zu dieser Zeit noch keine Stadt, daher kann aus der nachgewiesenen Existenz eines Amtmanns geschlossen werden, dass bereits Mitte des 12. Jahrhunderts eine Burg als Vorgängerin des heutigen Höchster Schlosses existierte. Bei Schachtungsarbeiten auf der Schlossterrasse wurden 1981 Gräben gefunden, die aufgrund ihrer abweichenden Ausrichtung nicht zur – nachgewiesenen – späteren gotischen Zollburg gehören konnten.Der in Höchst und anderen Orten des Untermains erhobene Mainzoll wurde von Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahr 1157 aufgehoben und verboten. Lediglich an drei Orten, Frankfurt, Aschaffenburg und Neustadt durfte noch der Flusszoll erhoben werden. Mit dem Verfall der kaiserlichen Macht im 13. Jahrhundert hatte Kurmainz die Möglichkeit, in Höchst wieder Zoll zu erheben. Es wurde eine neue und größere Burg errichtet, die nach der Landseite hin eine hohe und fast fünf Meter dicke Schildmauer besaß. Folge des Burgbaus war eine bescheidene Ausdehnung Höchsts nach Westen. Durch den Aushub des Burggrabens wurde der tief eingeschnittene Mündungsarm des Liederbachs zugeschüttet, der Schloßplatz weitgehend auf sein heutiges Niveau angehoben und das Wasser direkt in den Burggraben geleitet. Im Norden und Osten des Burgplatzes entstand zwischen dem Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts eine neue Bebauung. Der Allmeygang, der bisher direkt zum Main geführt hatte, wurde auf den neuen Platz umgeleitet. Westlich der Burg stand der Ochsenturm als freistehender Wartturm, er wurde später in die im 15, Jahrhundert entstehende Stadtbefestigung einbezogen. === Stadterhebung und Stadtentwicklung im Spätmittelalter === Die Stadterhebung Höchsts war für längere Zeit ein Streitpunkt zwischen Mainz und Frankfurt. Dabei ging es vorrangig um die Erhebung des Mainzolls durch die Mainzer Erzbischöfe, für die der Zoll eine wichtige Einnahmequelle bedeutete. Frankfurt hingegen betrachtete den Höchster Mainzoll als Handelshindernis und erwirkte mehrfach dessen kaiserliches Verbot. Dennoch erhoben die Mainzer den Mainzoll oft weiter, ohne sich um die Verbote zu kümmern. Dies blieb in der Zeit des Interregnums mit seiner geschwächten Königsmacht meist folgenlos. 1336 erteilte Kaiser Ludwig IV der Bayer Frankfurt ein Privileg, das jeglichen Bau befestigter Anlagen im Umkreis von sieben Meilen um Frankfurt verbot. Damit sollte eine Befestigung Höchsts verhindert werden. Am 11. Februar 1355 verlieh Kaiser Karl IV. in einer in Pisa ausgestellten Urkunde dem Dorf Hoisten (Höchst) gegen den Willen Frankfurts die Stadtrechte. Die in Latein verfasste Urkunde richtet sich an Gerlach von Nassau, den Landesherrn und Erzbischof von Mainz. Lange Zeit bestanden Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Urkunde, da sie angeblich weder gesiegelt noch unterschrieben sei. Doch die im Münchener Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrte Urkunde trägt sowohl das königliche als auch das kaiserliche Siegel und ist entsprechend gültig.In einer weiteren in Nürnberg auf Deutsch ausgestellten Urkunde vom 12. Januar 1356, die ebenfalls im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München aufbewahrt wird, bekräftigte Karl IV. die Stadterhebung noch einmal: Wir gönnen und erlauben ihm von unserer sonderlichen kaiserlichen Gnaden, seinen Nachkommen, […], daß sie aus ihrem Dorfe Hoesten eine Stadt aufrichten, aussetzen, bauen und machen sollen und mögen und die befestigen und bewehren mit Graben, mit Toren, Türmen und mit allen anderen Sachen und mit allen Wegen, …Zudem erweiterte Karl die Stadtrechte Höchsts deutlich und verlieh der jungen Stadt das Marktrecht. Wie in der ersten Urkunde wurden der Stadt Freiheitsprivilegien nach dem Vorbild der Nachbarstadt Frankfurt zugestanden: Auch sollen sie in der obengenannten Stadt alle Dienstage einen Wochenmarkt begehen und halten, und soll die obgenannte Stadt auf denselben Markttag und in allen anderen Wegen und Sachen alle die Rechte und Freiheiten, Gnade und gute Gewohnheiten haben und der völlig gebrauchen, als Unser und des obgenannten Reiches Stadt zu Franckenfurt hat und gebrauchet und auch von alters darkommen ist.Höchst wurde damit als Mainzer Tochterstadt vor den Toren Frankfurts ein wichtiges Instrument der Mainzer im Konkurrenzkampf der beiden Großstädte. Gleichzeitig wurden die Mainzer Erzbischöfe im Rahmen der Goldenen Bulle als Kanzler von Deutschland bestimmt, die das Privileg hatten, die Kurfürsten zur Königswahl zu versammeln. Mit der Stadtrechtsverleihung wurden die mainzischen Rechte am Untermain gegenüber der aufstrebenden Reichsstadt Frankfurt gestärkt, und durch das Befestigungsrecht konnte Mainz auch militärisch in Höchst präsenter werden. Die bisher ungeschützte Siedlung und der mainzische Fronhof waren nun besser vor Überfällen geschützt. Durch die Stadtumwehrung verlief die Handelsstraße Frankfurt-Mainz durch das geschützte Stadtgebiet, was zur Folge hatte, dass auch ein Landzoll erhoben werden konnte. Die Einnahmen aus den Zöllen in Höchst, Ehrenfels und Niederlahnstein waren für den finanzschwachen mainzischen Staat ein willkommenes Instrument, am wachsenden Reichtum der Nachbarn teilzuhaben. Eine Stärkung des Bürgertums lag mit der Stadterhebung Höchsts nicht im Interesse des Erzbischofs, der bereits den Bürgern der Stadt Mainz erhebliche Freiheiten hatte zugestehen müssen. Die Höchster Bürger erhielten durch die Stadterhebung zwar die städtischen Freiheiten, aber keine Selbstverwaltung. Mainz richtete keinen Rat ein, und auch der Schultheiß wurde von den Erzbischöfen ernannt. Die Stadt Höchst sollte Zolleinnahmen erbringen und die Ostgrenze des mainzischen Staats militärisch sichern. Die bäuerliche Fron wurde durch andere Pflichten wie den Wachdienst auf den Stadtmauern ersetzt. Kurz nach der Stadterhebung begann in Höchst der Bau einer Stadtbefestigung. Die teilweise bis heute erhaltene Stadtmauer entstand vermutlich in mehreren Schritten. Die Limburger Chronik erwähnt im Bericht über den Frankfurter Angriff von 1396 keine steinerne Mauer, sondern Palisaden mit Gräben und Türmen: Auch soll man wissen, daß Höchst vorgenannt erst vor vierzig Jahren zu einem Städtchen und zu einer Freiheit begriffen ist worden mit Graben, Planken und Bergfrieden, als sich das gehöret.Die Ausdehnung der Stadt reichte anfangs von der Rosengasse im Westen bis zum späteren Kronberger Haus im Osten. Sie erreichte im Osten und Westen erst Ende des 15. Jahrhunderts nach einer zweimaligen Erweiterung den Umfang der erhaltenen Stadtumwallung. Der von den Mainzern in Höchst von allen den Main befahrenden Schiffen erhobene Zoll blieb weiterhin Streitpunkt zwischen den Mainzern und den Frankfurtern, da die Handelsstadt Frankfurt durch den Mainzoll ihre wichtigste Lebensader bedroht sah. 1368 wurde der Zoll wieder erhoben, 1379 erneut verboten und der Main bis Frankfurt für zollfrei erklärt. König Wenzel erlaubte im Jahr 1380 schließlich dem Erzbischof Adolf I. von Nassau und seinen Nachfolgern die Erhebung eines Zolls auf Wein und andere Kaufmannsgüter. 1396 nutzten die Frankfurter deshalb die Sedisvakanz des Mainzer Bischofsstuhls; im Auftrag des Frankfurter Rats zerstörten die Cronberger Ritter Stadt und Burg Höchst im Handstreich. In den Jahren 1396 bis 1432 erfolgte schrittweise der Wiederaufbau der Burg und der Stadtbefestigung, gegen den Frankfurt vergeblich klagte. Auch das Wechselspiel um den Höchster Zoll von Erlaubnis und Verbot, Erhebung und Verzicht setzte sich weiter fort. Die Ansiedlung einiger Adelsfamilien in Höchst, die im Wechsel den Posten des mainzischen Amtmanns besetzten, führten zu einem räumlichen und wirtschaftlichen Wachstum. Die Stadt wurde nach der Zerstörung 1396 entlang der Hauptstraße bis 1432 nach beiden Richtungen erweitert. Im Westen wurde dabei der ältere Ochsenturm als südwestliche Ecke in die neue Befestigung einbezogen. An der Hauptstraße entstanden Stadttore. Das Kloster St. Alban, das bisher die Seelsorge in der Justinuskirche übernommen hatte, wurde 1419 aufgelöst. Das Klostergut wurde deshalb 1441 an den Antoniter-Orden übertragen, der sein Kloster in Roßdorf bei Hanau nach Höchst verlegte. Die Antonitermönche erweiterten die Justinuskirche um einen gotischen Chor, der bis heute das Aussehen des Bauwerks prägt. Die letzten Antoniter verließen Höchst 1803 nach der Säkularisation. 1463 erhielt der in der Mainzer Stiftsfehde unterlegene und als Erzbischof abgesetzte Diether von Isenburg im Frieden von Zeilsheim das Amt Höchst als eigene Herrschaft zugesprochen. Bis Diether 1475 erneut Erzbischof wurde, ließ er Burg und Stadt Höchst ausbauen. In einem weiteren Bauabschnitt von 1460 bis 1475 erfolgte noch einmal eine Stadterweiterung nach Osten, die Aufweitung der Straße vor dem Storch genannten Frankfurter Tor diente als neuer Platz für den Höchster Wochenmarkt. Bei dieser Erweiterung wurde die befestigte Mainmühle als neue südöstliche Ecke in die Befestigung einbezogen. === Höchst in der frühen Neuzeit bis zum Ende von Kurmainz === In der Renaissancezeit entwickelte sich Höchst langsam zu einem kleinstädtischen Unterzentrum westlich von Frankfurt. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden einige der heute noch bestehenden Adelshöfe wie das Kronberger Haus, das Dalberger Haus und das Greiffenclausche Haus. Wolfgang von Dalberg als Erzbischof und Landesherr ließ das Schloss ab 1586 weiter ausbauen. 1582 wurde Höchst von der Pest heimgesucht. Die Zahl der Pesttoten ist nicht überliefert, lediglich das Diarium der Antoniter berichtet von vier Opfern unter den Brüdern. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember wurde beim Großen Stadtbrand die Hälfte der Stadt zerstört. Das Diarium der Antoniter überliefert: 1586 Högst gebrandt in Vigilia Damasi; war der Main gefroren stundt 5 wochen zu.Der Dreißigjährige Krieg bedeutete auch für Höchst einen Einschnitt. Die Stadt wurde durch die Kriegsereignisse stark in Mitleidenschaft gezogen. Am 20. Juni 1622 wurde die Schlacht bei Höchst ausgetragen, bei der die Kaiserlichen unter Tilly die Braunschweiger schlugen. Die Stadt wurde dabei besetzt und geplündert. Vom November 1631 bis März 1632 besetzten die Schweden unter Gustav II. Adolf die Stadt, eine kleine schwedische Besatzung blieb bis Ende 1634. Auf seinem Zug von Frankfurt Richtung Mainz ließ Bernhard von Weimar im Januar 1635 Höchst einnehmen und die Hälfte der Stadt und das damalige gotische Schloss niederbrennen. Der Kurfürst Anselm Casimir Wambolt von Umstadt beklagte sich in einem Schreiben vom März des Jahres darüber beim Kaiser: Allein aus bösem Vorsatz und giftigem Neid ohne einige ihren Nutzen und Vorteil han sie das durch unsren Vorgänger Wolfgang mit großen Kösten erbaute Residenzschloß ganz und zumal bis auf die noch stehenden Mauern in die Asche gelegt.Die Stadt wurde noch mehrfach von feindlichen Truppen heimgesucht. Brände, Hunger und Pest dezimierten die Bevölkerung. Von den 126 Familien im Jahr 1618 blieben am Ende des Krieges nur noch 75 übrig. Durch Zuzug stieg die Zahl der Haushaltungen jedoch wieder auf 102. Die Stadt erholte sich nur langsam von den Kriegsfolgen, das zerstörte Schloss wurde nicht wieder aufgebaut. Lediglich der Torbau und der Bergfried wurden in den Jahren 1636 bis 1768 wieder instand gesetzt. Der Turm erhielt dabei 1681 seine Barockhaube. Im 18. Jahrhundert setzte in Höchst eine langsame Blüte des Handels ein. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg auch langsam die Bevölkerungszahl, sie verdoppelte sich bis 1780 auf 850 gegenüber 450 im Jahr 1668. Die Gründung der bekannten Höchster Porzellanmanufaktur im Jahr 1746 – sie produzierte bis 1796 und wurde 1947 neu gegründet – und die Ansiedlung der italienischen Handelsfamilie Bolongaro waren zwei wichtige Gründe für diesen Aufschwung. Die Bolongaros hatten 1743 eine Frankfurter Tabakhandlung erworben und bauten sie zur größten Schnupftabakmanufaktur Europas aus. 1771 erwarben sie in Höchst das Bürgerrecht, das ihnen die lutherische Reichsstadt Frankfurt verwehrt hatte. Kurfürst Emmerich Joseph gestattete ihnen den Bau des Bolongaropalastes im Rahmen seines 1768 begonnenen Neustadt-Projektes zur Stadtentwicklung Höchsts. Das Projekt kam jedoch nur stockend voran. Zwar wurden den Neusiedlern viele Privilegien zugestanden, die Baukosten auf dem schwierigen Gelände waren jedoch hoch und in der Altstadt stand genügend preiswerter Bauplatz zur Verfügung. Daher blieb die Neustadt bis auf wenige Straßenzüge unbebaut. Am 24. September 1778 wurde die Altstadt abermals durch einen Stadtbrand getroffen, der das nordöstliche Viertel zerstörte. In der Folge wurde die Bebauung dort neu geordnet, um die Brandgefahr zu mindern. Gleichzeitig gestattete der Kurfürst, die Bebauung bis an die Stadtmauer heranzuziehen. Dies bedeutete das Ende der Stadtmauer als Verteidigungsanlage der Stadt. Die Bolongaros, denen 1783 doch noch das Frankfurter Bürgerrecht zugestanden worden war, verließen Höchst wieder und beauftragten ihren Prokuristen Bertina mit der Geschäftsführung der Tabakmanufaktur. In den folgenden Jahren ab 1792 wurde Höchst während der Koalitionskriege mehrfach von französischen Truppen besetzt. Im September 1795 überschritt ein französisches Heer unter Marschall Jourdan den Rhein bei Mainz-Kastel, wurde aber am 10. Oktober 1795 von den Österreichern unter Karl von Clerfayt in der Schlacht bei Höchst geschlagen und über den Rhein zurückgeworfen. Am 11. Oktober 1802 nahmen einhundert Mann nassauisches Militär unter Führung des Regierungsrats Huth in Vorwegnahme der Territorialneuordnung Höchst in Besitz. == Von Nassau und Preußen nach Frankfurt – 1803 bis 1928 == === Die biedermeierliche Kreisstadt in Nassau === Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden die geistlichen Fürstentümer aufgelöst – auch das Territorium des Erzbistums Mainz wurde säkularisiert. Stadt und Amt Höchst wurden dem Fürstentum Nassau-Usingen zugeschlagen, das bereits 1806 im Herzogtum Nassau aufging. Die für Höchst zuständige Residenzstadt war jetzt Wiesbaden. Wenige Jahre später erfolgte die kirchenrechtliche Lösung Höchsts vom Erzbistum Mainz. Im Rahmen der 1821 erfolgten Neuordnung der Bistümer gehörte Höchst ab 1827 mit dem Herzogtum Nassau und der Freien Stadt Frankfurt zum neu geschaffenen Bistum Limburg. Vom 1. auf den 2. November 1813 verbrachte der bei Leipzig geschlagene Napoléon Bonaparte seine letzte Nacht auf rechtsrheinischem Boden. Er übernachtete im Bolongaropalast. Sein Kontrahent, Marschall Blücher, erreichte Höchst wenige Tage später, am 17. November. Er nutzte den Bolongaropalast bis zum 27. Dezember des Jahres als Hauptquartier. Die nassauische Regierung begann nach dem Ende der Befreiungskriege ab dem Jahr 1813 mit einer Verbesserung der Infrastruktur und einer Verwaltungsreform im Herzogtum. Höchst wurde 1816 Verwaltungssitz des Amtes Höchst. Im Rahmen des Ausbaus der Mainzer Landstraße wurden im Jahr 1816 die hinderlichen und nutzlosen Stadtmauern sowie beide Stadttore abgebrochen und die Hauptstraße erweitert. Erhalten blieb nur die Mainfront der alten Stadtbefestigung, da hier keine Ausdehnungsmöglichkeit für die Stadt bestand. Sie prägt das mainseitige Bild Höchsts bis heute. Die im Rahmen des Neustadtprojekts angelegte Königsteiner Straße wurde zwischen 1814 und 1820 als Chaussee Richtung Königstein ausgebaut. Höchst erlebte ein weiteres Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. 1822 lautete der Eintrag in einem Geografiebuch: Höchst, an dem Einflusse der Nidda in den Main, mit 1516 Einwohnern, Tabaks- und anderen Fabriken, starkem Handel. Das Bolongarosche Gebäude zieret dieses lebhafte Städtchen.Am 26. September 1839 wurde die erste Etappe der Taunusbahn von Frankfurt nach Höchst eröffnet. Sie war eine der ersten deutschen Eisenbahnen. Der erste Höchster Bahnhof lag am Bahnübergang der heutigen Königsteiner Straße. Anfang 1840 war die Strecke bis in die nassauische Residenz Wiesbaden fertiggestellt. 1847 eröffnete die Nebenbahn ins damals sehr beliebte Kurbad Soden. Nach der Märzrevolution von 1848, die auch an Höchst nicht vorüberging, beschloss die nassauische Regierung eine Verwaltungsreform. Mit einem Gesetz vom Dezember 1848 zur Neuordnung der Gemeindeverwaltung wurde ein auf vier Jahre gewählter ehrenamtlicher Gemeinderat eingeführt. Der Gemeinderat wurde von der Gemeindeversammlung gewählt und bestand aus einem Bürgermeister, einem Ratschreiber und einer nach Gemeindegröße wechselnden Zahl Gemeinderäte. Von 1860 bis 1887 hatte Höchst vier ehrenamtliche Bürgermeister. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrielle Revolution in Deutschland ihren ersten Höhepunkt. Das Herzogtum Nassau förderte Industrieansiedlungen nach Kräften, während die Freie Stadt Frankfurt innerhalb ihrer Grenzen keine größeren Fabriken dulden wollte. Bereits 1856 wurde eine erste Fabrik chemischer Producte Simeons, Ruth und Co. in Höchst eröffnet. 1863 gründeten die beiden Frankfurter Unternehmer Eugen Lucius und sein Schwager Carl Friedrich Wilhelm Meister das Unternehmen Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co. Das anfangs sehr kleine Unternehmen wuchs rasch. Unter dem Namen Farbwerke Höchst vorm. Meister Lucius & Brüning AG und später als Hoechst AG wurde es zum größten Chemie- und Pharmakonzern der Welt. Im Höchster Volksmund behielt das Werk immer den Namen Rotfabrik, nach einem der ersten Produkte des jungen Unternehmens, dem roten Farbstoff Fuchsin. === Groß-Höchst – Die preußische Kreis- und Industriestadt === Das Herzogtum Nassau stand im Deutschen Krieg auf Seiten des Deutschen Bundes und gehörte somit zu den Kriegsverlierern. Das Herzogtum wurde zusammen mit der Freien Stadt Frankfurt und dem Kurfürstentum Hessen von Preußen annektiert. Die Stadt Höchst gehörte von 1867 bis 1885 dem neuen Landkreis Wiesbaden in der Provinz Hessen-Nassau an. 1886 wurde Höchst Kreisstadt des neu gegründeten Landkreises Höchst. Zum 31. Dezember 1866 hob die preußische Verwaltung endgültig den Mainzoll auf. Die beiden letzten Höchster Zollbeamten beendeten am 15. Februar 1867 ihren Dienst, die Gerätschaften des Amtes wurden versteigert und die Gebäude als Privatwohnung vermietet. Der Zollturm wurde 1870 zur Schule umgebaut. Die neue Main-Lahn-Bahn nach Limburg wurde 1877 in Betrieb genommen. Mit dem Bau der Limburger Strecke wurde 1880 am heutigen Standort ein neues Bahnhofsgebäude errichtet. Es lag als Inselbahnhof zwischen den Gleisen und war durch eine Stichstraße von der Königsteiner Straße her erreichbar. 1902 wurde die Königsteiner Bahn nach Königstein im Taunus eröffnet. 1914 entstand als letztes öffentliches Bauprojekt in Höchst vor dem Ersten Weltkrieg ein neuer Bahnhof, der dritte nach 1839 und 1880. Mit seinen zwölf Gleisen und dem repräsentativen Empfangsgebäude im Jugendstil war er ein Symbol für das rasante Wachstum, das die Stadt durch den Aufstieg als Chemiestandort erlebte. Die Einwohnerzahl stieg sprunghaft von 6517 im Jahr 1885 auf 14.000 im Jahr 1905. Weitere Industrie- und Handwerksbetriebe siedelten sich an. 1908 wurde am Mainufer der Höchster Hafen für den wachsenden Warentransport auf dem Fluss ausgebaut. Das vordem flache Ufer wurde dazu um zwei Meter aufgeschüttet. Neue Stadtviertel wurden angelegt, das Westend mit Gründerzeit- und Jugendstilbauten entstand. Während der Stadtplan von 1864 noch einen Stadtgrundriss zeigt, der sich im Bereich der Altstadt fast nicht von der spätmittelalterlichen Ausdehnung unterscheidet und die Neustadt kaum über den Plan Emmerich-Josephs hinaus gewachsen ist, verdeutlicht der Stadtplan von 1898 das schnelle Wachstum Höchsts innerhalb von dreißig Jahren. Auch das religiöse Leben in der Stadt wurde vielfältiger. War Höchst ehemals als mainzische Besitzung traditionell katholisch, zogen nun Protestanten und Bürger jüdischen Glaubens zu. Mit finanzieller Unterstützung durch den Industriellen Adolf von Brüning wurde 1882 die evangelische Stadtkirche errichtet. Die jüdische Gemeinde weihte 1905 ihre neue Synagoge am heutigen Marktplatz feierlich ein. 1909 wurde die neue katholische Pfarrkirche St. Josef geweiht, deren Bau als Folge der Enteignung von Kirchengut während der Säkularisation von 1803 vom preußischen Staat finanziert wurde. Dies wurde 1906 in einem Höchster Kirchenbauprozess genannten Gerichtsverfahren zwischen der katholischen Kirchengemeinde und dem preußischen Fiskus entscheiden.Schließlich konnte die ehrenamtliche Verwaltung die Probleme der wachsenden Industriestadt nicht mehr bewältigen. Ohne den massiven Einfluss der Farbwerke Hoechst und ihrer Gründerfamilien auf die soziale und kulturelle Stadtentwicklung sowie ihren Bau von Sozialwohnungen für die Arbeiterschaft wäre die Infrastruktur Höchsts längst zusammengebrochen. 1888 bekam Höchst mit Eugen Gebeschus seinen ersten hauptamtlichen Bürgermeister. Der Verwaltungsjurist setzte sich schnell für eine planvolle Stadtentwicklung ein, die das Wachstum der Stadt ordnete und die verfügbaren Flächen strukturierte. Höchst erwarb 1907 für die wachsende Stadtverwaltung den bis dahin als Wohn- und Industriegebäude genutzten Bolongaropalast und ließ ihn zum Rathaus umbauen. Mitten im Ersten Weltkrieg, am 1. April 1917, wurden die Gemeinden Unterliederbach, Sindlingen und Zeilsheim nach Höchst am Main eingemeindet. Die neue Stadt nannte sich nun Groß-Höchst, sie hatte mit einem Schlag 32.000 Einwohner. Ihr Bürgermeister Ernst Janke, Amtsinhaber von 1911 bis 1923, wurde von Wilhelm II. zum Oberbürgermeister ernannt. === Nach dem Ersten Weltkrieg – Französische Besatzung und Inflation === Nach dem Ende des Krieges wurden die linksrheinischen Gebiete Deutschlands infolge des Versailler Vertrags durch Frankreich besetzt. Hinzu kamen außerdem drei Brückenköpfe auf rechtsrheinischem Gebiet in einem Radius von jeweils dreißig Kilometern rund um Köln, Koblenz und Mainz. Höchst lag innerhalb des Mainzer Besatzungsgebiets und wurde am 14. Dezember 1918 von französischen, marokkanischen und algerischen Truppen besetzt, die in der eigens für sie erbauten Höchster Kaserne Quartier nahmen. An der Niddabrücke nach Nied wurde ein Grenzübergang (Zollgrenze) eingerichtet, Straßennamenschilder in französischer Sprache wurden aufgehängt. Wegen Widerstands gegen die Besatzungsmacht wurde 1919 Oberbürgermeister Janke ausgewiesen, das gleiche Schicksal traf 1923 seinen Amtsnachfolger Bruno Asch. Er leitete bis 1925 die Amtsgeschäfte telefonisch von Frankfurt aus, bevor er dort Stadtkämmerer wurde und sein Amt an Bruno Müller übergab, den letzten Höchster Bürgermeister. Die französische Besatzung endete erst im Jahr 1930. Im Werk Höchst entstand 1920 bis 1924 das Technische Verwaltungsgebäude von Peter Behrens, einer der bedeutendsten expressionistischen Industriebauten. Zwischen dem Bahnhof und der Königsteiner Straße wurde südlich des Bahndamms eine der wenigen expressionistischen Parkanlagen Deutschlands angelegt, die heutige Bruno-Asch-Anlage. Der Höchster Stadtarchitekt Carl Rohleder hatte radikale Planungen für ein „Groß-Höchst“, die Abriss und Neubebauung fast der gesamten Altstadt vorsahen. Sie konnten aufgrund der finanzschwachen Situation Höchsts nicht verwirklicht werden. Die Inflation und die Kosten der französischen Besatzung zwischen 1918 und 1930 hatten die Stadtkassen geleert. Zudem war das Gewerbesteuereinkommen beträchtlich gesunken, nachdem sich die I.G. Farben, zu der auch die Hoechst AG gehörte, vom Interessenverband 1925 in einen Konzern mit Hauptsitz in Frankfurt umgewandelt hatte. Der Hauptteil der Steuereinnahmen aus der Hoechst AG floss nun in die Nachbarstadt. Im Werk Höchst wurde in diesen Jahren wenig investiert, da der neue Konzern seinen Schwerpunkt in Mitteldeutschland hatte. Die wirtschaftlichen Interessen des Konzerns und des Konzernsitzes Frankfurt veranlassten die preußische Regierung, Druck auf die Höchster Verwaltung auszuüben. Würde Höchst sich nicht freiwillig nach Frankfurt eingemeinden lassen, würde dies der preußische Landtag mit einem Gesetzesakt zwangsweise veranlassen. Um nicht Eingemeindungsbedingungen diktiert zu bekommen und weiterhin von den existenziellen Steuereinnahmen zu profitieren, entschied sich der Höchster Magistrat für die freiwillige Aufgabe der städtischen Eigenständigkeit. Die Stadtverordnetenversammlung verabschiedete am 5. Januar 1928 den mit Frankfurt ausgehandelten Eingemeindungsvertrag mit seiner Anlage zur weiteren Entwicklung Höchsts. Der bisherige Höchster Bürgermeister Bruno Müller (SPD) wurde Dezernent in Frankfurt. == Ein Stadtteil Frankfurts – Höchst ab 1928 == === Von den späten 1920ern bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges === Am 1. April 1928 verlor Höchst nach 573 Jahren seine kommunale Selbständigkeit und wurde ein Ortsbezirk Frankfurts (Frankfurt-West). Die Altstadt, sowie die 1917 eingemeindeten Höchster Stadtteile wurden zu Frankfurter Stadtteilen. Die französische Militärverwaltung widersetzte sich anfangs der Eingemeindung, stimmte dann aber doch zu. Nachdem die letzten französischen Truppen im Dezember 1929 abgezogen waren, endete die französische Besatzung Höchsts formal im Juni 1930. Höchst blieb allerdings, dies war ein Kuriosum der Eingemeindung, noch bis 1980 Sitz der Kreisverwaltung des Main-Taunus-Kreises, der im Rahmen einer Gebietsreform aus dem Altkreis Höchst und dem Altkreis Wiesbaden neu gebildet wurde. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte sich die kommunalpolitische Situation Höchsts. Der Eingemeindungsvertrag sah eine starke Autonomie des Stadtteils vor, die auch einen eigenen Haushalt umfasste. Dies passte nicht zum zentralistischen Führerprinzip der neuen Machthaber, Höchst wurde zu einem abhängigen Verwaltungsbezirk Frankfurts. Im Anhang des Vertrages zugesagte Bauvorhaben und Stadtentwicklungsmaßnahmen wurden nicht ausgeführt, der Vertrag verschwand im Stadtarchiv. Die Nationalsozialisten begannen schnell mit der Enteignung der jüdischen Bevölkerung Höchsts. Die Besitzer des 1929 auf der Königsteiner Straße eröffneten großstädtischen Kaufhauses Schiff wurden zum Verkauf gezwungen; das Kaufhaus wurde über einen Zwischenbesitzer an den Hertie-Konzern verkauft. Ebenso „arisiert“ wurde die gegenüber dem Bahnhof gelegene Schuhfabrik R. & W. Nathan OHG, deren Anteile zur Hälfte von der Dresdner Bank erworben wurden. Das Unternehmen wurde zur ADA-ADA-Schuh AG umfirmiert, die Inhaber in die Emigration getrieben. Bei den Novemberpogromen 1938 wurde die 1905 am Marktplatz erbaute Synagoge von SA-Leuten niedergebrannt, die Feuerwehr schützte lediglich umstehende Häuser vor dem Feuer. Anstelle der Synagoge wurde ein Luftschutzbunker errichtet. Eine Gedenktafel an dessen Westfassade erinnert heute an das Geschehen. Im Gegensatz zur Kernstadt Frankfurts und anderen Stadtteilen wurde Höchst im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main nur leicht beschädigt. Bei Luftangriffen im Jahr 1940 wurden vier Häuser zerstört, 13 Menschen starben dabei. Insbesondere wurden auch die Anlagen der Hoechst AG nur wenig beschädigt. Lediglich ein Produktionsbetrieb, die Telefonzentrale und die Werksbibliothek wurden zerstört. Insgesamt wurden in Höchst 53 Häuser getroffen. Augenzeugenberichten zufolge gab es in Höchst keinen einzigen schweren Luftangriff. Der letzte Beschuss Höchsts durch US-amerikanische Artillerie erfolgte am Abend des 27. März 1945. Am 29. März 1945 marschierten die amerikanischen Truppen in Höchst ein und besetzten den Stadtteil und das Chemiewerk. === Die Entwicklung Frankfurt-Höchsts nach 1945 === Im Juli 1945 richtete sich der Soldatensender AFN im Höchster Schloß ein. Die Studios befanden sich im Neuen Schloss, die Mannschaftsunterkünfte im Alten Schloss. Bis zum Bezug eines neuen Gebäudes beim Hessischen Rundfunk 1966 blieb der Sender im Schloss ansässig. 1947 erfolgte auf Betreiben des Höchster Journalisten Rudolf Schäfer die Neugründung der Höchster Porzellanmanufaktur. Nach finanzieller Beteiligung der Hoechst AG konnte das Unternehmen 1965 fortgeführt werden. Es hatte zwischen 1977 und 2002 seinen Sitz in der Altstadt im Dalberger Haus, seitdem ist der Firmensitz in der Höchster Palleskestraße. Anfang der 1950er-Jahre kam der Eingemeindungsvertrag und seine bisher nicht erfüllten Punkte wieder in die Diskussion. Die Höchster warteten immer noch auf den Anschluss an die Frankfurter Straßenbahn, ebenso waren die vertraglich zugesagte Markthalle, das Hallenbad und die Mainbrücke nicht gebaut worden. 1953 gründeten Höchster Bürger einen Ausschuss, der unter dem Motto „Zerbrecht die Ketten Frankfurts“ die Ausgemeindung aus Frankfurt betreiben wollte. Da der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb seinen Wohnsitz in einem Seitenflügel des Bolongaropalastes hatte, konnte er sich direkt ein Bild vom Unmut der Höchster Bevölkerung machen. Auf seine Initiative wurden die Markthalle und das Hallenbad erbaut und im November 1955 eingeweiht. Die Straßenbahn wurde von Nied bis zur Zuckschwerdtstraße im Osten Höchsts ausgebaut. Weitere Teile des Vertrages wurden erst seit Mitte der 1990er-Jahre erfüllt, so 1994 die Errichtung einer Brücke über den Main und der Bau des Bahnhofs für Zeilsheim und Sindlingen im Jahr 2007. 1957 fand zum ersten Mal das Höchster Schloßfest statt. Es entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem kulturellen Höhepunkt der Region. Ein erster Ansatz zum Denkmalschutz in Höchst erfolgte 1959 mit einer von der Stadt Frankfurt erlassenen Bausatzung, die einige Häuser der Höchster Altstadt unter Schutz stellte. Sie mündete 1972 in ein Ortsstatut, mit dem die Höchster Altstadt als Gesamtensemble unter Denkmalschutz gestellt wurde. In den folgenden Jahren wurden die Straßen der Altstadt neu gepflastert und mit neuen Straßenlaternen versehen. Viele historische Gebäude wurden seither renoviert. Am 4. Juli 1979 beschloss der Hessische Landtag den Umzug der Verwaltung des Main-Taunus-Kreises von Höchst nach Hofheim am Taunus, Höchst verlor dadurch nach fast zwei Jahrhunderten seinen Status als Kreisstadt. Es blieb jedoch noch bis 1987 Sitz der Kreisverwaltung. Bis 1980 verfügte Höchst ebenfalls über eine eigenständige Kfz-Zulassungsstelle für das Kfz-Kennzeichen FH (Frankfurt-Höchst). Seit den 1970er-Jahren war ein kontinuierlicher Bevölkerungsrückgang in Höchst zu verzeichnen. Der Stadtteil hatte und hat den Ruf eines Industriebezirks mit geringer Wohnqualität. Im Jahr 2005 waren 39 Prozent der Bevölkerung Migranten, was soziale Spannungen und Ghettobildung mit sich bringt. Mit dem Bau von Einkaufszentren wie des Main-Taunus-Zentrums vor den Toren Höchsts wurde die traditionelle Kundschaft aus dem Vordertaunus weggelockt. Nach dem Wegzug der Kreisverwaltung blieben auch die Behördenmitarbeiter und -besucher als Kundschaft der Höchster Geschäfte aus. Der Einzelhandel in Höchst geriet daher seit dem Ende der 1980er in eine Krise. Ein weiterer wirtschaftlicher Einschnitt für den Stadtteil ergab sich ab Mitte der 1990er mit der Aufteilung und Auflösung der Farbwerke Hoechst. Die Zahl der im Industriepark Höchst Beschäftigten sank von über 30.000 (um 1980) auf zeitweise unter 20.000, und der früher übliche Einkaufsbummel der Rotfabriker während der Mittagspause wurde ein Opfer der Bemühungen um ständige Effizienzsteigerung. Im Jahr 2007 ist der Industriepark ein prosperierender Standort für über 90 Unternehmen, die wieder rund 22.000 Mitarbeiter beschäftigen, die jedoch dem Einzelhandel und der Gastronomie in Höchst nur noch wenig Umsatz verschaffen. Auch die finanzielle Unterstützung der früheren Hoechst AG für soziale, kulturelle und denkmalschützerische Projekte im Stadtteil blieb nun weitgehend aus. Die 1990 erfolgte Umwandlung eines Abschnitts der Königsteiner Straße zwischen Bolongarostraße und Hostatostraße in eine Fußgängerzone konnte den Abwärtstrend des Höchster Einzelhandels nicht aufhalten. Viele Fachgeschäfte zogen fort oder gaben auf, leerstehende Geschäftsräume und Geschäfte mit Niedrigpreisware kennzeichnen seither das Bild der Höchster Einkaufsstraßen. Daher beschloss die Stadt Frankfurt im Jahr 2006, in den folgenden zehn Jahren die Stadtentwicklung Höchsts mit zwanzig Millionen Euro zu fördern, um Höchst wieder zu einem attraktiven Wohn- und Geschäftsstandort zu machen. == Einzelnachweise und Anmerkungen == == Literatur == Wilhelm Frischholz: Alt-Höchst. Ein Heimatbuch in Wort und Bild. Hauser, Frankfurt am Main 1926. Leo Gelhard (Hrsg.): 600 Jahrfeier der Stadt Höchst am Main vom 2. bis 11. Juli 1955. Fest- und Programmbuch. Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1955. Markus Grossbach: Frankfurt-Höchst. Bildband. Sutton, Erfurt 2001, ISBN 3-89702-333-4. Wilhelm Grossbach: Alt-Höchst auf den zweiten Blick. Impressionen aus einer alten Stadt. Höchster Verlagsgesellschaft, Frankfurt 1980. Wilhelm Grossbach: Höchst am Main: gestern, heute, morgen. Frankfurter Sparkasse, Frankfurt am Main 2006, DNB 981276903. Wolfgang Metternich: Die Justinuskirche in Frankfurt am Main-Höchst. Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1986, DNB 810644657. Wolfgang Metternich: Die städtebauliche Entwicklung von Höchst am Main. Stadt Frankfurt und Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1990, DNB 910477647. Wolfgang Metternich: Höchst erstaunliche Geschichte. Kramer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-7829-0447-8. Wolfgang Metternich: Die Burg des 13. Jahrhunderts in Höchst am Main. Verein für Geschichte und Altertumskunde, Frankfurt am Main 1995. Rudolf Schäfer: Höchst am Main. Frankfurter Sparkasse, Frankfurt am Main 1981. Rudolf Schäfer: Chronik von Höchst am Main. Kramer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-7829-0293-9. Heinrich Schüßler: Höchst. Stadt der Farben. Frankfurter Sparkasse von 1822, Frankfurt am Main 1953. Anna Elisabeth Schreier, Manuela Wex: Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft. 1863–1988. Hoechst Aktiengesellschaft, Frankfurt am Main 1990, DNB 901055344. Magistrat der Stadt Höchst am Main (Hrsg.): Höchst am Main. Verlag der Stadtverwaltung, Höchst a. M. 1925. == Weblinks == Chronik von Höchst bei par.frankfurt.de, der früheren Website der Stadt Frankfurt am Main Höchst. altfrankfurt.com
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_von_H%C3%B6chst_am_Main
Gotthard Neumann
= Gotthard Neumann = Gotthard Arno Ernst Neumann (* 8. Juni 1902 in Schwabsdorf, Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach; † 29. April 1972 in Jena) war ein deutscher Prähistoriker, der von 1934 bis 1941 und 1953 bis 1967 als Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wirkte und einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Ur- und Frühgeschichtsforschung und Bodendenkmalpflege in Thüringen hat. == Ausbildung, Studium und erste Berufstätigkeit == Gotthard Arno Ernst Neumann wurde am 8. Juni 1902 in Schwabsdorf im heutigen Landkreis Weimarer Land (Thüringen) geboren. Nach dem Schulbesuch in Apolda und Jena studierte er ab 1921 in Jena (vier Semester) bei Gustav Eichhorn und Wilhelm Dörpfeld, München (ein Semester) und Marburg (sechs Semester) die Fächer Vorgeschichte, Geschichte und Deutsch (besonders germanische Religionsgeschichte). Während seines Studiums wurde er Mitglied der Sängerschaft zu St. Pauli Jena. Daneben beschäftigte Neumann sich im Studium ebenso mit Klassischer Archäologie, Kunstgeschichte, Diluvialgeologie, Anthropologie, Philosophie und Kirchengeschichte sowie historischen Hilfswissenschaften. Bereits als Schüler hatte er bei Armin Möller an Ausgrabungen des Städtischen Museums für Urgeschichte in Weimar teilgenommen, als Student war er unter Walther Bremer in der Bodendenkmalpflege in Hessen tätig und wirkte bei einer der ersten Großgrabungen in Deutschland auf dem Goldberg bei Nördlingen unter Gerhard Bersu mit. 1926 wurde Neumann unter Gustav Behrens (für den verstorbenen Walter Bremer) mit einer Arbeit über „Die Aunjetitzer Kultur in Mitteldeutschland“ promoviert. 1927 trat er die Stelle eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters am Staatlichen Museum für Mineralogie, Geologie und Vorgeschichte in Dresden an. In Sachsen führte Neumann mehrere moderne Ausgrabungen, vor allem auf großen bronzezeitlichen Gräberfeldern – unter anderem in Leuben und dem slawischen Burgwall „Alte Schanze“ in Köllmichen bei Mutzschen durch und schuf, „um der Jugenderziehung zu helfen“, nach der Ausgrabung von zwei Grabhügeln der jüngeren Bronzezeit in Gävernitz bei Priestewitz 1930 ein archäologisches Freilichtmuseum mit einer Rekonstruktion der beiden Hügel. Ab Sommersemester 1929 bot Neumann als Assistent des Institutes für Mineralogie und Geologie (Eberhard Rimann) Übungen in Vorgeschichte an der Technischen Hochschule Dresden an. == Neumann als Vorstand des Germanischen Museums und Professor in Jena 1930 bis 1945 == 1930 folgte Neumann dem Ruf des ersten nationalsozialistischen thüringischen Ministers Wilhelm Frick und ging als Vorstand an das Germanische Museum der Universitätsanstalt für Vor- und Frühgeschichte nach Jena. Seine Lehrtätigkeit setzte er zunächst als Volontärassistent des Historischen Seminars bei seinem ehemaligen Lehrer Alexander Cartellieri fort. 1932 bestellte ihn das thüringische Ministerium für Volksbildung aufgrund des ersten thüringischen Ausgrabungsgesetzes vom 1. Juli 1932 ehrenamtlich zum Vertrauensmann für kulturgeschichtliche Denkmale bzw. 1934 zum Staatlichen Vertrauensmann für die vor- und frühgeschichtlichen Bodenaltertümer Thüringens. Unter Leitung von Neumann wurden mit Studierenden, auch unter Einsatz des Reichsarbeitsdienstes eine Reihe von größeren archäologischen Forschungs- und Rettungsgrabungen durchgeführt wie beispielsweise die jungpaläolithische Freilandsiedlung von Oelknitz, Ortsteil der Gemeinde Rothenstein 1932, spätbronzezeitliche Brandgräber und ein frühmittelalterliches Reihengräberfeld 1933 und 1936 in Zöllnitz, in der mittelalterlichen Wasserburg Kapellendorf 1933, auf der mittelalterlichen Turmhügelburg Jenalöbnitz 1934, in der mittelalterlichen Reichsburg Kyffhausen 1934 bis 1938 und der Burg Camburg 1935, je sechs schnurkeramische Grabhügel in Lucka-Breitenhain 1935/1936 bzw. 1941/1942, ein weiterer jungneolithischer Grabhügel in Stobra 1935/1936, ein Urnengräberfeld der frühen Eisenzeit und frühmittelalterliches Reihengräberfeld in Dreitzsch 1936, bandkeramische Bestattungen sowie Siedlungsgruben und Bestattung der Aunjetitzer Kultur in Arnstadt 1937, bronzezeitliche Grabhügel in Willmanns 1940 und andere mehr. Es handelte sich dabei um für ihre Zeit moderne Ausgrabungen, die wesentliche Erkenntnisfortschritte erbrachten und deren Ergebnisse zumeist noch heute Gültigkeit besitzen. 1934 ernannte ihn Thüringens Reichsstatthalter Fritz Sauckel ohne vorherige Habilitation zum beamteten außerordentlichen Professor für Vorgeschichte an der Universität Jena. Mit 32 Jahren war er einer der jüngsten Professoren für Vorgeschichte in Deutschland, wobei derart junge Wissenschaftler, bedingt durch die vergleichsweise späte Institutionalisierung des Faches an den Universitäten, nicht ungewöhnlich waren. 1935 übernahm Neumann ferner ehrenamtlich die Kuratel des Städtischen Museums für Urgeschichte in Weimar und 1937 wurde er als ordentliches Mitglied in die neugeschaffene Thüringische Historische Kommission berufen. Im Januar 1941 wurde Neumann zur Wehrmacht einberufen und diente während des Zweiten Weltkriegs als Wachtmeister (Feldwebel) einer Nachrichtentruppe. Inwieweit sich Neumann während des Krieges, besonders während seines Einsatzes in der Ukraine, an sogenannten „Beutezügen“ beteiligte, kann bisher nicht eindeutig bestimmt werden. Er war nach eigenen Angaben an Aktivitäten des „Sonderstabs Vorgeschichte“ im „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) beteiligt, ohne dort jedoch eine führende Position zu übernehmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen unter den Jenaer Rektoren Abraham Esau (1939) und Karl Astel (1944), Neumann zum ordentlichen Professor zu erheben, erfolgte kurz vor Kriegsende im Februar 1945 die Ernennung zum Ordinarius durch das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, die jedoch nicht mehr wirksam wurde. == Betätigung und Mitgliedschaften in fachlichen und politischen Organisationen im „Dritten Reich“ == Gotthard Neumann entstammte einem christlich-konservativen Umfeld und war, wie auch sein Vater Dr. phil. Arno Neumann († 1926), der evangelische Pfarrer in Schwabsdorf bei Weimar, später Direktor des Realgymnasiums in Weimar und von 1920 bis 1924 Landtagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei (DVP) war, ursprünglich eher nationalliberal orientiert. Nach eigenem Bekunden wandte er sich jedoch am Beginn der 1930er Jahre „unter dem Einfluß der Ereignisse im Vaterlande […] mehr und mehr von liberalen Ansichten [ab] und […] der NSDAP zu“. Die Hoffnungen, die sich für viele Prähistoriker mit dem Namen Adolf Hitler verknüpften, waren auch für den für sein Fach stark engagierten Neumann groß. Entsprechend übernahm Neumann eine Reihe von höheren Positionen in Fachverbänden, was jedoch weniger als Bekenntnis für die NSDAP und ihre Organisationen, sondern mehr als Versuch einer weiteren Popularisierung der Ur- und Frühgeschichtsforschung gewertet werden kann. Als langjähriges Mitglied der „Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte“ (seit 1919) ging Neumann 1934 mit in den „Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte“ über. Bereits 1933 war er von Hans Reinerth zum Landesleiter von Thüringen bestellt und in den erweiterten Beirat berufen worden. Ebenfalls 1933 trat er Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ bei und wurde Leiter der „Fachgruppe Vorgeschichte“ in Jena, wobei die Funktion als Landesleiter wenig später mit derselben, ohnehin in Personalunion besetzten Funktion im Reichsbund verschmolz. Von 1933 bis zu seiner Einberufung 1941 war Neumann Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) und ab 1938 auch hier als Gausachbearbeiter für Vorgeschichte tätig. Darüber hielt er ab 1933 eine große Zahl von Vorträgen an den Staatsschulen Egendorf und Blankenhain, bei der SS, der SA, der NSDAP, bei der Hitler-Jugend, dem BDM, dem Reichsarbeitsdienst und der Landesbauernschaft und organisierte Ausstellungen, Führungen, Lehrwanderungen und dergleichen, um „Tausende von alten und jüngeren Volksgenossen mit dem weltanschaulichen Gehalt der Vorgeschichte bekannt“ zu machen. Im April 1934 schloss er sich der Schutzstaffel (SS) als Förderndes Mitglied (F. M.) an. Von 1937 bis 1941 war Neumann nach eigenen Angaben Anwärter der NSDAP. Ob und wann sein Eintritt von Seiten der Partei realisiert wurde, konnte bisher nicht sicher ermittelt werden. Seine anfängliche Euphorie für das Regime war jedoch schnell verflogen und die Archivalien lassen auf eine zunehmend gespannte Beziehung zur NSDAP und SS schließen. Im Zuge der Entnazifizierung führte Neumann zu seiner Entlastung 1947 an: „So also war meine Stellung als Universitätsprofessor, obwohl ich nur ein vollkommen unpolitisches Amt streng wissenschaftlich verwalten wollte, durchaus gefährdet, kurz, wenn ich nicht Arbeit und Autorität überhaupt verlieren wollte, musste ich mich bereit erklären, der NSDAP beizutreten“, und nannte dabei eine Reihe von überwiegend auch anderweitig belegbaren Konflikten und Auseinandersetzungen. Als Beispiele hierfür können Kontroversen mit der SS-Führung über Zuständigkeiten und ethnische Interpretationen der vorgeschichtlichen Befunde während der Ausgrabungen auf der Reichsburg Kyffhausen (1934–1938) oder Angriffe auf ihn und seine Schüler Heinrich Rempel und Erwin Schirmer wegen ihrer Forschungen zur Archäologie der Slawen genannt werden. Andere dürften auch damit zusammenhängen, dass Neumann sich „unbeirrt zur evangelischen Kirche bekannte“. Als Direktor des Germanischen Museum reichte er Denunziationen gegen seinen Präparator Georg Sorm offiziell an das Thüringische Volksbildungsministerium weiter. Sorm wurde 1937 verurteilt, inhaftiert und entlassen; er endete als „Sozialfall“. == Seine Tätigkeit an der Universität Jena in der Zeit der Sowjetische Besatzungszone und der Deutsche Demokratische Republik == Nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 und amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Neumann im Juni 1945 nach Jena zurück und begann sofort, das Institut zu reorganisieren. Mitte September übernahm er die Aufgabe, die Verbindung zwischen dem Antifaschistischen Studentenausschuss und dem Lehrkörper herzustellen. Unter der Sowjetischen Militäradministration Thüringen (SMATh) wurde Neumann zunächst im November 1945 als Wissenschaftler bestätigt, am 15. Dezember 1945 aber aufgrund seiner NSDAP-Anwärterschaft zusammen mit seinem Assistenten Dr. Heinrich Rempel dienstentlassen, obwohl sich der Landespräsident Rudolf Paul und mehrere Universitätsangehörige für seine Weiterbeschäftigung einsetzen. Im Dezember 1945 trat Neumann in die LDP ein. Für die spätere Zeit ist eine überwiegend passive gesellschaftliche Einstellung festzustellen, jedoch war er weiterhin in der evangelischen Kirche in Thüringen als Synodaler aktiv. Er arbeitete zunächst als freier Schriftsteller und Gelegenheitsarbeiter, konnte aber schon 1947 als „Präparator“ an das Vorgeschichtliche Museum der Universität Jena zurückkehren. 1950 wurde er wissenschaftlicher Assistent und 1953 schließlich wissenschaftlicher Oberassistent in Jena. Noch im selben Jahr wurde Neumann zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Ur- und Frühgeschichte und Direktor des Vorgeschichtlichen Museums, Institut für prähistorische Archäologie, an der Jenaer Universität ernannt, 1956 zum Professor mit Lehrstuhl. Als solcher war er Fachrichtungsleiter für Ur- und Frühgeschichte und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR. 1967 ist Neumann emeritiert worden. Die Schließung seines Instituts und des Museums und die Auslagerung der Sammlung im Zuge der „Dritten Hochschulreform der DDR“ im Jahr darauf bedeutete einen schweren Schlag für ihn. Am 29. April 1972 verstarb Gotthard Neumann in Jena. Von seinen Grabungen zwischen 1953 und 1967 sind besonders hervorzuheben: die Forschungsgrabung der mittelalterlichen Wüstung Gumprechtsdorf im ehemaligen Staatsforst Klosterlausnitz 1952 bis 1953, die stadtarchäologischen Untersuchungen in Jena 1953 bis 1956 (Stadtkirche St. Michael, Paulinerkloster und Jenergasse), die Ausgrabungen eines Flachgräberfeldes in Einhausen 1954 und von früheisenzeitlichen Grabhügeln in Harras 1955 bis 1956, die Untersuchungen des bronzezeitlichen und frühmittelalterlichen Burgwalls auf dem Johannisberg bei Jena-Lobeda 1957 und 1959, die Rettungsgrabung eines schnurkeramischen Grabhügels 1960 in Dornburg. In seinen letzten Schaffensjahren widmete es sich nahezu ausschließlich der Mittelalterarchäologie, so bei der Untersuchung der mittelalterlichen Burganlage in Gerstungen 1960, der Nikolaikirche in Oberndorf bei Arnstadt 1962 und der Schillerkirche in Jena-Ost 1963 sowie der mittelalterlichen Burg und des Benediktinerklosters auf dem Petersberg in Saalfeld 1964. Neumann wurde 1953 wurde zum korrespondierenden und 1956 zum ordentlichen Mitglied des Deutschen Archäologischen Institutes (DAI) gewählt. Er war ferner Mitglied der Sektion für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1952), der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (1964) sowie der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. == Bedeutung für die Ur- und Frühgeschichtsforschung und Bodendenkmalpflege in Thüringen == In Thüringen hat Neumann die Ur- und Frühgeschichtsforschung und Bodendenkmalpflege in den 1930er Jahren teilweise völlig reformiert. Er war maßgeblich beteiligt an neuen Ausgrabungsgesetzen von 1932 und 1933, veranlasste in mehreren bedeutenden Museen in Thüringen wie beispielsweise in Gera und Gotha die Neuaufstellung der vorgeschichtlichen Sammlungen und baute aus dem Jenaer Universitätsinstitut als Landesanstalt für Vorgeschichte heraus die landesweite staatliche Bodendenkmalpflege auf. Neumann führte zwischen 1930 und 1944 zahlreiche wichtige Ausgrabungen und Notbergungen in den nichtpreußischen Gebietsteilen Thüringens durch und gilt mit seinen Untersuchungen von mittelalterlichen Burgen, Kirchen, Städten und Wüstungen als einer der Väter der Mittelalterarchäologie. Um die Ergebnisse seiner Forschungen und die seiner Schüler im Fach und der Öffentlichkeit bekanntzumachen, hat Neumann die Zeitschrift „Der Spatenforscher“ (1936–1943) und das vorgeschichtliche Jahrbuch „Irmin“ des Germanischen Museums der Friedrich-Schiller-Universität (1939–1942) herausgegeben. Eine Analyse des Schrifttums ergab, dass Neumann auch während des Nationalsozialismus, bis auf wenige Ausnahmen, um Wissenschaftlichkeit in der Darstellung seiner Funde und Ergebnisse bemüht war, die Ideologisierung der Ur- und Frühgeschichte bei ihm somit in den Hintergrund trat. Von seinen Überzeugungen wich nicht er ab und war nicht bereit, auch nur die Möglichkeit der Überlegenheit einer Kultur über eine andere Kultur anzuerkennen, geschweige denn die der Germanen. Für die „Germanen“ der La-Tène-Zeit hat er bei öffentlichem Anlass provozierend von „stärkstem keltischen Kultureinflusse“ gesprochen und völkischer Gesinnung und „Germanomanie“ eine völlige Absage erteilt. Mehrfach beschäftigte er sich bei Ausgrabungen und in Vorlesungen, Vorträgen oder Publikationen mit den Slawen auf dem Gebiet Deutschlands, denen er nicht nur eine eigene Kultur zugestand, sondern auch einen Anteil an der Geschichte des deutschen Volkes. Auch nach 1945 war Neumann nach kurzer Unterbrechung wieder als Hochschullehrer tätig und setzte seine Ausgrabungen und Forschungen in Thüringen fort. Die führende Rolle seines Instituts musste er jedoch zunehmend an das heutige Thüringische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar abtreten. Nach dem Tod von Alfred Götze übernahm er dessen Wunsch folgend die Erforschung der Steinsburg bei Römhild und setzte damit seine Erforschung ur- und frühgeschichtlicher und mittelalterlicher Burganlagen fort. Sowohl seine Ausgrabungen als auch die in seinen Lehrveranstaltungen und wissenschaftlichen Arbeiten behandelten Themen deckten nahezu die gesamte Breite der Prähistorie in Thüringen ab. Letztere sind das Ergebnis sorgfältiger, am Fundmaterial ausgerichteter und in erster Linie beschreibender und vergleichender archäologischer Forschung und somit von bleibendem Wert für die Ur- und Frühgeschichtsforschung insbesondere in der mitteldeutschen Landschaft. == Schriften == Die Gliederung der Glockenbecherkultur in Mitteldeutschland. In: Prähistorische Zeitschrift. Band 20, de Gruyter, Berlin 1929, S. 3–69. ISSN 0079-4848 Die Entwicklung der Aunjetitzer Keramik in Mitteldeutschland. In: Prähistorische Zeitschrift. Band 20, de Gruyter, Berlin 1929, S. 70–144. ISSN 0079-4848 Das große Grab von Gävernitz, Amtshauptmannschaft Großenhain, Sachsen. Mitteilungen aus dem Museum für Mineralogie, Geologie und Vorgeschichte zu Dresden. Vorgeschichtliche Reihe. Band 13. Dresden 1930. Die Vor- und Frühgeschichte Mitteldeutschlands. In: Das Thüringer Fähnlein. Band 7, Neuenhahn, Jena 1938, S. 362–369. Sieben Gleichbergburgen nach dem Forschungsstande von 1952. In: Frühe Burgen und Städte. Beiträge zur Burgen- und Stadtkernforschung. Festschrift Wilhelm Unverzagt. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte. Band 2. Berlin 1954, S. 7–16. Mehrere kurze Überblicke über verschiedene ur- und frühgeschichtliche Kulturen, In: Ausgrabungen und Funde. Band 3, Akademie-Verlag, Berlin 1958. ISSN 0004-8127 Gotthard Neumann: Die Fibeln vom Kleinen Gleichberge bei Römhild. In: Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse. Band 64, Heft 3, Leipzig 1973. ISSN 0080-5297Eine Bibliografie (Memento vom 19. Juli 2008 im Internet Archive) befand sich auf der Webseite des Bereichs für Ur- und Frühgeschichte der FSU Jena. == Nachrufe und Würdigungen == Werner Coblenz: Gotthard Neumann †. In: Ausgrabungen und Funde. Band 17, Akademie-Verlag, Berlin 1972, S. 97f. ISSN 0004-8127 Werner Coblenz: Gotthard Neumann 8.6.1902–29.4.1972. Mit Bibliographie Gotthard Neumann nach Unterlagen von Dr. phil. Karl Peschel. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde. Hrsg. v. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Böhlau, Weimar 1971–1972 (1974), S. 316–332. ISSN 0085-2341 Werner Coblenz: Prähistoriker in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Ihre Beiträge zur Geschichtsforschung. In: Wege und Fortschritte der Wissenschaft. Beiträge von Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig zum 150. Jahrestag ihrer Gründung. Berlin 1996, S. 421–436, hier S. 428f. ISBN 3-05-003134-4 Roman Grabolle, Uwe Hoßfeld und Klaus Schmidt: Ur- und Frühgeschichte in Jena 1930–1945. Lehren, Forschen und Graben für Germanien? In: Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth, Rüdiger Stutz (Hrsg.): Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 868–912, ISBN 3-412-04102-5. Rosemarie Müller: Gotthard Neumann und das Problem der Kelten und Germanen in Thüringen. In: Heiko Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 29. Berlin 2001, S. 89–107, ISBN 3-11-017184-8 Wolfgang Pape: Zehn Prähistoriker aus Deutschland. In: Heiko Steuer (Hrsg.): Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 29, Berlin 2001, S. 55–88, ISBN 3-11-017184-8 Karl Peschel: Nachruf Gotthard Neumann 1902–1972. In: Zeitschrift für Archäologie. Band 6, Hüthig, Heidelberg 1972, S. 286f. ISSN 0044-233X Karl Peschel: Gotthard Neumann und die Bodendenkmalpflege in Thüringen 1930 bis 1947. In: Archäologische Gesellschaft in Thüringen e. V. (Hrsg.): 100 Jahre „Die vor- und frühgeschichtlichen Altertümer Thüringens“. Beiträge zur Geschichte der archäologischen Denkmalpflege in Thüringen (= Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas. Band 59 = Neue Ausgrabungen und Funde in Thüringen. Sonderband 2009). Beier & Beran, Langenweißbach 2010, ISBN 978-3-937517-83-4, S. 69–116.Weitere Würdigungen und Nachrufe in der Bibliografie (Memento vom 19. Juli 2008 im Internet Archive). == Einzelnachweise == == Weblinks == Literatur von und über Gotthard Neumann im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
https://de.wikipedia.org/wiki/Gotthard_Neumann
Graf Öderland
= Graf Öderland = Graf Öderland, gemäß Untertitel Eine Moritat in zwölf Bildern, ist ein Drama des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Angeregt durch einen Zeitungsbericht verfasste Frisch im Jahr 1946 eine erste Prosaskizze, die im Folgejahr als Teil des Tagebuchs mit Marion veröffentlicht wurde. Für das Theater bearbeitete Frisch den Stoff mehrfach. Die Uraufführung der ersten Dramenfassung fand am 10. Februar 1951 im Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Leonard Steckel statt und war Frischs erster Misserfolg auf der Bühne. Einen stärkeren politischen Akzent setzte Frischs zweite Bearbeitung, die am 4. Februar 1956 von Fritz Kortner im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Frankfurt inszeniert wurde. Mit der dritten und letzten Version kehrte Frisch wieder weitgehend zur ursprünglichen Tagebuchskizze zurück. Sie wurde am 25. September 1961 im Berliner Schillertheater unter der Regie von Hans Lietzau uraufgeführt und in Frischs 1975 erschienene Werkausgabe aufgenommen. Obwohl alle drei Bühnenbearbeitungen bei Kritik und Publikum gleichermaßen ohne Erfolg blieben, blieb Graf Öderland das Drama, dem Frisch sich am meisten verbunden fühlte. Er bezeichnete es als sein liebstes und geheimnisvollstes Stück. Ausgangspunkt der Handlung ist der scheinbar grundlose Mord eines gewissenhaften Bankangestellten, der einen Hausmeister mit der Axt erschlägt. Einzig der Staatsanwalt bringt Verständnis für die Tat auf und lässt sich von ihr zum Ausbruch aus seinem geregelten Leben inspirieren. Fortan folgt er der Legende des Grafen Öderland, zieht mit einer Axt in der Hand durch die Lande und tötet alle, die sich seinem Anspruch auf Freiheit entgegenstellen. Hinter der Leitfigur des Grafen Öderland scharen sich Anhänger, die Einzeltat des Staatsanwalts wächst sich zum allgemeinen Aufruhr aus. Die Rebellion führt am Ende zu einem politischen Umsturz, ohne dass sich die ersehnte Freiheit für den Staatsanwalt verwirklicht. Kennzeichnend für Graf Öderland ist die Vermischung von privaten und politischen Motiven, die auf zwei Hauptthemen in Frischs Werk zurückgehen: die Sehnsucht nach Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen sowie eine wachsende Kritik an der bürgerlichen Ordnung. == Inhalt == === Endfassung === 1. Bild: Ein Staatsanwalt hat es satt: Staatsanwalt Martin steht mitten in der Nacht auf, weil ihm der Fall eines Axtmörders keine Ruhe lässt. Die Tat ohne Motiv begreift er als Ausbruch aus der Gleichförmigkeit des Alltags, als Anklage gegen ein Leben, das nur aus aufgeschobener Hoffnung besteht. Während sich seine Frau Elsa verständnislos von ihm abwendet, gesellt sich das junge Dienstmädchen Hilde zu ihm, verbrennt seine Akten und erzählt ihm die Legende vom Grafen Öderland. 2. Bild: Der Mörder: In seiner Gefängniszelle bespricht sich der Mörder Wolfgang Schweiger mit seinem Anwalt Doktor Hahn, der sich verärgert über das Geständnis seines Mandanten zeigt. Doch Schweiger, der seine Tat selbst nicht begründen kann, fühlte sich im Verhör des Staatsanwalts das erste Mal verstanden. Noch einmal erzählt er die Geschehnisse des Tatabends: Nach einem pflichtbewussten Arbeitsleben in der Bank-Union führte ihn der Weg auch am arbeitsfreien Sonntag wie selbstverständlich zur Bank, als er den Drang zur Toilette verspürte. Der Hauswart Karl-Anton Hofmeier ließ ihn ein, sie unterhielten sich freundlich, Schweiger scherzte noch, man müsse Hofmeier erschlagen, griff sich dessen Axt und setzte seine Worte in die Tat um. Am Ende erreicht Doktor Hahn die Mitteilung, dass der für den folgenden Tag angesetzte Prozess verschoben sei, der Staatsanwalt werde vermisst. 3. Bild: Der Staatsanwalt kommt zu seiner Axt: In einer Hütte im verschneiten Wald lebt ein Köhler mit Frau und Tochter Inge. Diese träumt von der Legende des Grafen Öderland, der eines Tages mit seiner Axt kommen und sie aus dem Joch des Vaters befreien werde. Plötzlich steht der Staatsanwalt vor der Tür und wird eingelassen. Er redet mit Inge, die ihn an Hilde erinnert, über seine Sehnsucht, nach Santorin zu segeln. Inge bittet ihn, sie mitzunehmen. Als der Staatsanwalt die Axt des Köhlers ergreift, erkennen alle in ihm die Legendengestalt des Grafen. Inge deklamiert die Moritat vom Grafen Öderland mit der Axt in der Hand. Wer sich ihnen in den Weg stelle, werde fallen. 4. Bild: Die erste Nachricht trifft ein: Doktor Hahn und Elsa haben Herrn Mario, einen Hellseher aus dem Kabarett, beauftragt, eine Spur des verschollenen Staatsanwalts zu suchen. Nachdem Elsas heimliches Liebesverhältnis mit Doktor Hahn offenbar wird, erscheint vor den Augen des Hellsehers ein Bild des Staatsanwalts mit einer Axt in der Hand. Daraufhin wird im Radio gemeldet, ein Unbekannter habe mit einer Axt drei Landjäger erschlagen. 5. Bild: Hoch lebe der Graf: Eine Gruppe Köhler im Wald betrinkt sich und feiert. Sie lassen den Staatsanwalt in der Gestalt des Grafen Öderland hochleben. Er habe ihnen den Weg zu einem besseren Leben gewiesen. Doch sie müssen erkennen, dass sie auf sein Geheiß bloß von ihren Vorräten gezehrt haben. Als diese aufgebraucht sind, und der Staatsanwalt sich von den Köhlern in Frage gestellt sieht, verlässt er sie und reitet mit Inge davon, nachdem er die Häuser der Köhler in Flammen hat aufgehen lassen. 6. Bild: Lebenslänglich: In seiner Zelle berichtet der Mörder von seinem Leben, das bestimmt war von Arbeit und Pflichterfüllung. Der Freitagabend sei der Lichtblick jeder Woche gewesen, der Sonntagnachmittag bereits überschattet vom montäglichen Arbeitsbeginn. Als tröstlich empfindet er, dass der Hauswart, der zu Lebzeiten allen gleichgültig war, durch seinen Tod so große Bedeutung erlangt hat. 7. Bild: Die Axt macht Schule: In einem Grand Hotel will ein Gendarm den angeblich dort logierenden Grafen Öderland vernehmen. Er berichtet, dass viele dessen Beispiel folgen, losziehen und sich Äxte beschaffen. In Verkleidung treten Elsa und Doktor Hahn auf. Sie vermuten den Staatsanwalt unter der Maske des Grafen Öderland und geben sich als Verkäufer einer Yacht aus, mit der der Staatsanwalt nach Santorin in See stechen will. Von der Yacht selber zeigen sie nur Bilder vor, die den Staatsanwalt an sein Spielzeugmodell erinnern, vor dessen Anblick er oft seinen Tagträumen nachhing. Nach der Vertragsunterzeichnung stellt sich die Yacht tatsächlich als jenes Spielzeug heraus, die Beteiligten lassen ihre Maske fallen, der Staatsanwalt sieht seine Vermutung bestätigt, dass seine Frau mit Doktor Hahn ein Verhältnis hat. Er zieht aus seiner Aktentasche die Axt, und alle flüchten. 8. Bild: Der Mörder hat Glück: Der Mörder wird in seiner Zelle von Repräsentanten der Gesellschaft vernommen: Innenminister, Direktor, General und Kommissar. Sie suchen in seiner Tat den Ausgangspunkt für die gesellschaftlichen Unruhen, die das Land ergriffen haben. Die Axt sei zum Zeichen des Aufruhrs geworden. Um den Grafen Öderland habe sich eine Bande geschart. Der Mörder weiß auf ihre Fragen nach den Hintergründen keine Antwort. Im Zuge einer Amnestie wird er freigelassen, was Schweiger später in eine allgemeine Amnesie umdeutet. 9. Bild: Der Graf soll sich ergeben: In der Kanalisation hält sich die Bande des Grafen verborgen. Ihnen ist das Ultimatum gestellt worden, ihren Anführer bis Mitternacht auszuliefern oder die Kanäle werden geflutet. Verschiedene Getreue stellen sich nun gegen den Staatsanwalt. Dieser rettet sich ohne Rücksicht auf seine Anhänger und lässt auch die kranke Inge in der Kanalisation zurück. 10. Bild: Die Herren der Lage: Die Staatsführung feiert in der Residenz eine Gala, auf der der Staatsanwalt mit seiner Aktentasche erscheint. Während die Staatsführung durch das Geschirr des Stehempfangs in ihren Händen gehandikapt ist, schlägt er ein Bündnis vor: Man solle ihm die Residenz übergeben und das Volk werde jubeln. Der Innenminister lehnt ab, er will kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Coco, die bereits an der Seite vieler Männer die Rolle der ersten Dame des Staats gespielt hat, tritt auf und beweist ihr Gespür für die künftige Macht, als sie sich an die Seite des Staatsanwalts gesellt. Sie führt den Staatsanwalt auf den Balkon, wo ihm vom Volk gehuldigt wird. 11. Bild: Der Mörder hat Pech: Der Mörder schläft mit der Witwe seines Opfers, während die Unruhen in der Stadt zunehmen. Als ein Fenster zu Bruch geht, wird der Gendarm auf sie aufmerksam. Er dringt in die Mansarde der Witwe ein und lässt sich nicht von der Amnestie des Mörders überzeugen. Bei dessen Fluchtversuch erschießt der Gendarm den Mörder mit seiner Maschinenpistole. 12. Bild: Ruhe und Ordnung werden wiederhergestellt, Schluss: Der Staatsanwalt befindet sich wieder in seinem Arbeitszimmer. Er redet mit Hilde und glaubt, alles bloß geträumt zu haben. Doch durch die Fenster lodern Feuer, immer wieder sind Schüsse zu hören. Schließlich tritt der Präsident auf und übergibt dem Staatsanwalt die Macht. Dieser verweigert sich, da er keine Botschaft habe. Der Präsident beharrt: Wer um frei zu sein, die Macht stürze, erhalte am Ende das Gegenteil von Freiheit, nämlich die Macht. Der Staatsanwalt ist verzweifelt und bildet sich ein, man habe ihn bloß geträumt. Vergeblich beschwört er sein Erwachen. === Frühere Fassungen === Die erste Fassung von 1951 richtet laut Frischs eigener Einschätzung ihren Fokus vor allem auf das Private, die Ausbruchssehnsucht des Staatsanwalts. Sie besteht aus lediglich zehn Bildern. Im Vergleich zur Endfassung war das fünfte Bild noch nicht enthalten, das sechste und achte Bild sind zusammengefasst. In der Kanalisation kommt es zur Auseinandersetzung zwischen dem Staatsanwalt und Inge, die in Inges Suizid endet. Mit Iris, der Tochter seines Kommandanten, tritt eine weitere Frau an die Seite des Staatsanwalts. Der Mörder hat keine Liebesbeziehung zur Witwe, sondern zum Dienstmädchen Hilde. Als der Staatsanwalt am Ende realisiert, dass sein Ausbruch zwar zu einem gesellschaftlichen Aufruhr geführt hat, sein Privatleben aber unverändert bleibt, er Coco nicht zu lieben vermag, Elsa und Doktor Hahn in seiner Villa auf ihn warten wie immer, springt er verzweifelt aus dem Fenster. Frisch kommentierte später: „Selbstmord aus Verlegenheit des Verfassers.“In der zweiten Fassung von 1956 rückte Frisch stärker einen aktuell-politischen Bezug in den Vordergrund. Sie besteht aus elf Bildern. Das Schwurgerichtsverfahren gegen den Mörder ist vorangestellt. Nachdem der Staatsanwalt an die Axt gelangt ist, werden seine Morde an drei Gendarmen dargestellt. Die Köhler grüßen ihn mit ihren Äxten, die weitere Szene bei den Köhlern fehlt. Die Konfrontation des Staatsanwalts mit Elsa und Doktor Hahn ist gestrichen. Der Staatsanwalt wird gegen seinen Willen zum Führer einer Partei ernannt, Inge von meuternden Revolutionären erschossen. Nachdem die Staatsführung einen Eid auf den Staatsanwalt geschworen hat, überträgt er Doktor Hahn das Amt des Ministerpräsidenten. Dann nimmt er sich die Freiheit zu gehen. Nach seiner Wahl, nicht länger weiterzumorden, klagt sich der Staatsanwalt seiner Verbrechen an und verurteilt sich zum Tode. Er geht mit den Worten ab: „Die Freiheit ist nur ein Schritt.“ Bevor es zu seiner Exekution kommt, fällt der Vorhang. == Form == Max Frisch hatte Graf Öderland ursprünglich als Moritat mit Liedstrophen zwischen den Szenen geplant, allerdings wurden die Gesangseinlagen noch vor der Uraufführung gestrichen. Der verbliebene Aufbau erinnert an ein Stationendrama. Auch die Thematik des gesellschaftlichen Aufbruchs ist aus dem Expressionismus bekannt, sie wird von Frisch allerdings auf zwei Protagonisten verteilt, indem die Tat des einen den Ausbruch des anderen inspiriert. Manfred Durzak nannte die Abfolge der Szenen einen „epischen Bilderbogen“, der sich auf zwei parallelen Handlungskurven abspielt, die sich kontrapunktisch aufeinander beziehen: die Ebene des Staatsanwalts und jene des Mörders. Die Handlung wird immer wieder auf ein allgemeines, parabolisches Niveau gehoben. Dennoch folgt Frisch nicht der Intention einer aufklärerischen Parabel oder eines demonstrativen Lehrstücks. In seinem Bemühen, die Richtung eines Einfalls bis zum Ende auszuloten, schließt er ohne eindeutige Interpretation mit einem offenen Ende, weswegen Michael Butler Graf Öderland als „Denk- beziehungsweise Bewußtseinsspiel“ bezeichnete.Die erste und letzte Szene des Stücks in der Villa des Staatsanwalts sind eindeutig in der Realität verortet. Sie bilden einen kontrastierenden Rahmen um die inneren Szenen, die ohne zeitlichen und räumlichen Bezug an eine Märchenwelt erinnern. Max Frisch beschrieb in einer Inszenierungsanweisung, dass „das Stück, je mehr es fortschreitet, sich in einen sogenannt phantastischen Raum begibt: der Zuschauer soll die Geschichte erst dann, wenn er sie als Ganzes kennt, mit unserer Wirklichkeit konfrontieren.“ Obwohl Graf Öderland keine Erzählerfigur im eigentlichen Sinne besitzt, übernehmen in der ersten und dritten Szene Hilde und Inge diese Funktion in Teilen. Nach den Anweisungen Frischs werden die Rollen der Hilde, Inge und Coco als ein einziger „Typ“ von derselben Darstellerin verkörpert. Eine Ausnahme bildete die Version von 1956, in der Frisch Coco der Darstellerin der Elsa zuordnete. == Interpretation == === Gesellschaftskritik und Bezug zur Schweiz === Für Sonja Rüegg markierte Graf Öderland einen Wendepunkt in Frischs Schaffen, indem dieser erstmals offen Position gegen die bürgerliche Gesellschaft bezog. In drei Figuren, dem Staatsanwalt, Inge und dem Mörder werde der Ausbruch aus einer hierarchisch gegliederten, kapitalistisch strukturierten Gesellschaftsordnung vorgeführt. Die Ursache für die Auflehnung liege bei Inge in ihrer Armut, beim Mörder in seiner entfremdeten Arbeit, beim Staatsanwalt in der durch gesellschaftliche Zwänge unmöglich gemachten Selbstverwirklichung. Die Identifikationsfigur des Staatsanwalts, von der sich der Zuschauer erst im Verlauf des Stücks durch die zunehmende Grausamkeit seiner Taten löse, führe dem Publikum das „Öderländische“ in jedermann vor Augen, das latent in jeder bürgerlichen Gesellschaft vorhanden sei und ausbrechen könne. Am Ende erwiesen sich die Ausbrüche als sinnlos, da nicht die Machthierarchie an sich in Frage gestellt werde. Zwar weise das offene Ende des Dramas keinen Weg in ein herrschaftsfreies Leben, negiere aber auch nicht die zuvor erhobenen Forderungen.Manfred Durzak sah in Graf Öderland einen Fortschritt gegenüber Frischs früheren Stücken, die thematisch in der Sehnsucht nach persönlicher Selbstverwirklichung und Liebeserfüllung verharrten. Allerdings werde die sozialpolitische Aussage des Stücks immer wieder „metaphorisch vernebelt“. So verwandle sich der romantische Ausbruch nicht nur in eine Revolution, sondern werde letztlich zur Farce, die ohne jede ideologische Botschaft unter dem bloßen reklamehaften Zeichen der Axt stehe. Frisch weiche einer utopischen Präzisierung aus und flüchte sich in Negation und legendenhafte Allgemeinheit, was Durzak auf fehlende politische Reflexion sowie die Scheu vor konkretem Engagement zurückführte. Indem das Stück am Ende die Macht in einem Kreislauf erneut etabliere, werde Frisch schließlich doch ungewollt ideologisch und postuliere die Aussichtslosigkeit jeder politischen Veränderung. Als Fazit sah Durzak Graf Öderland in seiner historischen Bedeutung deutlich hinter Vorbilder wie Ernst Tollers Masse Mensch zurückfallen. Indem die öderländische Ideologie bewusst unbestimmt und inhaltsarm gehalten sei und sich lediglich durch eine Ablehnung des Status quo auszeichne, lasse sie sich nach Rüegg auf verschiedene politische Systeme und Ideologien, vom Faschismus bis zum Kommunismus, übertragen. In der Reaktion des bürgerlichen Staats auf die öderländische Bedrohung, der Übernahme von totalitären Methoden zum vermeintlichen Schutz der Gesellschaft, seien Bezüge auf die Schweiz erkennbar, die von der geistigen Landesverteidigung während der Bedrohung durch den Nationalsozialismus bis zur Furcht vor kommunistischer Unterwanderung und dem Staatsschutzgesetz in den frühen 1950er Jahren reichten. So sei die Figur des Innenministers an den ehemaligen Bundesrat Eduard von Steiger angelehnt. Mit seiner Kritik an der Schweiz als Prototyp einer bürgerlichen Gesellschaft stellte sich Frisch gegen das zeitgenössische Leitbild der Schweiz und deren oftmals herausgestellte historische Sonderrolle. Die Reaktion sei eine beinahe einhellige Zurückweisung von Seiten der Schweizer Kritik gewesen. Zwar behielten Frischs spätere Werke die kritische Grundhaltung aus Graf Öderland bei, doch für Rüegg zeigte die missverständliche Aufnahme des Stücks ihre Wirkung. Frischs Gesellschaftskritik wurde in der Folge konkreter, die Auseinandersetzung mit dem Heimatland direkter. So spielte etwa der Erfolgsroman Stiller nicht länger in einem Modellstaat, sondern nannte die Schweiz beim Namen. === Traum, Verwandlung und Bewusstseinsdrama === Neben der Gesellschaftskritik stand im Zentrum der meisten Interpretationen die Figur des Staatsanwalts, dessen Dualismus von Ordnung und Freiheitsdrang, sowie die Vermischung der Ebenen Traum und Wirklichkeit. Aus einer psychoanalytischen Warte sah Barbara Rowińska-Januszewska in Graf Öderland das unbewusste Alter Ego des Staatsanwalts. Im Wald, der die Psyche des Protagonisten symbolisiere, gerate der Staatsanwalt von den vertrauten Wegen seines Bewusstseins in das Labyrinth der unbewussten Kräfte. Zum Auslöser werde das Köhlermädchen Inge, ihr Gespräch versetze den Staatsanwalt in hypnoseartige Trance. In der Identität des Grafen gewinne der lebenslang unterdrückte Trieb des Staatsanwalts die Oberhand: die Freiheitssehnsucht. Martin verliere sämtliche moralischen und gesellschaftlichen Hemmungen seiner Staatsanwaltsexistenz. Gleichzeitig erweise er sich in seiner neuen Identität als unfähig zu Gefühlen und Bindungen gegenüber anderen Menschen. Zum Symbol für den zerrütteten Zustand der Psyche des Staatsanwalts werde die kloakenhafte Unterwelt der Kanalisation, das genaue Gegenteil der erträumten Reinheit und Klarheit des Meeres um Santorin. Am Ende wiederhole sich die Spaltung seines Bewusstseins, Martin kehre zurück in die Identität des Staatsanwalts. Von den begangenen Verbrechen bleibe bloß eine vage Vorstellung und keinerlei Gefühl von Verantwortung. Der circulus vitiosus seiner Unfreiheit schließe sich.Für Marianne Biedermann markierten die veränderten Zeit- und Ortverweise des dritten Bildes den Übergang von der Realität in den Traum. Die chronologischen Zeitabläufe des ersten Bildes werden nun in subjektive, gedehnte oder endlose Zeit- und Erinnerungszustände überführt. Auch räumlich lösche der Schnee die realen Spuren des Staatsanwalts aus, und er trete in eine Traumwelt ein. Doch die Annahme der mythischen Identität des Grafen Öderland führe für den Staatsanwalt nicht zur Freiheit, sondern zu einer neuen Form von Unfreiheit, einer Rolle, in die andere ihre Hoffnungen projizieren. Zuerst sei es Inge, die sich von Öderland die Befreiung erhoffe, später die Köhler und die Bande der Aufständischen. Dabei käme Martin die erträumte Zeit- und Ortlosigkeit in seiner Rolle als Öderland immer mehr abhanden, die Bindungen durch konkrete zeitliche und räumliche Bezüge nehmen zu. Am Ende gelinge es Martin nicht, aus der Rolle des Öderland zu erwachen. Die Projektion aller Figuren habe die Figur des Grafen Realität werden lassen. Statt einer Verständigung untereinander haben sie gemeinsam einen Mythos geschaffen, dessen Gewalt sich nun gegen sie wende.Manfred Jurgensen sah den Staatsanwalt als bloß passiv Erlebenden. Die Verwandlung in die Figur des Grafen Öderland geschehe ihm wie jene Gregor Samsas in Kafkas Verwandlung. Herbeigeführt werde die Metamorphose in den Grafen Öderland durch die Doppelfigur Hilde-Inge, die beide vom Staatsanwalt als Feen bezeichnet werden. Für Walter Schmitz wurde diese doppelte Fee zur Anima, die den Helden in einen archetypischen Zauberwald locke, in dem er sich bewähren müsse. Nachdem sich im ersten Bild durch den absurden Mord ein Riss in der bürgerlichen Welt des Staatsanwalts gebildet habe, werde das Stück im Weiteren zu einem Bewusstseinsdrama, in dem die vermeintlich räumliche Flucht in Wahrheit ins Bewusstsein des Staatsanwalts führe. Im siebten Bild, nach Schmitz dem Höhe- und Wendepunkt des Dramas, treffen die seelische und reale Welt aufeinander. Nachdem er sich in seiner Ausbruchssehnsucht desillusioniert sehe, bleibe dem Staatsanwalt nur der gesellschaftliche Kampf, um seine inneren Ansprüche durchzusetzen. Doch der Pathos des Staatsanwalts werde durch die ausgelegten Chiffren beständig verhöhnt: Die Yacht namens Esperanza (span.: Hoffnung) erweise sich als Nippes, der längst erloschene Vulkan auf Santorin konterkariere den ersehnten Ausbruch. Auch als Graf Öderland gelinge dem Staatsanwalt nicht die Flucht aus dem öden Land, um ihn entstehe bloß eine „wüste Geschichte“, die Moritat eines Bänkelsangers. Die Suche nach dem Lebenssinn degeneriere zu einer neuen Lebensordnung, in der die Axt nicht länger ein Symbol sei, sondern wie ein Aktenstück nach Bedarf aus der Aktentasche gekramt oder in ihr verstaut werde. Am Ende ergreife nicht Öderland die Macht, sondern die Macht ergreife ihn. Im abschließenden Ausruf „Man hat mich geträumt!“ werde aus der ersehnten Verwirklichung individueller Wunschträume der Traum eines „man“, eines Kollektivs, das ein entfremdetes Leben lebe, aus dem es dem Staatsanwalt nicht gelinge, zu erwachen. === Montage und Einflüsse === Für Walter Schmitz konstruierte Frisch Mythos des Grafen Öderland mittels einer Montage im Stile des Brechtschen epischen Theaters. Seinem Unbehagen an der Kultur versuche der Staatsanwalt durch eine aus der Kultur des Bildungsbürgertums zusammengeflickte Rolle zu begegnen und werde gerade durch diesen Widerspruch zu einer tragikomischen Gestalt. Das titelgebende Öderland verweise auf das Gedicht The Waste Land von T. S. Eliot, ohne jedoch mehr als eine bloße Reminiszenz des Themas der Langweile zu sein, das bis zu Büchners Leonce und Lena zurückreiche. Eine enge inhaltliche Verwandtschaft bestehe zum expressionistischen Ausbruchs- und Verkündigungsdrama. So erinnerten Frischs Protagonisten an den Kassierer aus Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts. Versatzstücke wie die Bande des Grafen verwiesen auf Schillers Räuber, die Kanalisationsszene entstamme dem Film Der dritte Mann. In der theoretischen Unterlegung der Kulturkritik des Staatsanwalts berufe sich Frisch auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur und die Schriften C. G. Jungs. Das Bild vom Öderland in jedem Menschen greife ein Schlagwort Max Picards vom „Hitler in uns“ auf.Auch Parallelen zu Bertolt Brecht, der von Frisch zur Inszenierung konsultiert worden war, wurden oft gezogen. So erkannte Marianne Biedermann in Inges Moritat vom Grafen Öderland das Lied der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper wieder, wo ebenfalls ein Schiff komme und nach gewalttätiger Machtdemonstration eine junge Frau aus schäbigem Dasein rette. Hellmuth Karasek betonte die Nähe von Graf Öderland zu Brechts Machtergreifungsparabel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Beide Stücke vereinfachen die politischen Vorgänge, Brecht suche die Ursache zum Verbrechen politisch in der Ökonomie, Frisch romantisch im geordneten Alltag und der seelischen Verkümmerung, was Karasek überspitzt als „eine speziell schweizerische Variante zum Thema Politik und Verbrechen“ bezeichnete. === Das Allgemeine und das Private === Eine im Zusammenhang mit Graf Öderland immer wieder zitierte Kritik ist jene Friedrich Dürrenmatts, die er erst brieflich an seinen Kollegen richtete und in einer Rezension 1951 in der Weltwoche wiederholte. Exemplarisch für einen Grundkonflikt des Stücks stellte Dürrenmatt die Prinzipien des Allgemeinen und des Privaten einander gegenüber. Graf Öderland, so wie Frisch ihn in seiner Prosaskizze erfunden habe, sei nicht mehr als ein Name, ein Mythos, ein Prinzip, eine bloße Mechanik: „Oederland ist ein Beil und nichts weiter. Ein Beil denkt nicht, empfindet keinen Ekel, es mordet.“ Seine Taten folgen weder dem Gewissen noch einer Idee, sie seien reine Verzweiflung, die über der Frage ihres Sinns stehe: „Ein Sturz ins Nichts ist ein Ereignis, das jenseits von Sinn oder Nichtsinn steht.“ Dieses Prinzip sei aber nicht auf die Bühne zu bringen. Indem Frisch Graf Öderland auf die Bühne stelle, gebe er ihm das Gesicht eines Schauspielers, er verleihe ihm das Schicksal eines Staatsanwalts, schwäche damit die Figur und verfälsche sie: „es war nicht mehr Graf Öderland, der scheiterte. Es war der merkwürdige Fall eines gewissen Staatsanwalts, der verunglückte“. Das Besondere trete an Stelle des Allgemeinen, ein originelles Motiv an die Stelle einer mythischen Figur: „das Theaterstück bleibt im Privaten stecken, es gehört Frisch allein.“ Dürrenmatt zog das Fazit: „Das kühne Unternehmen ist gescheitert.“In einem Brief an Dürrenmatt widersprach Frisch dessen Auffassung des Stoffs: Er habe nicht die mythische Figur des Grafen Öderland auf die Bühne gestellt, sondern einen Jedermann, in dem sie sich spiegele: „ein Privatmann, Herr Martin, kommt dahin, sich zeitweilig für Graf Öderland zu halten […] was wir mit Augen gesehen haben, ist nicht Graf Öderland, die mythische Gestalt, sondern das Öderländische in einem gewöhnlichen Menschen namens Martin, Staatsanwalt.“ Eine Entgegnung zu Dürrenmatts „Todesurteil“ für das Stück verfasste Jean Rudolf von Salis, der in Graf Öderland ein gelungenes dramatisches Kunstwerk sah, während Dürrenmatt, „von seinem a priori herkommend“, „dem weltanschaulichen Werturteil den Vorrang vor dem künstlerischen“ gegeben habe. Zwar sah von Salis im Aufstieg des Grafen Öderland, „etwas äußerst Fragwürdiges an sich.“ Doch setze Frisch nur den Stoff seiner Zeit um, sei sein Öderland „die Verkörperung der in jeder hochentwickelten Zivilisation latent vorhandenen Anarchie.“ Eingebunden in die gesellschaftliche Ordnung, habe der Staatsanwalt „vor lauter Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit aufgehört […], ein Mensch zu sein“, bis er am Ende „Unmensch wird, um Mensch sein zu können.“ Frisch bringe „die Unerbittlichkeit des echten Tragikers auf, wenn er in der Peripetie am Schluß die Unlösbarkeit des Konfliktes demonstriert.“Spätere Untersuchungen bezogen oft Stellung zur Kontroverse der beiden Schweizer Dramatiker. Für Alexander Stephan wurde durch Frischs Antwort die Analyse Dürrenmatts eher bestätigt statt widerlegt. Walter Schmitz hingegen nahm in Dürrenmatts Kritik dessen Enttäuschung wahr, dass Frisch sein eigenes und nicht Dürrenmatts Stück geschrieben habe. Auch Michael Butler erinnerte die Auseinandersetzung mit dem Grafen Öderland an Dürrenmatts spätere Konzeption einer eigenen dämonischen Figur, der Irrenärztin in Die Physiker. Hellmuth Karasek betonte das Dilemma, dass die Bühne den Figuren oftmals ureigene Motive und Beweggründe liefere, die der ursprünglichen Absicht des Autors zuwiderliefen. In Graf Öderland machte er dies an der Rolle des Mörders fest, dessen Zufallstat durch die Liebschaft zur Witwe ein nachträgliches Motiv erhalte. Als zentrales Problem des Stücks sah Urs Bircher, dass sich eine asoziale und apolitische private Glückssuche in das Negativ-Modell einer politischen Revolution verwandle, wodurch die privaten wie gesellschaftlichen Motive gleichermaßen in Frage gestellt würden. Manfred Jurgensen lobte hingegen, „daß Frisch das Problem individueller Identität und gemeinschaftlicher Stellung simultan zu behandeln weiß.“ == Entstehungsgeschichte == === Erste Tagebuchskizzen === Als Ausgangspunkt des Öderland-Stoffes lassen sich in Frischs Tagebuch von 1946 zwei Einträge ausmachen, die jeweils auf Zeitungsberichten basieren. Der erste handelt von einem ehemaligen Professor Frischs aus Zürich, „ein nüchterner und beherrschter Mann“, der eines Tages verschollen war. Nach vergeblicher Suche wurde ein Hellseher aus einem Kabarett befragt, der behauptete den Professor sehen zu können, er liege nicht tief im Wasser zwischen Schilf. Daraufhin fand man den Mann im Greifensee, wo er sich erschossen hatte.Der zweite Eintrag handelt von einem Kassier, beschrieben als „braver und getreuer“ Mann, der eines Nachts aufwachte und seine ganze Familie mit einer Axt erschlug. Einen Grund könne er nicht angeben. Frisch schloss Überlegungen an, dass man hoffe, es ginge um eine Unterschlagung, „als Versicherung, daß eine solche Verwirrung, die das Unversicherte menschlichen Wesens offenbart, unsereinen niemals heimsuchen kann“. Es folgte eine Prosaskizze Am See, in der Frisch eine morgendliche Unterbrechung seines Arbeitswegs durch einen Abstecher zum nahe gelegenen See beschreibt. Die Stunden gewonnener Freiheit hinterlassen ein schlechtes Gewissen beim Gedanken an die Hunderttausende hinter ihren Arbeitspulten. Er wundert sich, „warum wir nicht einfach aufbrechen“. Man müsse den Menschen die Hoffnung auf den Feierabend, das Wochenende, das nächste Mal, das Jenseits nehmen: „groß wäre das Entsetzen, groß und wirklich die Verwandlung.“Daraufhin entstand eine knapp 40-seitige Prosaskizze Der Graf von Öderland, die bereits wesentliche Motive und Szenen des Theaterstücks vorwegnimmt. Sie enthält die Bilder 2 bis 8 der späteren Endfassung, blieb allerdings Fragment. In einem Werkbericht gestand Frisch: „ich wußte nicht weiter.“ Die Prosaskizze wurde erstmals 1947 als Teil des Tagebuchs mit Marion veröffentlicht. 1950 publizierte Frisch sie erneut im erweiterten Tagebuch 1946–1949, das die Basis eines Großteils seines frühen Werkes bildete. 1983 folgte eine weitere Veröffentlichung unter dem Titel Der Graf von Öderland. 1. Fassung. Skizze. als bibliophile Jahresgabe der Literarischen Vereinigung Braunschweig für deren Mitglieder. === Uraufführung === Im Januar 1950, als Max Frisch sein neues Stück auf einem Leseabend des Suhrkamp Verlags präsentierte, hatte er die ersten vier Bilder von Graf Öderland fertiggestellt. Im Oktober lagen die ersten Druckfahnen vor. Schwierigkeiten in den Proben bereitete die Moritat, die zwischen den Bildern vorgetragen werden sollte. Nachdem auch der um Rat gefragte Brecht keine überzeugende Lösung vorlegen konnte, strich Frisch die Moritat nach der Hauptprobe. Sie habe „das Stück völlig zerschnitten“. Zwischen den Bildern wurden nun Lichtreklamen gezeigt, untermalt von Jazzmusik. Die Uraufführung fand am 10. Februar 1951 im Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Leonard Steckel statt. Das Bühnenbild stammte von Teo Otto, die Hauptrolle übernahm Gustav Knuth. Die Buchausgabe Graf Öderland. Ein Spiel in 10 Bildern erschien im Februar 1951 im Suhrkamp Verlag.Bereits am 7. März fand die letzte Aufführung von Graf Öderland im Zürcher Schauspielhaus statt. Das Stück wurde nach schlechten Kritiken und geringem Publikumszuspruch aus dem Programm genommen. Frisch reagierte mit einem Brief an die Direktion und fügte ein Kleines Memorandum zu „Graf Öderland“ bei. In diesem beklagte er sich über den zu knappen Probezeitraum, eine schwache Besetzung und die geringe Loyalität, die das Schauspielhaus ihm gegenüber bewiesen habe. Den Misserfolg des Stücks führte Frisch auf eine Voreingenommenheit der geladenen Premierengäste und die Dominanz, die eine geringe Anzahl von Kritikern über die Zürcher Presse ausübe, zurück. Er äußerte den Verdacht, „daß es in Zürich gewisse Kreise gibt, die einen Erfolg eines neuen Frisch-Stücks von vornherein nicht dulden konnten“. In der Folge war Frisch in seiner Zusammenarbeit mit dem Zürcher Schauspielhaus reservierter. Sein nächstes Stück Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie ließ er zeitgleich in Berlin uraufführen, da ihm eine exklusive Premiere in Zürich zu riskant erschien. === Neufassungen === Der Anstoß für die Neufassung von Graf Öderland kam von außen. 1955 interessierte sich Harry Buckwitz, der Intendant der Städtischen Bühnen Frankfurt für das Stück. Mitte November kam es zu einer ersten Arbeitsbesprechung zwischen Frisch und dem Regisseur Fritz Kortner; zum Jahresende war die neue Fassung fertiggestellt. Die Uraufführung fand am 4. Februar 1956 statt. Das Bühnenbild besorgte erneut Teo Otto, den Staatsanwalt gab Bernhard Minetti. Frisch sprach im Programmheft zur Erstaufführung von „einer lebendigen, einer echten und freien Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Autor“, die für ihn „ein begeisterndes Erlebnis“ gewesen sei. Fünf Jahre später berichtete er, er habe von Probe zu Probe den Stoff immer wilder verändert: „Ein spannendes Experiment!“ Doch er schränkte ein: „Ich rückte das ganze Stück in den aktuellen Vordergrund, wo es im Grunde seines Wesens unverständlich werden mußte. […] Am Schluß verbeugten wir uns vor einem Publikum, das eine Hitler-Karikatur glaubte gesehen zu haben.“ Frisch zog die Konsequenzen aus den Missverständnissen und sperrte die Aufführungsrechte für diese Fassung; mit Ausnahme des zehnten Bildes wurde sie nie gedruckt.1960 stieß Frisch bei der Durchsicht seines Tagebuchs erneut auf die ursprüngliche Prosaskizze des Öderland-Stoffs, die ihn beim Lesen „schlichterdings überzeugte“. Abermals überarbeitete er das Theaterstück und berichtete schließlich an Siegfried Unseld, er habe das Stück „vom Direkt-Politischen der zweiten Fassung, wie auch vom Privaten der ersten Fassung, die ich beide als begraben betrachte, weg genommen […] in Richtung auf den Spuk, was es in der ersten Skizze war“. Er hatte „das Gefühl, daß es jetzt ein spielbares Stück ist.“ Der Schauspieler Ernst Schröder interessierte sich für die Rolle des Staatsanwalts. Die Neufassung wurde von Hans Lietzau am 25. September 1961 im Rahmen der Berliner Festwochen im Schillertheater uraufgeführt, das Bühnenbild stammte von Hansheinrich Palitzsch. Gedruckt erschien die neue Version erstmals in Spectaculum 4/1961. 1963 brachte der Suhrkamp Verlag eine Einzelausgabe heraus. 1975 nahm Frisch diese Bearbeitung als Endfassung in die Ausgabe seines Gesamtwerks auf. Seine besondere Beziehung zum Öderland-Stoff verglich Frisch im Programmheft zur zweiten Fassung mit den Gefühlen eines Vaters, „Kinder besonders liebzuhaben, die der Umwelt als Fehlgeburten erscheinen“. Noch 1974 bekannte er in einem Interview mit Heinz Ludwig Arnold, welches seiner Theaterstücke ihm „das liebste ist – kein gelungenes Stück, aber das geheimnisvollste: Der ‚Graf Öderland‘.“ Nach drei Fassungen beginne er „keine vierte mehr, aber das ist für mich das lebendigste Stück.“ Frisch sei zu nah am Stück gewesen, zu engagiert und befangen in seiner eigenen Erfindung und der Undurchsichtigkeit des Stoffes, dass er „handwerklich nicht so souverän arbeiten konnte“ wie bei seinen späteren Parabeln. Rückblickend erfreute ihn mit der Figur des Grafen Öderland die „echte Erfindung einer Figur, die es vorher nicht gegeben hat“, und die vom Publikum immer wieder als nordische Sagengestalt aufgefasst wurde: „das ist schön: daß eine Figur diese Glaubwürdigkeit im Fabelbereich annimmt.“ == Rezeption == === Kritik zur Uraufführung === Die Kritiken zur Uraufführung waren fast durchgängig negativ, insbesondere jene aus der Schweiz. Sonja Rüegg sah die Ursache in der Zeitsituation im Jahr 1951, in dem sich viele Schweizer durch den Koreakrieg existenziell bedroht fühlten und eine klare politische Orientierung zwischen den Großmächten suchten. In dieser Situation reagierten viele Rezensenten auf die vom Stück beabsichtigte Verunsicherung des eigenen Leitbilds und eine Infragestellung von Freund-Feind-Kategorien mit Verstörung, Wut und Ablehnung sowie der Bekräftigung der eigenen Weltanschauung. Dabei habe die Uneindeutigkeit des Stückes gemeinsam mit seiner negativen Tendenz oft zu Fehlinterpretationen geführt. Vielfach sei die Figur des Staatsanwalts mit dem Autor gleichgesetzt worden und daraus, in Verbindung mit bereits zuvor vorhandenen Vorbehalten gegen die politische Gesinnung Frischs, eine vermeintliche Sympathie des Autors für den Kommunismus konstruiert worden.Alfred Traber urteilte im Volksrecht das Stück als „oberflächlich und unwahrhaftig“ ab und führte aus: „Gegen jede Ordnung in der Gesellschaft aber zu rebellieren, das Recht der schrankenlosen Persönlichkeit zu proklamieren, wie Graf Öderland es tut, ist Wahnwitz.“ Vergeblich suchte W. Bösch im Tages-Anzeiger nach der Autorintention, damit sich im Zuschauer ein „klares Für und Wider herausbilden“ könne. Das Vaterland vermisste den Fingerzeig, „dass auch in der Pflichterfüllung eine tiefe Befriedigung verborgen sein kann“. Elisabeth Brock-Sulzer stellte in der Tat Frisch gegen Brecht. Während letzterer mit seiner Dramatik für eine Klasse kämpfe, kämpfe Frisch „höchstens gegen eine Klasse, gegen diejenige nämlich, der er immer angehören wird“, das Bürgertum, dem anzugehören „weder eine Schande noch ein Verdammungsurteil“ sei.Das St. Galler Tagblatt formulierte seine moralischen Einwände gegen das Stück: „Strikte abzulehnen ist die Weltanschauung, die uns Frisch in diesem Stück vorsetzt. Als Moral von der Geschicht verkündet er, die Axt sei kein Ausweg. Aber nur physisch [sic] Kranke können unter der Zwangsneurose leben, daß überhaupt ein Ausweg gesucht werden muß. Für Normale ist das Dasein nicht das von Frisch gezeichnete Schmachten in Fesseln, die uns Treuepflichten und Verantwortung auferlegen.“ Der Vorwurf des Nihilismus wurde aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen erhoben. So sah der kommunistische Vorwärts im Stück ein „nicht gerade bedeutendes Manifest des Nihilismus“. Die katholischen Neuen Zürcher Nachrichten warnten: „Nihilismus ist die schleichende Krankheit unserer Zeit“. Die Schweizer Familienzeitschrift Sie und Er entrüstete sich: „Bedenkenlos öffnet Öderland alle Türen dem Wind der existentialistischen Weltanschauung“. Erich Brock zog im Mittag das Fazit: „Übrig bleibt allein ein unendlich kraftloses Geschwätz, Deklamation platter Leitartikel […] eine plumpe Nietzsche-Stirner-Moral“.Vereinzelt gab es auch positive Stimmen. So schrieb Hans Bayer in der Frankfurter Abendpost: „Das Stück ist packend, fesselnd, deprimierend. Kühn konzipiert. Das Publikum war zum größten Teil schockiert. Der Dichter bleich.“ In der Schweiz war Albert J. Welti einer der wenigen positiven Kritiker. Er hob in der Neuen Zürcher Zeitung die „Symbolkraft der einzelnen Bilder und die Geschliffenheit der Dialoge“ hervor und lobte die „vorbildliche Aufführung“ als „geistreiche Konstruktion“. Bereits im Folgemonat bezog auch in der NZZ Werner Weber zur Buchausgabe kritisch Stellung und klagte: „Das hat mit humanem Dasein nichts zu tun; es ist der direkte Einbruch der Triebe. […] Wohin ist Frisch denn mit Gemüt und Geist ausgewandert, daß er uns die gemeinschaftsbildende Sitte als tödlich vorspielen läßt, wo er selber doch das Humanum an sich erlebt – etwa darin, daß er nicht nur die Pflicht hat, sondern auch einige Rechte, zum Beispiel dies: einen Öderland zu denken und zu verantworten.“ Im Anschluss an eine Diskussionsrunde mit Beteiligung Max Frischs bewertete Hans Ott die kritische Aufnahme des Stücks: „[Die] Konfrontation mit unserer Zeit, die Spiegelung mit unserer Umgebung, mit dem heutigen Geschehen, ist es, die das grosse Unbehagen bei einem Teil der ‚Zeitmenschen‘ von heute auslöst.“ Für Frisch blieb das Stück sein „erster Mißerfolg auf der Bühne“. === Aufnahme späterer Fassungen === Auch die Neufassung von 1956 wurde zum Teil gegen die Autorintentionen Frischs verstanden und als Parabel auf die Machtergreifung Hitlers aufgefasst. So titelte Karl Korn seine Rezension „Öderland ergreift die Macht“ und führte weiter aus: „Vor dreissig Jahren wäre das Stück geniale Prophetie gewesen, vor zwanzig hätte es den Autor, sollte er sich mit dem Manuskript über die deutsche Grenze gewagt haben, den Kopf gekostet – heute ist es ein Abgesang auf die Erfahrungen mit dem Faschismus.“ Joachim Kaiser sah in der Überarbeitung von Frisch und Kortner „zu Ende geführt, was unerlöst im Stoff schlummerte. Sie haben aber auch den balladesken Nebel fortgewischt, der die Brüche und Widersprüche gnädig bedeckte.“ Das Ergebnis sei „eine interessante Unmöglichkeit, eine dramaturgische Fehlgeburt, ein Produkt poetischer Schwäche und stilistischer Unentschiedenheit. Das alles auf einem hohen Niveau“. In Frischs bereits zehn Jahre währenden Bemühungen um seinen Stoff lasse sich „der hoffnungslose Kampf machtlosen Kunstverstandes um ästhetische Bewältigung des Unmöglichen“ beobachten.Umstritten blieb auch die Endfassung von 1961. Gody Suter verglich: „Zwischen dem Ur-Öderland und der Neufassung besteht ein Unterschied wie zwischen Dämmerung und Tag, zwischen Verheißung und Erfüllung, zwischen Begabtheit und Meisterschaft […]. Verschwunden ist die langatmige Reflexion, die Selbst-Interpretation an Ort und Stelle, geblieben ist die klare, suggestive Legendengestalt […]. Verschwunden ist der Drang, das Symbolische und Tiefsinnige zu unterstreichen; geblieben sind die Symbole und der tiefe Sinn. […] Max Frisch verläßt sich auf seine Gestalten, kann sich auf sich selbst verlassen.“ Friedrich Luft wandte ein, in der zehnten Szene stelle Frisch „dem tragischen Helden Popanzen entgegen, Kabarettfiguren der Macht. Damit schädigt er seinen Helden, damit vermindert er den letzten Spaß an der tragischen Groteske.“ Johannes Jacobi blieb dagegen beim Urteil, Graf Öderland sei „auch in der dritten Stückfassung nicht zu helfen. […] Max Frisch konnte keinen überzeugenden Schluß finden, vermochte seine Ballade nicht zum Drama zu runden. […] Jetzt besitzt mindestens die Hälfte seines ‚Öderland‘-Szenariums Fleisch und Blut. Die Menschen leben auf der Bühne, einige können als exemplarische Typen gelten. Nur der Sinn, der einen dramatischen Schluß erzeugen müßte, er blieb dem Autor auch in der dritten ‚Öderland‘-Fassung noch verborgen.“Nach Einschätzungen Max Frischs wurde Graf Öderland nach der 68er-Bewegung, so in einer Pariser Aufführung von 1972, besser verstanden: „Diese Ereignisse haben sehr viel mit dem Stück zu tun, es war eine Revolte, nicht eine Revolution, es ist eine Eruption gewesen, sie hat ungeheuer viel Ähnlichkeit mit dem Stück.“ Urs Bircher stellte 1997 fest: „Einen überzeugenden Erfolg hat das Stück auf dem Theater allerdings (noch) nicht erfahren.“ Dennoch wurde Graf Öderland vereinzelt immer wieder neu auf die Bühne gebracht und in einer veränderten Aktualität wahrgenommen, auch in Studenten- und Schultheateraufführungen. Achim Lenz inszenierte im Jahre 2010 das Stück in einer Koproduktion des Ringlokschuppens Mülheim mit dem Theater Chur und machte Anklänge an moderne Filme wie Falling Down und Natural Born Killers aus. Max E. Keller vertonte in den Jahren 2004 bis 2006 im Auftrag der Komischen Oper Berlin ein Libretto von Anke Rauthmann und Yohanan Kaldi zu einer Kammeroper unter dem Titel Die Axt, die allerdings nicht aufgeführt wurde. Im November 2015 bearbeitete Volker Lösch Frischs Drama mit aktuellem Bezug auf die Pegida-Proteste als Graf Öderland / Wir sind das Volk für das Staatsschauspiel Dresden. === Bewertungen und Stellung im Werk === In späteren Untersuchungen über das Drama blieben die Bewertungen uneinheitlich. Tankred Dorst benannte in seiner Rede zur Verleihung des Max Frisch-Preises 1998 Graf Öderland als das Stück, das ihn am meisten beeindruckt habe, nicht weil es Frisch bestes sei, sondern weil es „‚mißglückt‘ ist, also noch immer unfertig, ein Versuch, ein Fragment.“ Ähnlich äußerte sich Michael Butler, für den Graf Öderland im Gedächtnis haften blieb, „während die technisch überlegenen Texte Biedermann und Andorra sich längst in Lesestoffe für die Oberstufe gewandelt haben“, was Frisch zur „Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ verurteile – eine Redewendung, die Frisch selbst für Brecht geprägt hatte. Für Alexander Stephan war Graf Öderland „nicht mehr nur ein blasser Beitrag zur Soziologie des Bürgertums oder ein mißratenes Politspektakel über irgendeinen tatsächlichen oder vorgestellten Volksverführer, sondern auch und vor allem ein wohlverpackter Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens von Literatur.“Trotz seines Misserfolgs wurde Graf Öderland vielfach als wichtige Stufe oder Wendepunkt in Frischs Werk beurteilt. So sah Jürgen H. Petersen in diesem Stück „den Übergang von einer Dramaturgie der Überschreitung raum-zeitlicher Grenzen zu einer Dramaturgie des Parabolischen“. Für Hellmuth Karasek hatte Frisch „eine szenische Meisterschaft, Knappheit und parabolische Sinnfälligkeit erreicht, die von nun an für seine Dramen kennzeichnend bleibt. Graf Öderland ist Frischs erster wirklich entscheidender Schritt zum Dramatiker des modernen Welttheaters.“ Während Sonja Rüegg mit dem Stück Frischs „Engagement als Staatsbürger“ und vor allem die kritische Auseinandersetzung mit der Schweiz ihren Anfang nehmen sah, die sich in den folgenden Prosawerken und Essays niederschlug, wertete Gerhard P. Knapp mit dem Blick auf das Bühnenwerk Graf Öderland als „Angelpunkt“ für eine genau entgegengesetzte Entwicklung: Das Scheitern des Stücks bedeute für Frisch das Ende der Verbindung privater und gesellschaftlicher Motive auf der Bühne. Bereits mit dem Folgestück Don Juan oder die Liebe zur Geometrie beschränke er sich auf eine private Ebene. Die große Wut des Philipp Hotz führe die Öderland-Thematik zurück auf einen verharmlosenden Schwank, in Biografie: Ein Spiel werde der Ausbruchsversuch aus der eigenen Biografie ausschließlich privat motiviert, ende aber ebenso wie der gesellschaftlich motivierte Ausbruch in Graf Öderland in der Fatalität. Für Marianne Biedermann gehörte Graf Öderland dagegen in den Kontext der Parabelstücke Biedermann und die Brandstifter und Andorra, die „die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum und die Fixierung auf Leitbilder und Konventionen“ darstellen, ohne in ihrer beobachtenden Kritik Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. === Verfilmung === 1968 verfilmte Rolf Hädrich Graf Öderland für den Hessischen Rundfunk. In der Hauptrolle trat Bernhard Wicki auf. Weitere Rollen übernahmen Ernst Jacobi als Mörder und der Regisseur der Uraufführung Leonard Steckel als Hellseher. Der Spiegel kündigte an, in der Verfilmung schlafwandle der Graf „melancholisch und schizophren durch Untergrund und elegante Welt und weiß nicht recht, ob er träumt oder wacht. Und der Zuschauer weiß das auch nicht.“ Für Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau versuchte Hädrich, das Drama „politisch zu konkretisieren“. Seine Inszenierung zeichne sich „unvorteilhaft dadurch aus, daß sie sich nicht zwischen Fernsehspiel und Film entscheiden konnte.“ Vor allem die Sprache des Stücks stehe „einer freien Inszenierung im Wege, wurde schwergewichtig, plakativ.“ Auch mit dieser weiteren Bearbeitung von Frischs Drama sei es „das abstruseste seiner dramatischen Produktion geblieben“. == Literatur == === Textausgaben === Max Frisch: Graf Öderland. Ein Spiel in 10 Bildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1951. Max Frisch: Graf Öderland. Eine Moritat in 12 Bildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1963, ISBN 3-518-10032-7. === Sekundärliteratur === Marianne Biedermann: Graf Öderland in Beziehung zu seiner Umwelt. Eine Untersuchung. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Max Frisch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-38559-3, S. 129–159. Michael Butler: Das Paradoxon des Parabelstücks: Zu Max Frischs „Als der Krieg zu Ende war“ und „Graf Öderland“. In: Gerhard P. Knapp (Hrsg.): Max Frisch. Aspekte des Bühnenwerks. Peter Lang, Bern 1979, ISBN 3-261-03071-2, S. 177–194. Friedrich Dürrenmatt: Eine Vision und ihr dramatisches Schicksal. Zu „Graf Öderland“ von Max Frisch. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Max Frisch, S. 126–128. Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Reclam, Stuttgart 1972, ISBN 3-15-010201-4, S. 185–196. Manfred Jurgensen: Max Frisch. Die Dramen. Francke, Bern 1976, ISBN 3-7720-1160-8, S. 31–37. Hellmuth Karasek: Max Frisch. Friedrichs Dramatiker des Welttheaters Band 17. Friedrich Verlag, Velber 1974, S. 46–57. Gerhard P. Knapp: Angelpunkt „Öderland“: Über die Bedeutung eines dramaturgischen Fehlschlags für das Bühnenwerk Frischs. In: Gerhard P. Knapp (Hrsg.): Max Frisch. Aspekte des Bühnenwerks, S. 223–254. Barbara Rowińska-Januszewska: Zur Freiheitsproblematik im Werk Max Frischs. Peter Lang, Bern 2000, ISBN 3-906765-25-3, S. 135–147. Sonja Rüegg: Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit. Das Schweiz-Bild in Max Frischs Werken „Graf Öderland“, „Stiller“ und „achtung: die Schweiz“ und ihre zeitgenössische Kritik (Dissertation). Chronos, Zürich 1998, ISBN 978-3-905312-72-0, S. 153–196, 359–363. Walter Schmitz: Max Frisch: Das Werk (1931–1961). Studien zu Tradition und Traditionsverarbeitung. Peter Lang, Bern 1985, ISBN 3-261-05049-7, S. 215–228. Alexander Stephan: Max Frisch. C. H. Beck, München 1983, ISBN 3-406-09587-9, S. 49–54. == Weblinks == Walter Obschlager: „Wiederholung – das ist der Fluch, das ist die Grenze!“ (Memento vom 15. Oktober 2012 im Webarchiv archive.today) In: Tages-Anzeiger, 25. Juli 2005. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Graf_%C3%96derland
Hamburger Orgellandschaft
= Hamburger Orgellandschaft = Die Hamburger Orgellandschaft beschreibt den Orgelbestand der Freien und Hansestadt Hamburg in seiner historischen Entwicklung. Der Begriff Orgellandschaft allein nimmt Bezug auf historisch bedingte nationale oder regionale Eigenheiten der Orgeln. Die Hamburger Orgellandschaft grenzt im Süden an die Orgellandschaft Lüneburg, im Westen an die Orgellandschaft zwischen Elbe und Weser und nördlich der Elbe an die Orgellandschaft Schleswig-Holstein. Zwar erlangte Hamburg im norddeutschen Raum aufgrund günstiger Rahmenbedingungen eine führende Stellung im Orgelbau, war aber vielfältig in die umgebenden Kulturgebiete eingebunden und nahm keine Sonderrolle ein. Unter Einfluss der Orgelbauerfamilie Scherer, von Gottfried Fritzsche und Arp Schnitger, die in der Hansestadt wirkten, erreichte der Orgeltyp der norddeutschen Barockorgel einen Höhepunkt und hat den Orgelbau weltweit geprägt. Da die meisten historischen Orgeln im Laufe der Zeit durch Neubauten ersetzt oder durch Kriege und Katastrophen zerstört wurden, bestimmen heute zahlreiche Neubauten das Bild der Hamburger Orgellandschaft. Nähere Details zu den erhaltenen Werken finden sich in der Liste der Orgeln in Hamburg. == Von den Anfängen bis 1540 == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Orgeln in Hamburg werden zum ersten Mal im 14. Jahrhundert erwähnt. Für die Hauptkirche Sankt Jacobi ist im Jahr 1301 „Meister Rudolf“ als Organist nachgewiesen. Eine Orgel ist 1358 im Mariendom bezeugt und die Franziskanerkirche St.-Maria-Magdalena verfügte um 1400 sogar über zwei Orgeln: Die kleine Chororgel diente für die Stundengebete, die Hauptorgel im nördlichen Seitenschiff für die Heilige Messe. Sankt Katharinen besaß um 1400 eine Orgel, während Sankt Nikolai vor der Reformation zwei Orgeln hatte. In Rechnungsbüchern der Jacobi-Kirche ist ab dem Jahr 1508 eine Bezahlung für den (namentlich nicht genannten) Organisten dokumentiert; ab 1517 sind alle Jacobi-Organisten mit Namen bekannt. Aus vorreformatorischer Zeit sind für Hamburg sieben Orgelbauer mit Namen bekannt. Einige Orgelbauer waren zugleich Organisten wie Johann van Kollen, der 1467 an Sankt Petri angestellt wurde. Im Jahr 1502 schuf Harmen Stüven ein neues Werk für das Heilig-Geist-Hospital. Zusammen mit Jacob Iversand baute er von 1507 bis 1512 eine neue Orgel für St. Petri und anschließend von 1512 bis 1516 einen zweimanualigen Neubau für St. Jacobi, der vor 1543 um ein Rückpositiv erweitert wurde. Mit Namen treten zudem Hans Lüders, Dom. Engelbert, Meister Marten und Meister Johann hervor. Die Reformation führte in Hamburg zwar nicht wie andernorts zur Zerstörung von Orgeln, aber zu einem Stillstand im Orgelbau bis etwa um 1540. === Kennzeichen und Funktion === Diese gotischen Instrumente waren ursprünglich Blockwerke, deren Register nicht einzeln anspielbar waren, sondern nur im vollen Werk erklangen. Erst im ausgehenden Mittelalter ermöglichte die Erfindung der Schleiflade und Springlade, dass einzelne Pfeifenreihen separat gespielt werden konnten, wodurch ein großes klangliches Spektrum erzielt wurde. Die mittelalterliche Orgel diente liturgischen Zwecken und nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs. Sie übernahm Teile der Messe und der kirchlichen Tageszeiten wie den Introitus und die Lobgesänge und erklang im Wechsel mit dem Chor, der Gemeinde oder einzelnen Sängern („Alternatimpraxis“). == Renaissance und Frühbarock == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte der Hamburger Orgelbau einen starken Auftrieb. Maßgeblich waren daran Orgelbauer aus dem Herzogtum Brabant beteiligt, die im Zuge der Reformation, aufgrund von Glaubenskriegen und der orgelfeindlichen Haltung reformierter Kirchen, in Norddeutschland neue Betätigungsfelder suchten. Um 1600 stammte etwa die Hälfte der Stadtbewohner aus den Niederlanden. Hamburg profitierte vom Wirken der Orgelbauer Gregorius Vogel, Jasper Johansen und dem berühmten Hendrik Niehoff aus ’s-Hertogenbosch. Vogel führte 1542/1543 an der Orgel von St. Katharinen einen Umbau durch, der einem Neubau gleichkam. Das Instrument war bereits im 16. Jahrhundert berühmt. Niehoff erweiterte die gotische Blockwerk-Orgel von St. Petri 1548 bis 1550 zusammen mit Johansen um ein Rückpositiv (mit elf Registern), ein Oberwerk (mit acht Registern) und ein Pedal (acht Register) auf ein dreimanualiges Werk.Weit über Hamburg hinaus wirkte die Orgelbauerfamilie Scherer. Der Begründer Jacob Scherer hatte von Iversand die Werkstatt übernommen und schuf im norddeutschen Raum einige dreimanualige Werke. Sein Sohn Hans Scherer der Ältere, Schüler von Niehoff, vermittelte die Neuerungen des fortschrittlichen brabantischen Orgelbaus und war auch in St. Katharinen an der Erweiterung der Orgel beteiligt, die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach erweitert wurde. Zu Scherers bedeutendsten Nachfolgern gehörten Gottfried Fritzsche und Antonius Wilde, die eigene Werkstätten errichteten. Fritzsche, Nachfolger von Hans Scherer dem Jüngeren und wichtiges Bindeglied zu Arp Schnitger, zog um 1630 aus Sachsen nach Ottensen mit dem Auftrag, die Orgeln aller vier Hauptkirchen umzubauen und zu erweitern. Zu der Zeit wirkten an diesen vier Kirchen jeweils Schüler von Jan Pieterszoon Sweelinck, des „hamburgischen Organistenmachers“: die Brüder Jacob Praetorius der Jüngere und Johann Praetorius an Sankt Petri und St. Nicolai, Ulrich Cernitz an St. Jacobi sowie Heinrich Scheidemann an St. Katharinen. In Neuengamme, St. Johannis sind noch Teile der Fritzsche-Orgel von 1634 und in Kirchwerder, St. Severini einige Register und Prospektteile von Hinrich Speter (1641) erhalten. In der Orgel von Sankt Jacobi sind sogar noch zehn Scherer-Register und 19 von Fritzsche ganz oder teilweise erhalten. Auf Fritzsche, der die brabantische Kunst des Orgelbaus weiterentwickelte, gehen zahlreiche Neuerungen im Orgelbau zurück, so beispielsweise die Einführungen neuer Zungenregister wie Dulzian, Regal, Sordun und das langbechrige Krummhorn. Im Brustwerk und Pedal setzte er regelmäßig einfüßige Stimmen ein, die bei Scherer noch unbekannt waren. Anstelle von Scherers hochliegendem Scharff baute Fritzsche eine zweifache Zimbel und bevorzugte einzelne Aliquotregister. So war die 1635 durch Fritzsche in die Orgel von St. Jacobi eingebaute Sesquialtera die erste im norddeutschen Raum überhaupt. Gegenüber Scherer kamen etliche neue Nebenregister wie Tremulant und „Trommel“ und Effektregister wie „Kuckuck“, „Vogelsang“ und „Nachtigall“ hinzu. Während in Norddeutschland bisher gehämmerte Bleipfeifen die Regel waren, hobelte Fritzsche die Pfeifen und verwendete eine Legierung mit einem höheren Zinnanteil, für die Becher der Posaunen und Trompeten setzt er Markasit zu. Durch Fritzsches Erweiterungen gehörten die Orgeln in St. Jacobi und St. Katharinen zu den ersten Orgeln überhaupt, die über vier Manuale verfügten.Durch Fritzsches Schüler fand das hohe Niveau des Orgelbaus im norddeutschen Raum Verbreitung. Friedrich Stellwagen war Schwiegersohn und Geselle von Fritzsche und begleitete seinen Lehrmeister nach Hamburg, bevor er sich um 1635 in Lübeck selbstständig machte. Joachim Richborn führte die Werkstatt von Fritzsche fort und schuf um 1670 für Sankt Michaelis einen Neubau (II/P/20) und einige neue Register für die Orgel von Johann Adam Reincken in St. Katharinen, darunter einen Prinzipal 32-Fuß im Pedal. Unter dem Einfluss der Organisten von St. Katharinen, Scheidemann, der 34 Jahre Organist der Hauptkirche war, und seinem Schüler und Nachfolger Reincken, der dort fast 60 Jahre wirkte, war dieses monumentale Instrument immer weiter ausgebaut worden. Auf Grundlage von Dokumenten und 520 erhaltenen Pfeifen aus 20 Registern wurde dieses 1943 durch Kriegseinwirkung zerstörte Instrument von 2007 bis 2013 mit 61 Registern rekonstruiert und am 9. Juni 2013 geweiht. Legendär ist das Orgelkonzert, das Johann Sebastian Bach im Jahr 1720 in St. Katharinen gab: In der Hansestadt wirkten neben den überregional bedeutenden Orgelbauern Scherer, Richborn, Gottfried Fritzsche, sein Sohn Hans Christoph Fritzsche und Matthias Dropa (1692–1705) noch Hans Riege (1648–1666), Paul Landrock (um 1657–1686), Johann Luchtemaker (1666), Benjamin Ziegenhorn (1680–1687), Hermann Eggers (1684), Johann Hinrich Wernitzky (1684–1686) und Johann Middelburg (1692). Ausgehend von Hamburg prägten sie den Orgelbau bis in die skandinavischen Länder, Spanien und Portugal. === Kennzeichen und Funktion === Durch den Enkel Hans Scherer den Jüngeren erhielt der Hamburger Prospekt seine klassische Form, die international eine Vorbildfunktion einnahm. Eine wesentliche Errungenschaft des Hamburger Orgelbaus war die Vollendung des Werkprinzips. Im niederländisch-norddeutschen Kulturraum wurden entsprechend dieser Bauweise relativ selbstständige Klangkörper in separaten Gehäusen aufgestellt: die Pedaltürme seitlich freistehend, das Rückpositiv in der Emporenbrüstung, das Brustwerk über dem Spieltisch. Diese Werke kontrastierten in klanglicher Hinsicht mit dem vollen Klang des Hauptwerks. Das Rückgrat dieser Einzelwerke bildeten die vollständig ausgebauten Prinzipalchöre, die auf jeweils unterschiedlicher Fußtonlage (Tonhöhe) basierten (16 Fuß, 8 Fuß, 4 Fuß).Hamburg erlangte nach dem Dreißigjährigen Krieg schnell wieder Wohlstand und entwickelte sich zum Ende des 17. Jahrhunderts zur führenden Musikstadt in Deutschland. Der reiche Bestand an drei- und viermanualigen Orgeln war im nordeuropäischen Bereich im 17. Jahrhundert ohne Parallele. Erst während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Orgel zur Begleitung des Gemeindegesangs eingesetzt, als die Bevölkerungszahl dezimiert war und eine zunehmende Verschleppung des Gesangstempos beklagt wurde. Bis dahin war sie fast ausschließlich an der Liturgie beteiligt, leitete den Chor und die Sänger ein und übernahm im Wechsel mit ihnen einzelne Orgelverse, die vielfach durch Übertragungen (Intabulierungen) von Vokalkompositionen entstanden. Orgelmusik umrahmte die Predigt, wenn der Prediger die Kanzel bestieg oder wieder verließ, begleitete die Feier des Abendmahls und war vor und nach den Gottesdiensten zu hören. Prunkvoller konnte sich die Norddeutsche Orgelschule im 17. Jahrhundert entfalten. Im außerliturgischen Rahmen, etwa in den Vespermusiken, dem „Abendspielen“ und repräsentativen Konzerten, die von der Kaufmannschaft organisiert und gesponsert wurden, traten die Organisten auch als Komponisten für Vokal- und Instrumentalmusik hervor. == Arp Schnitger == === Bedeutende Werke === Von entscheidender Bedeutung für die Hamburger Orgellandschaft war Arp Schnitger, der als führender Orgelbauer Norddeutschlands im Zeitalter des Barock gilt. „Schnitgers Werk hat auf den modernen, historischen Vorbildern verpflichteten Orgelbau weltweit stilbildend gewirkt.“ Schnitger hatte seit 1682 eine große Werkstatt in Neuenfelde bei Hamburg. Von dort aus wurden seine Orgeln bis nach England, Russland, Spanien und Portugal exportiert. Den Durchbruch seiner Karriere erlebte der Meister mit dem Orgelneubau in St. Nikolai. Hier stellte Schnitger von 1682 bis 1687 eine viermanualige Orgel mit 67 Registern auf, die seinen Ruhm begründete und zu seiner Zeit das größte Instrument in Deutschland war. Die größte Pfeife, das tiefe C im Pedal des Prinzipal 32′ aus englischem Zinn, wog 860 Pfund. 1842 fiel die Kirche mit der Orgel dem Stadtbrand zum Opfer. Die Orgel von St. Jacobi ist Schnitgers einziges viermanualiges Werk, das erhalten ist, und die letzte hanseatische Barockorgel. Schnitger erweiterte die Orgel in den Jahren 1689 bis 1693 auf 60 Register, die sich auf vier Manuale und Pedal verteilen, und übernahm aus der Vorgängerorgel 25 Labialregister. Obwohl im 18. und 19. Jahrhundert mehrere Dispositionsänderungen erfolgten, blieb der Großteil der Register erhalten. Schmerzlicher war die Abgabe der Prospektpfeifen 1917 für die Rüstungsindustrie. Durch Auslagerung im Jahr 1943 wurden 85 % des Pfeifenbestandes und ein Teil des Schnitzwerks gerettet, während das im Hauptschiff verbliebene Gehäuse verbrannte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Orgel weitestgehend im Zustand von 1693 wieder hergestellt.Teilweise erhalten sind zudem Schnitgers Werke in der Bergstedter Kirche (1686), in Neuenfelde (1683–1688) und Ochsenwerder (1707/08). Später ersetzt oder zerstört wurden seine Orgelneubauten in der Reformierten Kirche Altona (1685–1687, II/P), der Dreifaltigkeitskirche in Hamm (1692/1693), in Moorburg/St. Maria-Magdalen (1695, I/P/13), Eppendorf (1701, II/p/11) und seine große Orgel in St. Michaelis (1712, III/P/52). Seine Positive für die Hauptkirchen St. Katharinen und St. Jacobi und seine Hausorgeln für Hamburger Pastoren und Ratsherren sind mit einer Ausnahme verschollen. Reparaturen und Erweiterungen führte er durch in der Pesthofkirche (1686), St.-Pauli-Kirche (1687/1688), der Hauptkirche St. Petri (1688/1689, 1692), St. Maria-Magdalena in Moorburg (1691), Steinbeker Kirche (vor 1700), St. Gertrud (1699–1700), der Hauptkirche St. Nikolai (1701, große und kleine Orgel), im Mariendom (1701), Heilig-Geist-Hospital (1702) sowie in St. Trinitatis in Altona (1702/03).Zwei zweimanualige Schnitger-Orgeln entgingen der Zerstörung, weil sie nach außerhalb Hamburgs verkauft und umgesetzt wurden. Die Orgel der Grasberger Kirche wurde 1693/1694 ursprünglich für das Hamburger Waisenhaus gebaut und von Wilhelmy für 500 Reichstaler nach Grasberg überführt, als das Waisenhaus vor dem Abriss stand. 14 der insgesamt 21 Register Schnitgers sind bewahrt geblieben. Noch vollständiger erhalten ist die Orgel in Cappel, die über 28 historische von insgesamt 30 Registern verfügt. Schnitger hatte sie 1679/1680 unter Verwendung von zehn Registern der Vorgängerorgel aus der Spätrenaissance für die Hamburger St.-Johannis-Klosterkirche gebaut. Im Zuge der Aufhebung des Klosters wurde das Instrument 1813 von Geycke abgebaut, für 600 Reichstaler nach Cappel verkauft und dort 1816 von Johann Georg Wilhelm Wilhelmy wieder aufgebaut. Beide Orgeln weisen noch weitgehend ihre originale, feine Intonation auf, die kennzeichnend für Schnitgers Stadtorgeln ist, und zählen zu den besterhaltenen Werken des Meisters. === Kennzeichen und Funktion === Schnitger entwickelte mit starken Bässen im Pedal und kräftigen Mixturen in allen Werken ein neues Klangkonzept, das eine Vielzahl von Solo- und Plenum-Registrierungen ermöglichte. Im Gegensatz zu den sanft klingenden Mixturen der Renaissance, die wenig Repetitionen aufwiesen und für die Darstellung polyphoner Musik geschaffen waren, trugen Schnitgers Instrumente der neuen Funktion für die Begleitung des Gemeindegesang Rechnung. Ebenso konnte auf ihnen der Stylus Phantasticus der hanseatischen Orgelkunst mit seinen wechselnden Affekten optimal verwirklicht werden. Das vollendete Werkprinzip, die in allen Werken vollständig ausgebauten Prinzipalchöre, die farbigen oder grundtönigen Flötenregister, die vielfältigen Zungenstimmen und die verschiedenen Plenumklänge entsprachen den norddeutschen Kompositionen mit ihren häufigen Manualwechseln, Konsortregistrierungen und der vielfältigen Verwendung des selbstständigen Pedals. == Spätbarock und Klassizismus == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Nach Schnitgers Tod im Jahr 1719 zogen seine Söhne in die Niederlande, wo die Schnitger-Schule bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fortwirkte. Seine Schüler führten zahlreiche Umbauten und beachtliche Orgelneubauten im norddeutschen Raum durch. In Hamburg selbst brach diese Tradition unvermittelt ab, zudem nach Reincken († 1722) und Lübeck († 1740) das Niveau des Orgelspiels und der Orgelkompositionen nicht gehalten werden konnte. Als einziger Schnitger-Schüler in Hamburg baute Otto Diedrich Richborn im Stil seines Lehrmeisters. Er vollendete 1721 in der St.-Paulikirche auf dem „Hamburger Berg“ seinen einzig nachgewiesenen Neubau. Ansonsten wurden auswärtige Orgelbauer beauftragt.Zu ihnen gehörte Johann Dietrich Busch aus Itzehoe, Nachfolger von Schnitgers Meistergesellen Lambert Daniel Kastens, der etliche neue Instrumente in solider Ausführung schuf. Neubauten entstanden in Billwerder (1739), Altona (1743/1744), für das Neue Hiobshospital (1743–1745), in Ottensen (1744/1745), St. Georg (1744–1747, III/P/49) und Altengamme (1750–1752). Hinzu kamen große Umbauten wie für St. Katharinen (1741/1742). Nach seinem Tod führte sein Sohn Johann Daniel Busch die Werkstatt zunächst in Hamburg fort, wurde aber von Johann Jakob Lehnert und ab 1765 von Johann Paul Geycke nach Schleswig-Holstein verdrängt. Geyckes Werkstatt in Hamburg wurde von seinem Sohn Joachim Wilhelm Geycke fortgeführt; Georg Wilhelm Wilhelmy war sein Geselle und ganz dem Stil Schnitgers verpflichtet. Abgesehen von wenigen Neubauten, wie beispielsweise für die Pesthofkirche in St. Pauli, taten sich die Geyckes vielmehr durch Umbauten, Reparaturen und Wartungen hervor. Auf diese Weise pflegten und sicherten sie den reichen Orgelbestand der Hansestadt. === Kennzeichen === In der Art der Prospektgestaltung ist ein Wandel in der Klangästhetik abzulesen: Statt der räumlich getrennten Werke bevorzugte man im Spätbarock und Klassizismus einen zusammenhängenden Prospekt. Statt Rückpositiv und Brustwerk wurden ein Oberwerk bevorzugt und die Windladen in einem großen Gehäuse untergebracht. Klanglich wurden statt kräftiger Zungenstimmen und heller Mixturen sanfte Streicher- und Flötenstimmen bevorzugt. == Romantik == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Auch im Zeitalter der Romantik gab es verschiedene Orgelbauer, die sich den traditionellen Orgelbauprinzipien verpflichtet sahen und eher konservativ bauten. Da sie die Arbeit der alten Meister schätzten, führten sie statt Abriss und anschließendem Neubau Umbauten durch oder änderten die Disposition, um die überkommenen Instrumente dem neuen Zeitgeschmack anzupassen. Im Jahr 1819 eröffnete Johann Gottlieb Wolfsteller in Hamburg eine eigene Werkstatt unter dem Namen „Hamburger Orgelbauanstalt“ im Haus Brook 67. Wolfsteller wurde zwischen 1836 und 1852 mit Dispositionsänderungen und Erweiterungsumbauten an den Orgeln in St. Michaelis, St. Jacobi und St. Petri beauftragt. Konservativ waren auch die Instrumente von Marcussen & Søn ausgerichtet, was bei der 1882 errichteten Orgel in St. Johannis in Harvestehude äußerlich am Prospekt mit seinen drei Rundtürmen erkennbar ist. Auch die sogenannte „Konzertorgel“ von Marcussen aus dem Jahr 1914, ein pneumatisch gesteuertes Instrument der ausgehenden Romantik, greift im Prospekt traditionelle Formensprache auf.Auf der anderen Seite traten zunehmend überregional arbeitende Firmen auf, die fortschrittlich ausgerichtet waren, die technischen Neuerungen im Bereich der Traktur umsetzten und neue Klangkonzepte im Stil der Romantik ermöglichten. Zu ihnen gehörte das Unternehmen Philipp Furtwängler & Söhne, das 1870 die Orgel in Wilhelmsburg/Kreuzkirche und 1881 die ebenfalls zweimanualigen Werke in Finkenwerder/St. Nikolai und Moorburg/St. Maria-Magdalena baute. Christian Heinrich Wolfsteller, ein Enkel von Johann Paul Geycke, übernahm das väterliche Unternehmen. Neben modernisierenden Umbauten in St. Katharinen (1869), Billwerder (1870) und Ochsenwerder (1885) schuf er Neubauten in St. Johannis (Hamburg-Eppendorf) (1872), Hamburg-Rothenburgsort (vor 1885), der Gelehrtenschule des Johanneums (1888) und der Kapelle des Helenenstifts (1894). Mehr als 50 Orgeln lieferte er ins Ausland. Als erster entwickelte Wolfsteller 1889 eine elektrische Traktur, die sich wegen der aufwändigen Konstruktion allerdings nicht durchsetzen konnte. === Kennzeichen === Im 19. Jahrhundert änderte sich der Stil im Orgelbau fundamental. Im Zeitalter der Romantik veränderten sich Klang und Erscheinungsbild der Orgel, technische Neuerungen hielten Einzug. Das Werkprinzip wurde völlig aufgegeben und die Orgel hinter einem flächigen Verbundprospekt gebaut. An die Stelle der vortretenden Pfeifentürme traten Flachfelder. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die Kegellade und die pneumatische Traktur eingeführt, am Ende des Jahrhunderts hielt die Elektrifizierung der Traktur Einzug. Die Zahl der Zungen und Aliquotregister sank zugunsten von grundtönigen Stimmen in der 8-Fuß-Lage („Äquallage“), die eine stufenlose Klangdynamik erlaubten. Diesem Zweck diente auch der Einbau von Hinter- und Schwellwerken. Große Firmen, die deutschlandweit Orgeln in großer Zahl auslieferten, prägten zunehmend das Bild, führten aber auch zu einer landesweiten Angleichung der Stile. == 20. und 21. Jahrhundert == === Bis zum Zweiten Weltkrieg === Ab dem 20. Jahrhundert ging die Hamburger Orgelkultur in den allgemeinen deutschen Orgelbau auf. Paul Rother übernahm im Jahr 1899 die Werkstatt von Wolfsteller und führte sie bis 1950 fort. Ein großer Teil der Neubauten in und Hamburg aus dieser Zeit geht auf ihn zurück, für die er fast ausschließlich die (elektro-)pneumatische Kegellade verwendete. Die Zerstörung vieler Kirchen und Orgeln im Zweiten Weltkrieg führte zu einer großen Anzahl von Orgelneubauten. Neben bedeutenden historischen Orgeln wurde auch die Großorgel in der Hauptkirche St. Michaelis von Walker & Cie aus dem Jahr 1912 zerstört, die über 163 Register und fünf Manuale verfügte und zu ihrer Zeit eine der größten Orgeln der Welt war. Freipfeifenprospekte ohne geschlossene Gehäuse erfreuten sich vor allem von den 1930er bis in die 1960er Jahre einer gewissen Beliebtheit, so bei den Orgeln in der Christuskirche Othmarschen von W. Sauer Orgelbau (1936) und in der Christuskirche Wandsbek von Walcker (1966/1967).Die junge Orgelbewegung erhielt durch die Schnitger-Orgel in St. Jacobi wesentliche Impulse. Hans Henny Jahnn setzte sich für die Restaurierung der Orgel ein und forderte in den 1930er Jahren eine Rückbesinnung auf die Bau- und Klangprinzipien der norddeutschen Barockorgel. Zu den ersten großen Orgeln, die im Zeitalter der Pneumatik wieder mit mechanischer Traktur gebaut wurden, gehören die Orgel in der Ansgarkirche Langenhorn (P. Furtwängler & Hammer, 1931) und die Orgel der Lichtwarkschule (Karl Kemper, 1931), beide nach dem Entwurf von Jahnn. Beide sind noch nahezu vollständig erhalten bzw. weitestgehend auf den Originalzustand restauriert worden. === Nach dem Zweiten Weltkrieg === Der Schnitgerforscher und -biograf Gustav Fock, der wie Schnitger in Neuenfelde geboren wurde, wohnte in Blankenese und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten über Schnitger und 1974 ein grundlegendes Werk, das die Bedeutung Schnitgers und die Wirkung seiner Schule erschloss. Im Zuge des wachsenden Bewusstseins für die erhaltenen historischen Instrumente wurden diese in den letzten Jahrzehnten fachkundig restauriert. In diesem Bereich hat sich Jürgen Ahrend Orgelbau einen Namen gemacht, der neben einigen Neubauten (1969 in Altona/Reformierte Kirche und 1975 in Harvestehude/Christengemeinschaft Johnsallee) durch die Restaurierung der Orgel in St. Jacobi (1990–1993) hervorgetreten ist.In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte die Hamburger Firma Rudolf von Beckerath die Kulturregion maßgeblich durch etliche Neubauten. Das Unternehmen, das auch international Orgeln lieferte, knüpfte an barocke Orgelbautraditionen an, die einen Synthese mit modernen Fertigungsmethoden und Gestaltungsprinzipien eingingen. Aufsehen erregte nach dem Zweiten Weltkrieg die viermanualige Konzertorgel für die Laeiszhalle (1951). Beckerath schuf ein dreimanualiges Werk für den Neuen Mariendom (1967), das später erweitert wurde (IV/P/64). Weitere neue Orgeln entstanden 1969 in St. Erich und 1995 in der Erlöserkirche, Farmsen-Berne. Ungewöhnlich ist die Orgel in der Blankeneser Kirche von 1991, die auf Veranlassung des dortigen Organisten und Komponisten Hans Darmstadt mit einem MIDI-fähigen Synthesizer kombiniert ist. Dieser ist von den Klaviaturen der Pfeifenorgel aus anspielbar, die Lautsprecher sind zwischen dem Pfeifenwerk im Orgelgehäuse angebracht. Insgesamt verfertigte das Unternehmen von Beckerath in der Hansestadt über 50 Instrumente. In den 1960er Jahren entwickelte sich die Lutherkirche Wellingsbüttel zu einem Zentrum moderner, vielfach avantgardistischer Orgelmusik. Gerd Zacher, Organist an der Lutherkirche und Komponist, experimentierte mit dem Spielwind, den er modifizierte, und erzeugte auf diese Weise neue, fremdartige Klänge. Dort stand seit 1962 ein Orgelneubau von Schuke zur Verfügung, dessen Winddruck sich erniedrigen ließ.In den 1960er Jahren wurden unter Einfluss des Strukturalismus kantige Orgelgehäuse in unterschiedlich großen Kästen bevorzugt, die formal eine Rückkehr zum Werkprinzip andeuteten. Dieser Typ ist in Hamburg unter anderen durch Alfred Führer vertreten, der ab Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre Werke im neobarocken Stil baute. In den letzten Jahrzehnten hat sich der deutsche Orgelbau in den Großstädten stark angeglichen und weist kaum noch eigenständige Besonderheiten auf. Wie auch in anderen deutschen Großstädten sind die führenden deutschen Orgelbauunternehmen mit Neubauten in Hamburg vertreten, außer den bereits genannten Firmen beispielsweise Klais (Elbphilharmonie), Mühleisen (Kirche am Rockenhof), S. Sauer (Barmbek/St. Sophien), Späth (Hauptkirche St. Michaelis) und Steinmeyer (Hauptkirche St. Michaelis). Ergänzt wird die Orgellandschaft um einige Orgelneubauten aus Dänemark (Marcussen, Hauptkirche St. Michaelis), den Niederlanden (Flentrop, Hauptkirche St. Katharinen) und der Schweiz (Kuhn, St. Johannis/Altona).Anlässlich des 300. Todestages Arp Schnitgers im Jahr 2019 riefen Hamburger Organisten den Verein „Orgelstadt Hamburg“ ins Leben, der sich der Pflege der Hamburger Orgelkultur verschrieben hat. == Literatur == Cornelius H. Edskes, Harald Vogel: Arp Schnitger und sein Werk (= 241. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde). 2. Auflage. Hauschild, Bremen 2013, ISBN 978-3-89757-525-7. Gustav Fock: Hamburgs Anteil am Orgelbau im niederdeutschen Kulturgebiet. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Nr. 38, 1939, S. 289–373. Gustav Fock: Arp Schnitger und seine Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des Orgelbaues im Nord- und Ostseeküstengebiet. Bärenreiter, Kassel 1974, ISBN 3-7618-0261-7. Konrad Küster: Hamburgs „zentrale Stellung“ in der norddeutschen Orgelkultur. Überlegungen zu einem Forschungsmodell. In: Hans Joachim Marx (Hrsg.): Beiträge zur Musikgeschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Neuzeit (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft; 18). Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2001, ISBN 3-631-38433-5, S. 149–175. Heimo Reinitzer (Hrsg.): Die Arp-Schnitger-Orgel der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg. Christians, Hamburg 1995, ISBN 3-7672-1187-4. Günter Seggermann, Alexander Steinhilber, Hans-Jürgen Wulf: Die Orgeln in Hamburg. Ludwig, Kiel 2019, ISBN 978-3-86935-366-1 (Leseprobe [PDF]). Harald Vogel, Günter Lade, Nicola Borger-Keweloh: Orgeln in Niedersachsen. Hauschild, Bremen 1997, ISBN 3-931785-50-5. == Diskografie == Vollständigkeit anstrebende Diskografie der Schnitger-Orgeln. == Weblinks == Orgelstadt Hamburg Kathrin Heitmüller: Der Orgelbauer Matthias Dropa im soziokulturellen Umfeld seiner Zeit (PDF; 73 kB) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Orgellandschaft
Heeby-Jeebies
= Heeby-Jeebies = Heeby-Jeebies ist ein Rock-’n’-Roll-Song von Little Richard. Der über mehrere Aufnahmesessions von Februar bis Juli 1956 für Specialty Records entwickelte Song basierte ursprünglich auf Little Richards Chart-Debüt Tutti Frutti. Nach einigen Umarbeitungen wurde das Copyright aber auf die beiden Songwriter Maybelle Jackson und John Marascalco registriert. Heeby-Jeebies variiert im Aufbau das 12-taktige Bluesschema und erzählt von der Unruhe, von der Verliebte ergriffen werden können. Der Song wurde mehrfach auf Single, EP und LP in Amerika, Europa und Südafrika veröffentlicht. Außer einem Remix aus dem Jahr 1981 kamen von Little Richard nach der offiziellen Veröffentlichung keine Neuinterpretationen mehr hinzu, allerdings wurde der Titel 1959 von Larry Williams, 1963 von Kingsize Taylor und 1964 vom Australier Colin Cook gecovert. 1974 war Heeby-Jeebies Bestandteil eines Medleys im Live-Repertoire der Bluesrock-Band Cactus. Ab 1996 nahm sich die Neo-Rockabilly-Szene des Songs an und George Bedard & The Kingpins, die Boogiemen, Nick Curran, The Neatbeats, Hot Chickens und Mike Sanchez legten Aufnahmen vor. Es folgten 2014 Rock-Versionen der amerikanischen Band Isaac Rother & The Phantoms und der schwedischen Band Imperial State Electric. Keine der Coverversionen konnte Little Richards Original in die Charts folgen, wo seine Single im November 1956 den siebten Platz der amerikanischen R&B-Bestenliste des Billboard Magazins belegte. == Entstehung == Seit Ende 1955 war Little Richard beim kalifornischen Plattenlabel Specialty Records unter Vertrag. Seine in Cosimo Matassas J&M Studio in New Orleans aufgenommene Debütsingle Tutti Frutti war ein Charthit. Für die Aufnahme einer Folgesingle wurde am 9. Februar 1956 erneut das J&M-Studio gebucht und unter anderem eine erste Version des Titels Heeby-Jeebies-Love eingespielt. Den Sänger und Pianisten begleitete die Studio Band in der Besetzung Edgar Blanchard an der Gitarre, Frank Fields am Bass, Lee Allen am Tenorsaxophon, Alvin Tyler am Baritonsaxophon und Earl Palmer am Schlagzeug. Alle drei erhaltenen Takes waren Weiterentwicklungen von Tutti Frutti, dessen Intro- und Refrain-Melodie exakt übernommen wurde. Auch der bekannte Scat-Ruf „A-wop-bom-a-loo-mop-a-lomp-bom-bom!“ fand leicht abgewandelt als „Wop-bop-a-leema-lama-wop-bobba-loo!“ Verwendung. Der Label-Chef Art Rupe wählte aus der Februar-Session aber Long Tall Sally als nächste Single aus und die Aufnahmen von Heeby-Jeebies-Love wurden archiviert. Der Mississippi-stämmige Songwriter John Marascalco hörte Long Tall Sally im Radio und fuhr im März 1956 nach Los Angeles, um seine beiden Kompositionen Rip It Up und Ready Teddy Little Richards Produzenten Bumps Blackwell anzubieten. Beide Songs wurden am 9. Mai 1956 in New Orleans erstmals aufgenommen und bildeten zusammen als Little Richards dritte Single einen Doppelerfolg in den Charts. Bereits eine Woche später am 15. Mai kam Little Richard erneut ins Studio. Unter der Leitung von Bumps Blackwell und Art Rupe nahm der Sänger mit der Studio-Band eine überarbeitete Version von Heeby-Jeebies auf. Aus dieser Session sind drei vollständige Takes einer langsamen Version des Titels erhalten, dazu zwei kurz nach dem Start abgebrochene Versuche. Die Tutti-Frutti-Scat-Anleihe war dabei durch die neue Hookline „Bad luck baby put a jinx on me“ ersetzt worden. Als Autoren von Heeby-Jeebies werden in allen Veröffentlichungen John Marascalco und Maybelle Jackson genannt. Ab wann die beiden Songwriter in die Entwicklung des Songs mit welchem Anteil involviert waren, ist nicht überliefert. Art Rupe und Bumps Blackwell waren mit dem Ergebnis der Mai-Aufnahmen immer noch nicht zufrieden und setzten bei einer Aufnahmesession am 30. Juli 1956 Heeby-Jeebies erneut aufs Programm. Wieder war der Song deutlich überarbeitet worden: Der bisherige Refrain, der lediglich den Songtitel „Heeby-Jeebies“ mehrfach wiederholte, erhielt mit der Aufforderung „You gotta jump back, jump back…“ einen neuen Text, außerdem wurde die Geschwindigkeit deutlich erhöht. Außer Roy Montrell, der diesmal die Gitarre übernahm, spielten die gleichen Musiker wie am 15. Mai. Nach einem Test-Take wurde eine Version gefunden, die den Ansprüchen genügte und im Anschluss von Art Rupe für die Veröffentlichung auf Little Richards vierter Specialty-Single gemastert wurde. Little Richard erinnerte sich 1984 in der autorisierten Biografie von Charles White an eine Studiosession in Los Angeles am 6. September, bei der er mit seiner Live-Band The Upsetters unter anderem auch Heeby-Jeebies gespielt habe. Eine entsprechende Evidenz in der beigefügten Sessiongrafie findet sich allerdings nicht. == Musikalischer Aufbau == Der Grundaufbau der auf Single veröffentlichten Version von Heeby-Jeebies ist ein zwölftaktiger Blues, der in seiner Reinform im Refrain und beim Saxophon-Solo zu hören ist. Die funktionalen Akkorde lassen sich mit der Stufentheorie darstellen, wobei die erste Stufe der Tonika, die vierte Stufe der Subdominante und die fünfte Stufe der Dominante entspricht: || I | I | I | I | IV | IV | I | I | V | IV | I | I ||Beim Intro in Form einer ersten Strophe werden die ersten vier Takte Tonika durch die Hookline „Bad luck baby put the jinx on me“ auf zwei Takten Tonika ersetzt, welche den Refrain auch jeweils auf den letzten beiden Takten abschließt. || I | I | IV | IV | I | I | V | IV | I | I ||Die zweite und dritte Strophe besteht jeweils aus den ersten acht Takten des Bluesschemas, sind also um Dominante, Subdominante und Tonika verkürzt. || I | I | I | I | IV | IV | I | I ||Der Ablauf des Stückes sieht nach dem Intro einen Refrain und die zweite Strophe vor. Nach erneutem Refrain und dritter Strophe folgt ein weiterer Refrain und das Saxophon-Solo. Nun werden die Strophen zwei und drei jeweils mit einem anschließenden Refrain wiederholt. == Inhalt == Heeby-Jeebies ist einer aus einer langen Reihe von sich reimenden Song-Titel aus Little Richards Repertoire wie Tutti Frutti, Ready Teddy oder Good Golly Miss Molly. Der Song handelt von den Ängsten eines Verliebten um die Beziehung zu einem Mädchen. Die unsichere Situation bereitet ihm Unrast, Gänsehaut oder Unbehagen („Heeby-Jeebies“), die er auf einen Fluch („jinx“) des unglückseligen Mädchens („bad luck baby“) zurückführt. Kritiker verhandeln vor allem diese mit okkulten Bildern spielende Hookline des Songs: „Ein unglückseliges Mädchen hat mich verflucht“ („Bad luck baby put the jinx on me“). Dennis Drabelle findet, der Text wirke wie „Handkantenschläge“, während David Kirby in Anspielung auf den Reiz der unsicheren Beziehung vermutet, der „Fluch“ käme dem Protagonisten gar nicht ungelegen. Little Richards Specialty-Kollege Larry Williams zeigte sich während der Aufnahme seiner Version des Stücks über dessen Text verwundert und urteilte über die Zeile „If I can’t find my baby, then you know darn well, I’m gonna ring your door till I break your bell.“ aus der ersten Strophe: „Die Worte ergeben überhaupt keinen Sinn!“ („Those words don’t make no sense.“) == Veröffentlichung == Am 17. September 1956 wurde vom Specialty-Verlag Venice Music das Copyright bei der Library of Congress auf John Marascalco und Maybelle Jackson registriert. Der Song erschien am 1. Oktober 1956 zusammen mit She’s Got It auf der Single Specialty 584 im 7-Zoll- und Schellack-Format. Specialty Records ordnete den Songs einer Single zu dieser Zeit keine zu bevorzugende A- oder B-Seite zu, sondern überließ es dem Markt, welche der beiden Seiten einer Platte nachgefragt wurde. Noch im gleichen Jahr erschien die Single ebenfalls auf Vinyl und Schellack unter der Nummer 1188 bei der belgischen Plattenfirma Ronnex, in Kanada war Regency Records für den Vertrieb der Platte zuständig. Erst drei Jahre später, im November 1959, folgte die niederländische Artone Records mit Artone 24034 und im Folgejahr nochmals mit Artone 24149. Auch Specialty unterhielt eine Niederlassung in den Niederlanden und veröffentlichte Specialty 25.264 im Jahr 1965. Das Ausgabejahr der südafrikanischen Schellackversion bei London Records ist unbekannt. Eine britische Ausgabe des Songs erfolgte erst in den 1970er Jahren auf der britischen Specialty unter der Nummer 5015, auf der Heeby-Jeebies mit Long Tall Sally gekoppelt wurde.Auf EP erfolgte die Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten 1958, als Little Richard Vol. 3 den Titel mit Boo Hoo Hoo Hoo, The Girl Can’t Help It und Send Me Some Lovin’ als Specialty EP-405 kombinierte. Eine in Großbritannien von London Records konzipierte EP mit dem Titel Little Richard and his Band und der Nummer 1071 kam 1957 im Vereinigten Königreich, und ab 1958 in Deutschland, in Frankreich, Italien und Norwegen, in Südafrika und in Schweden auf den Markt. Eine weitere EP-Veröffentlichung in Deutschland und den Niederlanden bei London 3051 war Great Hits with Little Richard. Von einer französischen EP auf London 10012 ist kein eigener Titel bekannt. Eine 1959 in Schweden erschienene London-Ausgabe mit der Nummer 5041 war schlicht Little Richard betitelt, der 1964 auf der schwedischen Sonet 6071 eine EP-Ausgabe auf grünem Vinyl folgte.Auf LP erschien Heeby-Jeebies regulär erstmals auf Little Richards zweitem Specialty-Album Little Richard im Dezember 1958. Es folgte 1968 die amerikanische Kompilation Little Richard’s Grooviest 17 Original Hits auf Specialty 2113, 1976 die britische Ausgabe Specialty SNTF 5017 unter dem Titel 20 Original Greatest Hits und im Folgejahr 22 Original Hits auf Warwick Records WW 5034. Eine dänische Picture Disc namens Little Richard unter der Nummer AR-30012 enthielt den Song ebenso wie GRT 2103-725 mit dem Titel The Original Little Richard Recordings. 1980 fand Heeby-Jeebies Eingang auf der deutschen Specialty-Ausgabe Star Portrait. Alle erhaltenen Versionen erschienen offiziell erst 1989 auf der 6-CD-Box The Specialty Sessions aus dem Hause Ace Records.Als die Disco-Musik populär war, ließ Specialty mehrere Songs Little Richards überarbeiten. Lee Silver remixte die frühe Songversion Heeby-Jebbies-Love, die 1981 zusammen mit Lucille (Remix) auf 12-Zoll-Maxi-Single für 33 Umdrehungen pro Minute erschien. Diese Veröffentlichung blieb kommerziell aber erfolglos. Der zugrundeliegende Track Heeby-Jeebies-Love kam 1983 auf Specialty-Single SP-736 zusammen mit All Around the World heraus. Zwei weitere Jahre später wurde die Maxi-Single mit dem Remix als Specialty 741 im 7-Zoll-Format erneut veröffentlicht. == Coverversionen == Die erste Coverversion von Heeby-Jeebies spielte Little Richards Specialty-Kollege Larry Williams am 19. Februar 1958 ein. Als Band begleitete ihn Gerald Wilson an der Trompete, Plas Johnson am Tenorsaxophon, Alvin Tyler am Baritonsaxophon, Earl Palmer am Schlagzeug, Ernie Freeman am Klavier und Barney Kessel an der Gitarre. Ein von Williams gepfiffenes Solo ersetzte dabei das Saxophon. Die Aufnahme wurde zurückgehalten und erschien erst 1973 auf dem Album The Great Rock Stars des niederländischen Bootleg-Labels Redita unter der Nummer RLP-103. 1987 erschien ein alternatives Take auf dem Album Alakazam! bei Ace Records einschließlich eines verwunderten Kommentars über den obskuren Text an die Studioregie. Das erste veröffentlichte Cover war eine Live-Einspielung der Liverpooler Band Kingsize Taylor & the Dominoes aus dem Hamburger Star-Club im Jahr 1963. Es erschien 1963 auf der LP King Size Taylor and the Dominoes Live im Star-Club Hamburg Volume 2 bei Ariola sowie auf Single unter der Nummer Ariola 18074. Die Firma kombinierte das Rock-’n’-Roll-Konzert außerdem mit einem Auftritt der Bobby Patrick Big Six als Split-Doppel-LP. 1964 folgte der australische Interpret Colin Cook mit seiner Version auf dem Label W&G unter der Nummer WG-S-2324. Die amerikanische Bluesrock-Formation Cactus übernahm in den 1970er Jahren Heeby-Jeebies in ihr Live-Repertoire und spielte das Stück als Teil eines Rock-’n’-Roll-Medleys, das bei zwei Konzerten mitgeschnitten wurde und Jahre später bei Rhino Records erschien. Die LP Fully unleashed: The Live Gigs enthielt 2004 das 17-minütige Medley aus Heeby-Jeebies, Money (That’s What I Want), Hound Dog und What’d I Say. 2007 folgte das von Eddie Kramer aufgenommene Cactus-Album Fully unleashed: The Live Gigs Vol. 2 mit einem zweistündigen Konzert vom 26. Juni 1971 in Buffalo, bei dem Heeby-Jeebies lediglich mit What’d I Say in einer 12-minütigen Performance kombiniert wurde. Nachdem der Sänger der Band Rusty Day gefeuert wurde, heuerte er als Ersatz von Mitch Ryder bei dessen Band The Detroit Wheels an, die sich unter dem Namen „Detroit“ neu formierte. 1973 kam es zu einer inoffiziellen Live-Aufnahme, welche aufgrund der Mitwirkung des späteren Lynyrd-Skynyrd-Sängers Steve Gaines seit 1998 lediglich als Lynyrd-Skynyrd-Bootleg kursierte. Auf dieser Platte namens The Driftwood Tapes ist ein Medley aus Long Tall Sally, Heeby-Jeebies und She’s Got It enthalten. Ab Mitte der 1990er entdeckte die Neo-Rockabilly-Szene den „Klassiker“. George Bedard & The Kingpins nahmen den Titel 1996 für ihr zweites Album Hip Deep auf Schoolkids’ Records auf. Kevin Ransom findet, dass Bedard den aus dem Rockabilly bekannten Schluckauf-Stil des jungen Elvis Presley adaptiere und der Aufnahme die Atmosphäre einer bahnbrechenden Sun-Records-Session verleihe. Ebenfalls 1997 veröffentlichte die Bluesband Boogiemen den Song für das Label Blue Loon auf ihrem Album Boogie Time, das als Blues-Album für den Minnesota Music Award nominiert wurde. 2004 folgten Nick Curran and the Nitelifes mit dem Album Player! auf Blind Pig Records. Die japanische Band The Neatbeats spielten schließlich Heeby-Jeebies im Jahr 2006 für ihre Live-DVD Neatle Mania und 2008 für ihr Album Roll on Good auf BMG Japan ein. Ebenfalls 2006 erschien bei Sfax Records das Album Speed King der französischen Rockabillyband Hot Chickens, bei der Hervé Loison singt und den Bass spielt, Thierry Sellier trommelt und Didier Bourlon an der Gitarre zu hören ist. Der britische Musiker Mike Sanchez veröffentlichte den Song 2008 auf seinem Album You Better Dig It bei Doopin 002. Es musizierten neben Sanchez am Klavier und Mikrophon Mark Morgan am Schlagzeug, Al Gare am Bass, Oliver Darling an der Gitarre sowie Nick Lunt und Paul Corry an den Saxophonen.Zu Weihnachten 2014 veröffentlichte die schwedische Rockband Imperial State Electric um den Sänger und Gitarristen Nicke Andersson eine auf zweimal 500 Exemplare limitierte Vinylsingle beim japanischen Label AM Records. Hinter der A-Seite mit (Why Don’t You) Leave It Alone  findet sich als B-Seite Heeby Jeebies. Das britische Musikportal Über Röck findet, die Single enthalte „zwei, in geschmackvoller Art und Weise gecoverte Klassiker“. Im September 2014 nahm die Band Isaac Rother & The Phantoms das Stück in El Segundo, Kalifornien auf. Es spielten Issac Rother und Matthew Zuk an den Gitarren, Mikki Itzigsohn am Bass, Alberto Mendoza am Schlagzeug und Steven Moos an den Keyboards. Michelle Rose und Veronica Bianqui unterstützen den Sänger Rother im Background. Eine Single erschien Anfang 2015 beim Los Angeleser Label Mock Records zusammen mit dem Titel One Ain’t Enough. == Bedeutung, Kritik und Erfolg == Specialty 584 mit Heeby-Jeebies und She’s Got It war Little Richards vierte Hit-Single in Folge, seit er im November des Vorjahres mit Tutti Frutti bei Specialty Records debütiert hatte. Es war allerdings seine erste Specialty-Platte, welche sich nur in den schwarzen Rhythm-and-Blues-Charts platzierte und welcher der Crossover in den allgemeinen Popmarkt misslang. Von den 20 Songs, die Little Richard bis zu seinem vorübergehenden Rückzug 1957 für das Label aufgenommen hatte und die in den amerikanischen oder britischen Charts punkteten, war Heeby-Jeebies der einzige, den er im Laufe seiner Karriere bei verschiedenen Comebacks nicht noch einmal einspielte. Auch die Anzahl der Coverversionen von Heeby-Jeebies blieb hinter jener seiner größten Hits deutlich zurück. Bereits am 8. Oktober 1956 hatte das Billboard Magazin die Single rezensiert und festgestellt: „Richard schmettert in seinem Shouting-Stil zwei starke Nummern mit fettem Beat und aufregender Begleitung und nutzt somit die gleiche Formel, die ihn mit früheren Veröffentlichungen an die Spitze der Charts katapultierte. Heeby-Jeebies ist eine treibende Nummer mit rasant-feurigem Text, der sich bis zur Ekstase steigert. Die Rückseite mit pfiffigen Lyrics hat einen ähnlich kraftvollen Effekt.“ Die R&B-Charts des Billboards bestanden 1956 mit den Verkaufscharts („R&B Best Sellers in Store“), den Jukebox-Charts („Most Played R&B in Juke Boxes“) und den Radio-Charts („Most Played R&B by Jockeys“) aus drei separaten Bestenlisten. Bei den ersten beiden wurde die Single vor allem mit deren Haupttitel bewertet, nur die Radio-Charts führten beide Seiten der Platte getrennt. Specialty Records verzichtete bewusst auf eine Zuordnung zu A- und B-Seite und überließ es dem Markt, welcher Titel bevorzugt nachgefragt wurde. Bei Specialty 584 zeigt sich der ungewöhnliche Effekt, dass sich mit She’s Got It in den Verkaufscharts die eine Seite der Platte, mit Heeby-Jeebies in den Juke-Box-Charts die andere Seite platzieren konnte. Letzteres debütierte am 3. November 1956 auf Platz neun, war in den drei Folgewochen aus der seinerzeit zehnstelligen Liste verschwunden und konnte am 1. Dezember Re-Entry auf Platz zehn feiern. Mit Platz sieben war Heeby-Jeebies am 8. Dezember am höchsten und gleichzeitig zum letzten Mal platziert. In den Verkaufscharts war der Titel am 10. November 1956 lediglich im Sinne einer am Erfolg der Platte beteiligten B-Seite zu She’s Got It mitgenannt. In den Radiocharts fehlte Heeby-Jeebies im Gegensatz zur anderen Seite der Single komplett. Nach der bei Joel Whitburn gängigen Methodik der Chartstatistik verbrachte Heeby-Jeebies demnach drei Wochen in den R&B-Charts und besetzte als Höchstposition Platz sieben. In den mit dem Billboard konkurrierenden Pop-Charts des Cashbox-Magazins erreichte Heeby-Jeebies einen 50. Platz und stach damit die unplatzierte Rückseite She’s Got It deutlich aus. Von den Coverversionen konnte sich keine in den Charts platzieren. Nur wenige Kritiker äußerten sich explizit über Heeby-Jeebies und lobten die energiereiche Performance. Der Little-Richard-Biograf Paul MacPhail bezeichnete beide Seiten der Platte als „wild hämmernde Rock ’n’ Roller“. Larry Birnbaums Analyse hört eine „rasende“ Aufnahme und hebt Lee Allens Saxophon-Solo über Little Richards perkussivem Pianospiel der Achtelnoten hervor. Otis Redding, der wie Little Richard aus Macon, Georgia stammte und sich als Teenager am Rock-’n’-Roll-Star orientierte, berichtet vom erfolgreichen Einsatz des Titels bei lokalen Talentwettbewerben: „Dieser Song hat mich dazu inspiriert mit dem Singen anzufangen. An 15 aufeinanderfolgenden Abenden gewann ich mit diesem Song den Talentwettbewerb, und dann ließen sie mich nicht mehr singen, ließen mich nicht mehr die fünf Dollar gewinnen.“ == Weblinks == Heeby-Jeebies-Love (Take 1, 2 und 3) mit Tutti-Frutti-Ruf vom 9. Februar 1956 Langsame Version (Take 5) vom 15. Mai 1956 Langsame Versionen vom 15. Mai 1956 (Take 6, 7 und 8) Das alternative Take (Take 5001) vom 30. Juli 1956 Die offiziell veröffentlichte Version (Master) vom 30. Juli 1956 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Heeby-Jeebies
Kettenschifffahrt auf dem Neckar
= Kettenschifffahrt auf dem Neckar = Die Kettenschifffahrt auf dem Neckar war eine spezielle Art der Schleppschiffahrt, bei der sich Kettendampfer mit mehreren angehängten Schleppkähnen entlang einer im Fluss verlegten Kette zogen. Sie wurde ab 1878 zwischen Mannheim und Heilbronn, ab 1884 bis Lauffen eingesetzt. Die Kettenschifffahrt reduzierte die Transportkosten der Schiffer gegenüber dem bis dahin üblichen Treideln mit Pferden erheblich und machte den Schiffstransport gegenüber der Eisenbahn wieder konkurrenzfähig. Durch fortschreitende Kanalisierung des Neckars und die dafür erforderlichen Staustufen wurde der Kettenschleppbetrieb erschwert und unwirtschaftlich. Er wurde zunehmend durch Schlepper mit Schiffsschraube ersetzt und mit dem vollständigen Ausbau des Neckars 1935 eingestellt. == Die Situation vor der Kettenschifffahrt == === Der Fluss === Die Stromverhältnisse des Neckars variierten entlang des Flusslaufs deutlich. Auf der etwa 113 km langen Flussstrecke vom Hafen in Heilbronn bis zur Mündung in den Rhein wechselten Flussabschnitte mit einem starken Gefälle von 1:350 und seichte Abschnitte mit einem Gefälle von nur 1:10.000. Bezeichnet man Stellen mit einem Gefälle von mehr als 1:700 als Stromschnellen, so betraf dies rund 7 % der Strecke, also etwa 7840 m. Zu den Schwierigkeiten der Gefällevariation kamen starke Krümmungen im Flussverlauf.Die Flusssohle bestand meist aus Geschieben von Muschelkalk und Buntsandstein; an einigen Stellen des Flusslaufes waren jedoch Felsschwellen vorhanden. Die Wasserstände des Neckars wechselten je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge stark. Die höchsten Wasserstände lagen je nach Flussabschnitt zwischen 6,6 und 14,6 m, während der Neckar bei Niedrigwasser im Sommer auf unter 0,56 m fiel. In dem sehr trockenen Jahr 1865 wurden an 210 Tagen Wasserstände unter 0,56 m gemessen, wohingegen dieser Tiefstand im Jahr 1869 nur an einem Tag erreicht wurde. Die niedrigen Wasserstände behinderten die Schifffahrt signifikant. Zusätzlich kam im Winter eine Behinderung durch Frost mit einer durchschnittlichen Dauer von drei Wochen hinzu.Die Fließgeschwindigkeit des Wassers lag abhängig vom Gefälle und vom Wasserstand im Stromschnellenbereich zwischen einem und drei Metern pro Sekunde. Die Flussverhältnisse waren damit für die damaligen Verhältnisse nicht besonders günstig, aber auch nicht übermäßig hinderlich. === Der Schiffstransport === Traditionell erfolgte der Schiffstransport auf dem Neckar bis zum 18. Jahrhundert durch Menschen, die ihre Boote vom Land aus auf Leinpfaden bergwärts zogen. Talwärts ließen die Schiffer ihre Boote mit der Strömung treiben. Mit dem Ausbau der Transportkapazitäten wurden die Schiffe immer größer und die Schifffahrt war auf das Treideln mit Pferden angewiesen. Ein typischer Schiffszug bestand aus einem Hauptschiff mit Mast, einem Ankernachen und einem Rudernachen. Die auf die drei Boote verteilte Ladung betrug dabei typischerweise etwa 120–150 t. Die Besatzung bestand aus Schiffseigner, zwei Matrosen und einem Schiffsjungen. Hinzu kamen sechs bis zehn hintereinander gespannte Zugpferde, die von vier bis fünf Leinreitern geritten wurden.Täglich konnten so etwa 20 km in 5 Stunden zurückgelegt werden, daher wurden für die Strecke Mannheim bis Heilbronn etwa 5,5 Tage gebraucht. Dabei mussten die Pferde an fünf Stellen von einem Ufer auf das andere übergesetzt werden, und an einzelnen Stellen waren zusätzliche weitere Vorspannpferde nötig. Der Lohn für die Reiter wurde individuell mit dem Schiffseigner ausgehandelt und variierte in Abhängigkeit von Wasserstand und Nachfrage. Die Betriebskosten waren somit kaum planbar. Erst ab 1863 wurden Verträge mit einer Laufzeit von jeweils einem Jahr geschlossen. Diese konnten einen stetigen Anstieg der Kosten jedoch nicht verhindern. Größtenteils deckten die Erlöse für die Fracht kaum die Transportkosten. Teilweise war die Bergfahrt defizitär und konnte durch die Talfahrt nur bedingt ausgeglichen werden.Die wesentlichen Transportgüter zu Berg waren Kohle und Kolonialwaren, und zu Tal bestand die Ladung in erster Linie aus Koch- und Steinsalz aus den Salzwerken Friedrichshall und Wimpfen, Bau- und Nutzholz, Steinen aus den Odenwaldbrüchen, sowie Getreide. Die Gesamttransportmenge auf dem Neckar erhöhte sich in Heilbronn deutlich von 25600 t (1836) über 79600 t (1854) auf etwa 115000 t (1872). Gleichzeitig entwickelte sich durch die Eisenbahn eine immer deutlichere Konkurrenz für die Schiffer. Der Ausbau der Eisenbahnrouten erfolgte vor allem auf den Strecken Mannheim–Heidelberg (1840), Heidelberg–Neckargemünd–Meckesheim–Neckarelz–Mosbach (1862), Meckesheim–Rappenau (1868) und Rappenau–Jagstfeld (1869). Die Bahn bot günstige Preise und hohe Geschwindigkeit. Für die Schiffer standen somit geringeren Einnahmen immer höhere Kosten gegenüber, so dass befürchtet wurde, die Schifffahrt könnte in wenigen Jahren vollständig zum Erliegen kommen.Erste Versuche, die Schifffahrt auf Dampfbetrieb umzustellen, gab es bereits 1841 mit einem Raddampfer. Diese scheiterten jedoch an den schwierigen Verhältnissen des Neckars. Der geringe Wasserstand, die engen Krümmungen und die starke Strömung im Bereich der zahlreichen Stromschnellen machten einen Einsatz je nach Wasserstand unmöglich oder zumindest unrentabel. == Kettenschifffahrt == === Planung und Konzession === Durch die zunehmende Konkurrenz der Eisenbahn sahen die Heilbronner Kaufleute die Bedeutung ihrer Stadt als wichtigen Warenumschlagplatz am Endpunkt des schiffbaren Neckars gefährdet und suchten nach einem wirtschaftlichen Transportmittel auf dem Wasserweg. Ohne die Schifffahrt als einzigen Konkurrenten der Eisenbahn wären Preiserhöhungen absehbar gewesen. Außerdem hatte sich die Gefahr eines Eisenbahn-Verkehrsmonopols während des Deutsch-Französischen Krieges (1870–1872) gezeigt. Durch die militärisch beanspruchte Eisenbahn kam der zivile Gütertransport auf dem Landweg zum Erliegen und konnte nur durch die Schifffahrt aufrechterhalten werden.Daraufhin gründete der Heilbronner Handelsvorstand 1872 ein provisorisches Komitee zur Einführung der Kettenschifffahrt auf dem Neckar. Zur Untersuchung der Situation am Neckar griff das Komitee auf die Hilfe des Direktors der Kettenschleppschiffahrt der Oberelbe, Ingenieur Ewald Bellingrath, des Straßen- und Wasserbauinspektors Baurat von Martens aus Stuttgart und Max Honsell als Mitglied der badischen Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus zurück. Alle drei kamen zu dem Ergebnis, dass allein die Kettenschifffahrt, wie sie bereits seit 1866 auf der Elbe praktiziert wurde, aus technischer und finanzieller Sicht auf dem Neckar vorteilhaft wäre. Bei dieser Technik ziehen sich Kettendampfer zusammen mit einem angehängten Schleppzug entlang einer im Fluss versenkten Stahlkette. Die Seilschifffahrt sei hingegen aufgrund der geringen Wassertiefe und der engen Kurven ungeeignet.Das Komitee beantragte am 2. Oktober 1872 die Konzession für die Kettenschifffahrt bei der württembergischen Regierung, die daraufhin offizielle Verhandlungen mit den Regierungen der beiden anderen Uferstaaten Baden und Hessen aufnahm. Als die Konzession Ende 1873 in sicherer Aussicht stand, gab es jedoch Probleme, das notwendige Aktienkapital aufzubringen. Durch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der letzten beiden Jahre war viel freies Kapital in Unternehmen gebunden und die Bereitschaft, in neue Projekte zu investieren, war gering. Aus diesem Grunde bat das Komitee um einen Zuschuss oder zumindest um die Übernahme einer Staatsgarantie seitens des württembergischen Königshauses. In dem entsprechenden Schreiben des Heilbronner Schultheißes Karl Wüst hob dieser im Mai 1874 hervor, dass die Zukunft Heilbronns vom Erhalt der Schifffahrt abhänge und der Staat Württemberg auch als Eigentümer von Salinen und Forst ein deutliches Interesse an einer konkurrenzfähigen Neckarschifffahrt haben sollte.Das daraufhin am 1. Juli 1876 beschlossene Garantiegesetz sah die Übernahme einer Staatsgarantie für eine Aktiengesellschaft zur Errichtung einer Ketten- und Kabelschifffahrt auf dem Neckar durch den württembergischen Staat vor. Der Staat garantierte für die Dauer von 20 Jahren einen Jahreszuschuss von bis zu 5 % des einbezahlten Aktienkapitals zu gewähren, sofern die Jahreserträge der Gesellschaft nicht ausreichen sollten, die Betriebskosten sowie eine fünfprozentige Dividende für die Aktionäre zu decken. Gleichzeitig verpflichtete sich die Aktiengesellschaft, bei einem Reingewinn größer 6 % früher geleistete Zuschüsse zurückzuzahlen. Sofern frühere Zuschüsse nicht zu erstatten seien, sei der Staat zu 50 % am Überschuss zu beteiligen.Im Sommer 1877 konnte eine Subskription von fünfprozentigen Aktien festgesetzt werden. Von den 6000 angebotenen Aktien mit einem Nennwert von jeweils 300 Reichsmark erwarb die Stadt Heilbronn 500 Stück. Nach der Sicherung des Grundkapitals wurde auf der konstituierenden Versammlung der Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG der Vorstand der Aktiengesellschaft mit Leitung des Kaufmanns Louis Link und dem inzwischen zum Oberbürgermeister ernannten Karl Wüst gewählt. Noch im selben Jahr erhielt die Gesellschaft die auf 34 Jahre festgesetzte Konzession von Hessen (27. August), Baden (22. September) und Württemberg (1. November). Inhalt der gleichlautenden Konzessionen war insbesondere das Bestreben, einer einseitigen Bevorzugung einzelner Schiffe vorzubeugen. So seien alle für den Schleppbetrieb tauglichen Fahrzeuge in der Reihenfolge ihrer Anmeldung zu befördern. Der Tarif für den Transport war in Absprache mit dem Ministerium festzulegen. Dieser war aufgeteilt in eine Gebühr zum Schleppen des leeren Kahns und einen gewichtsabhängigen Teil für die Ladung. === Betrieb === Am 23. Mai 1878 stand bei Wimpfen ein reich beflaggter Schleppzug, das Kettenschiff Nr. I mit einem Zug leerer Neckarfahrzeuge für die wohl über 500 geladenen Gäste, bereit zur Festfahrt. Unter den Gästen befanden sich Staatsminister von Sick sowie weitere hohe Beamte und Abgeordnete der Anliegerstaaten. Am Folgetag fuhr der Kettendampfer nach Mannheim. Von dort startete er mit neun Kähnen im Anhang (Gesamtzuladung 360 t) seine erste richtige Schleppfahrt und erreichte Heilbronn am 27. Mai. Die Fahrzeit verkürzte sich gegenüber dem Pferdezug auf etwa die Hälfte. Gleichzeitig reduzierten sich die Kosten deutlich. Die Schifffahrt wurde wieder konkurrenzfähig. Am 15. Juni 1878 besichtigte König Karl I. die Einrichtung und fuhr von Neckarsulm nach Heilbronn mit. In den darauffolgenden Monaten wurde bis September je ein neuer Kettendampfer in Dienst gestellt. Der fünfte Kettendampfer kam 1880 dazu.Die Schiffer nahmen den neuen Kettenschleppdienst schnell an. In den Jahren 1878 bis 1883 stieg die Zahl der geschleppten Fahrzeuge und die transportierte Ladung stetig. Mitte der 1880er Jahre konnte der Bergverkehr auf dem Neckar gegenüber der Mitte der 70er Jahre etwa verdoppelt werden, obwohl die neuen, parallel zum Fluss verlaufenden Eisenbahnstrecken Neckargemünd-Eberbach-Neckarelz-Jagstfeld (1879) und Jagstfeld-Heilbronn (1882) in Betrieb gingen. Die an die Aktionäre ausgezahlten Renditen lagen bei steigenden Einnahmen der Gesellschaft zwischen 5,5 und 6,6 %. Im Jahre 1884 kam es zu einem leichten Einbruch im Schiffsverkehr. Aufgrund einer langanhaltenden, extremen Trockenheit war der Wasserspiegel das ganze Jahr über sehr niedrig und erreichte zweimal den niedrigsten Stand von nur 45 cm. Nicht nur der geringe Niederschlag, sondern auch die Wasserentnahme durch Landwirte und das Aufstauen der Wasserwerke in der Nachtzeit sorgten dafür, dass die Kettenschlepper ihre Fahrt wegen Wassermangels immer wieder unterbrechen mussten. Kohle und Trossen der Kettendampfer wurden so weit als möglich auf Tenderschiffe ausgelagert, um den Tiefgang zu reduzieren. So konnte der Schifffahrtsbetrieb bis zu einer minimalen Wassertiefe von 50 cm aufrechterhalten werden.Die Schleppschifffahrtsgesellschaft achtete mit ihrer Preisgestaltung unter Wahrung ihrer eigenen Rentabilität zu aller Zeit darauf, dass die Schiffer ihre Dienste zu konkurrenzfähigen Preisen gegenüber der Eisenbahn anbieten konnten und gleichzeitig ein vernünftiges Auskommen hatten. So gewährte sie den Schiffern zum Beispiel Rabatte bei niedrigen Wasserständen. Der Staat Württemberg selbst hatte ein eigenes Interesse, den Neckarhandel voranzutreiben. Die Einnahmen vom Handel in Heilbronn wie auch die Einnahmen aus dem Kettenschleppdienst kamen dem Staat Württemberg direkt zugute. Das führte dazu, dass bei gleichen Kosten die Schifffahrt bevorzugt wurde und so die württembergische Staatseisenbahn angewiesen wurde, ihre Kohle per Schiff bis Heilbronn zu transportieren. Dafür wurden von der Schleppschifffahrtsgesellschaft in Heilbronn eigens drei Dampfkräne zum Entladen der Schiffe gebaut. Nachdem eine Kammer der 1821 errichteten Wilhelm-Kanal-Schleuse im Jahr 1884 für die Durchfahrt eines Kettendampfers auf 48 m Länge und 7 m Breite vergrößert worden war, wurde auf Anregung des Aufsichtsrates des Zementwerks in Lauffen die Kettenschifffahrt bis 12 km oberhalb Heilbronns erweitert. Technisch gesehen waren die Bedingungen für diese zusätzliche Strecke einfacher als für einzelne, bereits für die Kettenschifffahrt genutzten Flussabschnitte. Finanziell erhoffte sich die Gesellschaft zusätzliche Einnahmen durch den in Aussicht gestellten Transport von Kalksteinen, Kohle und Koks nicht nur für die neue Strecke, sondern auch auf bestehenden Streckenabschnitten. Die Investitionskosten für Betriebsmittel waren hingegen sehr gering. Die benötigte Kettenlänge stand noch als Lagerbestand zur Verfügung. Durch die Abnutzung der Kettenglieder an deren Berührungsflächen kam es zu einer Längung der Kette, die pro Kettenglied gering, über die Gesamtlänge der Kette jedoch beträchtlich war. Daher wurden innerhalb der Jahre immer wieder Kettenstücke herausgetrennt und gelagert. Zusätzlich unterlag die Kette in Flussabschnitten mit sehr hoher Strömung und engen Kurven einer erhöhten Belastung und Abnutzung. Da gleichzeitig ein Kettenbruch in jenen Flussabschnitten wesentlich größere Folgen hätte, musste die Kette dort früher ausgetauscht werden. Diese Kettenabschnitte waren jedoch für die neue Strecke mit einer geringeren Zahl von geschleppten Schiffen noch gut zu gebrauchen. Somit rentierte sich die Erweiterung der Strecke bis Lauffen ohne neuerliche Staatsgarantie und wurde 1890 nach einer Erweiterung der Konzession umgesetzt.Im Jahre 1890 machte die Kohle bei der Bergladung etwa zwei Drittel der Ladung aus (inklusive der Lieferungen nach Lauffen). Die Talladung bestand zu etwa drei Vierteln aus Salztransporten, davon etwa die Hälfte aus der Saline Friedrichshall in Jagstfeld.In den Jahren 1892/93 bereitete die anhaltende Trockenheit der Neckarschifffahrt besondere Probleme. Im ersten Jahr musste die Schifffahrt wegen Niedrigwasser teilweise eingestellt werden. Da der Rhein nicht betroffen war, wurde die Ladung in Mannheim direkt auf die Eisenbahn verladen. 1893 war die Situation noch deutlich schlimmer. Regenmangel und die Bewässerung mit Flusswasser ließen den Pegel des Neckars weiter sinken. Der niedrige Wasserstand wurde außerdem für umfangreiche Räumungsarbeiten und Flussbauten genutzt, so dass die Schleppschifffahrt nur etwa 60 % der Arbeitstage ausnutzen konnte. Das führte dazu, dass die Schleppschifffahrtsgesellschaft das erste Mal die Staatsgarantie in Anspruch nehmen musste.Einen ähnlichen Rückschlag verzeichnete die Neckarschifffahrt im Jahr 1895. Auf einen lang anhaltenden, strengen Winter folgte starkes Hochwasser, so dass der Schleppbetrieb erst im April aufgenommen werden konnte. Der trockene Sommer bedingte wiederum eine zeitweise Einstellung des Schleppbetriebs durch Niedrigwasser. Hinzu kam, dass niedrige Wasserstände am Rhein den Nachschub an Gütern teilweise ins Stocken geraten ließen. Die Schleppschifffahrt konnte erneut nur etwa 60 % der Arbeitstage nutzen und musste ein zweites Mal die Staatsgarantie in Anspruch nehmen. Über die Jahre gesehen waren diese Zuwendungen durch den Staat Württemberg jedoch erheblich geringer als die Gewinne, die in anderen Jahren an den Staat abgeführt wurden.Während der Zeit der Kettenschifffahrt hat sich der durchschnittliche Laderaum der gezogenen Schiffe deutlich erhöht. Betrug die maximale Tragfähigkeit pro Schiff 1878 im Mittel noch 55 t, steigerte sich diese bis 1892/93 auf etwa 100 t. Die 130-t-Grenze wurde um 1900 überschritten. Wegen der engen Flussbiegungen und der jahreszeitlich stark schwankenden Wasserführung des Neckars blieben die meisten Schiffe jedoch unter 200 t Tragfähigkeit. == Technische Beschreibung == Die gesamten technischen Angelegenheiten übernahm der bis dahin als Berater des provisorischen Komitees eingesetzte Ingenieur Ewald Bellingrath. Er erarbeitete Pläne, beschaffte die Betriebsmittel und überwachte die technische Ausführung. Er ließ Neckarschiffer auf seinen Kettenschiffen auf der Elbe ausbilden. === Die Kette === Die 115 km lange Schleppkette bestand aus 26 mm starken und 110 mm langen, ovalen Kettengliedern und war auf eine Bruchfestigkeit entsprechend 2,5 t geprüft. 70 km Kette lieferten zwei englische Werke, 35 km kamen aus Frankreich und 7,5 km aus einem deutschen Werk. Hinzu kamen 2 km gebrauchte Kette von der Elbe. Die Kette hatte ein Gesamtgewicht von 1760 t und kostete inklusive Verlegung 592.000 Reichsmark. Die Verlegung begann am 23. März 1878 in Heilbronn. Das Ende der Kette wurde oberhalb der Eisenbahnbrücke im Neckar verankert. Die Kette war durch Reibung und die Zugbelastung einer ständigen Abnutzung ausgesetzt.Die Kette besaß etwa alle 500 m ein Kettenschloss in Form eines Schäkels, an dem sie getrennt werden konnte, ohne einzelne Kettenglieder zu zerstören. Je nach Strömungsverhältnissen des jeweiligen Flussabschnitts musste die Kette nach 10 bis 15 Jahren ausgetauscht werden.Während des Schleppbetriebs zieht sich die Kette im Bereich starker Flussbiegungen leicht Richtung Innenseite der Flusskrümmung. Der talfahrende Kettenschlepper kann die Lage der Kette im Flussbett jedoch korrigieren. === Die Kettendampfer === Eine allgemeine Beschreibung von Kettenschleppdampfern befindet sich im Hauptartikel Kettenschleppschiff. Der Auftrag für den Bau der ersten vier Kettendampfer ging an die Sächsische Dampfschiffahrt- und Maschinenbaugesellschaft in Dresden zu je 69800 Reichsmark. Diese lieferte jedoch nur Kesselanlagen und Maschinen an den Neckar, während die Neckarwerft in Neckarsulm die Schiffskörper fertigte. Gleiches galt auch für den baugleichen fünften Kettendampfer, der 1880 fertiggestellt wurde. Die Neckarwerft wurde 1879 von der Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG für Instandhaltungsarbeiten des eigenen Betriebsmaterials gekauft. Der sechste und siebte Kettendampfer (1884/85) wurden auf der Werft in Neckarsulm geplant und gebaut. Beide Schiffe enthielten eine Kessel- und Maschinenanlage der Maschinenfabrik J. Wolf & Co in Heilbronn.Die Kettendampfer wurden weitgehend nach dem Vorbild der Kettendampfer auf der Elbe konstruiert. Die Kette wurde am Bug über bewegliche Ausleger aus dem Wasser gezogen, über zahlreiche Leitrollen zum eigentlichen Antrieb geführt und am Heck des Schiffes über einen weiteren Ausleger wieder im Wasser abgelegt.Die Schiffskörper waren mit einer Länge von 42 bis 45 m und einer Breite von höchstens 6,5 m jedoch deutlich kleiner als auf der Elbe, um den engen Flusskrümmungen des Neckars besser folgen zu können. Auch der Tiefgang von nur 47 cm war auf die niedrigeren Wasserstände des Neckars angepasst. Der Schiffskörper war nur zum Teil aus Eisen. Das Schiffsdeck und der ebene Boden des Schiffes waren aus Holz gefertigt, da dieses bei Havarien als standhafter galt.Der Kettendampfer war durch zwei wasserdichte Schottwände im Inneren in drei Teile unterteilt, die jeweils nur von oben zugänglich waren. Im mittleren Teil befanden sich nebeneinander zwei Dampfkessel mit den dazugehörigen Kohlenbunkern. Die Kessel versorgten die liegend angeordnete Zwillingsdampfmaschine mit Dampf. Die Dampfmaschine mit einer Leistung von 81 kW (110 PS) war wiederum über ein Wechselgetriebe mit dem über Deck befindlichen Kettenwindwerk aus zwei hintereinander angeordneten Trommeln verbunden. Die Kette folgte abwechselnd jeweils dem halben Umfang einer Trommel und dem halben Umfang der anderen Trommel. Insgesamt war die Kette sechs halbe Umfänge um das Windwerk gewickelt. Die Trommeln hatten einen Durchmesser von 1,3 m und waren mit je vier Laufrillen ausgestattet. Über das Wechselgetriebe waren zwei verschiedene Geschwindigkeiten einstellbar. Zu Berg betrug die Geschwindigkeit 4,5–5 Kilometer pro Stunde und zu Tal 10–11 Kilometer pro Stunde.Die anderen beiden Bereiche am Bug und Heck des Schiffs enthielten die Betriebs- und Aufenthaltsräume für die Besatzung. Die 7-köpfige Besatzung bestand aus Kapitän, Steuermann, Maschinist, zwei Heizern und zwei Bootsleuten. An Deck befand sich der überdachte Steuerstand mit zwei Steuerrädern von dem aus die beiden großen Steuerruder an den beiden Bootsenden vorne und hinten bedient wurden. Im Gegensatz zu Kettendampfern auf anderen Flüssen konnten sich die Boote vom Neckar nur an der Kette fortbewegen und besaßen keinen zusätzlichen, von der Kette unabhängigen Antrieb wie Schraube, Seitenräder oder Wasserstrahlantrieb. Während sie bergwärts Schiffe schleppten, korrigierten sie während der Talfahrt ohne Anhang die Lage der Kette im Flussbett.Begegneten sich zwei Kettenschiffe, so war ein kompliziertes Ausweichmanöver notwendig, wobei der zu Tal fahrende Kettendampfer aus der Kette ging und den zu Berg fahrenden Kettendampfer passieren ließ. Dieses Manöver bedeutete für den Schleppverband auf Bergfahrt eine Verzögerung von mindestens 20 Minuten, während das talfahrende Schiff einen Zeitverlust von etwa 45 Minuten erlitt. == Das Ende der Kettenschifffahrt == Durch die geringe Wassertiefe und die engen Krümmungen blieb die Größe der meisten Schiffe auf eine Tragfähigkeit von etwa 200 t beschränkt. Nachhaltigen Erfolg durch Einsatz größerer Schiffe bis 600 t Tragfähigkeit konnte nur eine Kanalisierung des Flusses ermöglichen. Die interessierten Handelskammern und Gemeinden gründeten daher 1897 das „Komitee für die Hebung der Neckarschifffahrt“. Dieses plante nicht nur die Kanalisierung, sondern dachte auch über eine Großschifffahrtsverbindung zwischen Rhein und Donau nach, die über die Flüsse Neckar, Rems, Kocher und Brenz verlaufen sollte. Die bis 1911 ausgestellte Konzession der Kettenschifffahrt wurde daraufhin nur um weitere 10 Jahre verlängert, aber um zusätzliche Bestimmungen erweitert. Die Kettenschleppschifffahrtsgesellschaft erhielt Entschädigungen für die Behinderungen durch die Bauarbeiten und die Schleusen. Gleichzeitig erhielten sie das Recht des alleinigen Schleppbetriebs auf den fertiggestellten Stauhaltungen.Nach Ende des Ersten Weltkriegs begann die Reichswasserstraßenverwaltung mit dem Ausbau des Neckars für Schiffe von 80 m Länge, 10,35 m Breite und 2,3 m Tiefgang, was einer Tragfähigkeit von etwa 1200 t entsprach. Mit der fortschreitenden Inbetriebnahme der einzelnen Staustufen reduzierte sich die Fließgeschwindigkeit und erhöhte sich die Wassertiefe. Beides ließ die Kettendampfer gegenüber anderen Schleppern unrentabel werden. Als Ersatz für zwei Kettendampfer setzte die „Schleppschifffahrt auf dem Neckar AG“ ab 1925 zunächst zwei Schraubendampfschlepper auf den aufgestauten Teilstrecken ein. Diese zogen die Binnenschiffe nicht nur bergwärts, sondern auch talwärts. Im Zuge des weiteren Ausbaus des Neckars folgten bis 1929 drei Motorschlepper. Gleichzeitig wurde die Zahl der Kettendampfer weiter reduziert. Mit der Fertigstellung der Großwasserstraße am 28. Juli 1935 war nach insgesamt 57 Jahren das Ende der letzten Kettendampfer auf der letzten Strecke zwischen Neckargerach und Kochendorf gekommen. == Kuriosa == Eine humorvolle historische Dokumentation findet sich bei Mark Twain, dem berühmten Neckarreisenden: „Es war ein Schlepper, und zwar einer von sehr merkwürdigem Bau und Aussehen. Ich hatte ihn oft vom Hotel aus beobachtet und mich gefragt, wie er wohl angetrieben werde, denn offenbar besaß er keine Schraube oder Schaufeln. Jetzt kam er dahergeschäumt, machte eine Menge Lärm verschiedener Art und steigerte ihn ab und zu noch dadurch, dass er ein heiseres Pfeifen ertönen ließ.“ Der Transport schwerer Lasten und das laute Pfeifen brachte den Kettendampfern auf dem Neckar bei der Bevölkerung den Spitznamen „Neckaresel“ ein.Als Handschuhsheim noch ein reines Bauerndorf war, erzählte man sich diese Geschichte: Die Bauern hörten eines Tages auf ihren Feldern ein bedrohliches Geräusch, das wie das Brüllen eines Löwen klang. Die Bauern rückten, mit Dreschflegeln und Sensen bewaffnet, aus, um den Löwen zu fangen. Doch das vermeintliche Löwengebrüll entpuppte sich als das Signal des ersten Dampfschleppers (1878) auf dem Neckar, der mit seinem Schiffshorn die staunenden Anwohner grüßte. Die Handschuhsheimer tragen seither auch den Namen „Die Löwen“. == Museen mit Ausstellungen zur Kettenschifffahrt auf dem Neckar == Das Haus der Stadtgeschichte und die Städtischen Museen Heilbronn widmen sich in ihrer Ausstellung Heilbronn historisch! Entwicklung einer Stadt am Fluss mit diversen Exponaten, darunter einem Teil der originalen Kette, der Kettenschifffahrt auf dem Neckar.Das Technoseum (Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim) und die Städtischen Museen Heilbronn besitzen Modelle von Neckar-Kettenschiffen.Im Schifffahrtsmuseum des „Schifferverein Germania Hassmersheim 1912 e.V.“ steht ein etwa 4,5 m langes Diorama, das einen Kettenschleppverband darstellt. Dieses stand ursprünglich im Schifffahrtsmuseum der Stadt Heilbronn. == Literatur == Willi Zimmermann: Heilbronn – der Neckar: Schicksalsfluß der Stadt. Verlag Heilbronner Stimme, Heilbronn 1985 (Reihe über Heilbronn, 10), ISBN 3-921923-02-6. Hanns Heiman: Die Neckarschiffahrt seit Einführung der Schleppschiffahrt. Schmitz & Bukofzer, Berlin 1905, OCLC 674274956 (Volltext online in Browser, kostenfrei, 118 Seiten, diverse Formate zum Download, 14 Dateien bei archive.org; – Dissertation Universität Heidelberg 20, März 1906, 102 Seiten (auch in: Heiman: Die Neckarschiffer, Teil 2, Winter, Heidelberg 1907)). Helmut Betz: Die Schleppschiffahrt auf dem Neckar. In: Navalis. Nr. 2. Knoll Maritim-Verlag, Berlin 2005, ISSN 1613-3646. Willi Zimmermann: Über Seil- und Kettenschiffahrt. In: Beiträge zur Rheinkunde. Rhein-Museum Koblenz, 1979, ISSN 0408-8611. Helmut Betz: Historisches vom Strom Band. V: Die Neckarschiffahrt vom Treidelkahn zum Groß-Motorschiff, Krüpfganz, Duisburg 1989, ISBN 3-924999-04-X == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschifffahrt_auf_dem_Neckar
Kettenschifffahrt auf Elbe und Saale
= Kettenschifffahrt auf Elbe und Saale = Die Kettenschifffahrt auf Elbe und Saale war eine spezielle Art des Schiffstransports, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die motorisierte Binnenschifffahrt auf Elbe und Saale dominierte. Dabei zog ein Kettenschleppschiff mehrere Schleppkähne entlang einer im Fluss verlegten Kette. Bis die Kettenschifffahrt ab 1866 die Binnenschifffahrt in Deutschland zunächst an der Elbe revolutionierte, war das Treideln die vorherrschende Antriebsart stromaufwärts fahrender Schiffe. Nach dem Ausbau der Kette fuhren auf einer Gesamtlänge von 668 Kilometern (Hamburg bis Aussig in Böhmen) bis zu 28 Kettenschlepper die Elbe stromaufwärts. Ab 1890 ging die Bedeutung der Kettenschifffahrt im Bereich der unteren Elbe zugunsten von Raddampfschleppern immer weiter zurück und wurde hier bis 1898 vollständig eingestellt. Auf der Oberelbe konnte sie sich noch bis 1926/27 halten und wurde danach in Deutschland bis 1943 nur noch lokal in drei kurzen, besonders schwierigen Abschnitten der Elbe eingesetzt. Von 1943 bis 1945 war als letzter Streckenabschnitt in Deutschland nur noch jener kurze Abschnitt in Magdeburg vorhanden, an dem die Kettenschifffahrt auf der Elbe ihren Anfang genommen hatte. In Böhmen wurde sie noch bis 1948 eingesetzt. Auf der Saale gab es die Kettenschifffahrt von 1873 bis 1921. == Verbreitung der Kettenschifffahrt == === Elbe === Vor der Zeit der Kettenschifffahrt wurden diejenigen Schiffe, welche stromaufwärts fahren wollten und in der Strömung weder durch Rudern noch durch Segeln vorwärts gebracht werden konnten, stromaufwärts gezogen. Diese als „Treideln“ (sächsisch „bomätschen“) bezeichnete Fortbewegung garantierte vielen Menschen Arbeit. An vielen Flussabschnitten wurden die Schiffe direkt durch Muskelkraft mehrerer Männer (in Sachsen als „Bomätscher“ bezeichnet) oder Pferde von Land aus gezogen. Am 16. Juni 1864 erhielt die „Vereinigte Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Compagnie“ – Martin Graff war der Direktor dieser Gesellschaft – die Konzession für die Kettenschifffahrt auf der Elbe. Der erste Kettenschleppdampfer, die von der eigenen Werft in Buckau nach französischem Vorbild erbaute „Nr. 1“, wurde am 15. August 1866 im Bereich der Magdeburger Brücken zwischen Magdeburg-Neustadt und Buckau zur Erprobung eingesetzt. Auf diesem etwa fünf Kilometer langen Teilstück weist die Elbe wegen des Domfelsens eine besonders hohe Strömungsgeschwindigkeit auf. Die Tests verliefen erfolgreich und es kam zum regelmäßigen Betrieb auf dieser Strecke. Aufgrund der hohen Anschaffungskosten erfolgte der Ausbau der Kette durch die „Vereinigte Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Compagnie“ nur relativ langsam. Bis 1868 wurde die 51 Kilometer lange Kette zwischen Magdeburg und Ferchland verlegt, 1872 zwischen Ferchland und Wittenberge (77 Kilometer) und erst 1874 zwischen Wittenberge und Hamburg (165 Kilometer).Anders war die Situation auf der Oberelbe. Verantwortlich war hier das Unternehmen „Kettenschleppschiffahrt der Oberelbe“ (KSO) unter der Leitung des Ingenieurs und Generaldirektors Ewald Bellingrath in Dresden. Dieser hatte klar erkannt, dass eine Revolution der bis dahin unbedeutend gewordenen Elbschifffahrt nur mit dem Einsatz moderner Technik erfolgen konnte. In dem Artikel Die Kettenschifffahrt auf der Elbe von A. Woldt heißt es zur ersten Probefahrt in Dresden: Schon wenige Monate später beantragte Bellingrath die sächsische, anhaltische und preußische Kettenkonzession, die ihm nach zähen Bemühungen und Überwindung aller politischen und behördlichen Schwierigkeiten noch im selben Jahr (Dezember 1870) für die Elbstrecke von Magdeburg bis Schandau an der böhmischen Grenze erteilt wurde. Bereits am 1. Oktober 1871, das heißt nur etwa zehn Monate später, ging der Schleppbetrieb auf dieser 330 Kilometer langen Strecke mit neun Kettendampfern in Betrieb. Später sorgte Bellingrath auch für die weitere Verbreitung der Kettenschifffahrt auf anderen Flüssen in Deutschland und er wird daher häufig auch als „Vater der Kettenschifffahrt“ bezeichnet.Die „Prager Dampf- und Segelschifffahrts-Gesellschaft“ erweiterte 1872 den Kettenbetrieb ab der böhmischen Grenze bis Aussig und startete mit zwei Kettenschleppern. 1879 kam auf dieser Strecke ein dritter Kettenschlepper hinzu, so dass pro Tag zwei bis drei Schleppzüge mit durchschnittlich sieben bis acht Kähnen im Anhang von Schandau flussaufwärts fuhren. 1882 ging die Gesellschaft in den Besitz der „Österreichischen Nordwest-Dampfschifffahrts-Gesellschaft“ über. Im Jahr 1895 soll die Kette sogar auf einer 777 Kilometer langen Strecke von Hamburg und über Elbe und Moldau bis nach Prag gereicht haben, wobei allerdings nur auf dem Abschnitt von Hamburg bis Aussig ein umfangreicher und stetiger Betrieb stattfand.1881 kaufte Bellingraths KSO die „Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft“ und die „Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Compagnie“ und fusionierte mit diesen zur „Kette – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft“. Sie wurde von Bellingrath geleitet und war für den gesamten deutschen Elbkettenbetrieb von Hamburg bis zur böhmischen Grenze (630 Kilometer) zuständig. === Saale === 1871 wurde in Artern ein „Dampf- und Schleppschifffahrtsverein auf Saale und Unstrut“ gegründet. Geplant war, kurze Streckenabschnitte mit Kette oder Seil zu versehen. Zu einer Umsetzung durch diese Gesellschaft kam es jedoch nie.Auf der Saale wurde 1873 die 21 km lange Strecke von der Mündung der Saale in Barby bis nach Calbe in Betrieb genommen und damit ein Anschluss an die Kette in der Elbe hergestellt. Ein weiterer Ausbau wurde aufgrund des schwierigen Fahrwassers und der flussaufwärts folgenden sieben Schleusen vorerst zurückgestellt. Das Land Anhalt und vor allem die Stadt Halle drängten auf eine Verlängerung der Kette. Preußen sah einen Ausbau jedoch erst dann für sinnvoll an, wenn die Kette nach dem Bau des Elster-Saale-Kanals bis Leipzig reichen würde. Nach langen Verhandlungen wurde 1881 die versuchsweise Verlängerung der Kette auf 105 km und damit bis Halle beschlossen; dies wurde im Jahr 1884 umgesetzt.Die Kettenschifffahrt auf der Saale erlitt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen starken Rückgang und wurde 1921 gänzlich eingestellt. Die Kette wurde 1922 aus der Saale genommen. == Auswirkungen der Kettenschiffe auf die Elbschifffahrt == Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Eisenbahnen zu einem flächendeckenden Netz und stellten zunehmend eine Konkurrenz für die Treidelschifffahrt dar. Die Elbschifffahrt hatte die Belastung durch den Elbzoll und die natürlichen Hindernisse des Wasserweges bis dahin in Kauf genommen, weil sie gegenüber den Landstraßen trotzdem im Vorteil war. Der Elbzoll betrug auf der Strecke von Hamburg nach Sachsen mehr als die Hälfte, bis nach Böhmen sogar 70 % der Gesamtkosten. Schwankende Wasserstände und Veränderungen des Flusslaufes sowie Wind und Wetter hatten zudem Transportverzögerungen und nicht selten Verluste von Schiffen und Ladung zur Folge. Die Eisenbahn transportierte Waren schneller, zuverlässiger und wegen der Zollfreiheit auch billiger als das Schiff. Die fortschreitende Industrialisierung bescherte zwar beiden Transportarten ein Wachstum, doch der Zuwachs auf Seiten der Eisenbahn war deutlich größer. Hinzu kam, dass besonders die mit vollem Zoll belegten Waren die Elbe verließen und zur Bahn wechselten. Diese Güter waren zugleich auch die hochwertigeren Güter, deren Transport den höchsten Erlös eingebracht hatte. Der Schiffsverkehr beschränkte sich zunehmend auf Massengüter wie zum Beispiel Roheisen, Kohle, Guano und Salpeter. Erst 1863 konnte der Elbzoll bedeutend gesenkt und 1870 vollständig aufgehoben werden. Die Kettenschleppschifffahrt revolutionierte die Elbschifffahrt, die bis dahin über Jahrhunderte vom Treideln geprägt gewesen war. Der Segelbetrieb wurde eingestellt oder nur noch als Notbehelf eingesetzt. Die schwere Takelage wurde überflüssig und konnte durch zusätzliche Ladung ersetzt werden. Die Besatzung auf den Kähnen reduzierte sich um mehr als die Hälfte. Der Schiffer wurde von vielen ungünstigen Witterungsverhältnissen unabhängig. Die Anzahl der möglichen Fahrten eines Schiffes erhöhte sich fast auf das Dreifache. Statt zwei Reisen wurden jährlich sechs bis acht Reisen durchgeführt oder statt 2500 km jährlich bis zu 8000 km zurückgelegt. Die Lieferfristen wurden demgemäß verkürzt und zuverlässiger eingehalten und die Kosten sanken, sodass manche Güter, welche auf die Eisenbahnen übergegangen waren, wieder zum billigeren Wasserweg wechselten.Ähnliche Veränderungen hätten sehr wohl auch durch Radschleppdampfer erfolgen können, aber die Konzessionen der Kettenschifffahrt garantierten den Schiffern die allzeitige Beförderung zu festgelegten Preisen und dadurch eine ausreichende Sicherheit, den Segelbetrieb einzustellen und zum Schleppbetrieb überzuwechseln. Die Größe der Kähne, die zu jener Zeit üblicherweise bei einer Ladungsmenge von etwa 100 Tonnen lag, konnte vergrößert werden. Etwa zehn Jahre nach der Einführung der Schleppschifffahrt wurden Kähne mit einer typischen Tragfähigkeit von etwa 500 Tonnen gebaut.Die Frachtmenge blieb über einen sehr langen Zeitraum zwischen 1830 und 1874 praktisch konstant. So transportierten die Schiffe von Hamburg bergwärts jährlich etwa 7 bis 8 Millionen Zentner (350.000–400.000 Tonnen). Der Schiffsverkehr talwärts nach Hamburg war mit etwa 6 Millionen Zentnern (300.000 Tonnen) etwas geringer. Nach der Vollendung der Kettenschifffahrt stieg die Frachtmenge stetig an und erreichte nach zehn Jahren etwa das Vierfache, nämlich 28 Millionen Zentner (1,4 Millionen Tonnen) bergwärts und 24 Millionen Zentner (1,2 Millionen Tonnen) talwärts. == Konzessionsbedingungen und Wettbewerb == Um die Kettenschifffahrt betreiben zu können, benötigte die für den Kettenschleppbetrieb verantwortliche Gesellschaft vom zuständigen Land eine Konzession, in der unter anderem die Rechte und Pflichten gegenüber den Schiffern geregelt waren. Die Paragraphen 10 bis 13 der Konzessionsbedingungen für die „Kettenschleppschifffahrt der Oberelbe“ (KSO) regelten den Tarif. Hiernach bedurfte es für jede Tarifanpassung der Zustimmung und Genehmigung des Finanzministeriums. Tarife wurden außerdem für mindestens ein Jahr festgeschrieben und konnten während dieser Zeit nicht verändert werden. Die Beförderungsgebühren waren unabhängig von der transportierten Ware proportional zur Schleppentfernung zu berechnen. Außerdem wurden die Kettenschifffahrtsgesellschaften kritisch vom Finanzministerium überwacht. Alle fünf Jahre wurde überprüft, dass der jährliche Reinertrag einen Wert von 10 Prozent des nachweislich in dem Unternehmen angelegten Kapitals nicht überstieg. War der Gewinn zu hoch, so wurden die Tarife vom Finanzministerium herabgesetzt.Durch diese Bestimmungen war die Freiheit der Kettenschifffahrtsgesellschaften sehr eingeschränkt und sie konnten nicht so flexibel auf Veränderungen am Markt reagieren. Die anderen Schlepparten konnten im Gegensatz zur Kettenschifffahrt die Tarife frei nach Angebot und Nachfrage gestalten, die Kosten an die transportierte Frachtmenge anpassen oder Sonderkonditionen mit einzelnen Kunden aushandeln.Noch einschneidender waren jedoch die Paragraphen 6 und 9 der Konzessionsurkunde. Der Unternehmer war gehalten, jedes beladene oder unbeladene Fahrzeug nach der Reihenfolge seiner Anmeldung zu befördern und zwar ohne Unterschied, über welche Strecke das Fahrzeug geschleppt werden sollte. Der Kettenschifffahrtsgesellschaft war es zwar gestattet, auch Waren oder Fahrzeuge auf eigene Rechnung zu befördern, fremde Fahrzeuge hatten jedoch unter allen Umständen, auch wenn sie später angemeldet worden waren, den Vorzug in der Beförderung. Das führte quasi zur Unterbindung des eigenen Frachtschifffahrtsgeschäfts.Die Kettenschifffahrt stand in direktem Wettbewerb zu den Radschleppdampfern und der Eisenbahn. Allerdings konkurrierten auch die beiden deutschen Kettenschleppschifffahrts-Gesellschaften in Magdeburg und Dresden selbst miteinander. Die „Vereinigte Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Compagnie“ hatte Anfang der 1870er-Jahre zur Einführung der Kettenschleppschifffahrt zwischen Magdeburg und Hamburg sämtliche früheren Radschleppdampfer verkauft. Damit wurde ihr allerdings der Schleppverkehr oberhalb von Magdeburg unmöglich gemacht. Die gesamte Schleppkundschaft, die nicht nur bis Magdeburg, sondern weiter elbaufwärts wollte, konnte nur bis Magdeburg bedient werden. Hier wurden die Schiffer ihrem Schicksal überlassen, die infolgedessen oft mehrere Tage auf einen Weitertransport warten mussten. Die Dresdner KSO handelte offensiv und eröffnete in Hamburg ein eigenes Verfrachtungsbüro mit dem Ziel, die Schleppkundschaft schon in Hamburg zu binden. Als Schleppkraft für die Strecke Hamburg–Magdeburg nutzte man einen eigenen Raddampfer und verpflichtete zwei weitere durch Vertrag. Den Schiffern wurde so ein nahtloser Transport von Hamburg bis an die böhmische Grenze garantiert.Nachdem der Druck der Konkurrenz durch die Radschleppdampfer immer größer geworden war, gelang es der KSO 1879, eine Lockerung der Konzession zu erreichen. Die Regierung genehmigte die Neuerung, dass die Gesellschaft nicht mehr verpflichtet war, solche Fahrzeuge zu schleppen, deren Eigentümer selbst gewerbsmäßig Radschleppschifffahrt betrieben. Ferner wurde ihr erlaubt, die Tarifsätze nach Bedarf selbst anzupassen. Der enorme Konkurrenzkampf beeinflusste die Ergebnisse der beiden Kettengesellschaften ungünstig und es kam 1880 zu einer Annäherung dieser beiden und dem Abschluss gemeinsamer Verträge. 1881 kaufte die KSO die „Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft“ und die „Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Compagnie“ und fusionierte mit diesen am 1. Januar 1882 zur „Kette – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft“. == Technische Ausstattung == === Kette === Die Kette für die Kettenschleppschifffahrt auf der Elbe wurde von allen drei Kettenschifffahrts-Gesellschaften überwiegend aus England importiert. Die Magdeburger Gesellschaft hatte darüber hinaus einen Teil der Kette von Hamburg bis Wittenberge aus Frankreich bezogen. Grund für den Import war die notwendige hohe Qualität der Feuerschweißung der vorgebogenen Kettenglieder. Diese konnte zu Beginn der Kettenschifffahrt in Deutschland durch inländische Produktion nicht gewährleistet werden. Im Jahr 1880 versuchte die Kettengesellschaft Oberelbe eine selbstständige Herstellung der Kette in ihrer Werft, der Schiffswerft Übigau. Es wurden 3500 Meter Kette gefertigt. Eine gleichbleibende hohe Qualität in der Massenfertigung konnte jedoch nicht erreicht werden.Die Kette in der Elbe war eine steglose Schiffskette, deren Kettenglieder die 4,5-fache Länge der Rundeisendicke besaßen. Am Anfang der Kettenschifffahrt auf der Elbe wurde meist eine 22 Millimeter starke Kette verwendet. An einigen Streckenabschnitten wurde zum Teil aber auch eine 25 Millimeter starke Kette eingesetzt. Als Kettenmaterial wurde ein Rundeisen mit niedrigem Kohlenstoffgehalt verwendet.Auf der etwa 330 Kilometer langen Strecke von Magdeburg bis zur böhmischen Grenze hatte sich die Kette innerhalb von nur drei Jahren durch Dehnung und Abnutzung um eine Länge von 7500 Metern gereckt. Viele Kettenabschnitte mussten vorzeitig ausgetauscht werden, so dass nach zehn Jahren nur noch etwa 12 Kilometer der ursprünglichen Kette im Einsatz waren. Häufig brach die stark abgenutzte Kette und musste auf dem Kettenschiff repariert werden. Die Kettenabschnitte wurden durch Ketten mit Stärken von 25 und 27 Millimetern ersetzt. Zum leichteren Austausch von Kettenabschnitten befanden sich im Abstand von 400 bis 500 Metern Schäkel („Kettenschlösser“ genannt), an denen die Kette einfacher geöffnet werden können sollte. Diese „Kettenschlösser“ sollten auch geöffnet werden, wenn sich zwei Kettenschiffe an einer Kette begegneten. Korrosion und Streckung der Kette, die auch bei normaler Nutzung auftrat, führten dazu, dass die Kettenschlösser nicht mehr geöffnet werden konnten, so dass man dazu überging, die Kette einfach an einem normalen Kettenglied zu trennen. Hierfür wurde ein Glied mit einer Zange aufrecht auf den Ausleger gestellt und durch Schläge mit einem Vorschlaghammer so stark gestaucht, dass es aufriss und mit einer Brechstange bis zum Durchziehen des folgenden Kettengliedes geweitet werden konnte. Nach der Beendigung des Manövers wurde die Kette mit einem Kettenschloss wieder geschlossen. Begegneten sich zwei Kettenschiffe, so war ein kompliziertes Ausweichmanöver notwendig, bei dem die Kette über eine Hilfskette, die sogenannte Wechselkette, die jeder Kettenschlepper mitführte, an den anderen Schlepper übergeben wurde. Dieses Manöver bedeutete für den Schleppverband auf Bergfahrt eine Verzögerung von mindestens 20 Minuten, während das talfahrende Schiff durch das Manöver einen Zeitverlust von etwa 45 Minuten erlitt.Später, als die Begegnungsfrequenz der Kettenschlepper stieg, erhielten die Kettenschlepper (Nr. 5–10, XXI und XIII) Doppelpropeller, mit denen sie fast ohne Zeitverluste zu Tal fahren konnten. Erst hier mussten sie sich wieder einschäkeln. === Kettenschleppdampfer === Die Kettenschleppdampfer der Elbe, auf den Schiffswerften in Magdeburg, Dresden, Roßlau und Prag gebaut, waren den Bedingungen der unregulierten Elbe angepasst und konnten mit einem guten Wirkungsgrad ihre relativ geringe Maschinenleistung in Schleppleistung umsetzen.Der in Magdeburg 1866 eingesetzte Kettendampfer No. 1 wurde von der Maschinenfabrik und Schiffswerft der Vereinigten Magdeburger Schiffahrts-Compagnie in Magdeburg-Buckau gebaut. Er war mit Ausnahme des Verdecks vollständig aus Eisen konstruiert, 51,3 m lang, 6,7 m breit und hatte 48 cm Tiefgang. An beiden Enden besaß er Steuerruder, die von der Mitte des Schiffes aus gemeinsam bewegt werden konnten. Mit Hilfe dieser Steuerung sowie zweier an jedem Schiffsende angebrachter beweglicher Arme, welche die Kette zwischen Rollen aufnahmen und in horizontaler Richtung um fast 90° drehbar waren, war es möglich, das Schiff auch in anderer als der Richtung der Zugkette zu steuern, ohne dass dadurch die Aufwicklung der Kette gestört wurde. Dies war für die Anwendung des Kettenschiffes auf gekrümmten Stromstrecken von großer Bedeutung. Auf dem Deck des Schiffes befanden sich zwei Trommeln von 1,1 m Durchmesser und 2,6 m gegenseitiger Achsenentfernung, von denen jede mit vier Rillen versehen war. Die Kette, die von dem Schiff an dessen Bug aus dem Wasser gehoben wurde, lief in einer schräg aufsteigenden, mit Leitrollen versehenen Rinne zum Trommelwindwerk. Dort schlang sie sich um jede Trommel 3½ Mal, indem sie von der ersten Rille der ersten Trommel auf die erste Rille der zweiten Trommel, dann auf die zweite Rille der ersten Trommel überging, und so weiter. Zuletzt wurde sie in einer schräg abfallenden Rinne an das Heck des Schiffes geleitet und sank dort in das Wasser zurück.Die nachfolgenden Kettenschiffe waren im Grundprinzip ähnlich, allerdings unterschieden sie sich leicht in ihren Abmessungen oder dem Aufbau der Dampfmaschine. Die typische Länge der Schiffe lag bei 38 bis 50 Metern, ihre Breite bei etwa 7 bis 7,5 Metern. Ab dem Jahr 1872 erhielten die meisten der Kettenschiffe einen zusätzlichen Doppelschraubenantrieb, der es ihnen ermöglichte, die Talfahrt „frei“ – das heißt ohne Kette – durchzuführen. Das schonte die Kette deutlich.Eine andere Veränderung erfolgte, nachdem Bellingrath erkannt hatte, dass die Kettenbrüche zu einem großen Teil durch Abnutzungserscheinungen am Trommelwindwerk verursacht wurden. Er konstruierte 1892 das nach ihm benannte Kettengreifrad. Das erste damit ausgestattete neugebaute Kettenschiff war 1894 die Gustav Zeuner. Sie war außerdem mit einem neuartigen Antrieb in Form von zwei Wasserturbinen nach Gustav Anton Zeuner ausgestattet (dem Vorläufer des heutigen Wasserstrahlantriebs), mit denen das Schiff gelenkt werden konnte und ohne Kette zu Tal fuhr. Mit einer Länge von über 55 Metern und einer Breite von über zehn Metern war das Schiff größer als die vorherigen Kettenschiffe und näherte sich in seinen Abmessungen schon den kleineren Radschleppdampfern.Für die Saale mit ihren vielen engen Windungen und schmalen Schleusen brauchte man hingegen kleine Kettenschiffe mit unter 40 Metern Länge und unter 6 Metern Breite. Nur eines der älteren Kettenschiffe der Elbe erfüllte diese Bedingungen und wurde ab 1873 auf der unteren Saale eingesetzt. Nach der Verlängerung der Kette bis Halle wurden für andere Flüsse gebaute Kettenschiffe hinzugekauft und eigene Neubauten angefertigt. == Tarife == Die Tarife für Schleppkähne wurden innerhalb der Konzession festgelegt. Die Kosten ergaben sich aus einer Grundgebühr für das geschleppte Fahrzeug und einer additionellen Gebühr für die Ladung. Der Tarif war außerdem abhängig vom befahrenen Flussabschnitt. Während in den gefällereicheren Abschnitten Böhmens erhöhte Tarife von 130 % des Normaltarifes verlangt wurden, galten für die Strecke Hamburg – Magdeburg reduzierte Tarife von nur 50 % des Normaltarifes.Insgesamt ergab sich für den Schiffer im Allgemeinen, dass er auf der Bergfahrt nur einen geringen Gewinn einfuhr (bei einer Leerfahrt sogar mit Verlust arbeitete), während er den Gewinn im Wesentlichen aus den talwärtigen Transporten bezog. == Das Ende der Kettenschifffahrt auf der Elbe == Die Elbschifffahrt hatte sehr unter den verschiedenen Handelsgebräuchen zu leiden. Am Handelsplatz konnte ein Schiffer nicht die sofortige Löschung seiner Ladung verlangen, sondern musste im Gegenteil in Abhängigkeit von der transportierten Menge 12 bis 14 Tage Löschzeit gewähren. Daraus ergab sich, dass von der etwa 300 Tage dauernden Saison nur etwa 75 Tage der eigentlichen Fahrt auf der Elbe dienten, während 225 Tage zum Laden, Löschen und Liegen unter Ladung verwendet wurden. Eine Verbesserung der Lieferfristen durch höhere Schleppgeschwindigkeiten war nur bedingt möglich, solange die Kaufleute die Frachtschiffe als billige Magazine nutzten.Die Kettenschifffahrt war anderen Arten des Schiffsbetriebs überall dort überlegen, wo sich für die Schifffahrt Schwierigkeiten ergaben, wie Stromschnellen, starke Krümmungen des Talweges und Untiefen. Zur Zeit der Kettenschifffahrt betrug die maximal zulässige Schifffahrtstiefe bei mittlerem Wasserstand auf der Strecke von Aussig bis zur österreichischen Grenze gerade mal 54 Zentimeter, zwischen der österreichischen Grenze und Magdeburg waren es 60 bis 65 Zentimeter. Unterhalb von Magdeburg bis zur Havelmündung erhöhte sich die Schifffahrtstiefe auf 90 Zentimeter, weiter elbabwärts konnten bei mittlerem Wasserstand 90 bis 100 Zentimeter Tiefgang erreicht werden. Mit der Zunahme des Verkehrs kam es zunehmend zu Stromregulierungen: Die Gefälle wurden mehr und mehr ausgeglichen, die Krümmungen des Flusses sowie die Untiefen vermindert und dadurch auch die Vorzüge der Kettenschifffahrt verringert. Dagegen machten die Radschleppdampfer Fortschritte und ihr Kohleverbrauch reduzierte sich. Gleichzeitig ermöglichte die fortschreitende Stromregulierung größere und leistungsfähigere Radschleppdampfer.Ein weiteres Problem für die Konkurrenzfähigkeit waren die hohen Abschreibungen der Kettengesellschaften. Die Kette selbst band viel Kapital und musste bereits nach etwa zehn Jahren ausgetauscht werden.In den 1890er-Jahren wurden leistungsstärkere Seitenradschleppdampfer immer mehr zur Konkurrenz für die Kettenschlepper. Das betraf zuerst vor allem die elbabwärts liegenden Streckenabschnitte unterhalb von Torgau mit geringerem Gefälle von unter 0,25 ‰ und hoher Wassertiefe. Auch die „Kette – Deutsche Elbschiffahrts-Gesellschaft“ selbst rüstete ihre Flotte hier immer mehr auf die zukunftsträchtigeren Radschleppdampfer um und beschloss 1884, Erneuerungen der Kette zwischen Hamburg und Wittenberge einzustellen. Kettendampfer wurden ab 1891 unterhalb Magdeburgs immer seltener eingesetzt, bis im Jahr 1898 die preußischen Minister die Einstellung der Kettenschifffahrt auf der etwa 270 Kilometer langen Strecke zwischen Hamburg und Niegripp (nördlich von Magdeburg) genehmigten und die Kette in diesem Abschnitt gehoben wurde.Auf den steileren Strecken in Sachsen und Böhmen konnten sich die Kettendampfer aufgrund der geringeren Wassertiefe und der höheren Strömungsgeschwindigkeit noch etwas länger gegen die Radschleppdampfer behaupten. Aber auch hier verlagerte sich die Wirtschaftlichkeit zunehmend in Richtung Radschlepper. Hinzu kam die Wirtschaftskrise der Jahre 1901/1902, die dazu führte, dass im Dezember 1903 die ehemals konkurrierenden Schleppgesellschaften aus Radschleppern und Kettenschleppern – „Kette“ mit der „Dampfschleppschiffahrts-Gesellschaft vereinigter Elbe- und Saale-Schiffer“ – fusionierten und damit am 1. Januar 1904 die „Vereinigte Elbschiffahrts-Gesellschaft“ bildeten. Die Kettenschleppschifffahrt verlor immer mehr an Bedeutung, in den Jahren 1926/27 wurde sie in weiteren großen Abschnitten eingestellt und die Ketten wurden gehoben. In Deutschland war die Kettenschifffahrt noch auf drei schwierigen Teilabschnitten der Elbe bis 1943 in Betrieb, danach versahen in Deutschland nur noch zwei Kettendampfer auf einer etwa elf Kilometer langen Strecke bei Magdeburg ihren Dienst, bis sie am 16. Januar 1945 bei einem schweren Luftangriff auf die Stadt zerstört wurden. In Böhmen wurde die Kettenschifffahrt 1948 eingestellt.Die ausgedienten Kettendampfer wurden entweder abgewrackt oder zu Werkstattschiffen, Dampfwinden, Wohnschiffen oder Anlegern umgebaut. Die Gustav Zeuner ist das letzte verbliebene Kettenschiff der Elbe. Sie wurde über mehrere Jahre im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Magdeburg restauriert und nach dem Abschluss der Arbeiten als Museumsschiff eröffnet. == Museen mit Ausstellungen zur Kettenschifffahrt auf der Elbe == Im Verkehrsmuseum Dresden ist ein Modell des Kettendampfers No. 1 und des Kettendampfers „Gustav Zeuner“ zusammen mit einem Teil der Originalkette ausgestellt. Außerdem wird die Funktion des Kettenschiffs mit einer Filmeinspielung erklärt. Im Elbschifffahrtsmuseum in Lauenburg ist ein Teil der Ausstellung der Kettenschifffahrt auf der Elbe gewidmet. Vom 22. August 2003 bis zum 31. Januar 2004 fand hier eine große Sonderausstellung zu Ehren des Begründers der Kettenschiffahrt unter dem Titel Ewald Bellingrath – ein Leben für die Elbschiffahrt statt. Diese Sonderausstellung war anschließend in mehreren anderen Museen zu sehen. Der Kettendampfer Gustav Zeuner wurde nach dreijähriger Restaurierung am 11. November 2010 fertiggestellt und offiziell als Museumsschiff freigegeben. Das Schiff liegt an Land des ehemaligen Handelshafen-Beckens in Magdeburg. Über 150 Arbeitskräfte waren an dem Projekt der Stadt Magdeburg und des ARGE Jobcenters beteiligt. == Literatur == Julius Fölsche: Kettenschiffahrt auf der Elbe und auf der Seine. In: Architektenverein zu Berlin: Deutsche Bauzeitung, Band 1, Carl Beelitz, Berlin 1867, Seiten 306–307 und 314–316 (Anfänge der Kettenschifffahrt auf der Elbe und der Seine in der Google-Buchsuche). Beschreibung des ersten deutschen Kettenschiffes zwischen Neustadt und Buckau. In: Architektenverein zu Berlin: Deutsche Bauzeitung, Band 2, Carl Beelitz, Berlin 1868, Seite 100 (Beschreibung des 1. deutschen Kettenschiffs zwischen Neustadt und Buckau in der Google-Buchsuche). Dekret, die Ausübung der Kettenschifffahrt auf der Oberelbe betreffend; vom 20. Oktober 1869. (No. 83) In: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1869. Meinhold, Dresden 1869, S. 299–304 (Digitalisat der SLUB Dresden). A. Woldt: Die Kettenschifffahrt auf der Elbe. In: Die Gartenlaube. Heft 15, 1882, S. 251–254 (Volltext [Wikisource]). Tauerei. In: Meyers Konversations-Lexikon, Band 15, 1888. Sigbert Zesewitz, Helmut Düntzsch, Theodor Grötschel: Kettenschiffahrt. VEB Verlag Technik, Berlin 1987, ISBN 3-341-00282-0. Karl Jüngel: Die Elbe – Geschichte um einen Fluß. Anita Tykve Verlag, 1993, ISBN 978-3-925434-61-7. Hans-Joachim Rook (Hrsg.): Segler und Dampfer auf Havel und Spree. Brandenburgisches Verlagshaus, 1993, ISBN 3-89488-032-5. Verein zur Förderung des Lauenburger Elbeschifffahrtsmuseums e. V. (Hrsg.): Ewald Bellingrath – Ein Leben für die Schifffahrt. (= Schriften des Vereins zur Förderung des Lauenburger Elbschiffahrtsmuseums e. V. Band 4), Lauenburg 2003. Sigbert Zesewitz: Die Kettenschifffahrt auf Elbe und Saale. Sutton Verlag, Erfurt 2017, ISBN 978-3-95400-764-6. == Weblinks == Ewald Bellingrath – ein Leben für die Elbschiffahrt. Elbschiffahrtsmuseum Lauenburg, archiviert vom Original am 29. Oktober 2007; abgerufen am 10. Dezember 2009. Die Kette – Ein Kapitel der Saaleschifffahrt. Preisnitzhaus e. V., abgerufen am 18. Dezember 2009 (Informationsbroschüre zur Wanderausstellung). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kettenschifffahrt_auf_Elbe_und_Saale
Kraftregelung
= Kraftregelung = Kraftregelung bezeichnet die Regelung der Kraft, mit welcher eine Maschine oder der Manipulator eines Roboters auf ein Objekt oder sein Umfeld einwirkt. Durch Regelung der Kontaktkraft können Beschädigungen an der Maschine sowie der zu bearbeitenden Objekte und Verletzungen beim Umgang mit Menschen verhindert werden. Bei Fertigungsaufgaben kann sie Fehler kompensieren und durch eine gleichmäßige Kontaktkraft Verschleiß reduzieren. Durch die Kraftregelung werden gleichmäßigere Ergebnisse erzielt als mit der ebenfalls in der Steuerung von Maschinen eingesetzten Positionsregelung. Kraftregelung kann als Alternative zur üblichen Bewegungsregelung eingesetzt werden, wird aber meist ergänzend eingesetzt, in Form von hybriden Regelungskonzepten. Die einwirkende Kraft wird für die Regelung üblicherweise über Kraftaufnehmer gemessen oder über den Motorstrom geschätzt. Kraftregelung ist seit fast drei Jahrzehnten Gegenstand der Forschung und erschließt durch Fortschritte in der Sensorik und der Aktorik sowie neuen Regelungskonzepten zunehmend weitere Anwendungsbereiche. Kraftregelung bietet sich vor allem bei Kontaktaufgaben an, die der mechanischen Bearbeitung von Werkstücken dienen, wird aber auch in der Telemedizin, der Servicerobotik und der Abtastung von Oberflächen angewendet. Zur Kraftmessung existiert Kraftsensorik, die in allen drei Raumrichtungen Kräfte und Drehmomente messen kann. Alternativ können die Kräfte auch sensorlos z. B. anhand der Motorströme geschätzt werden. Als Regelungskonzepte kommen die indirekte Kraftregelung durch Modellierung des Roboters als mechanischer Widerstand (Impedanz) und die direkte Kraftregelung in parallelen oder hybriden Konzepten zur Anwendung. Adaptive Ansätze, Fuzzy-Regler und maschinelles Lernen zur Kraftregelung sind aktuell Gegenstand der Forschung. == Allgemein == Die Regelung der Kontaktkraft zwischen einem Manipulator und seiner Umgebung ist eine zunehmend wichtige Aufgabe im Umfeld der mechanischen Fertigung, sowie der Industrie- und Servicerobotik. Eine Motivation für den Einsatz von Kraftregelung ist die Sicherheit für Mensch und Maschine. Aus unterschiedlichen Gründen können Bewegungen des Roboters oder von Maschinenteilen während des Ablaufs des Programmes durch Hindernisse blockiert sein. In der Servicerobotik können dies bewegliche Objekte oder Personen sein, in der Industrierobotik können Probleme bei kooperierenden Robotern, sich ändernden Arbeitsumfeldern oder einem ungenauen Umweltmodell auftreten. Ist bei der klassischen Bewegungsregelung die Trajektorie verstellt und damit ein Anfahren der programmierten Roboterpose(n) nicht möglich, wird die Bewegungsregelung die Stellgröße – in der Regel der Motorstrom – erhöhen, um den Positionsfehler zu korrigieren. Die Erhöhung der Stellgröße kann dabei folgende Auswirkungen haben: Das Hindernis wird beseitigt oder beschädigt/zerstört. Die Maschine wird beschädigt oder zerstört. Die Stellgrößenbeschränkungen werden überschritten und die Robotersteuerung schaltet ab.Eine Kraftregelung kann dies verhindern, indem sie in diesen Fällen die maximale Kraft der Maschine regelt und damit Beschädigungen vermeidet bzw. Kollisionen frühzeitig erkennbar macht. Bei mechanischen Fertigungsaufgaben führen Unebenheiten des Werkstücks bei einer Bewegungsregelung häufig zu Problemen. Wie in der nebenstehenden Abbildung zu sehen, führen Unebenheiten der Oberfläche dazu, dass das Werkzeug bei der Positionsregelung (rot) zu weit in die Oberfläche eindringt ( P 1 ′ {\displaystyle P'_{1}} ) oder den Kontakt zum Werkstück verliert ( P 2 ′ {\displaystyle P'_{2}} ). Dadurch entsteht zum Beispiel beim Schleifen und Polieren eine wechselnde Krafteinwirkung auf Werkstück und Werkzeug. Hier ist eine Kraftregelung (grün) sinnvoll, da diese durch steten Kontakt zum Werkstück einen gleichmäßigen Materialabtrag gewährleistet. == Anwendung == Bei der Kraftregelung lässt sich prinzipiell zwischen Anwendungen mit ausgeprägtem und Anwendungen mit potentiellem Kontakt unterscheiden. Von ausgeprägtem Kontakt spricht man, wenn der Kontakt der Maschine mit der Umwelt oder dem Werkstück zentraler Bestandteil der Aufgabe ist und explizit geregelt wird. Dazu zählen vor allem Aufgaben der mechanischen Verformung und Oberflächenbearbeitung. Bei Aufgaben mit potentiellem Kontakt ist die wesentliche Prozessgröße die Positionierung der Maschine oder ihrer Teile. Größere Kontaktkräfte zwischen Maschine und Umwelt kommen durch dynamische Umwelt oder ein ungenaues Umweltmodell zustande. Die Maschine soll in diesem Fall der Umwelt nachgeben und große Kontaktkräfte vermeiden. Hauptanwendungen der Kraftregelung sind heutzutage mechanische Fertigungsarbeiten. Dies bedeutet insbesondere Fertigungsaufgaben wie zum Beispiel Schleifen, Polieren und Entgraten sowie kraftgesteuerte Prozesse wie das kontrollierte Fügen, Biegen und Einpressen von Bolzen in vorgefertigte Bohrungen. Ein weiterer häufiger Einsatz von Kraftregelung ist das Abtasten unbekannter Oberflächen. Dabei wird über die Kraftregelung ein konstanter Anpressdruck in Normalenrichtung der Oberfläche eingestellt und der Abtastkopf über Positionsregelung in Oberflächenrichtung gefahren. Über die direkte Kinematik kann dann die Oberfläche in kartesischen Koordinaten beschrieben werden. Weitere Anwendungen der Kraftregelung mit potentiellem Kontakt finden sich in der Medizintechnik und bei kooperierenden Robotern. Roboter, die in der Telemedizin, also robotergestützten medizinischen Operationen, eingesetzt werden, können über eine Kraftregelung Verletzungen wirksamer vermeiden. Zudem ist hier die direkte Rückkopplung der gemessenen Kontaktkräfte an den Bediener mittels eines Force-Feedback-Bediengeräts von hohem Interesse. Mögliche Einsätze hierfür reichen bis zu internetbasierten Teleoperationen. Grundsätzlich ist Kraftregelung darüber hinaus überall dort sinnvoll einzusetzen, wo Maschinen und Roboter miteinander oder mit Menschen kooperieren, sowie in Umgebungen, in denen die Umwelt nicht exakt beschrieben ist oder dynamisch und nicht exakt beschreibbar ist. Dort hilft Kraftregelung, auf Hindernisse und Abweichungen des Umweltmodells eingehen zu können und Schäden zu vermeiden. == Geschichte == Erste bedeutende Arbeiten zur Kraftregelung wurden 1980 von John Kenneth Salisbury an der Stanford University veröffentlicht. Er beschreibt darin ein Verfahren zur aktiven Steifigkeitsregelung, eine einfache Form der Impedanzregelung. Das Verfahren erlaubt allerdings noch keine Kombination mit einer Bewegungsregelung, sondern hier erfolgt in allen Raumrichtungen eine Kraftregelung. Die Position der Oberfläche muss also bekannt sein. Wegen der geringeren Leistungsfähigkeit der Robotersteuerungen dieser Zeit konnte die Kraftregelung nur auf Großrechnern ausgeführt werden. Damit wurde ein Reglertakt von ~100 ms erreicht.1981 stellen Raibert und Craig eine bis heute bedeutende Arbeit zur hybriden Kraft-/Positionsregelung vor. Sie beschreiben darin ein Verfahren, bei dem mithilfe einer Matrix (Separationsmatrix) für alle Raumrichtungen explizit vorgegeben wird, ob eine Bewegungs- oder eine Kraftregelung verwendet wird. Raibert und Craig skizzieren dabei die Reglerkonzepte lediglich und nehmen sie als realisierbar an. 1989 stellt Koivo eine erweiterte Darstellung der Konzepte von Raibert und Craig vor. Eine genaue Kenntnis der Oberflächenposition ist auch hier nach wie vor nötig, was die heute typischen Aufgaben der Kraftregelung, wie z. B. das Abtasten von Oberflächen, nach wie vor nicht erlaubt. Die Kraftregelung ist in den letzten zwei Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschung und hat durch die Weiterentwicklung der Sensorik und der Regelungsalgorithmen große Fortschritte erzielt. Seit einigen Jahren bieten die großen Automationstechnikhersteller Software- und Hardwarepakete für ihre Steuerungen an, um eine Kraftregelung zu erlauben. Moderne Maschinensteuerungen sind in der Lage, in einer Raumrichtung echtzeitfähig mit einer Zykluszeit von unter 10 ms kraftzuregeln. == Kraftmessung == Um den Kraftregelkreis im Sinne einer Regelung zu schließen, muss der Momentanwert der Kontaktkraft bekannt sein. Die Kontaktkraft kann dabei entweder direkt gemessen oder geschätzt werden. === Direkte Kraftmessung === Der triviale Ansatz zur Kraftregelung ist die direkte Messung der auftretenden Kontaktkräfte über Kraft-/Momentensensoren am Endeffektor der Maschine beziehungsweise am Handgelenk des Industrieroboters. Kraft-/Momentensensoren messen dafür die auftretenden Kräfte über Messung der Verformung am Sensor. Die gebräuchlichste Art, Verformungen zu messen, ist die Messung mittels Dehnungsmessstreifen. Neben den verbreiteten Dehnungsmessstreifen aus veränderlichen elektrischen Widerständen gibt es auch weitere Ausführungen, die piezoelektrische, optische oder kapazitive Prinzipien zur Messung verwenden. Sie werden in der Praxis allerdings nur für Sonderanwendungen eingesetzt. So können zum Beispiel kapazitive Dehnungsmessstreifen auch im Hochtemperaturbereich über 1000 °C eingesetzt werden.Dehnungsmessstreifen werden so ausgelegt, dass sie innerhalb des Arbeitsraumes einen möglichst linearen Zusammenhang zwischen Dehnung und elektrischem Widerstand aufweisen. Darüber hinaus existieren mehrere Möglichkeiten, Messfehler und Störungen zu reduzieren. Um Temperatureinflüsse auszuschließen und die Messsicherheit zu erhöhen, können zwei Dehnungsmessstreifen komplementär angeordnet werden. Moderne Kraft-/Momentensensoren messen sowohl Kräfte als auch Drehmomente in allen drei Raumrichtungen und sind mit nahezu beliebigen Wertebereichen erhältlich. Die Genauigkeit liegt üblicherweise im Promille-Bereich des maximalen Messwerts. Die Abtastraten der Sensoren liegen im Bereich von etwa 1 kHz. Eine Erweiterung der 6-achsigen Kraft-/Momentensensoren stellen 12- und 18-achsige Sensoren dar, die zusätzlich zu den sechs Kraft- beziehungsweise Drehmoment-Komponenten auch in der Lage sind, jeweils sechs Geschwindigkeits- und Beschleunigungskomponenten zu messen. === Sechs-Achsen Kraft-/Momentensensor === In modernen Anwendungen werden häufig sogenannte Sechs-Achsen Kraft-/Momentensensoren eingesetzt. Diese werden zwischen Roboterhand und Endeffektor montiert und können sowohl Kräfte als auch Drehmomente in allen drei Raumrichtungen erfassen. Sie sind dazu mit sechs oder mehr Dehnungsmessstreifen (ggf. Dehnungsmessbrücken) ausgestattet, die Verformungen im Mikrometerbereich erfassen. Diese Verformungen werden über eine Kalibriermatrix in jeweils drei Kraft- und Drehmoment-Komponenten umgerechnet. Kraft-/Momentensensoren enthalten einen digitalen Signalprozessor, der die Sensordaten (Dehnung) ständig parallel erfasst und filtert, die Messdaten (Kräfte/Momente) errechnet und über die Kommunikationsschnittstelle des Sensors zur Verfügung stellt. Zu beachten ist dabei, dass die gemessenen Werte den Kräften am Sensor entsprechen und in der Regel noch über eine geeignete Transformation in die Kräfte und Drehmomente am Endeffektor bzw. Werkzeug umgerechnet werden müssen. Da Kraft-/Momentensensoren nach wie vor verhältnismäßig teuer (zwischen 4.000 € und 15.000 €) und sehr empfindlich gegenüber Überlast und Störungen sind, wurden sie – und damit auch die Kraftregelung – in der Industrie bislang zögerlich eingesetzt. Eine Lösung stellt die indirekte Kraftmessung oder -schätzung dar, die Kraftregelung ohne kostspielige und störungsanfällige Kraftsensorik ermöglichen. === Kraftschätzung === Eine kostensparende Alternative zur direkten Kraftmessung stellt die Schätzung der Kraft (auch „indirekte Kraftmessung“) dar. Diese erlaubt es, auf den Einsatz von Kraft-/Momentensensoren zu verzichten. Der Verzicht bringt neben Kostenersparnis weitere Vorteile: Kraftsensoren sind in der Regel das schwächste Glied in der mechanischen Kette der Maschine oder des Robotersystems, ein Verzicht bringt also höhere Stabilität und geringere mechanische Störanfälligkeit. Zudem bringt der Verzicht von Kraft-/Momentensensoren eine höhere Sicherheit mit sich, da keine Sensorkabel direkt am Handgelenk des Manipulators herausgeführt und geschützt zu werden brauchen.Eine verbreitete Methode zur indirekten Kraftmessung beziehungsweise Kraftschätzung ist die Messung der Motorströme, die zur Bewegungsregelung aufgebracht werden. Diese sind mit Einschränkungen proportional zum aufgewendeten Drehmoment an der angetriebenen Roboterachse. Bereinigt um Gravitations-, Trägheits- und Reibungseffekte, sind die Motorströme weitestgehend linear zu den Drehmomenten der einzelnen Achsen. Über die damit bekannten Drehmomente kann die Kontaktkraft am Endeffektor ermittelt werden. === Trennen dynamischer und statischer Kräfte === Bei der Kraftmessung und der Kraftschätzung kann eine Filterung der Sensorsignale notwendig werden. Es können zahlreiche Nebeneffekte und Nebenkräfte auftreten, die nicht der Messung der Kontaktkraft entsprechen. Dies gilt insbesondere, wenn eine größere Lastmasse am Manipulator montiert ist. Diese stört die Kraftmessung, wenn sich der Manipulator mit hohen Beschleunigungen bewegt. Um die Messung um Nebeneffekte bereinigen zu können, muss sowohl ein genaues dynamisches Modell der Maschine vorliegen als auch ein Modell oder eine Schätzung der Last. Diese Schätzung kann über Referenzbewegungen (freie Bewegung ohne Objektkontakt) ermittelt werden. Nach der Schätzung der Last kann die Messung oder Schätzung der Kräfte um Coriolis-, Zentripetal- und Zentrifugalkräfte, Gravitations- und Reibungseffekte sowie Trägheit bereinigt werden. Hier können auch adaptive Ansätze zur Anwendung kommen, um die Schätzung der Last kontinuierlich anzupassen. == Regelungskonzepte == Zur Kraftregelung kommen verschiedene Regelungskonzepte zur Anwendung. Abhängig vom angestrebten Verhalten des Systems werden Konzepte der direkten Kraftregelung und der indirekten Regelung über Vorgabe der Nachgiebigkeit bzw. mechanischen Impedanz unterschieden. In der Regel wird Kraftregelung mit einer Bewegungsregelung kombiniert. Konzepte zur Kraftregelung müssen dabei das Problem der Kopplung zwischen Kraft und Position berücksichtigen: Steht der Manipulator in Kontakt mit der Umwelt, bedeutet eine Änderung der Position auch eine Änderung der Kontaktkraft. === Impedanzregelung === Die Impedanzregelung oder Nachgiebigkeitsregelung regelt die Nachgiebigkeit des Systems, also die Verknüpfung zwischen Kraft und Position bei Objektkontakt. Nachgiebigkeit wird in der Fachliteratur als „Maß der Roboterfähigkeit, den Kontaktkräften entgegenzuwirken“ definiert. Dafür gibt es passive und aktive Ansätze. Die Nachgiebigkeit des Robotersystems wird dabei als mechanische Impedanz modelliert, die das Verhältnis zwischen aufgebrachter Kraft und resultierender Geschwindigkeit beschreibt. Dabei wird die Maschine oder der Manipulator des Roboters als mechanischer Widerstand mit Positionsbeschränkungen durch die Umwelt betrachtet. Die Kausalität der mechanischen Impedanz beschreibt demnach, dass eine Bewegung des Roboters in einer Kraft resultiert. Bei der mechanischen Admittanz hingegen führt eine auf den Roboter ausgeübte Kraft zu einer resultierenden Bewegung. ==== Passive Impedanzregelung ==== Für die passive Nachgiebigkeitsregelung (auch Compliance Control) ist keine Kraftmessung erforderlich, da keine explizite Kraftregelung erfolgt. Stattdessen wird der Manipulator und/oder Endeffektor in einer Art und Weise flexibel konstruiert, die bei der zu verrichtenden Aufgabe auftretende Kontaktkräfte minimieren kann. Typische Anwendungen sind Einfüge- und Greifvorgänge. Dabei wird der Endeffektor so konstruiert, dass er orthogonal zur Greif- bzw. Einfügerichtung translatorische und rotatorische Abweichungen zulässt, in Greif- beziehungsweise Einfügerichtung aber eine hohe Steifigkeit besitzt. In nebenstehender Abbildung ist ein sogenanntes Remote Center of Compliance (RCC) gezeigt, das dies ermöglicht. Alternativ zu einem RCC kann auch die gesamte Maschine strukturell elastisch gestaltet werden. Passive Impedanzregelung ist hinsichtlich der Systemdynamik eine sehr gute Lösung, da keine Totzeiten durch die Regelung auftreten. Passive Nachgiebigkeitsregelung ist allerdings häufig durch die mechanische Vorgabe des Endeffektors in der Aufgabe beschränkt und kann nicht ohne Weiteres bei unterschiedlichen und sich ändernden Aufgaben oder Umweltbedingungen eingesetzt werden. ==== Aktive Impedanzregelung ==== Aktive Nachgiebigkeitsregelung bezeichnet die Regelung des Manipulators aufgrund einer Abweichung des Endeffektors. Dies eignet sich insbesondere zum Führen von Robotern durch einen Operator zum Beispiel im Rahmen eines Teach-In-Vorgangs. Der aktiven Nachgiebigkeitsregelung liegt die Idee zugrunde, das System aus Maschine und Umwelt als Feder-Dämpfer-Masse-System abzubilden. Dabei wird die auftretende Kraft F {\displaystyle F} und die Bewegung (Position x ( t ) {\displaystyle x(t)\!\,} , Geschwindigkeit x ˙ ( t ) {\displaystyle {\dot {x}}(t)} und Beschleunigung x ¨ ( t ) {\displaystyle {\ddot {x}}(t)} ) über die Feder-Dämpfer-Masse-Gleichung in direkten Zusammenhang gesetzt: F ( t ) = c ⋅ x ( t ) + d ⋅ x ˙ ( t ) + m ⋅ x ¨ ( t ) {\displaystyle F(t)=c\cdot x(t)+d\cdot {\dot {x}}(t)+m\cdot {\ddot {x}}(t)} Über die Steifigkeit c {\displaystyle c} , die Dämpfung d {\displaystyle d} und die Trägheit m {\displaystyle m} ist die Nachgiebigkeit beziehungsweise mechanische Impedanz des Systems bestimmt und kann über diese drei Größen beeinflusst werden. Der Regelung wird über diese drei Größen eine mechanische Zielimpedanz vorgegeben, die durch die Maschinensteuerung erreicht wird. Die Abbildung zeigt das Blockschaltbild einer kraftbasierten Impedanzregelung. Die Impedanz im Blockschaltbild stellt die genannten Komponenten c {\displaystyle c} , d {\displaystyle d} und m {\displaystyle m} dar. Eine positionsbasierte Impedanzregelung kann analog dazu mit innerer Positions- beziehungsweise Bewegungsregelung gestaltet werden. Alternativ und analog dazu kann statt des Widerstands auch die Nachgiebigkeit (Admittanz) geregelt werden. Im Gegensatz zur Impedanzregelung taucht somit im Regelgesetz die Admittanz als Kehrwert der Impedanz auf. === Direkte Kraftregelung === Bei den obig genannten Konzepten handelt es sich um eine sogenannte indirekte Kraftregelung, da die Kontaktkraft nicht explizit als Führungsgröße vorgegeben wird, sondern indirekt über die Reglerparameter Dämpfung, Steifigkeit und (virtuelle) Masse bestimmt wird. Im Folgenden wird die direkte Kraftregelung vorgestellt. Direkte Kraftregelung nutzt die gewünschte Kraft als Sollwert innerhalb eines geschlossenen Regelkreises. Sie wird als parallele Kraft-/Positionsregelung in Form einer Kaskadenregelung ausgeführt oder als hybride Kraft-/Positionsregelung, bei der zwischen Positions- und Kraftregelung umgeschaltet wird. ==== Parallele Kraft-/Positionsregelung ==== Eine Möglichkeit der Kraftregelung ist die parallele Kraft-/Positionsregelung. Die Regelung ist dabei als Kaskadenregelung konstruiert und verfügt über einen äußeren Kraftregelkreis und einen inneren Positionsregelkreis. Wie in der folgenden Abbildung dargestellt, wird aus der Differenz der Soll- und Ist-Kraft eine entsprechende Zustellungskorrektur errechnet. Diese Zustellungskorrektur wird mit den Positions-Sollwerten verrechnet, wobei bei der Fusion von X s o l l {\displaystyle X_{soll}} und X k o r r {\displaystyle X_{korr}} die Positionsvorgabe der Kraftregelung ( X k o r r {\displaystyle X_{korr}} ) eine höhere Priorität besitzt, ein Positionsfehler also zugunsten der korrekten Kraftregelung toleriert wird. Der verrechnete Wert ist die Eingangsgröße für den inneren Positionsregelkreis. Analog zu einer inneren Positionsregelung kann auch eine innere Geschwindigkeitsregelung erfolgen, die eine höhere Dynamik aufweist. Zu beachten ist, dass der innere Regelkreis in dem Fall über eine Sättigung verfügen sollte, um nicht in der freien Bewegung bis zur Kontaktaufnahme eine (theoretisch) beliebig anwachsende Geschwindigkeit zu erzeugen. ==== Hybride Kraft-/Positionsregelung ==== Eine Verbesserung gegenüber obig erläuterten Konzepten bietet die hybride Kraft-/Positions-Regelung, die mit zwei voneinander separierten Regelsystemen arbeitet und auch bei harten unflexiblen Kontaktoberflächen eingesetzt werden kann. Bei hybrider Kraft-/Positionsregelung wird der Raum in einen beschränkten (engl.: constrained) und einen unbeschränkten (englisch: unconstrained) Raum aufgeteilt. Der beschränkte Raum enthält Beschränkungen etwa in Form von Hindernissen und erlaubt keine freie Bewegung, der unbeschränkte Raum erlaubt freie Bewegung. Jede Dimension des Raumes ist entweder beschränkt oder unbeschränkt. Bei der hybriden Kraftregelung wird für den beschränkten Raum Kraftregelung genutzt, für den unbeschränkten Raum wird Positionsregelung eingesetzt. Die Abbildung zeigt eine solche Regelung. Die Matrix Σ gibt dabei an, welche Raumrichtungen beschränkt sind, und ist eine Diagonalmatrix, bestehend aus Nullen und Einsen. Welche Raumrichtung beschränkt und welche unbeschränkt ist, kann dabei zum Beispiel statisch vorgegeben werden. Kraft- und Positionsregelung ist dann für jede Raumrichtung explizit vorgegeben; die Matrix Σ ist dann statisch. Eine weitere Möglichkeit ist, anhand von Kraftmessung die Matrix Σ dynamisch zu schalten. So kann bei Kontaktaufnahme beziehungsweise Kollision für einzelne Raumrichtungen von Positionsregelung auf Kraftregelung umgeschaltet werden. Bei Kontaktaufgaben wären in dem Fall bei der freien Bewegung alle Raumrichtungen bewegungsgeregelt, nach Kontaktaufnahme würde in Kontaktrichtung durch entsprechende Wahl der Matrix Σ auf Kraftregelung umgeschaltet. == Forschung == Gegenstand der Forschung sind in den letzten Jahren vermehrt adaptive Konzepte, die Nutzung von Fuzzy-Reglern und maschinellem Lernen sowie die kraftbasierte Ganzkörperregelung. === Adaptive Kraftregelung === Die zuvor genannten, nicht-adaptiven Konzepte beruhen auf einer exakten Kenntnis der dynamischen Prozessparameter. Diese werden in der Regel durch Experimente und Kalibrierung ermittelt und eingestellt. Durch Messfehler und variable Lasten können dabei Probleme auftreten. Bei der adaptiven Kraftregelung werden lageabhängige und somit zeitveränderliche Teile des Systems als Parameterschwankungen aufgefasst und im Laufe der Regelung durch Adaption konstant angepasst. Zu beachten ist dabei, dass wegen der sich ändernden Regelung keine Garantie für dynamische Stabilität des Systems gewährt werden kann. Adaptive Regelung wird deshalb in der Regel erst offline eingesetzt und die Ergebnisse vor dem Einsatz am realen System in der Simulation intensiv getestet. === Fuzzy-Regelung und maschinelles Lernen === Voraussetzung für die Anwendung klassischer Entwurfsverfahren ist ein explizites Systemmodell. Lässt sich dieses nicht oder nur schwierig abbilden, kommen Fuzzy-Regler oder maschinelles Lernen in Betracht. Durch Fuzzylogik kann vom Menschen erworbenes Wissen in Form von Fuzzy-Regelvorgaben in ein Regelverhalten umgesetzt werden. Eine explizite Angabe der Reglerparameter ist dadurch nicht mehr notwendig. Ansätze unter Zuhilfenahme von maschinellem Lernen erfordern darüber hinaus nicht mehr den Menschen, um das Regelverhalten zu erstellen, sondern nutzen Maschinenlernen als Grundlage für die Regelung. === Ganzkörperregelung === Durch die hohe Komplexität moderner Robotersysteme, wie beispielsweise humanoiden Robotern, ist eine große Anzahl an aktuierten Freiheitsgraden zu regeln. Zudem werden solche Systeme zunehmend in der direkten Umgebung des Menschen eingesetzt. Dementsprechend werden Konzepte aus der Kraft- und Impedanzregelung in diesem Bereich gezielt verwendet um die Sicherheit zu erhöhen, da dadurch eine nachgiebige Interaktion des Roboter mit der Umwelt und dem Menschen ermöglicht wird. == Literatur == Bruno Siciliano, Luigi Villani: Robot Force Control. Springer, 2000, ISBN 0-7923-7733-8. Wolfgang Weber: Industrieroboter. Methoden der Steuerung und Regelung. Fachbuchverlag Leipzig, 2002, ISBN 3-446-21604-9. Lorenzo Sciavicco, Bruno Siciliano: Modelling and Control of Robot Manipulators. Springer, 1999, ISBN 1-85233-221-2. Klaus Richter: Kraftregelung elastischer Roboter. VDI-Verlag, 1991, ISBN 3-18-145908-9. == Einzelnachweise ==
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Kritik und Krise
= Kritik und Krise = Kritik und Krise lautet der Titel der Dissertation des Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006) von 1954 an der Universität Heidelberg. In der Buchausgabe von 1959 erhielt sie zunächst den Untertitel „Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“, später dann „Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“. In der Schrift unterzieht Koselleck die Aufklärung und ihre Geschichtsphilosophie einer vom autoritären Staatsgedanken seines frühen Mentors Carl Schmitt beeinflussten kritischen Bestandsaufnahme. Mit dieser intendiert er, die (scheinbar) humanistisch-universellen Theoreme der Aufklärung als „hypokritische“ Kampfbegriffe bloßzulegen. In Verkennung der Friedensfunktion des absolutistischen Staates in den Religionskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts hätten sie dessen Fundament unterhöhlt. Die Eliten des im Schutze des Absolutismus aufgestiegenen Bürgertums hätten mit ihrer aufklärenden Kritik eine Staatskrise ausgelöst, die schließlich zur Französischen Revolution geführt habe. – Die weite Beachtung, die das Buch erfuhr, lässt sich an den mehrfachen Wiederauflagen (Erstausgabe 1959; Taschenbuchausgabe 1973, 11. Auflage 2010) und den zahlreichen Übersetzungen ablesen. == Entstehung == Koselleck hatte in Heidelberg ab 1947 Geschichte, Staatslehre, Soziologie und Philosophie studiert und arbeitete seit längerem an einer historischen Dissertation. Um eine Dozentenstellung an der Universität in Bristol annehmen zu können, erkannte er im Januar 1953, dass er das Promotionsverfahren bis Oktober 1953 abschließen musste. Er reichte die Arbeit noch ohne Anmerkungen ein, was die Fakultät akzeptierte (erst später wurden die von einem Freund abgetippten Anmerkungen nachgereicht). Sein Doktorvater war Johannes Kühn, ein Freund des Vaters und zugleich Patenonkel von Reinhart Koselleck, der in der Literatur gelegentlich noch als Onkel mütterlicherseits geführt wird. Während der Abfassung der Dissertation stand Koselleck in schriftlichem Austausch mit Carl Schmitt. Persönlichen Kontakt zu Schmitt fand er bei dessen Besuchen im informellen schmittianischen Freundeskreis Heidelberger Studenten um Nicolaus Sombart, der Schmitt noch aus seiner Berliner Jugendzeit kannte, Hanno Kesting und anderen. Viele Details dieser Beziehungen werden zwar in den mittlerweile zahlreichen Darstellungen häufig ungenau, spekulativ, einseitig, missverständlich oder nachweislich fehlerhaft dargestellt, moniert die jüngere Forschungsliteratur; weitere Aufschlüsse sind aber von der baldigen Herausgabe des Briefwechsels zwischen Schmitt und Koselleck zu erwarten. Überliefert ist (zumindest) ein persönlicher Besuch Kosellecks im sauerländischen Plettenberg, Schmitts letztem Wohnsitz. Im Vorwort zur 1. und fortlaufend seit der 3. Auflage dankte Koselleck Schmitt, der ihm „in Gesprächen Fragen stellen und Antworten suchen half“. == Thema == Gegenstand des Buches ist die Darstellung einer – von Koselleck als geistesgeschichtlich zusammenhängend begriffenen – historischen Epoche im 18. Jahrhundert: des Absolutismus, der Aufklärung und der Französischen Revolution. Nachgezeichnet wird in drei Kapiteln die Geburt der modernen bürgerlichen Gesellschaft aus dem Schoß des europäischen Absolutismus. Die Einleitung umreißt das Thema mit den beiden Sätzen: „Der Absolutismus bedingt die Genese der Aufklärung; die Aufklärung bedingt die Genese der Französischen Revolution“. Diese nach Jürgen Habermas „aus einer Dialektik von Politik und Moral“ begriffene Aufklärung entfaltet Koselleck unter der Prämisse, dass der absolutistische Staat eine Befriedungsfunktion wahrnehme für „den durch die religiösen Bürgerkriege verwüsteten Raum“. Als eine moralisch neutrale Institution gewährte er den Untertanen die Freiheit des Gewissens im privaten Raum, solange diese sich nicht gegen die Souveränität des Staates richte. Der absolutistische Staat schuf damit die Voraussetzung für den Aufstieg des Bürgertums. In einer „Verweltlichung der Kritik“ an Kirche und Staat sprengte das Selbstbewusstsein des Bürgertums, im Bündnis mit dem antiabsolutistischen Adel, die ihm staatlicherseits gesetzten Grenzen. Die ausgeübte Kritik der Aufklärer am absolutistischen Staat führte zur politischen Krise, zur bürgerlichen Revolution. Für die bürgerliche Welt und die von ihr ausgelöste Krise greift Koselleck auf eine medizinische Metapher zurück: sie gilt ihm als „destruktive Krankheit“. Die nach dem Rezensenten Helmut Kuhn „immer schon im Voraus bejahte Axiomatik des Politischen“ verdankt sich seinem Mentor Carl Schmitt, der „in jedem Kapitel dieser Studie gegenwärtig“ sei. Von Schmitt übernahm Koselleck auch dessen Begriff vom Bürgerkrieg, um die Struktur der europäischen Geschichte zu erfassen, sowie das der Schmittschen Hobbes-Lektüre geschuldete Verständnis vom absolutistischen Staatszweck als die fortwährende Verhinderung des Bürgerkriegs. == Inhalt == === Erstes Kapitel === Im ersten Kapitel wird nach der Genese und Struktur des absolutistischen Staates als Voraussetzung der Aufklärung gefragt. Die Überwindung der religiösen Bürgerkriege ist die raison d’être (Daseinsberechtigung) des Absolutismus. Der Staat wird zum Neutralisator religiöser Gegensätze. Die Staatslehre von Hobbes beruht darauf, dass der Mensch zum Untertan wird; seine Handlungen unterliegen restlos dem Staatsgesetz, während er im privaten Innenraum in seiner Gesinnung frei bleibt. Der Staat bietet Schutz gegen Gehorsam. Koselleck folgert, dass die „moralische Qualifikation des Souveräns“ darin besteht, „in seiner politischen Funktion, Ordnung zu stiften und Ordnung zu halten.“ Es sind die „grausamen Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege“, aus denen sich die europäische Staatenordnung entfaltet. === Zweites Kapitel === Die Herausbildung des Bürgertums als einer neuen Schicht von Kaufleuten, Bankiers, Steuerpächtern und Geschäftsleuten mit einem spezifischen Selbstverständnis behandelt das zweite Kapitel. Unter Beachtung des für den Absolutismus konstitutiven Dualismus von Politik und Moral, der Trennung in Mensch und Untertan wird für die bürgerlichen Aufklärer zunächst der Bereich der privaten Moral zur Domäne ihrer Selbstorganisation und Kritik. Als ihre beiden wichtigsten Organisationsformen beschreibt Koselleck die Freimaurerlogen und die „Gelehrtenrepublik“. Die von ihnen in dieser Privatsphäre geübte moralische Kritik greift zunächst auf die Texte der Heiligen Schriften und dann auf den Staat über, mit der Folge, dass dessen Autorität unterminiert wird. Indem ihre Elite „den absolutistischen Staat und die Kirche negierten“, gewann die bürgerliche Schicht an Selbstbewusstsein und betrachtete sich „in steigendem Maße als den potentiellen Träger der politischen Macht“. Die Etappen der zunehmend politischer werdenden Kritik zeichnet Koselleck an den Schriften des Bibelexegeten Richard Simon und der Aufklärer Bayle, Voltaire, Diderot und Kant nach. === Drittes Kapitel === Das dritte Kapitel beschreibt die sich zuspitzende Krise im Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und absolutistischem Staat im Spiegel der Schriften von Rousseau, Raynal und Thomas Paine. Die souveräne bürgerliche Kritik sprengt den moralischen Innenraum und führt die „Souveränität der Gesellschaft“ über den Staat herbei. Die Krise erfasst Staat und Gesellschaft und fällt nach Rousseau mit der Revolution zusammen. Koselleck konstatiert eine verblindete „Herrschaft der Utopie“, die, da sie das Wesen der Macht (die Verhinderung des Bürgerkrieges) verkennt, „Zuflucht zur schieren Gewalt“ nimmt und in der Geschichtsphilosophie ihre Rechtfertigung sucht. == Gegenwartsbezug == Im Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe von 1973 und in deren Einleitung finden sich einige wenige Hinweise auf die gegenwärtige weltgeschichtliche Situation. Koselleck lässt durchblicken, dass die von der aufklärerischen Kritik mit ihrem utopischen Überschwang in Gang gesetzte Dynamik, die in Revolution und Terror mündete, in veränderter Konstellation noch die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg bestimme. Das 18. Jahrhundert wird als „Vorraum des gegenwärtigen Zeitabschnitts“ bezeichnet, dessen Spannung sich seit der Französischen Revolution zunehmend verschärft und die ganze Welt ergriffen habe. Die „gegenwärtige Weltkrise“, die bereits im ersten Satz der Einleitung thematisiert wird, steht für ihn „im Horizont eines geschichtsphilosophischen, vorwiegend utopischen Selbstverständnisses“. Das „Erbe der Aufklärung“, formuliert er im Schlusskapitel, sei „noch omnipräsent“. Im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe 1988 schreibt er: „My starting-point was therefore to explain the Utopian ideas of the twentieth century by looking at their origins in the eighteenth“ (Mein Ausgangspunkt war, die utopischen Ideen des 20. Jahrhunderts durch den Rückblick auf ihren Ursprung im 18. Jahrhundert zu erklären). Im Kontext des Kalten Krieges sei der jeweils exklusive Anspruch moralischer und philosophischer Legitimation sowohl des liberal-demokratischen Amerikas wie des sozialistischen Russlands auf die Ideen der Aufklärung zurückzuführen. Jan-Friedrich Missfelder zufolge wird in Kritik und Krise definitiv umschrieben, wenn auch nie explizit erwähnt, was Schmitt auf den Begriff bringt: „Weltbürgerkrieg ist die Kategorie, die Frühe Neuzeit und Gegenwart analytisch miteinander verkoppelt“. Auch in seiner späteren Begriffsgeschichte hält Koselleck an der Auffassung fest, Utopien und säkularisierte Geschichtsphilosophie als Ursachen von (Welt-)Bürgerkriegen zu verstehen. Sein Ziel bleibt es, „die Dialektik der Kritik-Krise umzukehren“ (Imbriano): zur Gegen-Kritik der Fortschrittsutopie, um die Krise und „den Untergang zu verhindern“ (Koselleck). == Neuformulierung des Krisenbegriffs == In späteren Veröffentlichungen verwendet Koselleck weiterhin den Krisenbegriff, um die Bedingungen der Neuzeit zu diagnostizieren. Die Entstehung der bürgerlichen Welt wird indessen nicht mehr allein auf der politischen Ebene verhandelt, sondern auch mit den sozialen, technischen und ökonomischen Veränderungen erklärt. Den Krisenbegriff definiert er zu einer historischen Erkenntniskategorie um. Hatte er in Kritik und Krise die Krise als Krankheit und die Moderne als Verfall eines ursprünglich gesunden Organismus diagnostiziert, verwendet er später einen historischen Begriff, welcher die zeitliche Dimension der Beschleunigung beschreibt. Die Metaphorik der Krankheit wird aufgegeben. Nicht mehr als Pathogenese wird die Entstehung der modernen Welt begriffen, sondern lediglich als eine historische Veränderung der gesellschaftlichen Zeitstrukturen. Als untrügliches Kriterium der Neuzeit betrachtet er ihre Bewegungsbegriffe wie zum Beispiel „die Revolution, den Fortschritt, die Entwicklung, die Krise, den Zeitgeist, alles Ausdrücke, die zeitliche Indikationen“ enthalten. Die Beschleunigung der neuzeitlichen Welt begreift er nun als Krise und spricht von „anwachsendem Zeitdruck“, gar von „apokalyptischer Zeitverkürzung“, dem die Menschheit nicht zu entrinnen scheint. Es geht ihm nunmehr darum, eine Kritik der Gefahren des technischen Fortschritts zu formulieren und in der Entwicklung der Technik immer neue Verfalls- und Krisenmöglichkeiten (genannt werden Atomkraft und Atombombe), ja Katastrophen zu beschwören, die die Menschen mit ihren technischen Verfügungsgewalten selbst über sich herbeizuführen fähig geworden sind. Gleichwohl sieht er die konkrete Möglichkeit des Untergangs oder der Krise nicht allein in der Beschleunigung der technischen Welt, sondern auch weiterhin als politische Krise im Horizont des Weltbürgerkrieges. == Dialektik der Aufklärung und Kritik und Krise == Vermutlich in Anspielung auf entsprechende Äußerungen Kosellecks vermutet die Historikerin Ute Daniel: „Wäre nicht 1947 ein Buch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit dem Titel Dialektik der Aufklärung erschienen, dann wäre Kosellecks Dissertation so betitelt worden“. Der Vergleich beider Bücher beruht zunächst darauf, dass aufklärende Kritik im historischen Prozess in ihr Gegenteil umschlägt, in Despotie und umfassende Manipulation. Die Begründungszusammenhänge differieren jedoch erheblich: Während Horkheimer und Adorno diese Dialektik menschheitsgeschichtlich viel tiefer, an der Selbstbehauptung des Subjekts, ansetzen und die fortschrittliche Seite der Aufklärung nicht unterschlagen, bezieht sich Kosellecks „illiberale Aufklärungskritik“ auf politische Prozesse des 17. und 18. Jahrhunderts, deren aufklärende Kritik ihm zufolge in politische Krisen und schließlich Revolutionen mit zerstörerischem Charakter einmünden würde. Im Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe 1973 spricht Koselleck expressis verbis von einer „Dialektik der Aufklärung“, ohne jedoch auf die Arbeit von Horkheimer und Adorno Bezug zu nehmen. Auch der Historiker Michael Schwartz konstatiert, dass Koselleck der aufklärungskritischen Schrift von Horkheimer und Adorno Einiges verdanke: beide Ansätze träfen sich im Befund: „Aufklärung ist totalitär“. Doch sei Kosellecks Aufklärungkritik „keine aufklärerische ‚Selbst‘-Kritik wie bei Horkheimer/Adorno, sondern ein (weiterer) neokonservativer Frontalangriff von außen“. Nicht auf die Selbstbesinnung der Aufklärung, sondern auf „ihre Entlarvung als politikunfähige und damit hochgefährliche Hypokrisie“ ziele Kosellecks These. Schwartz weist auf eine weitere Differenz zwischen beiden Publikationen hin: Das aktuelle Erkenntnisinteresse von Horkheimer/Adorno zielte auf ein tieferes Verständnis des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs, während Kosellecks Analyse historischen Aufschluss über den „Kalten Krieg“ und die totalitäre Drohung aus dem Osten zu geben vorgab. == Rezeption == Kritik und Krise wurde Jahre nach ihrer Veröffentlichung als die „literarisch erfolgreichste Dissertation eines deutschen Geisteswissenschaftlers im 20. Jahrhundert“ bezeichnet. Der Schweizer Wissenschaftsforscher Mario Wimmer resümierte in seiner kurzen Rezeptionsgeschichte, dass die Schrift „in allen Fällen als ‚Klassiker‘ wahrgenommen, übersetzt und eingeführt wurde“. Das Buch wurde ins Spanische (1965), Italienische (1972), Französische (1979), Englische (1988), Serbische (1997), Japanische (1999), Portugiesische (1999) und Chinesische (2006) übersetzt.Carl Schmitt, der schon die Arbeit an der Studie mit Fragen und Antworten begleitet hatte, wurde – nach Erscheinen der Druckfassung – von Koselleck gebeten, eine Rezension zu verfassen. Eine Kurzbesprechung erschien im Jahrbuch Das Historisch-Politische Buch (ein fehlerhafter Ausschnitt daraus wurde später für die Suhrkamp-Ausgabe ohne Quellenangabe als Klappentext verwendet). Schmitt kategorisierte die Studie als einen Beitrag zur „Ideengeschichte im Stil von Friedrich Meinecke“. Mario Wimmer zufolge habe Schmitt mit diesem Vergleich Koselleck den „Rang von Weltgeltung“ zugesprochen. Weitere frühe Rezensionen veröffentlichten der Philosoph Helmut Kuhn, der Historiker Christian Meier und der Sozialphilosoph Jürgen Habermas. Schon dieses fachlich breite Spektrum der Rezensenten zeigt, dass die Dissertation „weder nur historisch, noch nur soziologisch, noch nur philosophisch eindeutig ausgewiesen war“, wie in den Reden zur Festveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages (für eine Dissertation eine ungewöhnliche Ehrung) hervorgehoben wurde.In der kritischen Rezeption wurde Kosellecks Schrift vielfach als ein Frontalangriff auf die säkulare Religion der Aufklärer rezipiert. Die Moderne wird innerhalb seiner konservativen Krisentheorie als Zeit eines Verfalls beschrieben. Mit der Metapher der Pathogenese beschreibt er den Beginn der bürgerlichen Welt als Entstehung einer Krankheit innerhalb eines ursprünglich gesunden Organismus.Jürgen Habermas hat in seiner Studie über die Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit – Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) – viele historische Hinweise Kosellecks aufgriffen, aber bereits 1960 (in einem Aufsatz im Merkur) die zentrale These des Buches in Frage gestellt: „dass die als indirekte politische Gewalt etablierte Kritik notwendig die Krise auslöst“ hielt er nicht für überzeugend. Indem Koselleck das „Prinzip der öffentlichen Diskussion als eins des Bürgerkriegs diskreditiert“, verkenne er die objektive Intention der Öffentlichkeit, die nicht auf eine Moralisierung, sondern auf Rationalisierung der Politik hinauslaufe und später in der Gestalt des bürgerlichen Rechtsstaates, durch die Institutionalisierung der Öffentlichkeit im Parlament als Staatsorgan, ihre Erfüllung gefunden habe. Dem entwickelten Marktverkehr der Bürger untereinander wohne eine Rationalität inne, die darauf abziele, dass die politische Gewalt in öffentliche Gewalt überführt werde. Die Geschichtsphilosophie artikuliere „die Idee der machbaren Geschichte“, nämlich dass die Menschen den geschichtlichen Prozess selbst in die Hand nähmen. Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi sieht in der Schrift ein „Musterbeispiel an geschichtsphilosophischer Dialektik“. Der Absolutismus erscheine als Antithese zu den Religionskriegen, die Aufklärung als Antithese zum Absolutismus. Koselleck wolle die Aufklärer der Verblendung überführen. Sein Buch sei ein Angriff mit den Waffen des Gegners; denn er mache sich „zum Aufklärer der Aufklärer, zum Kritiker der Kritiker“. „In bester aufklärerischer Manier verbindet er die epistemische Kritik mit einem moralischen Verdikt“: die Kritik sei zur Hypokrisie „verdummt“. Kritik werde von Koselleck zum „Monstrum moderner Machtausübung“ hochstilisiert, sie sei für ihn unvereinbar mit Realpolitik.In einer erneuten Lektüre hat Michael Schwartz die Schrift einer ausführlichen Kritik unterzogen. Seine wichtigsten Kritikpunkte sind neben historiographischen Fehlurteilen die Parteinahme für das absolutistische Politikverständnis. Zu den Fehlurteilen zählt Schwartz Kosellecks Definition des absolutistischen Staates; sie ignoriere, dass es eine Kausalbeziehung zwischen Konfessions-Bürgerkrieg und werdendem Absolutismus in der europäischen Realität häufig nicht gegeben habe (S. 38). Auch seine Gleichung – Aufklärung contra Absolutismus = Revolution und Totalitarismus – sei durch nichts begründet, da in Europa der Weg in die Moderne sowohl durch Revolution wie durch Reform beschritten wurde (S. 54). Eine Apologetik des Politischen betreibe Koselleck, wenn er der Aufklärung vorwerfe, dass sie sich angemaßt habe, die Autonomie des Politischen mittels utopischer Konstruktionen zu negieren und damit das Fundament für den modernen utopisch-ideologischen Totalitarismus gelegt habe (S. 35). Er fälle damit ein geschichtsphilosophisch normatives Verdikt über einen unliebsamen historischen Vorgang (S. 53). Zudem bediene er sich in seiner moralischen Abqualifizierung und schematischen Verzerrung der Aufklärung der gleichen hyperkritischen Mittel, wie er sie der totalitären Geschichtsphilosophie unterstellt (S. 47). Schwartz fasst sein abschließendes Urteil dahingehend zusammen, dass Kosellecks „Schwanken zwischen anti-aufklärerischem Moralismus und geschichtsphilosophischem Fatalismus […] in der Attitüde des moralisierend-kritisierenden Apologeten einer ‚Politik‘“ kumuliere, „die doch gerade frei von aller Moral und Kritik agieren soll“ (S. 57). == Textausgaben == Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Erstausgabe: Verlag Karl Alber, Freiburg, München 1959. Taschenbuchausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-27636-0; 11. Auflage 2010. Englischsprachige Ausgaben: Reinhart Koselleck: Critique and Crisis. Enlightenment and the Pathogenesis of Modern Society. Berg Publishers, Oxford 1988, ISBN 0-262-61157-0. MIT Press, Cambridge, Massachusetts 1988. == Literatur == Jürgen Habermas: Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie. In: ders.: Kultur und Kritik. 2. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 355–364. Sisko Haikala: Criticism in the Enlightenment. Perspectives on Koselleck’s Kritik und Krise Study. In: Finnish Yearbook of Political Thought. Vol. 1 (1997), S. 70–86. (Weblink) (PDF; 49 kB) Sebastian Huhnholz: Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“ (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Band 95), Duncker & Humblot, Berlin 2019. Gennaro Imbriano: „Krise“ und „Pathogenese“ in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt. In: Ernst Müller (Hrsg.): Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte. In: E-Journal. 2. Jahrgang (2013), Nr. 1, S. 33–48. (Weblink) (PDF; 286 kB) Jan-Friedrich Missfelder: Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. Zum Zusammenhang von Utopiekritik und Historik bei Reinhart Koselleck. In: Carsten Dutt, Reinhard Laube (Hrsg.): Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks. Wallstein, Göttingen 2003, S. 268–286. Michael Schwartz: Leviathan oder Lucifer. Reinhart Kosellecks ‚Krise und Kritik‘ revisited. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. 45. Jahrgang (1993), Heft 1, S. 33–57. Mario Wimmer: Über die Wirkung geschichtswissenschaftlicher Texte. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte (SZG). 62. Jahrgang (2012), Nr. 2, S. 217–238. == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_und_Krise
Kulturareal Desert
= Kulturareal Desert = Das Kulturareal Desert ist eines von 17 Kulturarealen in Australien, das komplett im sogenannten Outback liegt. In ihm wohnen 42 Stämme der Aborigines, die als eine kulturell ähnliche Einheit zusammengefasst sind und sich von Aborigines in umliegenden Kulturarealen in ihrer Lebensweise abgrenzen. Das Kulturareal erhielt seine Bezeichnung „Desert“, da es in den ariden Teilen des Landes mit der Simpsonwüste, der Gibsonwüste, der Großen Sandwüste sowie mehreren kleineren Wüsten liegt. Die Lebensbedingungen in der Wüste bewirkten Unterschiede zu anderen Kulturarealen: zum Beispiel bezüglich der Nahrung, der Häufigkeit, mit der das Lager gewechselt wurde, und der Größe der Gebiete, die ein Stamm durchstreifte. Selbst innerhalb des Kulturareals gab es Unterschiede, insbesondere zwischen der Western Desert und der Central Desert um Alice Springs: Da die Lebensbedingungen in der Western Desert harscher waren als im relativ wasserreichen Zentrum, neigten dortige Stämme dazu, in kleineren Gruppen über größere Strecken zu wandern. Auch sprachlich gibt es klare Unterschiede zwischen den Western Desert languages und den anderen Sprachen des Kulturareals. Trotz der Unterschiede der Kultur der Aborigines verschiedener Kulturareale gibt es auch viele Gemeinsamkeiten mit den Aborigines anderer Kulturareale: eine vorwiegend nomadische Lebensweise als Jäger und Sammler; Steinwerkzeuge, aber keine Metallbearbeitung; ein spirituell komplexes Leben, in dessen Mittelpunkt die Traumzeit und Totems stehen; ein strukturiertes Verwandtschaftssystem, das mit klar definierten Heiratsregeln und Verantwortlichkeiten für das Land einhergeht. Die Besiedlung des Gebietes durch die Weißen erfolgte etwa 100 bis 150 Jahre später als in den meisten anderen Teilen Australiens – also ab etwa 1870, teilweise erst 1930 – dennoch war das Zusammentreffen mit den Weißen wieder von Enteignung (dispossession) der Aborigines geprägt; es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen sowie Versuchen, die Aborigines zu assimilieren und sie in Ortschaften sesshaft werden zu lassen. Erst in den 1970er Jahren erhielten Aborigines aufgrund neuer Gesetze weite Teile des Landes zurück und begannen sich in der Outstation Movement in den 1980er Jahren wieder von größeren Ansiedlungen wegzubewegen. Da wegen der unwirtlichen Bedingungen die Wüste erst später von den Weißen besiedelt wurde, ist die traditionelle Kultur und Sprache zum Teil auch heute noch erhalten, wohingegen insbesondere im Südosten Australiens und in Tasmanien Kenntnisse über das traditionelle Leben der dortigen Aborigines verloren gegangen sind. == Abgrenzung == Im ursprünglichen Vorschlag für Kulturareale Australiens von 1976 war die Western Desert ein eigenständiges Kulturareal; die Central Desert – geografisch weitgehend identisch mit dem Red Centre – gehörte zum Kulturareal Eyre, da der Anthropologe Nicolas Peterson den Verlauf der Hauptwasserrouten als Grundlage für die Einteilung der Kulturareale nutzte. Er begründete diese Einteilung damit, dass die Räume zwischen den Wasserläufen natürliche Barrieren darstellen: Dies führe dazu, dass Menschen innerhalb eines Areals einen regen sozialen und kulturellen Austausch haben und sich deswegen angleichen, wohingegen der Austausch zwischen den Arealen geringer sei und sich daher größere Unterschiede ausbilden. Mittlerweile werden Western Desert und Central Desert zusammengefasst, da sowohl in der Western Desert als auch in der Central Desert Trockenheit vorherrschen und damit entscheidend die Lebensbedingungen prägen.Das Kulturareal Desert umfasst rund 40 Prozent des australischen Festlandes; der größte Durchmesser beträgt gut 2000 km. Große Teile Western Australias, des Northern Territorys, der Nordwesten South Australias sowie ein kleiner Teil Queenslands liegen in diesem Kulturareal. Es ist flächenmäßig das größte Areal, hat aber mit 0,05 Einwohnern/km2 die geringste Bevölkerungsdichte.Permanente Wasserstellen gibt es nur wenige; sie befinden sich vor allem in den hügeligen Regionen um die MacDonnell Ranges, bei Uluṟu und Kata Tjuṯa sowie entlang der Flüsse, vor allem am Finke River, der auch in trockenen Zeiten noch einige Wasserlöcher an der Oberfläche besitzt. In der Central Desert gab es außerdem Zugriff auf das Wasserreservoir des Großen Artesischen Beckens. Neben der Trinkwasserversorgung beeinflusste die Trockenheit entscheidend das Nahrungsangebot: Es gab nur wenige größere jagbare Tiere wie Kängurus und Große Emus; als Proteinquellen mussten vor allem Echsen, Schlangen und Witchetty-Maden herhalten. Frauen sammelten Samen verschiedener Pflanzen wie der Mulga, die zu einer Art Mehl verarbeitet und verbacken wurden. Buschtomaten und die Früchte von Bäumen, wie der Buschpflaume, gehörten und gehören ebenfalls zum Bush Food. == Geschichte == === Vorgeschichte === Die Kimberley-Region im Nordwesten des Kontinents gilt als Ausgangspunkt der Besiedlung Australiens. Die Wüsten im Inland des Kontinents wurden vermutlich vor etwa 35.000 Jahren während einer wärmeren Periode der letzten Eiszeit direkt von der Kimberley-Region besiedelt, als Australien über diese Region mit Neuguinea durch eine Landbrücke verbunden war und den Kontinent Sahul bildete.Zu den Artefakten, die aus verschiedenen Zeiten stammen und Archäologen Hinweise auf die Besiedlung der Desert geben, gehören vor allem diejenigen, die aus Stein gearbeitet sind: Speerspitzen und Beile sind aus allen Zeiträumen bekannt. Die frühen Exemplare sind nur behauen, die späteren auch geschliffen; zum Teil wurden auch Befestigungsnuten eingearbeitet. Eine Grabungsstelle, die eine dauerhafte Besiedlung der Wüsten Australiens zu diesem frühen Zeitpunkt belegt, ist das 75 km westlich der MacDonnell Ranges gelegene Puritjarra. In Puritjarra wurden 1986 Steinwerkzeuge und Ocker gefunden, die mit Thermolumineszenzdatierung auf ein Alter von 35.000 Jahren und mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von 32.400 Jahren bestimmt wurden. Aus der Anzahl der Artefakte in den stratigrafischen Schichten lesen Archäologen ab, dass Puritjarra – wie auch andere ähnliche Grabungsstellen – in der Zeit von vor etwa 22.000 Jahren bis vor etwa 13.000 Jahre seltener genutzt wurde. Erklärt wird das mit der hohen Trockenheit während des letzten Maximums der Eiszeit, dem Jungpleistozän, und einer damit geringeren Bevölkerungsdichte in der Gegend. Erst ab den Schichten der letzten 6.000 Jahre gibt es wieder eine hohe Anzahl an Spuren menschlicher Besiedlung, zu denen nun auch erstmals Äxte mit Haft gehören und Steine zum Mahlen von Samen; diese Mahlsteine wurden nicht transportiert, sondern blieben fest an einem Ort. Zwei andere wissenschaftlich ausführlich beschriebene Grabungsstellen sind Puntutjarpa und Serpents Glen, die sich in der Gibsonwüste in hügeligen Gegenden befinden. Hier wurden wiederum Belege einer frühen Besiedlung entdeckt, jedoch keine Funde aus der Zeit des besonders trockenen Maximums der Eiszeit. Erst im Holozän sind diese Stellen wieder bewohnt worden.Insgesamt gehen Archäologen davon aus, dass die gesamte Wüste im Zeitraum von 30.000 BP bis 35.000 BP besiedelt wurde, ab etwa 24.000 BP jedoch wieder menschenleer war, abgesehen von zwei Rückzugsgebieten mit ausreichender Wasserversorgung: um die MacDonnell Ranges und weiter südwestlich in den Warburton Ranges in Western Australia. Erst seit etwa 10.000 Jahren sind alle Gebiete wieder bewohnt; allerdings weniger dicht als zuvor.Sprachwissenschaftler glauben hingegen, dass die Western Desert „eher kürzlich“ – das heißt in den letzten 1000 Jahren – von der Westküste her besiedelt wurde, bis diese Aborigines auf den Stamm der Arrernte trafen: Die Western Desert Language scheint ihren Ursprung nahe der Westküste zu haben und teilt mit der Sprache Arrernte nur etwa 20 % des Vokabulars. Unterstützung sehen Sprachwissenschaftler in einer Arbeit zur Blutgruppen-Genetik der Aborigines, die einen starken Unterschied zwischen Aborigines der Arrernte und der Western Desert feststellt und darin das Zusammentreffen von zwei verschiedenen Populationen sieht. Aus Werkzeugen und Felsritzzeichnungen kann diese Siedlungstheorie nicht abgeleitet werden; signifikante Unterschiede zwischen den Regionen werden nicht beschrieben.Anhand der Ausgrabungsstellen wird für die letzten 1000 bis 1500 Jahre ein sesshafterer Lebensstil vermutet, bei dem Gruppen von bis zu 200 Menschen von verschiedenen Stämmen sich in Basiscamps nahe zuverlässiger Wasserstellen trafen. Dabei wurden vor allem Zeremonien abgehalten und Handel betrieben, bei dem zum Beispiel Muschel-Schalen von der Nordküste Australiens getauscht wurden und so ihren Weg bis South Australia fanden. Ein bekannter Treffpunkt ist Therreyererte in der Simpsonwüste; hier sind Aborigines verschiedener Stämme zusammengekommen, um nach der Regenzeit, wenn Wasser und Nahrung reichlich vorhanden waren, Initiationsriten zu vollziehen. Außerhalb solcher großen Zusammentreffen wanderten Aborigines aber in kleinen Gruppen von 5–20 Menschen entlang weniger reichhaltiger Wasserstellen, um dort zumeist zwei oder drei Tage, in Einzelfällen bis zu drei Wochen lang an einem Ort zu campen und die jeweiligen Nahrungsquellen der Umgebung zu nutzen. === Erste Berichte von Europäern === Bis 1930 kamen nur wenige Weiße in das Zentrum des Kontinents. Noch vor den Europäern kamen jedoch von außen eingeschleppte Krankheiten in die Wüste: Bereits die Pockenepidemie von 1789, die vermutlich von Seefahrern aus Makassar in Indonesien eingeschleppt wurde, soll das Zentrum erreicht haben, ebenso wie die nachfolgenden Epidemien von 1820, 1860 und 1870. Wegen der geringen Siedlungsdichte im Kulturareal Desert sollen sie jedoch weniger fatal gewesen sein als in anderen Teilen Australiens. Die erste Expedition von Europäern war von August 1844 bis Dezember 1845 unter der Leitung von Charles Sturt, an der auch John McDouall Stuart teilnahm. Ziel war es, ein postuliertes Binnenmeer zu finden. Im Jahre 1848 versuchte der deutsche Entdecker Ludwig Leichhardt eine Route von Queensland nach Perth zu entdecken und ging verschollen. Stuart unternahm aufgrund seiner Erfahrung dann eine Reihe weiterer Expeditionen von 1858 bis 1862, um zunächst Land für Viehzüchter zu entdecken; später, um eine Strecke für die von Charles Todd gewünschte Transaustralische Telegrafenleitung von Adelaide nach Darwin zu finden. Zumeist gingen sich Entdecker und Aborigines aus dem Weg, so dass es wenige Berichte über Zusammentreffen gibt. Mehrere Male beschreibt Stuart in seinem Buch, dass er Feuer, verbranntes Gras und Rauch sah sowie Natives, die einer Begegnung auswichen: Auch andere Entdecker wie William Gosse, Ernest Giles und Peter Warburton beschrieben in den 1870er Jahren detailliert jedes Zusammentreffen mit Aborigines, von denen einige, insbesondere mit großen Gruppen, feindselig waren: Hier griffen die Aborigines die Forscher mit Speeren an. === Besiedlung durch Weiße, erste wissenschaftliche Arbeiten === Der Bau der Telegrafenleitung fand in den Jahren 1870/71 statt. Mit der Errichtung der Telegrafenstation im heutigen Alice Springs begann die erste permanente Besiedlung des Kulturareals durch weiße Siedler; die ersten etablierten Viehzüchter aus South Australia reklamierten zunehmend Gebiete entlang der Telegrafenleitung und vor allem am Finke River und an einem seiner Zuflüsse, dem Hugh River. Aborigines arbeiteten auf diesen Farmen als Viehtreiber und reparierten Zäune, als Gegenleistung erhielten sie Nahrungs- und Genussmittel; vor allem Mehl, Tee und Tabak. Ab 1886 setzte der erste Minen-Boom ein, als vermeintlich Rubine östlich von Alice Springs gefunden wurden. Ein Goldrausch begann 1887. Von den Goldsuchern ist bekannt, dass sie im Gegensatz zu den Viehzüchtern Partnerschaften mit Aborigine-Frauen eingingen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften sich Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Gonorrhö unter Aborigines der Wüste ausgebreitet haben. Da diese Krankheiten Infertilität verursachen, wird ihnen der größte Anteil des nachfolgenden Schwundes der Zahl der Aborigines zugeschrieben. Die ersten Forscher, die das Ziel hatten die Kultur der Aborigines zu studieren, waren Walter Baldwin Spencer, der 1894 mit der Horn-Expedition nach Alice Springs kam, und Francis James Gillen, ein Telegrafenstationsmeister in Alice Springs. Ihre Arbeiten über die Arrernte gehören neben der Carl Strehlows, Moritz von Leonhardis und Theodore George Henry Strehlows zu den umfangreichsten Dokumentationen zur Kultur von Aborigines. Weiter erschlossen wurde die Gegend ab 1880 mit dem Bau der Great Northern Railway, die von Adelaide schließlich ab 1920 nach Alice Springs führte. === Veränderung der Lebensweise, Widerstand === Bis etwa 1930 blieb die Lebensweise der Aborigines im Zentrum Australiens weitgehend ungestört erhalten, da es nach wie vor nur wenige Weiße gab. Das änderte sich jedoch, als sich die Rinderzucht weiter ausbreitete: Theoretisch war es den Aborigines weiterhin gestattet auf den Ländereien zu jagen und Wasserstellen zu besuchen, allerdings veränderte die Viehwirtschaft die Ökologie nachhaltig; 1970 wurde festgestellt, dass von den 29 beheimateten Säugetier-Arten 14 ausgestorben waren; auch bei den Pflanzen ist ungefähr die Hälfte aller Arten nicht mehr vorhanden. Wie zuvor in anderen Teilen Australiens töteten Aborigines daher Vieh, um sich zu ernähren, aber auch um damit ihren Protest und Widerstand gegen die Besiedlung auszudrücken. Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen, bei denen es zum einen um Nahrung, zum anderen um das Durchsetzen des weißen Rechtsverständnisses ging, war das Coniston-Massaker von 1928, bei dem vermutlich 31 Warlpiri, Anmatyerre und Kaytetye getötet wurden. In den Wüsten des Westens gab es abgesehen von Zusammentreffen auf der Canning Stock Route, einem Herdenweg, und beim Bau des Rabbit-Proof Fence bis in die 1960er Jahre keinen Kontakt mit Weißen. === Missionsstationen, Reservate, partielle Sesshaftigkeit, Kulturerhalt === Häufig suchten Aborigines in für sie geschaffenen Missionsstationen Schutz und versuchten dort Nahrung und medizinische Versorgung zu erhalten. Insbesondere eine schwere Dürreperiode von 1926 bis 1930 bewegte viele Aborigines, ihr traditionelles Leben aufzugeben, sich den Missionen anzuschließen und ein zunehmend sesshaftes Leben zu führen, bei dem Nahrung und Unterkunft als Gegenleistung für Arbeit bei der Viehzucht gewährt wurden. Abgesehen von den Missionen konnten Aborigines auch Schutz in Reservaten finden, die von den Aboriginal Protection Boards eingerichtet worden waren. Wie in den meisten Missionen wurden sie ermutigt oder gedrängt, das Leben als Jäger und Sammler aufzugeben und sich westlichen Lebensweisen anzupassen. Sowohl die Missionen als auch die Reservate sind sehr umstritten, da sie zwar einerseits Nahrung, medizinische Versorgung und Schulbildung boten, andererseits in ihnen zum Beispiel die Kinder von gemischten Verbindungen, also von Weißen mit Aborigines, zwangsweise untergebracht wurden, um sie zu assimilieren. Darüber hinaus förderte das enge Beieinanderleben vieler Menschen die Ausbreitung von Krankheiten: Typhus, Tuberkulose, Diphtherie, Influenza und Masern fanden hier einen idealen Nährboden und führten vielfach zum Tod. Als erste Mission im Kulturareal wurde von lutherischen Missionaren die Finke-River-Mission im heutigen Hermannsburg auf dem Gebiet der Western Arrernte errichtet. Sie gilt als eine der besten und erfolgreichsten in Australien, weil sie zum einen mit einer aktiven Zeit von 1877 bis 1982 eine der dauerhaftesten war und zum anderen half, die Kultur der Western Arrernte zu erhalten. Diese überlebte nicht nur in den Arbeiten des Pastors Carl Strehlow und seines Sohns, des Ethnologen Theodore Strehlow, die umfangreiche Werke über Sprache und Mythen veröffentlichten, sondern ist auch heute noch lebendig. Im Gegensatz dazu sind Sprache und Traditionen der Eastern Arrernte kaum erhalten geblieben, da sie ohne Schutz dem Vordringen der weißen Siedler ausgesetzt waren.Auch die Ernabella-Mission, von 1937 bis 1974 auf dem Gebiet der Pitjantjatjara aktiv, galt als vorbildlich. Schwerpunkt der Mission waren medizinische Versorgung und Schulausbildung; den Pitjantjatjara war es freigestellt, ob sie sich dem christlichen Glauben anschließen wollten. Die Jigalong-Mission, die von 1946 bis 1969 betrieben wurde und sich am westlichen Rand der Kleinen Sandwüste befindet, ist dagegen ein Beispiel für die Auswüchse der Missionsbestrebungen, bei denen es sich Missionare zum Ziel machten, die indigene Kultur komplett durch eine christliche Erziehung zu ersetzen: Gegründet wurde Jigalong von Mitgliedern der Apostolischen Kirche, die glaubten, dass Aborigines Kinder des Teufels seien, verloren „in der großen Dunkelheit und tief in Sünde“. Die Kinder der Aborigines wurden der Familienobhut entzogen und in Schlafsälen untergebracht, wo ihnen ständig gepredigt wurde und sie für kleinste Fehltritte mit Prügel bestraft wurden. Schließlich erzwangen Aborigines 1967 eine Regierungsuntersuchung, die 1969 zur Auflösung der Mission führte. Jigalong ist seit der Aufarbeitung um die Gestohlene Generation eines der bekanntesten und auch extremsten Beispiele für „ethnozentrische Arroganz und Rassismus“ unter den Missionen. Die Christianisierung schritt in allen Missionen langsam voran. Jene Missionen wie die Ernabella- oder die Finke-River-Mission, die keine völlige Abkehr von der traditionellen Lebensweise verlangten, waren die erfolgreicheren in der Christianisierung, da sie es erlaubten, traditionelle Religion und Christentum zu verbinden und den Bedürfnissen der Aborigines entsprechend anzupassen.Auf dem Gebiet der Western Desert, so zum Beispiel in Maralinga, wurde die relative Unbewohntheit des Landes genutzt, um in den 1950er und 1960er Jahren Atomwaffentests durchzuführen. Zur Vorbereitung suchten zwei Regierungsbeamte das Gebiet nach Aborigines ab, um diese umzusiedeln. Etwa 40 Pila Ngura blieben jedoch zunächst unentdeckt im Gebiet des radioaktiven Niederschlags; die gesundheitlichen Folgen wurden nicht dokumentiert. === Outstation Movement und Situation heute === Die Australien-weite Landrechtsbewegung begann in den 1960er Jahren mit dem Ziel den Native Title, also Rechte an Kronland zu erhalten. Im Northern Territory wurde mit dem Aboriginal Land Rights Act von 1976 den Aborigines der Weg geebnet, Landeigentum zu beanspruchen. 1981 folgte der Anangu Pitjantjatjara Yankunytjatjara Land Rights Act, der den Pitjantjatjara und Yankunytjatjara Rechte an ihrem Land zusprach, das sich zu einem großen Teil in South Australia befindet. Südlich davon wurden 1984 mit dem Maralinga Tjarutja Land Rights Act weitere Gebiete den traditionellen Eignern zurückgegeben. Die restlichen Gebiete des Kulturareals können im Rahmen der Gesetzgebung, die dem Urteil Mabo v. Queensland (No. 2) folgte, eingeklagt werden. Das Recht an eigenem Land führte dazu, dass Aborigines, die zuvor in Missionen, Reservaten, Rinderfarmen und Ortschaften lebten, zu einem großen Teil in ihr traditionelles Land zurückkehrten, um dort zunächst in einfachen Camps, später auch in Häusern, eigene Farmen (stations) aufzubauen. Dort leben sie bis heute in einer Mischung aus traditionellem und modernem Leben: Einerseits ist ihr Leben weitgehend sesshaft, da sie in die durch Regierungsprogramme ermöglichten Häuser zogen und eigenes Gemüse anbauen, das mit von Regierungsgeldern erbauten Wasserpumpen bewässert wird; andererseits werden Sprache und Kultur gepflegt, in einer dem traditionellen Nomadenleben ähnelnden Weise für längere Zeit Verwandte in verschiedenen anderen Outstations besucht und nach wie vor Kängurus gejagt, wenn auch nun mit Auto und Gewehr. Zu den Regierungsgeldern kommen Einnahmen aus Lizenzen, die an Bergbauunternehmen vergeben wurden. Insgesamt nahm mit der neuen Selbstbestimmung aber auch die Abhängigkeit von der Wohlfahrt zu, die medizinische Versorgung und Schulbildung verschlechterten sich, da die Outstations sehr isoliert sind und Weiße – die die medizinische oder schulische Versorgung hätten leisten können – zumindest in den ersten Jahren als dauerhafte Bewohner unerwünscht waren.Kleine Grundschulen mit 10 oder 15 Schülern sind mittlerweile auch in entlegenen Gebieten vorhanden; weiterführende Schulen lediglich in Tennant Creek und Alice Springs. Entsprechend verlassen junge Menschen in entfernten Gebieten die Schule früher. Bei den 15-jährigen besuchen nur knapp über 50 % noch eine Schule, während es in den Städten nahezu 80 % sind. Neben den Schulen vor Ort gibt es seit 1951 die Möglichkeit, die School of the Air zu „besuchen“; diese sendet ein Schulprogramm über Funk beziehungsweise seit rund zehn Jahren über das Internet. Eine medizinische Basisversorgung wird vorwiegend durch Pflegepersonal geleistet, das in einigen Gemeinschaften lebt und in community health centres arbeitet; in Notfällen kann der Royal Flying Doctor Service of Australia sowohl fachlich am Telefon, mit Material, personell oder beim Transport von Patienten unterstützen. Ärzte und je ein Krankenhaus gibt es in Alice Springs und in Tennant Creek, woraus sich für Patienten extrem lange Anfahrtswege von bis zu 1000 km ergeben. Krankenversichert sind Aborigines wie alle dauerhaften Bewohner Australiens über das von Steuern finanzierte staatliche Medicare. Gesonderte Daten zum Gesundheitszustand der Aborigines im Kulturareal Desert gibt es nicht, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass sie ähnlich der Gesamtpopulation der Aborigines ist: Die Lebenserwartung von Aborigines ist im Durchschnitt rund 15 Jahre geringer als im Landesdurchschnitt; die Gründe hierfür sind vielfältig und werden kontrovers diskutiert. Auffällig sind jedoch die erhöhte Prävalenz von Diabetes und Kardiovaskulären Erkrankungen.Wie bei der nicht-indigenen Bevölkerung ist die Arbeitslosenquote der Aborigines im ländlichen Zentrum Australiens am niedrigsten, da die prosperierende Bergbauindustrie für reichlich Arbeit sorgt. Dennoch ist die Arbeitslosenquote unter den Aborigines mit 10 % deutlich höher als die der restlichen Bevölkerung, die bei etwa 3 % liegt. Die Folgen kultureller und sozialer Entwurzelung sind, wie bei vielen Indigenen, auch in Australien erkennbar: Insbesondere junge männliche Aborigines fallen durch Alkoholmissbrauch auf, Benzin-Schnüffeln, Gewalt und sexuelle Übergriffe. Das Risiko, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein, ist 45-mal höher, ermordet zu werden 10-mal höher für Aborigines als für andere Australier. Sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis treten 20-mal häufiger auf, Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren leiden 186-mal häufiger an Gonorrhoe. Zwar sind solche generalisierenden Zahlenangaben durchaus kritisch zu betrachten, sie weisen jedoch auf die grundlegenden Probleme in den indigenen Gemeinschaften hin. Als eine der Maßnahmen gegen den Missbrauch von Drogen haben viele Gemeinschaften der Aborigines Alkohol in ihren Gemeinden verboten und sind „trocken“. Die Ölgesellschaft British Petroleum hat 2005 opal entwickelt, einen Kraftstoff, der keine bewusstseinsverändernde Wirkung hat.Die australische Bundesregierung hat 2007 nach der Veröffentlichung des Berichtes Little Children are Sacred mit der Northern Territory National Emergency Response die Selbstverwaltung der Gemeinschaften der Aborigines im Northern Territory aufgehoben und, unterstützt von der Logistik des Militärs, unter anderem medizinische Reihenuntersuchungen für Kinder durchgesetzt. Der Bericht beschreibt die Verbreitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Gemeinschaften der Aborigines sowie deren gesundheitliche Vernachlässigung. == Religion == Der Missionar Friedrich Kempe aus Hermannsburg schrieb 1885, dass die Aborigines keine Religion haben und Angst die einzige Spur von Religion in ihnen sei; bis in die 1930er Jahre betonten Anthropologen den Totem-Charakter der Riten und Mythen und beschrieben die traditionelle Religion der Aborigines als eine Vorstufe von „echter“ Religion. Erst im weiteren wissenschaftlichen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass Aborigines eine Religion haben. Aus dem Arrernte-Wort alcheringa (alternative Schreibweisen altyerre oder altyerrenge), das sowohl „Gesetz“ als auch „Ewigkeit“ als auch „Träumen“ heißen kann, leiteten Spencer und Gillen die Bezeichnung Traumzeit (dreamtime oder dreaming) als Begriff für die spirituelle Welt der Arrernte und aller Aborigines ab. Die Traumzeit beschreibt, wie verschiedene Geschöpfe, die Ancestor Beings (deutsch: „Ahnen-Wesen“), bei ihren Erlebnissen und Reisen auf dem ungeformten Land Berge, Flüsse und Täler kreierten und dabei auch Gesetze hinterließen, die das Leben der Aborigines regelten. Die Reisen der Ancestor Beings werden in Songlines beschrieben. Sie geben in Versen die Reiserouten und die Eigenschaften des Landes wieder und dienen der Orientierung im Land, um bekannte Wasserquellen und Nahrung zu finden. Das meiste Wissen um die Traumzeit und die Songlines ist geheim und wird Außenstehenden eher nicht preisgegeben. Wichtige Voraussetzung für das Erwerben von Kenntnissen ist die Initiation. Ein zum Teil dennoch veröffentlichtes Beispiel ist der Uluru-Mythos der Pitjantjatjara, der die Entstehungsgeschichte des von den Weißen früher „Ayers Rock“ genannten Monolithen beschreibt. Rituale, Songlines und Zeremonien der Arrernte wurden – soweit ihnen zugänglich gemacht – von Spencer und Gillen sowie von Vater und Sohn Strehlow beschrieben. Andere Stämme werden erst in neuerer Zeit untersucht; da seit etwa den 1970er Jahren auch weibliche Wissenschaftler in dem Gebiet forschen, werden seither erstmals Zeremonien und Geheimnisse der Frauen untersucht. Wie bei anderen Aborigines spielt ein komplexes Verwandtschaftssystem (kinship) eine entscheidende Rolle bei den religiösen und gesellschaftlichen Verpflichtungen eines einzelnen. Unterschiede zu anderen Kulturarealen gibt es lediglich in den Details der einzelnen Rituale, wie zum Beispiel in der Körperdekoration. == Kunst == === Petroglyphen im Panaramitee-Stil === Wie in vielen anderen Teilen Australiens, gibt es in der Central und Western Desert Petroglyphen, also Felsritzzeichnungen. Im Zentrum Australiens sind diese Petroglyphen vorwiegend im Panaramitee-Stil gehalten: Punkte, Striche und Kreise symbolisieren zum Beispiel Wege, Spuren, Wasserquellen. Typischerweise sind sie etwa 10 cm groß und eher abstrakt, was auf eine spirituelle Bedeutung hindeutet. So können die Punkte und Striche zum Beispiel die Spuren der Ancestor Beings der Traumzeit darstellen und die Zeichnungen illustrieren, wie diese das Land geformt haben. Im Gegensatz dazu sind eher figürliche Darstellungen den weltlichen Themen wie dem Jagen vorbehalten. Dieser figürliche Stil soll erst später entstanden sein. Zwei Funde sind genauer beschrieben: die Petroglyphen von Ewaninga auf dem Gebiet der Arrernte, 40 km südlich von Alice Springs, und die Cleland Hills Faces, 320 km westlich von Alice Springs, die neben hunderten von Motiven im Panaramitee-Stil auch 16 Gesichter darstellt.Das Alter der Felsritzzeichnungen ist bislang nicht zuverlässig bestimmt worden. Umstritten ist, ob es sich bei einer Zeichnung in Yunta Springs, im Südosten des Kulturareals, tatsächlich um den vor mindestens 25.000 Jahren ausgestorbenen Diprotodon handelt, wie von Herbert Basedow vermutet. Wegen der starken Verwitterung und Beschichtung gilt jedoch ein Alter von mehr als 10.000 Jahren als sehr wahrscheinlich. In der Kunst der Aborigines werden die Motive dieses Stils seit 1971 von den Luritja und Pintupi aus Papunya in einer modernen Kunstform, dem Dot-Painting weiterverwendet. === Felsmalerei === In dem gesamten Kulturareal Desert gibt es Felsmalereien mit Motiven von wenigen Zentimetern Größe, die mehrfach wiederholt nebeneinander stehen. Als typisch für die Central Desert gilt, dass ein einzelnes Motiv durch das wiederholte Nebeneinanderstehen eine große Fläche bedecken kann. Zu den am besten dokumentierten Felsmalereien dieses Stils gehören Emily Gap, nahe Alice Springs, und Ngama, auf dem Gebiet der Warlpiri. Negative Handabdrücke mit rotem Ocker werden in der Central Desert gefunden, nicht aber in der Western Desert. Insgesamt gilt die Felsmalerei der Central Desert als variantenreicher und komplexer als die der Western Desert. Als Farben werden weißer und roter Ocker verwendet, viele Malereien sind bichrom, manche monochrom.Wie auch Felsritzzeichnungen hat die Felsmalerei häufig eine spirituelle Bedeutung: So weiß man von Emily Gap, dass es sich hier um Spuren des Caterpillar Dreamings handelt. Die Raupe (caterpillar) formte Emily Gap und viele andere Landschaften nahe Alice Springs. Andere Funktionen der Felsmalerei und der Felsritzzeichnungen sind das Markieren der sozialen Bedeutung der Stelle und die Förderung des Zusammenhalts von Gruppen.Da die Farben einerseits leicht auswaschen, andererseits rituell regelmäßig erneuert werden, ist eine genaue Datierung von Felsmalereien bisher unmöglich. === Moderne Kunst === Der erste kommerziell erfolgreiche Künstler der Aborigines war Albert Namatjira, der Begründer der Hermannsburg School. Er arbeitete ab den 1930er Jahren mit Wasserfarben und malte die Landschaften der Western MacDonnell Ranges. Mehrere seiner Söhne und eine Reihe anderer Bewohner aus Hermannsburg produzierten Bilder in seinem Stil. Ausstellungen in ganz Australien fanden statt; heutzutage sind seine Bilder in vielen Museen Australiens zu sehen. Das bereits erwähnte Dot-Painting kam in den 1970er Jahren auf. Als bedeutendster Vertreter gilt Clifford Possum Tjapaltjarri – eines seiner Bilder erzielte mit AUS$ 2,5 Millionen den höchsten Preis für ein Bild eines Aborigine-Künstlers. Schließlich entwickelte die Künstlerin Emily Kngwarreye aus Utopia den Stil weiter, indem sie die Punkte überlappte. In vielen Gemeinschaften des Kulturareals gibt es keine Arbeit und Kunst ist, abgesehen von staatlichen Zuwendungen, die oft einzige Einkommensquelle. Daraus ergab sich vor allem in den 1980er Jahren und 1990er Jahren, dass Kunst in vielen Fällen wie am Fließband hergestellt wurde; zu Lasten der Qualität und der Arbeitsbedingungen. Auch Emily Kngwarreye wurde vorgeworfen, schließlich zu sehr auf Masse gearbeitet zu haben. Anschuldigungen über die Ausbeutung von Künstlern, die mit unterbezahlter Kunst ihre gesamte Gemeinschaft unterstützen mussten, standen nach einer Untersuchung des Australischen Parlaments Vorteile wie Pflege der traditionellen Kultur, erhöhtes Selbstwertgefühl der Künstler und Aborigines sowie ein verstärkter sozialer Zusammenhalt in den Gemeinschaften gegenüber. == Sprache == Im Kulturareal werden im Wesentlichen verschiedene Dialekte dreier australischer Sprachen gesprochen (in Klammern angegeben: Zahl der Sprecher): unter ihnen Pintupi, Luritja (1500), Ngaanyatjarra (1000) und Pitjantjatjara (2600) aus der Western Desert Language (7300); Arrernte (2800) und Anmatyerre (1000) aus der Sprache Arandic (5500); und Warlpiri (2500), das zur Northern Desert Fringe Area Languages (4500) gehört. Darüber hinaus gibt es noch wenige Sprecher eines halben Dutzends weiterer Sprachen. Allen gemeinsam ist, dass sie wie 90 % der Sprachen Australiens zu dem Sprachbund der Pama-Nyunga-Sprachen gehören. Tendenziell nimmt der Anteil der Sprecher einer Sprache mit dem Abstand von Städten zu: Während in Städten wie Sydney nur weniger als 1 % der Aborigines eine australische Sprache sprechen, sind in den sehr entlegenen (very remote) Gegenden, zu denen der Großteil des Kulturareals Desert gehört, noch 60 % Sprecher einer australischen Sprache. Rund 13 % geben an, Englisch nicht oder nur unzureichend zu beherrschen. In den 1970er Jahren begannen verschiedene Regierungsorganisationen, an den Schulen zweisprachige Programme einzuführen, um die Sprachen zu erhalten. Seit den späten 1990er Jahren wird die finanzielle Unterstützung dafür allerdings zurückgefahren. == Literatur == === Historische Literatur === Lucien Lévy-Bruhl (1935) La Mythologie primitive. Le monde mythique des Australiens et des Papous Baldwin Spencer, Francis James Gillen (1927) The Arunta Baldwin Spencer, Francis James Gillen (1899) The northern tribes of Central Australia ISBN 0-559-10977-6 Carl Strehlow (1908) Die Aranda- und Loritjastämme in Zentral-Australien, bearbeitet von Moritz von Leonhardi Theodore George Henry Strehlow (1947) Aranda Traditions John McDouall Stuart The Journals of John Mcdouall Stuart Charles Sturt (1849) Narrative of an expedition into central Australia, performed under the authority of Her Majesty's Government, during the years 1844, 5, and 6: together with a notice of the province of South Australia, in 1847, Volume 1 === Neuere Literatur === Diane Austin-Broos (2009) Arrernte Present, Arrernte Past: Invasion, Violence, and Imagination in Indigenous Central Australia ISBN 0-226-03264-7 Richard Broome (2002) Aboriginal Australians: black responses to white dominance, 1788–2001 ISBN 1-86508-755-6 Maxwell John Charlesworth, Françoise Dussart, Howard Morphy (2005) Aboriginal religions in Australia: an anthology of recent writings ISBN 0-7546-5128-2 Robert M. W. Dixon (2002), Australian languages: their nature and development ISBN 0-521-47378-0 Josephine Flood (2004) Archeology of the Dreamtime ISBN 1-876622-50-4 Josephine Flood (2006) The Original Australians ISBN 978-1-74114-872-5 Sam D. Gill (1998) Storytracking: texts, stories, & histories in Central Australia ISBN 0-19-511587-2 Richard A. Gould (1980) Living archaeology ISBN 0-521-23093-4 Robert Layton (1989) Uluru - An Aboriginal History of Ayers Rock ISBN 0-85575-202-5 Richard B. Lee (1968) Man the hunter ISBN 0-202-33032-X Ian Lilley (2006) Archaeology of Oceania: Australia and the Pacific Islands ISBN 0-631-23083-1 Derek John Mulvaney, Johan Kamminga (1999) Prehistory of Australia ISBN 1-86448-950-2 Tim Rowse (2002) White Flour, White Power: From Rations to Citizenship in Central Australia ISBN 0-521-52327-3 Peter Marius Veth, M. A. Smith, Peter Hiscock (2005) Desert peoples: archaeological perspectives ISBN 1-4051-0091-5 Annette B. Weiner (1992) Inalienable possessions: the paradox of keeping-while-giving ISBN 0-520-07604-4 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturareal_Desert
Latrine (Gedicht)
= Latrine (Gedicht) = Latrine ist ein Gedicht des deutschen Lyrikers Günter Eich. Es wurde 1946 in der Zeitschrift Der Ruf veröffentlicht und 1948 in Eichs erste Gedichtsammlung der Nachkriegszeit Abgelegene Gehöfte aufgenommen. Das Gedicht entstand während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge Eich als Soldat der Wehrmacht in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Eich schildert die Verrichtungen auf einer notdürftigen Latrine und kontrastiert dabei schöngeistige Betrachtungen mit der Ausscheidung von Exkrementen. Dabei zitiert er das Gedicht Andenken von Friedrich Hölderlin, einem Dichter, der während der Zeit des Nationalsozialismus besonders verehrt wurde, und stellt diesem eine von Krankheit und Tod gezeichnete Gegenwart gegenüber. Besonders der Reim von „Hölderlin“ auf „Urin“ wirkte auf die zeitgenössische Rezeption schockierend. Er wurde aber auch als Bruch mit überholten Konventionen und Signal für einen Neubeginn der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Latrine gilt als typisches Werk der Kahlschlagliteratur und ist eines der bekanntesten Gedichte Günter Eichs. == Inhalt == Das Gedicht beginnt mit den Versen: Während der Blick des lyrischen Ichs in die Ferne schweift, bewaldete Ufer, Gärten, ein gestrandetes Boot wahrnimmt, ist das Klatschen des Kots zu hören. Im Schnee spiegeln sich die Wolken im Urin. Das Ich erinnert sich an Verse aus Hölderlins Gedicht Andenken: „Geh aber nun und grüße / Die schöne Garonne“. Der Blick nach unten zeigt: == Hintergrund und Entstehung == Latrine wurde in seiner Entstehung vielfach Eichs Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zugerechnet, wo er als ehemaliger Soldat der deutschen Wehrmacht von April bis Sommer 1945 im Lager Goldene Meile bei Sinzig und Remagen interniert war. Die Gedichte aus dieser Periode wie Inventur, Lazarett oder Camp 16 werden zum Teil unter dem Begriff „Camp-Gedichte“ zusammengefasst. Axel Vieregg vermutete bei der Herausgabe Eichs Gesammelter Werke 1991 allerdings, dass Latrine bereits bei Eichs Grundausbildung als Rekrut 1940 in Frankreich entstanden sein könnte, einer Phase, der Vieregg auch die motivisch ähnlichen Gedichte Truppenübungsplatz und Puy de Dôme zurechnete. Latrine wurde erstmals in der siebten Ausgabe der noch jungen Zeitschrift Der Ruf von Alfred Andersch und Hans Werner Richter vom 15. November 1946 publiziert. 1948 nahm Eich das Gedicht in seine Lyriksammlung Abgelegene Gehöfte auf, die mit vier Holzschnitten von Karl Rössing im Verlag Georg Kurt Schauer erschien. Erst 20 Jahre nach der Erstauflage stimmte Eich, der vielen seiner frühen Gedichte inzwischen kritisch gegenüberstand, einer Neuauflage dieses Bandes in der edition suhrkamp zu.Eine überlieferte Erstfassung des Gedichts Latrine besteht lediglich aus zwei Strophen, die in groben Zügen der ersten und dritten Strophe der später publizierten Fassung entsprechen. Dort reimen sich die im Fieber gehörten Verse von Hölderlin noch auf: „Im Spiegelbild der Latrine / die weißesten Wolken ziehn.“ Robert Savage macht in der späteren Endfassung drei wesentliche semantische Unterschiede aus: die Änderung des Reims von Hölderlin auf Urin, die Verse Hölderlins, die nicht länger „im Fieber“, sondern „irr“ schallen, und die hinzugekommene „Reinheit“ der Wolken. Die Entwicklung führt er auf Eichs veränderte Perspektive in der Nachkriegszeit zurück, in der es ihm nicht mehr bloß um den Gegensatz zwischen Schmutz und Poesie gehe, sondern auch um deren historische Verstrickung. Während etwa die Entstellung von Hölderlins Versen in der Erstfassung noch dem Fieber des Erzählers geschuldet sei, lasse das „irr“ der Endfassung die erweiterte Möglichkeit einer allgemeinen Irreführung oder eines Irrwegs von Hölderlins Lyrik im Nationalsozialismus zu.Das Gedicht Andenken, das Eich zu Beginn der letzten Strophe zitiert, gehört zu den späten Gedichten Friedrich Hölderlins. Die meisten Interpreten nehmen das Jahr 1803 als Entstehungsjahr an. Im Vorjahr hatte Hölderlin einige Monate in Bordeaux verbracht, ehe er wieder nach Stuttgart zurückkehrte, wo er im Juni 1802 nach einer langen Fußwanderung in verwirrtem Zustand ankam. Das Thema des Gedichts sind Hölderlins Erinnerungen an die sinnlichen Erfahrungen in Südfrankreich und ihre Verwandlung in Dichtung. Bekannt und vielfach parodiert ist insbesondere der abschließende Vers der Hymne: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Kurt Binneberg vermutet, dass Eichs Bezug zu Hölderlins Gedicht aus einer parallelen Lebenssituation, dem Auszug nach Frankreich und dessen Scheitern, resultierte. Vor seiner Einberufung in den Zweiten Weltkrieg hatte Eich als literarischen Proviant noch zahlreiche Gedichte auswendig gelernt, zudem war das Bild vom „Hölderlin im Tornister“ ein Symbol jener „geistigen Stärkung“, die im deutschen Soldaten bewirkt werden sollte. So sah es etwa die unter der Schirmherrschaft von Joseph Goebbels gegründete Hölderlin-Gesellschaft als ihre Aufgabe, mittels so genannter Feldpostausgaben „jedem deutschen Studenten ein Hölderlin-Brevier mit ins Feld zu geben“. Die vom Hauptkulturamt der NSDAP mit herausgegebene Hölderlin Feldauswahl erschien in einer Auflage von 100.000 Exemplaren und enthielt auch das Gedicht Andenken. == Form und Textanalyse == Latrine besteht aus vier Strophen zu jeweils vier Versen, die einen heterogenen Kreuzreim bilden. Für Bruno Hillebrand ist diese feste Struktur „[m]öglicherweise formal als Parodie gemeint“. Und auch Dieter Breuer beschreibt: „die glatte, konventionelle Versifizierung wird durch die gänzlich normwidrige Aussage ad absurdum geführt“. Für Herbert Heckmann bleibt die Sprache auf das Wesentliche beschränkt, nüchtern und lakonisch. Eich deute nicht, er registriere bloß ohne jedes rhetorische oder ästhetische Engagement. Die Verse seien wie in einem Stenogramm aneinandergereiht, wobei erst der Reim die unverbundenen Beobachtungen durch einen gemeinsamen Rhythmus verbinde. Im Reimbild wie in der metrischen Struktur sieht Werner Weber einen Wechsel von Halt und Haltlosigkeit, Ordnung und Unordnung: jeder zweite Vers schwingt in seinem Ende reimlos und ohne Gleichklang aus: „Graben“, „Fliegen“, „Ufer“, „Verwesung“. Dazwischen sind jeweils feste, nicht-ausschwingende Reime gesetzt.Für Gerhard Kaiser entsteht die Metrik des Gedichts vollständig aus Hölderlins zitiertem Vers „Geh aber nun und grüße“, dessen drei Hebungen das ganze Gedicht bestimmen. Dies wirke gemeinsam mit den sinntragenden Reimen gegenüber den freien Rhythmen Hölderlins wie ein starres Gitter. Lediglich der zweite Vers Hölderlins „die schöne Garonne –“ rage durch seine Zweihebigkeit heraus. Klanglich beherrsche den Beginn des Gedichts ein I-Vokalismus, der den Abwehrlaut des Ekels in sich trage, ehe die Klangstimmung mit dem Ö-Laut in Hölderlin und dem Ü-Reim zu Wohllauten umschlage. Eine vergleichbare Entwicklung vom Miss- zum Wohlklang gebe es auch bei den Häufungen und Alliterationen der Konsonanten: Die Kakophonie „klatscht […] Kot“ des Beginns wandle sich am Ende in die Euphonie „schwankenden […] schwimmen die Wolken“. Die „funkelnden Fliegen“ transportieren für Kaiser auch eine „Schönheit des Ekelerregenden“.Die formalen Mittel des Gedichts illustrieren laut Kurt Binneberg den radikalen Kontrast zwischen Latrinenwirklichkeit und imaginierter Poesie, zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Dabei zeichne die erste Hälfte des Gedichts eine „Ästhetik des Hässlichen“, deren Bilder des Ekels sich in Vers acht zu einem akustischen Effekt – der Kot „klatscht“ – steigern. Zu Beginn der dritten Strophe antworte ein zweiter akustischer Effekt: Es „schallen“ Hölderlin-Verse, die in der zweiten Gedichthälfte zitiert werden. Genau zur Gedichtmitte stoßen somit zwei völlig unterschiedliche Sphären aufeinander: Exkremente und Poesie. Die Verschmelzung der Gegensätze in den beiden kontrastierenden Gedichtshälften wird laut Binneberg durch die Reim- und Klangverbindungen wie die semantischen Bezüge illustriert, die eine Parallelität zwischen erster und dritter sowie zweiter und vierter Strophe nahelegen. So bilden etwa die Versenden „Graben“ und „schallen“ ebenso wie „Fliegen“ und „spiegeln“ eine Assonanz, semantisch wiederhole sich der optische Eindruck der „funkelnden“ Schmeißfliegen in den spiegelnden Wolken und das „Papier voll Blut und Urin“ korrespondiere mit den auf Papier festgehaltenen Versen. Im Kontrast zwischen Fäkalien und Poesie komme besonders dem doppelten Reimwort „Urin“ eine besondere Bedeutung zu, das beim zweiten Mal gegen „Hölderlin“ gesetzt werde, was Binneberg „einen schockierenden Reim“ nennt. == Interpretation == === Ausgangslage === Aus dem abrupten Beginn muss laut Gerhard Kaiser die Ausgangslage, die Situation eines Kriegsgefangenen zwischen Not, Qual und Erniedrigung, erst erschlossen werden. Vom versteinten Kot einer Verstopfung, dem Blut einer Darminfektion bis zum „Schlamm der Verwesung“ weisen alle Zeichen auf Krankheit und Tod. In der embryonalen Haltung des Hockenden, zurückgeworfen auf den bloßen Stoffwechsel, bleibe allein der die Natur durchstreifende Blick noch frei, doch auch dieser verfange sich in einem gestrandeten Boot. Peter Horst Neumann sieht im gestrandeten Boot eine Parodie der „guten Fahrt“ aus Hölderlins Hymne und gleichzeitig ein Symbol des Scheiterns, sowohl für den Einzelnen wie für die deutsche Nation im Gesamten. Die Schönheiten der Natur bleiben für das Ich unerreichbar, hinter Gittern. Sein Blick richte sich nach unten, wo er die Reinheit der Wolken nur noch durch den Spiegel des Urins wahrnehmen könne.Die Verkehrung von oben und unten im Bild der sich spiegelnden Wolken symbolisiert für Kaiser eine aus den Fugen geratene Welt. Dabei setze sich im Gedicht die vertikale gegenüber der horizontalen Bewegung durch, das „Unter“ des letzten Satzes antworte auf das „Über“ des Beginns. Wie der Körper des Gefangenen sei auch sein Geist funktionsgestört, halluziniere „irr“ Hölderlin-Verse, zitiere damit Hölderlins Geisteskrankheit und übertrage sie in eine verirrte, verrückt gewordene Gegenwart. Für Herbert Heckmann zieht sich das lyrische Ich angesichts der aus den Fugen geratenen Welt auf die bloße Beobachtung zurück. Es beschreibe einen Augenblick seiner Wahrnehmung ohne Leidenschaft, Pathos oder Sentimentalität und suche die Rettung aus seiner Furcht in einer schonungslos alles registrierenden Wachsamkeit. Auf die Bedingungen in Kriegsgefangenenlagern, in denen Baumstämme über Gräben am Stacheldrahtzaun als Latrinen dienen mussten, verweist Hans Dieter Schäfer. Häufig hätten die Gefangenen aus dieser Realität die geistige Flucht in eine erinnerte Kultur oder zu Naturerscheinungen gesucht. Doch wie das Gedicht bleibe auch die Natur in Latrine unerreichbar und auf die Funktion eines Zitates beschränkt. === Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Poesie === Seine Spannung, die bis an die Grenze des Erträglichen reiche, erhält Latrine für Neumann aus dem Gegensatz zwischen Zivilisationsferne und Kultur. Auf der einen Seite bedeute die öffentlich verrichtete Notdurft den Bruch eines der stärksten Tabus der Zivilisation und eine tiefe kulturelle Erniedrigung. Auf der anderen Seite stehe mit Hölderlin und seinem Gedicht Andenken die Welt der Poesie, der Heiterkeit, Menschlichkeit und Schönheit, die in der Gegenwart des Gefangenen so fremd wirke, dass sie nur noch als Zitat möglich sei. Auf die Spitze treibe die Verbindung der Gegensätze jener „irre“ Reim Hölderlin/Urin. Laut Neumann sei die Gleichzeitigkeit zweier unvereinbarer Prinzipien möglicherweise „niemals in deutscher Lyrik so erschreckend in einen Reim gefaßt worden, wie hier.“Für Kaiser hingegen verbinden sich die Gegensätze, manifestiere sich noch in den Exkrementen, in der Verzweiflung und dem Irrsinn die menschliche Sehnsucht nach Schönheit. Im Bild der sich im Urin spiegelnden Wolken fallen die Reinheit der Wolken und die Unreinheit des Urins, das Glück und der Schmerz, die Illusion und die Desillusionierung zusammen. In der Latrine entstehe eine „poetische Neukonstruktion der Welt“. Der Weltentwurf durch die Poesie sei zwar aus der Erniedrigung heraus geboren, doch verkünde er am Ende den Triumph der Imagination und Inspiration. Indem Latrine die Kraft von Gedichten vorführe, noch mit dem Blick auf den Abgrund, eine Hoffnung zu erwecken, bestätige Eichs Gedicht den letzten Vers aus Hölderlins zitiertem Andenken: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ === Bezug auf Hölderlin === Als eine Auseinandersetzung mit Hölderlin, auf den sich Eich auch in seinen späteren Texten, so in seinen Prosagedichten Maulwürfe, immer wieder dezidiert bezog, liest Michael Kohlenbach das Gedicht. Latrine sei eine regelrechte Antithese zu Hölderlins Andenken. Dessen „Einwiegende Lüfte“ werden zum „stinkenden Graben“, den Schiffen, von denen es bei Hölderlin heißt, sie „bringen zusammen / Das schöne der Erd“, steht bei Eich ein „gestrandetes Boot“ gegenüber, und während bei Hölderlin trotz „sterblichen / Gedanken“ am Ende das bleibt, was die Dichter stiften, greift in Latrine die Verwesung um sich. Gerhard Kaiser betont die gleiche Ausgangslage beider Gedichte. Auch Hölderlins Andenken sei der Ausdruck einer Sehnsucht, aus den beengten heimischen Verhältnissen heraus zu einer idealen Landschaft zu gelangen. Schließlich sei der Dichter daran zerbrochen, keinen Sinn einer Heilsgeschichte in der Welt mehr auszumachen. Eich gehe noch einen Schritt weiter, indem in seiner heillos aus den Fugen geratenen Welt die Hölderlinsche Erschaffung einer Geisteslandschaft aus einem geschichtsphilosophischen Kontext heraus nur noch als Zitat möglich sei.Laut Kohlenbach tritt auch in Eichs Widerspruch zu Hölderlin noch immer der geistige Bezug auf diesen zutage. Eichs Gedicht sei somit in seiner Übertragung der Hölderlin-Verse in die Gegenwart und ihrer gleichzeitigen Verfremdung auch als eine „poetische Wiedergutmachung“ an dem während der Zeit des Nationalsozialismus ideologisch ausgeschlachteten und im Jahr 1945 dadurch beinahe unlesbar gewordenen Autor zu verstehen. Wo etwa Martin Heidegger 1943 aus Hölderlins Andenken noch die Interpretation vom „Bleiben im Eigenen“ des deutschen Wesens zog, erweist dasselbe Gedicht bei Eich seine Flüchtigkeit und wird zum Maß einer historisch bedingten Entfremdung. Herbert Heckmann sieht den Reim von Hölderlin auf Urin letztlich als Korrektur der eklatanten Distanz zwischen hohem Stil und Wirklichkeit, die durch die Verehrung Hölderlins im Dritten Reich entstanden sei. Eich stelle die realen Dinge in den Mittelpunkt, ohne sie durch eine Deutung zu überhöhen. Latrine sei der Versuch, aus einem Bewusstsein der Scham heraus die verfälschte Sprache wieder neu zu erlernen.Hans Dieter Schäfer verweist auf Eichs Freund Martin Raschke, einen Schriftsteller, der während des Dritten Reichs auch nationalsozialistische Propaganda verfasste. Seine im Jahr 1940 herausgegebene Sammlung Deutscher Gesang, die Hölderlins Hymne Andenken enthielt, leitete er mit den Worten ein: „Nicht geschrieben, damit du beim Lesen deiner vergißt, sondern damit du es wie eine Waffe brauchst.“ Und in einem Frontbericht zwei Jahre später schlug er die Brücke von Soldaten, die im Schein der Taschenlampe Gedichte lasen, und einem Zitat aus Hölderlins Andenken zur Frage: „Wurde der Krieg […] nicht auch um die Weltgeltung unserer Sprache ausgefochten?“ Für Schäfer stellt sich Eich in einer Persiflage gegen die Haltung seines Freundes. Mit dem Zitat aus Hölderlins Hymne kontrastiere er „ein Stück mißbrauchtes Kulturgut“ mit der durch die Niederlage erzwungenen Wahrheit und demontiere so die Absicht der Kriegspropaganda, „das Morden durch die deutschen Klassiker zu beglaubigen.“ === Perspektive === Die „geistig-existenzielle Orientierungslosigkeit“ des Nachkriegsdeutschlands drückt Latrine für Kurt Binneberg aus. Der Humanismus in Hölderlins Versen habe sich als Utopie erwiesen. Sie seien so unwirklich wie die Wolken, die nur noch als Spiegelung wahrgenommen werden, und vom Menschen, dem sie unter seinen Füßen davonschwimmen, nicht mehr zum Teil seiner Wirklichkeit gemacht werden können. Am Ende bleibe „der leere Urinspiegel“. Gerhard Kaiser betont hingegen, dass die Wolken nicht einfach davonschwimmen, sondern dass sie auch die Bewegung des Flusses, der Garonne, mit sich tragen und damit die Wünsche und Hoffnungen dessen, der körperlich gefangen bleibe. Die schwimmenden Wolken wecken Flugphantasien, und ihr Bewegungsimpuls wiederhole sich im Schwanken der Füße, die an zahlreiche durch die Gegend irrende, gleichzeitig erschöpfte und sehnsüchtige Wanderer der deutschen Geistesgeschichte erinnere von Hölderlin selbst bis Büchners Lenz.Peter von Matt bewundert, dass der Sprecher des Gedichts auf „schwankenden Füßen“ aufrecht stehe. In einer Zeit, in der eigentlich kein Wort mehr möglich scheine, spreche er von der braunen Kloake der Geschichte, die hinter und unter ihm liege. Indem er sich dem Unerträglichen stelle, trage er dazu bei, das Vergessen zu verhindern. Dabei gehe es nicht nur um allgemeine Kulturkritik, sondern auch um die eigene Biografie Günter Eichs, der selbst im Dritten Reich systemtragende Hörspiele mit Anklängen an die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus verfasst hatte. Insofern künde das Gedicht auch nicht von einem „‚Neubeginn‘ einer unschuldigen Generation“, sondern Eichs Werk dokumentiere den gesamten „literarischen Prozeß“, der sich seit seinen ersten Gedichten im Jahr 1927 in Deutschland ereignet habe. == Rezeption == Die zeitgenössische Aufnahme verstand Latrine laut von Matt als literarisches Programm, das für den Kahlschlag und die Stunde Null stand. Das Gedicht wurde als Geburtsstunde der deutschen Literatur nach 1945 stilisiert, Eich von anderen Schriftstellern, etwa aus der Gruppe 47, als Vorkämpfer gefeiert. Insbesondere der Reim von „Hölderlin“ auf „Urin“ markierte ein Fanal für einen radikalen Neubeginn, löste in der Öffentlichkeit aber auch einen Schock und Skandal aus. Auch Bruno Hillebrand sprach von einem „Kulturschock“, den das Gedicht verursacht habe. Im Rückblick Norbert Raths herrschte bei der Erstveröffentlichung „eine gewisse Aufregung mancher Hölderlin-Schützer“ vor, nach deren Auffassung mit diesem Reim „die deutsche Kultur nun wirklich am Ende“ angelangt sei. Für Gerhard Kaiser kündete Latrine von „einer im Entstehungsaugenblick in Deutschland beispiellosen Modernität“.Benno von Wiese warnte den Leser 1959, Latrine sei „in keiner Weise geeignet, Ihnen zu gefallen. Es hat aber auch gar nicht diese Absicht, da es im Blick auf die Wirklichkeit und in der Durchbrechung einer Tabu-Sphäre den Leser weit eher brüskieren und schockieren, sicher aber nicht bezaubern will.“ Kritisch wandte sich Manfred Seidler sechs Jahre später gegen „das Prätentiöse […], die mutwillige Übertreibung“, die etwa im Reim Urin-Hölderlin stecke, und die „aus lauter Unsicherheit solcher Lyrik gegenüber“ für bedeutend erachtet werde. Noch im Jahr 1972 fand Ludwig Büttner die Soldaten-Wirklichkeit „entschieden verzerrt“ und kritisierte: „Was uns mißfällt, sind die widerliche Szene und der geschmacklose Reim, in kunstvoller Form dargeboten, um Aufsehen und Verblüffung hervorzurufen. […] Der gewollte Schockeffekt lenkt vom eigentlichen und ernsthaften Thema ab. […] Durch die latrinenhafte Vergröberung wird das Thema jedoch ins Ernstlose und Lächerliche abgebogen und die Verehrung Hölderlins herabgesetzt oder ironisiert.“ Werner Weber fragte dagegen 1967: „Ist das Gedicht widerlich, ist es nicht moralisch?“ Seine Antwort stellte die These auf: „Die Moral des Stoffs heißt Form. Demnach: Ein Gedicht mit einem widerlichen Motiv ist durch erfüllte Kunst zu einem schönen, zu einem moralischen Gedicht geworden.“ Im Jahr 2007 sprach Michael Braun nunmehr lediglich von „poetisch wohl dosierten Schocks, die hier in lässig gereimten Volksliedstrophen verabreicht werden“.Heinz Ludwig Arnold wertete Latrine als einen „notwendigen Bruch der Konventionen“, wobei Eich den literarischen Kanon nicht vernichtet, sondern in eine neue Beziehung gerückt habe. Gedichte wie Latrine oder Inventur seien „deutliche Signale von der veränderten Bewußtheit einer veränderten Welt“. Dabei verfasste Eich nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige derart programmatische Texte und wandte sich bald schon einer modernen Naturlyrik zu. Zu Eichs 100. Geburtstag stellte Wulf Segebrecht fest, dass die öffentliche Anerkennung, die dem Lyriker zuteilwurde, nur auf einer Handvoll Gedichte beruhte. Unter jenen habe Latrine nicht zuletzt durch den verursachten Skandal „anhaltende Aufmerksamkeit erregt“. Joachim Scholl und Barbara Sichtermann fassten zusammen: „dem Ruhm dieser notorischen Verse entkam der Autor zeitlebens nicht mehr.“ == Literatur == === Veröffentlichungen === Erstpublikation: Gedichte von Günter Eich. In: Der Ruf, Ausgabe 7 des 1. Jahrgangs vom 15. November 1946, S. 12. Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Schauer, Frankfurt am Main 1948, S. 44. Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, S. 41. === Sekundärliteratur === Kurt Binneberg: Interpretationshilfen. Deutsche Lyrik 1945–1989. Klett, Stuttgart 2005, ISBN 3-12-922627-3, S. 97–102. Herbert Heckmann: Günter Eich: „Latrine“. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1996. Wallstein, Göttingen 1997, ISBN 3-89244-252-5, S. 127–132. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Zweiter Teil. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-38607-7, S. 691–695. Peter von Matt: Auf schwankenden Füßen. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Band 27. Insel, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-458-17228-9, S. 158–160. Peter Horst Neumann: Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich. Klett-Cotta, Stuttgart 1981, ISBN 3-12-936020-4, S. 52–54. Hans Dieter Schäfer: Eichs Fall. In: Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erweiterte Neuausgabe. Wallstein, Göttingen 2009, ISBN 978-3-8353-0428-4, S. 257–274, zu Latrine S. 260–263. == Weblinks == Werner Weber: Die Moral des Stoffs heißt Form. In: Die Zeit, Nr. 46/1967 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Latrine_(Gedicht)
Liudger
= Liudger = Der heilige Liudger (* um 742 bei Utrecht; † 26. März 809 bei Billerbeck) war Missionar, Gründer des Klosters Werden sowie des Helmstedter Klosters St. Ludgeri, Werdener Klosterleiter und erster Bischof von Münster. == Leben == Von dem friesischen Missionar und Klostergründer berichten zuvorderst die Lebensbeschreibungen über Liudger (Ludgerus) (Liudgervita Altfrids, Vita Liudgeri secunda, Vita tertia u. a.), dann die frühen Werdener Urkunden als etwas spätere versehene Abschriften, schließlich mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichtsschreiber, die aber gegenüber den zuerst genannten Quellen nichts Neues bringen. Aus dem Überlieferten ergibt sich: === Herkunft und Ausbildung === Der Friese Liudger wurde um 742 bei Utrecht geboren. Er war der Sohn christlicher Eltern (Thiadgrim und Liafburg) und Mitglied eines angesehenen und weit verzweigten friesischen Adelsgeschlechts. Schon früh für eine geistliche Laufbahn bestimmt, finden wir Liudger zwischen 756 und 767 als Schüler an der Utrechter Domschule (Martinsstift), wo vermutlich auch sein Bruder Hildegrim studierte, der spätere Bischof von Chalons. Hier vermittelte ihm der Missionar Gregor von Utrecht († 775) als theologische Grundausbildung die Disziplinen der artes liberales, der „sieben freien Künste“. Zur Vervollständigung seiner Studien reiste Liudger 767 nach York zur Domschule des Gelehrten Alkuin (730–804). Dort weihte noch im selben Jahr Erzbischof Ethelbert von York Liudger zum Diakon. Von einem Aufenthalt in Utrecht (768/769) unterbrochen, hielt sich Liudger bis Mitte 772 in England auf. Konflikte zwischen Angeln und Friesen zwangen ihn zur Rückkehr ans Utrechter Martinsstift, das er erst nach dem Tod Gregors wieder verließ (775). Im Andenken an seine Utrechter Zeit verfasste Liudger bald nach dem Tod seines Lehrers eine Lebensbeschreibung Gregors, die Vita Gregorii. === Missionstätigkeit === Ein erster Missionsauftrag führte Liudger nach Deventer, wo er über dem Grab des Friesenmissionars Lebuin († 773) die Kirche neu errichtete (775/776). 776 begann er mit der Friesenmission. Im friesischen Ostergau missionierte Liudger nach seiner Priesterweihe in Köln (7. Juli 777), indes unterbrochen von der Sachsenerhebung unter Widukind (784). Liudger begab sich damals auf Pilgerreise nach Rom (784) und Montecassino (784/785–787). Nach seiner Rückkehr nach Friesland ernannte der Frankenkönig Karl der Große (768–814) Liudger zum Missionsleiter für das mittlere Friesland (787), auch wurde der Missionar mit Leitung und Besitz des Petrusklosters zu Lothusa (Leuze) betraut. In die Zeit der Friesenmission fällt die Reise Liudgers nach Helgoland (um 791). Der Sachsen- und Friesenaufstand von 792 war vielleicht Anlass, dass Karl der Große Liudger die Missionsleitung im westlichen Sachsen übertrug. In der Folgezeit entstand um Münster und das dort 793 von Liudger gegründete Kanonikerstift ein Missionsbistum mit einem ausgedehnten Pfarrsystem. In Nottuln ließ Liudger eine Kirche erbauen, und er soll dort die Gründung einer Gemeinschaft von Sanktimonialen gefördert haben. Auch während seiner Tätigkeit in Westfalen wahrte Liudger die Verbindung zu seinem friesischen Missionsfeld. === Kloster- und Bistumsgründung === Die Pläne Liudgers, selbst eine geistliche (Mönchs-)Gemeinschaft zu errichten, müssen um diese Zeit Auftrieb bekommen haben. Aus Rom soll Liudger dazu Salvator-, Marien- und Apostelreliquien erhalten haben. Doch die ersten Versuche einer Klostergründung (in Wierum, Wichmond und an der Erft) scheiterten. Aber die Klostergründung in Werden an der unteren Ruhr gelang. Sie ist von Liudger, der seit 796 dort systematisch Gütererwerb betrieb, von langer Hand geplant worden. Um 800 gründete er auf erworbenem Grund und Boden schließlich sein Werdener Eigenkloster, das lange unter der Leitung von Familienmitgliedern Liudgers, den Liudgeriden, verblieb. Unterdessen ging die Ausgestaltung des künftigen Bistums Münster weiter: Liudger wurde am 30. März 805 vom Kölner Erzbischof Hildebold (787–818) zum ersten Bischof von Münster geweiht, das Bistum damit auf augenfällige Weise der Kölner Kirchenprovinz angegliedert. Die letzten Jahre vor seinem Tod hat der Bischof seinen kirchlichen Amtsbezirk (Sprengel) mehrfach bereist. Auf solch einer Reise ist Ludgerus am 26. März 809 in Billerbeck gestorben. Er kam von Coesfeld, wo er zum letzten Mal predigte. Auf dem Weg zwischen Coesfeld und Billerbeck hat er noch einmal das Münsterland gesegnet. Heute heißt dieser Ort Ludgerirast. In Billerbeck feierte er am Passionssonntag 809 seine letzte heilige Messe. In der folgenden Nacht starb er hier im Kreis seiner Brüder an der Stelle, an der sich heute der Südturm der Propsteikirche St. Ludgerus erhebt. Der Leichnam wurde in seine Bischofsstadt Münster gebracht, um ihn dort aufzubahren. Einen Monat später überführte man Liudger nach Werden und bestattete ihn östlich der ersten Abteikirche am 28. April gemäß seinem letzten Willen außerhalb der Kirche nahe dem Hauptaltar. Von dieser durch einen in der Zwischenzeit gefällten Baum markierten Stelle hatte er nach der Altfrid-Vita die Bauarbeiten verfolgt. Im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts wurde über dem Grabort („locus arboris“) die Krypta der Abteikirche errichtet. Im Unterschied zur zwangsweisen Missionierung, teilweise mit Feuer und Schwert, die z. B. von Karl dem Großen erfolgreich angewandt wurde, war Liudgers Stil in der Missionierung ein friedlicher. Während es in den von Karl dem Großen missionierten Herrschaftsgebieten meist ausreichte, den herrschenden Fürsten zu überzeugen, missionierte Liudger im westlichen Sachsen, dem heutigen westlichen Westfalen, einem Gebiet, in dem es unzählige voneinander unabhängige Stämme gab. Durch Überzeugungsarbeit und Predigten vergrößerte er das christliche Territorium, ohne Zwangsmittel anzuwenden. Kriegshandlungen wich er dabei aus, kehrte aber alsbald nach Eroberung neuer Gebiete zurück. Zum Ende der Sachsenkriege begleitete er 798 Karl den Großen ein einziges Mal auf einem Feldzug in Minden. === Die Rekognoszierung der Reliquien 2007/2008 === Aufgrund der alljährlichen Prozessionen und der damit verbundenen Stöße und Erschütterungen bestanden Sorgen um die Werdener Reliquien, zudem waren an dem inneren Zinksarg Korrosionsschäden festgestellt worden. Aus diesem Grund gestattete der damalige Bischof von Essen Felix Genn im Sommer 2007, den Sarg des Heiligen zu öffnen und den Zustand zu prüfen. Zu diesem Zweck wurde der verschlossene Zinksarg am 30. Oktober 2007 von der Werdener Abteikirche in das Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern von der heiligen Elisabeth in Essen-Schuir überführt. Dort wurde er am folgenden Tag durch Bischof Genn im Beisein von Sachverständigen und Restauratoren geöffnet. Bis zum 16. Mai 2008 wurden die Reliquien und der übrige Schreininhalt gesichtet, bestimmt, die Urkunden der bisherigen Öffnungen dokumentiert sowie der Zinksarg durch einen neuen Edelstahlsarg ersetzt, der im Inneren des Bronzeschreins in der Krypta deponiert wurde. Die anthropologische Bestandsaufnahme der Reliquien ergab, dass das Skelett größtenteils vollständig war. Es handelte sich um einen über 60-jährigen, eher sogar über 65-jährigen Mann von etwa 1,82 m Größe und eher grazilem Körperbau, der vermutlich Rechtshänder war. Die Zähne waren besser erhalten als nach dem biologischen Alter der Person zu erwarten, allerdings rechts stärker abgenutzt als links, was möglicherweise mit einem Zahnverlust im linken Oberkiefer zu Lebzeiten erklärt werden kann. Degenerative Veränderungen am Skelett bestanden nicht, so dass auf einen gehobenen sozialen Status des Verstorbenen geschlossen werden konnte. Das Sterbealter wie auch der soziale Status decken sich mit Liudger, so dass aufgrund der ununterbrochenen Verehrung die Authentizität der Reliquien gesichert ist. == Verehrung == === Liudgerverehrung in Werden === Liudger wurde schon bald nach seinem Tode an seiner Grabstätte Verehrung zuteil. Bereits in der Altfrid-Vita wird beschrieben, wie an seinem Grab ein Mädchen auf wunderbare Weise geheilt wurde. 847 erscheint Liudger erstmals als Mitpatron der Werdener Abteikirche, deren Hauptpatrone (Salvator, Maria, Petrus) er spätestens seit dem 11. Jahrhundert verdrängt hatte. Unter dem Werdener Abt Gero wurde die Kryptaanlage neu erbaut. Dessen Nachfolger Adalwig ließ für die Reliquien einen silbervergoldeten Prunkschrein schaffen, der, mit einer Stirnseite auf dem Hauptaltar der Kirche, mit der anderen auf zwei, noch heute in der Werdener Schatzkammer ausgestellten Marmorsäulen, aufgestellt war. Dieser Schrein ging in der Barockzeit verloren. Seit 1128 werden die Gebeine Liudgers einmal im Jahr durch Werden getragen. Die Prozession wurde von Abt Bernhard zum Dank für gute Witterung nach einer längeren Schlechtwetterperiode eingeführt. Seit dem 13. Jahrhundert findet sie jeweils am ersten Sonntag im September statt. 1787 wurde für diese Prozessionen vom Essener Silberschmied Schiffer der noch heute benutzte Prozessionsschrein angefertigt. Die liturgischen Bräuche der Prozession wurden 1910 im Werdener Pilgerbuch zusammengefasst. 1984 schuf der Künstler Gernot Rumpf für die Reliquien den sich heute in der Krypta der Abteikirche befindenden Bronzeschrein, dessen Form die Umrisse der Abteikirche aufgreift. Als Reliquien Liudgers wurde auch ein um 1060 entstandener Kelch und das Helmstedter Kreuz angesehen. Dem heute in der Werdener Schatzkammer aufbewahrten Gürtel Liudgers wurde eine helfende Wirkung bei schweren Geburten zugeschrieben. === Das Münstersche Büchlein über die Wunder des heiligen Liudger === Die ihm zugeschriebenen Wunder sind zum Teil in der Vita Liudgeri, aber auch im Münsterschen Büchlein zusammengefasst. So soll unter anderen ein blindes Mädchen aus Balve im Jahr 864 am Grab Liudgers in der Krypta des Klosters Werden ihr Augenlicht zurückerhalten haben. Neben Dom und Kapelle in der Marienkirche (Ludgerusturm) war die von den Bischöfen Ludwig I. von Wippra (1169–1173) und Hermann II. von Katzenelnbogen (1174–1203) im Süden der Stadt errichtete Ludgerikirche ein Bezugspunkt münsterischer Liudgerverehrung. Ein wohl vom ersten Priester dieser Kirche um 1170 verfasster Libellus Monasteriensis de miraculis sancti Liudgeri („Münstersches Büchlein über die Wunder des heiligen Liudger“) schildert den Kult um ein wundertätiges Kreuz mit Reliquien Liudgers, das in St. Ludgeri Wunder wirkte. Der Libellus, in einfachem, manchmal etwas unverständlichem Latein verfasst, von Germanismen durchsetzt und in der Überlieferung direkt der Vita Liudgeri tertia folgend, schildert in 17 Kapiteln hauptsächlich die durch Liudger bewirkten Wunder, die ausschließlich mit der Heilung von Krankheiten zu tun haben. Augenkrankheiten stehen im Vordergrund, es folgen Krankheiten an den Beinen, aber auch die Heilung von Irrsinn wird geschildert. Sogar ein verschwundener Junge kann mit göttlicher Hilfe und mit der seines Heiligen Liudger wieder gefunden werden. Das Muster der Heilungen ist dabei dasselbe: Die Heilung erfolgt nach der Anrufung Liudgers und dem Versprechen nach Münster zu kommen und dahin, d. h. zu Kirche und wundertätigem Kreuz, Opfergaben zu bringen. Heilung also nicht ohne Gegenleistung. (Fast) immer wird auch die Wahrheit der vollzogenen Heilungen betont durch das Zitieren von Zeugen, die die Heilung mitverfolgt haben. Das Zeugnis göttlichen Handelns wird ebenso herausgestellt. Um 800 gab es im Münsterland eine große Graugänseplage. Liudger soll diese zurückgedrängt haben. Es gab noch eine Dürre. So soll er außerdem die Gänse veranlasst haben, so lange mit den Füßen zu scharren, bis sie auf Wasser stießen und man hier einen Brunnen bauen konnte. Der hl. Liudger wird seit dem 17. Jahrhundert meist mit einer Gans als Attribut dargestellt, so etwa in den Wappen des Altkreises und des heutigen Kreises Coesfeld. Wirkung entfaltete das „Münstersche Büchlein über die Wunder des heiligen Liudger“ in der Folge kaum. Auch den Liudgerkult in der St.-Ludgeri-Kirche wird man nicht überbewerten, stand er doch schon damals, am Ende des 12. Jahrhunderts, in Münster und Umgebung im Schatten wesentlich bedeutenderer Wallfahrten, etwa nach Santiago de Compostela. Dem feststellbaren Zurücktreten der Liudgerverehrung im Münster des späten Mittelalter entspricht schließlich die Tatsache, dass aus dieser Zeit keine weiteren Zeugnisse über die Verehrung des heiligen Missionars an St. Ludgeri überliefert sind. Insbesondere fehlen jegliche Hinweise auf das Kreuz mit den Liudgerreliquien. === Patrozinien: Nach Liudger benannte Gebäude und Orte === ==== Kirchen ==== ==== Sonstige Einrichtungen ==== Ludgerus-Grundschule in Albersloh Ludgeri-Hauptschule in Altenberge Kath. Ludgeri-Grundschule in Billerbeck Exerzitienhaus Ludgerirast der Abtei Gerleve, Billerbeck Kath. Ludgerusgrundschule in Bocholt Ludgerus-Grundschule in Buldern Ludgeri-Grundschule in Coesfeld Liudger-Realschule in Emsbüren Ludgerusschule, Grundschule in Essen-Werden ehem. Ludgeri-Grundschule, heute Seniorenwohnanlage in Hamm (Bockum-Hövel) Städt. Kath. Ludgerus-Grundschule in Velbert Grundschule St. Ludgeri in Helmstedt Katholischer KiGa St. Ludgeri in Helmstedt St. Ludgerus Kindergarten in Heek Ludgerus-Grundschule in Lippborg Ludgeruskappelle in Lippborg St. Ludgeri-Schule Realschule Löningen Kath. Ludgerigrundschule in Lüdinghausen Katholischer Kindergarten St. Ludger Lüdinghausen Ludgeriplatz in Münster Collegium Ludgerianum (ehemaliges Konvikt) in Münster Liudgerhaus (Institut für Diakonat und Pastorale Dienste) in Münster Ludgerusschule in Rhede Ludgerusschule in Rhede (Ems) Ludgerischule, Grundschule in Selm Ludgeri-Schule, kath. Grundschule Mettingen Ludgerus-Grundschule Elte/Rheine Ludgerus Schützengilde Elte 1478 Alte Kirche am Markt, Nordhorn (geweiht als St. Ludgerus-Kirche) Ludgerusschule in Vechta Ludgerus-Kliniken Münster Ludgerischule, kath. Grundschule in Neuenkirchen Gilwell St. Ludger e.V. in Haltern am See === Vereinigungen und Gemeinschaften === Die bis 2018 in Werden wirkende „Gemeinschaft des heiligen Liudger“ und die „Ludgerus-Bruderschaft“ haben auf einem Vereinigungskonvent am 24. März 2018 beschlossen, ihre beiden Traditionen nunmehr unter dem Namen Ludgerus-Gemeinschaft e.V. als Gemeinschaft bischöflichen Rechts gemeinsam fortzuführen.Weitere Vereinigungen gibt es in Billerbeck und Helmstedt. Ludgerus ist auch im Wappen der Stadt Helmstedt abgebildet. == Wirkung in der Musik == Liudger-Offizium: Antiphon: Beatus Ludgerus; Antiphon: Ubi postmodum; Antiphon: Invocantem se deus; Antiphon: Vir dei; Antiphon: O admirabile divinitatis nomen; Antiphon: Unde in domino; Responsorium: Beatus Ludgerus; Responsorium: Gaude materDas Liudger-Offizium aus der Abtei Essen-Werden ist eines von drei überlieferten Offizien zu Ehren der Heiligen. Die Antiphonen und Responsorien sind im Stile der Spätgregorianik des 12. Jahrhunderts komponiert. Die Texte basieren auf der Vita secunda Sancti Liudgeri und berichten über die Missionstätigkeit des Heiligen. Die Notenschrift (Neumennotation) ist auf vier Linien notiert und entspricht im Wesentlichen den Gepflogenheiten des 12. Jahrhunderts. Das Quilisma wird sowohl im Ein- als auch im Mehrtonabstand verwendet. Die Melodiebildung bei den Antiphonen ist, wie bei Kompositionen für die Tagzeitenliturgie üblich, oligotonisch, die der festlichen Responsoria prolixa sind melismatischer gestaltet. Eine Besonderheit der Notation ist die Clivis quadrata, die dem Pes quadratus entspricht. Liudger-Messe, Introitus: Posuit Dominus, Graduale: Repletum est gaudio, Tractus: Scitote, quoniam mirivicavit Dominus, Offertorium: Adducam eos in montem, Communio: Congregabit eos et custodiet. Das Formular erarbeitete Notker Kamber OSB, Gerleve 1957Deutsche Liudger-Vesper, Melodien/Psalmodie: Heinrich Rohr 1958Antiphon vom heiligen Liudger. In: Antiphonale Monasteriense (1575), Diözesan-Archiv MünsterDeutsche HymnenFrohen Herzens laßt uns singen Liudger Lobpreis und Ruhm, Münstersches Gesangbuch 1950 Froh soll unser Lob dich grüßen, heil'ger Bischof Liudger, Text: W. Hünermann, Melodie: W. Bäumer (Coesfeld) Laß den Preis uns freudig singen deiner hohen Heiligkeit, Text: Emil Lengeling, Münstersches Gesangbuch 1950 Liudgerus, Vater, treuer Hirt, Werdener Pilgerbuch 1910 O Liudgere, der die Friesen, Werdener Pilgerbuch 1910 Sankt Liudger, der hochedle Fries, Münster 1866Litaneiennach Werdener Überlieferung, Melodie: Hugo Berger nach Münsteraner Überlieferung, Melodie: Heinrich Rohr nach Billerbecker Überlieferung, Melodie: Heinrich Rohr == Baumberger Ludgerusweg == Der Baumberger Ludgerusweg, eine vom Baumberge-Verein beschilderte und vom Deutschen Wanderverband als „Qualitätsweg Wanderbares Deutschland“ ausgezeichnete Wanderroute, erinnert an das Wirken Liudgers im Münsterland. Die Wanderstrecke führt über rund 30 Kilometer vom Tilbecker Mordkreuz durch die Baumberge nach Coesfeld. Auf bzw. am Weg liegen der Ludgerusdom in Liudgers Sterbeort Billerbeck, die Ludgerirast auf dem Coesfelder Berg und die Benediktinerabtei Gerleve. == Festtag == Katholisch: 26. März (Nicht gebotener Gedenktag im Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet) Hochfest im Bistum Münster Fest im Bistum Essen Evangelisch: 26. März (Gedenktag im Evangelischen Namenkalender der EKD) Orthodox: 26. März == Weiterführendes == Heriburg von Nottuln, die angebliche Schwester Liudgers == Siehe auch == Liudger (Vorname) == Werke == Liudgeri vita Gregorii abbatis Traiectensis Online-Version (lat.) Übersetzung (dt.) (auch hier). Altfrid, Vita Sancti Ludgeri Online-Version (lat.) Übersetzung (dt.) Officium Parvum de S. Ludgero Frisonum, Saxonum, Et Westphphalorum Apostolo, In Imperiali, Libero, & Exempto Monasterio Werdinensi (quod unà cum Helmstadiensi munificentissimè fundavit) quiescente; miraculis ante, & post obitum clarissimo. [Erscheinungsort nicht ermittelbar], nach 1712 Digitalisat == Literatur == Josef Alfers: Mit Liudger auf dem Lebensweg. Münster: Dialogverlag 2009, ISBN 978-3-941462-06-9. Arnold Angenendt: Liudger. Missionar, Abt, Bischof im frühen Mittelalter. Münster: Aschendorff, 2005, ISBN 3-402-03417-4. Adriaan Breukelaar: LIUDGER. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 5, Bautz, Herzberg 1993, ISBN 3-88309-043-3, Sp. 138–139. Heinz Dohmen, Günter Rabeneck, Ludger Schütz: Die Grablege St. Liudgers und der Liudgeriden in Essen-Werden. Bochum 1990. Eckhard Freise: Liudger. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 5. Artemis & Winkler, München/Zürich 1991, ISBN 3-7608-8905-0, Sp. 2038. Karl Schmid: Liudger. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 14, Duncker & Humblot, Berlin 1985, ISBN 3-428-00195-8, S. 716 (Digitalisat). Rudolf Ludger Schütz (Communitas sancti Ludgeri, Hrsg.): Heiliger Liudger. Zeuge des Glaubens 742–809. Gedenkschrift zum 1200. Todestag. Bochum: Kamp 2009 [EA: 2002], ISBN 978-3-89709-699-8. Basilius Senger: Sankt Liudger. Vita, Liturgie, Gebete und Lieder, Kevelaer: Butzon & Berker, 1959. Basilius Senger (Hrsg.): Liudger in seiner Zeit. Altfrid über Liudger. Liudgers Erinnerungen. Münster: Regensberg 1982, ISBN 3-7923-0484-8. Basilius Senger: Liudger Leben und Werk. Münster: Regensberg 1984, ISBN 3-7923-0510-0. Wilhelm Wattenbach: Liudger. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 19, Duncker & Humblot, Leipzig 1884, S. 4 f. == Tonträger == CONFESSOR O DIGNISSIME. Offiziumsgesänge zu Ehren des hl. Ludgerus. Ensemble Vox Werdensis, Ltg. Stefan Klöckner, Essen-Werden, September 2014. == Weblinks == Literatur von und über Liudger im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Werke von und über Liudger in der Deutschen Digitalen Bibliothek Liudgerus episcopus Mimigardefordensis im Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“ Dossier über Liudger auf kirchensite.de Ludger von Münster im Ökumenischen Heiligenlexikon Neustadt am Main – Gestern und Heute: Die fränkische Missionierung ab 500 Heiner Wember: 26.03.809 – Todestag des Missionars und Heiligen Liudger WDR ZeitZeichen vom 26. März 2014. (Podcast) == Einzelnachweise ==
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Nosseni-Epitaph
= Nosseni-Epitaph = Das Nosseni-Epitaph ist das in Teilen erhaltene Grabdenkmal für den Schweizer Bildhauer Giovanni Maria Nosseni. Es wurde 1616 noch vor Nossenis Tod angefertigt und stand bis zur starken Beschädigung während der Luftangriffe auf Dresden 1945 in der Sophienkirche. Teile des Epitaphs werden gegenwärtig an verschiedenen Orten der Stadt Dresden der Öffentlichkeit präsentiert. == Geschichte == Nosseni galt um 1600 als die „für Dresden wichtigste Künstlerpersönlichkeit“. Er war Lehrer für zahlreiche später bedeutende Dresdner Bildhauer und hatte seit seiner Niederlassung in Dresden im Jahr 1575 die Bildhauerkunst der italienischen Renaissance im Kurfürstentum Sachsen bekannt gemacht. Als sächsischer Hofbildhauer und ausländischer Künstler genoss er hohes Ansehen. Er entwarf Werke und überwachte die Ausführung, war jedoch nur selten selbst bildhauerisch tätig. Als Hofbildhauer konnte sich Nosseni ein Begräbnis in der als Begräbniskirche konzipierten Sophienkirche leisten, das aufgrund der Bestattungskosten in Höhe von 50 Talern nur den obersten Schichten der Stadt möglich war. Der Sophienkirche war Nosseni zudem verbunden, da er 1606 nach Auftrag durch Kurfürstin Sophie den Hauptaltar der Kirche geschaffen hatte. Vier Jahre vor seinem Tod ließ sich Nosseni sein eigenes Grabdenkmal errichten. Es war so konzipiert, dass es an einem der achteckigen Pfeiler der Sophienkirche stehen konnte, und wies daher einen gebrochenen, drei Seiten eines Achtecks bildenden Grundriss auf. Als Bildhauer des Epitaphs gelten Nossenis bedeutendster Gehilfe Sebastian Walther und Zacharias Hegewald. Das Epitaph wurde nach Nossenis Tod 1620 am westlichsten fünften Pfeiler der Kirche angebracht. Beim Innenumbau der Sophienkirche im Jahr 1875 versetzte man das Epitaph „ungünstig in d[ie] Busmannkapelle“ und platzierte es in einer Ecke. Bereits zu diesem Zeitpunkt war der Aufbau des Epitaphs mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts verloren gegangen. Stattdessen wurde das Epitaph durch ein verkröpftes Gebälk abgeschlossen. Erst bei einer zweiten Innenrenovierung der Kirche 1910 wurde das Epitaph „an einer dem Meister würdigen bevorzugten Stelle in der Kirche wieder aufgestellt“; es befand sich nun am ersten Pfeiler unmittelbar neben dem Nosseni-Altar. Das Epitaph bestand 1910 aus zwei Seitenreliefs mit Konsolen und Bekrönung sowie einer Mittelnische, vor der zentral die Skulptur des Ecce homo stand. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Skulptur im Keller der Dresdner Frauenkirche eingelagert, der als bombensicher galt. Während das Epitaph bei der Zerstörung der Sophienkirche schwer beschädigt wurde und sich die teilweise erhaltenen Reliefs heute im Stadtmuseum Dresden befinden, galt der Ecce homo als Kriegsverlust. Erst während der Enttrümmerung der Frauenkirche wurde die Skulptur am 7. April 1994 im eingestürzten westlichen Hauptgewölbe der Kirche wiederentdeckt. Die Figur war zwar zerbrochen, jedoch im Detail so gut erhalten, dass sie restauriert werden konnte. Sie befindet sich seit 1998 in der Dresdner Kreuzkirche. Weitere Bruchstücke des Epitaphs, darunter Stücke der Bekrönung, lagern im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen im Dresdner Ständehaus. Der Entwurf der Gedenkstätte Busmannkapelle von Gustavs und Lungwitz, einer Gedenkstätte für die Sophienkirche, sah auch die Rekonstruktion des Nosseni-Epitaphs vor. Es sollte zentral im stilisierten Chor der Kapelle an der Stelle des früheren Altars errichtet werden. Es war geplant, den Raum der Kapelle für Veranstaltungen und Andachten zu nutzen, wobei Besucher dabei in der Regel auf den Ecce homo des Epitaphs schauen sollten, der „für das Leid der Stadt steht, aber auch Erlösung verheißt“. Eine Rekonstruktion des Epitaphs wurde final nicht umgesetzt. Der Ecce Homo des Epitaphs befindet sich seit 2020 in der Gedenkstätte Busmannkapelle. == Beschreibung == === Linke Seite === Auf der Seite links des Ecce homo war eine kniende männliche Gestalt als Alabasterrelief zu sehen, die Nosseni selbst darstellte. Der bärtige Mann mit kurzem, spärlichen Haar trägt zeittypische Kleidung und kniet mit dem linken Knie auf einem Kissen, während das rechte Knie leicht erhoben ist. Über der Schulter liegt ein Mantel, die Brust zieren zwei Schaumünzen. Sowohl an der rechten als auch an der linken Hand waren bereits um 1900 die Finger abgebrochen; die linke Hand hielt ursprünglich ein Schwert, das jedoch um 1900 ebenfalls fehlte. Die Inschrift gab die Lebensdaten Nossenis und seine Tätigkeit an: Robert Bruck empfand es 1912 als bemerkenswert, dass Nosseni in der Inschrift zwar als Architekt („architectus“), nicht jedoch als Bildhauer benannt wurde. Von der linken Epitaphseite hat sich ausschließlich das Relief erhalten, wobei Teile des rechten Fußes fehlen. Auch die Bank mit Kissen, auf der die Figur kniete, ist nicht erhalten. Das Relief Nossenis gilt als „ein Meisterwerk vornehmer Charakteristik“. === Mittelseite === Die Mittelseite zeigte eine Flachnische, die von über Eck stehenden korinthischen Marmorsäulen eingefasst wurde. Vor der Nische stand auf einem vierseitigen Sockel die rund 165 Zentimeter hohe steinerne Skulptur, die auf der Plinthe als Ecce homo bezeichnet wurde. Um 1900 war die Skulptur bereits mit grauer Ölfarbe übermalt worden. Christus wird mit Dornenkrone dargestellt, die vom Betrachter aus linke Hüfte ist herausgedrückt und der Rumpf rechtsgeneigt. Der Kopf – „der Gesichtsausdruck ist schmerzvoll, doch ohne Verzerrung“ – ist nach links gewandt und die Hände sind nach rechts übereinandergelegt. Über Rücken und Lende liegt ein Gewand. Die zentrale Skulptur gilt als „eine der seltenen Freistatuen monumentalen Formats, die damals von Deutschen geschaffen wurden“ und zeigt in der Körperhaltung deutliche, wenn auch übersteigerte Anklänge an Michelangelos Skulptur Der auferstandene Christus in Santa Maria Sopra Minerva in Rom.Der Sockel, auf dem der Ecce homo stand, enthielt auf drei Seiten Bibelsprüche. === Rechte Seite === Auf der Seite rechts des Ecce homo sind auf einem Relief die drei Ehefrauen Nossenis in kniender Haltung abgebildet. Links ist die 1579 verstorbene erste Ehefrau Elisabeth Unruh im Profil dargestellt. Sie trägt einen Totenschleier und schaut nach oben, ihre Hände sind im Gebet gefaltet. In der Mitte ist die zweite Ehefrau Nossenis, Christiane Hanitsch, dargestellt, die 1606 verstorben war. Sie ist im Äußeren jünger als Elisabeth dargestellt und schaut nach vorn. Die rechte Hand ist offen, während die linke Hand ein Gebetbuch hält. Die Figur trägt ebenfalls einen Totenschleier und scheint in ein Gespräch mit der Frau hinter ihr vertieft zu sein. Bei der rechts dargestellten Frau handelt es sich um die dritte Ehefrau Nossenis, Anna Maria von Rehen, die er 1609 geheiratet hatte und die ihn überlebte. Sie wurde wie Christiane eher jugendlich dargestellt, trägt jedoch keinen Totenschleier, sondern eine Halskrause, eine Haube und einen Pelzmantel mit Gnadenkette. Alle drei Frauen knien auf Kissen und wurden auf engem Raum nebeneinander komponiert. Das Alabasterrelief gilt daher, auch im Hinblick auf das Relief Nossenis, als „weniger geglückte Gruppe“.Die Inschrift unter dem Relief gab die Lebensdaten der Ehefrauen an: Bereits im Jahr 1900 fehlten die Finger der linken und mittleren Frauenfigur. Das Relief blieb erhalten, jedoch wurde der Unterbau mit der Inschrift zerstört. == Ausführende Bildhauer == Die genaue Zuordnung einzelner Teile des Epitaphs zu ausführenden Bildhauern ist nur schwer möglich. Bereits im späten 17. Jahrhundert wurden als ausführende Bildhauer „die berühmten Bildhauer Walther und Hegewald“ genannt. Ihre Arbeit am Epitaph wurde dabei zum Teil zum Beispiel von Gottlob Oettrich nur auf den Ecce homo, in anderen Fällen wiederum auf das gesamte Epitaph bezogen. Cornelius Gurlitt verwies 1900 auf Gottlob Oettrich und ordnete wie er den Ecce homo Sebastian Walther und Zacharias Hegewald zu. Das seitliche Relief Nossenis sei dagegen „von außerordentlicher Meisterschaft und dürfte auf Nosseni selbst zurückzuführen sein.“Bruck wies jedoch 1912 darauf hin, dass Nosseni bei seinen „plastischen Aufträgen nicht selbst schaffend war, sondern andere Künstler oder Gehilfen seiner Werkstatt mit der Ausführung seiner Entwürfe beauftragte“. Auch er erkennt, „daß zwei verschiedene Hände an dem Werke tätig waren, […] denn der Ecce homo unterscheidet sich stilistisch scharf von den Alabasterreliefs der beiden Seiten.“ Er ordnete durch Stilvergleiche den Ecce homo Zacharias Hegewald und die seitlichen Alabasterreliefs Sebastian Walther zu.Walter Hentschel vermutete eine überwiegende Arbeit Sebastian Walthers am Epitaph, da Hegewald 1616 erst 20 Jahre alt und damit vergleichsweise unerfahrener im Handwerk war. == Literatur == Robert Bruck: Die Sophienkirche in Dresden. Ihre Geschichte und ihre Kunstschätze. Keller, Dresden 1912, S. 49–54. Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Band 21: Stadt Dresden, Teil 1. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1900, S. 102–104. Walter Hentschel: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1966, S. 77. == Einzelnachweise ==
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Orgellandschaft Hessen
= Orgellandschaft Hessen = Die Orgellandschaft Hessen weist einen Orgelbestand aus vier Jahrhunderten mit einigen bedeutenden Werken auf. Der Begriff Orgellandschaft allein nimmt Bezug auf die historisch bedingten regionalen Eigenheiten der Orgeln. Die Anfänge der Orgellandschaft Hessen reichen ins 13. Jahrhundert zurück. Seine Blütezeit erlebte der hessische Orgelbau im 18. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert ging er in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus auf. Er war vielfältigen Einflüssen ausgesetzt und ist aufs Ganze gesehen wenig einheitlich geprägt. Dies ist vor allem auf die verschiedenen hessischen Herrschaften und die wechselnden Grenzverläufe in der Geschichte Hessens zurückzuführen. Die kulturelle Konkurrenz zwischen den Landgrafschaften führte zu einer Öffnung gegenüber Einflüssen aus den benachbarten Orgelregionen in Thüringen, Franken, dem Rheinland, der Pfalz und Westfalen. Andererseits entstanden zahlreiche lokale Werkstätten mit teils langer Familientradition. == Geschichte des Orgelbaus == === Bis zur Spätgotik === Die erste bezeugte Orgel des Abendlands war eine Hydraulis, die der oströmische Kaiser Konstantin V. im Jahr 757 Pippin am Mittelrhein als Diplomatengeschenk vermachte. Ab dem 9. Jahrhundert finden sich in einigen wenigen Klöstern Kirchenorgeln, ab dem 13. Jahrhundert vor allem in Kathedralen und Domen, ab dem 14./15. Jahrhundert sind sie über ganz Deutschland verbreitet. Über Jahrhunderte lag das Zentrum des europäischen Orgelbaus jedoch am Mittelrhein. Dank der günstigen Verkehrslage kam es im Taunus und Westerwald zu einer regen Orgelbautätigkeit. Von dort wurden die Regionen im Innenland mit Instrumenten versorgt und auch technische Neuerungen eingeführt. In Wetzlar ist im Jahr 1279 die erste Orgel bezeugt, im Kloster Arnstein und in Dietkirchen Ende des 13. Jahrhunderts, in Limburg 1331. Für den Frankfurter Dom (Bartholomäusstift) ist 1313 erstmals eine Orgel belegt, dessen genaue Erbauungszeit nicht bekannt ist. Im Jahr 1340 wurde dort bereits eine neue Orgel errichtet. Daniel von Hünhoff aus Hadamar ist im Jahr 1471 als erster regionaler Orgelbauer greifbar. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wirkte Leonhard Mertz ausgehend von Frankfurt am Main weit über Deutschland hinaus bis nach Barcelona. Er schuf zum Teil Großorgeln mit drei Teilwerken und einem 32-Fuß im Prospekt. Die Tätigkeit weiterer Frankfurter Orgelbauer wie Diedrich Krafft (1414–1436), Levinus Sweys (1440) und Günter Golt (1446–1475) bezeugt, dass Frankfurt seit spätgotischer Zeit ein europäisches Zentrum des Orgelbaus war. In Fulda hatte der Priester und Organist Laurentius Daum (um 1495–1543) seine Werkstatt und wirkte auch in Sachsen, Thüringen und Nassau. Um 1540 wandte Daum sich dem protestantischen Glauben zu und gründete eine Familie. Für die Fuldaer Stiftskirche (Dom) schuf er 1535 bis 1537 und für die Abteikirche Schlüchtern 1535 bis 1543 neue Orgeln, die alle spätestens in der Barockzeit verloren gingen.Die Kiedricher Orgel ist die älteste Orgel in Hessen, die noch spielbar ist. In ihren ältesten Teilen geht sie auf spätgotische Zeit zurück. Ein unbekannter Meister errichtete um 1500 ein Instrument, das im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgebaut wurde. Hinter dem Orgelprospekt mit Flügeltüren befinden sich Reste eines Werkes von Johannes Wendel Kirchner aus dem Jahr 1653, das im 18. Jahrhundert eine weitere barocke Umgestaltung erfuhr. Geldmangel war die Ursache, dass das Instrument anschließend lange Zeit vor Modernisierungen und einem Austausch verschont blieb. Eine erste Restaurierung wurde von 1858 bis 1860 auf Veranlassung und durch die Finanzierung des englischen Baronets John Sutton durchgeführt. In diesem Zuge wurde der Prospekt entbarockisiert und im gotisch-neugotischen Stil gestaltet. Orgelbau Kuhn führte das Werk 1985–1987 auf den Zustand von 1860 zurück. === Renaissance und Frühbarock === Der führende hessische Orgelbauer des 17. Jahrhunderts war Georg Wagner aus Lich. Wagner begründete eine Orgelbauerfamilie, der bis zum Tod von Georg Henrich Wagner im Jahr 1688 eine reiche Neubau- und Reparaturtätigkeit in Hessen nachgewiesen ist. Georg Wagner wird auch der Bau der berühmten Marburger Schloss-Orgel („Althefer-Positiv“) zugeschrieben, die zwischen 1590 und 1600 wahrscheinlich für die Landvögte Rudolph Wilhelm Rau von Holzhausen und seinen Schwiegersohn Johann von Bodenhausen aus Amönau auf höchstem handwerklichen Niveau angefertigt wurde. Nach dem Tod der Besitzer gelangte die Kleinorgel 1620 in die Stiftskirche Wetter und wurde 1776 nach Friedlos verkauft. Nach einem unsachgemäßen Erweiterungsumbau im 18. Jahrhundert verschlechterte sich der Zustand des Instruments zunehmend. Als die Orgel schließlich unspielbar geworden war, wurde sie 1882 dem Hessischen Geschichtsverein geschenkt. Dieser veranlasste die Überführung ins Marburger Schloss, wo sie ihren heutigen Standort fand. Das Instrument verfügte ursprünglich über sechs Register, die noch teilweise original erhalten sind. Gegenwärtig sind die Eigentumsverhältnisse ungeklärt, sodass eine Rekonstruktion dieser Renaissance-Orgel ausgesetzt wurde (Stand: Mai 2011). Die Wagner-Prospekte in der Butzbacher Markuskirche (1614) und in der Marienstiftskirche Lich (1624) gehören zu den ältesten in Hessen. Beide Orgeln besitzen ein Rückpositiv, sind mit geschnitztem Schleierwerk reich verziert und haben in den zweigeschossigen Flachfeldern zwischen den Pfeifentürmen des Hauptwerks einen Spiegelprinzipal (in Butzbach mit Originalpfeifen). Vermutlich geht auch das Werk in Rodenbach, das von 1621 datiert, auf Wagner zurück; noch vier Register stammen aus dem 17. Jahrhundert.Durchreisende Orgelbauer prägten Hessen im 17. Jahrhundert und der Brabanter Orgelbau dominierte in der Renaissance Deutschland weitgehend. Familie Graurock (Grorockh) aus Emmerich ließ sich in Frankfurt nieder und führte mit Werken in der Barfüßerkirche, in Darmstadt (1599) und Schotten (1614) die niederländisch-brabantische Orgelbaukunst in Hessen ein. Der Hamburger Meister Hans Scherer der Jüngere führte wie die Graurocks die Tradition von Hendrik Niehoff aus ’s-Hertogenbosch fort und prägte Kassel durch drei Orgelneubauten, die überregionale Bekanntheit erlangten, aber alle verloren gingen.Während des Dreißigjährigen Kriegs wurden nur vereinzelt Orgeln gebaut. Zu den wenigen Instrumenten aus dieser Zeit gehört die Worfelder Orgel, die im Laufe ihrer Geschichte an verschiedenen Standorten aufgestellt war. Adam Knauth aus Bamberg schuf im Jahr 1623/1624 für die Darmstädter Schlosskirche ein kleines Instrument ohne Pedal mit sechs Registern, das 1709 nach Zwingenberg gelangte und sich seit 1831 in Worfelden befindet. Das bedeutende Werk aus dem Übergang von der Spätrenaissance zum Frühbarock ist ohne bauliche Veränderungen geblieben und damit eine der ältesten Orgeln Deutschlands. Die Orgel zeichnet sich durch die kurze Oktave, die mitteltönige Stimmung und den 1681 geschickt angebauten Engelkasten mit einer kleinen Zusatzwindlade für die ergänzten Basstöne Fis und Gis aus. Im Jahr 1648 ließ sich Jakob Knauff aus Rieneck in Hanau nieder und baute in Weilburg (1653) und Wetzlar (1654) Instrumente. Adam Öhninger aus Lohr am Main schuf 1686 die Orgel in der Stadtkirche Limburg. Von Jost Friedrich Schäffer aus Langensalza, der den thüringischen Orgelbau nach Hessen importierte, stammt die Orgel in St. Dionys in Eschwege (1677–1679). Von beiden Werken ist nur noch das Gehäuse original. === Barock bis Klassizismus === Im 18. Jahrhundert erlebte die hessische Orgelkultur eine Blütezeit, in der ansonsten schlicht gehaltene reformierte Kirchen Orgeln mit repräsentativen Prospekten und großzügigen Dispositionen erhielten. Allerdings blieben in den ärmeren Regionen kleine Orgeln mit einem Manual und einem kleinen Registerbestand auf Vier-Fuß-Prinzipal-Basis die Regel. Im Gegensatz zum norddeutschen Orgelbau fand in Hessen ein Rückpositiv nur ausnahmsweise Verwendung. Das jüngste Beispiel findet sich in der St.-Marien-Kirche in Bad Sooden-Allendorf (1756). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in mittelrheinischer Tradition Unter- oder Echowerke die Regel, was eine Seitenspieligkeit nach sich zog. Das Pedal war meist selbstständig und nicht nur angehängt. Wie im norddeutschen Orgelbau wurde es in eigenen, symmetrischen Pedaltürmen und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend in flachen und teils recht breiten Pedalflügeln untergebracht, was auf südlichen Einfluss zurückzuführen ist. Eigentümlich breit sind die Pedalflügel in der Liebfrauenkirche Witzenhausen, deren lange Schräggesimse weit in das Tonnengewölbe hineinragen. Die Pedaltürme in Nordhessen weisen im Allgemeinen geschwungene Gesimse (mit „Harfenfeldern“) auf, die weiter südlich bei allen Pfeifentürmen die Regel sind. Infolge der unterschiedlichen kulturellen Prägung der Orgellandschaft ist die Prospektgestaltung insgesamt wenig einheitlich. Bei kleinen Instrumenten fand der fünfteilige Prospekt des „mitteldeutschen Normaltyps“ mit einem hohen Rundturm in der Mitte, zwei seitlichen Spitztürmen und dazwischen niedrigeren eingeschossigen Flachfeldern im Barock seine klassische Gestalt. Durch Johann Jakob Dahm, der 1698 das Bürgerrecht in Mainz erhielt, gelangten fränkische Einflüsse in die hessische Orgellandschaft. Von ihm ist noch der Prospekt in der Weilburger Schlosskirche (1710) zu sehen. Sein Werk in Flörsheim (1709), ursprünglich für das Frankfurter Karmeliterkloster gebaut, wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgearbeitet, verfügt aber noch über einige originale Register. In Dietkirchen/St. Lubentius (1711) steht ein neues Werk hinter dem Dahm-Prospekt, während seine berühmte Orgel in Kloster Eberbach ganz verloren ging. Der kurpfälzische Hoforgelbauer Johann Friedrich Ernst Müller baute 1740 in Güttersbach eine Orgel mit neun Registern, die keine eingreifenden Modernisierungen erlebt hat. Johann Christian Rindt stammte aus Hatzfeld und arbeitete in Schönstadt als Organist, Schulmeister und Orgelbauer. Er verfertigte einige einmanualige Werke ohne selbstständiges Pedal. In der Emmauskapelle in Hatzfeld befindet sich ein kleines Werk aus dem Jahr 1706, das Rindt ursprünglich für die Stadtkirche seiner Geburtsstadt baute. Die erhaltenen Prospekte sind mit reichem Schnitzwerk versehen, insbesondere das seitliche Schleierwerk (die sogenannten „Orgelohren“) und das Gehäuse mit Motiven prächtig bemalt. In Caldern und Hatzfeld sind die Mittelpfeifen der Pfeifenfelder ziseliert, was für Hessen untypisch und auf brabantischen Einfluss zurückzuführen ist, und in Caldern mit Goldmasken versehen.Johann Adam Gundermann (* 1678 in Wommen; † 1711) war ein Meisterschüler Arp Schnitgers und starb bereits im Alter von 33 Jahren, kurz nach Vollendung seiner zweimanualigen Orgel in Sontra/St. Marien. Hinter dem Hamburger Prospekt wurden die Register später ersetzt und die Disposition erweitert. Stärker war insbesondere in der Landgrafschaft Hessen-Kassel der Einfluss aus Thüringen. Johann Eberhard Dauphin siedelte 1715 ins osthessische Iba über, wo er eine kleine Orgel auf Acht-Fuß-Prinzipal-Basis schuf, die teilweise erhalten geblieben ist. Insgesamt gehen etwa zehn Dorforgeln in Hessen auf ihn zurück. Er starb 1731 in Hoheneiche, nachdem er die dortige Orgel fertiggestellt hatte. Seine Söhne Johann Christian und Johann Georg Dauphin führten den väterlichen Betrieb fort. Von 1758 bis 1760 verfertigte Johann Christian die Orgel in Spachbrücken. Die Brüder schufen das weitgehend erhaltene Werk in der Evangelischen Kirche Sandbach (1787).Johann Nikolaus Schäfer aus Babenhausen ließ sich im Jahr 1705 in Hanau nieder und war einer der angesehensten hessischen Orgelbauer im 18. Jahrhundert. Seine Orgeln zeichnen sich durch breite Prospekte und eigenwillige Dispositionen aus. So verfügte sein Werk in der Marburger Marienkirche (28 Stimmen auf zwei Manualen und Pedal) über vier Acht-Fuß-Labial-Register; im Pedal waren vier von sieben Registern 16-füßig; Oberwerk und Brustwerk besaßen eine sechsfache Mixtur. Außer den prachtvollen Prospekten sind heute nur noch einzelne Register original. Die Prospektgestaltung im Régencestil in der Homberger Stadtkirche St. Marien ist ungewöhnlich für den Bereich Hessen-Kassel und weist auf Johann Friedrich Schäffer aus Witzenhausen statt auf Johann Nikolaus Schäfer als Erbauer hin. Die Orgel der Oberweimarer Martinskirche datiert von 1747 und geht auf Johann Christian Köhler zurück, der aus Groß Rosenburg in Sachsen-Anhalt stammte. Im Jahr 1753 leistete er den Frankfurter Bürgereid und betrieb dort fortan eine Werkstatt. Von Köhler sind noch ein halbes Dutzend Orgeln und etliche Prospekte erhalten.In vier Generationen bauten die Familien Grieb und Dreuth ausgehend von Griedel etwa 30 einmanualige Orgeln, die mit ihren trapezförmigen Mitteltürmen und der regelmäßig eingesetzten Superoktave 1′ charakteristische Werke im Gebiet der Grafschaften Solms und Riedesel schufen. Weiter südlich prägte die Orgelbauerfamilie Zinck mit etwa zwei Dutzend neuen Orgeln die Wetterau und das Hanauer Gebiet. Johann Friedrich Syer heiratete in die Familie ein und hinterließ stilistisch einheitliche Orgeln.Johann Conrad Wegmann kam aus der Schweiz und war ab 1732 Hoforgelbauer in Darmstadt. 1736 beauftragte ihn der Rat der Stadt Frankfurt mit dem Bau einer Orgel mit 41 Registern für die Barfüßerkirche. Sein Sohn Philipp Ernst und sein Enkel Johann Benedikt Ernst Wegmann wirkten als Orgelbauer in Frankfurt. Philipp Ernst Wegmann wurde Stiefsohn und Werkstattnachfolger von Köhler, dessen eigener Sohn, der als Nachfolger vorgesehen war, früh starb. In Bobenhausen sind die meisten Register der Rokoko-Orgel von Wegmann (1776–1780) erhalten. Eine Besonderheit stellt das Gedackt 4′ (Duiflauthe) mit seiner doppelten Labiierung dar. Nach verschiedenen Umbauten sind noch der historische Prospekt und einige Wegmann-Register von 1781 in Nieder-Erlenbach erhalten. Johann Wilhelm Schöler aus Bad Ems lieferte auch einige Werke ins Gebiet des heutigen Hessens und vermittelte auf diese Weise die mittelrheinische Bauweise. Original erhalten ist die Schöler-Orgel im ehemaligen Kloster Altenberg bei Wetzlar aus dem Jahr 1757/58. Die seitenspielige Denkmalorgel zeichnet sich durch sanfte und kammermusikalische Register aus, da sie im Nonnenkloster keine große Gemeinde zu begleiten hatte. Im selben Jahr entstand Schölers Werk in Egenroth. Charakteristisch für seine rheinländische Bauweise ist, dass bei größeren Orgeln Haupt- und Unterwerk in der Emporenbrüstung übereinander stehen und sich kleine Pfeifenfelder an die Haupttürme anschmiegen (wie auch in Gladenbach, 1789–1795). Schölers Werk in Büttelborn (1788) erfuhr 1967 einen Erweiterungsumbau durch Gebr. Oberlinger Orgelbau, bis 1975 die originale Disposition wiederhergestellt wurde. In Nordhessen wirkten verschiedene westfälische Orgelbauer wie Johann Jacob John (Einbeck), Andreas Schneider (Höxter) und Peter Henrich Varenholt (Bielefeld) sowie nordhessische Orgelbauer mit westfälischem Einfluss wie Daniel Mütze und die Brüder Andreas und Bernhard Reinecke. Typisch für den westfälischen Stil sind die zahlreichen kleinen Pfeifenfelder, die ausgehend vom großen Pfeifenturm in der Mitte nach außen immer weiter abgestuft sind. Die weit bekannte Orgelbauerdynastie Stumm aus dem Hunsrück lieferte auch rechtsrheinisch aus und schuf in Bad Camberg (1779–1784) und Hasselbach (1788) Orgelwerke, die den alten Registerbestand teilweise, in Bärstadt (1769–1771) sogar vollständig aufweisen.In Gottsbüren entstand vom 17. bis 19. Jahrhundert ein Orgelbauzentrum, das in Joachim Kohlen (1598–1676) seinen ersten nachweisbaren Stammvater fand. Bedeutender Vertreter der Dynastie war Johann Stephan Heeren (1729–1804), der von Landgraf Friedrich II. zum privilegierten Hoforgelbauer ernannt wurde. 1774 wurde er beauftragt, die Orgel in der Hof- und Elisabethkirche in Kassel zu bauen. Kennzeichnend für Heerens Bauweise ist, dass die kleineren Spitztürme den größeren Mittelturm unmittelbar flankieren. So finden sich beispielsweise in der Zierenberger Stadtkirche (1756/57) statt der sonst üblichen mittleren Flachfelder kleine seitliche Pfeifenfelder, die zu den Pedaltürmen überleiten. Durch Heerens Schwiegersohn Johann Friedrich Euler (1759–1795) erfolgte eine weitere Umbenennung des Unternehmens. Nach dessen Tod heiratete Johann Dietrich Kuhlmann die Witwe und übernahm 1804 die Werkstatt. Nachfahren von Euler führten den Familienbetrieb fort, der in Hofgeismar bis ins 20. Jahrhundert bestand und mit zwölf Generationen als das älteste Orgelbau-Unternehmen Deutschlands gilt.Johann Andreas Heinemann gilt als bedeutendster oberhessischer Orgelbauer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er stammte aus Jena und erlernte den Orgelbau bei den Thüringer Orgelbaumeistern Johann Casper Beck und Johann Michael Wagner, die von 1747 bis 1751 die Orgel der Laubacher Stadtkirche schufen. Nach Fertigstellung der Orgel ließ Heinemann sich in Laubach und ab 1765 in Gießen nieder. Am 24. Januar 1766 wurde er zum Hessen-Darmstädtischen Orgelmacher privilegiert. In Hessen-Kassel erhielt der Meister nur wenige Aufträge, da die einheimischen Orgelbauer energisch gegen den Hessen-Darmstädter Protest einlegten, den sie als „Ausländer“ bezeichneten. Im Stil des Rokoko stammen von ihm die weitgehend original erhaltenen Orgeln in Nieder-Gemünden (1760) und in Breidenbach (1769). In der Stiftskirche zu Wetter (1763–1766) steht sein einziges erhaltenes zweimanualiges Werk, während in Kirchberg (1777) nur noch der Prospekt zu sehen ist. Neben ihm war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Johannes Schlottmann (1726–1795) in Osthessen tätig. Nach mehreren Klagen über seine Säumigkeit wurde 1775 ein Konkursverfahren gegen Schlottmann eröffnet und seine Friedewalder Werkstatt versteigert. 1783 siedelte die Familie nach Spangenberg über. Nach weiteren Orgelprojekten kam es erneut zu Vorwürfen, die 1788 zu einer fünfwöchigen Festnahme und weiteren vier Wochen Gefängnisstrafe führten. 1789 erteilte das Konsistorium Marburg ein Arbeitsverbot und verwies ihn des Landes. Die letzten Jahre verdingte Schlottmann sich hauptsächlich mit Reparaturdiensten in Hessen-Darmstadt. Neben seiner reich verzierten Rokoko-Orgel in Kloster Spieskappel (1769–1771) sind noch etliche Prospekte erhalten, so in Ottrau (1754–1757), Willingshausen (1764), Niederasphe (1775–1781) und Angersbach (1785–1788). Aus der Zeit des Klassizismus ist die zweimanualige Orgel der Evangelischen Kirche Nieder-Moos vollständig original erhalten, die Johann-Markus Oestreich im Jahr 1791 mit einem ungewöhnlich breiten, 15-achsigen Prospekt erbaute. Die Verzierungen reichen vom ausgehenden Rokoko bis zum Zopfstil. Wegen der großen Ähnlichkeit mit der Wegmann-Orgel in der Stadtkirche Lauterbach (1767), die als Vorbild diente, wurde auch hier Oestreich als Erbauer vermutet. Oestreich wirkte in Oberbimbach und entstammte einer Orgelbausippe, die in fünf Generationen die hessische Orgellandschaft prägte. Etliche seiner Prospekte sind noch erhalten. Vom Homburger Orgelbaumeister Johann Conrad Bürgy, der aus Schaffhausen zureiste, sind nur noch drei klassizistische Instrumente erhalten geblieben: Die Orgel in Wehrheim entstand 1783, die in Rohrbach 1789. Das repräsentative Werk in der Schlosskirche von Bad Homburg (1782–1787) verfügt über ein Echowerk. Das Gehäuse ist original, während das Pfeifenwerk rekonstruiert wurde. Ebenfalls klassizistisch präsentiert sich die Orgel in Bleichenbach, die Bürgys Söhne im Jahr 1803 errichteten. Hier sind die meisten Register noch erhalten, während die Traktur gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneuert wurde. === Romantik === Auch im 19. Jahrhundert prägten verschiedene Orgelbauer aus den angrenzenden Regionen die hessische Orgellandschaft. Diese Entwicklung wurde durch die Abschaffung der Binnenzölle und die dadurch bedingte Ausweitung der Absatzgebiete begünstigt. Die Vereinigung kleiner Länder zu Hessen-Nassau im Jahr 1868 förderte die wirtschaftliche Lage und führte dazu, dass Orgelbauer und Orgelsachverständige überkonfessionell tätig wurden. Neben konservativen Orgelbauern, die sich noch lange an der traditionellen Bauweise orientierten, hielten in der zweiten Jahrhunderthälfte eingreifende technische Neuerungen wie die Einführung der Kegellade und ab 1890 die Pneumatik Einzug. Neu ist auch, dass im Zuge industrialisierter Fertigungsmethoden die Quantität der gelieferten Werke eines Unternehmens stark zunahm. Der damit verbundenen neuen Klangästhetik der Romantik fielen die meisten alten Orgelwerke zum Opfer.Als der bedeutendste Orgelbauer des 19. Jahrhunderts im Rhein-Main-Gebiet gilt Bernhard Dreymann aus Mainz, dessen Werke bis nach Belgien geliefert wurden. Von ihm sind noch beispielsweise die Werke Schlierbach (1833), Ober-Erlenbach (1840) und Ober-Eschbach (1849) weitgehend erhalten. Eigentümlich ist seine mechanische Registriervorrichtung mit zwei Fußhebeln und einer stufenweisen Forteschaltung in Hainchen (1834). Sein Instrument in Trebur (1844) wurde kaum verändert. In Kirdorf befindet sich die größte und zugleich einzige erhaltene hessische Orgel seines Sohnes Hermann Dreymann aus dem Jahr 1862.In Konkurrenz zu Dreymann stand Johann Georg Förster, der 1842 in Lich eine Werkstatt gründete. Das oberhessische Familienunternehmen Förster & Nicolaus Orgelbau schuf bisher über 725 Neubauten (Stand: 2014) und hat sich auch durch Restaurierungen historischer Instrumente über Oberhessen hinaus einen Namen erworben. Försters Orgel in Steinbach (1849) hinter neuromanischem Prospekt verfügt über ein seltenes Physharmonika-Register, das auch in der neugotisch gestalteten Orgel in Großen-Buseck (Förster & Nicolaus, 1870) anzutreffen ist. In Homburg führten Philipp Heinrich Bürgy und Johann Georg Bürgy unter dem Namen Gebrüder Bürgy die Werkstatt nach dem Tod des Vaters fort und leiteten zu einem frühromantischen Klangkonzept über.Das 1792 gegründete Unternehmen der Orgelbauerfamilie Ratzmann (Gelnhausen) errichtete in 130 Jahren etwa 170 Orgeln in Hessen und Thüringen, von denen nur wenige erhalten sind, wie das neuromanisch gestaltete Werk in Dorheim (1855) und weitere in Aufenau (1880), Neuhof (1885), Roßdorf (1895), Schönstadt (1898) und in Altenmittlau (1904). Nach Kurhessen-Waldeck lieferten angrenzende pfälzische Orgelbauunternehmen, wie die Unternehmen Stumm und Oberlinger. Die Stumm-Orgel im Rheingauer Dom in Geisenheim (1839–1842) hinter neugotischer Prospektform ist mit 33 Registern, von denen zwei Drittel original sind, das größte zweimanualige Werk dieser Orgelbauerfamilie. Alois Späth gründete in Mengen ein international tätiges Familienunternehmen, das vor allem in Osthessen Orgeln errichtete. Johann Hartmann Bernhard aus Romrod war vor allem in Hessen-Darmstadt tätig und begründete eine Orgelbauerdynastie, die im 19. Jahrhundert über 120 Orgeln baute und bis heute die Orgelregion nachhaltig geprägt hat. Angesichts starken Konkurrenzdrucks setzte Bernhard auch in schweren Kriegszeiten auf eine solide und traditionelle handwerkliche Bauweise, was ihm einen guten Ruf verschaffte. Von ihm stammen etwa 40 Dorforgeln, die selbst bei bescheidener Disposition über ein selbstständiges Pedal verfügen. Seine frühen Werke sind noch dem Zopfstil verpflichtet, die weiteren weisen ein klassizistisches Aussehen auf. Kennzeichnend wurde der flache Verbundprospekt in seiner geometrischen querrechteckigen Gestaltung ohne hervortretende Pfeifentürme. Klanglich greifen seine Orgeln noch stark auf das 18. Jahrhundert zurück. Sein Sohn Friedrich Wilhelm Bernhard führte die Romroder Werkstatt fort, die 1861 von dessen Bruder Adam Karl Bernhard nach Gambach verlegt wurde und unter Johann Hartmanns Enkeln als Gebrüder Bernhard firmierte. Zu den bedeutendsten nordhessischen Orgelbauern neben Vogt in Korbach und Peter Dickel in Treisbach gehörte die Orgelbauerfamilie Wilhelm, die im Zeitraum von etwa 120 Jahren bis in die 1880er Jahre vor allem im Raum Kassel zahlreiche Neubauten, Umbauten und Reparaturen ausführte. Der Begründer der Dynastie war Georg Peter Wilhelm, dessen Werke in Schloss Escheberg (1793) und in der Stiftskirche Kaufungen (1802) authentische Klangdenkmale darstellen. Sein Halbbruder Georg Wilhelm Wilhelmy übersiedelte 1781 nach Stade und führte dort die Tradition Arp Schnitgers fort. Im Herzogtum Nassau wirkte in der Mitte des 19. Jahrhunderts Christian Friedrich Voigt. Er stammte aus Sachsen, begründete in Wiesbaden-Igstadt ein Familienunternehmen und baute über 50 in der Regel kleine Orgeln. Neben ihm betrieb Daniel Raßmann in Möttau eine Werkstatt. Raßmanns seitenspieliges Werk in Steinfischbach (1843) mit Unterwerk in der Emporenbrüstung ist kaum verändert worden, selbst die terzhaltige Mixtur und die Zungenstimmen sind original; dagegen wurden bei seiner größten Orgel, der ebenfalls seitenspieligen Brüstungsorgel in Eschbach (1845), Windanlage, Klaviaturen und Zungenstimmen im Laufe der Zeit verändert, in den Jahren 1995/96 jedoch nach dem Vorbild des Schwesterinstruments in Steinfischbach weitgehend rekonstruiert; das ungewöhnliche Register Spindelflöte 4′ gilt als „Leitfossil“ Raßmanns. Sein Sohn Gustav Raßmann verwendete in Burg Hohenstein (1885), Adolfseck (1897) und Steckenroth (1899) die mechanische Kegellade. In Osthessen versah August Röth (1812–1872) zahlreiche Reparaturen und Orgelpflegen und schuf auch einige Neubauten. Wegen seiner Trunksucht unterstand das Unternehmen 1865/66 einer Kuratel und firmierte seit 1868 unter dem Namen Gebrüder Röth und Sohn. Im Limburger Raum lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Orgelbauwerkstatt der Gebrüder A. und M. Keller zahlreiche Orgeln (u. a. in den Limburger Dom). Nach dem Tod des Inhabers Michael Keller im Jahr 1894 übernahm der Bonner Orgelbauer Johannes Klais dessen Restbestand und schloss noch einige von Keller begonnene Orgelprojekte (vgl. Wehrheim, Rauenthal u. a.) ab. Nachfolger der Gebrüder Keller wurde der Orgelbauer Carl Horn (Karl Horn), der in den Jahren 1895/96 seine Werkstatt in Limburg eröffnete. Er baute bis etwa 1930 mehr als 60 Instrumente mit spätromantischer Disposition und meist pneumatischer Kegellade, von denen nur noch sehr wenige im Original erhalten sind. In die Nachfolge trat die Orgelbauwerkstatt Eduard Wagenbach.Aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts erlangten einige Instrumente des renommierten Ludwigsburger Orgelbauunternehmens E. F. Walcker & Cie. große Bekanntheit, wie die spätromantische Orgel der Lutherkirche in Wiesbaden (1911) mit einem Freipfeifenprospekt und einem umfangreichen Schwellwerk von 17 Stimmen, die Ideen der elsässisch-neudeutschen Orgelreform von Émile Rupp und Albert Schweitzer umsetzte. Eine ältere Walcker-Orgel aus dem Jahr 1866 befindet sich Fränkisch-Crumbach, die ebenso vollständig original erhalten ist wie das Werk in der Unionskirche in Idstein (1912). === 20. und 21. Jahrhundert === Ab 1925 entstand die sogenannte Orgelbewegung, die in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Sie war um den Erhalt der alten Orgeln bemüht und führte einen radikalen Wechsel in der Ästhetik und eine Rückbesinnung auf die klassische Bauweise der Barockorgel herbei. Infolgedessen wurden aber viele romantische Werke erneuert oder neobarock umdisponiert, sodass nicht selten historische Substanz verloren ging. Weitere unwiederbringliche Verluste brachte der Zweite Weltkrieg mit sich, von denen insbesondere Städte wie Frankfurt, Kassel, Darmstadt, Gießen und Wetzlar betroffen waren. In den Nachkriegsjahren wurden zerstörte oder abgängige Orgeln nicht rekonstruiert, sondern durch Orgelneubauten vorzugsweise von außerhessischen Orgelbauern ersetzt. Die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende Verdrängung von besonderen regionalen Ausprägungen schritt im 20. Jahrhundert derart voran, dass der hessische Orgelbau in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus aufging. So baute Klais aus Bonn 1957 die Orgel des Frankfurter Kaiserdomes im neobarocken Stil. Sie ist mit 115 Registern bis heute die größte Orgel in Hessen. Weitere Neubauten mit drei oder vier Manualen schuf Klais in Oberursel/Liebfrauenkirche (1970), im Limburger Dom (1978), in der Frankfurter Paulskirche (1988), Fulda/St. Blasius (2005) und der Marburger Elisabethkirche (2006). Erst als ein Großteil der historischen Orgeln ersetzt war, bahnte sich ab den 1960er Jahren vereinzelt und ab den 1970er Jahren verstärkt ein Umdenken an. Kirchliche und freie Orgelsachverständige, flankiert vom Denkmalschutz, begannen sich für den Erhalt der verbliebenen alten Instrumente und für sachgemäße Restaurierungen einzusetzen. So forderte eine Konferenz am 31. März 1973 in Altenberg geschlossen den Erhalt der nahezu unversehrten Schöler-Orgel, was dazu führte, dass der bereits 1972 vergebene Auftrag zur Renovierung nicht zur Ausführung kam.Einige zeitgenössische Unternehmen greifen auf lange Orgelbautraditionen zurück, wie beispielsweise Elmar Krawinkel, der die Tradition von Johann Stephan Heeren, seinem Schwiegersohn Johann Friedrich Euler (1759–1795) und dessen Nachfahren fortführt, oder Dieter Noeske (* 1936), Rotenburg an der Fulda, der den Betrieb von August Möller übernahm. Das Familienunternehmen Raßmann wird seit 1906 von der Orgelbauerfamilie Hardt in der vierten Generation geleitet. Den Betrieb von Ratzmann führt heute Andreas Schmidt fort, ein Enkel von Richard Schmidt, der 1921 die Werkstatt von Ratzmann übernahm. Wilhelm Hey (1840–1921), von dem etwa ein Dutzend Orgelwerke erhalten sind, begründete 1874 in Ostheim vor der Rhön einen Familienbetrieb, der mittlerweile in sechster Generation tätig ist und damit zu den ältesten noch bestehenden Orgelbauwerkstätten Deutschlands zählt.Ganz andere Wege beschritten auswärtige Orgelbauer wie Rudolf von Beckerath Orgelbau im Wetzlarer Dom (1953) und Ahrend & Brunzema in der Cantate-Domino-Kirche in Frankfurt (1970) mit modellhaften Werken, die in der Tradition der norddeutschen Barockorgel stehen. Ein weiterer Neubau von Jürgen Ahrend entstand 1975 in der Evangelischen Stadtkirche Höchst. Im Jahr 1989 baute er für die Wetzlarer Franziskanerkirche hinter dem alten Prospekt von Philipp Heinrich Bürgy (1803) ein Werk im Stil von Bürgy, ohne diesen zu kopieren. Ansonsten blieb der konsequent historisch orientierte Orgelbau in Hessen die Ausnahme. Der Marburger Orgelbauer Gerald Woehl strebt eine Synthese des historischen Orgelbaus mit innovativen Neukonzeptionen an, so bei seinem viermanualigen Werk in der Marburger Kugelkirche (1976) oder in der Bad Homburger Erlöserkirche (1990), die erstmals im modernen Orgelbau einen Dispositionsvorschlag von Johann Sebastian Bach umsetzt. Das Werk wurde in der Emporenbrüstung vor der denkmalgeschützten Sauer-Orgel platziert und bildet mit dieser optisch eine kunstvolle Einheit. Der moderne Orgelbau wird durch Werner Bosch Orgelbau (Kassel) repräsentiert, dessen hessischer Standort wie bei Woehl und anderen ohne Relevanz für den Charakter der gelieferten Instrumente ist. Insbesondere die Bosch-Orgel von 1964 für die Martinskirche Kassel, die 2014/15 nach St. Elisabeth in Kassel umgesetzt wurde, steht mit ihrer von Helmut Bornefeld geplanten Disposition programmatisch für Modernität im zeitgenössischen Verständnis. Die Werkliste von Bosch umfasst über 900 Orgelneubauten (Stand: 2011), die bis nach Japan, Korea und die USA exportiert wurden. Ergänzt wird die hessische Orgellandschaft durch Neubauten ausländischer Betriebe, wie Rieger Orgelbau aus Schwarzach (Vorarlberg), der stark exportorientiert ist. Rieger schuf in der Frankfurter Katharinenkirche ein großes Werk mit 54 Stimmen, das barocke mit französisch-symphonischen Klängen vereint. Hinter dem historischen Prospekt der Orgel im Fuldaer Dom richtete Rieger 1996 ein neues Werk mit 72 Registern und vier Manualen ein. 1999 wurde die Rieger-Orgel in der Frankfurter Lukaskirche fertiggestellt. Mit dem Neubau für die Martinskirche Kassel 2017 (Hauptorgel, IV/P/77) und 2021 (Experimentalmodul) entstand an einem traditionell der musikalischen Moderne verpflichteten Ort ein darauf ausgerichtetes ungewöhnliches Instrument. == Bedeutung == Anders als mit Gottfried Silbermann in Sachsen oder Arp Schnitger im norddeutschen Raum trat in Hessen kein einzelner überragender Orgelbauer hervor, der das gesamte Gebiet über Jahrhunderte kulturell bestimmt hätte. Leonhard Mertz im 15. Jahrhundert, Georg Wagner im 17. Jahrhundert und Johann Andreas Heinemann im 18. Jahrhundert gelten jedoch als führende Orgelbauer ihrer Zeit, die auch überregional tätig waren und deren Orgeln heute zu den bedeutendsten Werken der Orgellandschaft Hessen zählen. Die typisch hessische Orgel schlechthin gibt es nicht. Zu vielfältig sind die regionalen Besonderheiten und die unterschiedlichen Einflüsse aus den benachbarten Orgelregionen. Seit jeher war der Mittelrhein aufgrund seiner verkehrstechnisch günstigen Lage ein Durchzugsgebiet verschiedener Orgelbauer. Die hessische Orgellandschaft vereint zahlreiche Einflüsse, deren Mischung für diese Orgelregion kennzeichnend ist.Im Gegensatz zum norddeutschen Orgelbau findet sich in hessischen Orgeln nur selten ein Rückpositiv oder Brustwerk. Unter mittelrheinischem Einfluss kommen ab dem 18. Jahrhundert stattdessen Unter- oder Echowerke zum Einsatz (Stumm, Schöler). Charakteristisch für den Raum Frankfurt und Fulda sind ab dem 18. Jahrhundert die S-förmig geschwungenen Harfenfelder (Köhler, Wegmann, Oestreich). Im südlichen Hessen nimmt die Anzahl der Harfenfelder zu, im Norden bleiben sie auf die Pedalflügel beschränkt. Kennzeichnend für die südliche Prägung ist die Unterbringung des Pedalwerks in flachen und breiten Pedalflügeln statt in Pedaltürmen, wie in Norddeutschland üblich. Nordhessische Orgeln weisen vereinzelt eine westfälische Prospektgestaltung auf, die an der Vielzahl kleiner Pfeifenfelder erkennbar ist, die um den großen Mittelturm seitlich immer weiter abgestuft sind. Ziselierungen und mit Masken bemalte Labien finden sich bei Georg Wagner und einigen Orgeln in Nordhessen, was auf brabantischen Einfluss hinweist. Bei kleinen Instrumenten aus der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert hinein überwiegt der mitteldeutsche Typ mit drei runden und eckigen Pfeifentürmen und zwei dazwischen liegenden Flachfeldern.Da die meisten Orgeln im Laufe der Jahrhunderte ersetzt oder durch Katastrophen und Kriege zerstört wurden, ist nur wenig historische Substanz erhalten. Unter den historischen Orgeln gibt es einige dreimanualige Werke mit einigen alten Registern. Die bedeutenden historischen Orgeln sind ansonsten zwei- und überwiegend kleine einmanualige Werke. Kaum ein Instrument hat die Jahrhunderte ohne eingreifende Veränderungen überstanden. Insofern kommt den nahezu vollständig bewahrten Werken in Worfelden (1623), Kloster Altenberg (1757) und Nieder-Moos (1791) eine besondere Bedeutung zu. Dennoch vermitteln die Archivalien und die erhaltenen Orgelreste aus den letzten vier Jahrhunderten einen Einblick in die vielfältige Orgelkultur Hessens, die von Anfang an mit den angrenzenden Regionen einen interkulturellen Austausch pflegte. Dies schlägt sich sowohl in der äußeren Gestaltung der Prospekte als auch in der baulichen und klanglichen Konzeption der Instrumente nieder, die rheinländische, pfälzische, thüringische oder westfälische Einflüsse erkennen lässt.Die Erschließung der hessischen Orgelkultur für die Öffentlichkeit geschieht wie auch andernorts durch Konzerte, Festivals und Orgelfahrten und wird von Publikationen und Tonträgern flankiert. Seit 2001 werden durch ein gemeinsames Programm des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen mit der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen Orgelrestaurierungen gefördert. Als eine der ersten Orgellandschaften wurde Hessen kunstwissenschaftlich von Ludwig Bickell erforscht. Heute ist die Orgellandschaft in Mittel- und Südhessen organologisch durch die Reihe Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins und durch die Monografien über die Provinz Starkenburg und die Grafschaft Ziegenhain sorgfältig erschlossen, in denen der gesamte Orgelbestand vollständig erfasst wird. == Literatur == Gerhard Aumüller, Barbara Uppenkamp: Fakten und Fragen zur Herkunft der Marburger Schloss-Orgel. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Band 113, 2008, S. 152–164 (online; PDF-Datei; 630 kB). Gerhard Aumüller: Orgeln und Orgelbauer in Hessen zur Zeit der Landgrafen Wilhelm IV. und Moritz des Gelehrten. In: Acta Organologica. Band 28, 2004, S. 37–64. Gerhard Aumüller: Westfälische Stilelemente barocker Orgeln in Waldeck und im Marburger Land. In: Alma mater Philippina. Band 70, 1997, S. 17–21. Hans Martin Balz: Göttliche Musik. Orgeln in Deutschland (= 230. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde). Konrad Theiss, Stuttgart 2008, ISBN 3-8062-2062-X. Hans Martin Balz: Orgeln und Orgelbauer im Gebiet der ehemaligen hessischen Provinz Starkenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Orgelbaues (= Studien zur hessischen Musikgeschichte. Band 3). Bärenreiter-Antiquariat, Kassel 1969. Hans Martin Balz: Orgelbau und Orgelmusik in Südhessen. Zur Tagung 1979 der GdO in Frankfurt. In: Ars Organi. Band 27, Nr. 59, 1979, S. 511–524. Hans Martin Balz, Reinhardt Menger: Alte Orgeln in Hessen und Nassau (= Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde. Band 72). 2. Auflage. Merseburger, Kassel 1997, ISBN 3-87537-169-0. Franz Bösken: Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte. Band 6). Band 1: Mainz und Vororte – Rheinhessen – Worms und Vororte. Schott, Mainz 1967, ISBN 978-3-7957-1306-5. Franz Bösken: Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte. Band 7,1). Band 2: Das Gebiet des ehemaligen Regierungsbezirks Wiesbaden. Teil 1: A–K. Schott, Mainz 1975, ISBN 3-7957-1307-2. Franz Bösken: Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte. Band 7,2). Band 2: Das Gebiet des ehemaligen Regierungsbezirks Wiesbaden. Teil 2: L–Z. Schott, Mainz 1975, ISBN 3-7957-1370-6. Franz Bösken, Hermann Fischer: Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte. Band 29,1). Band 3: Ehemalige Provinz Oberhessen. Teil 1: A–L. Schott, Mainz 1988, ISBN 3-7957-1330-7. Franz Bösken, Hermann Fischer: Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte. Band 29,2). Band 3: Ehemalige Provinz Oberhessen. Teil 2: M–Z. Schott, Mainz 1988, ISBN 3-7957-1331-5. Hermann Fischer: 100 Jahre Bund Deutscher Orgelbaumeister. 1891–1991. Hrsg.: Bund Deutscher Orgelbaumeister. Orgelbau-Fachverlag, Lauffen 1991, ISBN 3-921848-18-0. Dieter Großmann: Kurhessen als Orgellandschaft. In: Acta Organologica. Band 1, 1967, S. 69–112. Dieter Großmann: Orgeln und Orgelbauer in Hessen (= Beiträge zur hessischen Geschichte. Band 12). 2. Auflage. Trautvetter & Fischer, Marburg 1998, ISBN 3-87822-109-6. Dieter Großmann: Zu einer Geschichte des Orgelbaues in Hessen. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Band 68, 1957, S. 174–184. Bernhard Hemmerle: Orgelbau im Kreis Limburg – Weilburg. In: Jahrbuch 2004 des Kreises Limburg-Weilburg (= Beiträge zur hessischen Geschichte. Band 12). Rekom, Limburg 2003, ISBN 3-87822-109-6, S. 251–260. Siegfried Lotze: Renaissance-Orgeln in der Landgrafschaft Hessen. 400 Jahre Schloßkirche Schmalkalden. In: Landkreis Kassel, Jahrbuch. 1991, S. 73 ff. Gottfried Rehm: Beiträge zur Geschichte der Orgelbauer in Fulda und in der Rhön. In: Acta Organologica. Band 25, 1997, S. 29–60. Gottfried Rehm: Die Orgeln des ehemaligen Kreises Schlüchtern (= Norddeutsche Orgeln. Band 10). Pape, Berlin 1975, ISBN 3-921140-14-5. Gottfried Rehm: Die Orgeln des Kreises Fulda außer Kernstadt Fulda (= Norddeutsche Orgeln. Band 5). Pape, Berlin 1978, ISBN 3-921140-18-8. Achim Seip, Barbara Nichtweiss: Alte und neue Orgeln im Bistum Mainz (= Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz. Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese). Bischöfliches Ordinariat, Mainz 2003, ISBN 978-3-934450-14-1. Eckhard Trinkaus, Gerhard Aumüller: Orgelbau im Landkreis Waldeck-Frankenberg. In: Friedhelm Brusniak, Hartmut Wecker (Hrsg.): Musik in Waldeck-Frankenberg. Musikgeschichte des Landkreises. Bing, Korbach 1997, ISBN 3-87077-098-8, S. 144–202. Eckhard Trinkaus: Orgeln und Orgelbauer im früheren Kreis Ziegenhain (Hessen) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 43). Elwert, Marburg 1981, ISBN 3-7708-0713-8. Franz Vogel: Orgeln im nordwestlichen Hessen. In: Ars Organi. Band 34, 1986, S. 34–40. == Aufnahmen/Tonträger (Auswahl) == Martin Balz: Konzert zum Reformationstag auf der ehemaligen Darmstädter Schlossorgel von 1624 in der Ev. Kirche Worfelden. 2010. Studio 12 GmbH (Werke von Anonymus, A. de Cabezon, H. L. Hassler, J. Cabanilles, M. Weckmann, J. Pachelbel, D. Buxtehude, J. S. Bach, G. B. Pergolesi, S. S. Wesley). J. S. Bach als Bearbeiter eigener und fremder Werke. Motette CD 11741 (Hayko Siemens in Bad Homburg/Erlöserkirche) Roland Götz spielt Samuel Scheidt. studio XVII augsburg 96503 (Rindt-Orgel in Hatzfeld/Eder). Historische Orgeln aus vier Jahrhunderten. AV-studio Helmut Buchholz, AV 09-90-2200 (R. Bechtle, H. M. Hoffmann, W. Stockmeier M. Weyer an acht historischen Orgeln im Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau) Historische Orgeln in Hessen: Ratzmann-Orgeln in Altenmittlau, Aufenau, Roßdorf, Schönstadt. Hessischer Rundfunk. 2006 (Hans-Jürgen Kaiser spielt Werke von F. Mendelssohn, J. Brahms, M. Karg-Elert, M. Reger) Historische Orgeln in Hessen: Orgeln des 18. Jahrhunderts in Büttelborn, Brand, Stammheim, Wehrheim. Hessischer Rundfunk. 2009. (Hans-Jürgen Kaiser spielt Werke von J.S. Bach, J. Haydn, C. Kittel, J. Pachelbel, Rinck und Schnitzer) Kiedrich – Ton Koopman. Capriccio 10228. 1988 (Werke von J. C. Kerll, C. Paumann, A. Schlick, H. Buchner, H. Kotter, H. L. Hassler, C. Erbach, P. Siefert, H, Scheidemann, J.J. Froberger, D. Buxtehude) Klangerlebnisse an der Limburger Domorgel. AV-studio Helmut Buchholz, AV 09-5000-93 (H.M. Hoffmann und W. Stockmeier im Limburger Dom) Johann Pachelbel (1653–1706): The Complete Organ Works. Vol. V. Centaur Records Inc., CRC 2353. 1998 (Joseph Payne in Kiedrich) Orgelmusik an der Heinemann-Orgel in Wetter. AV Studio Helmut Buchholz, AV-9-00-1000 (Klaus-Jürgen Höfer und Christian Zierenberg mit Werken von J.S. Bach, D. Buxtehude, J.L. Krebs, C.H. Rinck) Orgeln in Hessen aus vier Jahrhunderten. Bauer Studios SACD 9088-3 (Reinhardt Menger in Worfelden, Hatzfeld, Nieder-Moos, Biebesheim und Frankfurt am Main/Cantate Domino) Orgellandschaft Bad Homburg vor der Höhe. Ars Musici 1132-2 (Hayko in der Erlöserkirche, Schlosskirche, St. Marien, St. Johannes und St. Martin Siemens mit Werken von J. S. Bach, W. A. Mozart, R. Schumann, J. Brahms, M. Reger, F. Liszt) == Siehe auch == Liste von Orgeln in Hessen == Weblinks == Martin Balz: Orgelbau in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland (Memento vom 26. März 2018 im Internet Archive) Orgelfestival Fugato: Die Bad Homburger Orgellandschaft Landesamt für Denkmalpflege Hessen: Orgeldenkmalpflege == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft_Hessen
Orgellandschaft Sachsen
= Orgellandschaft Sachsen = Die Orgellandschaft Sachsen umfasst den historisch gewachsenen Orgelbestand der Kulturlandschaft Sachsen. Ihre Ursprünge reichen bis in die spätgotische Zeit zurück. Aber erst im 17. Jahrhundert entstand eine eigenständige sächsische Orgellandschaft. Der Kulturraum war in der Geschichte wechselnden Einflüssen benachbarter Orgellandschaften unterworfen, was dadurch begünstigt wurde, dass sich die Gebietsgrenzen im Verlauf der Jahrhunderte mehrfach änderten. Von den insgesamt etwa 2500 Orgeln der sächsischen Kulturregion sind mehr als 130 historische Instrumente vom 17. bis 19. Jahrhundert vollständig oder größtenteils erhalten. Die Region ist nachhaltig durch das Wirken von Gottfried Silbermann und seiner Schule geprägt. In der Moderne zeichnet sich die Orgellandschaft durch zahlreiche Restaurierungen und Rekonstruktionen historischer Instrumente aus, die durch einige überregional bedeutende Neubauten unterschiedlicher Stilrichtungen ergänzt werden. Der Artikel befasst sich mit der Geschichte des Orgelbaus und den erhaltenen Orgeln in Sachsen. Weiterführende Informationen zu einzelnen Instrumenten sind in der Liste von Orgeln in Sachsen und in der Liste der Orgeln in Dresden zu finden. == Gotik und Renaissance == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Die älteste Orgel Sachsens ist für das Jahr 1298 in der Görlitzer Peterskirche nachweisbar. Im Meißner Dom ist 1362, im Bautzener Dom St. Petri 1372, in der Zwickauer St.-Marien-Kirche 1383 und in der Leipziger Thomaskirche 1384 ein Orgelwerk erstmals belegt. Das Zeitalter der Gotik wurde von international tätigen Orgelbauern beherrscht, was europaweit zu einem recht einheitlichen Baustil führte. Der Bautzener Dom erhielt im Jahr 1502 eine neue Orgel des Orgelbauers Burkhard Dinstlinger aus Südtirol, der süddeutsch-österreichische Einflüsse auf das sächsische Kurfürstentum vermittelte. Sein Schüler Blasius Lehmann eröffnete eine Werkstatt in Bautzen und schuf Instrumente für die Thomaskirche in Leipzig und die Dresdner Kreuzkirche. Er war zugleich Hoforganist des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. und hielt sich von 1516 bis 1519 an dessen Hof auf. Lehmanns Wirkungsbereich erstreckte sich bis nach Danzig. In vorreformatorischer Zeit verfügten die großen Stadtkirchen in Meißen (1372), Dresden (1389), Zwickau (1445), Leipzig (1489) und Görlitz (1507) bereits über zwei Orgeln, eine große Hauptorgel auf der Westempore oder im südlichen Querschiff und ein kleines Instrument in Altarnähe im Chor.In der Oberlausitz, die bis 1635 zum Königreich Böhmen gehörte, war ein starker Einfluss böhmischer Orgelbauer zu verzeichnen. Albrecht Rudner aus Budweis setzte 1570 die Orgel der Zittauer Johanniskirche instand und erweiterte ihre Disposition. Ähnliche Arbeiten führte er 1577 an der Görlitzer Orgel von Dinstlinger (1503–1505) aus. Im albertinischen Sachsen galt Johann Lange in Kamenz in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als führender Orgelbauer. Der mutmaßliche Schüler von Hans Scherer dem Älteren (Hamburg) verwendete die Schleiflade und führte zahlreiche Neuerungen ein. Ebenso wie der zeitgleich wirkende Niederländer Hermann Raphael Rodensteen, der sich 1559 in Zwickau niedergelassen hatte, brachte Lange die hoch entwickelte brabantische Orgelbaukunst nach Sachsen. Aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg sind keine Orgeln erhalten. Der Joachimsthaler Orgelbauer Jacob Schedlich baute im 17. Jahrhundert zahlreiche Orgeln in Böhmen und im Erzgebirge, zeitgleich mit dem deutsch-böhmischen Orgelbauer Matthias Tretzscher. Einer der innovativsten deutschen Orgelbauer des frühen 17. Jahrhunderts war Gottfried Fritzsche (Frietzsch). Er wurde 1578 in Meißen geboren und wirkte dort bis 1612. Um 1614 wurde er kurfürstlich-sächsischer Hoforgelbauer in Dresden, wo er bis 1619 eine Werkstatt führte. Er entwickelte den brabantischen Orgelbau weiter. Beispiele seiner zahlreichen Neuerungen waren neue Zungenregister, ungewöhnliche Fußtonlagen (Tonhöhen) und neue Neben- und Effektregister. Seine berühmte Orgel für die Schlosskapelle Dresden (1610–1614) entstand im Zusammenwirken mit Hans Leo Hassler. Sie verfügte über 33 Register, darunter zwei in Ein-Fuß-Lage (im Brustwerk und Pedal) und zwei zweifache Zimbeln sowie drei Tremulanten, Zimbelstern, „Vogelsang“ und „Heer Trummel“. Die Schlossorgel ist ebenso wie die beiden Frietzsch-Orgeln in Meißen nicht erhalten, soll aber originalgetreu rekonstruiert werden. Die Disposition ist in der Organographia von Michael Praetorius (1619) überliefert.Die ältesten erhaltenen sächsischen Orgeln stammen aus dem 17. Jahrhundert. Sie verfügen über ein Manual und ein kleines, aber selbstständiges Pedalwerk. Die Orgel in der Alten Kirche von Coswig, welche im Jahre 1615 oder 1624 erbaut wurde, stammt von Frietzsch oder vom sächsischen Hoforgelbauer Tobias Weller. In den 1620er Jahren baute ein unbekannter Orgelbauer in der Wehrgangkirche Lauterbach ein kleines Instrument, das 1957 unter Einbeziehung der erhaltenen Teile fast vollständig neu gebaut wurde. Die ältesten Teile der Orgel in der Dorfkirche Rossau wurden um 1660 gefertigt. Die älteste weitgehend erhaltene Orgel Sachsens steht in der Wehrkirche Pomßen. Das Werk von Gottfried Richter (1670–1671) hat ein historisierendes Gehäuse im Stil der Spätrenaissance mit Flügeltüren in Grisaille und drei bossierte Pfeifen im Prospekt mit gedrehten Füßen. Aus der Zeit um 1670 stammt die Orgel eines unbekannten Erbauers in der Dorfkirche Lippersdorf (eventuell ebenfalls von Richter). === Kennzeichen und Funktion === Im Zeitalter der Gotik war der Orgelbau europaweit weitgehend vereinheitlicht. Erst im 17. Jahrhundert bildeten sich regional unterschiedliche Orgellandschaften heraus. Die gotischen Orgeln waren Blockwerke, deren Register nur im vollen Werk, aber nicht einzeln anzuspielen waren. Mit Hilfe von Sperrventilladen konnten einzelne Teilwerke separat genutzt werden, so um 1500 bei den Orgeln auf Schloss Altenburg und in der Leipziger Paulinerkirche. Erst die Erfindung der Schleiflade und der Springlade ermöglichte es, einzelne Pfeifenreihen getrennt zu bedienen, was die Klangmöglichkeiten multiplizierte. Diese Technik setzte sich in Sachsen im Laufe des 15. Jahrhunderts durch. Über Details der Orgeln vor 1500 ist allerdings nichts bekannt. Ab etwa 1500 kam als erste Zungenstimme das Regal-Register zum Einsatz. Das 16. Jahrhundert brachte technische und klangliche Verbesserungen mit sich. Auf der Grundlage der Schleifladenkonstruktion wurden im Zeitalter der Renaissance zahlreiche neue Register erfunden.Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts erfüllte die Orgel liturgische Zwecke, wurde aber nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs eingesetzt. Im Rahmen der Alternatimpraxis übernahm sie im Wechsel mit dem Chor, der Gemeinde oder einzelnen Sängern einzelne Teile der Messe und der kirchlichen Tageszeiten. Die Orgeln der Renaissance waren stark am zeitgenössischen Consortstil orientiert, in dem Flöten, Trompeten, Streichinstrumente und verschiedene Holzblasinstrumente imitiert wurden und die Orgel auf diese Weise das gesamte Orchester der damaligen Zeit abbildete. Entsprechend waren die gemischten Stimmen vergleichsweise milde konzipiert. Die Orgel wurde solistisch verwendet (für Kompositionen, Improvisationen und Intabulierungen) und zum Ensemblespiel eingesetzt, entweder als Continuoinstrument oder dass sie selbst die verschiedenen Instrumente nachahmte. == Barock == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Die politisch-wirtschaftliche und kulturell-kirchliche Blütezeit Sachsens im Zeitalter der Renaissance und des Barock brachte überregional bedeutende Orgelbauer hervor. Der Prospekt der sogenannten Sonnenorgel in der Görlitzer Peterskirche von Eugenio Casparini ist ein Unikum. Casparini wanderte mit 17 Jahren nach Italien aus und kehrte 1697 mit 74 Jahren in seine Heimat zurück. Zusammen mit seinem Sohn Adam Horatio vollendete er nach sechs Jahren Bauzeit die Orgel im Jahr 1703 und ließ dabei seine reichen Erfahrungen einfließen. Der Görlitzer Bildhauer Johann Conrad Buchau besetzte den 14,40 Meter hohen und 10,30 Meter breiten Prospekt mit 17 Pfeifenkränzen, die wie Strahlen aus den vergoldeten Sonnengesichtern ausgehen. Zwölf dieser Sonnen haben je zwölf klingende Pfeifen und gehören zu einer zwölffachen Pedalmixtur. Außer der Unda maris ist kein weiteres Register von Casparini erhalten.Christoph Donat war Stammvater einer weitverzweigten Orgelbauerfamilie, die zwischen 1625 und 1842 mit Werkstätten in Leipzig, Zwickau, Altenburg und Glauchau nachweisbar ist. Von den Donatis sind einige Werke erhalten, so die in Brandis (1705) und Schlunzig (1724), die zu den ältesten Barockorgeln Sachsens gehören, sowie in Schirgiswalde (1724, Zuschreibung), Beierfeld (1728), Weltewitz (1772), Wettelswalde (1793) und Böhlen (1794), die meisten sind nur einmanualig. Drei Söhne von Tobias Dressel, Orgelbauer im erzgebirgischen Falkenstein/Vogtl. und Buchholz erlernten ebenfalls den väterlichen Beruf. Zacharias Hildebrandt war neben Silbermann der bedeutendste mitteldeutsche Orgelbauer des Barock. Der Schüler Silbermanns trat ab den 1720er Jahren in Konkurrenz zu seinem Lehrmeister und entwickelte eine große Eigenständigkeit. Spätestens 1746 kam es zu einer Aussöhnung, als Silbermann zusammen mit Johann Sebastian Bach die Hildebrandt-Orgel in der Naumburger Stadtkirche St. Wenzel (heute Sachsen-Anhalt) überprüfte und abnahm. Das Werk gehört „zu den bedeutendsten Schöpfungen auf dem Gebiet des spätbarocken Orgelbaus“. Sein Meisterstück steht in Langhennersdorf. Bei seiner Prüfung der Hildebrandt-Orgel in Störmthal (1722–1723) hat Johann Sebastian Bach laut Bericht „vor tüchtig und beständig erkannt und gerühmet“. Als besonders hochwertig gilt die Fassung des Prospektes aus dem Jahr 1726 in Lengefeld, die ein „Kunstmaler Fritzsche“ aus Dresden ausführte. Für St. Jacobi in Sangerhausen schuf er 1728 ein weiteres Werk. Von dem Spätwerk in Goldbach (um 1756) sind nur einige Register erhalten.Eine Besonderheit stellt das zweimanualige Orgelpositiv (um 1730) eines unbekannten Meisters in der Kapelle von Burg Schönfels dar, für das ausschließlich Holzpfeifen Verwendung fanden. Die hölzernen Prospektpfeifen sind versilbert. 288 Pfeifen in sechs Registern unterschiedlicher Fußtonzahl (8′, 4′, 3′, 2′, 1½′, 1′) ergeben ein besonders warmes Klangbild. Andreas Tamitius, seit 1665 „Churfürstlich Sächsischer Hoforgelmacher“ in Dresden, gründete ein Familienunternehmen, das über drei Generationen Orgeln in Böhmen, der Lausitz und Schlesien baute. Er vermittelte italienische Einflüsse auf den sächsischen Orgelbau. Von seinem Sohn Johann Gottlieb Tamitius stammt die Orgel in Waltersdorf (1766), seine einzige, die in Sachsen erhalten ist. Johann Ernst Hähnel war Schwager und Mitarbeiter von Johann Gottlieb Tamitius und schuf von Meißen aus bis 1765 etwa 50 neue Orgeln, die einen eigenständigen Stil neben Silbermann erkennen lassen. Daneben baute er Klaviere und 1736/1737 das Innenwerk eines Porzellanglockenspiels von Johann Joachim Kändler. Er errichtete 1723 bis 1724 in Mittelsaida eine Orgel, eine weitere um 1724 in Steinbach und 1741–1743 eine in der Stadtkirche Bärenstein. Von dem weithin unbekannten Georg Renkewitz (1687–1758), Organist, Orgelbauer und Uhrmacher in Schellenberg (Augustusburg), stammt die handwerklich hochwertige Orgel in der Schlosskirche, die das Vorgängerinstrument von Rodensteen (1572) ersetzte. Renkewitz, der bereits 1714 mit einem Neubau beauftragt wurde, begann um 1740 mit einem Neubau, der erst 1784 von seinem Neffen Carl Gottfried Bellmann vollendet wurde. Der herzförmige Mittelturm wird von geschweiften Spitztürmen mit Blindflügeln flankiert. Eigentümlich ist ein friesartiges Pfeifenband über dem Spieltisch mit 175 kleinen Pfeifen des Kornettregisters, von denen 75 blind sind. Johann Daniel Ranft hatte wie sein Vater wahrscheinlich bei Johann Ernst Hähnel den Orgelbau erlernt. Neben seinen Werken in Geising (1755–1757), Burkhardswalde (1764) und in Dorfkirche Struppen (1785) erhielt er etliche Aufträge in Böhmen.Jacob Oertel baute 1749–1750 ein zweimanualiges Werk in der Dorfkirche Sadisdorf und 1753–1755 eine Orgel mit 35 Registern für die Stadtkirche in Zschopau. und 1760 eine Orgel in Borna. Der Orgelbauer Tobias Heinrich Gottfried Trost war der bedeutendste thüringische Orgelbauer. Seine Orgel im Schloss Altenburg (seit 1920 zu Thüringen, zu DDR-Zeiten zum Bezirk Leipzig gehörig), die in den Jahren 1736 bis 1739 entstand, wurde von Silbermann und Bach geprüft und hochgelobt. Sie zählt zu den repräsentativsten deutschen Orgeln. Die thüringische Prägung wird an den zahlreichen Acht-Fuß-Registern in Äquallage deutlich und ist an ungewöhnlichen Klangfarben und einem sanften Plenum erkennbar. === Gottfried Silbermann === Mit Gottfried Silbermann, dem Vollender der mitteldeutschen Barockorgel, erreichte der sächsische Orgelbau seinen Höhepunkt. Von seinen 50 Orgelneubauten sind 31 Werke erhalten, davon 17 fast unverändert oder weitgehend original. Er verwendete nur beste Materialien und arbeitete auf höchstem handwerklichen und künstlerischen Niveau. Nach heutigem Kenntnisstand wurden bei keiner einzigen Orgelabnahme Mängel am Instrument nachgewiesen oder Nachbesserungen gefordert. Einige Kirchengemeinden vertrauten Silbermann offenbar so sehr, dass sie auf externe Gutachter verzichteten. Dank seines Organisationstalents und einer manufakturähnlichen Arbeitsteilung in der Werkstatt arbeitete Silbermann effektiv und wirtschaftlich. Johann Friedrich Agricola bewunderte „die vortreffliche Sauberkeit, Güte und Dauerhaftigkeit der Materialien sowohl als der Arbeit; die große Simplicität der innern Anlage; die ungemein prächtige und volle Intonation; und die überaus leicht und bequem zu spielenden Claviere“.In Freiberg machte Silbermann sich 1711 mit einer eigenen Werkstatt selbstständig und wohnte dort bis zu seinem Lebensende. Die große Orgel im Freiberger Dom (1710–1714) war Silbermanns erstes großes Werk in Sachsen. Es begründete seinen Ruhm und ist nahezu unverändert erhalten. Weitere Instrumente in Freiberg entstanden für die Jakobikirche (1716–1717), für den Dom (kleine Orgel, 1718–1719) und für St. Petri (1734–1735). Zwei Schwesterinstrumente entstanden in Rötha, in der Stadtkirche St. Georg (1718–1721) und in der Marienkirche (1721–1722), die beide nahezu unverändert blieben. Weitere nahezu vollständig erhaltene Silbermann-Orgeln befinden sich in Ringethal (um 1725), Ponitz (1737) Großhartmannsdorf (1741), Fraureuth (1742), Schloss Burgk (1743) und Nassau (1748). Die Orgel in Dittersbach (1726) ist die einzige unbemalte Silbermann-Orgel. Die dreimanualige Orgel der Katholischen Hofkirche in Dresden wurde von 1750 bis 1755 maßgeblich von Mitarbeitern erbaut und nach Silbermanns Tod vollendet. Während Gehäuse und Prospekt 1944 zerstört wurden, blieb das ausgelagerte Pfeifenwerk bis auf ein Register erhalten; spätere Änderungen wurden bei den letzten Restaurierungen weitgehend rückgängig gemacht.Seine Orgeln folgten fünf standardisierten Typen mit vereinheitlichten Mensuren und Gehäusebauten, einfacher Mechanik sowie einer eher konventionellen Disposition. Der in der Regel fünfachsige Prospekt ist durch drei flachrunde Pfeifentürme gegliedert. Die verbindenden Flachfelder oder der Mittelturm können zweigeschossig sein. Durch die ungewöhnlich breite Labiierung der Orgelpfeifen erzielte Silbermann einen kräftigen Klang und eine rasche und sichere Tonansprache. Der Meister beschränkte sich strikt auf einen Umkreis von 35 Kilometern in Sachsen und sicherte sich dort durch Privilegien als königlicher „Hoff- und Land-Orgel-Bauer“ eine Monopolstellung.Kaum eine Orgellandschaft ist so nachhaltig durch eine einzelne Person geprägt wie Sachsen durch Gottfried Silbermann. Bis weit ins 19. Jahrhundert wirkte sein Vorbild fort. Der Bewahrung seines klingenden Erbes ist insbesondere die Gottfried-Silbermann-Gesellschaft verpflichtet. Inzwischen erklingen die meisten Silbermann-Instrumente wieder in ihrem ursprünglichen Zustand. Spätere Eingriffe in die Disposition wurden in den vergangenen Jahrzehnten rückgängig gemacht und verlorene Register rekonstruiert. === Kennzeichen und Funktion === Der Barock gilt als Blütezeit des sächsischen Orgelbaus. Aufgrund der Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg und der neuen Funktionen der Orgel entstanden zahlreiche Neubauten. Mit einer zunehmenden Verschleppung des Tempos und einer abnehmenden Qualität des Gemeindegesangs wurde ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Orgel erstmals zur Begleitung der Gemeinde eingesetzt. Auch wenn die Orgelbegleitung in evangelischen Kirchen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Regel war, standen noch an dessen Ende in vielen Dorfkirchen nur kleine Orgelpositive oder es blieb beim A-cappella-Gesang. Dies führte zu einem Wandel in der Klangästhetik. So erforderten die neuen liturgischen Aufgaben beim Choralspiel einen stärkeren Orgelklang mit tragenden Bässen und hellen Klangkronen. Mit dem Erstarken des Bürgertums im 18. Jahrhundert diente die Orgel auch zur Unterstützung der Figuralmusik, der gottesdienstlichen Ensemblemusik mit Sängern und Instrumentalisten unter Beteiligung der Rats- und Stadtmusiker. Gegenüber dem norddeutschen Orgelbau ist in der sächsischen Orgellandschaft die Ablehnung eines Rückpositivs und der weitgehende Verzicht auf Pedalregister in hoher Lage kennzeichnend. Im Vergleich mit den fantasiereicheren und kammermusikalischeren Dispositionen thüringischer Orgeln war der sächsische Orgelbau konventioneller, aber mit den gravitätischen Plenumklängen zugleich repräsentativer ausgerichtet. == Rokoko und Klassizismus == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Der nachhaltige Einfluss Silbermanns wirkte im Rokoko und Klassizismus fort. Johann Georg Schön, der Silbermanns Werkstatt übernahm, hinterließ eine Orgel in der Kirche Herzogswalde (1763). Adam Gottfried Oehme war der letzte Schüler Gottfried Silbermanns. Erhaltene Werke Oehmes befinden sich in Weigmannsdorf (1768–1771), Brand-Erbisdorf (1770–1774), Kleinwaltersdorf (1774 oder 1776), Cämmerswalde (1776), Tuttendorf (1778–1782) und Zethau (1784–1788). Verschiedene Orgelbauer orientierten sich an Silbermanns Bauweise, ohne seine Schüler gewesen zu sein. So lehnte der Dresdner Stadt- und Hoforgelbauer Tobias Schramm (1701–1771) die Prospektgestaltung der Orgel in der Schlosskapelle Hubertusburg deutlich an Silbermanns Spätwerke in Fraureuth und Zöblitz (1742) an. Im Jahr 1749 wurde die kleine Orgel von der Kurfürstin Maria Josepha für die Kaiserkapelle in Dresden-Neustadt gestiftet und zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Hubertusburg umgesetzt. Die reichen Verzierungen im Stil des Rokoko gehen vermutlich auf Johann Benjamin Thomae zurück.Johann Christian Kayser schuf Werke im Stil Silbermanns hinter einem klassizistischen Prospekt in Lohmen (1789), Olbernhau (1790), Glashütte (1794–1797), Lichtenberg/Erzgebirge (1799–1800) und Dorfchemnitz (1801–1803). Auch die Orgelbauerfamilie Trampeli übernahm Silbermanns Bauprinzipien in der Disposition, Intonation, Prospektgestaltung und in der technischen Anlage. Der Vater Johann Paul Trampel italienisierte 1759 seinen Nachnamen in das wohlklingendere Trampeli. Auf ihn gehen 50 Restaurierungen und Neubauten zurück. Von seinen angesehenen Söhnen Johann Gottlob und Christian Wilhelm Trampeli stammen die Werke in Oberlosa (1784–1788), Unterwürschnitz (1791–1792), Gerichshain (1802–1803), Straßberg (1798–1804), Markersbach (1803–1806), Sornzig (1808–1810), Neustädtel (1810–1812), Schönau (Wildenfels)/Rochuskirche (1822–1823), von dem Enkel Friedrich Wilhelm Trampeli in Windischleuba (1819–1822) und Landwüst (1822). Bei der Vox humana der Trampeli-Orgel in Zitzschen (1793–1795) wird ausdrücklich vermerkt: „nach Silbermann’scher Mensur“. Johann Jacob Schramm (1724–1808) lehnte sich ebenfalls an die silbermannsche Bauweise an, verwendete aber engere Mensuren. Er errichtete Orgeln in Wechselburg (1774–1781) und Stangengrün (1766–1769). Auch für die ersten beiden Generationen der Orgelbauerfamilie Jehmlich war Silbermann das große Vorbild. Der 1808 im erzgebirgischen Cämmerswalde gegründete Familienbetrieb siedelte 1826 nach Dresden über und entwickelte sich zu einem der führenden Orgelbauunternehmen in Sachsen. Die älteste sächsische Jehmlich-Orgel in der Stadtkirche Lauenstein baute Gotthelf Friedrich Jehmlich im Jahr 1818. Sie wurde im Jahr 2003 durch Brand zerstört und 2005 nach alten Zeichnungen originalgetreu rekonstruiert. Der Bruder Carl Gottlieb Jehmlich errichtete 1839 eine weitere Werkstatt in Zwickau. Sein Instrument in Auerbach aus dem Jahr 1840 lehnt sich an den Spätstil Silbermanns an. Bei seinem Bruder Johann Gotthold Jehmlich erlernte Karl Traugott Stöckel den Orgelbau. Einzelne Orgelbauer konnten ihre Eigenständigkeit außerhalb der Silbermann-Tradition bewahren. Zu ihnen gehörte Johann Emanuel Schweinefleisch, der bei Trost und Hildebrandt den Orgelbau erlernte. Seine Orgeln in der Auferstehungskirche Leipzig (1766) und in Böhlitz (1770–1771) sind teilweise erhalten. Letztere stand ursprünglich in der alten Reformierten Kirche (Thomaskirchhof) und wurde 1901 umgesetzt. Die Orgelbauerfamilie Flemming hatte ihren Sitz im nordsächsischen Torgau. In zweiter Generation baute Johann Christian Friedrich Flemming in drei Jahrzehnten 24 neue Instrumente, vor allem in den Dorfkirchen der Umgebung. Erhaltene Werke stehen in Radefeld und Klitzschen (beide um 1780), Großwig bei Dreiheide (1787) und Lindenthal (1792). Johann Georg Friedlieb Zöllner war Lehrling und Mitarbeiter von Hähnel und übernahm dessen Werkstatt. Er hinterließ Neubauten in Kleinbardau (1782), Grimma (1803), Königsfeld (1820) und Merkwitz (1819 oder 1825). Christian Gottfried Herbrig schuf ein- und zweimanualige Dorforgeln an der Schwelle vom Klassizismus zur Frühromantik in Schmiedefeld (1821), Großdrebnitz (1828), Dorf Wehlen (1831), Dresden-Eschdorf (1838), Langenwolmsdorf (1843–1844), Papstdorf (1845) und Altstadt (1856). In den fünfachsigen, flächigen Prospekten wird das mittlere Rundbogenfeld stets von schmalen zweigeschossigen Feldern flankiert. Sein Sohn Wilhelm Leberecht Herbrig übernahm diese Prospektgestaltung. === Kennzeichen und Funktion === Rokoko und Klassizismus waren im sächsischen Orgelbau als eigenständige Kulturepochen wenig ausgeprägt und präsentierten sich als Übergangszeit zwischen Barock und Romantik. Der schon in Silbermanns späten Werken erkennbare Einfluss des Rokoko, die rechteckigen Pfeifenfelder durch geschwungene aufzulockern (Schloss Burgk, 1743; Frankenstein, um 1752), setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fort, als viele Dorfkirchen erstmals mit einer Orgel ausgestattet wurden. Die seitlichen, teils als Blindflügel („Orgelohren“) erhaltenen ausladenden Rocaillen wurden wie die reich verzierten Schleierbretter mit durchbrochenem Schnitzwerk gerne vergoldet und hoben sich von der weißen Fassung des Gehäuses ab. In klanglicher Hinsicht wurden verstärkt grundtönige Register eingesetzt und sanftere Stimmen wie Flöten- und Streichregister bevorzugt. Die Mixturen wurden weniger scharf und kräftig als im Barockzeitalter konzipiert.Vielfach folgte der Prospektaufbau dem üblichen Silbermannschen Schema mit drei flachrunden Pfeifentürmen. Ansonsten wurde der schmucklose klassizistische Prospekt von strenger Symmetrie und geometrischen Formen und flachen Dreiecksgiebeln beherrscht. Die im Rokoko reich verzierten Schleierbretter und die beliebten Blindflügel wurden nun wesentlich schlichter gestaltet oder entfielen ganz. Pilaster gliederten den Prospekt, der flachrunde Pfeifentürme aufweisen konnte, im weiteren Verlauf der Zeit aber ganz flach gestaltet wurde. Auf dem Gehäuse standen vielfach antikisierende bekrönende Vasen oder Urnen. == Romantik == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute Christian Gottlob Steinmüller in seiner Grünhainer Werkstatt 26 neue Orgeln für das Erzgebirge und darüber hinaus. Er war Neffe und Schüler von Johann Gottlob Trampeli und vollzog den Schritt vom Klassizismus zur Frühromantik. Erhaltene Werke finden sich in Grünhain (1812), Wolkenstein (1818), Seifersbach (1827), Großrückerswalde (1828), Pausa (1831), Arnoldsgrün (1836), Schwarzbach (1837), Auerbach (1847) und Raschau (1848). Sie zeichnen sich durch ihre „vielseitigen Möglichkeiten der Abstufung hinsichtlich Farbe und Dynamik“ aus. Ein bedeutender Vertreter des frühromantischen Orgelbaus und der letzte Leipziger Universitätsorgelbauer war Johann Gottlob Mende. Von seinen insgesamt 23 Orgelneubauten in Sachsen, deren Bauweise stark an Silbermann orientiert ist, sind sieben weitgehend erhalten. Sein größtes Werk in der Leipziger Paulinerkirche wurde mehrfach umgebaut und 1968 mit der Kirche gesprengt. Christian Friedrich Göthel erwarb sich seine genaue Kenntnis der Silbermannschen Bauweise im Eigenstudium.Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm mit der Industrialisierung und dem zunehmenden Warenverkehr der Einfluss auswärtiger Orgelfirmen zu, die große Instrumente überregional auslieferten. Ein Großteil der Aufträge blieb jedoch in der Hand sächsischer Orgelbauer, die zum Teil auf eine lange Familientradition zurückblicken konnten und über mehrere Generationen die Orgellandschaft prägten. Zu ihnen gehörte die Orgelbauerfamilie Kreutzbach. Von Urban Kreutzbach sind Orgeln in Großpostwitz (1857) und Bockau (1860) erhalten, von seinem Sohn und Nachfolger Richard Kreutzbach Orgeln in Jesewitz (1872), Frauenstein (1873) und in der Lindenauer Nathanaelkirche (1884). Johann Gotthilf Bärmig, ein Schüler von Urban Kreutzbach, gehörte zu den wenigen Orgelbauern der Romantik, die die alte Klangpracht von Silbermann wieder aufleben ließen. Von ihm sind zahlreiche sächsische Orgeln erhalten, unter anderem in Oberwiesenthal (1866) und in der Klingenthaler Rundkirche Zum Friedefürsten (1872). Seine Werkstatt in Werdau wurde von dem Kreutzbach-Enkel Georg Emil Müller fortgeführt. Von den mehr als 40 Orgelneubauten des Dresdner Familienunternehmens Julius Jahn & Sohn sind bis auf die Jahn-Orgel im Dresdner Johannisfriedhof (1928) keine Instrumente unverändert erhalten oder in den ursprünglichen Zustand rekonstruiert. Teilweise dem Originalzustand angenähert wurde die Orgel der Versöhnungskirche Dresden in den Jahren 2008–2011. Hingegen sind von der Orgelbauerfamilie Schmeisser aus vier Generationen einige Dutzend Orgeln erhalten. Das 1844 gegründete Unternehmen stellte 1905 auf pneumatische Kegelladen um und schuf Werke in spätromantischem Stil.Das Dresdner Familienunternehmen Jehmlich hat mit weltweit über 1100 Orgeln das umfangreichste Schaffen aller sächsischen Orgelbauer aufzuweisen. Es führte in dritter Generation unter Emil und Bruno Jehmlich ab 1888 die pneumatische Traktur ein. Dreimanualige Jehmlich-Orgeln aus spätromantischer Zeit stehen in der Kirche Niederoderwitz (1874), der Friedenskirche Kötzschenbroda (1885), in Dresden in der Martin-Luther-Kirche (1887), der Christuskirche (1905) und der Herz-Jesu-Kirche (1909), weitere in Lößnitz (1899), in Großenhain (1901) hinter dem veränderten Gehäuse von Johann Gottlieb Mauer (1778) und in der Lindenauer Philippuskirche (1910). Mittelgroße Jehmlich-Orgeln mit einem Prospekt im Jugendstil sind in der Christuskirche, Dresden-Klotzsche, (1907) und in der Friedenskirche (Aue-Zelle), (1914) erhalten. Hermann Eule gründete 1872 ein Unternehmen in Bautzen, das auf die Orgellandschaft nachhaltigen Einfluss hatte. Der Firmengründer verwendete in der Regel mechanische Kegelladen, für seine große Orgel im Bautzener Dom St. Petri (1910) jedoch pneumatische Taschenladen. Heute stehen mehr als 150 Eule-Orgeln in Gebäuden der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen.Die 1869 in Zittau gegründete und 1995 von einem Schuster-Mitarbeiter übernommene Orgelbaufirma A. Schuster & Sohn errichtete über 240 Orgeln (wovon die in der Johanniskirche Zittau die größte und wohl bekannteste ist), vor allem in der Oberlausitz, aber auch in anderen Teilen Sachsens (z. B. Stadtkirche Torgau) und darüber hinaus bis in den Raum Halle/Saale und Magdeburg.Conrad Geißler (Eilenburg) schuf etwa 120 Orgeln, von denen einige, eher kleinere Instrumente ganz oder teilweise erhalten sind. Er setzte – im Gegensatz zum ebenfalls in Eilenburg ansässigen und technischen Neuerungen seiner Zeit wohlgesonnenen Nicolaus Schrickel – auf konservative Bauweisen und Konstruktionsprinzipien (nur mechanische Spieltrakturen), experimentierte wenig und erreichte damit eine hohe Qualität und Solidität seiner Orgeln. Eine nahezu original erhaltene Geißler-Orgel von 1864 (II/22), die im Jahr 2000 nach langem Verfall und einer Restaurierung wieder eingeweiht werden konnte, steht in der Eilenburger Marienkirche. Sein größtes Orgelwerk (III/44, Stadtkirche Torgau) wurde im 2. Weltkrieg vernichtet. Auch die von ihm 1883 umgebaute und großzügig auf 42 Register erweiterte Orgel in der gegenüber seiner Werkstatt stehenden Nikolaikirche ging beim Beschuss der Stadt 1945 verloren und konnte bis heute nicht durch ein aquädates Orgelwerk ersetzt worden.Eine der wenigen erhaltenen Orgeln von Carl Eduard Schubert, ebenfalls einem Nachfolger Silbermanns, in Marienberg, St. Marien, erforderte eine Bauzeit von sieben Jahren (1872–1879). Schuberts akribische Arbeitsweise führte zum wirtschaftlichen Ruin. Er war schließlich auf Almosen angewiesen und beendete sein Leben im Jahr 1900.Auch bedeutende auswärtige Orgelbauer wirkten in Sachsen. Johann Friedrich Schulze aus dem thüringischen Paulinzella, einer der berühmtesten europäischen Orgelbauer seiner Zeit, baute 1848 eine Orgel in Markneukirchen, nachdem 1840 ein Stadtbrand die Kirche samt Einrichtung zerstört hatte. Das Instrument ist seine einzige Orgel in Sachsen und zugleich sein größtes erhaltenes Werk in Deutschland. Zu den zahlreichen technischen Neuerungen, die Schulze einführte, gehörte eine doppelt geschweifte Pedalklaviatur, die in Markneukirchen kurioserweise 1873 durch eine barockisierende Klaviatur in der Bauweise Silbermanns ersetzt wurde. Eine dreimanualige Orgel von Eberhard Friedrich Walcker aus Ludwigsburg steht in der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz (1883–1884) hinter einem neugotischen Prospekt. Friedrich Ladegast baute neben mittelgroßen Werken in Altleisnig (1868) und der Stadtkirche zu Naunhof (1882) für die Leipziger Nikolaikirche (1862) die damals wie heute größte Kirchenorgel Sachsens. Nach zwei Erweiterungen in den Jahren 1902/1903 und 2002/2003 verfügt die Großorgel über 102 Register, die sich auf fünf Manuale und Pedal verteilen. Der Spieltisch wurde von Porsche-Designern entworfen und enthält Anzeigeinstrumente aus der PKW-Produktion. Wilhelm Sauer aus Frankfurt (Oder) schuf dreimanualige Orgeln im Stil der Spätromantik in der Chemnitzer Lutherkirche (1908), in der Leipziger Michaeliskirche (1904) und in der Thomaskirche (1886–1889), die Sauer 1908 von 63 auf 88 Register erweiterte. === Kennzeichen und Funktion === Im Zeitalter der Romantik wirkte der Einfluss Silbermanns vielfach weiter und es entstanden Orgelneubauten in barocker Tradition. Das 19. Jahrhundert erwies sich zunächst als nachbarocke Periode mit einer nur zögernd abklingenden Silbermann-Nachfolge. Anfangs gab es nur eine geringfügige Anreicherung durch neue Registerformen, die in anderen Orgellandschaften längst verbreitet waren. Der Orgelbautheoretiker Johann Gottlob Töpfer übte im 19. Jahrhundert durch seine Schriften großen Einfluss auf den sächsischen Orgelbau aus. Auf ihn ging die Abschwächung des zweiten Manuals zurück, das als Pianomanual mit sanften Klängen für Choralvorspiele und die Liturgie eingesetzt wurde, während das kräftig disponierte erste Manual zur Begleitung des Gemeindegesangs diente.Ein wirklicher Umschwung erfolgte erst – und dann ziemlich rasch – mit der Einführung neuer Traktur- und Ladensysteme am Ende des 19. Jahrhunderts. In spätromantischer Zeit wurden zum Teil große Orgeln gebaut, die mit den technischen Neuerungen ihrer Zeit wie Jalousieschwellern und Spielhilfen ausgestattet waren. Große Orgeln besaßen Hochdruckregister und ein Fernwerk mit elektrischer Traktur, so die viermanualige Jehmlich-Orgel der Dresdner Kreuzkirche von 1911. Die Kegellade und die pneumatische Traktur hielten Einzug, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die elektrische Traktur. Die neuen Trakturen sorgten sogar bei großen Orgeln für eine leichte Spielbarkeit. Ihre Bauteile waren aber nicht so dauerhaft wie die der mechanischen Traktur. In klanglicher Hinsicht änderte sich die Ästhetik grundlegend. An die Stelle des Werkprinzips, das seit der Spätgotik den Orgelbau beherrscht hatte, trat ein gleitendes Registercrescendo als Klangideal, das im symphonischen Orchesterklang seine Entsprechung fand. An die Stelle von Zungen- und Aliquotregister traten überwiegend grundtönige Labialstimmen in der gleichen tiefen Lage (Äquallage), die eine stufenlose Klangdynamik ermöglichten, unterstützt durch Hinter- und Schwellwerke. Dem entsprach äußerlich ein flächiger Verbundprospekt, der im Historismus ab 1880 meist neogotisch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt auch im Jugendstil gestaltet war. Neogotisch gestaltete Prospekte haben spitzbogige Pfeifenfelder und sind mit Fialen, Kreuzblumen, Krabben und Drei- oder Vierpass verziert. Zu den sächsischen Familienbetrieben traten überregional liefernde Orgelfabriken, was zu einer deutschlandweiten Angleichung der Stile führte. == 20. und 21. Jahrhundert == === Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke === Im 20. Jahrhundert verlor der sächsische Orgelbau seinen Charakter als eigenständige Orgellandschaft und ging in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus weitgehend auf. Nachdem bereits in den 1900er Jahren die Elektropneumatik eingeführt worden war und sich bewährt hatte, wurden weiterhin für lange Zeit Orgeln mit rein pneumatischer Traktur gebaut, bei Jehmlich bis in die Mitte der 1950er Jahre. Ab etwa 1930 entstanden die ersten Orgeln unter dem Einfluss der Orgelbewegung mit neobarocker Prägung, die sich in größerem Ausmaß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnten wie bei der Orgel von Hermann Eule im Zwickauer Dom (1966–1969). Der hannoversche Architekt Heinz Wolff entwarf für die mit damals 77 Registern größte, zu DDR-Zeiten neu gebaute Kirchenorgel das Gehäuse, das an eine Taube erinnert. Das Vorgängerinstrument, das 1930 mit 101 Stimmen zur größten Orgel Sachsens erweitert worden war, war nach dem Zweiten Weltkrieg abgängig.Die Zerstörungen vieler Kirchen und Orgeln im Zweiten Weltkrieg führten zu zahlreichen Orgelneubauten. Etliche Dorfkirchen mitsamt Orgel im Großraum Leipzig fielen dem dort extensiv betriebenen Braunkohleabbau zum Opfer.Die klassische Schleiflade wurde erst ab den 1950er Jahren wieder in großem Umfang eingesetzt, als eine Rückbesinnung auf den klassischen Orgelbau einsetzte. Als Opus 800 baute die Firma Jehmlich 1963 eine viermanualige Orgel für die Kreuzkirche Dresden, die nach mehreren klanglichen Überarbeitungen und einer Erweiterung im Jahr 2008 über 80 Stimmen verfügt. Alexander Schuke aus Potsdam baute 1967 als Ergänzung zur romantischen Sauer-Orgel in der Leipziger Thomaskirche eine neobarocke, dreimanualige Orgel für die Wiedergabe von Musik aus der Bach-Zeit. Trotz des schwierigen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche wurden Orgeln als „Bevölkerungsbedarf“ eingeordnet und zur Pflege des Prinzips der Preisstabilität staatlich subventioniert. DDR-Orgelbaufirmen wurden zunehmend als Deviseneinbringer angesehen. Aufträge aus dem NSW erhielten Vorrang, so dass DDR-Kirchgemeinden zuletzt bis zu 14 Jahre auf eine neue Orgel warteten. Die beiden größten in sächsischem Gebiet ansässigen Firmen Jehmlich und Eule mussten 1972 die Umwandlung ihrer Betriebe in einen VEB über sich ergehen lassen, und erlangten nach 1990 ihre vormalige Selbständigkeit zurück. Kleinere Orgelbaubetriebe entgingen der Verstaatlichung. International bekannt wurde die Jehmlich-Orgel von der St.-Wolfgangs-Kirche in Schneeberg, die nach jahrzehntelangen Schwierigkeiten in den Jahren 1995 bis 1998 entstand. 56 Register sind auf drei Manuale und Pedal verteilt. Die Errichtung an der Westseite war eine Herausforderung, da die Denkmalpflege den Einbau einer Orgelbühne untersagte. Für die Auferstehungskirche in Dresden-Plauen baute die Bautzener Firma Eule 1985 eine dreimanualige Orgel mit 44 Registern unter Einbeziehung von neun Registern und des Gehäuses der Vorgängerorgel von Jehmlich (1902).Ab den 1930er Jahren restaurierte Schmeisser historische Orgeln. Die Denkmalpflege bestimmt seit den 1950er Jahren zunehmend den Orgelbau. Die konsequente Rückführung der Renkewitz-Orgel in Augustusburg auf den Originalzustand durch den VEB Orgelbau Dresden (Jehmlich) war eine Pionierleistung im Jahr 1972. Bei Restaurierungen sind als weitere sächsische Orgelbaufirmen Eule (Bautzen), Rühle (Moritzburg), Georg Wünning (Großolbersdorf) und Wegscheider (Dresden) hervorgetreten. Eine besondere Rolle kam der großen Orgel im Freiberger Dom zu, die weitgehend erhalten ist und als eine der wertvollsten Barockorgeln Europas großen Einfluss auf den historisch orientierten Orgelbau ausübte. Zu den aufwändigsten Restaurierungen gehörte die Rekonstruktion der mehrfach umgebauten Sauer-Orgel der Leipziger Thomaskirche auf den spätromantischen Zustand von 1908 durch Christian Scheffler und Matthias Ullmann in den Jahren 1988 bis 1993. Die Restaurierungspraxis brachte wiederum Impulse für den Orgelneubau. So ist die Wegscheider-Orgel in der Wilschdorfer Christophoruskirche von 1995 wahlweise in mitteltöniger und wohltemperierter Stimmung spielbar. Die sächsische Orgellandschaft wurde durch große Orgelneubauten von außerhalb bereichert. Für das Neue Gewandhaus in Leipzig baute Alexander Schuke 1975–1981 ein vielseitiges Konzertinstrument. Die viermanualige Orgel ist der größte Orgelneubau, der zu DDR-Zeiten errichtet wurde, umfasst nach einer Erweiterung 91 Register und fällt durch ihre asymmetrische Aufstellung und die horizontalen Trompetenregister ins Auge. 1987 wurde diese Orgel mit westlicher Technologie (zweiter, mobiler Spieltisch mit Ansteuerung der Orgel über Lichtleiterkabel) ergänzt. Das Schweizer Unternehmen Mathis Orgelbau errichtete 1997 hinter dem alten Prospekt der Görlitzer „Sonnenorgel“ ein neues Werk, das 2006 auf vier Manuale und 88 Register erweitert wurde. Für die Leipziger Thomaskirche baute Gerald Woehl aus Marburg als Ersatz für die aufgegebene Schuke-Orgel von 1967 im Bachjahr 2000 eine sogenannte Bach-Orgel. Sie orientiert sich an der Stertzing-Orgel der Eisenacher Georgenkirche, der Taufkirche Johann Sebastian Bachs, in welcher er als Kind den Bau dieser Orgel miterlebte, und trägt im Zentrum des Prospekts Bachs Wappen mit den Initialen JSB. Im Gegensatz zur Kirche und ihrer Innenausstattung wurde die Orgel der Dresdner Frauenkirche im Zuge des Wiederaufbaus nicht rekonstruiert, da eine Synthese mit einer modernen Universalorgel hinter dem rekonstruierten Silbermann-Prospekt bevorzugt wurde. Ein öffentlich ausgetragener „Orgelstreit“ zog internationale Kreise. Durchsetzen konnte sich Daniel Kern aus Straßburg, der 2005 einen Neubau mit neoklassisch-französischer Prägung und einer gegenüber Silbermann erweiterten Disposition schuf. === Kennzeichen und Funktion === Auch im 20. und 21. Jahrhundert war und ist der Orgelneubau in Sachsen konservativ ausgerichtet. Freipfeifen- oder unkonventionelle Prospekte bilden die Ausnahme. Ein einheitlicher Trend wie in vorangehenden Epochen ist nicht mehr zu verzeichnen. Neben dem Orgelneubau nehmen der Erhalt und die sachgemäße Restaurierung der historischen Orgeln zunehmend Raum ein. Mehr als in früheren Epochen erfüllt die Orgel nicht nur gottesdienstliche Funktionen, sondern ist zugleich Konzertinstrument und Forschungsgegenstand. Das Bemühen um den Erhalt des historischen Orgelbestands in Sachsen geht Hand in Hand mit der organologischen Erforschung und der Erschließung der Orgeln für die Öffentlichkeit. In der Forschung sind die Orgelwissenschaftler Ulrich Dähnert, Ernst Flade, Felix Friedrich, Frank-Harald Greß und Werner Müller hervorgetreten. Konzerte und Publikationen, Radio- und CD-Aufnahmen, Orgelakademien und Meisterkurse haben die sächsischen Orgeln bekanntgemacht und Organisten und Orgelbauer aus aller Welt angezogen. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden haben umfassende Online-Inventare des Orgelbestands erstellt und einem breiten Interessentenkreis zugänglich gemacht. == Siehe auch == Liste von Orgeln in Sachsen Liste der Orgeln in Dresden Liste der Orgeln in Leipzig Liste der Orgeln im Landkreis Görlitz == Literatur == Hans Martin Balz: Göttliche Musik. Orgeln in Deutschland (= 230. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde). Konrad Theiss, Stuttgart 2008, ISBN 3-8062-2062-X. Albin Buchholz: Orgeln im sächsischen Vogtland. Kamprad, Altenburg 2005. Ulrich Dähnert: Historische Orgeln in Sachsen. Ein Orgelinventar. VEB Deutscher Verlag für Musik, Frankfurt 1980, ISBN 3-920112-76-8. Ulrich Dähnert: Die Orgellandschaft Sachsen und Thüringen. In: Acta Organologica. Bd. 1, 1967, S. 46–62. Hermann Fischer: 100 Jahre Bund deutscher Orgelbaumeister. Orgelbau-Fachverlag, Lauffen 1991, ISBN 3-921848-18-0. Felix Friedrich: Orgelbau in Sachsen. Bibliographie. Kleinblittersdorf 1995, ISBN 3-930550-39-3. Felix Friedrich, Vitus Froesch: Orgeln in Sachsen – Ein Reiseführer (= 257. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde). Kamprad, Altenburg 2012, ISBN 978-3-930550-89-0. Frank-Harald Greß: Die Orgellandschaft Sachsen. In: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Silbermann. Geschichte und Legende einer Orgelbauerfamilie. Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 2006, ISBN 978-3-7995-0218-4, S. 81 f. Frank-Harald Greß, Michael Lange: Die Orgeln Gottfried Silbermanns. (= Veröffentlichungen der Gesellschaft der Orgelfreunde 177). 3. Auflage. Sandstein, Dresden 2007, ISBN 978-3-930382-50-7. Walter Hüttel: Orgeln und Orgelbauer im südwestlichen Sachsen. In: Acta Organologica. Bd. 34, 1994, S. 9–36. Uwe Pape (Hrsg.): Lexikon norddeutscher Orgelbauer. Bd. 1: Thüringen und Umgebung. Pape, Berlin 2009, ISBN 978-3-921140-86-4. Uwe Pape, Wolfram Hackel (Hrsg.): Lexikon norddeutscher Orgelbauer, Band 2: Sachsen und Umgehung. Pape Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-921140-92-5. Ernst Schäfer: Laudatio Organi. Eine Orgelfahrt von der Ostsee bis zum Erzgebirge. VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1982, ISBN 3-370-00038-5. Christoph Wolff, Markus Zepf: Die Orgeln J. S. Bachs. Ein Handbuch. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, ISBN 3-374-02407-6. == Weblinks == Orgeldatenbank Sachsen. Hochschule für Musik Dresden, abgerufen am 8. Mai 2019. Orgeldatenbank ORKASA. Ev.-luth. Landeskirche Sachsen, abgerufen am 8. Mai 2019. (mit Gastzugang) Orgelverzeichnis Schmidt: Orgeln in Sachsen Jiři Kocourek: Orgelland Sachsen. In: Ars Organi. Heft 48/1, März 2000, S. 2–17 (PDF; 6,41 MB). Jiři Kocourek, Holger Gehring: Orgelland Sachsen – anders (wieder)gesehen. In: Ars Organi. Heft 63/1, März 2015, S. 3–9 (PDF; 0,6 MB) Orgeln und Kirchen in der Region Leipzig. Tourist-Information Leipzig, abgerufen am 11. September 2021. Organ index: Orgeln in Sachsen == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft_Sachsen
Ostfriesland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges
= Ostfriesland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges = Während des Dreißigjährigen Krieges fanden in Ostfriesland keine militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Hauptkriegsgegnern statt. Die Grafschaft selbst blieb in diesem europäischen Konflikt neutral. Allerdings nutzten Truppen der Kriegsgegner sie wiederholt als Ruheraum, wobei die Einwohner durch Kontributionen und Einquartierung ausgebeutet wurden. Von 1622 bis 1624 besetzten Truppen des protestantischen Heerführers Ernst von Mansfeld, von 1627 bis 1631 katholische Truppen der ligistischen Armee Tillys und schließlich von 1637 bis 1651 hessische Truppen das Land. Die benachbarten Niederlande übten bereits vor dem Krieg politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einfluss auf die Grafschaft Ostfriesland aus. Während des Krieges stationierten sie an zentralen und strategisch wichtigen Orten Truppen, darunter in der Festung Leerort bei Leer und in Emden.Auch nach Abschluss des Westfälischen Friedens blieben bis 1651 fremde Truppenteile in einem zu erheblichen Teilen entvölkerten Land. Nur relativ stark befestigte Orte wie Emden waren fähig, sich dem Zugriff der Besatzer zu entziehen und so ihre wirtschaftliche Infrastruktur, wenn auch unter immensen Einbußen, zu erhalten. Infolge des Krieges konnten die Stände vom Landesherrn eine weitgehende Autonomie erringen. So waren es die Stände und nicht der Graf, die mit Ernst von Mansfeld über einen Abzug verhandelten und diesen Vertrag dann als Vertreter Ostfrieslands unterzeichneten. Auf die Vertretung der Stände geht die Ostfriesische Landschaft zurück, die sich heute der Kulturpflege widmet. == Stände und Konfessionspolitik vor dem Krieg == Die Grafschaft Ostfriesland war zu Beginn des 17. Jahrhunderts zutiefst gespalten. Die Grafen handelten ungeschickt und sahen sich starken Ständen gegenüber, innerhalb derer die Stadt Emden weitgehend selbstständig handelte. Seit dem Osterhusischen Akkord von 1611 hatten die Stände zudem die Hoheit in Gesetzgebung, Steuererhebung und Rechtsprechung. Emden und die Landstände wurden von den Niederlanden gestärkt, die das Land wie einen Vasallenstaat und als strategisch günstig gelegenen Rückzugsraum behandelten. Bereits 1568 wichen niederländische Truppen dorthin aus, als sie im beginnenden Achtzigjährigen Krieg von spanischen Truppen verfolgt wurden. Nach der Schlacht von Jemgum zogen die Spanier anschließend drei Tage lang plündernd, brandschatzend und vergewaltigend durch das Rheiderland. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 bestimmte, dass der Landesherr die Religion der Einwohner wählen durfte. Die ostfriesischen Landesherren waren zu schwach, diese Bestimmung durchzusetzen. So bestand weiterhin ein calvinistischer Westen und ein lutherischer Osten. Die Emder Konkordate von 1599 besiegelten schließlich das Nebeneinander der Konfessionen. Beim Reichsdeputationshauptschluss 1803 war Ostfriesland das einzige Reichsland neben dem Hochstift Osnabrück, in dem zwei Konfessionen zugelassen waren. Katholische Kirchen gab es in Ostfriesland nicht mehr, katholische Christen kaum noch.Anders als im Luthertum üblich konnten die Landesherren nicht einmal die Pastoren wählen; das war der Emder Konkordate zufolge das Recht der Gemeinden selbst. Die vom Landesherrn ausgeübte Kirchenleitung war auf ein Minimum beschränkt. Im Konkordat war vorgesehen, dass beide Konfessionen ein Konsistorium (als oberste Kirchenleitung) besetzen sollten. Dieses wurde allerdings erst 1643 in Aurich eingerichtet und übte erst ab 1744 tatsächliche Macht aus (als Ostfriesland zu Preußen kam). == Besetzung durch protestantische Truppen unter Ernst von Mansfeld (1622–1624) == === Vorgeschichte === Im Dreißigjährigen Krieg standen sich die Protestantische Union und die Katholische Liga gegenüber. Einer der Heerführer der Protestanten war Ernst von Mansfeld. Er befand sich ab 1611 im Dienst der Union und zog 1618 zur Unterstützung der protestantischen Stände nach Böhmen, wo er bis Mai 1621 blieb. Anschließend diente er dem geächteten Pfalzgrafen Friedrich (dem vertriebenen Winterkönig von Böhmen) als Heerführer im Kampf um die Kurpfälzer Stammlande. Schwere Niederlagen zwangen Mansfeld zum schrittweisen Rückzug, und im Juli 1622 wurde er mitsamt dem Söldnerheer vom Pfalzgrafen entlassen, nachdem dieser mit dem Kaiser einen Waffenstillstand vereinbart hatte. Bereits seit 1621 hatte er Verbindungen zu den Generalstaaten und gewann ihre finanzielle Hilfe für den Unterhalt seines Heeres; 1622 stand er schließlich für einige Monate ganz in niederländischen Diensten.Auf der Suche nach einem Winterquartier wurden die Mansfeldschen Truppen im November 1622, nach der Verabschiedung aus niederländischen Diensten, von ihren ehemaligen Dienstherren nach Ostfriesland geleitet. Die Niederlande konnten die Verlegung der Truppen als positive Reaktion auf Bitten des Emder Rats nach Unterstützung und zum Schutz gegen den Grafen begründen. Tatsächlich befanden sich die Generalstaaten bereits seit 1568 im Unabhängigkeitskrieg mit Spanien. Obschon seit 1609 ein Waffenstillstand galt, flammten die Kämpfe ab 1621 wieder auf. So geriet Ostfriesland in den Sog europäischer Auseinandersetzungen. Für die Niederländer war die Region vor dem Zugriff der Spanier geschützt und die Truppen Mansfelds waren verfügbar, um sie im Ernstfall einsetzen zu können, ohne dabei eigenes Gebiet mit der Einquartierung und Versorgung belasten zu müssen. === Einquartierung der Truppen === Die Verlegung des Mansfeldschen Heeres verlief zügig und ohne geschlossene Gegenwehr Ostfrieslands. Schnell waren die wichtigsten gräflichen Burgen besetzt. Bereits am 3. November 1621 hatten seine Truppen Meppen besetzt, um den Nachschub über die Ems zu sichern. Von hier eroberte er schnell das Rheiderland mit Leer. Dabei zog er 6000 Taler an Kontributionen ein. Die chronisch unterbesetzten Festungen Stickhausen, Greetsiel und Friedeburg ergaben sich kampflos. Der Obrist Joachim von Carpzov wurde in Jemgum einquartiert. Der machtlose Graf Enno III. gab seine Residenz Aurich preis und zog sich nach Esens zurück, wo er wie ein Gefangener lebte, da Truppen Ernst von Mansfelds ihm folgten und ihn festsetzten. Dabei erbeuteten sie 300.000 in Fässer abgepackte Reichstaler. Diese waren laut den Bestimmungen des Berumer Vergleichs als Abfindung für die Abtretung des zunächst nicht zu Ostfriesland gehörenden Harlingerlandes durch die Grafen von Rietberg gedacht. Ostfriesland litt in der Folgezeit große Not. Die auswärtigen Truppen ernährten sich aus dem Lande und wurden durch Anwerbungen noch verstärkt. Einzig die Stadt Emden konnte sich, geschützt durch den kurz zuvor fertiggestellten Emder Wall, Mansfeld widersetzen. Als dieser einige Dörfer der Umgebung besetzte, verlangten die Emder von den Generalstaaten vergeblich Hilfe. Die Stadt war aber gut gerüstet und in der Lage, eine ausreichende Verteidigungsanlage zu errichten. Der Festungsbaumeister Johann von Falkenburg hatte die Stadt von 1606 bis 1616 auf den neuesten Stand der Verteidigungstechnik gebracht. So konnte sie ihre Umgebung gezielt unter Wasser setzen, was sie zur Demonstration auch tat. Ferner riss sie den Vorort Barenburg ab, um freies Schussfeld zu haben. Mansfeld unterließ es daraufhin, die Stadt anzugreifen. === Ernst von Mansfelds Pläne für Ostfriesland === Er nahm zunächst Quartier in Greetsiel. Von hier aus verhandelte er erst mit Spanien und später mit Dänemark. Auch versuchte er, sich eine legitime Stellung im Hochadel Ostfrieslands zu verschaffen. Er bat Graf Enno III. um die Hand seiner Tochter Christine Sophia, die sich jedoch verweigerte.Ende November 1622 schlug Mansfeld der Stadt Emden und der Ritterschaft ein festes Bündnis mit den Niederlanden vor. Er sah für sich die Position des Gubernators vor, dem die Organisation der Landesverteidigung obliegen sollte. Seine Pläne sahen weiterhin vor, dass die münsterschen Ämter Cloppenburg, Meppen, Vechta und Wildeshausen der Grafschaft angeschlossen werden. Die gräfliche Zentralgewalt sollte dabei auf ihre althergebrachten Einkünfte mit Ausnahme der Klostergüter – die neben weiteren Steuern zur Finanzierung der Landesverteidigung gedacht waren – beschränkt werden. Deutlich zeigte Mansfeld hier sein Interesse, sich als eigentlicher Herr im Lande anerkennen zu lassen. Die Stände lehnten sein Ansinnen ab und suchten in der Folgezeit nach Mitteln und Wegen, sich von den landfremden Truppen zu befreien und diese zum Abzug zu bewegen. Die Generalstaaten hingegen, von den Ostfriesen als einflussreichster Helfer Mansfelds angesprochen, reagierten kühl. So blieb Mansfeld auch 1623 im Lande. Inzwischen rückte von Süden das Heer des kaiserlichen Feldherrn Tilly auf Ostfriesland zu, um den Ausbau der Region zur Festung zu verhindern. Damit drohte das Land zum Kriegsschauplatz zu werden. Anfang September stand Tilly südlich von Oldenburg, verzichtete aber auf eine Offensive gegen Mansfeld, weil ihm das Risiko eines Angriffs auf das Land zu hoch war. Das Geestgebiet im Innern Ostfrieslands war aufgrund der zahlreichen Moore schwer zugänglich. Die Fernstraßen des Mittelalters umgingen das Gebiet, und noch heute verlaufen die Eisenbahnstrecken am Geestrand entlang. === Offene Auseinandersetzungen und Verhandlungen über den Abzug === Die Region war durch die inzwischen 17-monatige Besetzung ausgezehrt. Zu diesen Belastungen kamen Kälte, Hunger und Seuchen. Seit Sommer 1623 hatte sich die Pest in Ostfriesland ausgebreitet. So verlor zum Beispiel die Residenzstadt Aurich in dieser Zeit durch die Pest 800 Einwohner. Auch die Stadt Emden, obgleich von der Pest verschont, begann die Belastungen nun stärker zu spüren. Immer mehr Flüchtlinge aus der Grafschaft drängten sich in ihren Mauern; die Stadt fing an, unter dem wirtschaftlichen Verfall des Hinterlandes zu leiden. Allmählich begann sie dann bis zur feindseligen Konfrontation, Widerstand gegen Mansfeld zu leisten. Als Mansfeld nach dem Abzug der Truppen Tillys im Herbst 1623 seine Artillerie und anderes Kriegsmaterial von Leer nach Greetsiel transportieren ließ, gelang es den Emdern, dieses Schiff abzufangen und die gesamte Ladung zu erbeuten. Zudem bemühte sich die Stadt, Mansfeld den Seeweg abzuschneiden. Die Folgen dieser Blockade waren für Ostfriesland verheerend. Die ohnehin wirtschaftlich schwer getroffene Grafschaft wurde durch die von Hungersnot geplagten Truppen ausgeplündert. Wie stark diese Belastungen die Bevölkerung trafen, lässt sich einer Chronik entnehmen: „Schlemmen, Bauern Schinden, Weiber schänden war ihr tägliches Handwerk. Unterweil liefen Sengen und Brennen mit unter…“. Die Bevölkerung reagierte auf die brutalen Übergriffe mit Abwehr- und Racheaktionen. Allmählich begannen die Verhältnisse in der Region sich zum offenen Kriegszustand zu entwickeln. Für die Generalstaaten als vorgebliche Schutzmacht waren die Zustände in Ostfriesland bald nicht mehr haltbar und so vermittelten sie, die die Truppen ja überhaupt ins Land geholt hatten, zwischen Mansfeld und den Ostfriesischen Ständen, die bezeichnenderweise an Stelle des Grafen die Verhandlungen über die Bedingungen des Abzuges führten. Mansfeld, der durch die Verwüstung Ostfrieslands sich selbst seiner Basis beraubt hatte, verlangte dafür 300.000 Gulden. Diese Summe im Lande aufzubringen war nicht möglich. Schließlich boten die Niederländer an, den Ständen diese Summe vorzustrecken. Am 12. Januar 1624 unterschrieb Mansfeld den Abzugsvertrag und entließ seine Söldnertruppen bei Stickhausen. == Die Jahre 1625 bis 1627 == Obgleich Mansfeld das Land als Basis nutzen wollte, konnte er die Plünderungen durch seine eigenen Truppen nicht verhindern. Aus dem Umkreis der Lager waren 90 % der Bevölkerung geflohen, was mit dem Niederbrennen der leerstehenden Häuser bestraft wurde. Bald existierte in vielen Orten nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Häuser. Der Begriff Mansfelder wurde zu einer volkstümlichen Bezeichnung von Mörder- oder Räuberbanden.Die ostfriesische Gesellschaft blieb nach dem Abzug der Truppen weiter gespalten. So lehnte es die Stadt Emden ab, sich an der Rückerstattung jener 300.000 Gulden zu beteiligen, die Mansfeld in Form einer Kontribution für seinen Abzug verlangt hatte.1625 starb Enno III. und sein Sohn Rudolf Christian wurde Graf von Ostfriesland. Während seiner Regierungszeit wurde die Erwerbung des Harlingerlandes durch seinen Vater Graf Enno III. symbolisch abgeschlossen, indem er 1626 das bis 1744 gültige sechsfeldrige ostfriesische Wappen einführte. Im selben Jahr besetzten die Niederländer einen Teil Ostfrieslands, um hier die Grenzfestung Neuschanz zu errichten, dessen Terrain sie sich nach Vollendung des Bauwerks endgültig abtreten ließen. == Einquartierung kaiserlicher Truppen (1627–1631) == 1627 rückten Verbände der Armee Tillys unter dem Obersten Gallas in die Grafschaft ein. Erneut geriet Ostfriesland in einen Sog auswärtiger Ereignisse. Seit 1626/27 führten Tilly und Wallenstein mit großem Erfolg einen Feldzug gegen König Christian IV. von Dänemark und Norwegen sowie seine norddeutschen Verbündeten. Ostfriesland, obgleich nach wie vor neutral in diesem Konflikt, wurde erneut von fremden Truppen besetzt, die Winterquartiere brauchten. Zudem war es durch innere Konflikte unfähig, eine Landesverteidigung aufzubieten, die sich den Truppen hätte entgegenstellen können. Emden, durch Verteidigungsanlagen gut geschützt, weigerte sich, ein städtisches Aufgebot zur Sicherung der Landesgrenzen aufzubieten. Der Graf auf der anderen Seite war nicht dazu zu bewegen, seine Einkünfte aus dem Harlingerland und aus den säkularisierten Klostergütern für die Landesverteidigung aufzubringen. Erneut wurde das Land als Rückzugsraum für auswärtige Truppen benutzt. === Besatzung und Tod Graf Rudolf Christians === Im Dezember 1627 zogen drei Regimenter des Tillyschen Heeres unter dem Obersten Graf Gallas in Ostfriesland zum Winterquartier ein. Er machte Schloss Berum zu seinem Hauptquartier. General Johann Jakob von Bronckhorst-Batenburg nahm Quartier in Jever, zehn Kompanien Reiterei wurden ins Rheiderland verlegt und in Friedeburg waren 600 Mann stationiert. Im ganzen Land waren nun Truppen – mit Ausnahme von Aurich (auf Bitten des Grafen) und Emden.Im März 1628 versammelten sich die Stände und die Kaiserlichen, um über die Kontributionen zu verhandeln. Alle mussten zahlen, nur Emden weigerte sich – sechs städtische Kompanien und die Festung gaben der Stadt genügend Sicherheit. Am 15. April 1628 begab sich der junge Graf von Ostfriesland Rudolf Christian nach Berum, um dort mit den kaiserlichen Befehlshabern über eine Mäßigung der Kontributionen zu verhandeln. Gewohnheitsgemäß wurde dabei gut gespeist und getrunken. Im Anschluss an dieses Gelage kam es zu einem Duell mit einem Lieutenant Thomas Streif der kaiserlichen Truppen, in dessen Verlauf der erst 26-jährige Graf durch einen Stich in das linke Auge tödlich verletzt wurde. Er starb am darauffolgenden Tag. Da Rudolf Christian kinderlos war, folgte ihm sein Bruder Ulrich II. als Graf von Ostfriesland nach.Im Gegensatz zu den Truppen Mansfelds verhielten sich die kaiserlichen Truppen immerhin disziplinierter. Dem Grafen wurde die Residenz in Aurich gelassen. Die Truppen lebten zwar auch von den Kontributionen des Landes, zahlten aber für ihre Versorgung. Ein erheblicher Teil des von der Bevölkerung aufgebrachten Geldes floss auf diesem Wege zurück ins Land. === Truppenabzug === Ab 1630 griff der schwedische König Gustav II. Adolf auf Seiten der Protestanten erfolgreich in den Krieg ein. Im Frühjahr 1631 sammelten sich die Truppen bei Oldenburg und rückten am 9. April ab, um die Magdeburger im Mai bei ihrem Kampf gegen die Belagerung durch kaiserliche Truppen zu unterstützen. Im September 1631 gelang Gustav Adolf in der ersten Schlacht bei Breitenfeld ein Sieg gegen die Kaiserlichen, die anschließend bis nach Bayern zurückgedrängt werden konnten. Die kaiserlichen Truppen sahen sich gezwungen, Ostfriesland zu verlassen. == Die Jahre 1631 bis 1637 == Auch nach dem Abzug der kaiserlichen Truppen gelang es nicht, die inneren Gegensätze zugunsten einer schlagkräftigen Landesverteidigung beizulegen. Sowohl der Graf als auch die Stände verweigerten aus Angst, die jeweils gegnerische Seite zu stärken, Gelder zur Finanzierung von Truppen. Die Stadt Emden hielt sich aus diesem Zwist ganz heraus und vertraute weiterhin auf ihre starken Verteidigungsanlagen sowie auf die von Graf und Ständen finanzierte Garnison, die sie ausschließlich für eigene Zwecke einsetzte. In dieser Zwischenzeit begann die Kolonisierung der Moore durch Fehnkulturen nach niederländischem Vorbild. Die Gründung der Fehne hing ursächlich mit der im Dreißigjährigen Krieg einsetzenden Verteuerung des Brennstoffes Torf und den gestörten Torflieferungen aus dem niederländischen Oldambt oder dem Saterland zusammen. Um dies auszugleichen und die Stadt Emden mit Torf aus dem Ostfriesischen Zentralmoor zu versorgen, gründeten Emder Kaufleute 1633 die erste Fehnsiedlung Ostfrieslands, (West-)Großefehn, die heute Teil der größten Fehnanlage Ostfrieslands ist. Zunächst wurde mit dem Bau eines Kanals zur Trockenlegung des Moorgebiets begonnen, um anschließend auf den abgetorften Gebieten entlang des Kanals Kolonisten anzusiedeln und so die Städte Emden, Leer und Weener mit dem Brennstoff zu versorgen. == Besetzung durch Truppen der antikaiserlichen Allianz (1637–1650) == === Einmarsch hessischer Regimenter im Herbst 1637 === 1637 marschierten hessische Truppen unter dem Oberbefehl des Landgrafen Wilhelm V. in Ostfriesland ein. Wilhelm hatte sich mit dem schwedischen König Gustav Adolf verbündet und an dessen Seite große Landgewinne für sich verbucht. Als Gustav Adolf 1632 in der Schlacht bei Lützen fiel, brach die politische Koalition, in der Hessen-Kassel so erstarkt war, zusammen und die katholische Liga gewann wieder an Kraft. In der Folge begannen kaiserliche Truppen eine Strafaktion gegen Hessen-Kassel. Wilhelm gelang es, mit seiner Familie und einem Großteil seiner Truppen zu fliehen. Er diente seinen 7000 Mann starken Heeresverband der von den Niederlanden unterstützten französisch-schwedischen Allianz gegen Habsburg an. Die Niederlande boten ihm im Gegenzug in geheimen Verhandlungen Ostfriesland als Regenerierungsraum und für künftige Operationen als strategisch günstige Region an. Den Niederlanden ging es dabei vor allem um den Schutz des Rheins und ihrer Handelswege. Ostfriesische Interessen wurden dabei übergangen und das Land vor vollendete Tatsachen gestellt. Am 12. August meldete Wilhelm den ostfriesischen Ständen seine Absicht, Quartier zu nehmen. Unmittelbar darauf begann sein Heer die Ems abwärts nach Ostfriesland zu ziehen. Graf Ulrich II. versuchte noch mit rasch zusammengerafften Streitkräften zu reagieren, doch deren Widerstand wurde schnell gebrochen.Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Parteien am 23. September in Leerort auf einen Vertrag. Die Einquartierung von etwa 2500 Mann in Ostfriesland sollte zunächst nur sechs Monate andauern und das Land monatlich 12.000 Reichstaler Kontribution zahlen. Die Stadt Emden, die sich weiterhin hinter ihren Bollwerken geschützt sah, war von diesen Maßnahmen ausgenommen. === Besatzungszeit und Widerstand === Wenige Tage nach Abschluss dieses Vertrages, am 1. Oktober 1637, starb der Landgraf von Hessen nach kurzer Krankheit in Leer. Seine Witwe Amalie Elisabeth blieb mit den Truppen in Ostfriesland, weit über die vereinbarte Frist von sechs Monaten hinaus. Zudem erhöhte sie die Kontribution auf monatlich 15.000 Reichstaler. Die Ostfriesen konnten dem nichts entgegensetzen. Allein die Stadt Emden hatte sich in einem Sondervertrag mit den Hessen günstigere Bedingungen verschafft und die Last der Einquartierung damit abgewälzt. Alle Bitten des Grafen, der Stände und schließlich auch der Generalstaaten um Entfernung der hessischen Truppen blieben erfolglos. Gestützt auf ihre Verbündeten Frankreich und Schweden schob Amalie Elisabeth den Abzug immer weiter hinaus. Zudem argumentierte sie, Ostfriesland sei zu schwach gerüstet, um einem erneuten Angriff kaiserlicher Truppen zu widerstehen.Die Truppen verhielten sich, durch französische Gelder unterstützt und zudem durch ostfriesische Kontributionen abgesichert, zunächst diszipliniert. Ein Großteil der Kontributionen floss denn auch als Bezahlung der Versorgungsbezüge in das Land zurück. Dennoch überwogen die Belastungen durch die Besetzung und langsam formierte sich Widerstand, vor allem nachdem schwere Sturmfluten zu weiteren Verlusten geführt hatten. Die Verhältnisse machten jedoch ein gemeinsames Vorgehen unmöglich, so dass Ulrich II., auf die Zustimmung der lutherischen Ämter und Städte gestützt, 2000 Soldaten anwarb, auch um zu beweisen, dass sein Land sich gegen den Einmarsch kaiserlicher Truppen gewappnet sah, wenn denn die Hessen abzögen. Zu diesem Zweck nahm er einige Kompanien niederländischer Truppen in Sold. Die hessischen Truppen sahen sich nun ihrerseits bedroht und errichteten im Rheiderland einige Schanzen. In dieser erhitzten Atmosphäre lieferten sich die hessischen Truppen mit den einheimischen im Sommer 1644 bewaffnete Scharmützel, die für die Ostfriesen mit einer Niederlage endeten. Nur der Tod des hessischen Oberbefehlshabers Kaspar von Eberstein verhinderte den Angriff auf die Hauptstadt Aurich. Unter Vermittlung der Niederländer wurde am 20. Oktober 1644 ein neuerlicher Vertrag geschlossen. Demnach sollten die hessischen Truppen vorläufig in Ostfriesland verbleiben. Im Gegenzug wurde dem Grafen der weitere Unterhalt eigener Truppen zugestanden. Dieser Vertrag hatte eine Laufzeit bis zum März 1645, er wurde aber in der Folgezeit von Jahr zu Jahr verlängert, da die Hessen nicht daran dachten, ihre Truppen abzuziehen.Kurz darauf protestierte die Stadt Emden mit Teilen der Ritterschaft gegen die Unterhaltung so umfangreicher Streitkräfte durch den Grafen. Er wurde gezwungen, seine Miliz von 2000 auf 1000 Mann zu reduzieren. Im Gegenzug sollten die Hessen abziehen, was aber nicht geschah. === Bemühungen um Abzug der hessischen Truppen und die Zeit nach Kriegsende === Graf Ulrich reiste im Frühjahr 1646 nach Den Haag, um mit den Staaten über einen Anschluss zu verhandeln. Alle, die Vorteile aus der Situation zogen, wie die Emder, die Franzosen oder Schweden, leisteten jedoch Widerstand. So musste der Graf im Juni 1646 unverrichteter Dinge zurückkehren. Daraufhin schickte er von Ostfriesland seinen Sohn Enno Ludwig am 30. Juni 1646 auf diplomatische Mission. Dieser beschwerte sich persönlich bei einem Bevollmächtigten des Kaisers in Münster und ging dann selbst nach Wien. Auch dieser Versuch, die hessischen Truppen aus dem Lande zu drängen, misslang. 1647 rückte eine kaiserliche Armee von 6000 Mann unter General Lamboy auf Ostfriesland vor und die Grafschaft drohte gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges noch zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zu werden. Die Kaiserlichen zogen in Richtung Leer und plünderten im Rheiderland. Der Hintergedanke war, die Hessen zu vertreiben und den spanischen Truppen einen Stützpunkt zwischen Holland und Dänemark zu verschaffen. Der schwedische General Königsmarck gab daraufhin die Belagerung von Paderborn auf und eilte zusammen mit dem hessischen General Rabenhaupt nach Ostfriesland. Lamboy zog sich zurück, als sich schwedische Verbände zur Unterstützung der Hessen näherten. Nur um Jemgum – von den Hessen zur Festung ausgebaut – entspann sich ein kurzes Gefecht. Am 8. November 1647 erhielt die Besatzung freien Abzug. Die Hessen blieben noch weit über den Westfälischen Frieden hinaus im Lande. Erst im August 1650 zogen sie ab. Dies war auf dem Nürnberger Exekutionstag so geregelt worden. Die Landgräfin Amelie Elisabeth wurde verpflichtet, ihre Truppen zunächst aus der Reichsstadt Friedberg, dann aus Bocholt im Stift Münster und schließlich aus Ostfriesland abzuziehen.In niederländischem Sold stehende Truppenteile konnten in dem Vertrag nicht berücksichtigt werden. Sie blieben weiterhin in Ostfriesland und am Niederrhein präsent. == Kriegsfolgen == Auch wenn Ostfriesland von größeren Auseinandersetzungen weitgehend verschont blieb, haben die Jahre der Besatzung das Land weitgehend ruiniert und es noch tiefer gespalten zurückgelassen, als es schon vor den Einquartierungen fremder Truppen war. Die Präsenz auswärtiger Kräfte hat dabei nicht zu einem Zusammenrücken, sondern zu einem weitgehend eigenmächtigem Handeln der politischen Akteure geführt. Graf und Stände unterhielten eigene Institutionen zur Landesentwicklung und trieben eigene Steuern bei den Landesbewohnern ein. An den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen hatte die Region noch lange zu tragen.Vor allem die Kontributionen an die hessischen Truppen, die noch drei Jahre über das Kriegsende hinaus in Ostfriesland verblieben, haben das Land finanziell ausgezehrt. So sind allein in der Schlussphase folgende Summen gezahlt worden: 1646: 233.049 Gulden 1647: 297.372 Gulden 1648: 267.593 Gulden 1649: 276.421 Gulden 1650/51: 469.362 GuldenDa die Summen nicht im Land verfügbar waren, mussten sie durch langfristige Kredite bei den Generalstaaten aufgebracht werden, so dass Ostfriesland paradoxerweise Schuldner des Landes wurde, das maßgeblich dafür verantwortlich war, dass auswärtige Truppen in der Region untergebracht wurden. Zudem sahen sich die Grafen Ostfrieslands nach dem Raub der 300.000 in Fässer abgepackten Reichstaler durch Mansfeldsche Truppen weiteren Forderungen durch das Haus Liechtenstein als Rechtsnachfolger der Grafen von Rietberg ausgesetzt. Diese erneuerten 1663 die Forderungen des Berumer Vertrages. Da das seit 1654 zum Fürstentum erhobene Ostfriesland unter Fürst Georg Christian nicht zahlen konnte, wurde der Fürstbischof von Münster zum Schuldeneintreiber bestimmt. Er fiel in Ostfriesland ein. Nur mit Hilfe der Generalstaaten und des Herzogs Eberhard von Württemberg konnten die münsterschen Truppen vertrieben, ein Kompromiss vermittelt und die noch einmal um 200.000 Taler erhöhte Summe aufgebracht werden. == Einzelnachweise == == Literatur == Walter Deeters: Ostfriesland im Dreißigjährigen Krieg. In: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands. Band 78. Ostfriesische Landschaft, 1999, ISSN 1434-4351, S. 32–44. Gerhard de Buhr: Graf Mansfelds Heiratsplan. In: Ostfriesische Landschaft in Verbindung mit den Heimatvereinen (Hrsg.): Ostfriesland. Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft und Verkehr. Nr. 2, 1954, ISSN 0030-6479, S. 31–35. Wolfgang Brünink: Der Graf von Mansfeld in Ostfriesland (1622–1624) (= Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands. Heft 34). Ostfriesische Landschaft, Aurich 1957, S. 32–44. Walter Barton: „Der Manßfelder ligt noch in OstFrießlandt“. Zeugnisse aus der Presse der Jahre 1622–1624. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Bildende Kunst und Vaterländische Altertümer zu Emden. Band 71, 1991, ISSN 0341-969X, S. 23–62.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ostfriesland_zur_Zeit_des_Drei%C3%9Figj%C3%A4hrigen_Krieges
Pegel Würzburg
= Pegel Würzburg = Der Pegel Würzburg ist einer von 16 Messpegeln und von acht Richtpegeln am Main und misst den aktuellen Wasserstand, der von großer Bedeutung für die Schifffahrt und die Anwohner ist. Für flussabwärts gelegene ufernahe Regionen dient er im Hochwasserfall als wichtiger Anhaltspunkt, um entsprechende Warnungen auszugeben. Der Pegel Würzburg liegt ungefähr in der Mitte zwischen Quelle und Mündung des 524 Kilometer langen Mains am Alten Kranen bei Würzburg. Er wird seit Oktober 1823 regelmäßig beobachtet und ist der älteste in Betrieb befindliche Pegel am Main. Der Betreiber ist das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Schweinfurt (WSA Schweinfurt), das die Daten auch auswertet. Der höchste registrierte Pegelstand stammt vom 30. März 1845 mit 834 Zentimetern, der niedrigste stammt von 1934 mit 116 Zentimetern bei einem Mittelwasserstand von 176 Zentimetern. == Beschreibung == Der Pegel Würzburg besteht aus drei Pegelstaffeln, wobei sich die erste Staffel direkt am Alten Kranen befindet. Die zweite Staffel, die Hochwasserstaffel, liegt an der Kranenbastion, die unmittelbar an den Alten Kranen grenzt. Eine dritte Hochwasserstaffel besteht seit 1823 an der Alten Mainbrücke. Der Pegel umfasst zusätzlich einen Schreibpegel und ein Messwertansagegerät. Mit den Aufzeichnungen wurde 1823 begonnen, damit ist er der älteste in Betrieb befindliche Pegel am Main. Im Zuge der Stauregelung wurde in den 1930er-Jahren der noch ältere Pegel Lohr bei Main-Kilometer 197,97 aufgegeben.Die zuverlässige Erfassung und Auswertung von Wasserständen bilden die Grundlage für alle gewässerkundlichen Arbeiten am Fluss. Dazu gehören gewissenhafte Abflussmessungen bei unterschiedlicher Wasserführung. Durch das Verhältnis zwischen Wasserstand und Abfluss können die Wasserstände nach den Abflussmengen berechnet und in der Abflusskurve wiedergegeben werden. Die genaue Kenntnis des Abflussgeschehens ist die Voraussetzung für den Betrieb, die Unterhaltung und den Aus- und Neubau der Wasserstraße, für die Steuerung der einzelnen Anlagen am Fluss, insbesondere der Staustufen mit Wehr und Wasserkraftwerk, für die Schifffahrt zur Ermittlung der Fahrwasserverhältnisse und der Disposition der Abladetiefe sowie für den Hochwassernachrichtendienst für die Schifffahrt und die Anlieger, die in bedrohten Gebieten leben. Die Messwerte werden an den Schreibpegel bei der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (WSD Süd) und an die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) in Koblenz übertragen sowie über einen automatischen Anrufbeantworter, der die Messwerte in Sprache umwandelt, bereitgestellt, über den Mainschiffer oder Interessierte sich über Pegelstand und Tendenz informieren können. Der Pegel wird im Netz der bundesweiten Messstellen mit der Nummer 24042000 geführt. === Lage === Der Pegel liegt bei Main-Kilometer 251,97, das Einzugsgebiet oberhalb des Pegels beträgt 13.995,76 km². Der Pegelnullpunkt liegt 164,553 Meter über Normalnull. Das Stauziel der flussabwärts gelegenen Staustufe Erlabrunn ist 165,78 Meter über Normalnull hoch, was einem Pegelstand von 123 Zentimetern entspricht.Der Pegel Würzburg ist für die Schifffahrt ein wichtiger Richtpegel und umfasst den Flussabschnitt von der Schleuse Harrbach bis zur Schleuse Marktbreit, Main-Kilometer 219,47 bis 275,68. Dieser Abschnitt wird jährlich von etwa 9000 Frachtschiffen, die neun Millionen Tonnen Fracht transportieren, genutzt. Der Pegel wird flussabwärts vom Pegel Steinbach bei Main-Kilometer 200,52 und flussaufwärts vom Pegel Schweinfurt – Neuer Hafen, Main-Kilometer 330,78 abgelöst. Flussaufwärts liegt als Nächstes der Pegel Astheim bei Main-Kilometer 311,20. === Hauptwerte === Die gemessenen Werte am Pegel Würzburg werden im hydrologischen Jahr zusammengefasst, das vom 1. November des vorherigen Jahres bis zum 31. Oktober dauert. Die Monate November bis April umfassen das Winterhalbjahr und die Monate Mai bis Oktober das Sommerhalbjahr. Im Gegensatz zur kalendarischen wählte man diese Einteilung, um in der Jahresbilanz die Niederschläge erfassen zu können, die bereits im November oder Dezember als Schnee oder Eis gespeichert wurden und erst bei wärmerer Witterung im folgenden Jahr abfließen können. Die Wasserstände und Abflüsse von mehreren Jahren fasst man zusammen, um sie mit anderen Pegeln zu vergleichen und sie für die Schifffahrtsstraße, die Betreiber und Anwohner zu nutzen. Wegen der Zusammenlegung mehrerer Werte fallen Extremwerte nicht so auf und die Mittelwerte sind ausgeglichener. Der Main hatte am Pegel Würzburg im Zeitraum von 1994 bis 2003 einen durchschnittlichen Wasserstand von 176 Zentimetern. Der Wasserstand schwankt im Jahresverlauf und beträgt im Winter durchschnittlich 197, im Sommer 155 Zentimeter. Der höchste Wasserstand am Pegel Würzburg wurde am 30. März 1845 mit 834 Zentimeter Pegelhöhe und einem Abfluss von 2170 m³/s gemessen. Ein noch extremeres Hochwasser, von dem es eine Markierung in Würzburg gibt, ereignete sich am 29. Februar 1784 mit einer Höhe von 863 Zentimetern bei einem Abfluss von 2600 m³/s. Den niedrigsten Wasserstand hatte der Main 1934 mit 116 Zentimetern. Der absolut niedrigste Wasserstand, bedingt durch eine Stausenkung der Staustufe Erlabrunn, herrschte mit 87 Zentimetern am 3. September 1953. Der geringste Abfluss war im Jahr 1964, als nur noch 12,2 m³/s abflossen. Der durchschnittliche jährliche Abfluss für den Zeitraum von 1989 bis 2003 betrug 122, im Winter 160 und im Sommer 84,6 m³/s. Der durchschnittliche Wasserstand im Zeitraum von 1824 bis 1998 lag bei 223 Zentimetern bei einem Abfluss von 107 m³/s. === Pegeländerungen === Der Pegelnullpunkt musste seit 1823 mehrmals tiefer gelegt werden, damit er immer unter dem niedrigsten Wasserstand lag. Dies war erforderlich, da der Wasserspiegel durch die natürliche Eintiefung der Flusssohle und die verschiedenen Ausbaumaßnahmen zur besseren Schiffbarkeit absank. Der Pegel wurde dreimal um insgesamt 221,3 Zentimeter tiefer gelegt. Ohne diese Tieferlegung würde die Pegellatte heute bei Mittelwasser nicht mehr in das Wasser reichen. Die Wasserstandslinien wurden von 1. Oktober 1823 bis zum 31. März 1872 noch mit den damals gebräuchlichen Messeinheiten Fuß, Zoll und Linien gemessen. Zur Auswertung der alten Pegelmaße wurden diese auf das metrische System und auf die für heute gültigen Pegelwerte umgerechnet. === Abflussmessungen === Die ältesten bekannten Abflussmessungen am Main stammen aus dem Jahre 1849 im Bereich Wertheim und Aschaffenburg. Diese Messungen können aber nicht für Untersuchungen in Würzburg herangezogen werden, weil dort der Main ein viel größeres Einzugsgebiet umfasst. Im näheren Bereich fanden am 3. Oktober 1850 in Schonungen die ersten Messungen statt. In Staffelbach, Laudenbach, Wernfeld, Obertheres und Gemünden am Main folgten Messungen in den Jahren 1867 und 1868 mit einem Woltmann-Flügel, einem Tourenzähler, der drei Minuten lang in das Wasser gehalten wurde. Anhand der Fließgeschwindigkeit des Wassers und dem Flussquerschnitt der Messstelle wurde der Abfluss ermittelt.Diese alten Messungen sind für Würzburg besonders wertvoll, weil sie noch den ursprünglichen Zustand des Mains in Würzburg vor der Entfestigung aufzeigen. Unterhalb von Viereth, bei dem Durchstich von Staffelstein, folgten 1877 die nächsten Messungen.In den Jahren 1880 bis 1886 wurden erstmals neun Messungen in Würzburg durchgeführt, eine davon beim Hochwasser 1880 mit einem Abfluss von 939 m³/s. Diese Messungen gestalteten sich allerdings schwierig. Zum Spannen des Seiles für den Woltmann-Flügel von einem zum anderen Ufer mussten schriftliche Genehmigungen der Stadt und der bayerischen Militärverwaltung eingeholt werden. Die Stadt war der Eigentümer der Mauer am städtischen Holzhof am rechten Flussufer und das Militär besaß die Festungsmauer am linken Ufer.In den Jahren 1884 bis 1886 erfolgten auch in Schweinfurt insgesamt acht Abflussmessungen, die mit einer beachtlichen Präzision und großer Sorgfalt durchgeführt wurden.In Würzburg liegen für den Zeitraum von 1900 bis 1934 18 Abflussmessungen vor, darunter eine Serie von acht Abflussmessungen vom Hochwasser Anfang November 1924. Aus der Zeit nach Fertigstellung der Staustufe in Erlabrunn, des darauffolgenden Einstaus des Pegels Würzburg und der Teilausbaggerung der Schifffahrtsrinne 1938 und 1939 sind drei Messungen vorhanden.Vom Zwischenzustand des Mains in den Jahren 1939 bis 1952 liegen 21 Messungen vor. Nach den Bauarbeiten, die in Würzburg 1954 abgeschlossen wurden und zu starken Veränderungen der Wasserstandsverhältnisse führten, wurden bis Ende 1974 insgesamt 57 Abflussmessungen durchgeführt. ==== Abflusstafel ==== Die bekannten Abflussmessungen und die dazugehörenden Wasserstände am Pegel wurden in eine Abflusskurve eingezeichnet. Die Bereiche im Niedrig- und Hochwasserbereich, für die keine Abflusswerte vorliegen, wurden durch Extrapolation ermittelt. Bei dieser Abflusskurve steht jeder Messpunkt auf der Linie für den Abfluss beim entsprechenden Wasserstand. Zusätzlich werden die Werte der Abflusskurve in der Abflusstafel wiedergegeben. Bei dieser sind links die Wasserstände in Hunderter-Schritten und oben die Zwischenwerte in Zehn-Zentimeter-Schritten angegeben. Auf diese Weise können für die Wasserstände in Zehn-Zentimeter-Schritten die zugehörigen Abflussmengen abgelesen werden. Beispielsweise entspricht ein Wasserstand von 440 Zentimetern einem Abfluss von 675 m³/s. === Gefällverhältnisse === Der Main hat ein natürliches Gefälle ab Kulmbach, dem Vereinigungspunkt des Weißen und des Roten Mains, von weniger als einem Promille. Unterhalb von Kulmbach beträgt das Gefälle durchschnittlich 1,08 Promille, im Raum Würzburg weniger als 0,5 Promille und im Unterlauf bei Frankfurt am Main nur noch 0,29 Promille. Durch die Staustufen verringerte sich das Fließgefälle. Am Main bestehen 34 theoretisch waagrechte Stauhaltungen. Diese sind jedoch, bedingt durch das ständig nachströmende Wasser in Wirklichkeit nicht waagrecht. Das Stauziel der Schleuse Erlabrunn liegt bei 165,78 Meter über Normalnull. Am Pegel Würzburg entspricht dies einem Pegelstand von 123 Zentimetern. Der tatsächliche Mittelwasserstand am Pegel beträgt 176 Zentimeter. Die Stauhaltung Erlabrunn, an deren oberen Ende der Pegel Würzburg liegt, weist dementsprechend auf einer Länge von elf Kilometern ein Gefälle von 53 Zentimetern auf. In Relation über die Verhältnisse der Mainflußstrecke des Baubehördenbezirks Würzburg aus dem Jahre 1864 sind die ältesten Angaben über das Wasserspiegelgefälle enthalten. Dort heißt es, dass der Main unterhalb der Alten Mainbrücke auf einer Länge von 2000 Fuß (584 Meter) fast horizontal sei. Das Gefälle habe von der Pleichachmündung an auf einer Länge von 21.000 Fuß (6129 Meter) 10,9 Fuß (3,18 Meter) betragen. Dies entspricht 0,52 Promille. === Wasserspiegelfixierungen === Aus dem Jahre 1869 stammt die früheste Wasserspiegelfixierung bei Niedrigwasser. Das Gefälle von der Pleichachmündung bis zur Alten Mainbrücke wird mit höchstens zwei bis drei Zentimetern als sehr gering angegeben. Beim Ablauf verschiedener Hochwasserwellen im Jahre 1882 wurden erstmals mehrere Scheitelfixierungen an beiden Ufern durchgeführt. Hierbei zeigte sich der ungünstige Einfluss des wenige Jahre vorher erbauten Alten Hafens. Die Messung zeigte ein vergrößertes Wasserspiegelgefälle gegenüber dem früheren Zustand. Für den Durchgang der Hochwasserwellen in den Jahren 1909, 1947 und 1970 sind noch weitere Wasserspiegelfixierungen vorhanden. Auch bei geringeren Wasserführungen liegen solche vor. Sie stammen sowohl aus der Zeit vor als auch nach dem Ausbau des Mains zur Großschifffahrtsstraße. == Geschichte == In Bayern werden seit Beginn des 19. Jahrhunderts regelmäßige Beobachtungen des Wasserstandes durchgeführt. Das damalige Finanzministerium erließ am 19. Mai 1821 eine allgemeine Anordnung zum Aufbau eines Pegelnetzes an allen schiff- und flößbaren Flüssen. Dieses erste Messnetz umfasste bis 1826 65 Messpegel, wobei der Wasserstand an den Stationen einmal täglich abgelesen wurde. Vereinzelt erfolgten bei Hochwasser Zwischenbeobachtungen. Das bayerische Netz ist bis heute auf über 700 Messstellen angewachsen, wovon mehr als 300 in den Hochwassernachrichtendienst eingebunden sind.Wann der Pegel Würzburg errichtet wurde, ist nicht genau bekannt. Die ersten Aufzeichnungen stammen vom Oktober 1823. Im Jahre 1823 bestand der Pegel Würzburg aus zwei senkrechten Pegellatten, bis 1872 mit der damals gebräuchlichen Fuß- und Zolleinteilung. Die erste Staffel befand sich in einer Treppennische am rechten Ufer des Mains, 70 Meter unterhalb des Alten Kranens. Die zweite Staffel, gleichzeitig die Hochwasserstaffel, befand sich 400 Meter stromaufwärts, an der unterstromigen Seite des linken Widerlagers der Alten Mainbrücke. Die beiden Pegellatten waren so angebracht, dass zum Zeitpunkt der Überflutung der ersten Staffel sich die gleichen Werte auch an der Hochwasserstaffel ergaben.Der Lattenpegel wurde in der Regel täglich nur einmal, meist zwischen sechs und acht Uhr morgens abgelesen. Auf den Wasserstandslinien sind zeitweise auch zwei Tagesablesungen vermerkt. Man begnügte sich bei Hochwasser im Allgemeinen mit der Angabe des Höchststandes und der ungefähren Zeit des Eintritts der Scheitelwelle. Deshalb sind manche Werte vor 1887 etwas zu niedrig ausgefallen. Stündliche Beobachtungen oder Zwischenablesungen erscheinen erst viel später.Die erste Staffel wurde am 21. Juli 1961 direkt am Alten Kranen verlegt. Außerdem wurde eine neue Hochwasserstaffel an der Kranenbastion angebracht. Zum ersten Mal befanden sich damit alle Pegellatten im selben Profil und am selben Ufer des Mains. Um als wichtiges Bindeglied zu den Pegelangaben vor 1961 und den Höhenangaben der großen historischen Hochwasser zu dienen, wurde die alte Hochwasserstaffel zusätzlich an der Alten Mainbrücke belassen. Diese Pegellatte befindet sich seit 1823 an derselben Stelle. Vergleichsmessungen beim Ablauf des Hochwassers vom Februar 1970 ergaben an dieser Pegellatte die gleichen Werte wie an der neuen Hochwasserstaffel an der Kranenbastion, obwohl sich inzwischen umfangreiche Veränderungen in und am Fluss vollzogen hatten. Am rechten Mainufer wurde am 1. November 1883 der erste Schreibpegel in Bayern in einem Holzhäuschen auf der Kranenkaimauer hochwasserfrei errichtet. Der Zugang erfolgte über einen Laufsteg vom städtischen Holzhof aus. Der automatische Pegel hatte allerdings in der Anfangszeit häufig Störungen. Die verwertbaren Diagramme, die heute noch vorhanden sind, datieren ab 1887. Aus städtebaulichen Gründen musste 1913 dieses Pegelhäuschen entfernt werden. Der Schreibpegel wurde daraufhin in die Kranenbastion verlegt, ein Pegelschacht mit Zulauf zum Main in der vorderen Ecke der Bastion Alter Kranen errichtet und mit einem aufgesetzten Blechhäuschen geschützt. Am 24. April 1914 wurde ein elektrischer Fernpegel beim Schreibpegel in Betrieb genommen. Die gemessenen Daten gingen von dort in das damalige Straßen- und Flussbauamt und zur Pegeluhr beim städtischen Lagerhaus am Alten Hafen.Beim Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 wurde der Fernpegel gänzlich zerstört und der Schreibpegel in den turbulenten Tagen nach den Luftangriffen gestohlen. Nach dem verheerenden Luftangriff flohen die meisten Bewohner aus der Stadt und der Pegel wurde nicht mehr abgelesen. In Würzburg wurden am 2. April 1945, am Vorabend des amerikanischen Einmarsches, von sich zurückziehenden deutschen Truppen sämtliche Mainbrücken gesprengt. Darunter befand sich auch die Luitpoldbrücke (die heutige Friedensbrücke) unterhalb des Pegels. Es entstand durch die in den Fluss gestürzten Brückentrümmer ein meterhoher Aufstau.Am 14. Mai 1945 begannen wieder regelmäßige Pegelablesungen. Die Wasserstände waren aber immer noch durch den Rückstau des Flusses beeinflusst. Im Juli 1945 begann man mit der Räumung der Brückentrümmer. Diese Arbeiten dauerten bis zum 15. Oktober 1945. Die Wasserstandsverhältnisse waren von da an auch im Bereich des Pegels wieder normal. Die Beobachtungslücken, die durch die Kriegsereignisse entstanden waren, konnten durch die Beobachtungen am Ochsenfurter Pegel geschlossen werden.Ein elektrischer Fernpegel wurde wieder im Januar 1948 in Betrieb genommen. Die Übertragung der Daten erfolgte in das Wasser- und Schifffahrtsamt Würzburg (WSA Würzburg) in der Friedrichstraße 2. Der elektrische Fernpegel befindet sich seit Frühjahr 1987 im Foyer der Wasserschifffahrtsdirektion Süd (WSD Süd) in der Wörthstraße 19. Das blecherne Pegelhäuschen wurde 1970 abgebaut und durch ein massives Pegelhaus ersetzt. Die Pegelanlage ist seit dem 25. Juni 1970 mit einem Messwertansagegerät ausgestattet. Eine Datenspeicher- und Datenfernübertragungseinrichtung Allgomatic-Außenstation-DFÜ-T ging am 23. September 1985 in Betrieb.Aus Anlass des Wiederaufbaues des Zollhauses auf der Kranenbastion und der Umwidmung als Haus des Frankenweins sowie des gleichzeitig durchgeführten Hochwasserschutzes im Bereich der Kranenbastion wurde am 28. Juni 1990 die Pegelanlage in den neuen Messraum des neu gestalteten Biedermeierhäuschens verlegt. Der Pegelschacht wurde dabei beibehalten. Während der Bauzeit von Oktober 1988 bis Juni 1990 war die Pegelanlage in einem Hilfspegelhaus untergebracht. == Baumaßnahmen im Bereich des Pegels == Seit dem Beginn der Messungen am Pegel Würzburg im Jahre 1823 wurden viele bauliche Änderungen am angrenzenden Ufer des Maines, aber auch an der Flusssohle durchgeführt. Die ursprünglich unregelmäßig ausgebildete Flusssohle wurde mit der Zeit als Profil ausgeführt, was Einfluss auf die Fließgeschwindigkeit hatte. Nachdem die Festungseigenschaft der Stadt aufgehoben worden war – rechtsmainisch erfolgte die königliche Genehmigung am 28. September 1856, linksmainisch (Mainviertel) am 7. Mai 1867 –, wurde sie teilweise entfestigt. Die Entfestigung im Mainbereich zog sich bis 1898 hin und wurde mit dem Bau der linksmainischen Kaimauer abgeschlossen. Der Main wurde in mehreren Etappen für die immer größer werdenden Schiffe ausgebaut. Die Baumaßnahmen umfassten, um größere Fahrwassertiefen für die Schifffahrt zu erreichen, Baggerungen im Flussbett. Bedingt dadurch sank der Mainspiegel erheblich ab. Hinzu kamen auch die ständigen Änderungen der Uferbebauung, die das Fluss- und Talquerschnittsprofil beeinflussen. Die Breite des Flusses wurde dabei verringert. Durch die Uferbebauung wurde auch ein gerader Uferverlauf erreicht. Durch die Flussbaggerungen verringerte sich die Rauigkeit der Flusssohle, wodurch sich die Fließgeschwindigkeit des Maines erhöhte. Dadurch kann heute im gleichen Zeitraum viel mehr Wasser durchgeführt werden als früher, wodurch heute eine Hochwasserwelle schneller als früher abfließt. Diese Baumaßnahmen wirkten sich unterschiedlich auf die Pegelmessungen aus. === Flusstopografie um 1823 === Zu Beginn der Pegelmessung in Würzburg war die Stadt noch von einem mächtigen barocken Befestigungsgürtel aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umschlossen, auf der rechten Mainseite die Stadtbefestigung und linksmainisch das Mainviertel, das der Festung Marienberg angegliedert war. An beiden Mainufern zogen sich die sogenannten Wasserglacis hin, die auch zu den Festungsanlagen zählten. Die Festungswerke unterlagen aus militärischen Gründen strengen baupolizeilichen Vorschriften, die besonders für die Glacis noch erheblich verschärft waren. Das Flussufer in Würzburg blieb deswegen über lange Zeit unberührt. Im weiten Umkreis bestand mit der Alten Mainbrücke der einzige Flussübergang. Alle weiteren Brücken im Stadtbereich wurden erst viel später erbaut. Der Fluss war im Stadtbereich wesentlich breiter, die Flusssohle lag höher. Eine bis zu einem Meter mächtige Sand- und Kiesschicht lagerte über der Wellenkalksohle. In der Flusssohle zog sich an beiden Ufern, entsprechend der Strömung je eine Rinne hin. Am rechten Mainufer war diese Rinne durch den Betrieb der Unteren Mainmühle und infolge des Wasserdurchflusses am Nadelwehr entstanden und wurde von der Schifffahrt als Fahrweg benutzt. Durch den Betrieb der beiden anderen Mühlen, der Oberen Mainmühle und der Kanalmühle und durch das Überlaufwasser des Streichwehres bildete sich am linken Ufer ebenfalls eine Rinne. ==== Rechtes Mainufer ==== Das rechte Mainufer unterhalb der Alten Mainbrücke war damals schon, wie heute, mit einer senkrechten Kaimauer eingefasst. Am Holztor wurde lediglich das tiefer liegende Mainufer in der neueren Zeit etwas erhöht, was aber keinen Einfluss auf den Wasserstand hatte. In diesem Bereich wurden, wie es der Name des Tores andeutet, überwiegend Holz und Brennmaterial ausgeladen. Der gesamte Uferstreifen wurde von Güterschiffen genutzt, die auf ihre Abfertigung am Alten Kranen warteten. Etwas unterhalb des Alten Kranen stand zu dessen Unterstützung noch ein vom Würzburger Handelsverein aufgestellter eiserner Kran. Auf der gleichen Uferseite befand sich auch der Ziehweg für die Treidelschifffahrt, der aber durch den Verladebetrieb an der Kaimauer behindert wurde. Kleine Marktschiffe, die täglich den Grünen Markt in der Stadt mit frischer Ware versorgten, befanden sich auch an diesem Kai. Das Gelände fiel nach dem Kranenkai ab und war tiefer als heute. Die Kürnach, ein Bach der aus der gleichnamigen Ortschaft 14 Kilometer nordöstlich von Würzburg kommt, floss damals bei der heutigen Häuserzeile am Kranenkai frei dahin und diente zur Bewässerung der mittelalterlichen Stadtbefestigung aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, des sogenannten Inneren Grabens. Kleingärten befanden sich dahinter. Später wurde das Gelände auf das heutige Niveau aufgefüllt. Da das Gelände vollständig im Strömungsschatten der Kranenbastion liegt, wirkte sich diese Auffüllung nicht auf den Hochwasserabfluss aus. Zur damaligen Zeit schloss sich unterhalb der Kaimauer eine unbefestigte Erdböschung an. Diese war durch unregelmäßige Auffüllungen des früher viel tiefer gelegenen Vorlandes entstanden. Etwas oberhalb der Eckbastion der Stadtbefestigung mündete die parallel zum Main verlaufende Kürnachableitung, die zuvor den Pleichacher Mühlgraben aufgenommen hatte. Der ziemlich breite, mit Wasser gefüllte Wallgraben, endete hier. Dieser verlief bis zur Pleichacher Torbrücke. Er diente als Überwinterungsplatz der Schiffe und war zum Fluss hin bis auf eine schmale Öffnung mit einem Steindamm abgeschlossen. Bei der Entfestigung wurde dieser Wallgraben 1877 eingefüllt und der städtische Schlachthof an dieser Stelle erbaut. ==== Linkes Mainufer ==== Der rechte Uferstreifen diente hauptsächlich dem Schiffsverkehr, das linke Ufer wurde überwiegend von Gewerbetreibenden genutzt. Die Fischer spannten hier ihre Netze auf und lagerten ihre Nachen. Die Schiffbauer nutzten es als Werftgelände. Zwischen der Festungsmauer und dem Fluss war der Uferstreifen damals nur etwa halb so breit wie heute und lag auch wesentlich tiefer. Er wurde häufig überflutet und lag nur etwa einen Meter über Niedrigwasser. Seine Böschung fiel steil zum Main ab. Es handelte sich nicht um ein natürliches Ufer. Vermutlich war es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Aushubmaterial vom Bau der Festungsmauer aufgefüllt worden. Der Wasserspiegel reichte damals bis zur Mitte der Landöffnung an der Alten Mainbrücke. Das Ufer zog sich in einem unregelmäßigen Verlauf bis zu der Sternenbastion hin. Nur durch das Dreikronentor und das Fischerpförtchen war das Ufergelände zugänglich. 1890 wurde das Dreikronentor, nachdem wegen der erheblichen Aufhöhung des Ufers keine ausreichende Durchfahrtshöhe mehr vorhanden war, abgebrochen. Die Hochwasserstaffel an der Alten Mainbrücke befindet sich etwas oberhalb davon. Das Ufer wurde unterhalb der Sternbastion wesentlich schmaler. Das unbefestigte Vorland war offensichtlich durch die zahlreichen Hochwasser weggespült worden. Dieser schmale genutzte Uferstreifen hatte seinen Zugang durch eine kleine Pforte. Zur damaligen Zeit standen etwas weiter unterhalb die Festungsmauer und der Dicke Turm noch vollständig im Wasser. Im Strömungsschatten des Dicken Turmes, der in den Fluss hineinragte, befand sich ein schmaler Uferstreifen. Angeblich störte dieser runde Artillerieturm den Hochwasserabfluss, weshalb er 1889 abgebrochen wurde. 1954 wurden bei der Neugestaltung des linken Mainufers die Fundamente freigelegt und der Turm wieder auf halbe Höhe aufgemauert. Mit Wasser umspült war auch die Eckbastion, die heutige Jahnterrasse am Viehmarktplatz. Diese Wasserfläche dehnte sich bis in den Wallgraben aus. Zum Schutz vor dem Hochwasser wurde an die Futtermauer des Wallgrabens gegenüber der Eckbastion eine mehrere Meter hohe Stützmauer angebaut. Diese übte allerdings einen recht ungünstigen Einfluss auf den Hochwasserablauf aus. Die Krone der Mauer war im Deutschen Krieg 1866 auf der zum Main hin abfallenden Glacisböschung mit Holzpalisaden bestückt. === Mainkorrektion von 1823 bis 1913 === Die unzureichende Fahrwassertiefe und der schlechte Zustand des Mains für die Schifffahrt veranlasste viele Betroffene, Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Regierung des Untermainkreises Abhilfe und Verbesserung zu beantragen. In den 1820er-Jahren ging man daran, mit Durchstichen die zahlreichen Flusswindungen zu beseitigen und damit einzelne Flussabschnitte zu verkürzen. Die Korrektionsarbeiten erfuhren 1830 einen lebhaften Aufschwung. Dieser kam auch durch den zur gleichen Zeit im Bau befindlichen Ludwig-Donau-Main-Kanal zustande. Mit der Einführung der Dampfschifffahrt im Jahre 1841 ergab sich eine weitere Steigerung des Schiffsverkehrs. Um eine größere Fahrwassertiefe für die Schifffahrt zu erzielen, versuchte man zunächst, an den besonders kritischen Stellen die Breite des Flusses durch Buhnen einzuschränken. Im späteren Ausbau versah man diese Buhnen aufgrund der inzwischen gesammelten Erfahrungen mit sogenannten Flügelbuhnen. Um die starken Ablagerungen zu verringern, wurde mittels durchgehender Leitwerke ab den 1850er-Jahren das Fahrwasser weiter verbessert. Diese Buhnenfelder sind teilweise heute noch sichtbar. 40 Zentimeter über Niedrigwasser wurde ursprünglich die Krone der Buhnen gelegt. Diese wurde später jedoch auf 75 bis 100 Zentimeter erhöht. Ebenfalls erhöht werden musste wegen häufiger Überflutung der Ziehweg für die Treidelschifffahrt. Über fast ein Jahrhundert zogen sich diese Arbeiten hin, die mit der Niedrigwasserregulierung der Strecke Schwarzenau–Schweinfurt abgeschlossen wurden. Das Pegelnetz am Main wurde während der Regulierungsarbeiten weiter ausgebaut. Man errichtete sogenannte Bau- und Niedrigwasserpegel neben den Hauptpegeln. Die Beobachtungen an diesen Pegeln begannen in der Regel erst, nachdem die Bauarbeiten in unmittelbarer Nähe der Pegel gerückt waren. An den Pegeln führten die Regulierungsarbeiten zu starken Veränderungen der Wasserstandsverhältnisse. Aufgrund der vergrößerten Räumkraft des Wassers in und oberhalb der Durchstiche kam es zu erheblichen Sohleeintiefungen. Der Wasserspiegel des Mains sank dementsprechend ab. Diese anhaltende Eintiefung hielt oftmals lange Zeit an und kam erst, wie in Viereth bei Bamberg, mit dem Bau der Staustufe zum Stillstand. In den Bereichen ohne Durchstiche, den Regulierungsabschnitten, erhöhte sich der Mainspiegel durch den Einbau der Leitwerke und der Buhnen. Durch die mit der Einengung des Flusses hervorgerufenen Sohleneintiefung sank der Wasserspiegel im Niedrigwasserbereich wieder ab. Bei höheren Wasserständen überwog dann wieder der Aufstau. Im größten Teil des Flusses kam es wegen der mehrmaligen Änderung der Höhenlage der Regulierungswerke, der fortwährenden Sohleneintiefung und auch der Baggerungen in den Verlandungsabschnitten in diesem Zeitraum zu keinen stabilen Verhältnissen. Der innere Stadtbereich von Würzburg blieb von der Mittelwasserregulierung ausgespart. Ein Grund dafür war der Umstand, dass bis zur Aufhebung der Festungseigenschaft die Flussufer zur militärischen Sperrzone gehörten. 1872 gab es ein Projekt, das Wehr in Würzburg zu beseitigen und den Main durch Leitwerke einzuengen. Dies scheiterte nicht zuletzt an den hohen Kosten. === Dampfschifffahrtshafenbau 1845/1846 === Eine Gruppe unternehmungslustiger Kaufleute gründete 1841 aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Zunahme des Verkehrs auf den Wasserwegen eine Dampfschifffahrtsgesellschaft. 1842 nahm die Gesellschaft zunächst zwei Schiffe in Betrieb. Für die beiden großen Schiffe benötigte man einen geschützten Liegeplatz. Der zur Schiffswinterung genutzte Teil des Wallgrabens war zu klein und auch zu stark belegt. Es wurde deshalb ein eigener Hafen am vorgelagerten Uferstreifen zwischen dem Schneidturm und der Eckbastion gebaut. Die Kürnachableitung mündete dort in den Main. Mit den Bauarbeiten wurde nach dem Ablauf des großen Hochwassers im März 1845 begonnen. Ein weiteres Hochwasser im Juni 1845 unterbrach zunächst die Bauarbeiten. 1846 konnte der Hafen nach einigen Schwierigkeiten in Betrieb genommen werden. Der Hafen befand sich etwa 100 Meter unterhalb des Pegels. Begrenzt wurde er landseitig durch die Stadtmauer und flussseitig durch einen gepflasterten Damm, an dem sich eine Berme für die Treidelschifffahrt hinzog. Durch eine schräg zum Fluss verlaufende Mauer war das Hafenbecken gegen Oberstrom abgeschlossen. Das Ufer wurde durch die Dammschüttung einige Meter in den Fluss vorgeschoben. Eine gepflasterte Uferböschung stellte den Anschluss zur Kranenkaimauer her. Die Kürnachableitung musste im unteren Teil durch den Bau des Hafens verlegt werden. Sie wurde entlang der Hafenmauer in einem festen Gerinne in den Main geführt. Für die Treidelschifffahrt diente eine kleine Ziehwegbrücke als Übergang. Zunächst erlebte die Dampfschifffahrt einen bemerkenswerten Aufschwung. Während dieser Blütezeit, die aber nur kurz anhielt, wuchs die Zahl der Dampfboote auf neun an. Aufgrund der 1854 in Betrieb genommenen Eisenbahnlinie Bamberg–Würzburg–Frankfurt und der Schwierigkeiten durch die meist nicht ausreichende Fahrwassertiefe in trockenen Sommern kam es oft zu tagelangen, manchmal sogar monatelangen Stilllegungszeiten. Der Schiffsverkehr ging stark zurück und wurde damit unrentabel, 1858 wurde er schließlich ganz aufgegeben. Das Hafenbecken, das zu einer erheblichen Einengung des Flussprofils geführt hatte und nach der Stilllegung der Schifffahrt nicht mehr benötigt wurde, verfüllte man 1861. Zwischen dem Hafendamm und der gegenüberliegenden Stützmauer der Glacisböschung bestand nur noch eine Durchflussbreite von knapp 100 Metern. Beim Abfluss eines größeren Hochwassers kam es deswegen zu einem beträchtlichen Aufstau. Eine geringe Erhöhung des Wasserstandes ergab sich bei Niedrigwasser durch die Vorverlegung des Ufers. Die Hochwasserabflussverhältnisse waren nach der Beseitigung des Hafens annähernd die gleichen wie vor dem Hafenbau. === Entfestigung der Stadt 1871 === Die Bevölkerung in Würzburg erwartete sehnlichst die Entfestigung ihrer Stadt. Diese ging in sehr großem Umfang vonstatten, was auch erhebliche Veränderungen an den Mainufern mit sich brachte. Am rechten Ufer wurde eine Kaimauer oberhalb des aus dem Jahr 1584 stammenden, auch Spiegeltor genannten, Schwanentores gebaut. Am linken Ufer wurde 1871 vorerst mit Schuttablagerungen zur Erhöhung der Tivolibastion bis kurz oberhalb des Dicken Turmes begonnen. Vor der Sternbastion schüttete man einen schmalen Damm auf. Dadurch verband man die bislang getrennten Uferstreifen miteinander. Unbefestigt blieb die steil abfallende Uferböschung. Die Auffüllungen endeten etwa 100 Meter oberhalb des Pegelprofils und waren stellenweise bis zu 2,5 Meter hoch. Diese Umbauarbeiten wirkten sich auf die Wasserstände am Pegel aus. In erster Linie wurden die höheren Wasserstände beeinflusst. === Hafenbau von 1874 bis 1877 === Während der Entfestigungsarbeiten wurde der rechtsmainische Wallgraben, der bisher als Winterhafen genutzt worden war, auf seiner ganzen Länge aufgefüllt. Als Ersatz wurde am rechten Ufer ein leistungsfähiger Hafen etwas unterhalb der Pleichachmündung, der heutige Alte Hafen, gebaut. Der Main musste, um genügend Platz für die Hafeneinrichtungen zu schaffen, auf einer Länge von etwa 700 Metern vollständig in das linke Vorland verlegt werden. Dort wurde eine neue Flussrinne ausgehoben und zum Teil aus dem Fels gesprengt. Für den Ausbau des Hafenbeckens mussten eine Anzahl alter Wehrbauten, die den Wasserstand ungünstig beeinflusst hatten, aus dem Flusslauf herausgenommen werden. Der Hafendamm wurde mit dem Aushubmaterial aufgeschüttet. Anschließend wurde die Böschung gepflastert und auch wieder eine Berme für die Treidelschifffahrt errichtet. 1877 erfolgte der Durchstich an der neuen Flussrinne. Der Hafendamm wurde noch im selben Jahr zum Land hin verlängert. Der frühere Flusslauf war damit abgeriegelt. Ein Ziehweg war inzwischen am linken Ufer angelegt worden. Dieser wurde nach Oberstrom verlängert, um den Dicken Turm herumgeführt und an die 1871 begonnenen Auffüllungen angeschlossen. Für die Treidelschifffahrt war damit ein bequemer Weg zur Schleuse im Umlaufkanal geschaffen. Entsprechend den früheren Ausbauvorschriften lag die Höhe des Ziehweges zwei Meter über Niedrigwasser. Am rechten Ufer errichtete man gleichzeitig mit der Auffüllung der alten Schiffswinterung eine neue Uferanlage. Die Neugestaltung der Mainufer im Bereich des Pegels war damit vorerst abgeschlossen. Die Bauarbeiten am Alten Hafen führten zu einer starken Beunruhigung der Wasserstände. Für den Zeitraum vom 1. Januar 1875 bis zum 31. März 1876 wich man deswegen auf den sieben Kilometer unterhalb vom Würzburger Pegel gelegenen Margetshöchheimer Pegel aus. Dieser zeigte allerdings aufgrund der Arbeiten zur Mittelwasserregulierung Unregelmäßigkeiten auf. Für diesen Zeitraum gibt es für den Würzburger Pegel keine Wasserstandslinien. Nachdem man den Main in sein neues Flussgerinne umgeleitet hatte, sank der Niedrigwasserspiegel um etwa 40 Zentimeter ab. Durch die Einengung des Profils überwog allerdings bei höheren Wasserständen der Aufstau. Der Hochwasserabfluss wurde durch den Hafenbau sehr nachteilig beeinflusst, da der Hochwasserstrom, bedingt durch die Festungsmauer am linken Ufer und die Stützmauer, in der gleichen Flucht wie die Glacisböschung direkt auf den Hafendamm gelenkt wurde. Diese hydrologisch außerordentlich ungünstigen Verhältnisse sind beim Wasserspiegelverlauf des Hochwassers 1882 deutlich zu erkennen. Der Hafendamm bewirkte eine enorme Stauwirkung. Am rechten Mainufer wurde bei den damals durchgeführten Wasserspiegelfixierungen ein jeweils um 30 Zentimeter höherer Wasserstand gemessen als am linken Mainufer. === Bau der Luitpoldbrücke von 1886 bis 1888 === Um die neue Ringstraße (Röntgenring) zur links des Mains gelegenen Zellerau fortzusetzen, war der Bau einer Brücke über den Fluss notwendig geworden. Von 1886 bis 1888 wurde die Luitpoldbrücke, die heutige Friedensbrücke, erbaut. Vermutlich im Sommer 1883 wurden bereits die den Hochwasserabfluss störenden Befestigungswerke am linken Mainufer abgebrochen, der Wallgraben wurde eingefüllt und das Gelände eingeebnet. Die Brücke quert den Main schräg und auch die Pfeiler stehen schräg zur Fließrichtung. Dennoch ergab sich insgesamt eine deutliche Verbesserung des Hochwasserabflusses gegenüber dem Zustand vor 1883. Die Brückenpfeiler verursachten bei Hochwasser zwar einen Aufstau, dies wirkte sich aber an der 550 Meter oberhalb der Brücke liegenden Hochwasserstaffel des Pegels kaum mehr aus. === Bau der Kaimauer von 1896 bis 1898 === In den Jahren 1896 bis 1898 wurde durch eine Kaimauer am linken Ufer von der Eckbastion bis zur Tivolibastion die unschöne und durch Hochwasserangriffe gefährdete Erdböschung geschützt. Die Mauer wurde dabei sehr weit in den Fluss vorgeschoben, um einen Aufstau durch die Einschränkung der Wasserspiegelbreite zu erzielen. Man wollte in diesem Bereich eine Verbesserung der unzureichenden Fahrwasserverhältnisse erreichen. An dem neu angelegten Ufer, das frei von Bewuchs war, wurde eine Straße errichtet. Der Bau der Kaimauer verursachte einen Aufstau des Maines, was sich hauptsächlich im höheren Abflussbereich bemerkbar machte. Bei einer Wasserführung von etwa 600 m³/s (Mittelwasser etwa 122 m³/s) zeigte die Abflusskurve eine deutliche Aufwölbung. Der Aufstau des Wassers betrug ungefähr 15 Zentimeter. === Fahrwasserbaggerung 1900 === Trotz der Verbesserung der Fahrwasserverhältnisse durch die neue Kaimauer reichten die Fahrwassertiefen noch nicht aus. Im Jahre 1900 wurden deshalb umfangreiche Baggerungen durchgeführt, um für die Schifffahrt bessere Fahrverhältnisse zu schaffen. Dabei wurde die gesamte bis zu einem Meter starke Kiesauflage entfernt. Im Niedrigwasserbereich sank daraufhin in den folgenden Jahren der Wasserspiegel um etwa 30 Zentimeter ab. === Bau eines Abwasserdükers 1901/1902 === Unterhalb der Luitpoldbrücke brachte der Bau eines Abwasserdükers eine starke Beunruhigung der Wasserstände am Pegel Würzburg mit sich. Die Arbeiten mussten dem damaligen Stand der Technik entsprechend mit Hilfe von Fangdämmen im Trockenen ausgeführt werden, die mit Rücksicht auf die Schifffahrt abschnittsweise eingebaut wurden. Für die Jahre 1900 bis 1902 wurden wegen der starken Beeinträchtigung der Wasserstände während der Baumaßnahmen die Abflussermittlungen am Pegel Margetshöchheim vorgenommen. === Bau der Staustufe Erlabrunn von 1932 bis 1935 === Mit dem Bau der Staustufe Erlabrunn bei Main-Kilometer 241,20 wurde 1932 begonnen. Davon blieben zunächst die Wasserstandsverhältnisse am zehn Kilometer oberhalb liegenden Pegel Würzburg unberührt. Nachdem 1934 der Stau in Erlabrunn errichtet worden war, erfolgte eine Anhebung des Niedrigwasserstandes am Pegel Würzburg um etwa 40 Zentimeter. Dieser Staueinfluss war allerdings gering und erstreckte sich nur bis etwa zum Mittelwasser. === Teilbaggerung der Großschifffahrtsrinne 1937/1938 === In den Jahren 1937/1938 wurde zunächst die Unterwasserbaggerung nur bis zum Alten Hafen durchgeführt. Dadurch wurde dieser an die von Unterstrom kommende Schifffahrtsrinne angeschlossen. Die Flusssohle keilte man oberhalb des Hafens aus. Man schaffte über die Strecke vom Alten Hafen bis zur Luitpoldbrücke einen Übergang, um von der tiefliegenden Sohle der Schifffahrtsrinne zur natürlichen Flusssohle zu gelangen. Die Wasserspiegelabsenkung, die daraufhin erfolgte, wirkte sich wegen des Staueinflusses der Stufe Erlabrunn nur bei höheren Wasserständen aus. Im Ablesebereich zwischen 200 und 300 Zentimeter betrug die Wasserspiegelabsenkung am Pegel etwa 15 Zentimeter. === Bauarbeiten der Flusssohle 1948 bis 1954 === Die durch den Krieg unterbrochenen Arbeiten wurden 1948 wieder aufgenommen. Die Bauarbeiten am Wehr und an der Schleuse hatten zunächst keinen Einfluss auf den Wasserstand am Pegel. Davor mussten aber noch die Abwasserdüker von 1901/1902 tiefer gelegt werden. 1952/1953 wurde die 450 Meter lange Kaimauer am linken Ufer um 5 bis 14 Meter zurückverlegt und damit eine Schiffsliegestelle im Unterwasser geschaffen. Während der Bauarbeiten blieb die alte Mauer als Schutz für die Baugrube bestehen. Die Baggerung der Großschifffahrtsrinne im Unterwasser einschließlich der Felsmeißelarbeiten dauerte von 1952 bis 1954. Stellenweise wurde dabei die Felssohle bis zu zwei Meter ausgemeißelt. Durch verbliebene Querrippen in der gebaggerten Schifffahrtsrinne verhinderte man ein zu starkes Absinken des Wassers und sicherte vor allem an der Kleinschleuse eine ausreichende Fahrwassertiefe. Erst nachdem die neue Schleuse für die Schifffahrt freigegeben war, wurden diese Rippen herausgenommen. Nach dem Entfernen der letzten Querrippe und nach dem Abbruch der alten Kaimauer sank der Wasserspiegel beträchtlich ab. Die Absenkung wirkte sich bei Niedrigwasser wegen des Staueinflusses von Erlabrunn nur geringfügig aus. Die Maximalabsenkung bei einem Pegelstand von etwa 300 Zentimetern betrug zirka 60 Zentimeter. Der Wert verringerte sich bei zunehmender Wasserführung und betrug beim Hochwasser 1970 nur noch 30 Zentimeter. Der Niedrigwasserspiegel ist am Pegel Würzburg bei gelegtem Stau in Erlabrunn infolge der Baumaßnahmen seit 1823 um etwa 200 Zentimeter abgesunken. Im gestauten Zustand beträgt die Absenkung immerhin noch etwa 100 Zentimeter. Die Baggerarbeiten für die Schifffahrt in der Nähe der Pegelanlage hatten keinen Einfluss auf den Wasserstand. === Fahrrinnenausbau 1988/1989 === Im Rahmen des Mainausbaus wurden 1988/1989 in der Stauhaltung Erlabrunn umfangreiche Baggerungen durchgeführt. Der Main wurde auf eine Fahrrinnenbreite von 40 Metern und eine Fahrrinnentiefe von 2,9 Metern ausgebaut. Dabei wurde im Unterwasser der Staustufe Würzburg im Bereich des Pegels die Fahrrinne verbreitert und vertieft. Die Pfeiler der nach dem Zweiten Weltkrieg in Friedensbrücke umbenannten Luitpoldbrücke wurden als Anfahrschutz vor Schiffen ummantelt. Die den Main kreuzenden und als Grundschwelle wirkenden Düker wurden beseitigt. Die dabei entstandene Wasserspiegelabsenkung machte eine Herabsetzung des höchsten Schifffahrtswasserstandes am Pegel Würzburg von 380 auf 330 Zentimeter erforderlich. == Bauwerke im Bereich des Pegels == === Schleusenanlagen === ==== Streichwehr ==== Auf bischöfliche Anordnung besichtigte eine Kommission des Rates noch während des Dreißigjährigen Krieges am 3. März 1643 mit dem fürstbischöflichen Baumeister Kaut und einem Frankfurter Mühlmeister die Gegebenheiten bei der Alten Mainbrücke, um dort eine Strömungsmühle zu errichten. Für die Mühle wurde ein Wehr im Main zum Antrieb des Mühlrades benötigt.Auf Anraten des Mühlmeisters wurde 1644 ein etwa 300 Meter langes und 1,2 Meter hohes Wehr, diagonal verlaufend und am dritten rechtsuferigen Pfeiler der Brücke endend, errichtet. Das obere Ende des Wehres liegt an den 260 Meter oberhalb der Brücke weit in den Main vorspringenden Mühlbastionen. Die Oberkante des Streichwehrs hatte eine Höhe von 168,03 bis 168,10 Meter über Normalnull. Rechts neben dem Pfeiler der Brücke, in der Brückenöffnung, befand sich das Nadelwehr. Die Floßgasse schloss sich nach Unterstrom an. Im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Wehren steht das Würzburger Wehr schräg zur Fließrichtung und hat eine nicht veränderliche Krone. Diese Art Wehr wird Streichwehr genannt. In erster Linie erfolgte aber der Bau des Wehres aus festungstechnischen Gründen. Die Sperrung des Fahrwassers und die einzige Umgehungsmöglichkeit des Wehres, der Umgehungskanal, der durch die Außenwerke der Festung Marienberg führte, waren vom Besitz der Festung abhängig. Durch diesen Aufstau änderten sich die Strömungsverhältnisse, da fast die gesamte normale Zuflussmenge zur Mühle abgeleitet wurde. Das Streichwehr wurde 1724 und 1729 unter der Leitung von Balthasar Neumann repariert. Kote erhöhte 1890/91 den Wehrrücken des Streichwehrs durch einen hölzernen Aufsatz um etwa 25 Zentimeter auf 168,28 bis 168,35 Meter über Normalnull. Bei diesen Bauarbeiten wurde der untere Teil des Streichwehres zum vierten Brückenpfeiler verlegt, um eine weitere Brückenöffnung für eine neue Floßgasse mit Trommelwehr zu ermöglichen. Dadurch entstand 95 Meter oberhalb der Brücke ein Knick in der Wehranlage. Beim Bau der Großschifffahrtsschleuse wurde 1953 das Wehr durch eine gleichmäßige Kappe aus Stein und Beton nochmals auf 168,5 Meter über Normalnull erhöht. ==== Nadelwehr ==== Um das 1644 errichtete Streichwehr, das die Durchfahrt der Schiffe und Flöße sperrte, zu umgehen, wurde im dritten Brückenbogen, Wehrloch genannt, ein Nadelwehr errichtet. Durch Ziehen der Nadeln senkte sich der Main oberhalb des Wehres ab und ermöglichte so, dass Flöße und Schiffe passieren konnten. Nach dem Einbringen der Nadeln stieg der Pegel wieder langsam an. Dieses praktizierte Verfahren war sehr mühselig und langwierig. Schiffe nutzten etwa 40 Jahre lang diese Methode, um dann den Umlaufkanal zu verwenden. Die mehreren Hundert Flöße im Jahr mussten aber weiterhin das Nadelwehr befahren, weil sie wegen ihrer Länge die Schleuse im Umlaufkanal nicht benutzen konnten. Um den Schiffen und Flößen unterhalb in der starken Strömung der Brücke eine Führung zu gewährleisten, wurden an beiden Pfeilern der Brücke breite Steindämme angesetzt. Flussabwärts wurde das Nadelwehr mittels der Strömung passiert, flussaufwärts fahrende Schiffe mussten, gegen die starke Strömung mit Seilen und Pferden in das Oberwasser gezogen werden.Etwa dreimal in der Woche, ab 13 Uhr, wurden Weiß- und Bretterflöße durchgelassen. Sogenannte Holländerflöße, die, wie es schon der Name andeutet, eine lange Reise vor sich hatten und wertvolleres Hartholz beförderten, durften das Wehr jederzeit passieren. Das Passieren des Wehres nahm etwa vier bis fünf Stunden in Anspruch. Bei dem Passiervorgang lief die Stauhaltung leer und das Unterwasser schwoll erheblich an. Bei geschlossenem Wehr und dem Wiederbefüllen der Stauhaltung fiel das Wasser im Unterwasser stark ab, so dass es oftmals stundenlang für die Schifffahrt fehlte. Erst nach Erreichen des Vollstaus und der Inbetriebnahme der Mühlen normalisierte sich der Wasserspiegel wieder. Das Nadelwehr wurde 1724 und 1729 durch Balthasar Neumann repariert und bis 1892 genutzt. 1894/95 wurde es renoviert und 1934 bei einer weiteren Sanierung umgebaut. Es diente daraufhin nur noch der Hochwasserabführung und war bis zum Jahre 1948 in Betrieb. Es wurde durch ein Klappenwehr, auch Fischbauchklappe genannt, mit elektrischem Antrieb ersetzt. Bei dieser Art von Wehr wird die Stauhöhe durch eine bewegliche Klappe hergestellt.Für den Pegel von Interesse war die in diesem Zusammenhang stehende Beunruhigung des Niedrigwasserabflusses. In der langen Zeit der Pegelbeobachtung und der Nutzung des Nadelwehres kam es, wenn auch nicht allzu häufig, in den Beobachtungslisten zu auffälligen Wasserstandsänderungen. Diese Abflusswerte konnten jedoch durch den Vergleich mit Nachbarpegeln berichtigt werden. ==== Umgehungskanal ==== Von 1675 bis 1680 wurde ein Umgehungskanal oder Umlaufkanal gebaut, um das Passieren der Schiffe zu erleichtern. Dieser Schifffahrtskanal umging auf einer Länge von etwa 500 Metern das Wehr und die Mühle. Er begann oberhalb des Burkharder Tores, ging hinter der Burkharder Kirche vorbei, die deswegen um zwei Joche gekürzt werden musste, und mündete unterhalb des Wehrs wieder in den Main. Im Umlaufkanal, in dem sich auch ein Anlegeplatz befand, wurde eine Schleusenanlage mit beiderseitigen Torverschluss aus Holz mit 47 Meter Länge und 6,5 Meter Breite errichtet, um eine Höhe von 1,2 Meter zu überbrücken. Für den damals bedeutenden Schiffsverkehr stellte die Durchfahrt durch den engen Kanal wegen der unzureichenden Wassertiefen und wegen der geringen Durchfahrtshöhe einen sehr beschwerlichen Weg dar. Vom Umlaufkanal aus ging auch ein Gerinne ab, an dem die Kanalmühle lag. 1892 wurde die alte Schleuse im Umlaufkanal aufgegeben und wegen Baufälligkeit in den 1920er-Jahren abgebrochen. Beim Bau der Großschifffahrtsschleuse wurde der Umlaufkanal 1953 bis auf einen kleinen Teil an der oberen Eckbastion eingefüllt. ==== Kleinschleuse ==== Um den beschwerlichen Weg durch den Umlaufkanal zu vermeiden und die Durchfahrt der Flöße durch das Wehr zu beschleunigen, beschloss die Königliche Baubehörde für die Schifffahrt den Bau einer Kleinschleuse am Streichwehr und eine weitere Öffnung für den Floßverkehr an der Alten Mainbrücke. In den Jahren 1891 und 1893 wurde oberhalb der Alten Mainbrücke die heute verfallene Kleinschleuse errichtet. Sie war 55 Meter lang, 10,5 Meter breit, hatte eine Tiefe von etwa einem Meter und konnte von Schiffen bis 600 Tonnen Tragkraft benutzt werden. Zum Bau der Kleinen Schleuse mussten das südliche Ende des Streichwehrs und auch die dort in den Main hineinragende Mühlenbastion abgeschnitten werden, um Platz für die Anlage zu gewinnen. ==== Großschleuse ==== Von 1950 bis 1954 wurde die heute noch genutzte Großschifffahrtsschleuse neben der Kleinen Schleuse erbaut. Diese Arbeiten gestalteten sich schwierig, weil die Alte Mainbrücke unter Denkmalschutz steht und mit ihren nicht allzu weiten Bögen mit 18 Metern Breite, die zudem auch recht niedrig waren, ein großes Hindernis für die großen Schiffe darstellte. Man entschied sich dafür, die Große Schleuse oberhalb der Brücke zu errichten und den unteren Einlass unmittelbar an die Brückenöffnung anzuschließen. Die Fahrrinne musste deswegen unterhalb der Brücke erheblich tiefer gelegt und mit Leitwerken versehen werden. Im oberen Bereich der Schleuse musste die Mühlenbastion teilweise abgebrochen und um 15 Meter landeinwärts gekürzt werden, um eine gefahrlose Einfahrt zu gewährleisten. Die Schleuse hat eine Länge von 300 und eine Breite von 12 Metern. ==== Trommelwehr ==== Für den gestiegenen Floßverkehr wurde 1891/92 im vierten Brückenbogen ein Trommelwehr errichtet. Bei diesem Trommelwehr handelt es sich um eine für die damalige Zeit gänzlich neuen Wehrverschluss. Das Trommelwehr besteht aus einer zweiflügeligen eisernen Klappe von 10,8 Meter Breite und einer ursprünglichen Gesamthöhe von 4,1 Metern. Die Klappe drehte sich um eine waagrechte Achse. Beim Aufrichten der Klappe sperrt die obere Hälfte den Wehrdurchlass und die untere Hälfte ist in einen unter der Wehrsohle befindlichen Hohlraum eingeschlossen, die Trommel genannt wird. Außerdem wurde eine neue, durch zwei je 125 Meter lange Dämme seitlich geführte Floßgasse gebaut. Durch das neue Trommelwehr konnten die Wasserschwankungen im Unterwasser und die Beeinträchtigungen der Schifffahrt stark herabgesetzt werden. Das Trommelwehr erlaubte ein rasches Öffnen und Schließen des Verschlusses. 1934/35 wurde es auf einen höheren Stau umgebaut und 1970 ebenfalls durch ein Klappenwehr (Fischbauchklappe) ersetzt. === Mühlen === Der Betrieb der Mühlen übt einen Einfluss auf die Strömungsverhältnisse des Maines und eine Beunruhigung des Wassers im Bereich des Pegels, in erster Linie während des Niedrigwasserabflusses aus. Bei Niedrig- bis Mittelwasser läuft zu Zeiten des Mühlenbetriebes beinahe das gesamte Wasser über die Mühlen statt über das Streichwehr ab. Der Betriebszustand und die dementsprechende Steuerung des Zu- und Ablaufs des Wassers beeinflusst dies auch. ==== Untere Mainmühle ==== Während des Baus des Streichwehres 1644 wurde am rechten Mainufer auch die Untere Mainmühle unterhalb der Alten Mainbrücke errichtet. Der Einlass der Mühle, der sich unter dem zweiten Brückenbogen befand, hatte ein Gerinne von 5,5 Metern Breite, das vier Räder mit je 2,2 Meter Breite und einem Durchmesser von fünf Metern antrieb. Im 19. Jahrhundert wurde eines der Mühlräder entfernt. Unterhalb der Mühle lag noch eine durch Wasserkraft betriebene Hammerschmiede mit drei Schwanzhämmern, die etwa um 1680 entstanden war. Bei der Mühle befand sich auch eine Badeanstalt mit Wellenbad. ==== Kraftwerk Untere Mainmühle ==== Als 1921 die Rhein-Main-Donau-AG die Wasserrechte der Mühlen erworben hatte, wurde die Untere Mainmühle abgebrochen. An dieser Stelle wurde anschließend mit dem Bau eines neuen Kraftwerkes begonnen. Der Bau des Krafthauses war im August 1922 vollendet. Die Gebäudeflügel, die sich an die Brücke anschließen, wurden zwischen Herbst 1922 und Juli 1923 errichtet. Das Kraftwerk wurde mit zwei Francis-Turbinen ausgestattet, die Strom nach Würzburg lieferten. Bei diesen Bauarbeiten mussten die Hammerschmiede und das Wellenbad weichen. Die Mühle unterhalb des Streichwehrs benötigte bei Mittelwasser fast das gesamte Mainwasser, das durch den Aufstau durch die Brückenöffnung zur Mühle abgeleitet wurde. Beim Betrieb des Nadelwehres mussten die Mühlenbetreiber den Betrieb einstellen, was damals zu Beschwerden und Reibereien zwischen den Beteiligten führte. Das Kraftwerk Untere Mainmühle wurde in den Jahren 1950 bis 1952 modernisiert und erhielt neue Maschinen. In den Jahren 1987/1988 fanden umfassende Sanierungsarbeiten statt. Das Kraftwerk wurde automatisiert und mit drei leistungsstarken Kaplan-Rohrturbinen ausgestattet. ==== Obere Mainmühle ==== Das Streichwehr erzeugte eine ansehnliche Wasserkraft, so dass auf der linken Mainseite auch noch die Obere Mainmühle, oder Hoffmannsmühle bei der Mühlbastion betrieben werden konnte. Diese wurde unter Fürstbischof Johann Philipp von Schönborn, der auch schon die Untere Mainmühle erbaut hatte, in den Jahren 1656/1657 errichtet. Die Mühle war mit einem Druckwerk zur Wasserversorgung der Festung Marienberg und des Hofbräuhauses (damals im fürstbischöflichen Besitz) ausgestattet. Beim Luftangriff auf Würzburg am 16. März 1945 wurde sie zerstört. ==== Kanalmühle ==== Die Errichtung des Umgehungskanals nutzte man aus, um 1676 eine dritte Mühle, die Kanalmühle an der Burkarderstraße, zu errichten. Ermöglicht wurde dies, indem man in den Umgehungskanal oberhalb der Kanalschleuse ein Gerinne ableitete, das bis an die Burkarderstraße und dann wieder zum Unterwasser des Kanals führte. Die Mühle besaß drei große unterschlächtige Wasserräder, wobei das Wasser unterhalb der Radmitte durchfloss und die Schaufeln des Rades antrieb. Sie war ebenfalls an die Wasserversorgung der Festung und des Hofbräuhauses angeschlossen. Genutzt wurde die Mühle bis 1927. Beim Luftangriff auf Würzburg wurde sie zerstört. Die Ruinen wurden beim Bau der Großschifffahrtsschleuse beseitigt. === Brücken === Die Pfeiler der Brücken verursachen einen gewissen Stau des Mains und beeinflussen die Strömungsverhältnisse. Nach längeren Frostperioden und anschließendem Eisabgang kommt es dort zu Aufstauungen. Bei Hochwasser kann es durch Treibholz, das sich an den Pfeilern verkeilt, ebenfalls zu einem Aufstau und Änderung der Strömungsverhältnisse kommen. ==== Alte Mainbrücke ==== Die Alte Mainbrücke ist eine der ältesten Brücken am gesamten Main. Der erste Bau geht auf das 12. Jahrhundert (1133 erstmals urkundlich erwähnt) zurück. Bei Hochwassern, beispielsweise in den Jahren 1306, 1342 und 1442, wurde die Brücke mehrmals vollständig oder teilweise zerstört. Auch das Hochwasser von 1784 führte zu Schäden an der Brücke. Der vierte und der fünfte Brückenbogen wurden am 2. April 1945 von den sich zurückziehenden deutschen Truppen gesprengt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von amerikanischen Pionieren mit Stahlträgern eine Behelfsbrücke über den zerstörten Abschnitt errichtet, um der Bevölkerung in eingeschränktem Maß wieder die Überquerung des Mains zu ermöglichen. Von April bis Juli 1950 erfolgte der Wiederaufbau der Brücke. An ihr befindet sich seit 1823 eine Hochwasserstaffel. ==== Luitpoldbrücke ==== Infolge des stark steigenden Verkehrs wurden im Zuge des Fortschreitens der Entfestigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leistungsfähigere Brücken angelegt. Die Luitpoldbrücke, die heutige Friedensbrücke, wurde 1886 flussabwärts vom Pegel errichtet und 1888 für den Verkehr freigegeben. Sie besteht aus sieben Bögen, die von sechs Pfeilern getragen werden. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Brücke zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Durch die Trümmerteile kam es zu einem starken Aufstau des Mains, der den Pegel beeinflusste. Die Brücke wurde zur Anpassung an den Verkehr bis 1999 verbreitert und die zwei im Wasser stehenden Pfeiler mit einem Anfahrschutz vor Schiffen ummantelt. Diese Pfeiler bilden ein nicht ungefährliches Hindernis für die Schifffahrt, verursachen aber auch einen geringen Aufstau. ==== Ludwigsbrücke ==== Nach der Entfestigung auf der Südseite, die zögerlicher voranschritt als im Norden, wurde 1896 eine weitere Brücke gebaut. Mit der Projektierung der Ludwigsbrücke, im Volksmund wegen der vier großen Löwenstatuen an den beiden Auffahrten auch Löwenbrücke genannt, wurde im April 1885 begonnen. Die Planungen gehen auf das Jahr 1882 zurück, bedingt durch die Bauarbeiten der Ringstraße, die bis zum Main verlängert worden war. Die Brücke hat fünf Bögen mit je 36 Metern Spannweite, zwei der insgesamt vier Brückenpfeiler stehen im Main. Die Steinbrücke wurde ebenfalls gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört und später wieder völlig im früheren Zustand errichtet. == Hochwasser == === Hochwasserjährlichkeiten === Die Häufigkeit, mit der eine Wasserstandshöhe oder Abflussmenge am Pegel erreicht oder überschritten wird, wird als Jährlichkeit bezeichnet. Anhand dieser Werte und durch Anpassung einer Verteilfunktion können so die Höchstabflüsse (HQ) bis zu einem tausendjährlichen Hochwasser bestimmt werden. Am Pegel Würzburg wurden diese Werte aus dem Beobachtungszeitraum 1901 bis 1997 ermittelt. Die so ermittelten Jährlichkeiten lassen sich nur beim Abfluss mit den älteren Hochwasserereignissen vergleichen. Da heute durch die baulichen Änderungen im Bereich des Pegels bei gleichem Abfluss deutlich niedrigere Wasserstände erreicht werden, ist darauf zu schließen, dass bei gleicher Jährlichkeit die früheren Hochwasserereignisse höhere Wasserstände erreichten. === Meldestufen === Der Hochwassermeldebeginn startet bei einem Pegel von 290 Zentimetern. Bei 340 Zentimetern am Pegel wird die Hochwassermarke I erreicht, bei der der Schiffsverkehr eingestellt wird. Bei einem Pegel von 400 Zentimetern wird die Hochwassermarke II erreicht. Bei einem Pegel von 510 Zentimetern wird die Hochwassermarke III und ab 600 Zentimeter die Hochwassermarke IV erreicht.Ab einem Pegel von 300 Zentimetern tritt der Main über die Ufer. Ab einem Wasserstand von 340 Zentimetern am Pegel wird der Parkplatz an der Löwenbrücke überflutet. Bei 360 Zentimetern wird die Bahnunterführung zum Neuen Hafen überflutet. Ab einem Wasserstand von 380 Zentimetern ist der provisorische Hochwasserschutz am Mainkai notwendig. Ab 410 Zentimeter am Pegel wird der untere Ludwigkai überflutet und von einem Pegel von 475 Zentimetern an ist der Hochwasserschutz am Kranenkai erforderlich. Bei 480 Zentimetern wird der provisorische Hochwasserschutz am Mainkai bei der Durchfahrt Alte Mainbrücke überflutet und der Hochwasserschutz an der Karmelitenstraße ist erforderlich. Bei 500 Zentimetern wird die Unterführung bei der Löwenbrücke überflutet und bei 520 Zentimetern der Obere Mainkai. Ab 530 Zentimetern werden Pleichtor-, Karmeliten- und Gerberstraße geflutet. Bei einem Pegelstand von 570 Zentimetern werden die Seilerstraße, die Maingasse und die Mühlengasse und ab 590 Zentimetern die Mergentheimer Straße bei der Alten Mainbrücke überschwemmt. Ab 650 bis 670 Zentimetern wird der provisorische Hochwasserschutz, der den zentraleren Stadtbereich schützt, überflutet. Die Untere Domstraße und die Einmündung von der Augustinerstraße wird ab einem Pegelstand von 710 Zentimetern überflutet. === Hochwasserlaufzeiten === Eine unverformte Hochwasserwelle am Main benötigt etwa eineinhalb bis zwei Tage, um von Trunstadt und dem dortigen Pegel unterhalb der Regnitz-Einmündung bis nach Würzburg zu gelangen. Von Schweinfurt bis Würzburg beträgt die Laufzeit der Welle für die 78,8 Kilometer lange Flussstrecke im Durchschnitt 21 Stunden. Diese Zeitspanne bietet der Stadt Würzburg die Möglichkeit, die Höhe des Hochwassers abzuschätzen und dementsprechend darauf zu reagieren. Am nächsten Pegel bei Steinbach, der 51,4 Kilometer flussabwärts liegt, dauert es sieben bis acht Stunden, bis dort die Hochwasserwelle von Würzburg eintrifft. Der Pegel Würzburg umfasst die Zwischeneinzugsgebiete 969,20 km² flussabwärts bis Steinbach und 1051,70 km² flussaufwärts bis Pegel Astheim, die, je nachdem wie stark die Hochwasserwellen der mainaufwärts gelegenen Nebenflüsse ausgeprägt sind und zeitlich mit dem Mainscheitel zusammentreffen, die Hochwasserwelle beeinflussen. === Hochwasserschutz === Die Stadt Würzburg wurde in den letzten Jahrhunderten öfters von verheerenden Hochwassern heimgesucht. Diese reichten mehrmals bis zum Rathaus, aber auch vereinzelt bis zum Dom hinauf. Das 20-jährliche Hochwasser 1970 verursachte große Schäden. Aufgrund dieses Ereignisses beantragte die Stadt Würzburg, vertreten durch das Wasserwirtschaftsamt Würzburg, beim Freistaat Bayern den Bau eines Hochwasserschutzes, um den rechtsmainischen Altstadtbereich zwischen der Friedensbrücke und der Löwenbrücke zu schützen. Die linksmainischen und die anderen Gebiete auf der rechten Mainseite liegen größtenteils höher. Der erste provisorische Hochwasserschutz stammt aus dem Jahre 1983 und war bis zu einem Pegel von etwa 650 bis 670 Zentimetern ausgelegt. Dies entspricht etwa einem 20-jährlichen Hochwasser. Seitdem ist die Stadt bestrebt, das gefährdete Stadtgebiet mit einer Fläche von etwa 25 Hektar, in dem rund 3000 Menschen leben, gegen ein 100-jährliches Hochwasser zu schützen, was einem Pegelstand von 835 entspricht, etwa dem Hochwasser von 1845.Die Kosten für den vollständigen Hochwasserschutz belaufen sich auf etwa 18 Millionen Euro, wobei der Freistaat Bayern 67 Prozent übernimmt. Bis zum Jahre 2008 wurde der Hochwasserschutz in Würzburg fertiggestellt. === Eisverhältnisse === Der Main neigte wegen seiner geringen Wassertiefe in früherer Zeit stark zur Vereisung. Wegen der geringen Tiefe unterkühlte das Wasser rasch. Es kam, beginnend in strömungsschwachen Flussbereichen, zu umfangreichen Treibeis- und Grundeisbildungen bei anhaltendem Frost. Die abtreibenden Eismassen füllten oft die ganze Flussbreite aus, bis sie an einer Engstelle zum Stehen kamen. Der Eisstand wanderte bei weiter anhaltender Treibeiszufuhr schnell stromaufwärts. Die Vereisung führte meist auch zu einer Anhebung des Wasserstandes, dem sogenannten Eisstau. Durch geringes Anschwellen wurden in der Regel der Aufbruch und der Abgang des Eises ausgelöst. Wenn durch einen plötzlichen Frosteinbruch der Eisgang unterbrochen wurde, kam es manchmal zu Eisversetzungen mit beträchtlichem Aufstau.Die Eisstauungen in Würzburg häuften sich durch erhebliche Eismassen nach der Errichtung der Staustufe in Erlabrunn im November 1934. Das Eis trieb aus der oberhalb der Staustufe freiliegenden Mainstrecke ab und kam im gestauten Wasser unterhalb von Würzburg zum Stehen. Die Eisschollen schoben sich dabei über- und untereinander und füllten häufig die gesamte Flussbreite aus. In den besonders strengen Wintern 1939/1940, 1940/1941 und 1946/1947 wurden auch die Wasserstände am Pegel Würzburg durch den Eisstau stark beeinflusst. Als die Staustufen oberhalb von Würzburg fertiggestellt waren und damit die Treibeiszufuhr unterbunden war, besserten sich die Verhältnisse. Die Mainstrecke Würzburg–Ochsenfurt mit drei Staustufen wurde 1954 eröffnet.Am Main bilden sich heute während einer Frostperiode in den einzelnen Stauhaltungen oberhalb der Wehre sofort geschlossene Eisdecken. Diese Eisdecke kann schnell über die gesamte Stauhaltungslänge anwachsen. Durch die Eisdecke werden die angestauten Wassermassen in den einzelnen Haltungen vor allzu großer Unterkühlung geschützt und wirken als Wärmespeicher, so dass sich kein nennenswertes Treib- und Grundeis mehr bildet. Im gestauten Main entsteht deshalb bei gleicher Frostlage wesentlich weniger Eis als früher im ungestauten Zustand. Diese Wirkung wird noch durch die Aufheizung des Mainwassers infolge der zunehmenden Abwasser- und Warmwassereinleitungen unterstützt. === Hochwasserereignisse === Die Abflussverhältnisse und die daraus resultierenden Wasserstände änderten sich im Laufe der Zeit. Durch den stetigen Ausbau des Mains steigt der Abfluss bei gleichem Wasserstand. Bei gleichem Hochwasserscheitel heute und zu Beginn der Messreihe kann heute mehr Wasser abfließen. Das Hochwasser vom 20. Januar 1841 erreichte bei einem Abfluss von 1318 m³/s einen Wasserstand am Pegel von 709 Zentimetern. Etwa 160 Jahre später und nach vielen baulichen Änderungen im und am Fluss, erreichte das Hochwasser vom 6. Januar 2003, bei einem geringfügig höheren Abfluss von 1350 m³/s, einen Pegelstand von 648 Zentimeter. Dementsprechend hat die Anzahl der hohen Wasserstände abgenommen. Am Pegel Würzburg erreichten sechs Hochwasser (drei im 19. und drei im 20. Jahrhundert) einen Abfluss von mehr als 1500 m³/s; der Wert im 20. Jahrhundert lag aber deutlich niedriger als im Jahrhundert davor. Insgesamt 24 Fluten erreichten einen Abfluss von 1000 m³/s, wobei sich 14 im 19. und nur 9 im 20. Jahrhundert ereigneten. Insgesamt wurde seit 1823 die Siebenmetermarke zehnmal überschritten, siebenmal im 19. und dreimal im 20. Jahrhundert.Ausführliche Angaben über historische Hochwasser in Würzburg siehe Hochwasser in Würzburg. === Historische Hochwasser === Anhand der Aufzeichnungen von Historikern aus den früheren Jahrhunderten, die den Hochwasserablauf, die Eisverhältnisse und die verursachten Schäden schildern, und der an Gebäuden am Main angebrachten Hochwassermarkierungen konnten einige der höchsten Wasserstände der letzten etwa 700 Jahre festgestellt werden.Das höchste Hochwasser am Main und in Würzburg war das von 1342, auch Magdalenenhochwasser genannt. Auf den Pegel bezogen, hatte dieses Hochwasser einen Stand von 950 bis 1030 Zentimetern bei einem Abfluss von 3050 bis 3600 m³/s. Dieses Ereignis wird als ein mehr als tausendjährliches Hochwasser bezeichnet. In der jüngeren Zeit ereignete sich am 29. Februar 1784 ein extremes Hochwasser, mit einem Pegelstand von 928 cm, bei einem Abfluss von 2600 m³/s. Dieses Ereignis wird als etwa 500-jährliches Hochwasser eingestuft.Bedingt durch die baulichen Änderungen im Bereich des Pegels basieren die historischen Jährlichkeitsangaben nur auf dem Abfluss, da die damaligen Pegelstände deutlich höher waren als heute und so zu verfälschten Jährlichkeiten führen würden. == Literatur == Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (Hrsg.): 175 Jahre Pegel Würzburg – Daten und Fakten. Böhler Verlag, Würzburg 1999. Franz Seberich: Die alte Mainbrücke zu Würzburg. Mainfränkische Hefte, Heft 31, Buchdruckerei Karl Hart, Volkach vor Würzburg, Würzburg 1958. Martin Schmidt: Hochwasser und Hochwasserschutz in Deutschland vor 1850. Kommissionsverlag Oldenbourg Industrieverlag München, München 2000, ISBN 3-486-26494-X. Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd (Hrsg.): Information – Main – Main-Donau-Kanal – Donau. Druckerei und Verlag Pius Halbig GmbH, Würzburg 1997. Heinz Schiller: Ermittlungen von Hochwasserwahrscheinlichkeiten am schiffbaren Main und überregionaler Vergleich der Ergebnisse. in Informationsberichte des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft, München 1989. Rüdiger Glaser: Historische Hochwässer im Maingebiet – Möglichkeiten und Perspektiven auf der Basis der Historischen Klimadatenbank Deutschland (HISKLID). in Erfurter Geographische Studien, Band 7, 1998. Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft (Hrsg.): Spektrum Wasser 1 – Hochwasser – Naturereignis und Gefahr. Universitätsdruckerei und Verlag Dr. C. Wolf & Sohn GmbH & Co. KG, München 2004, ISBN 3-930253-93-3. Franz Seberich: Die Stadtbefestigung Würzburgs II. Mainfränkische Hefte, Heft 40, Hartdruck Volkach vor Würzburg, Würzburg 1963. == Weblinks == Pegel Würzburg bei Würzburg.de (Memento vom 8. November 2007 im Internet Archive) Pegel Würzburg beim Hochwassernachrichtendienst – Bayern (HND) Pegel Würzburg beim Elektronischen Wasserstraßen-Informationssystem (ELWIS) Pegel Würzburg bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde (BFG) Hochwasserschutz Würzburg beim Wasserwirtschaftsamt Aschaffenburg Entwässerungsbetrieb Würzburg (EBW) HochwasserAktionsplan Main == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Pegel_W%C3%BCrzburg
Porträt des Ohm Friedrich Corinth
= Porträt des Ohm Friedrich Corinth = Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth ist ein Ölgemälde des deutschen Malers Lovis Corinth. Es ist als Hochformat auf Leinwand ausgeführt und hat die Maße 98 × 79 Zentimeter. Das Porträt seines Ohm entstand 1900 bei einem Besuch des Künstlers bei seinem Onkel in Moterau (heute Sabarje) in Ostpreußen. Es befand sich bis 1987 im Besitz der Familie Corinth, zuletzt bei Wilhelmine Corinth in New York City. Danach wurde es von der deutschen Bundesregierung für das neu gegründete Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg angekauft, in dessen Sammlung es sich bis heute befindet. == Bildbeschreibung == Das Gemälde zeigt Friedrich Corinth, den Onkel des Künstlers, in dessen Wohnzimmer auf einem Holzstuhl sitzend. Er ist in einen braunen Morgenrock gekleidet und sitzt im Gegenlicht vor einem geöffneten und hell erleuchteten Fenster. Der rechte Arm hängt nach unten, der linke liegt auf dem linken Oberschenkel und schließt die Körperform. Das Licht des Fensters teilt den Raum in eine helle linke und eine dunklere rechte Seite, wodurch vor allem das Gesicht und die linke Hand hervorgehoben und die Haltung auf dem Stuhl betont wird. Der Körper ist vom grauen Rock verhüllt, Konturen werden „im Vagen“ gehalten. Das Gesicht ist dem Betrachter und dem Maler zugewandt, die hell-blauen Augen sind geöffnet und schauen den Maler und Betrachter direkt an. Es ist vom dichten grauen Kopfhaar und dem kräftigen Backenbart umrahmt, der das Kinn frei lässt. Auch Charlotte Berend-Corinth erwähnt in ihrem Werkverzeichnis die leuchtend hell-blauen Augen und das üppige dunkelgraue Haupthaar. Die Möblierung des Zimmers ist nur undeutlich zu erkennen. Rechts neben dem Holzstuhl befindet sich eine hüfthohe Kommode oder ein Tisch, das helle Fenster hinter dem Onkel endet in etwa gleicher Höhe mit einer Fensterbank und wird von hellen Gardinen gesäumt, die nach Charlotte Berend-Corinth „in hellem Gelb“ gemalt sind. An der Wand links des Porträtierten befindet sich ein Bild, auf dem eine stehende Person vor einem See zu erkennen ist. Am oberen rechten Rand ist das Bild mehrzeilig signiert und beschriftet mit „Mein Ohm 78 J. a Moterau bei Tapiau Juli 1900 Lovis Corinth“. == Deutung == Die Kunsthistorikerin Andrea Bärnreuther deutet die Nutzung des Gegenlichtes und die damit nur undeutlich erkennbare Gestalt des Onkels als „die Würde der Person achtende Zurückhaltung des Bildes“ [und Künstlers], der dem Porträtierten „das Geheimnis des Lebens [beläßt], das sich der festlegenden Bestimmung entzieht“. Sie resümiert weiter: „In der ruhigen Gelassenheit dessen, der auf den Tod wartet, wendet der Ohm sein Gesicht mit weit geöffneten Augen und leicht geöffnetem Mund dem Betrachter zu. Es ist der Blick eines Menschen, der sein Leben gelebt hat – der Blick eines Lebens auf Abruf.“Bärnreuther führt weiter aus, dass Corinth „mit der Einbeziehung des Interieurs in die Darstellung“ den Blick öffnet „über die geistig-körperliche Erscheinung des alt gewordenen Mannes hinaus in die Abgeschlossenheit seiner begrenzten häuslichen Sphäre, die den Dargestellten am Rande der Gesellschaft zeigt.“ Diese Gesellschaft beschreibt sie als „im Wandel begriffen“, die „den Kult der Jugend“ durch „den Zerfall der alten Ordnungen“ kommen sieht. Sie bezieht das Bild auf das zwei Jahre später von Corinth gemalte Porträt des Dichters Peter Hille. Mit beiden gelingt Corinth „mit der Auffassung des Porträts als Gestus im gesellschaftlichen Raum der Vorstoß in die Darstellung sozialer Existenz“.Sabine Fehlemann, die ehemaligen Direktorin des Von der Heydt-Museums in Wuppertal, stellte das Bild in den Kontext der künstlerischen Entwicklung Corinths. Gemeinsam mit den Bildern Porträt der Mutter Rosenhagen und Die Geigenspielerin, auf dem er mit Margarete Marschalk die spätere Ehefrau Gerhart Hauptmanns porträtierte, zeigt für sie das Porträt des Ohm Friedrich Corinth wie er „auch im Porträt die feste akademische Form der Gestaltung immer mehr verläßt, um Stimmung und Atmosphäre mehr und mehr einfließen zu lassen.“ == Hintergrund und Entstehung == === Der Onkel und die Tante in Moterau === Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth malte Lovis Corinth während eines Aufenthalts bei seinem Onkel im Juli 1900. Lovis Corinth entstammte einer landwirtschaftlich geprägten Familie in Tapiau in Ostpreußen, dem heutigen Gwardeisk. Sein Vater war Landwirt und durch Heirat mit seiner Mutter, einer Witwe, auch Gerber des Ortes. Die Verwandtschaft Corinths lebte in den umliegenden Dörfern. Auch der Onkel Friedrich Corinth war Landwirt und lebte in Moterau (heute Sabarje). Lovis Corinth besuchte sie regelmäßig und beschrieb sie auch in seinen Kindheitserinnerungen als Anekdote zu den Besuchen an hohen Feiertagen: Corinth porträtierte seinen Onkel und seine Tante 1880 bereits in zwei seiner frühesten Ölskizzen als Porträt des Ohm in Moterau und Porträt der Tante in Moterau. Er begann 1876 seine künstlerische Ausbildung an der Königlichen Kunstakademie in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, und blieb dort bis 1880, als er auf Empfehlung seiner Lehrer nach München ging. Die beiden Bilder mit einem Format von jeweils 42 cm × 32 cm verblieben nach Fertigstellung bei den Verwandten in Moterau und wurden später an einen R. Stange in Heiligenbeil, heute Mamonowo, weitergegeben. Der spätere und heutige Verbleib beider Porträts ist unbekannt. Der Kunsthistoriker Alfred Kuhn veröffentlichte in seiner Corinth-Monografie von 1925 eine Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1879, die die Tante, den Ohm und einen „Otto“ in Moterau zeigen. Aus dem gleichen Jahr stammen Zeichnungen der Ställe und der Küche auf dem Hof seines Onkels. Charlotte Berend-Corinth notierte in ihrem Werkverzeichnis Lovis Corinth: Die Gemälde, dass diese beiden Bilder die ersten Arbeiten Corinths waren, die sie gemeinsam mit dem Künstler notiert hatte. Sie verweist zudem darauf, dass es sich um den gleichen Onkel handelt, der auch im Porträt des Ohm Friedrich Corinth von Lovis Corinth porträtiert wurde. === Zeitliche Einordnung in das Werk Corinths === Zur Zeit der Entstehung des Bildes befand sich das Leben von Lovis Corinth im Umbruch. Seit dem Beginn seines Studiums in München versuchte er, in der Münchner Kunstszene Anerkennung zu erlangen, konnte sich dort jedoch nur schwer etablieren. Zum Ende der 1890er Jahre intensivierte er seine Kontakte zu den Malern Walter Leistikow und Ernst Liebermann in Berlin, die dort 1898 die Berliner Secession gründeten und starkes Interesse an einer Beteiligung Corinths zeigten. Zur Zeit der Entstehung des Bildes befand sich Corinth auf einer Reise in Königsberg und Umgebung, nachdem er vorher einige Zeit auf dem Gut Schulzendorf in Brandenburg als Logiergast der Familie von Richard Israel verbrachte und sich dort auch mit Leistikow traf. Direkt an die Königsberg-Reise schloss sich eine gemeinsame Reise mit Leistikow nach Dänemark an. 1900 malte Corinth mehrere Porträts, darunter auch eines seiner bekannten Selbstporträts. Unter den Porträtierten dieser Zeit finden sich vor allem Künstler und Schriftsteller aus dem Umfeld Corinths in München und Berlin, darunter Eduard Graf von Keyserling, Gerhart Hauptmann und Walter Leistikow. Als 1900 das von Corinth gemalte Bild Salome für die Ausstellung der Münchener Secession abgelehnt wurde, beschloss Corinth enttäuscht, nach Berlin zu gehen. Leistikow bat ihn, die Salome für die Ausstellung der Berliner Secession zur Verfügung zu stellen, und es wurde ein sehr großer Erfolg. Im Herbst des Jahres bekam er eine Einzelausstellung bei Paul Cassirer, und er war regelmäßiger Gast bei Gerhart Hauptmann. In dem Jahr pendelte er entsprechend regelmäßig zwischen Berlin und München und mietete sich ein provisorisches Atelier, im Herbst 1901 siedelte er vollständig nach Berlin über. == Provenienz und Ausstellungen == Das Porträt des Ohm Friedrich Corinth verblieb nach der Fertigstellung im Privatbesitz von Lovis Corinth, aus dessen Nachlass es in den Besitz seiner Familie und später seiner Tochter Wilhelmine Corinth, später Wilhelmine Corinth-Klopfer, kam. Es ist möglich, dass sich das Bild erst im Besitz von Charlotte Berend-Corinth befand, die es nach New York brachte, bevor sie es an ihre Tochter weitergab. 1987 kaufte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland das Bild zusammen mit dem Bild Kuhstall direkt bei Wilhelmine Corinth-Klopfer für das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg (Inventarnummer 8084/87, acqu. 1987).Das Porträt wurde auf zahlreichen Ausstellungen gezeigt, beginnend mit der Ausstellung der Berliner Secession 1913 in Berlin. Im gleichen Jahr war das Bild auch in einer Kunstausstellung in Düsseldorf zu sehen. 1918 zeigte Corinth das Bild erneut bei der Berliner Secession und 1923 in der dortigen Nationalgalerie. Corinth starb 1925; im Folgejahr wurde das Porträt beim Kunstverein Chemnitz, dem Kunstverein Frankfurt, dem Kunstverein Kassel, dem Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden sowie erneut in der Nationalgalerie ausgestellt. Weitere Ausstellungen mit dem Porträt fanden 1927 beim Sächsischen Kunstverein in Dresden und 1929 bei der Neuen Secession in München und beim Hagenbund in Wien statt. 1936 zeigte die Kunsthalle Basel das Bild zum vorerst letzten Mal im deutschsprachigen Raum.Zwischen 1950 und 1952 war das Bild Teil einer Wanderausstellung der Werke Corinths in zahlreichen Museen der Vereinigten Staaten und Kanada. 1956 und 1958 zeigte das Volkswagenwerk Wolfsburg das Bild erstmals wieder in Deutschland: im Rahmen der Ausstellung Deutsche Malerei und der Gedächtnisausstellung zur Feier des 100. Geburtstages Corinths. 1958 bis 1959 veranstalteten die Kunsthalle Basel, der Kunstverein Hannover und die Städtische Galerie München sowie die Tate Gallery in London Gedächtnisausstellungen mit dem Bild. 1964 zeigte es die Gallery of Modern Art in New York, 1967 der Badische Kunstverein in Karlsruhe, 1976 das Indianapolis Museum of Art und 1979 die Dixon Gallery in Memphis. 1985 war das Bild im Museum Folkwang in Essen zu sehen, bevor es 1987 in den Besitz des Ostpreußischen Landesmuseums Lüneburg überging. 1996 und 1997 gehörte es zu einer Wanderausstellung im Haus der Kunst in München, der Nationalgalerie in Berlin, dem Saint Louis Art Museum und der Tate Gallery. 1999 wurde es im Von der Heydt-Museum in Wuppertal im Rahmen einer Corinth-Ausstellung und 2009 erneut in der Österreichischen Galerie Belvedere in Wien gezeigt. == Belege == == Literatur == Andrea Bärnreuther: Porträt des Ohm Friedrich Corinth. In: Peter-Klaus Schuster, Christoph Vitali, Barbara Butts (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel, München 1996, ISBN 3-7913-1645-1, S. 138–139. Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth: Die Gemälde. Neu bearbeitet von Béatrice Hernad. Bruckmann Verlag, München 1992, ISBN 3-7654-2566-4, S. 83.
https://de.wikipedia.org/wiki/Portr%C3%A4t_des_Ohm_Friedrich_Corinth
Ur- und frühgeschichtliche Sammlung der Universität Jena
= Ur- und frühgeschichtliche Sammlung der Universität Jena = Die Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung der Universität Jena wurde 1863 als Germanisches Museum der Universität Jena angelegt und bestand in dieser Form bis 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug sie bis 1968 die Bezeichnung Vorgeschichtliches Museum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für prähistorische Archäologie. Die Sammlung gehört zum Bereich für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Bereits seit 1859 werden in Jena – mit kurzen Unterbrechungen – Lehrveranstaltungen zur prähistorischen Archäologie angeboten. Ein eigener Lehrstuhl existiert seit 1934. Das Institut befasst sich schwerpunktmäßig mit der Bodendenkmalpflege in Thüringen. == Bestände der Sammlung == Die Bestände der Sammlung umfassen heute ca. 45.000 Inventareinheiten aus etwa 1500 überwiegend europäischen Fundorten, davon etwa 1000 in Mitteldeutschland. Zeitlich reichen die Funde vom Paläolithikum bis in die Frühe Neuzeit. Es handelt sich überwiegend um Keramikgefäße und deren Bruchstücke sowie Werkzeuge und Waffen aus Stein und Metall. Daneben finden sich auch Artefakte aus Silber und Gold sowie aus Knochen, Elfenbein (Mammutzähne), Bernstein, Glas und Holz. Die Funde stammen aus weiten Teilen Europas, wie z. B. aus dem Tal der Vézère in Frankreich, aus Jordansmühl in Schlesien, Hallstatt in Österreich, La Tène in der Schweiz, Montegiorgio in Italien usw. Die Sammlung ist für die Öffentlichkeit zurzeit und wohl auch in nächster Zukunft nur selten zugänglich (auf Anfrage). Teile des Bestandes werden jedoch in kleineren Ausstellungen oder als Dauerleihgaben in Regionalmuseen gezeigt, erscheinen aber auch auf nationalen und internationalen Ausstellungen im In- und Ausland. Sie dienten oft schon als Grundlage für die erstmalige Beschreibung archäologischer Kulturen oder Zeitstufen, z. B. für die Bandkeramik, die Schnurkeramik, die Dreitzscher Gruppe oder den Großromstedter Horizont. Daneben beherbergt die Sammlung eine reiche Auswahl von Fundkomplexen mit überregionaler Bedeutung für die Forschung wie z. B. paläolithische Artefakte aus Oelknitz, die keltische Schnabelkanne von Borsch, die latènezeitliche Maskenfibel von Ostheim vor der Rhön oder das kaiserzeitliche Prachtfibelpaar von Dienstedt. == Geschichte des Instituts und der Sammlung == === 1859–1929 – Anfänge === Zu den Begründern der Ur- und Frühgeschichte in Jena gehört zunächst der seit 1859 an der Universität lehrende Privatdozent der Kunstgeschichte, Friedrich Klopfleisch, (1831–1898). Dieser bemühte sich verstärkt ab 1866 um die Erfassung der Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, konnte sich aber mit dieser Idee zunächst nicht durchsetzen. 1875 wurde Klopfleisch zum außerordentlichen Professor ernannt und beschäftigte sich ab 1894 ausschließlich mit prähistorischer Archäologie, musste aber bereits 1896 aufgrund einer schweren Krankheit als Professor und Museumsleiter zurücktreten. Sein bekanntester Schüler ist Alfred Götze (1865–1948), der 1890 bei Klopfleisch mit einer der ersten prähistorischen Dissertationen zum Thema „Die Gefäßformen und Ornamente der neolithischen schnurverzierten Keramik im Flussgebiete der Saale“ promoviert wurde. Weitere Thüringer Archäologie-Studenten bei Klopfleisch waren Ludwig Pfeiffer (1842–1921), einer der Ausgräber der paläolithischen Fundstelle Weimar-Ehringsdorf, der langjährige Kustos des Weimarer Museums für Urgeschichte, Armin Möller (1865–1938), oder Sanitätsrat Gustav Eichhorn (1862–1929). 1863 schenkte Klopfleisch der Universität seine Sammlung vorgeschichtlicher, volkskundlicher und kunstgeschichtlicher Objekte und wurde Leiter des „Germanischen Museums zu Jena“. zunächst war das Museum im Rundturm des Schlossgebäudes untergebracht, der zugleich die Nordostecke der Stadtbefestigung bildete. Den Bestand des Museums vermehrte Klopfleisch durch den Erwerb großer Sammlungen wie der in der Großherzoglichen Bibliothek Weimar verwahrten „Praehistorica“, darunter v. a. Stücke aus dem Besitz von Johann Wolfgang von Goethe. Die meisten Funde stammen jedoch aus Klopfleischs eigenen Ausgrabungen. In den etwa dreißig Jahren seiner Tätigkeit in Jena hat er an etwa 80 Fundorten und wesentlich mehr Fundstellen über 150 Grabungen durchgeführt. Mit Schwerpunkt auf Jena und Weimar erstreckten sie sich auf das gesamte heutige Thüringen und die Nachbarländer. Zu den bekanntesten gehören die Untersuchungen auf dem Jenzig bei Jena (ab 1856), der paläolithischen Fundstelle Taubach bei Weimar (ab 1870) und auf dem Grabhügel von Leubingen der Aunjetitzer Kultur (1877). Nach Klopfleischs Tod brach die Lehre im Fach Ur- und Frühgeschichte zunächst ab. Die Sammlung wurde ab 1900 ehrenamtlich durch seinen Schüler Gustav Eichhorn betreut, der ab 1902 als Konservator angestellt war. Bald nach dem Beginn seiner Tätigkeiten für das Museum errichtete Gustav Eichhorn das Archiv für vor- und frühgeschichtliche Fundnachrichten und begründete damit eine zentrale Bodendenkmalpflege im politisch stark zersplitterten Thüringen. Seit 1904 bestanden Pläne, mit Hilfe „einer Art Archiv“ „die Universität Jena zum Mittelpunkt der prähistorischen Forschung in Thüringen“ zu machen. 1904 konnte die Sammlung mehrere Räume im ehemaligen Collegium Jenense beziehen, da das alte Schloss für den Neubau des Universitätshauptgebäudes abgebrochen wurde. Hier stellte Eichhorn die Sammlung neu auf, inventarisierte sie und tauschte die historischen Objekte gegen die prähistorischen Funde aus dem Stadtmuseum. Zu den Beständen des Germanischen Museums kamen nun auch Privatsammlungen z. B. von Otto Schott (hallstattzeitliche Funde aus dem Picenum), Otto Hauser (paläolithische Artefakte aus Frankreich) und Arno Schröder (Funde vor allem aus der Umgebung von Jena, darüber hinaus aber aus ganz Mitteleuropa). 1918 übernahm Einhorn als Vorstand die Verwaltung des „Prähistorischen (ehem. sog. german.) Museums“ und durfte gleichzeitig auf Antrag der philosophischen Fakultät Vorlesungen über Vor- und Frühgeschichte halten. Für seinen Einsatz wurde er 1927 zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Seit 1928 schwer erkrankt, starb Eichhorn am 15. Oktober 1929 in Jena. 1926 begründete die Philosophische Fakultät das Promotionsrecht im Haupt- und Nebenfach Ur- und Frühgeschichte. Zu den Studenten der Prähistorie in der kurzen Zeit von Eichhorns Lehrtätigkeit gehören Herbert Jankuhn (1905–1990) und Gotthard Neumann (1902–1972). Eichhorn konnte jedoch nur Hildegard Knack 1928 mit einer Dissertation über „Die Latènekultur in Thüringen“ promovieren. Knack, die ab Ostern 1924 Prähistorie im Hauptfach studierte, war nach Rowena Morse die zweite Frau, die an der Universität Jena promoviert wurde. Von besonderer Bedeutung sind die Ausgrabungen im elbgermanischen Gräberfeld von Großromstedt, die zusammen mit Philipp Kropp zwischen 1907 und 1913 sowie 1926 und 1928 erfolgten, und dessen Material von Eichhorn bereits 1927 monografisch vorgelegt wurde. Des Weiteren führte Eichhorn mehrere Rettungsgrabungen um Jena durch und widmete sich besonders der Aufarbeitung und Vorlage der Grabungen Klopfleischs. === 1930–1945 – Aufschwung im Nationalsozialismus === Wenige Wochen nach dem Tode Gustav Eichhorns versuchte der nationalsozialistische Volksbildungsminister Wilhelm Frick, den kurzzeitig stellvertretenden Verwalter Wilfried von Seidlitz (1880–1945) zu ersetzen und dem Rassekundler Hans F. K. Günther eine ordentliche Professur für Vorgeschichte an der Universität Jena zu verschaffen. Dies scheiterte am Widerstand der angefragten Prähistoriker, des Rektors und Senats. 1930 wurde die Leitung des Germanischen Museums dem ehemaligen Studenten Eichhorns Gotthard Neumann (1902–1972) übertragen. Ab dem Wintersemester 1930/31 bot Neumann als Volontärassistent des Historischen Seminars wieder Lehrveranstaltungen an. Im Zeichen des Bedeutungsaufschwungs der Ur- und Frühgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus wurden 1934 im Deutschen Reich sieben Lehrstühle für dieses Fach, davon vier ordentliche, gegründet. Neumann wurde in diesem Jahr von Reichsstatthalter Fritz Sauckel ohne vorherige Habilitation zum beamteten außerordentlichen Professor für Vorgeschichte ernannt. 1936 bezog das Germanische Museum das Haus der aufgelösten Studentenverbindung Sängerschaft zu St. Pauli Jena im Forstweg 24, worauf die Schausammlung in zehn Räumen öffentlich zugänglich wurde. Durch den Erwerb mehrerer Privatsammlungen war der Bestand schon zuvor schnell angewachsen. Das Institut wurde zu einer Landesanstalt für Vorgeschichte ausgebaut und Neumann beaufsichtigte die Bodendenkmalpflege in weiten Teilen des heutigen Thüringens. Beispiele für größere archäologische Forschungs- und Rettungsgrabungen, an denen neben Studenten der Ur- und Frühgeschichte auch Angehörige des Reichsarbeitsdienstes teilnahmen, sind: 1932 jungpaläolithische Freilandsiedlung in Oelknitz, heute Ortsteil der Gemeinde Rothenstein, 1933 und 1936 spätbronzezeitliche Brandgräber und frühmittelalterliches Reihengräberfeld in Zöllnitz, 1933 mittelalterliche Wasserburg Kapellendorf, 1934 mittelalterlicher Turmhügel in Jenalöbnitz; 1934 bis 1938 mittelalterliche Reichsburg Kyffhausen, 1935 mittelalterliche Burg Camburg, 1935–1936 und 1941–1942 jeweils sechs schnurkeramische Grabhügel bei Lucka-Breitenhain und ein jungneolithischer Grabhügel bei Stobra, 1936 Urnengräberfeld der frühen Eisenzeit und frühmittelalterliches Reihengräberfeld bei Dreitzsch, 1940 bronzezeitliche Grabhügel bei Völkershausen-Willmanns und andere mehr. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden bis Januar 1941 nacheinander alle männlichen Mitarbeiter und deren Vertreter zur Wehrmacht eingezogen, wodurch die Tätigkeit des Instituts weitgehend zum Erliegen kam. Die Verwaltung des Museums übernahm der Jenaer Professor für Anthropologie und Ethnologie Bernhard Struck (1888–1971) und den Außen- und Innendienst als Assistentin Gudrun Loewe (1914–1994). Die ur- und frühgeschichtlichen Vorlesungen und Übungen an der Universität vertrat von 1941 bis 1944 Leonhard Franz (Universität Leipzig/Universität Innsbruck, 1895–1974). Ab 1943 wurden 60 Zwangsarbeiterinnen der Firma Carl Zeiss Jena im Institutsgebäude untergebracht, im Jahr darauf zog hier die Volksbücherei für Thüringen ein. Die nur zum Teil ausgelagerte Sammlung erlitt in dieser Zeit großen Schaden. Noch kurz vor Kriegsende wurde Neumann mit Wirkung zum 1. Februar 1945 zum ordentlichen Professor ernannt, ohne diese Position jedoch wahrnehmen zu können. === 1945–1991 – Kontinuität in der DDR === Nach seiner Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann Neumann im Juni 1945 mit der Reorganisation des Instituts und dem Wiederaufbau des Museums, das in Vorgeschichtliches Museum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für prähistorische Archäologie umbenannt wurde. Nach seiner Entlassung durch die Sowjetische Militäradministration im Dezember 1945 führte vertretungsweise Gerhard Mildenberger die Geschäfte von Leipzig aus. Die Lehrtätigkeit ruhte bis zum Oktober 1947, als Günter Behm (ab 1953 Behm-Blancke; 1912–1994) zum kommissarischen Direktor des Museums bestellt und ihm gleichzeitig ein Lehrauftrag für Ur- und Frühgeschichte erteilt wurde. 1949 wurde er zum Dozenten für Vorgeschichte, 1951 bzw. 1953 zum Professor mit Lehrauftrag und 1961 zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Ur- und Frühgeschichte (entspricht außerordentlicher Professor) ernannt. Ab 1947 war auch Neumann wieder am Museum beschäftigt und wurde 1953 erneut zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Ur- und Frühgeschichte und gleichzeitig zum Institutsdirektor ernannt. 1956 wurde er zum Professor mit Lehrstuhl (entspricht ordentlicher Professor) befördert und 1967 emeritiert. Assistenten bzw. Dozenten waren Waldtraut Schrickel von 1947 bis 1958, ab 1959 nach ihrem Wegzug in die Bundesrepublik Karl Peschel. Die im August 1949 wiedereröffnete Schausammlung des Jenaer Instituts wurde Studiensammlung für Studenten und Fachleute, während das Museum in Weimar ab 1953 zum staatlichen Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens und Zentrum der Bodendenkmalpflege ausgebaut wurde. 1958 konnte Neumann eine Neuaufstellung der Sammlung vornehmen und ließ dazu mehrere Privatsammlungen ankaufen. Thüringische Themen bildeten weiterhin den Schwerpunkt, mit neuen Untersuchungen zur vorrömischen Eisenzeit sowie zur Steinsburg bei Römhild, die Neumann 1949 nach dem Tod Alfred Götzes übernahm. Bei Rettungs- und Forschungsgrabungen im weiteren Umfeld von Jena widmete sich Schrickel besonders dem Neolithikum und Neumann der vorrömischen Eisenzeit und dem Mittelalter, unter anderem der Wüstung Gumprechtsdorf im ehemaligen Staatsforst Klosterlausnitz (1952–1953), der Entstehung der mittelalterlichen Städte Jena und Lobeda (1953–1956), dem bronzezeitlichen und frühmittelalterlichen Burgwall auf dem Johannisberg bei Jena-Lobeda (1957, 1959) und der Burg bzw. dem Peterskloster in Saalfeld (1964). 1968 wurde Günter Behm-Blancke erneut zum Institutsdirektor bestimmt. Im Zuge der Dritten Hochschulreform der DDR 1968 sollte das Institut mit dem Landesmuseum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens in Weimar zusammengeführt werden. Daraufhin wurden die Sammlungsbestände in Räume in der Wasserburg Kapellendorf und eine Weimarer Schule ausgelagert. Das Universitätsinstitut behielt jedoch seine Eigenständigkeit und bestand als Wissenschaftsbereich Ur- und Frühgeschichte innerhalb der neu gegründeten Sektion (Philosophie und) Geschichte an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität fort. 1973 fand die Einrichtung auf dem Ernst-Thälmann-Ring 24a (heute wieder Löbdergraben 24a) ein neues Domizil, und die Bestände konnten zurückgeführt werden. Behm-Blancke war bis zu seiner Emeritierung 1977 Professor mit Lehrstuhl (ordentlicher Professor) und Leiter des Wissenschaftsbereichs Ur- und Frühgeschichte der Sektion Geschichte. 1977 wurde Karl Peschel zum Leiter des Bereichs für Ur- und Frühgeschichte ernannt und 1979 zum Hochschuldozenten berufen. Entsprechend den Vorgaben der Dritten Hochschulreform wurde 1968 in Jena wie auch in Leipzig und Greifswald die Ausbildung zum Fachwissenschaftler eingestellt. Die Lehre konnte zwar fortgesetzt werden, war aber nun auf die Ausbildung von Geschichtslehrern ausgerichtet. Schwerpunkt der Forschungstätigkeit war die vorrömische Eisenzeit im Mittelgebirgsraum unter besonderer Berücksichtigung der Problematik von Kelten und Germanen. Dabei sind zum einen die Neubearbeitung des elbgermanischen Gräberfeldes Großromstedt und zum anderen Untersuchungen zur keltischen Besiedlung Südwestthüringens in der Hallstattzeit und der Latènezeit, insbesondere zu den Gleichbergen bei Römhild, durch Karl Peschel hervorzuheben. Die eingeschränkten personellen, technischen und finanziellen Möglichkeiten erlaubten bis 1989 nur kleinere Grabungen und Notbergungen. Dem Bereich oblag allerdings weiterhin die Bodendenkmalpflege im Stadtgebiet und im Kreis Jena. Nach der politischen Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands wurden im Oktober 1990 alle Mitarbeiter der Einrichtung aufgrund der Zugehörigkeit zur Sektion Geschichte abgewickelt, d. h. entlassen und nach Prüfung neu eingestellt. === Seit 1991 – Nach der politischen Wende === Bereits 1991 konnte Peschel die Ur- und Frühgeschichte wieder als Hauptfach übernehmen. Er wurde 1993 auf eine Professur berufen und 1999 emeritiert. Die 1974 von Dietrich Mania (* 1938) gegründete Forschungsstelle Bilzingsleben wurde 1993 infolge des Übergangs des Kreises Artern zum Freistaat Thüringen aus der Verantwortung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle herausgelöst und der Friedrich-Schiller-Universität angegliedert. Zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Lehrauftrag in Jena tätig, wurde Dietrich Mania 1995 apl. Professor für Urgeschichte, Quartärgeologie und -paläontologie und 2000 emeritiert. Im Jahr 2000 wurde Peter Ettel auf eine Professur und zum Leiter des Bereichs Ur- und Frühgeschichte berufen. Die Grabungstätigkeit konnte im Rahmen von Forschungs-, Lehr- und Rettungsgrabungen wie beispielsweise auf dem Brandgräberfeld von Mühlen Eichsen intensiviert werden. Dabei wurde mit der Untersuchung der Zentralsiedlung in Karlburg bei Karlstadt 2002/03 die Jenaer Tradition der Mittelalterarchäologie wieder aufgenommen. Seit 2004 ist der Bereich an einem DFG-Projekt zur Erforschung der Himmelsscheibe von Nebra und ihres Umfeldes beteiligt. 2003 wurde Clemens Pasda zum Professor für Urgeschichte berufen und übernahm die Weiterführung des Forschungsprojektes Bilzingsleben. == Literatur == Gustav Eichhorn: Führer durch die Sammlungen des Germanischen Museums der Universität Jena. Jena 1929. Roman Grabolle, Uwe Hoßfeld, Klaus Schmidt: Ur- und Frühgeschichte in Jena 1930-1945. Lehren, Forschen und Graben für Germanien? In: Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth, Rüdiger Stutz (Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln – Weimar – Wien 2003, S. 868–912, ISBN 3-412-04102-5. Gotthard Neumann: Dr. Friedrich Klopfleisch, Professor der Kunstgeschichte an der Universität Jena, Begründer der thüringischen Urgeschichtsforschung. In: Mannus. Bonn 24.1932, 134–146. ISSN 0025-2360 Gotthard Neumann: Hundert Jahre Vorgeschichtliches Museum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Prähistorische Archäologie. in: Ausgrabungen und Funde. Akad.-Verl., Berlin 8.1963, 223–231. ISSN 0004-8127 Karl Peschel: Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung. In: Reichtümer und Raritäten. Kulturhistorische Sammlungen, Museen, Archive und Gärten der Friedrich-Schiller-Universität Jena. in: Jenaer Reden und Schriften. Univ.-Verl., Jena 1974, 137–143. ISSN 0232-5969 == Weblinks == Bereich für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena Sabine Goldhahn: In einem Land vor unserer Zeit. Die Jenaer Sammlung für Ur- und Frühgeschichte. Uni_Journal Jena. April 2000.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ur-_und_fr%C3%BChgeschichtliche_Sammlung_der_Universit%C3%A4t_Jena
Schweiz ohne Armee? Ein Palaver
= Schweiz ohne Armee? Ein Palaver = Schweiz ohne Armee? Ein Palaver ist ein Prosatext in Dialogform des Schweizer Schriftstellers Max Frisch aus dem Jahr 1989. Er wurde unter dem Titel Jonas und sein Veteran für die Bühne bearbeitet und unter der Regie von Benno Besson am 19. Oktober 1989 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Der Prosatext entstand aus Anlass einer von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee herbeigeführten Volksinitiative zur Abschaffung der Schweizer Armee. In Form eines Palavers zwischen einem namenlosen Großvater, der mit Details aus Frischs eigener Biografie ausgestattet ist, und seinem Enkel Jonas werden Sinn und Unsinn der Schweizer Armee, Zustand und Zukunft der Schweizer Gesellschaft sowie die Aussichten der Volksabstimmung diskutiert. Frisch setzte mit Schweiz ohne Armee? seine in zahlreichen Texten geführte kritische Auseinandersetzung mit der Schweiz und ihrer historischen Sonderstellung fort. Er thematisierte erneut seinen eigenen Militärdienst als Kanonier während des Zweiten Weltkriegs, dem er in den Blättern aus dem Brotsack noch weitgehend patriotisch-unkritisch gegenübergestanden hatte, während er diese Haltung in der späteren Aufarbeitung im Dienstbüchlein revidiert hatte. Obgleich Frischs letzter umfangreicher Text als literarisch wenig bedeutend gewertet wird und die Bühnenadaption bei der Theaterkritik eine skeptische Aufnahme fand, wurde Schweiz ohne Armee? zum Politikum in seinem Heimatland. Frisch rückte noch einmal in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten, die sich um seine Person wie um die Aufführung des Theaterstücks und den seine Entstehung begleitenden Film Palaver, Palaver rankten. == Inhalt == Jonas besucht seinen Großvater. Er berichtet ihm von der Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee. Der Großvater hält diese Nachricht für einen Witz. Im Unterschied zu seinem Enkel kann er sich, obwohl kritisch gegenüber dem Militär und den herrschenden Verhältnissen in der Schweiz eingestellt, eine Schweiz ohne Armee nicht vorstellen. Der Enkel zieht ein Buch aus dem Regal, das der Großvater einst geschrieben hat, und das er „lässig“ findet: Max Frischs Dienstbüchlein. Daraus zitiert er kritische Passagen über das Schweizer Selbstverständnis und ihre Armee. Der Großvater berichtet von seinen eigenen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs in einer Artillerieeinheit auf dem Mutschellen. Für ihn liegt der Einsatzort der Schweizer Armee nicht im Äußeren, sondern im Inneren. Die Kader der Schweizer Gesellschaft seien identisch mit den Kadern ihrer Armee. Die Volksabstimmung diene bloß dem Glauben, es sei eine Demokratie, die von der Armee geschützt werde. Dann deklamiert er Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Ingeborg Bachmann. Er zählt fünf Gründe auf, warum die Armee für die Schweiz unverzichtbar sei: Die Armee werde gebraucht als „Schule des Lebens“, als „Schule des Mannes“, als „Schule der Nation“, als „Leibgarde“ der herrschenden „Plutokratie“ sowie als Brauchtum für das schweizerische Selbstbewusstsein, man habe ein Militär wie alle anderen auch. Jonas sind die alten Werte, auf denen sein Großvater beharrt, fremd. Er interessiert sich für Informatik und möchte in Kalifornien studieren. Von Patriotismus fühlt er sich bloß genervt, auch von dem seines Großvaters. In der Armee lerne man aus seiner Sicht nur eines: Kriechen. Stattdessen wünscht er sich einen Zivildienst in der Schweiz. Die Volksabstimmung ist ihm wichtig als Aufforderung zu einer künftigen Friedenspolitik. Doch seinen Großvater kann er am Ende nicht bewegen, zur Wahl zu gehen. Der argumentiert, er befände sich stets bei der Minderheit beim Urnengang. Indem er der Abstimmung fernbleibe werde er zum Teil der Mehrheit. Nachdem Jonas gegangen ist, zitiert der allein zurückgebliebene Großvater das Fazit des Dienstbüchleins: er wagte nicht zu denken, was denkbar sei; er wollte lieber glauben statt zu wissen. Er wirft das Buch ins Kaminfeuer und resümiert: man sei schon ziemlich feige. == Form == Schweiz ohne Armee? ist als reiner Dialog zwischen Jonas und seinem Großvater aufgebaut. Die zumeist einzeiligen erzählenden Einsprengsel erinnern in ihren knappen, nüchternen Beschreibungen an Regieanweisungen eines Theaterstücks. Kursiv sind in den Text Passagen aus Frischs Dienstbüchlein montiert. In 26 längeren Anmerkungen kommentiert Frisch den Dialog und gibt Hintergrundinformationen zu Namen oder Fakten. Jürgen H. Petersen wertete, der Text erinnere eher an ein Feature als an ein Drama, folge „ersichtlich keinem ästhetischen Konzept, erhebt keine dichterischen Ansprüche und läßt sich nur schwer als fiktionaler Text begreifen.“ Die Handlung lasse nur für wenig spielerische Elemente Raum, etwa das Anzünden des Kamins oder das Trinken einer Flasche Wein. Im Vordergrund stehe die eindeutig kritische Ausrichtung des Textes. Auf eine schlüssige Figurenkonstellation werde verzichtet, da beide Dialogpartner im Grunde der gleichen Meinung seien. Die Einwände des Großvaters für den Erhalt der Armee wirkten wie gespielte Ironie, der Dialog werde zum Monolog, einem „Pamphlet mit verteilten Rollen“. == Interpretation == Im Dialog zwischen Jonas und seinem Großvater nahm Max Frisch nach Walter Schmitz, dem Mitherausgeber seiner Gesammelten Werke, die Poetik des Fragens aus seinem zweiten Tagebuch 1966–1971, dort unter anderem in wiederholten Fragebögen an den Leser, wieder auf. Die Frage „Bist Du sicher?“ sei schon damals eine Kernfrage gewesen. Nur scheinbar sei der Dialog zwischen Enkel und Großvater privat, tatsächlich stelle Frisch mit dem Gespräch der Generationen Öffentlichkeit her. Frisch selbst, der alte, berühmte Schriftsteller, stelle sich den Fragen einer jungen Generation. Der Dialog werde ein sokratischer Dialog mit aufklärerischer Absicht. Mit dem öffentlich gemachten privaten Gespräch postuliere Frisch eine politische Existenz, die nicht zwischen privatem und öffentlichem Leben trennt. Nur durch die politische Existenz der Bürger wäre eine „andere Schweiz“, eine „lebendige und künftige Schweiz“ möglich.Die Schweizkritik Frischs beruht laut Schmitz auch auf einer Sprachkritik: „hinzu kommt, daß nicht alle von uns dieselbe Schweiz meinen…“ Bereits in Andorra habe Frisch in einem Modell der Schweiz die Festlegung der Wirklichkeit durch die Andorraner thematisiert. Auch in Schweiz ohne Armee? sei für viele Bürger gewiss, was „ein rechter Schweizer nicht tut“. Frisch wolle in seinem Text der offiziellen öffentlichen Sprache, die die Wirklichkeit durch feste Schablonen festlege, einen offenen, lebendigen Dialog entgegensetzen. Dazu benutze er Fragen sowie die verfremdete Verwendung von Zitaten, die gerade dadurch ihren Inhalt in Frage stelle. Die abschließende Geste des Großvaters, der sein früheres Dienstbüchlein „leichthin“ ins Feuer des Kamins wirft, ist auf verschiedene Arten gedeutet worden: Erstens Frisch verbrenne tatsächlich sein Schweizer Dienstbüchlein, den Schweizer Armeeausweis, in einer Geste wie etwa einige US-Amerikaner ihren Einberufungsbefehl zum Vietnamkrieg demonstrativ verbrannten. Zweitens Frisch sehe letztlich in einer Geste der Resignation die Bedeutungslosigkeit des einst Geschriebenen für eine junge Generation ein. Drittens Frisch verkünde die Revidierung des damaligen Textes, der seine Aktualität eingebüßt habe und an die aktuelle Wahrheit angepasst werden müsse.Walter Schmitz sah im Feuer auch das Zeichen für Vergänglichkeit, ein Bild, das sich durch Frischs Werk ziehe. Die Geschichte gehe über die Lebenszeit des Großvaters hinaus. Nicht er sei die eigentliche Hauptfigur des Spiels, sondern Jonas, dessen Name auf den Schweizer Film Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird verweise. Er stehe für die Zukunft, die sich ohne den Großvater ereignen werde. Der Großvater verbrenne am Ende seine Erfahrung und nehme ihr damit die Allgemeingültigkeit. Er gebe sie der künftigen Generation nicht als Antwort mit auf den Weg, sondern als Frage und ermögliche somit die Fortsetzung des Prozesses der Aufklärung als ein andauerndes Palaver, ein Gespräch ohne feste Sicherheiten. == Entstehungsgeschichte == Nach der Veröffentlichung seiner letzten Erzählung Blaubart 1982 hatte Frisch seine schriftstellerische Tätigkeit weitgehend aufgegeben. In der 1985 auf den Solothurner Literaturtagen gehaltenen Rede Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb verkündete er, dass er „aufgehört habe zu schreiben. Müde, ja. Verbraucht.“ Auch in Schweiz ohne Armee? ließ Frisch den Enkel fragen: „Stimmt es, Großvater, dass du gar nichts mehr schreibst. Außer Briefen. Ich meine: keine Romane und so, kein Tagebuch?“ In der Figur des Großvaters antwortete Frisch: „Das stimmt schon seit Jahren.“Als sich Mitte der 1980er Jahre die Gruppe Schweiz ohne Armee formierte, eine Initiative mit dem Ziel der Abschaffung der Schweizer Armee, die eine auf den 26. November 1989 terminierte Volksabstimmung über ihr Gesuch erreichte, stand Frisch dem Anliegen erst skeptisch gegenüber. Obwohl selbst seit Jahren Kritiker der Schweizer Politik und ihrer Armee, befürchtete er eine schwere Abstimmungsniederlage der Initiative, die die Armeekritiker auf lange Sicht in die Defensive gedrängt hätte. Erst als ihm die wachsende Zustimmung bewusst wurde, die die Initiative besonders in der jungen Generation erfuhr, änderte Frisch seine Meinung. Er durchbrach seine schriftstellerische Abstinenz und schrieb Schweiz ohne Armee? Ein Palaver in wenigen Wochen im Februar und März 1989 nieder. Allerdings überarbeitete Frisch den Text noch nach der Erstausgabe an einigen Stellen, so in den Gründen, die aus der Sicht des Großvaters für die Schweizer Armee sprechen wie in seiner Auskunft, dass er schon lange nicht mehr schreibe. Frisch widmete sein Buch den Aufklärern Denis Diderot und Ulrich Bräker „in Dankbarkeit“. == Rezeption == Schweiz ohne Armee? Ein Palaver stieß bei seinem Erscheinen im Sommer 1989 auf starkes Interesse der Schweizer Bevölkerung. Die Erstauflage der in den vier Schweizer Landessprachen entstandenen Buchausgabe wurde innerhalb weniger Tage ausverkauft. Auch die Schweizer Presse thematisierte Frischs neues Werk und richtete dabei zumeist den Blick auf die innenpolitische Debatte im Zusammenhang mit der Volksinitiative zur Abschaffung der Armee. Für den SonntagsBlick ließ Max Frisch keine Zweifel aufkommen, wie er der Armee gegenüberstehe. Der „Zorn“ habe Frisch „dazu gebracht, sein Schweigen zu brechen, wieder zu schreiben.“ Im Tages-Anzeiger sah Stefan Howald in dem Text eine „Geste entschiedener Altersradikalität“ wie auch ein „Kompendium von handfesten Anti-Armee-Argumenten“. Stefan Keller fand in der Wochenzeitung „einen völlig resignierten Max Frisch“ sich selber inszenieren. Dennoch nehme am Ende eine Utopie Gestalt an «durch die Aufzählung all dessen, was falsch ist.» Für die Neue Zürcher Zeitung ging Frischs Text über die Initiative für die Abschaffung der Armee hinaus. Er äußere eine „Gesamtkritik, und nicht nur an den schweizerischen Zuständen“, sei aber „so entworfen, dass der vermutliche Ausgang der Abstimmung ihm recht geben wird.“Die literarischen Beurteilungen von Frischs Prosatext blieben verhaltener. Jürgen H. Petersen sah in Schweiz ohne Armee? einen „kaum als poetisch zu bezeichnenden Text“, der „kaum zu den literarisch gewichtigen Arbeiten Max Frischs“ zähle. Stattdessen dokumentiere er „das Versiegen der literarischen Kraft seines Autors“. Volker Hage hingehen entdeckte im Text „die feinen Widerhaken“, „die unaufdringliche Kraft des Fragens“ und er urteilte, es sei „die Kunst von Frisch, diesen kleinen Dialog wie absichtslos in der Schwebe zu halten. Pausen und Abschweifungen sind beredter als das, was die beiden miteinander sprechen, und kleine Nuancen, winzige Verschiebungen sagen mehr als alle Weisheiten.“ In Zusammenarbeit mit Max Frisch adaptierte Benno Besson Schweiz ohne Armee? unter dem Titel Jonas und sein Veteran für die Bühne und übernahm selbst die bewusst einfach gehaltene Inszenierung, die am 19. Oktober 1989 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Ebenfalls in Zürich folgte am 20. Oktober die Premiere der in Koproduktion mit dem Théâtre Vidy-Lausanne entstandenen französischen Fassung. Eine Woche später traten die Ensembles in umgekehrter Reihenfolge in Lausanne auf. Am 24. Oktober wurde dort die französische Version, am 25. Oktober die deutsche Fassung gespielt.Die Uraufführung, der Max Frisch im Zuschauerraum beiwohnte, wurde mit Ovationen gefeiert. In der Theaterkritik fand sie allerdings eine skeptische Aufnahme. So wurde für Reinhard Baumgart „alles säuberlich und beflissen wie vom Blatt mitgespielt“ ohne dass der Text Leben fände. Die Inszenierung reduziere ihn „auf seinen baren Inhalt, das Theater zur szenischen Lesung, das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Veteran und Enkel zu einer Polit-Talkshow für zwei Personen.“ Dennoch feierte das Publikum Frisch am Ende „für seinen Bekennermut“. In der deutschsprachigen Uraufführung spielten Jürgen Cziesla als Großvater und Marcus Kaloff als Jonas. Peter Bollag als Souffleur sprach die Anmerkungen des Buches. In der französischsprachigen Erstaufführung spielten Paul Darzac, Mathieu Delmonté und Jean-Charles Fontana. Im Vorfeld hatte die Aufführung von Jonas und sein Veteran erhebliche Hürden zu überwinden. Zwar unterstützte der Direktor des Zürcher Schauspielhauses Achim Benning die Inszenierung, doch Teile des Verwaltungsrats versuchten die Aufführung zu verhindern, da sie „eine unstatthafte politische Einmischung des Theaters in die Abstimmungskampagne“ der GSoA-Initiative wäre. Frisch kommentierte die Querelen mit der Äußerung: „Da lernen Sie, wie die Freiheit der Kunst bei uns funktioniert. Wir brauchen keine Zensur.“ Als Folge der Theateraufführungen kam es zu Auseinandersetzungen mit Armeebefürwortern, die ihren Niederschlag auch in anonymen Telefonanrufen und Schmähbriefen gegen Max Frisch fanden. In einer öffentlichen Diskussion nach einer Vorstellung brachte Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich heftige Kritik gegen das Stück und seinen Autor vor: „Jonas und sein Veteran […] ist ein wortreiches, aber es ist ein ebenso seichtes Geplauder. Es ist Polemik, Verdächtigung, Gerücht, Lächerlichmachung, Sarkasmus bis zur banalen Primitivität. Da erscheint ein alter, ein verbrauchter, müder und resignierter Max Frisch, der sich vor einen fremden Karren hat spannen lassen. Aus einem ehemals großen Geist ist ein kleiner geworden. Sein geistiger Niedergang wird vordemonstriert. Max Frisch ist nicht faktisch, aber er ist geistig erledigt.“Auch der Dokumentarfilm Palaver, Palaver – eine Schweizer Herbstchronik von Alexander J. Seiler, der die Entstehungsgeschichte von Jonas und sein Veteran dokumentierte und in Bezug zur Abstimmungskampagne im Vorfeld des Volksentscheids setzte, hatte mit Widerständen bei seiner Realisation zu kämpfen. Der Zürcher Nationalrat Ernst Cincera vermutete, dass „inhaltlich eine Unterstützung der Initianten [der Volksabstimmung] angestrebt wird“ und stellte eine Anfrage, warum der Film vom Bundesamt für Kultur finanziell unterstützt werde. Die Anfrage wurde unter Verweis auf die Kunstfreiheit abschlägig beschieden. Der Film kam im September 1990 in die Kinos, nachdem die Volksabstimmung bereits vorüber war, eine Tatsache, die Peter Bichsel begrüsste, da der Film dokumentiere und nicht agitiere und „eine Darstellung unseres Umgangs mit Politik, mit Opposition, mit Selbstverständlichkeit“ geworden sei. Das Lexikon des Internationalen Films kommentierte: „Das dank einer subtilen Montage komplexe Werk dokumentiert einen demokratischen und künstlerischen Prozeß und vermittelt das politische Klima in einer Schweiz, die durch den öffentlichen Diskurs über eine bisher als tabu geltende Frage in Bewegung geraten ist.“Am 26. November 1989 stimmten 35,6 % der Abstimmenden, über eine Million Stimmberechtigte, für die Abschaffung der Armee. Das Ergebnis bedeutete für den ursprünglich skeptischen Frisch eine „Riesenüberraschung“. Er hatte zuletzt selbst noch in den Wahlkampf eingegriffen und am 20. November im Basler Theater eine Rede unter dem Titel Der Friede widerspricht unserer Gesellschaft gehalten, in der er allein die Tatsache, dass die Armee in die Diskussion geraten sei, bereits als politischen Erfolg wertete. Auf einem von seinem Freund Gottfried Honegger gestalteten und von Frisch finanzierten Abstimmungsplakat fügte er seinem ursprünglichen Prosatext einen nachträglichen Dialog hinzu: die Frage des Enkels «Wie wirst du denn stimmen, Großvater?» beantwortete er jetzt mit einem groß gesetzten „Ja“.Walter Schmitz zog das Fazit, Frisch habe in Schweiz ohne Armee? „ganz unprätentiös, ohne lebhafte Geste, gezeigt, wie der Einzelne mit seiner Einsicht zur Bildung der öffentlichen Meinung in einem demokratischen Prozeß beitragen solle: Mit sorgfältigem, ‚unsicheren‘ Prüfen der Argumente; mit Möglichkeitssinn und Erinnerung; im Bewußtsein der Subjektivität, Partialität und der existenziellen Verbindlichkeit der eigenen Wahrheit“, das Ganze „unter dem Horizont utopischer Hoffnung.“ == Literatur == === Textausgaben === Max Frisch: Schweiz ohne Armee? Ein Palaver. Limmat, Zürich 1989, ISBN 3-85791-153-0 (Erstausgabe). Suisse sans armée? Un palabre (übersetzt von Benno Besson und Yvette Z’Graggen). Campiche, Yvonand 1989, ISBN 2-88241-012-3 (französisch). Svizzera senza esercito? Una chiacchierata rituale (übersetzt von Danilo Bianchi), Casagrande, Bellinzona 1989, ISBN 88-7713-017-2 (italienisch). Max Frisch: Schweiz ohne Armee? Ein Palaver. Suhrkamp-TB 1881, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-38381-7. === Sekundärliteratur === Volker Hage: Max Frisch. rororo 50616, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-50616-5, S. 94–97. Jürgen H. Petersen: Max Frisch. Metzler, Stuttgart 2002, ISBN 3-476-13173-4, S. 180–182. Walter Schmitz: Max Frischs „Palaver“ Schweiz ohne Armee? Oder Öffentlichkeit und Unverständnis. In: Daniel de Vin (Hrsg.): Leben gefällt mir. Begegnung mit Max Frisch. Literarischer Treffpunkt, Brüssel 1992, ISBN 90-6828-003-1, S. 59–80. == Weblinks == Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Prolog der gleichnamigen Biografie von Urs Bircher als Textprobe auf der Seite des Limmat Verlags (unter anderem zur Entstehung von Jonas und sein Veteran) Rezensionen zu Schweiz ohne Armee? Ein Palaver (PDF-Datei; 1,11 MB) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz_ohne_Armee%3F_Ein_Palaver
Staatspolizeileitstelle Hamburg
= Staatspolizeileitstelle Hamburg = Die Staatspolizeileitstelle Hamburg war die zentrale Dienststelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Hamburg zur Zeit des Nationalsozialismus. Vorläufer war die Hamburger Staatspolizei, die ab Dezember 1935 offiziell die Bezeichnung Geheime Staatspolizei führte. Später wurde die Hamburger Gestapostelle zur Leitstelle erhoben und war schließlich übergeordnete Instanz diverser Gestapo-Außenstellen in Norddeutschland. Angehörige der Hamburger Gestapo waren maßgeblich an der Verfolgung und Misshandlung von Gegnern des NS-Regimes, Juden und weiteren NS-Opfergruppen beteiligt. Nach dem Einmarsch der britischen Armee in Hamburg Anfang Mai 1945 wurden ehemalige Angehörige der Hamburger Gestapo größtenteils interniert und mussten sich vielfach vor Gericht für ihre Taten verantworten. Am ehemaligen Gestapo-Hauptquartier Hamburger Stadthaus wird heute der Opfer staatspolizeilicher Verfolgung durch eine Gedenktafel und Stolpersteine gedacht. Die Stadt Hamburg plant dort die Einrichtung einer Dokumentationsstätte für das Gedenken an die Opfer der Polizeigewalt. Eine umfassende wissenschaftliche Studie zur Hamburger Gestapo liegt derzeit nicht vor. == Vorläufer der Gestapo Hamburg: Hamburger Staatspolizei == Unmittelbar nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 übernahmen die Nationalsozialisten in Hamburg unter anderem die Kontrolle über die Polizei. Auch die Hamburger Staatspolizei unterstand als Kriminalpolizeiabteilung nun dem neuen Polizeisenator und Polizeiherrn Alfred Richter, mit dessen Amtsantritt sie am 6. März 1933 gleichgeschaltet wurde. Als Politische Polizei Hamburgs führte sie ab Dezember 1935 die Bezeichnung Geheime Staatspolizei. Ihre Bedeutung erweiterte sie bereits auf Basis der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933, mit der Bürger ihrer zentralen Freiheitsrechte beraubt und vermeintliche oder tatsächliche Gegner des NS-Regimes willkürlich in Schutzhaft genommen werden konnten.Bekannte NS-Gegner und „politische unzuverlässige“ Beamte der Hamburger Staatspolizei wurden beurlaubt und nach Inkrafttreten des Berufsbeamtengesetzes im April 1933 entlassen oder mit weniger wichtigen Polizeifunktionen betraut. Das Personal der Hamburger Staatspolizei wurde mehrheitlich ausgetauscht: Nationalsozialistisch eingestellte Beamte wurden von anderen Polizeidienststellen zur Hamburger Staatspolizei versetzt und freie Stellen insbesondere mit arbeitslosen SA- und SS-Männern besetzt. Etliche langjährig erfahrene Beamte der Hamburger Staatspolizei verblieben jedoch in ihren Funktionen.Bis März 1933 gehörten der Hamburger Staatspolizei 70 Beamte an, deren Anzahl sich bis Anfang 1934 mit 151 Beamten mehr als verdoppelte. Leiter der Hamburger Staatspolizei wurde im März 1933 der Angehörige der örtlichen NSDAP-Gauleitung Anatol Milewski-Schroeden, der am 15. Mai 1933 durch den Hauptmann der Schutzpolizei Walter Abraham abgelöst wurde. Am 20. Oktober 1933 folgte der SS-Führer Bruno Streckenbach Abraham im Amt nach.Am 6. Oktober 1933 gliederte der Hamburger Senat die Hamburger Staatspolizei aus der Kriminalpolizei aus und unterstellte sie am 24. November 1933 dem Reichsführer SS Heinrich Himmler. Somit wurde dem Innensenator Richter und dem neuernannten Polizeipräsidenten Wilhelm Boltz, der nach einer Vakanz dem kurzzeitig amtierenden Hans Nieland in dieser Funktion nachfolgte, der Einfluss auf die Hamburger Staatspolizei entzogen. === Zerschlagung des Arbeiterwiderstandes === Die Zerschlagung des Arbeiterwiderstands war in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme vorrangiges Ziel der Hamburger Staatspolizei. Noch am Abend des 5. März 1933 beauftragte der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann den nationalsozialistischen Polizeibeamten Peter Kraus mit der Leitung eines Fahndungskommandos der Hamburger Staatspolizei, das insbesondere in der Illegalität operierende kommunistische und sozialistische Gruppen zerschlagen sollte. Zur personellen Verstärkung bestand vom 24. März 1933 bis Januar 1934 unter der Führung von Oberleutnant Franz Kosa das 36-köpfige „Kommando zur besonderen Verwendung“ (KzbV) der Ordnungspolizei, das eng mit dem „Fahndungskommando Kraus“ kooperierte. Innerhalb weniger Monate wurden zahlreiche politische Gegner des NS-Regimes aufgespürt und verhaftet. Im Zentrum staatspolizeilicher Verfolgung standen zunächst Angehörige des Rotfrontkämpferbundes und der KPD-Bezirksleitung. Die in Schutzhaft genommenen NS-Gegner misshandelte man während ihrer Festnahme und bei „verschärften Vernehmungen“ oft schwer. Von März 1933 bis Oktober 1934 nahmen Mitarbeiter der Hamburger Staatspolizei über 5000 Kommunisten fest. Staatspolizeiliche Vorermittlungen führten bis 1939 zu etwa 600 Prozessen vor dem Oberlandesgericht Hamburg und 100 Verfahren vor dem Volksgerichtshof aufgrund von Vorbereitung zum Hochverrat. Infolge der Durchdringung der illegalen KPD mit V-Leuten und Spitzeln stellte die illegale Hamburger Parteiführung im Frühjahr 1936 die Weiterführung des organisierten Widerstands zunächst ein.Obwohl bereits im Juni 1933 führende Sozialdemokraten festgenommen wurden und sich zeitweise in Haft befanden, ging die Hamburger Staatspolizei erst ab Oktober 1934 verstärkt gegen den sozialdemokratischen Widerstand vor. Der aus Mitgliedern des Reichsbanners und der SPD organisierte sozialdemokratische Widerstand war bis 1937 zerschlagen. === Gestapo-Dienststelle – Das Stadthaus als „Ort des Terrors“ === Bereits seit 1814 nutzte die Hamburger Polizeibehörde das Hamburger Stadthaus als zentralen Dienstsitz. Neben anderen Polizeiabteilungen war zur Zeit der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes auch die Hamburger Staatspolizei beziehungsweise anschließend die Gestapo durchgehend bis zum 24./25. Juli 1943 im Erweiterungsbau des Stadthauses mit der Adresse Stadthausbrücke 8 untergebracht. Nachdem das Stadthaus während der Operation Gomorrha nach Luftangriffen der Royal Air Force durch Bombentreffer zerstört worden war, verlegte man die Dienststelle der Staatspolizeileitstelle vorübergehend in Räume der Schulverwaltung in der Dammtorstraße 25. Nach mehreren Wochen wurden schließlich Räumlichkeiten im Ziviljustizgebäude am Sievekingsplatz bis Kriegsende Dienstsitz der Staatspolizeileitstelle.Im Stadthaus wurden durch Gestapomitarbeiter Gefangene während der Vernehmungen schwer misshandelt, um Geständnisse zu erpressen. Die Keller dienten als Hafträume, in denen Gefangene unter menschenunwürdigen Bedingungen vorübergehend inhaftiert und gefoltert wurden.Dokumentiert ist das Verhör des 1936 hingerichteten Hamburger KPD-Funktionärs, Bürgerschaftsabgeordneten und ehemaligen Leiters des örtlichen Rotfrontkämpferbundes Etkar André, das am 26. März 1933 im Beisein fünf weiterer Häftlinge und des Gauleiters Kaufmann im Hamburger Stadthaus durchgeführt wurde: === Haftstätten === Ab März 1933 wurden Schutzhäftlinge zunächst im Untersuchungsgefängnis und in einem ungenutzten Gebäudeteil der Strafanstalt Fuhlsbüttel untergebracht. Da die Zahl der in Schutzhaft genommenen Personen rasant anstieg (bis Mai 1933 1750 Schutzhäftlinge) belegte man im April 1933 das neu eingerichtete KZ Wittmoor mit Gefangenen. Nach der Schließung dieses Lagers im Oktober 1933 überführte man die dort einsitzenden Häftlinge in das seit September 1933 offiziell als Konzentrationslager bezeichnete KZ Fuhlsbüttel.Ab Dezember 1933 unterstand das KZ Fuhlsbüttel der Polizei und wurde ab 1936 regulär als Polizeigefängnis Fuhlsbüttel bezeichnet. Das Haftstättenpersonal setzte sich aus Gestapobeamten zusammen. Zur Erzwingung von Geständnissen wurden auch dort Häftlinge gefoltert. == Organisation == Nach der im Herbst 1936 erfolgten Reorganisation der Deutschen Polizei wurde reichsweit auch die Gestapo vereinheitlicht: Zum einen führte nun die Politische Polizei außerhalb Preußens generell den Namen Geheime Staatspolizei und die entsprechenden Polizeibehörden bzw. Dienststellen wurden einheitlich zu Staatspolizeistellen bzw. den ihn übergeordneten Staatspolizeileitstellen. Den Staatspolizeileitstellen war im Rahmen der reorganisierten Polizei wiederum als Gestapo-Zentrale das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin gegenüber weisungsbefugt, das zunächst dem Hauptamt Sicherheitspolizei unterstellt und ab September 1939 als Amt IV Teil des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war. Gauleiter Karl Kaufmann übernahm die „politische Leitung“ der Hamburger Gestapo und übte so auf diese Verfolgungsinstanz erheblichen Einfluss aus.Ab Anfang Februar 1938 war der Gestapo und Kriminalpolizei in Hamburg örtlich ein Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD (IdS) vorgeschaltet, der wiederum dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) unterstand. Erster IdS im Wehrkreis X war Bruno Streckenbach. Streckenbach folgten in dieser Funktion Erwin Schulz (1940–1941) und Johannes Thiele (1942–1945) nach. Im April 1945 wurde der IdS durch einen Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) ersetzt, diese Position bekleidete ab dem 14. April 1945 Walther Bierkamp. Als örtlich zuständige HSSPF fungierten Hans-Adolf Prützmann (1937–1941), Rudolf Querner (1941–1943) und zuletzt Georg-Henning von Bassewitz-Behr (1943–1945).Hauptaufgabe der Staatspolizeileitstelle war die Ermittlung und Ingewahrsamnahme von Gegnern des NS-Regimes beziehungsweise von Personen, die nach nationalsozialistischen Gesetzen und Verordnungen als Rechtsbrecher angesehen wurden. Zu diesem Zweck erhielt die Gestapo weitreichende Vollmachten zur Beschränkung bürgerlicher Freiheiten, wie dem Vereins- und Versammlungsrecht oder auch dem Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis. Im Zuge von Ermittlungen sammelte die Gestapo belastendes Material zur Vorbereitung von Gerichtsverfahren und konnte Schutzhaft sowie Exekutionen anordnen. === Personal === Leiter der Staatspolizeileitstelle Hamburg war bis zum 1. Februar 1938 Bruno Streckenbach, ihm folgte kommissarisch Günter Kuhl im Juli 1938 im Amt nach. Am 1. Januar 1940 wurde Heinrich Seetzen mit der Leitung der Hamburger Gestapo beauftragt, der dieses Amt von Juli 1941 bis August 1942 in Abwesenheit bekleidete. Im September 1942 übernahm Josef Kreuzer die Leitung der Hamburger Gestapo, bis er am 1. Juli 1944 in dieser Funktion von Hans Wilhelm Blomberg abgelöst wurde, der bis Kriegsende auf diesem Posten blieb.Stellvertretende Gestapoleiter waren u. a. Ingo Eichmann (1938 bis September 1939), Regierungsrat Teesenfitz (bis 1943), SS-Sturmbannführer Hintze (zeitweise 1943), Regierungsrat Jacob (bis Anfang 1944) und Regierungsrat Achterberg (wahrscheinlich bis Kriegsende).Gegen Ende 1936 waren mehr als 200 Gestapobeamte in Hamburg tätig. Im August 1944 beschäftigte die Staatspolizeileitstelle ungefähr 260 männliche und weibliche Gestapobeamte, dazu kamen noch jeweils Angestellte und sonstiges Personal. Neben dem Gefängnispersonal im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel stellte die Gestapo auch die Wachmannschaft im 1943 eingerichteten Arbeitserziehungslager Langer Morgen.Während des Zweiten Weltkrieges wurden Hamburger Gestapobeamte teils auch in den deutsch besetzten Gebieten eingesetzt und erhielten dort Aufgaben bei der Sicherheitspolizei und dem SD oder auch den Einsatzgruppen. Im deutsch besetzten Dänemark etwa bauten im August 1943 75 Hamburger Gestapobeamte Dienststellen der Gestapo zur Unterdrückung des dänischen Widerstands auf. Die dadurch entstehenden personellen Vakanzen wurden durch Vermittlung des Arbeitsamtes mittels Dienstverpflichtungen wieder ausgeglichen. Größtenteils wurden die für die Gestapotätigkeit dienstverpflichteten Personen für Büroarbeiten oder Wachaufgaben eingesetzt, nur wenige nahmen an Ermittlungen oder Festnahmen teil. Die zumeist älteren und erfahrenen Gestapobeamte verblieben in leitenden Positionen. === Außenstellen === Die Staatspolizeileitstelle Hamburg war im Wehrkreis X übergeordnete Instanz diverser Gestapo-Außenstellen in Norddeutschland. Im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes wurden ab April 1937 die vormals preußischen Städte Altona, Wandsbek und Harburg-Wilhelmsburg nach Hamburg eingemeindet und die dortigen Gestapo-Dienststellen der Staatspolizeileitstelle Hamburg unterstellt.Zudem bestanden Außenstellen der Hamburger Gestapo in Hamburg-Bergedorf und Cuxhaven. Des Weiteren wurden auch die Außenstellen in Düneberg (Sprengstoff A.G.), Krümmel (Dynamitfabrik Krümmel) und Lüneburg Teil der Staatspolizeileitstelle Hamburg. === Aufbau === Bis 1937 war die Hamburger Staatspolizei folgendermaßen strukturiert: Dem leitenden Abteilungsvorstand unterstanden die Unterabteilungen A bis D, die wiederum in insgesamt 15 Inspektionen unterteilt waren. Von 1937 bis 1944 veränderte sich der strukturelle Aufbau der Staatspolizeileitstelle Hamburg nur unwesentlich und war an dem Aufbau des Geheimen Staatspolizeiamts im Hauptamt Sicherheitspolizei beziehungsweise ab September 1939 als Abteilung IV im Reichssicherheitshauptamt orientiert. Bei der Staatspolizeileitstelle Hamburg bestanden drei Abteilungen, die jeweils von Abteilungsleitern geführt wurden: I. Verwaltung mit zwei Dezernaten und sieben Sachgebieten II. Innerpolitische Polizei mit elf Dezernaten und wenigstens zehn Sachgebieten III. Abwehrpolizei mit fünf Dezernaten und wenigstens neun SachgebietenOrganisationsplan der Abteilung II (Innerpolitische Polizei) von 1937 bis 1944: II A – Kommunismus und Marxismus II A 1 Kommunismus II A 2 Marxismus II A 3 Staatsfeindliches Ausländertum II B – Kirche, Emigranten, Freimaurer, Judentum, Pazifismus II B 1 Kirchenangelegenheiten II B 2 Freimaurer, Judentum, Pazifismus, Emigranten II B 3 Paßangelegenheiten, Ein- und Ausbürgerungen II C Sonderaufgaben und Attentatssachen u. a. II D Schutzhaft II E Wirtschaftspolitische, agrarpolitische und sozialpolitische Angelegenheiten, Heimtückesachen, Waffenstrafsachen, Vereins- und Versammlungswesen II E 1 Wirtschaftspolitische Angelegenheiten II E 2 Arbeitsvernachlässigung, Betriebssabotage, asoziale Betriebsverhältnisse II E 3 Heimtücke- und Waffenstrafsachen II E 4 Vereins- und Versammlungssachen II F Kartei, Personalakten, Auswertung, Leumundsangelegenheiten II G Sonderaufgaben und Attentatssachen u. a. II H Parteiangelegenheiten, Amtshandlungen bei Diplomaten und Konsuln, feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten II N Nachrichten II P In- und Auslandspresse, Schrifttum und Kulturpolitik, Strafsachen in Bezug auf Abhören von ausländischen Sendern, Schwarzhörer II HafenIm Januar 1944 wurde die Staatspolizeileitstelle Hamburg nochmals reorganisiert, so wurden beispielsweise Dezernate und Sachgebiete umbenannt sowie teilweise zusammengeführt oder unterteilt. == Entwicklung und Verfolgungsmaßnahmen == Nach der Zerschlagung des organisierten Arbeiterwiderstandes wurde das Arbeitermilieu mit Hilfe von V-Leuten und anderen Zuträgern umfassend überwacht. In diesem Zusammenhang kooperierte die Hamburger Gestapo eng mit anderen Polizeidienststellen, NS-Organisationen und -Funktionsträgern (Blockwarte) sowie Behörden. Auch politische Emigranten in Nord- und Westeuropa standen unter Beobachtung der Hamburger Gestapo und deren Exilorganisationen wurden durch V-Leute infiltriert. Ab Mitte der 1930er Jahre verstärkten nicht mit dem Bereich Kommunismus-Marxismus befasste Dezernate der Hamburger Gestapo ihre repressiven Maßnahmen gegen andere NS-Opfergruppen. Vereinzelt wurden Angehörige der bürgerlichen oder kirchlichen Opposition verfolgt und deren Milieus beobachtet. Zudem ging die Gestapo ab diesem Zeitpunkt verstärkt gegen Zeugen Jehovas, Homosexuelle und auch sogenannte Asoziale vor. Auch Juden gerieten zunehmend in den Fokus von staatspolizeilichen Repressionsmaßnahmen.Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte der „Krieg im Inneren“ ein und damit auch ein Bedeutungszuwachs für staatspolizeiliche Verfolgungsmaßnahmen. Bereits am 1. September 1939 wurden im Deutschen Reich potentielle Kriegsgegner festgenommen und in Konzentrationslager eingewiesen. Unter den Verhafteten befanden sich auch 53 sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter aus Hamburg und Schleswig-Holstein, die in das KZ Sachsenhausen überstellt wurden. Über die Stimmung in der Bevölkerung zum Kriegsgeschehen und die kriegsbedingt schwierige Versorgungslage holten Gestapobeamte durch eigene Beobachtungen oder Zuträger Informationen ein, die in Stimmungsberichten verarbeitet wurden. Nicht regimekonforme Meinungsäußerungen oder unangepasstes Verhalten mündeten oft in Festnahmen, so ging die Gestapo in Hamburg auch gegen Swing-Jugendliche vor. Von den bis zu 1500 Hamburger Swing-Jugendlichen wurden mehr als 400 festgenommen und bis zu 70 der Verhafteten später in das KZ Moringen, das KZ Uckermark oder das KZ Neuengamme eingewiesen. === Judenreferat === Das Judenreferat der Staatspolizeileitstelle Hamburg war maßgeblich in die Verfolgung der Hamburger Juden involviert. Zunächst war es Teil der Abteilung II B 2 und bestand ab 1938 als eigenständiges Referat. Bis 1941 war es beim Stadthaus in der Düsternstraße untergebracht, anschließend in der Rothenbaumchaussee 38, wo sich bis zum November 1938 das Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde befunden hatte. Ab dem Spätsommer 1943 befand sich das Judenreferat in der Nähe der St. Pauli-Landungsbrücken am Johannisbollwerk 19. Die Aufgaben dieser Abteilung umfassten die Überwachung jüdischer Einrichtungen und auch die Auswertung von entsprechenden Informationen anderer behördlicher Stellen. Gestapobeamte des Judenreferats nahmen Razzien und teils Verhaftungen in jüdischen Institutionen vor und waren an der Misshandlung jüdischer Bürger beteiligt. Mitarbeiter des Jüdischen Religionsverbandes Hamburg e. V. (bis 1938 Jüdische Gemeinde Hamburg) wurden gezwungen, Deportationslisten zu erstellen.Neben Beamten der Ordnungspolizei waren auch Gestapomitarbeiter des Judenreferats an der Durchführung von Deportation der Hamburger Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager beteiligt. Die Abteilung wurde von 1941 bis 1943 von Claus Göttsche geleitet, sein Nachfolger Hans Stephan bekleidete die Funktion bis Kriegsende. Vom Hannoverschen Bahnhof wurden zwischen Oktober 1941 bis Februar 1945 in 17 Transporten 5848 Juden deportiert, von denen über 5000 Opfer des Holocaust wurden. === Ausländerreferat === In Hamburg leisteten mehr als 400.000 Menschen aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern Zwangsarbeit zur Kompensation der zum Kriegsdienst eingezogenen deutschen Arbeitskräfte. Das Ausländerreferat der Staatspolizeileitstelle Hamburg koordinierte zwischen den zuständigen Polizeidienststellen und Betrieben die Überwachung der Zwangsarbeiter, da Sabotage, Bildung von Widerstandsgruppen, Rebellion und auch Beziehungen zwischen Deutschen und sogenannten Fremdvölkischen verhindert werden sollten. Dem von Albert Schweim geleiteten Ausländerreferat gehörten ab 1942 etwa 45 Beschäftigte an, die in kleineren Einheiten für Zwangsarbeiter einzelner Staaten zuständig waren. In den mehr als 1200 Lagern für Zwangsarbeiter arbeiteten die Mitarbeiter des Ausländerreferats mit den jeweiligen Lagerleitungen zusammen und unterhielten dort Spitzelnetze. Bekannt gewordene Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften wurden rigoros verfolgt und konnten Exekutionen nach sich ziehen. Die Einweisungen in das Arbeitserziehungslager Langer Morgen wurden hauptsächlich durch Angehörige des Ausländerreferats vorgenommen.Im Wehrkreis X war das Ausländerreferat auch für die dortigen Offizierslager (Oflag) und Stammlager (Stalag) zuständig, wo dessen Verantwortliche Exekutionen anordnen konnten bzw. selbst durchführten. === Verfolgung des Hamburger Widerstands === Neben weitgehenden Vollmachten für die Staatspolizeistellen zum Vollzug von „Sonderbehandlungen“ verfügte am 12. Juni 1942 der Leiter des Amts IV im RSHA Heinrich Müller den „Sondererlass zur verschärften Vernehmung“ zur Bekämpfung des organisierten Widerstandes. Dieser Erlass bevollmächtigte Gestapobeamte bei vermuteter Auskunftsverweigerung, Verdächtige schwer zu misshandeln und bis hin zu deren Tod Aussagen zu erpressen. Dieser Sondererlass bezog sich ausschließlich auf „Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Terroristen, Angehörige von Widerstandsbewegungen, Fallschirmagenten, Asoziale, polnische oder sowjetische Arbeitsverweigerer“. Nach Inkrafttreten des Erlasses richtete man innerhalb der Hamburger Gestapodezernats „Marxismus-Kommunismus“ im Juli 1942 das „Sonderreferat 1a1“ unter Kriminalinspektor Fritz Knuth ein. Das RSHA entsandte Mitte Oktober 1942 die Ermittler Horst Kopkow sowie dessen Mitarbeiter Walter Habecker von der Sonderkommission Rote Kapelle nach Hamburg, die als Folterinstrumente Arm- und Wadenklemmen zur Aussageerpressung mitbrachten. Mitarbeiter des Sonderreferats verwendeten ebenfalls Folterwerkzeuge zur Erzwingung von Geständnissen. Einer Gestapoangestellten erklärte der Kriminalsekretär Henry Helms zu den Wadenklemmen, dass es „eine Freude“ sei, „wie die Leute dabei hopsen und springen“.Um Gegner des NS-Regimes zu ermitteln war die Gestapo auf Zuträger aus Behörden, Betrieben und anderen Polizeidienststellen angewiesen. Auch durch Denunzianten gelang es der Gestapo NS-Gegner festzunehmen, wie beispielsweise im Februar 1942 die kleine Gruppe widerständiger Jugendlicher um Helmuth Hübener. V-Leute waren die wichtigsten Informanten der Gestapo, bekannte V-Leute der Hamburger Gestapo waren beispielsweise Maurice Sachs und Alfons Pannek. Der zur Kollaboration gezwungene ehemalige Kommunist Pannek arbeitete unter Helms als Agent Provocateur. Pannek, der hunderte Hamburger Widerstandskämpfer an die Gestapo verriet, betrieb aus Tarngründen einen Lesemappenvertrieb sowie eine Bücherei und unterhielt dort selbst einen V-Leute-Apparat mit eigener Sekretärin.Während des Krieges zerschlug die Hamburger Gestapo mehrere Widerstandsgruppen: Im Oktober 1942 deckte man die Aktivitäten der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe auf, danach wurden über 100 Mitglieder dieser Widerstandsgruppe durch die Gestapo festgenommen. Über 70 der Inhaftierten starben nach ihrer Gefangennahme, wurden hingerichtet oder durch Gestapomitarbeiter ermordet. Nachdem die Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe aufgeflogen war, geriet die Etter-Rose-Hampel-Gruppe ins Visier der Gestapo. Dieser antimilitaristische Freundeskreis junger NS-Gegner, seitens der Gestapo als „Gruppe der Nichtvorbestraften“ bezeichnet, wurde zerschlagen und die Mitglieder mehrheitlich vor Gericht gestellt und hingerichtet. Im Herbst 1943 begannen Ermittlungen der Gestapo zu den Aktivitäten der Hamburger Weißen Rose. Von November 1943 bis März 1944 wurden 30 Personen aus dem Umfeld der Gruppe festgenommen, von denen acht die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht erlebten. Zuletzt verfolgte die Gestapo im März 1945 die Widerstandsgruppe Kampf dem Faschismus (KdF), mehrere ihrer Mitglieder wurden auf Anordnung der Gestapo kurz vor Kriegsende ermordet.Im Rahmen der Aktion Gewitter wurden wenige Wochen nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler in Hamburg elf sozialdemokratische Politiker und die ehemalige kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete Antonie Schmidt durch die Gestapo verhaftet und in Schutzhaft genommen. === Kriegsende === Für den Fall eines Einmarsches alliierter Truppen nach Hamburg trafen der Höhere SS- und Polizeiführer Georg-Henning von Bassewitz-Behr, der Leiter der Hamburger Kriminalpolizei Johannes Thiele, sowie der Hamburger Gestapochef Josef Kreuzer bereits im Frühjahr 1944 Vorbereitungen zur Räumung des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel, da diese Häftlinge nicht durch alliierte Truppen befreit werden sollten. Nach weiteren Abstimmungen mit leitenden Gestapomitarbeitern wurden Anfang 1945 drei Listen angefertigt: Eine Liste enthielt die Namen derjenigen Häftlinge die entlassen werden sollten und eine weitere listete die zu „evakuierenden“ Häftlinge auf, welche am 12. April den Todesmarsch zum Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel-Hassee antreten mussten. Auf einer dritten Liste waren 71 zur Exekution bestimmte Häftlinge aufgeführt, die während der Endphaseverbrechen im KZ Neuengamme ermordet wurden.Vom 14. April bis zum 18. April 1945 mussten Häftlinge belastendes Material der SS- und Polizeidienststellen zum Untersuchungsgefängnis transportieren und im dortigen Kesselhaus verbrennen. Auch am Wallgraben beim Sievekingsplatz wurden Karteien, Akten, Verhörprotokolle, Personalunterlagen und sonstige Dokumente mittels Benzin verbrannt. Die Gestapomitarbeiter sollten untertauchen und sich dem Werwolf anschließen. Die Gestapo-Spitzel wurden aufgefordert Hamburg vorübergehend zu verlassen. == Nachkriegszeit, Aufarbeitung und Gedenken == Nach Kriegsende wurde die Hamburger Polizei durch die britische Militärverwaltung umgehend entnazifiziert. Da die Gestapomitarbeiter als Angehörige einer verbrecherischen Organisation galten, versuchten Fahnder der britischen Besatzungsbehörden die Aufenthaltsorte dieser Personengruppe zwecks Festnahme und Internierung zu ermittelten.Der ehemalige Gestapoleiter Seetzen und der Judenreferent Göttsche begingen bei ihrer Festnahme Suizid. Andere, wie Streckenbach und der ehemalige Leiter des Fahndungskommandos Kraus, gerieten in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Während Kraus in sowjetischer Kriegsgefangenschaft starb, kehrte Streckenbach 1955 nach Hamburg zurück und lebte von der Justiz unbehelligt bis an sein Lebensende in seiner Heimatstadt. Die ehemaligen Leiter der Gestapo Kreuzer, Blomberg und Kuhl wurden wegen Verbrechen an alliierten Staatsangehörigen von britischen Militärgerichten verurteilt: Blomberg und Kuhl wurden hingerichtet und Kreuzer erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Auch der ehemalige Kommandant des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel Willi Tessmann wurde durch ein britisches Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, während sein Vorgänger Johannes Rode in britischer Internierung starb.Bis 1946 wurden 340 Bedienstete der Hamburger Gestapo in Gewahrsam genommen, etwa 40 waren noch flüchtig. Das Hamburger Komitee ehemaliger politischer Gefangener arbeitete den alliierten Dienststellen zu, die mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen und entsprechenden Prozessvorbereitungen befasst waren. Auch die Hamburger Oberstaatsanwaltschaft, die Verbrechen von Deutschen an Deutschen untersuchte, bat das Komitee um Unterstützung bei ihren Ermittlungen. Dieses Komitee half u. a. durch die Beibringung belastender Dokumente bei den Vorermittlungen zum Neuengamme-Hauptprozess und den Prozessen mit dem Verfahrensgegenstand Verbrechen im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, die im Rahmen der Curiohaus-Prozesse stattfanden.Der bekannteste Prozess gegen Hamburger Gestapomitarbeiter fand vom 9. Mai 1949 bis zum 2. Juni 1949 vor dem Schwurgericht am Landgericht Hamburg statt und wird nach dem Hauptangeklagten auch als Helms-Prozess bezeichnet. Dieses Verfahren wurde gegen zwölf Gestapomitarbeiter und -Spitzel des Dezernats Marxismus-Kommunismus u. a. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt. Unter den Angeklagten befanden sich neben Helms und Pannek auch drei weibliche Beschuldigte, die als Angestellte der Gestapo beziehungsweise V-Leute tätig waren. Verfahrensgegenstand waren Misshandlungen mit Todesfolge, Aussageerpressungen, Freiheitsberaubung, KZ-Einweisungen, die Hinrichtung der 71 Häftlinge des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel im April 1945, Denunziationen, Bespitzelungen und die Unterschlagung von Wertgegenständen festgenommener Personen. Am 2. Juni 1949 verkündete das Gericht die Urteile: Pannek wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus und Helms zu neun Jahren Haft verurteilt. Des Weiteren wurden sieben Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren verhängt. Die drei weiblichen Angeklagten wurden freigesprochen. Der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone prüfte am 5. September 1950 die eingereichten Revisionsanträge. Das Urteil gegen Pannek, der wegen seiner Spitzeltätigkeit für die Gestapo und den daraus resultierenden Folgen für die Opfer in erster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, erlangte nach der Revision keine Rechtskraft und wurde später aus formalen Gründen eingestellt. Den Revisionsanträgen von Helms und einem weiteren Angeklagten wurde nicht stattgegeben. Pannek wurde umgehend und Helms vorzeitig im November 1953 aus der Haft entlassen.Bis Mai 1950 entließ man im Rahmen der Entnazifizierung über 1.300 Beamte aus dem Polizeidienst in Hamburg, darunter die Gestapobeamten. Als sogenannte 131er wurden danach jedoch etliche wieder in den Hamburger Polizeidienst übernommen. Ob dies in Hamburg auch für Gestapobeamte zutrifft, ist nicht gesichert, zumindest bemühten sich beispielsweise Ingo Eichmann und Walter Abraham erfolglos um erneute Übernahme in die Hamburger Polizei.Eine umfassende Studie zur Hamburger Gestapo liegt bis heute nicht vor, da bei der Zerstörung des Stadthauses im Juli 1943 auch die Unterlagen der Staatspolizeileitstelle verbrannten und gegen Kriegsende weiteres belastendes Material vernichtet wurde. Einschlägige Publikationen behandeln die Hamburger Gestapo lediglich am Rande bzw. über nur einen begrenzten Zeitraum oder Teilbereich. Das ehemalige Gestapo-Hauptquartier an der Stadthausbrücke 8 wurde nach Kriegsende u. a. von der Hamburger Baubehörde genutzt. Bis 1980 gab es dort keine Hinweise auf die Nutzung des Gebäudes im Nationalsozialismus. Mitarbeiter der Baubehörde setzten sich 1980 mit Spendenaufrufen und der Broschüre „Dokumentation Stadthaus in Hamburg. Gestapo-Hauptquartier von 1933 bis 1943“ dafür ein, am Haupteingang des Gebäudes eine Gedenktafel für die Opfer der Gestapo anzubringen. Diese Anregung wurde 1984 umgesetzt. Zum Gedenken an drei Männer, die im Gestapo-Hauptquartier zu Tode kamen, wurden 2008 und 2009 insgesamt drei Stolpersteine vor dem Haupteingang der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt an der Stadthausbrücke 8 verlegt.Der Hamburger Senat beschloss 2009 den Verkauf des Stadthauses an einen Privatinvestor. Im Rahmen des 2009 veröffentlichten „Gesamtkonzepts für Orte des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 in Hamburg“ des Hamburger Senats wurde festgelegt, dass der Investor im Stadthaus eine Dokumentationsstätte für das Gedenken an die Opfer der Polizeigewalt einrichtet. In Vorbereitung für die Einrichtung einer entsprechenden Gedenkstätte sichteten Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme historisches Material und initiierten die Ausstellung Dokumentation Stadthaus. Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus mit umfangreichem Begleitprogramm, die vom 19. Januar bis 10. Februar 2012 im Hamburger Rathaus zu sehen war. == Literatur == Herbert Diercks, Christine Eckel, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Stadthaus und die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus. Katalog der Ausstellungen am Geschichtsort Stadthaus, Metropol Verlag Berlin 2021, ISBN 978-3-86331-573-3. Herbert Diercks: Dokumentation Stadthaus. Die Hamburger Polizei im Nationalsozialismus. Texte, Fotos, Dokumente. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 2012, (Digitalisat). Herbert Diercks: Die Freiheit lebt. Widerstand und Verfolgung in Hamburg 1933–1945. Texte, Fotos und Dokumente. Herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Hamburger Rathaus vom 22. Januar bis 14. Februar 2010. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, [Hamburg] 2010. Herbert Diercks: Gedenkbuch „Kola-Fu“. Für die Opfer aus dem Konzentrationslager, Gestapogefängnis und KZ-Außenlager Fuhlsbüttel. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 1987. Ludwig Eiber: Unter Führung des NSDAP-Gauleiters. Die Hamburger Staatspolizei (1933–1937). In: Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-12572-X. Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933–1945. 2. Auflage. Röderberg-Verlag, Frankfurt 1980, ISBN 3-87682-036-7. Gertrud Meyer: Nacht über Hamburg. Berichte und Dokumente 1933–1945. Bibliothek des Widerstandes, Röderberg-Verlag, Frankfurt am Main 1971. Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, Bezirksverwaltung Hamburg, Bezirksverwaltung Hamburg: Dokumentation Stadthaus in Hamburg: Gestapo-Hauptquartier von 1933 bis 1943. Wartenberg, Hamburg 1981. Linde Apel, in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): In den Tod geschickt – Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg, 1940 bis 1945. Metropol Verlag, Hamburg 2009, ISBN 978-3-940938-30-5. Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten (Hrsg.): Wegweiser zu den Stätten von Verfolgung und sozialdemokratischem Widerstand in Hamburg. Teil I: Die innere Stadt. (PDF; 1,6 MB) Hamburg 2005. (abgerufen am 29. April 2012) Linde Apel, Frank Bajohr: Die Deportation von Juden sowie Sinti und Roma vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg 1940–1945. In: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg: Zeitgeschichte in Hamburg 2004. Hamburg 2005, S. 21–63, zeitgeschichte-hamburg.de (PDF) == Weblinks == Hamburgs Polizei in der Nazizeit auf www.ndr.de (abgerufen am 29. April 2012). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Staatspolizeileitstelle_Hamburg
Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen
= Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen = Die Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen war eine nach dem preußischen Kleinbahngesetz betriebene Straßenbahn zwischen Berlin und der 1920 nach Berlin eingemeindeten Landgemeinde Hohenschönhausen (ab 1911: Berlin-Hohenschönhausen). Betreiber der 1899 eröffneten Bahn war bis 1906 die Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen aus Nürnberg, anschließend die Aktiengesellschaft der Neuen Berliner Straßenbahnen Nordost. 1910 kaufte die Große Berliner Straßenbahn (GBS) die Gesellschaft auf und benannte sie in Nordöstliche Berliner Vorortbahn (NöBV) um. 1919 ging die Bahn in der GBS auf und wurde somit fester Bestandteil des Berliner Straßenbahnnetzes. Weite Teile der Strecke sind nach wie vor in Betrieb und werden gegenwärtig von der Straßenbahnlinie M5 der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) bedient. == Geschichte == === Vorgeschichte === Hohenschönhausen befand sich nach dem Bau der Stettiner Bahn 1842 und der Ostbahn 1867 in einer Region, die nur unzureichend an das preußische Eisenbahnnetz angeschlossen war. Mit dem Bau des Zentralvieh- und Schlachthofs entlang der Ringbahn südlich der Landsberger Allee im Jahr 1881 setzte ein größeres Bevölkerungswachstum in der Gemeinde ein. Entlang der Berliner Straße (ab 1985: Konrad-Wolf-Straße) entstanden die Kolonien Neu-Hohenschönhausen auf dem Gebiet des heutigen Sportforums und Wilhelmsberg im Bereich des heutigen Ortsteils Fennpfuhl. Ein weiterer großer Arbeitgeber war ab 1892 das Brauhaus Hohenschönhausen (ab 1903: Löwenbrauerei) in der Berliner Straße. 1890 verkaufte Manon Gropius das Rittergut Hohenschönhausen an den Kaufmann Gerhard Puchmüller, der es ab 1892 parzellieren ließ. Im darauf folgenden Jahr erwarb der Aachener Bankier Henry Suermondt das Gut von Puchmüller und gründete zur Vermarktung der Flächen die Grunderwerbs- und Bau-Gesellschaft zu Berlin. In der Folge entstand auf dem Gelände zwischen der Berliner Straße und dem Orankesee die erste Hohenschönhauser Villenkolonie. Die Neue Boden Aktien-Gesellschaft erwarb später das nördlich davon am Obersee gelegene Gelände von der Brauerei, auf dem sich um die Jahrhundertwende eine zweite Villenkolonie entwickelte. Zur verkehrlichen Anbindung des Dorfes und der Kolonien an Berlin richtete die Grunderwerbs- und Bau-Gesellschaft im Jahr 1893 eine Pferdeomnibuslinie zur Kreuzung Landsberger Allee Ecke Elbinger Straße (heute: Danziger Straße) ein. Hier bestand Anschluss an die Linien der Neuen Berliner Pferdebahn (NBPf) in Richtung Alexanderplatz. Mit dem am 1. Mai 1895 eröffneten Ringbahnhof Landsberger Allee westlich der Gemeindegrenze verfügte Hohenschönhausen über einen weiteren Anbindepunkt an den öffentlichen Nahverkehr. === Planung und Genehmigungsverfahren === Der Omnibus beförderte 1894 bereits 137.950 Personen und geriet damit bald an seine Leistungsgrenze. Im gleichen Jahr legte Suermondt dem Ausschuss des Kreises Niederbarnim einen Antrag auf Genehmigung einer Straßenbahnlinie Berlin–Hohenschönhausen vor. Dem Antrag lag ein detaillierter Plan der Strecke bei, die von der Landsberger Allee aus kommend über die Thaerstraße (ab 1911: Oderbruchstraße), Hohenschönhauser Straße und Berliner Straße zur Bahnhofstraße (ab 1912: Degnerstraße) führen sollte. Ausweichen waren in der Hohenschönhauser Straße sowie in Höhe der Orankestraße vorgesehen. Ferner sah der Plan einen Betriebshof mit angeschlossenem Elektrizitätswerk am östlichen Streckenende vor. Bis zum Steuerhaus an der Kreuzung Landsberger Allee Ecke Thaerstraße verlief die Bahn auf Berliner, anschließend bis zur Einmündung des heutigen Berkenbrücker Steigs auf Lichtenberger Gemeindegebiet.Am 17. Januar 1895 erteilte der Kreisausschuss die Genehmigung für den in Lichtenberg verlaufenden Abschnitt unter Auflagen. Diese sahen eine Verlegung des Gleises auf der südlichen Straßenseite vor. Die Kosten für die Neu- oder Umpflasterung der Straßen hatte das Unternehmen zu tragen, ebenso das Entfernen der Gleise bei einer Stilllegung. Als Sicherheit musste eine Kaution in Höhe von 10.000 Mark hinterlegt werden. Den von der Landgemeinde Lichtenberg (ab 1907/08 mit Stadtrechten, ab 1912: Berlin-Lichtenberg) geforderten Baumschutzmaßnahmen auf Kosten der Unternehmerin musste nicht nachgekommen werden. Die Gemeinde Hohenschönhausen fasste am 30. Juli 1895 den Beschluss, die Genehmigung der Bahn bis zum 31. Dezember 1925 zu erteilen, das entsprechende Genehmigungsschreiben wurde am 20. Januar 1896 verfasst. Es entsprach in weiten Teilen seinem Lichtenberger Pendant, aus dem einige Passagen übernommen wurden. Die Gesellschaft stimmte dem am 29. Januar 1896 vorbehaltlos zu.Zur Ausführung von Bau und Betrieb der Bahn schloss die Grunderwerbs- und Bau-Gesellschaft kurze Zeit darauf einen Vertrag mit der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen (Continentale) aus Nürnberg ab, die daraufhin im Jahr 1897 die Elektrische Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen gründete. In der Folge führte die Continentale Verhandlungen mit dem Berliner Magistrat, um die Bahn möglichst weit ins Weichbild der Stadt führen zu können. Beide Seiten einigten sich auf eine Verlängerung der Bahn über die Gleise der NBPf bis zur Landsberger Straße Ecke Waßmannstraße. Am 29. Juni sowie am 8. Juli 1898 unterzeichneten beide Seiten den entsprechenden Zustimmungsvertrag. Die Continentale verpflichtete sich darin, für die Nutzung der abgabepflichtigen Strecke jährlich acht Prozent der erzielten Bruttoeinnahmen an die Stadt Berlin abzugeben. Sollten die Gewinne sechs Prozent des investierten Kapitals übersteigen, ließ sich die Stadt mit der Hälfte dieser Überschüsse beteiligen. Entsprechend wurde dem Magistrat das Recht eingeräumt, sich über die finanzielle Situation der Unternehmerin informieren zu können. Unterdessen bemühte sich der Hohenschönhauser Gemeindevorstand um eine Verlängerung der Strecke zum Schulhaus in der Dorfstraße (ab etwa 1900: Hauptstraße). Die Gesellschaft, vertreten durch den Justizrat Julius Grosse-Leege, wollte dem zustimmen, sofern die Gemeinde einen entsprechenden Kostenbeitrag erbrächte. Diese erklärte sich zunächst bereit, die Kosten zur Bepflasterung der Berliner Straße in Höhe von 50.000 Mark zu übernehmen sowie eine Zinsgarantie von fünf Prozent für sechs Jahre zu übernehmen. Als Grosse-Leege darauf hinwies, dass bei Gewährleistung einer Zinsgarantie der Kreisausschuss erneut hätte verhandeln müssen und somit eine Verzögerung im Ablauf anstand, erhöhte die Gemeinde die Garantie auf jährlich 2500 Mark für die Dauer von zehn Jahren. Der Landrat des Kreises teilte daraufhin der Gemeinde mit, dass er dieses Vorhaben nicht genehmigen werde, da die Summe die Leistungsfähigkeit der Gemeinde übersteige. Er verlangte daher, dass sich die an der Strecke anrainenden Grundstückseigner an der Garantie beteiligten. Die Gesellschaft versprach schließlich günstigere Konditionen: Anstatt 50.000 Mark solle die Gemeinde nun 30.000 Mark zur Pflasterung aufbringen und das Kapital mit fünf Prozent (1500 Mark) über zehn Jahre verzinsen. Am 28. Juni 1898 beschloss die Gemeindevertretung, die Bedingungen der Gesellschaft zu akzeptieren. Als sich genügend Rückzeichner gefunden hatten, genehmigte der Kreisausschuss das Vorhaben. === Bau und Inbetriebnahme === Mit dem Vertragsabschluss von 1898 hatte sich die Continentale verpflichtet, die behördliche Genehmigung binnen sechs Monaten zu beantragen. Nach Erteilung der Konzession sollte der Bau unverzüglich beginnen und nach einem Jahr abgeschlossen werden, da diese sonst verfiel. Trotz der noch ausstehenden Konzession traf die Gesellschaft im laufenden Jahr erste Bauvorbereitungen und begann alsbald mit der Anlage der Strecke. Die Betriebszentrale sollte entsprechend den Plänen Suermondts in der Bahnhofstraße entstehen. Hier waren der Bau einer Wagenhalle, eines Kraftwerks zur Stromversorgung sowie der Verwaltung vorgesehen. Die Arbeiten kamen relativ zügig voran, sodass die Bahn am Vormittag des 21. Oktober 1899 behördlich abgenommen werden konnte. Die Eröffnung fand im Anschluss statt. Die Wagen, acht Trieb- und sechs Beiwagen, „prangten im Schmuck von Tannenlaub“ und trugen die bayerische Flagge als Hinweis auf das Nürnberger Unternehmen. Rund neun Monate darauf erteilte das Königliche Polizeipräsidium zu Berlin am 16. Juni 1900 die noch ausstehende Konzession.Die Züge fuhren die Strecke, deren Betriebslänge mit 6616 Metern angegeben war, in 30 Minuten bei einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Die Zugfolge lag bei 20 oder 24 Minuten. Eine dichtere Taktfolge schied zunächst aus, da die elektrische Zentrale noch nicht fertiggestellt war und die Bahn daher ihren Strom aus den Berliner Elektrizitätswerken beziehen musste. Neben dem Personenverkehr hatte das Unternehmen auf Verlangen des Magistrats gegen Entschädigung auch Abfälle, Kloakeninhalte und Leichen in speziell dafür vorgesehenen Wagen zu befördern. Häufigkeit und Umfang der letztgenannten Transporte sind nicht bekannt, jedoch gibt es in den Geschäftsberichten des Unternehmens mehrere Indizien für deren Durchführung. Die Notwendigkeit erklärt sich aus der Tatsache, dass die Bahn die direkte Verbindung zwischen dem Städtischen Krankenhaus im Friedrichshain und dem evangelischen Friedhof der St. Andreas- und St. Markus-Gemeinde sowie dem katholischen Friedhof der St. Pius- und St. Hedwigs-Gemeinde herstellte. === Verlängerung und Übernahme durch die Große Berliner Straßenbahn === Die Verkehrsleistung war in den ersten Jahren mäßig. 1902 beförderte die Bahn 1,3 Millionen Fahrgäste bei einer Belegschaft von 55 Mann. Eine Dividende wurde nicht ausgezahlt. Die Continentale bemühte sich bereits im Jahr 1900 um eine Verlängerung der Strecke über Kaiserstraße, Alexanderstraße, Grunerstraße, Neue Friedrichstraße und Wallstraße zum Spittelmarkt. Das Polizeipräsidium lehnte den Antrag mit Hinweis auf die geringe Breite der Neuen Friedrichstraße ab. In auswärtiger Richtung wurde der Gesellschaft 1906 die Vor-Konzession zur Verlängerung nach Ahrensfelde mit Option zum neuen Ostkirchhof erteilt. Dieses Vorhaben gelangte nicht zur Umsetzung. Ein erneuter Antrag vom Juli 1919 wurde mangels Bedarf abgelehnt. Am 10. Dezember 1906 übernahm die neu gegründete Neue Berliner Straßenbahnen Nordost AG die Bahn von der Continentalen Gesellschaft. Diese führte 1907 den 7,5-Minuten-Takt ein und erreichte am 4. August 1908 die Verlängerung um etwa 700 Meter in die unmittelbare Nähe des Alexanderplatzes. Das Streckengleis führte von der Endstelle Waßmannstraße weiter durch die Elisabethstraße zur Kurzen Straße. Die Fahrgastzahlen stiegen dadurch ebenfalls an, sodass das Unternehmen in diesem Jahr eine Dividende von vier Prozent, also 48.000 Mark auszahlen konnte. Um einer weiteren Konkurrenz zuvorzukommen erwarb die GBS, die bereits 1900 die NBPf übernommen hatte, zum 3. Mai 1910 die Aktien des Unternehmens. Dieses firmierte seitdem als Nordöstliche Berliner Vorortbahn AG (NöBV). Gleichzeitig übernahm die GBS die Verwaltung der Bahn.Im Jahr 1911 beförderte die Bahn etwa vier Millionen Fahrgäste. Besonders starke Nachfrage bestand jährlich zu Pfingsten und Totensonntag. Am 5. Mai 1913 ging die Verlängerung vom Schulhaus zur Kreuzung Wartenberger Straße Ecke Falkenberger Straße (seit 1984: Gehrenseestraße) in Betrieb. Die Linie der NöBV wurde am gleichen Tag bis zur Orankestraße zurückgezogen und erhielt die Linienbezeichnung NO. Die Bedienung des neuen Streckenabschnittes übernahm hingegen die Linie 164 der GBS, die bereits seit dem 15. April 1912 über die Gleise der NöBV zum Bahnhof Landsberger Allee fuhr. Deren westlicher Endpunkt befand sich zunächst am Bahnhof Jungfernheide und ab 1914 in Siemensstadt. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte die NöBV den Betrieb auf der Linie NO am 3. August 1914 vorläufig ein. Im Laufe des Jahres 1915 ging sie wieder in Betrieb. Am 28. Mai 1918 kam es zum Abschluss eines neuen Zustimmungsvertrags zwischen der GBS und ihren Nebenbahnen (Berlin-Charlottenburger Straßenbahn, Nordöstliche Berliner Vorortbahn, Südliche Berliner Vorortbahn und Westliche Berliner Vorortbahn) auf der einen und dem Verband Groß-Berlin auf der anderen Seite. Dieser Vertrag erlaubte der GBS unter anderem die Benutzung der Straßen bis 1949. Zudem war nach dem Vertragswerk eine Verschmelzung der GBS mit ihren Nebenbahnen vorgesehen. Zunächst fuhren ab dem 1. Januar 1919 sämtliche Straßenbahnen im Verbandsgebiet auf Rechnung desselben. Am 3. März 1919 gab die Verbandsversammlung dann ihre Zustimmung zur Verschmelzung der einzelnen Bahnen mit der GBS, die am 15. Mai 1919 schließlich vollzogen wurde. Die Rechnungsführung wurde rückführend zum 1. Januar 1918 vereinheitlicht. Die Nordöstliche Berliner Vorortbahn AG hörte damit auf zu existieren. Der Verband kaufte die GBS zwei Monate später auf. Diese ging nach Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes am 1. Oktober 1920 in das Eigentum der Stadt Berlin über. Die Gemeinden Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Lichtenberg wurden am gleichen Tag nach Berlin eingemeindet. Am 13. Dezember 1920 schlossen sich die Große Berliner Straßenbahn, die Straßenbahnen der Stadt Berlin und die Berliner Elektrischen Straßenbahnen zur Berliner Straßenbahn zusammen. === Entwicklung nach 1920 === Die Linien NO und 164 blieben nach der Bildung der Berliner Straßenbahn noch bestehen und bedienten den Abschnitt zwischen Waßmannstraße und Orankestraße gemeinsam. Die Linie NO wurde wahrscheinlich am 15. Dezember 1921 eingestellt, die 164 blieb bis zur vollständigen Betriebseinstellung am 9. September 1923 bestehen und verschwand danach völlig aus dem Berliner Linienschema. Ab dem 10. September 1923 übernahm die Linie 64 die Bedienung bis zur Degnerstraße. Die Abschnitte bis zur Wartenberger Straße sowie in der Elisabethstraße blieben vorerst ohne Verkehr. Ab dem 18. März 1924 fuhr die Linie 66 bis zur Wartenberger Straße, die 64 wurde gleichzeitig bis zum Dönhoffplatz zurückgezogen. Nach der Einstellung der 66 am 1. Dezember 1931 fuhr wieder ausschließlich die 64 nach Hohenschönhausen.Das westliche Streckenende in der Elisabethstraße wurde nach 1921 nicht mehr planmäßig befahren, blieb aber noch einige Jahre als Betriebsstrecke erhalten. Lediglich ein kurzer Abschnitt zwischen der Kleinen und Großen Frankfurter Straße – letztere wurde Anfang der 1930er Jahre bis zur Landsberger Straße durchgebrochen – diente ab den 1930er Jahren als Endhaltestelle für die Linien mit dem Ziel Alexanderplatz. Diesen Abschnitt legte die BVG-Ost am 3. August 1962 still.Die 64 bestand über den Zweiten Weltkrieg hinaus bis zur Einstellung des Straßenbahnverkehrs in der Leipziger Straße am 24. August 1970. Ab 1952 ergänzte sie die Linie 63, die nach zweimaliger Umbenennung seit dem 12. Dezember 2004 als M5 zwischen S-Bahnhof Hackescher Markt und Hohenschönhausen, Zingster Straße verkehrt. Der 1899 eröffnete Streckenabschnitt wird von ihr in fast voller Länge befahren. == Streckenbeschreibung == Der westliche Endpunkt befand sich seit 1908 in der Kurzen Straße, die unweit des Alexanderplatzes von der Landsberger Straße in Richtung Süden zur Kaiserstraße verlief. In Höhe der ehemaligen Kuppelendstelle befindet sich heute das Haus des Lehrers. Die Strecke führte von der Kurzen Straße über die Elisabethstraße und Waßmannstraße bis zum Büschingplatz, wo sie in die Gleise der bestehenden Strecken einmündete. Die Endhaltestelle von 1899 lag in der Waßmannstraße. Der gesamte Bereich bis zum Büschingplatz wurde beim Umbau des Alexanderplatzes in den 1960er Jahren neu gestaltet und überbaut. Die genannten Straßen wurden in diesem Zeitraum entwidmet. Im weiteren Verlauf folgte die Bahn den Gleisen der NBPf beziehungsweise GBS entlang der Landsberger Straße und Landsberger Allee bis zur Kreuzung Petersburger Straße/Elbinger Straße (heute: Danziger Straße). Während die Strecke der GBS in die Petersburger Straße einbog, traf von der Elbinger Straße die Strecke der Städtischen Straßenbahn auf die Gleise der Hohenschönhauser Straßenbahn. Beide Bahnen nutzten den Abschnitt bis zur Ebertystraße gemeinsam. Hinter der Ebertystraße stieg die Straße an, um die Ringbahngleise am Bahnhof Landsberger Allee zu überqueren. Für die Nutzung der Brücke hatte die Continentale Gesellschaft einen jährlichen Betrag in Höhe von 250 Mark an den preußischen Eisenbahnfiskus zu entrichten. Der entsprechende Vertrag wurde auf unbestimmte Zeit abgeschlossen.An der Kreuzung Landsberger Allee Ecke Oderbruchstraße, Thaerstraße und Roederstraße (heute: Karl-Lade-Straße) bog die Strecke in die Oderbruchstraße ein. Durch die Roederstraße fuhr seit dem 2. November 1912 eine Straßenbahn in Richtung Herzberge. Die Oderbruchstraße war an dieser Stelle gleichzeitig die Grenze zwischen Berlin und Lichtenberg. Die Bahn führte von der Oderbruchstraße aus entlang der Hohenschönhauser Straße und erreichte in Höhe des heutigen Berkenbrücker Steigs die Hohenschönhauser Gemarkung. Der Straßenname wechselte hier in Berliner Straße (seit 1985: Konrad-Wolf-Straße). Seit 1938 liegt die Grenze in diesem Bereich weiter westlich am Weißenseer Weg. An der Bahnhofstraße zweigte ein Gleis zur Zentrale ab, das 1962 über die Oberseestraße zur Blockumfahrung ausgebaut wurde. Die Gemeinde Hohenschönhausen benannte die Bahnhofstraße 1912 in Degnerstraße um, nach dem ersten Direktor der Bahn Friedrich Degner. Die Bahn folgte der Berliner Straße und im Anschluss der Hauptstraße in den Hohenschönhauser Dorfkern. Vor der Einmündung Wartenberger Straße befand sich die erste Endhaltestelle. Die 1913 eröffnete Verlängerung führte weiter über die Wartenberger Straße zur Falkenberger Straße, wo sich eine Kuppelendstelle befand. 1963 entstand im Dreieck zwischen Wartenberger und Falkenberger Straße eine Wendeschleife, die 1984 umgebaut wurde.Die Gleise wurden in Normalspur (1435 Millimeter) verlegt. Als Antriebssystem wurde der elektrische Betrieb über Oberleitung mit Rollenstromabnehmern festgeschrieben. Die Spannung betrug wie bei der Großen Berliner Straßenbahn 550 Volt Gleichstrom. Für den Fall, dass sich ein anderes Antriebssystem für die Berliner Verhältnisse besser bewähren sollte, wurde dem Unternehmen das Recht eingeräumt, dieses einzuführen. Eventuell auftretende vagabundierende Ströme hatte die Gesellschaft zu verantworten; da sich entlang der Strecke keine wissenschaftliche Einrichtung befand, erübrigte sich dieser Paragraph jedoch. Am 16. August 1954 stellte die BVG-Ost die die Strecke befahrende Linie 64 auf Bügelbetrieb um. == Tarif == Die Tarifangaben zur Hohenschönhauser Straßenbahn sind äußerst spärlich. Der Fahrpreis soll nach einer Quelle einheitlich zehn Pfennig betragen haben, nach anderen Angaben bestand ein gestaffelter Tarif zu zehn, 15 und 20 Pfennig. Es besteht Grund zur Annahme, dass diese Tarife zu unterschiedlichen Zeiten oder getrennt auf den Linien NO und 164 galten. Die Große Berliner Straßenbahn und ihre Nebenbahnen führten zum 1. Januar 1901 den Zehn-Pfennig-Einheitstarif ein, der nach 1910 auch auf der Linie der NöBV galt. Eine Ausnahme bildete die Linie 164, die im Anschlussbetrieb auf das Netz der NöBV und der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn (BCS) überging. Die GBS erhob auf diesen Linien einen erhöhten Tarif von 20 Pfennig für die gesamte Strecke sowie zehn beziehungsweise 15 Pfennig für einzelne Teilstrecken. Dieser Anschlusstarif wurde im Zustimmungsvertrag vom 28. Mai 1918 aufgehoben und durch einen 12,5-Pfennig-Einheitstarif für sämtliche Linien der GBS und ihrer Nebenbahnen ersetzt. Auf der Strecke nach Hohenschönhausen galt seitdem ausschließlich der Tarif der Berliner Straßenbahn. Über Ermäßigungen, Zeit- und Sammelkarten liegen keine Informationen vor. == Betrieb == === Fahrzeuge === Zur Betriebseröffnung 1899 standen acht Triebwagen (Nummern 1–8) und sechs Beiwagen (Nummern 9–14) zur Verfügung. In den Jahren 1900 und 1901 kamen neun Triebwagen (Nummern 19–23 und 24–27) hinzu, die in ihren Abmessungen und im Aufbau den Berolina-Wagen der GBS glichen, 1902 folgten vier Beiwagen. Diese Fahrzeuge waren in ihren Abmessungen identisch mit den Beiwagen von 1899. Da sie zudem numerisch in die vorhandene Lücke einsortiert wurden (Nummern 15–18), besteht die Vermutung, dass die Fahrzeuge mit den älteren Wagen gemeinsam bestellt wurden. Infolge der Linienverlängerung zur Kurzen Straße beschaffte die Bahn im Jahr 1908 fünf weitere Beiwagen, darunter einen Decksitzwagen. Mit der Verwaltungsübernahme durch die GBS wurden die Triebwagen von 1899 zu Beiwagen und umgekehrt die Beiwagen von 1908 zu Triebwagen umgebaut. Der Decksitzwagen wurde zum Eindecker umgebaut. Die genauen Gründe für den Umbau der Fahrzeuge sind nicht bekannt. Die Wagen von 1908 verfügten über ein größeres Sitzplatzangebot, zudem waren die Beiwagen 28 und 29 ebenfalls mit Berolina-Fahrgestellen ausgestattet, was die Wartung der Triebwagen vereinfacht haben dürfte. Die neuen Triebwagen übernahmen den Antrieb der alten Fahrzeuge. Einhergehend mit dem Umbau erfolgte eine Neunummerierung des Wagenparks. Triebwagen erhielten Nummern unter 30, Beiwagen entsprechend die darüber. Sämtliche Fahrzeuge gingen 1920 in den Bestand der BSt über. Diese musterte die Fahrzeuge bis 1930 aus, ein Teil ging in den Arbeitswagenpark über. === Betriebshof === Der Betriebshof lag in der Bahnhofstraße 7–10 (ab 1912: Degnerstraße) in Hohenschönhausen. Im hinteren Grundstücksteil befand sich eine einständige Wagenhalle mit sechs Hallengleisen sowie die daran angeschlossenen Betriebsräume mit Werkstatt, Lackiererei, Tischlerei, Schmiede und Pissoir. Die links von der Einfahrt aus gesehenen Gleise verfügten im vorderen Bereich über Revisionsgruben. Ein weiteres Gleis führte in die links davon gelegene Werkstatt sowie die dahinter gelegene Lackiererei. Im vorderen Teil des Grundstücks stand das Verwaltungsgebäude der Bahn. Auf dem Gelände befand sich ferner ein Elektrizitätswerk zur Stromversorgung. Der Hof bot 1918 Unterstellmöglichkeiten für 41 Wagen auf einer Fläche von 12.608 Quadratmetern. Nach der Übernahme der NöBV durch die GBS führte diese den Hof kurzzeitig unter der Nummer XXIII. Nach dem Zusammenschluss zur BSt Ende 1920 wurde er als Betriebshof geschlossen.1929 pachtete der Unternehmer Carl Bresin die Halle und richtete darin eine Nährmittelfabrik ein. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halle zerstört, der Verwaltungsbau erlitt schwere Beschädigungen. 1948 erwarb das Ehepaar Anna und Georg Reichardt den beschädigten Verwaltungsbau und richtete darin ein Kino ein. Der Name des 1956 eröffneten Kinos – Uhu – ging auf einen besagten Vogel zurück, der während der Aufbauarbeiten in der Ruine nistete. 1959 übernahm der Berliner Magistrat das Kino und nannte es 1967 in Venus um. In den 1970er und 1980er Jahren diente das Gebäude zudem als zweite Spielstätte des Kabaretts Die Distel, die Vorstellungen fanden dreimal wöchentlich alternierend zu denen im Admiralspalast statt.Nach der Eröffnung eines Multiplex-Kinos am S-Bahnhof Hohenschönhausen musste das Kino im früheren Betriebshof im Jahr 2000 schließen. Einer vorübergehenden Wiedereröffnung im Jahr 2004 folgte die Einrichtung eines Fotoateliers Ende 2012. Am 23. Oktober 1999 wurde anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Bahn eine Gedenktafel am Gebäude angebracht. Auf dem Gelände befanden sich bis in die 1990er Jahre noch Gleisreste. == Literatur == Die Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen. In: Berliner Verkehrsblätter. Hefte 12, 1956; Heft 1, 1957. Wanja Abramowski: 90 Jahre Straßenbahn Berlin-Hohenschönhausen. 1989. Michael Günther: Mit Zinsgarantie zum Gutsschloß. Wie die Straßenbahn nach „Hohen=Schönhausen“ kam. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. Heft 5, 1999. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn_Berlin%E2%80%93Hohensch%C3%B6nhausen
Straßenbahnen der Stadt Berlin
= Straßenbahnen der Stadt Berlin = Die Straßenbahnen der Stadt Berlin (SSB), auch Städtische Straßenbahnen in Berlin genannt, waren der erste kommunale Straßenbahnbetrieb in den damaligen Grenzen Berlins. Um der Monopolstellung der privaten Gesellschaft Große Berliner Straßenbahn (GBS) entgegenzutreten, fasste die Berliner Stadtverordnetenversammlung im Oktober 1900 den Beschluss, künftig Straßenbahnen auch auf eigene Rechnung zu betreiben. Die ersten Strecken gingen am 1. Juli 1908 in Betrieb und wurden anschließend zügig erweitert. Am 1. Dezember 1910 übernahmen die Städtischen Straßenbahnen den Betrieb auf der sogenannten Flachbahn, die vorher von der Hochbahngesellschaft betrieben worden war. Die Netzerweiterung fand mit der Inbetriebnahme des Lindentunnels im Dezember 1916 ihren vorläufigen Abschluss. Nach der Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin wurden am 13. Dezember 1920 die Städtischen Straßenbahnen und die Berliner Elektrischen Straßenbahnen mit der Großen Berliner Straßenbahn zur Berliner Straßenbahn vereinigt. Die SSB wiesen zu diesem Zeitpunkt eine Streckenlänge von 31,2 Kilometern auf und verzeichnete insgesamt 193 Wagen (115 Trieb- und 78 Beiwagen) in ihrem Bestand. == Geschichte == === Vorgeschichte === Zu Beginn der 1890er Jahre bestanden in Berlin drei Pferdebahnunternehmen: die Berliner Pferde-Eisenbahn (BPfE; ab 1894 als Berlin-Charlottenburger Straßenbahn, BCS), die Große Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE) und die Neue Berliner Pferdebahn (NBPf). Von diesen Gesellschaften war die GBPfE mit Abstand die größte, 1890 erbrachte sie rund 60 Prozent der Verkehrsleistungen in Berlin (Stadt- und Ringbahn sowie Pferdeomnibus mit eingeschlossen). 1894 baute sie ihre Position durch die Verwaltungsübernahme der NBPf aus. Im Folgejahr eröffneten Siemens & Halske mit den Elektrischen Straßenbahnen in Berlin (ab 1899 als Berliner Elektrische Straßenbahnen AG, BESTAG) die erste elektrische Straßenbahnlinie in den damaligen Grenzen Berlins. Die GBPfE, die zunächst die hohen Kosten einer Netzelektrifizierung scheute, zog 1896 nach und eröffnete anlässlich der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park ihre ersten elektrischen Linien. Nachdem das Unternehmen erkannte, dass die Vorteile gegenüber dem Pferdebahnbetrieb überwogen, schlossen am 2. Juli 1897 und 19. Januar 1898 die GBPfE und die NBPf auf der einen und die Stadt Berlin auf der anderen Seite einen neuen Zustimmungsvertrag ab. Kernpunkt dieses als „Umwandlungsvertrag“ bezeichneten Papiers war die Elektrifizierung des Pferdebahnnetzes. Die Stadt verbot das Aufhängen von Oberleitungen an repräsentativen Stellen, die Wagen sollten die entsprechenden Abschnitte mittels Akkumulatoren überbrücken. Der Gesellschaft wurde der Betrieb von Straßenbahnen bis zum 31. Dezember 1919 gestattet. Die Generalversammlung der GBPfE änderte anlässlich der bevorstehenden Elektrifizierung am 25. Januar 1898 ihren Namen in Große Berliner Straßenbahn A.-G. (GBS) um.In einer früheren Fassung des Umwandlungsvertrags waren mehrere Neubaustrecken im Netz der GBS als Bauverpflichtung enthalten. Die Sozialdemokraten in der Berliner Stadtverordnetenversammlung äußerten dazu Bedenken, da sie eine Stärkung der GBS befürchteten. Die Stadt schrieb diese Strecken daher separat aus, woraufhin Angebote von der GBS sowie der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen eingingen. Von den Verhandlungen mit letzterer erhoffte sich die Stadt eine dauerhafte Konkurrenz zweier Verkehrsunternehmen und eine günstige Verkehrsentwicklung. Die Continentale Gesellschaft weigerte sich jedoch, eine dauerhafte Garantie für die Unabhängigkeit von der GBS zu geben. Stattdessen erfuhren die Stadtverordneten, dass das Unternehmen mit den hinter der GBS stehenden Firmen bereits Fusionsverhandlungen führte.Die städtische Verkehrs-Deputation zog daraufhin auf Anraten der Verhandlungskommission den Bau und Betrieb eigener Strecken in Erwägung. Zusätzlich erhoffte man, so ausreichend Erfahrungen auf dem Straßenbahnsektor zu sammeln, da nach Ablauf des Zustimmungsvertrags 1919 die Option auf den Erwerb der GBS bestand. Der gefasste Entschluss wurde kurze Zeit darauf durch zwei wesentliche Maßnahmen bekräftigt: Am 4. Mai 1900 erteilte der Berliner Polizeipräsident auf Weisung des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten der GBS die Konzession zum Betrieb von Straßenbahnen bis zum 31. Dezember 1949. Die Stadt erfuhr von diesem Vorgang erst aus der Presse und fühlte sich von den Staatsbehörden übergangen. Da der Zustimmungsvertrag bereits 1919 auslief, kam es infolge der Unklarheiten zu einer Reihe von Prozessen zwischen dem Unternehmen und der Stadt, die das Verhältnis zueinander verschlechterten. Nach dem strengen Winter 1898/1899 einigten sich Stadt, Polizeipräsidium und GBS auf eine Verkürzung der im Akkumulatorbetrieb befahrenen Streckenabschnitte. Auf Wunsch der GBS ordnete der Polizeipräsident am 26. September 1900 dann die vollständige Einstellung des Akkumulatorbetriebs an. Obwohl die Stadt die Notwendigkeit anerkannte, fühlte sie sich ein weiteres Mal von den staatlichen Behörden übergangen.Am 18. Oktober 1900 fasste die Stadtverordnetenversammlung auf Antrag des Magistrats mit 113:9 Stimmen den Beschluss zum Aufbau eines städtischen Straßenbahnnetzes. === Netzplanung und Eröffnung === Die von der Verkehrs-Deputation gefassten Beschlüsse sahen zunächst die Einrichtung von drei Strecken vor: Zoologischer Garten – Landwehrkanal – Mariannenstraße – Manteuffelstraße – Manteuffelbrücke (geplant) – Küstriner Platz – Landsberger Tor Landwehrkanal – Alexandrinenstraße – Dresdener Straße Seestraße – Torfstraße – Heidestraße – Reichstagufer – Eiserne BrückeAuf Anregung des Polizeipräsidenten wurden vier weitere Strecken in die Planungen aufgenommen: Potsdamer Straße Ecke Winterfeldtstraße – Hafenplatz – Dönhoffplatz Neustädtische Kirchstraße – Dönhoffplatz (Querung der Straße Unter den Linden) Stettiner Bahnhof – Bernauer Straße – Danziger Straße – Petersburger Straße – Warschauer Brücke Weddingplatz – Voltastraße – Wattstraße – Bernauer StraßeDie Deputation legte diese Pläne für ein erweitertes Netz dem Polizeipräsidenten zur Erteilung der staatlichen Genehmigung vor. Dieser äußerte in Absprache mit der Königlichen Eisenbahndirektion Berlin Bedenken gegenüber den innerstädtischen Linien, da die betroffenen Straßenzüge keinen weiteren Verkehr aufnehmen könnten. Lediglich den nördlichen Strecken vom Stettiner Bahnhof beziehungsweise Weddingplatz zur Warschauer Brücke wurde eine Realisierungsmöglichkeit bescheinigt. Die Kreuzung der Straße Unter den Linden hatte der deutsche Kaiser und preußische König Wilhelm II. zuvor im April 1901 abgelehnt. Da die verbliebenen Strecken einen zu geringen Nutzen erwarten ließen, erweiterte die Stadt die Netzplanungen nochmals um drei weitere Linien: Großgörschenstraße – Dönhoffplatz Kreuzberg – Dönhoffplatz Hermannplatz – DönhoffplatzDas Projekt legte man nach Billigung durch den Magistrat erneut dem Polizeipräsidenten vor. Dieser untersagte eine Benutzung der Augustabrücke über den Landwehrkanal, so dass die Linie Großgörschenstraße – Dönhoffplatz zurückgestellt werden musste. Zudem verweigerte man der Stadt die Anlage von Gleisen in der Petersburger Straße. Eine Mitbenutzung der Gleise der GBS scheiterte, da diese überhöhte finanzielle Forderungen stellte. Der Endpunkt dieser Linie lag daher vorerst an der Elbinger Straße. Weitere Änderungen gab es in der Friedrichstadt, wo die GBS erfolgreich gegen den Gleisbau in der Friedrichstraße intervenierte, und der Endpunkt der vom Kreuzberg kommenden Linie zur Behrenstraße verlegt wurde. Auf Grundlage des überarbeiteten Entwurfs wurde der Stadt am 24. Oktober 1906 die Baugenehmigung durch königliche Kabinettsorder erteilt. Bezüglich der innerstädtischen Endhaltestellen in der Krausenstraße (Dönhoffplatz) und Behrenstraße war die Stadt verpflichtet, diese zu verlegen, sofern es die Aufsichtsbehörde – die Königliche Eisenbahndirektion Berlin – für notwendig erachtete. Da in diesem Bereich zwangsläufig die Gleisanlagen der GBS und ihrer Tochtergesellschaften mitgenutzt werden mussten, hier aber noch keine Einigung bestand, konzentrierte sich die Stadt zunächst auf den Bau der Nordstrecken vom Weddingplatz beziehungsweise Stettiner Bahnhof zur Landsberger Allee, Ecke Elbinger Straße. Die Genehmigung erteilte der Polizeipräsident am 10. Januar 1907, die Stadt genehmigte einen Monat darauf die benötigten Finanzmittel. Währenddessen reiften die Planungen für eine Erweiterung dieser Linien. Für die Verlängerung nach Süden vereinbarte man mit der Neuen Berliner Straßenbahnen Nordost A.-G. die Nutzung ihrer Gleise in der Landsberger Allee. Im weiteren Verlauf sollte die Strecke durch die Ebertystraße und somit parallel zur Petersburger Straße zum Zentralviehhof geführt werden. Die Genehmigung ging am 31. Oktober 1907 ein, die erforderlichen Mittel bewilligte die Stadt am 12. Dezember 1907. Im November desselben Jahres begannen die Bauarbeiten an der Strecke. Die Arbeiten gingen schnell vonstatten, sodass die behördliche Abnahme ein halbes Jahr später am 19. Juni 1908 erfolgen konnte. Am 1. Juli fand die feierliche Eröffnung des städtischen Straßenbahnbetriebs unter Anwesenheit von Oberbürgermeister Martin Kirschner und Stadtbaurat Friedrich Krause statt. Der erste planmäßige Zug rückte kurz nach Mittag aus dem Betriebshof in der Kniprodestraße aus. Die Linienkennzeichnung erfolgte mittels farbiger Signaltafeln an den Stirnseiten der Fahrzeuge, grün für die Linie Stettiner Bahnhof – Landsberger Allee und rot/weiß für die Linie Weddingplatz – Landsberger Allee. Wenige Wochen später gingen die Verlängerungen vom Weddingplatz zum Rudolf-Virchow-Krankenhaus sowie von der Landsberger Allee zum Zentralviehhof in Betrieb. Die Streckenlänge betrug somit im ersten Jahr 10,4 Kilometer. Die Baukosten beliefen sich einschließlich der Erweiterungen auf 3.106.465,75 Mark. === Ausbau nach Süden === Seit 1905 führte die Stadt Verhandlungen mit der Hochbahngesellschaft zur Übernahme der von ihr betriebenen Flachbahn. Diese Straßenbahnlinie verkehrte im Anschluss an die Hochbahn zwischen Warschauer Brücke und Zentralviehhof und spielte somit eine zentrale Rolle beim Ausbau des städtischen Straßenbahnnetzes in Richtung Süden. Am 28. Oktober 1909 bewilligte die Stadtverordnetenversammlung Mittel in Höhe von 700.000 Mark zum Erwerb der Strecke. Die Übernahme und gleichzeitige Verlängerung der städtischen Linien erfolgte am 1. Januar 1910. Gleichzeitig nahm die Hochbahngesellschaft eine neue Straßenbahnstrecke zwischen Warschauer Brücke und Lichtenberg in Betrieb. Diese war ihr zuvor vertraglich zugesichert worden.Am 1. Januar 1911 eröffnete die Stadt die Verlängerung von der Warschauer Brücke zur Wiener Straße nahe dem Görlitzer Bahnhof. Es folgten Verhandlungen mit der damals noch selbstständigen Stadt Neukölln über eine Erweiterung der Bahn bis zum Hermannplatz, die am 20. Dezember 1912 in Betrieb gehen konnte. Die Streckenlänge betrug nun 15,3 Kilometer. Stadt und GBS einigten sich am 18. August 1911 auf einen neuen Zustimmungsvertrag und legten ihre Streitigkeiten somit weitgehend bei. Nun konnte die Stadt mit dem Bau der südlichen Streckenabschnitte beginnen. Für die Linie von der Großgörschenstraße bot sich indes mit dem Bau der Köthener Brücke eine neue Querung über den Landwehrkanal an. Als gemeinsamer Endpunkt der Südstrecken war anstelle des Dönhoffplatzes nun die Behrenstraße vorgesehen. Die Arbeiten an der Strecke Hermannplatz – Behrenstraße, die von der grünen Linie befahren werden sollte, begannen am 1. Oktober 1912. Dieser Abschnitt ging am 8. Mai 1913, nach anderen Angaben am 10. Mai, in Betrieb. Die Linien Kreuzberg – Behrenstraße (Signalfarbe grün/weiß) und Großgörschenstraße – Behrenstraße (Signalfarbe blau/weiß, nach anderen Angaben gelb oder orange) folgten am 23. August 1913 sowie am 1. Oktober 1913. Alle drei Linien nutzten mehrfach kürzere Streckenabschnitte der anderen Gesellschaften mit (siehe unten). Ende 1913 verfügten die Städtischen Straßenbahnen über 26,7 Kilometer eigene Strecken und eine Gleislänge von 58,6 Kilometer. Auf einer Länge von 11,2 Kilometer befuhren die Züge Gleise fremder Bahnen. Die beiden jüngsten Linien mussten mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 2. August 1914 eingestellt werden, da ein Großteil des Personals zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Obwohl die Stadt ihre Verlängerung in Richtung Norden vorsah, gingen sie nie mehr in Betrieb. Auf den übrigen Linien musste wegen des Personalmangels der Fahrplan trotz steigender Fahrgastzahlen ausgedünnt werden. Wie auch in anderen Betrieben, setzte die Städtische Straßenbahn zunehmend Frauen im Schaffner- sowie im Fahrdienst ein. 1916 waren von 564 Angestellten 177 Personen weiblich. === Ringschluss im Zentrum === Die Endhaltestellen der grünen Linie in der Borsigstraße und Behrenstraße lagen etwa anderthalb Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Eine Verbindung dieser beiden Strecken zur Ringlinie war daher das nächste Projekt. Problematisch gestaltete sich hierbei immer noch die Querung des Boulevards Unter den Linden. Anders als die meisten Straßen im Stadtgebiet unterstanden die „Linden“ direkt dem deutschen Kaiser und preußischen König, so dass eine Kreuzung nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis möglich war. Gesuche nach einer weiteren Kreuzung neben der bestehenden Strecke der GBS in Höhe des Opernhauses wies der Monarch strikt ab. Einen entsprechenden Antrag soll er angeblich mit der Bemerkung „Nein, wird unterirdisch gemacht!“ versehen haben.Stadt und GBS erarbeiteten daraufhin unabhängig voneinander eigene Tunnelpläne, wobei die GBS neben dem Lindentunnel auch weitere unterirdische Strecken entlang des Boulevards sowie der Leipziger Straße vorsah. Die Stadt hingegen plante einen viergleisigen Straßenbahntunnel in Höhe der bestehenden Lindenkreuzung. Dieser sollte neben den eigenen Linien auch die der GBS und der städtischen BESTAG mit aufnehmen können. Eine andere Lage des Bauwerks kam nicht infrage, da andernorts die erforderlichen Rampen nicht hätten errichtet werden können oder aber der erforderliche Grunderwerb zu teuer gekommen wäre. 1909 lehnte der preußische Minister für öffentliche Arbeiten das Konzept der GBS ab. Mit dem Zustimmungsvertrag von 1911 einigten sich beide Seiten auf den Bau eines gemeinsamen Tunnels unter Leitung der Stadt Berlin. Der Tunnel wurde zwischen 1914 und 1916 gebaut. Die nördliche viergleisige Rampe begann nahe der Dorotheenstraße am Kastanienwäldchen zwischen Universität und Neuer Wache. In Höhe des nördlichen Fahrbahnrands der Linden teilte sich der Tunnel in einen Ost- und einen Westast. Der Westtunnel führte in einer Gegenkurve auf den Kaiser-Franz-Joseph-Platz zu, wo sich eine Rampe anschloss. Der Osttunnel führte fast geradlinig weiter und endete östlich des Opernhauses. Die Linien der Städtischen Straßenbahnen und der BESTAG sollten durch den Westtunnel geführt werden, die Linien der GBS und ihrer Tochtergesellschaften durch den Osttunnel. Um eine Kreuzung an der nördlichen Rampe zu vermeiden, gestattete die Stadt der GBS ihre von Nordwesten kommenden Linien ebenfalls durch den Westtunnel zu führen. Nach Problemen mit der Signalanlage ging der Westtunnel am 17. Dezember 1916 in Betrieb, der Osttunnel folgte zwei Tage später.Neben dem nun geschaffenen „Städtischen Ostring“ sahen die Planungen neue Strecken im Westen und Norden Berlins vor. Von der Schönhauser Allee aus kommend war eine Strecke über Bornholmer Straße, Christianiastraße und Seestraße bis zum Oskarplatz vorgesehen, zusätzlich eine Verbindung von dieser Strecke über die Schulstraße und Luxemburger Straße zum Bestandsnetz. Bedient werden sollte diese Verbindung durch die eingestellten Linien Grün/Weiß und Blau/Weiß. Die bestehende Linie Rot/Weiß sollte vom Augustenburger Platz über Alt-Moabit, Hansaplatz, Großer Stern und Potsdamer Platz zum „Städtischen Großen Ring“ geschlossen werden, zusätzlich sollte entlang dieser Strecke und durch den Lindentunnel eine Linie „Städtischer Westring“ verkehren. Infolge des Ersten Weltkrieges konnte nur die Verlängerung vom Virchow-Krankenhaus zur Kreuzung Ottostraße Ecke Alt-Moabit am 1. Mai 1915 verwirklicht werden. Für die Fortführung in Richtung Großer Stern bestand hier eine Gleisverbindung zum Netz der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn. An den Nordstrecken wurde bis Ende 1917 gearbeitet, sie waren bis dahin mit Ausnahme der Oberleitungen fertiggestellt. === Zusammenschluss zur Berliner Straßenbahn und weitere Entwicklung === Zwischen dem Verband Groß-Berlin, der sich ab 1912 um die Verkehrsbelange der Hauptstadtregion kümmerte, und der Großen Berliner Straßenbahn und ihren Tochtergesellschaften kam es 1918 zum Abschluss eines neuen Zustimmungsvertrages. Der Zweckverband stand darin der GBS das Recht zu, ihre Tochtergesellschaften vollständig zu übernehmen. Nachdem dies geschah, erwarb der kommunale Verband die GBS und die privaten Berliner Ostbahnen. Mit Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes am 1. Oktober 1920 trat die Einheitsgemeinde Groß-Berlin dessen Rechtsnachfolge an. Mit Ausnahme der Hochbahngesellschaft waren damit sämtliche Straßenbahnunternehmen im Stadtgebiet in kommunaler Hand. In mehreren Schritten übernahm die GBS anschließend die Betriebe der ehemals selbstständigen Vorortgemeinden, bevor auf diese dann am 13. Dezember 1920 die Städtischen Straßenbahnen und den Berliner Elektrischen Straßenbahnen unter gleichzeitiger Namensänderung zur Berliner Straßenbahn (BSt) aufgeschmolzen wurden.Mit Gründung der Berliner Straßenbahn entstand der damals größte einheitlich geführte Straßenbahnbetrieb Europas. Betrieblich bestanden noch große Probleme durch nicht vorhandene Gleisverbindungen einzelner Teilnetze und die unterschiedlichen Stromabnehmertypen. Aus Kostengründen wurden die von der GBS verwendeten Rollenstromabnehmer vorgezogen, obwohl die von der Städtischen Straßenbahn verwendeten Bügelstromabnehmer eine wesentlich einfachere Fahrleitungskonstruktion erlaubten. Im Zuge der Umstellung legte die Berliner Straßenbahn eine Reihe parallel zueinander verlaufender Strecken, beispielsweise in der Ebertystraße, still. Weitere Abschnitte folgten mit der Inflation 1923. Der Verkehr durch den Lindentunnel ruhte ab dem 10. September 1923 über ein halbes Jahr, der Westtunnel blieb dauerhaft stillgelegt. Im April 1921 erhielten die beiden verbliebenen vormals städtischen Linien die Nummern 13 (Rot/Weiß) und 9 (Grün) zugeordnet. Die 13 wurde im Frühjahr 1922 in Linie 4 umbenannt und über den Großen Stern zum „Ost-West-Ring“ geschlossen, der in seiner Linienführung weitgehend dem geplanten „Städtischen Großen Ring“ entsprach. Die bereits von der Städtischen Straßenbahn errichtete Strecke von der Seestraße zur Bornholmer Straße ging am 12. Oktober 1928 in Betrieb. Mit dem gleichen Tag wurde die Linie 8 zum „Nordring“ geschlossen.Die 1929 aus dem Zusammenschluss von Straßenbahn, Hochbahngesellschaft und der Allgemeinen Berliner Omnibus AG hervorgegangene BVG gab den Streckenabschnitt vom Stettiner Bahnhof bis zur Dorotheenstraße mit dem Bau des Nordsüd-S-Bahn-Tunnels Mitte der 1930er Jahre auf. Der Lindentunnel blieb nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1950 ohne planmäßigen Verkehr, die Strecke ging nach Ende der III. Weltfestspiele der Jugend am 2. September 1951 endgültig außer Betrieb. Auf den in West-Berlin verbliebenen Streckenabschnitten stellte die BVG bis 1964 den Straßenbahnverkehr ein.Die in Ost-Berlin gelegenen Abschnitte blieben mit Ausnahme der Innenstadtstrecken um den Lindentunnel und des Abschnitts in der Ebertystraße und Thaerstraße erhalten. Ihre Bedienung erfolgte überwiegend durch die Linie 4 zwischen Eberswalder Straße und Warschauer Straße sowie der 1948 geschaffenen Linie 3 (als Nachfolger der Linie 8) im Zuge der Bornholmer Straße bis zur Sektorengrenze. Nach zweimaliger Umbenennung verkehren diese Linien seit 2004 als M10 beziehungsweise M13. Nach der Wende wurden in den Jahren 1995 bis 2006 einzelne Streckenabschnitte neu errichtet, die zuvor bereits die Städtischen Straßenbahnen befuhren. == Fahrzeuge == Der Wagenpark der Städtischen Straßenbahnen war sehr einheitlich gestaltet. Bis 1919 beschaffte die Stadt 115 vierachsige Maximum-Triebwagen und 78 zweiachsige Beiwagen, die nach der Anzahl ihrer Fenster die Bezeichnungen Typ 8 beziehungsweise Typ 6 erhielten. Innerhalb der Serien gab es geringfügige Abweichungen, die durch Majuskeln in der Typenbezeichnung verdeutlicht wurden. Die Lackierung war in ockergelb mit schwarz abgesetzt. Die Zierlinien waren rotbraun lackiert, ebenso Wagennummern und Beschriftung. Die Nummern waren an den Stirnseiten sowie neben den Endeinstiegen an den Längsträgern angeschrieben, dazwischen stand der Schriftzug Strassenbahnen der Stadt Berlin. Mittig darüber prangte das Berliner Stadtwappen. Bei der BESTAG waren acht Trieb- und zehn Beiwagen dieser Bauarten ebenfalls unterwegs.Die Wagenkästen waren aus Eichenholz gefertigt. Der Bodenrahmen bestand ebenfalls aus Eiche und war mit Eisen verstärkt. Die Triebwagen verfügten über zwei Maximum-Drehgestelle, die Beiwagen hatten kein separates Fahrgestell. Die Verantwortlichen legten großen Wert auf eine gediegene Innenausstattung. Der Fahrgastraum war mit poliertem Mahagoniholz verkleidet. Beschläge, Haltestangen und -griffe bestanden aus Messing. Die Decke bestand aus Vogelaugenahorn und war mit Spiegellack überzogen. Die Beleuchtung erfolgte über zwei zweiarmige sowie einen dreiarmigen Kronleuchter sowie zusätzlich über das Laternendach. Die Seitenfenster waren im oberen Viertel getrennt, der untere größere Teil konnte zur Belüftung herabgelassen werden. Zusätzlich konnten die Oberlichter bei Bedarf geöffnet werden. Die Sitze waren quer in der Anordnung 2+1 angebracht. Die Rücklehnen konnten umgeklappt werden, so dass die Fahrgäste stets in Fahrtrichtung sitzen konnten. Die Triebwagen hatten 24, die Beiwagen 18 Sitzplätze in acht bzw. sechs Reihen. Die Einstiegsplattformen beider Wagentypen waren offen, von den 1919 gelieferten Triebwagen hatten mindestens die Triebwagen 50 und 51 eine Frontverglasung.Die Fahrzeuge waren zunächst durchgehend nummeriert. Die 1913 gelieferten Triebwagen erhielten Nummern im 200er Bereich, gleichzeitig versah der Betrieb die Beiwagen einheitlich mit 100er Nummern. Die entstandenen Lücken im Nummernbereich unter 100 wurden durch die 1919 gelieferten Triebwagen teilweise aufgefüllt. Als Hersteller traten überwiegend die Fahrzeugwerkstätten Falkenried der Straßen-Eisenbahn Gesellschaft in Hamburg auf, vier Triebwagen kamen von der Gottfried Lindner AG in Ammendorf bei Halle (Saale) und 35 Triebwagen von den Linke-Hofmann-Werken in Breslau. Die elektrische Ausrüstung stammte von Siemens & Halske.Mit dem Übergang zur Berliner Straßenbahn erhielten die Beiwagen die Nummern 1588–1665 und die Triebwagen die Nummern 4394–4399 und 5323–5431. Um den Wartungsaufwand der zahlreichen Triebwagenreihen zu reduzieren, baute die BSt Anfang der 1920er Jahre Triebwagen kleinerer Serien zu Beiwagen um und umgekehrt größere Beiwagenserien zu Triebwagen. Die 78 Beiwagen des ehemaligen Typs 6 erhielten zusammen mit den zehn Beiwagen der ehemaligen BESTAG im Jahr 1924 die entsprechende elektrische Ausrüstung. Die Fahrzeuge liefen seitdem als Bauart U3q mit den Wagennummern 3102 und 3251–3337. Die offenen Plattformen ersetzte die Berliner Straßenbahn bei beiden Wagenserien durch die geschlossene Berliner Einheitsplattform. Es kam zu dieser Zeit zu einigen Umnummerierungen. Die Maximum-Triebwagen wurden numerisch zusammengefasst, ein Teil der Umbau-Triebwagen erhielt neue Nummern um die Reihe ab 3300 aufwärts für die 1927 bestellten Mitteleinstiegswagen freizuhalten.Ab 1934 führte die BVG die Typen als TDS 08/24 (Maximum-Triebwagen) beziehungsweise T 08/24 (Umbau-Triebwagen). Nach der Verwaltungstrennung der BVG musterte die BVG-West ihre Fahrzeuge bis 1955 aus, da die Verwendung von Holzaufbauten im Personenverkehr nicht mehr zulässig war. Ein Teil der ehemaligen Beiwagen kam bis in die 1960er Jahre im Arbeitswagenpark zum Einsatz. Die BVG-Ost ließ ihre Fahrzeuge in den 1950er Jahren grundlegend umbauen und ersetzte dabei die Laternendächer durch Tonnendächer. Die T 08/24 gab sie bis 1959 an die Betriebe in Cottbus, Dessau, Schöneiche und Zwickau ab, wo sie bis 1972 weiter verkehrten. Die Maximumwagen waren großteils bis 1968 im Einsatz. 34 Triebwagen dienten als „Spenderfahrzeuge“ für das Rekoprogramm, die übrigen musterte der Betrieb bis 1970 aus. Zwei Triebwagen sind als historische Fahrzeuge erhalten geblieben: Triebwagen 68 (ex BVG 5366) wurde 1973 in den Auslieferungszustand zurückversetzt und war bis 1990 als fahrfähiges Exemplar unterwegs. Geänderte Rechtsvorschriften führten allerdings 1990 zu seiner Außerdienststellung. Seit 1993 befindet sich das Fahrzeug in der Monumentenhalle des Deutschen Technikmuseums Berlin. Triebwagen 218 (ex BVG 5403) kam 2008 nach Woltersdorf und wurde dort bis zum 100-jährigen Betriebsjubiläum der Woltersdorfer Straßenbahn im Mai 2013 aufgearbeitet und anschließend vorgestellt. Der ehemalige Beiwagen 37 (ex BVG 3225) wurde nach seiner Einsatzzeit in Dessau als Schafstall genutzt, über seinen Verbleib liegen keine näheren Informationen vor. == Infrastruktur == === Streckennetz === Die Streckenlänge stieg von 10,4 Kilometern im Eröffnungsjahr auf 31,2 Kilometer im Jahr 1917 an. Der Großteil dieser Strecken war zweigleisig. Als Spurweite wurde die Normalspur gewählt, die Stromversorgung erfolgte über Oberleitung und Bügelstromabnehmer bei einer Betriebsspannung von 500 Volt Gleichstrom. Gemessen an der Gesamtstreckenlänge des Berliner Straßenbahnnetzes machten die städtischen Strecken einen Anteil von weniger als fünf Prozent aus.Der relativ späte Netzausbau hatte zur Folge, dass die Bahn vor allem im innerstädtischen Bereich auf Nebenstraßen und Strecken anderer Betriebe ausweichen musste. Fremde Bahnen wie die GBS konnten die Benutzung längerer Streckenabschnitte gegen eine entsprechende Gebühr gestatten oder vollständig verweigern, lediglich auf kurzen Abschnitten waren sie zu einer Erlaubnis verpflichtet. In Fällen, bei denen sich beide Seiten nicht einigen konnten, musste die SSB entsprechende Umleitungsstrecken einrichten, so im Bereich Petersburger Straße und am Halleschen Tor.1908 befuhren die Wagen der Städtischen Straßenbahnen 1,8 Kilometer fremde Gleise, 1920 waren es 13,5 Kilometer. Umgekehrt befuhren jedoch auch die Linien fremder Betriebe die Gleise der SSB. Längere gemeinsam genutzte Abschnitte bestanden vor allem mit der BESTAG, da sich diese mehrheitlich im Besitz der Stadt Berlin befand. Zudem benutzten die Triebwagen der BESTAG ebenfalls Bügelstromabnehmer. Die nachfolgenden Tabellen geben eine Übersicht über die von der SSB befahrenen Strecken sowie die von fremden Bahnen befahrenen Streckenabschnitte der SSB. === Betriebshöfe === ==== Betriebshof Nord (Kniprodestraße) ==== Für den Betrieb stand der SSB zunächst ein Betriebshof in der Kniprodestraße zur Verfügung. Dieser ging zusammen mit der ersten Strecke am 1. Juli 1908 in Betrieb. Der Betrieb pachtete das Grundstück mit einer Fläche von 8671 Quadratmetern von der Stadt. Ab 1908 existierten zunächst eine Wagen- und Werkstatthalle mit Platz für 45 Fahrzeuge auf 3359 Quadratmetern, ferner ein zweigeschossiges Wohn- und Dienstgebäude, ein zweigeschossiger Lagerschuppen sowie ein Pförtnerhaus. Bis 1912 vergrößerte sich die Anlage auf vier Hallen für 120 Fahrzeuge. Nach dem Übergang zur Berliner Straßenbahn erhielt der Hof die interne Nummer 25. 1923 schloss die Berliner Straßenbahn den Betriebshof und nutzte ihn als Lehrwerkstatt weiter. Die Berliner Verkehrsbetriebe wiederum nutzten die Anlage als Betriebshof für Arbeitstriebwagen sowie als Gleisbauhof. Das Gelände dient mittlerweile als Gleislager. ==== Betriebshof Süd (Urbanstraße) ==== Mit der Erweiterung des Netzes in Richtung Süden beschloss die Verwaltung die Errichtung eines zweiten Betriebshofs in der Urbanstraße 167. Der am 25. November 1913 eröffnete Hof beheimatete vorwiegend die Trieb- und Beiwagen der Südlinien. Das Grundstück mit einer Fläche von 7059 Quadratmetern umfasste zwei Wagenhallen auf 3004 Quadratmetern und einer Kapazität von 60 Wagen, hinzu kamen ein Werkstattanbau, ein Autoschuppen, Sandlagerschuppen und ein dreigeschossiges Dienstgebäude. Der Hof wurde 1920 ebenfalls übernommen und erhielt die Nummer 9. 1923 erfolgte die Schließung. == Tarif == Auf den Linien der Städtischen Straßenbahnen galt ab Eröffnung ein 10-Pfennig-Einheitstarif für eine ununterbrochene Fahrt. Zusätzlich gab der Betrieb Monatskarten zu 6,70 Mark und Arbeiterwochenkarten für sechs Fahrten à 50 Pfennig und zwölf Fahrten à 1,00 Mark heraus. Ab August 1908 wurden auch Schülermonatskarten zu 3,00 Mark ausgegeben. In der Anfangszeit gab es zusätzlich Monatskarten für Polizisten in Uniform und in Zivil zu 2,05 respektive 3,10 Mark.Beim Kauf der 1. Flachbahnstrecke trafen Stadt und Hochbahngesellschaft eine Sondervereinbarung. Auf dieser Strecke galt ab 1901 zusätzlich zum 10-Pfennig-Einheitstarif ein Übergangstarif zur Hochbahn am Bahnhof Warschauer Brücke. Bei durchgehenden Fahrten von der Flachbahn zur Hochbahn und umgekehrt fiel der Fahrpreis gegenüber dem Erwerb von zwei Fahrkarten um fünf Pfennig günstiger aus. Diese Regelung blieb nach dem 1. Januar 1910 bis Ende 1919 weiterbestehen und galt ausschließlich auf dem Streckenabschnitt zwischen Zentralviehhof und Warschauer Brücke.Wegen der Inflation musste die Stadt die Fahrpreise ab Mitte 1918 schrittweise erhöhen. Die Höhe entsprach dem Einheitstarif, wie er auch auf den Linien der Großen Berliner Straßenbahn und ihren Nebenbahnen galt. Ab dem 1. Juni 1916 galt demnach der 12,5-Pfennig-Einheitstarif. Die Einzelfahrt kostete gemäß diesem Tarif 15 Pfennig, Doppelfahrscheine kosteten 25 Pfennig, Sammelkarten für acht Fahrten gab es für 1,00 Mark. Die Kosten stiegen bis Anfang Dezember 1920 auf 80 Pfennig für die Einzelfahrt an. == Betriebsergebnisse == Die Gewinne der 1908 eröffneten Linien überstiegen zunächst die Erwartungen. Bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein konnte das Unternehmen teils beträchtliche Reingewinne verzeichnen, die zur Tilgung des Baukapitals verwendet wurden und der Stadtkasse zugutekamen. Die 1913 eröffneten Linien schmälerten diesen Erfolg vorübergehend, da sie ein deutlich geringeres Verkehrsaufkommen aufwiesen. Eine ernsthafte Konkurrenz bestand hier durch den „Sechseromnibus“, einen Omnibus zum Einheitstarif von fünf Pfennig (ugs. „Sechser“). 1918 überstiegen erstmals die Ausgaben die Einnahmen. Lohn- und Betriebskosten hatten zu dieser Entwicklung geführt, hinzu kam die stetig steigende Inflationsrate. Betrugen die Verluste 1918 insgesamt 35.000 Mark, waren es 1919 bereits 2,6 Millionen Mark und 1920 rund vier Millionen Mark. Diese Entwicklung setzte sich schließlich bei der Berliner Straßenbahn weiter fort. == Literatur == Siegfried Münzinger et al.: Die Straßenbahnen der Stadt Berlin. In: Berliner Verkehrsblätter. Hefte 6, 8, 9, 10 (1964), 1 (1966). Hans-Joachim Pohl: Die Städtischen Straßenbahnen in Berlin. Geschichte eines kommunalen Verkehrsbetriebes. In: Verkehrsgeschichtliche Blätter. Heft 5, 1983. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahnen_der_Stadt_Berlin
Strumaresektion
= Strumaresektion = Die Strumaresektion (auch Strumateilresektion und „Kropfoperation“ genannt) ist eine Operation zur Behandlung einer Schilddrüsenvergrößerung, bei der die Schilddrüse bis auf einen unterschiedlich großen Rest entfernt wird. Nach den Erstbeschreibern der heute am häufigsten angewendeten Operationstechnik wird sie im vollen Wortlaut auch als „beidseitige subtotale Strumaresektion nach Enderlen-Hotz“ bezeichnet. Gelegentlich gebräuchlich, aber sachlich falsch, ist auch die Bezeichnung Strumektomie, da unter einer Ektomie die Entfernung eines kompletten Organs verstanden wird. Die restlose Entfernung der gesamten Schilddrüse wird Thyreoidektomie genannt (Synonym: Totalexstirpation der Schilddrüse), die restlose Entfernung einer Schilddrüsenhälfte Hemithyreoidektomie. == Indikation == Die Strumaresektion kommt bei diffuser und Knotenstruma, sowie beim Morbus Basedow zur Anwendung. Die diffuse Struma kann grundsätzlich zunächst konservativ behandelt werden. Hierbei werden Jodid, L-Thyroxin oder Kombinationspräparate aus beiden Substanzen eingesetzt, wodurch die TSH-Produktion der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) gedrosselt wird. Die Indikation zur Operation wird gestellt, wenn trotz der konservativen Therapie eine Größenzunahme der Struma eintritt, die zu subjektiven Beschwerden führt wie Engegefühl, Schluckstörungen oder gar Einengung (Stenose) der Luftröhre mit Behinderung der Atmung (Stridor). Auch das Auftreten von Knoten in einer bekannten diffusen Struma führt zur Operationsindikation. Die Entwicklung einer Überfunktion (Hyperthyreose) bei ursprünglich normaler Hormonproduktion (Euthyreose) ist ebenfalls eine Indikation zur Operation. Nähere Einzelheiten zur konservativen Behandlung im Hauptartikel Struma. Bei der Knotenstruma bestimmen Größe, Anzahl und Lage der Knoten, ob eine Strumaresektion ausreicht oder ob eine Thyreoidektomie indiziert ist. Dieser Fall tritt ein, wenn die knotigen Veränderungen so ausgedehnt sind, dass nicht ausschließlich gesundes Schilddrüsengewebe als Rest belassen werden kann. In vielen Fällen erfolgt auf der einen Seite eine komplette Resektion (Hemithyreoidektomie), auf der anderen eine subtotale Resektion. Diese Operation wird nach ihrem Erstbeschreiber Dunhill-Operation genannt. In Ausnahmefällen kann bei Vorliegen einer einzigen (solitären) Zyste oder eines Adenoms die Resektion unterbleiben und eine Ausschälung (Enukleation) des Knotens unter Mitnahme eines schmalen Saumes aus gesundem Schilddrüsengewebe vorgenommen werden. In bestimmten Fällen kommt als alternatives Therapieverfahren die Radiojodtherapie in Betracht. Wenn die Wahl zwischen Operation und Radiojodtherapie besteht, sprechen folgende Argumente für die Operation: Verdacht auf Bösartigkeit (Malignität), durch Jod verursachte Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose), Schwangerschaft und Stillzeit, floride Augenbeteiligung bei Morbus Basedow (endokrine Orbitopathie), Zeichen einer Kompression der Nachbarstrukturen (Luftröhre: Stridor, Speiseröhre: ausgeprägte Schluckstörung, Halsgefäße: obere Einflussstauung), größere kalte Gebiete der Schilddrüse oder Angst des Patienten vor Radioaktivität. Folgende Argumente sprechen dagegen für die Radiojodtherapie: Wenn die Schilddrüse bereits operiert worden war oder bereits eine (einseitige) Lähmung des Stimmbandnervens (Rekurrensparese) vorliegt, bei Patienten in höherem Lebensalter oder mit schweren Begleiterkrankungen, wenn die Schilddrüse relativ klein ist oder der Patient unter Operationsangst leidet. Jugendliches Alter gilt nicht mehr als Kontraindikation.Zur Behandlung der malignen Struma, einer durch Schilddrüsenkrebs hervorgerufenen Vergrößerung, ist die Strumaresektion nur bedingt geeignet, hier erfolgt regelmäßig die Thyreoidektomie. Wird ein Schilddrüsenrest von weniger als 5 ml belassen und findet sich im entfernten Schilddrüsenteil ein vollständig im Gesunden entfernter maligner Knoten, dann kann die Rest-Thyreoidektomie unterbleiben und allein mit einer Radiojodtherapie fortgefahren werden. == Voruntersuchungen == Die Untersuchungen, die zur Operationsindikation führen, werden in den Hauptartikeln Untersuchung der Schilddrüse und Struma beschrieben. Die allgemeinen operationsvorbereitenden Untersuchungen beinhalten die klinische körperliche Untersuchung mit Messung von Blutdruck und Puls, die Röntgenuntersuchung der Lunge und der Organe des Brustkorbs (Thorax) sowie die Anfertigung eines EKG. Eine Blutentnahme erfolgt zur Bestimmung des Blutbilds, der Elektrolyte, der Blutgerinnung, der Nierenfunktion und des CRP (zum Ausschluss einer Entzündung). Die speziellen Untersuchungen vor einer Strumaresektion beinhalten die nochmalige Bestimmung der Schilddrüsenhormone sowie eine Untersuchung durch den Hals-, Nasen und Ohrenarzt zur Beurteilung der Beweglichkeit der Stimmbänder. == Durchführung == === Operationsprinzip === Zunächst wird der Isthmus, also die schmale Organbrücke zwischen den beiden Schilddrüsenlappen, stumpf unterfahren und nach blutstillender Umstechung durchtrennt. Es folgt die Darstellung und gezielte Unterbindung der oberen Polgefäße (Arteria thyroidea superior und ihre Begleitvenen). Die Schilddrüse wird dann weitgehend aus der Umgebung herausgelöst und die zugehörigen Blutgefäße (Arteria thyroidea inferior sowie die begleitenden Venen, insbesondere die große, nach seitlich abgehende Kocher’sche Vene) nach Unterbindung durchtrennt. Die bindegewebige Anheftung an die Luftröhre (Trachea) wird belassen, die Schilddrüse wird an dieser Stelle eröffnet und innerhalb ihrer Kapsel bis auf einen Rest, der je nach Befund eine Größe von 1 bis 5 cm³ haben sollte, herausgeschält. Über dem Rest wird die bindegewebige Kapsel durch Naht verschlossen. In gleicher Weise wird dann auf der Gegenseite vorgegangen. === Schmerzausschaltung === Die Intubationsnarkose ist heute der Standard für die Strumaresektion. Bis Anfang der 1970er Jahre wurde die Operation auch in Lokalanästhesie ausgeführt, da beim versehentlichen Eröffnen einer großen Vene eine Luftembolie der Lunge befürchtet wurde. Dieser konnte der wache Patient durch aktives Pressen entgegenwirken. Die Gefahr besteht bei einer modernen Überdruckbeatmung mit PEEP (positivem endexpiratorischem Druck) nicht mehr. === Lagerung === Der Patient wird mit etwa 30° aufgerichtetem Oberkörper gelagert, der Kopf ruht nach hinten geneigt in einer Schale, so dass der Hals überstreckt und die Schilddrüse gut zugänglich ist. Gebräuchlich ist auch die flache Rückenlagerung mit etwas überstreckter Halswirbelsäule. === Zugang === Standard ist der Kocher’sche Kragenschnitt, ein fünf bis sieben Zentimeter langer, leicht bogiger Querschnitt etwa zwei Querfinger oberhalb des Jugulums. Die Schnittführung wird vor der Operation am wachen Patienten markiert und aus kosmetischen Gründen wenn möglich in den Verlauf einer Hautfalte gelegt. Haut und Unterhautfettgewebe werden durchtrennt und nach oben und unten von der Muskulatur abgeschoben. Die vordere Halsmuskulatur (Musculus sternohyoideus) wird in der Mittellinie geteilt und nach beiden Seiten von der Schilddrüse abgeschoben, die nun frei zugänglich ist. Bei sehr großen Schilddrüsen ist gelegentlich die Querdurchtrennung der kurzen geraden Halsmuskulatur erforderlich. In extremen Ausnahmefällen gelingt die Auslösung einer stark nach retrosternal ausgedehnten Schilddrüse nur mittels partieller Sternotomie (Längsdurchtrennung des oberen Teils des Brustbeins). === Wundverschluss === Vor dem Wundverschluss werden zur Ableitung von Blut oder Wundsekret Redon-Drainagen eingebracht. Der Wundverschluss erfolgt dreischichtig: Muskulatur und Unterhautgewebe werden jeweils mit resorbierbarem Nahtmaterial, die Haut mit monofiler Kunststoffnaht verschlossen. Der Hautverschluss erfolgt oft in der kosmetisch günstigen intrakutanen Nahttechnik. Alternativ können auch Adaptationspflaster oder Gewebekleber zur Anwendung kommen. == Schnellschnittuntersuchung == Bei der Strumaresektion aufgefundene, makroskopisch karzinomverdächtige Knoten sollen, wenn organisatorisch möglich, einer histopathologischen Schnellschnittuntersuchung zugeführt werden, um gegebenenfalls den Eingriff sofort zur Thyreoidektomie auszuweiten. Sollte dies strukturell (z. B. große Entfernung zur nächsten Pathologie) nicht sinnvoll oder möglich sein, ist der Patient vorab über eine möglicherweise notwendige Zweitoperation aufzuklären. == Risiken == === Unspezifische Operationsrisiken === Blutungen während (intraoperativ) oder nach der Operation (postoperativ), können aufgrund der guten Durchblutung der Schilddrüse ein bedrohliches Ausmaß annehmen; bei absehbaren Schwierigkeiten (Rezidivstruma) werden daher vorab Blutkonserven bereitgestellt. Wundinfektion und Wundeiterung treten aufgrund der guten Durchblutung sehr selten auf, sind gut zu erkennen und zu behandeln, hinterlassen aber meist sehr schlechte kosmetische Resultate. Postoperative Thrombosen und Lungenembolien sind durch die schnelle Mobilisierbarkeit der Patienten ebenfalls selten. === Spezifische Operationsrisiken === Die Häufigkeit schwerer Komplikationen ist beim geübten Operateur gering und sollte ein Prozent (jeweils bezogen auf die Rekurrensparese und die Hypokalziämie) nicht überschreiten.Schädigung des Nervus recurrens Eine vollständige Durchtrennung des Stimmbandnerven (Nervus laryngeus recurrens) führt zur permanenten Lähmung der Stimmmuskeln (Rekurrensparese) mit andauernder Heiserkeit. Eine Beschädigung durch Quetschung oder Überdehnung des Nerven u. ä. führt ebenfalls zum vorläufigen Funktionsausfall, ist aber meist reversibel, heilt also ohne spezielle Therapie aus. Eine beidseitige Rekurrensparese kann – durch den Verschluss der Stimmritze aufgrund der fehlenden Spannung der Stimmmuskeln – zur vollständigen Verlegung der Luftröhre mit akuter Erstickungsgefahr führen. Dies macht gegebenenfalls die Anlage eines permanenten Tracheostomas nötig. Die exakte Darstellung des N. laryngeus recurrens wird daher heute laut Leitlinie zwingend gefordert. Zur Vermeidung einer Rekurrensverletzung kommt daher meist das Neuromonitoring zur Anwendung, welches seit den 1990er Jahren insbesondere bei radikalen Strumektomien und Rezidiv-Eingriffen zu einer Erhöhung der Sicherheit geführt hat. Sehr selten, da operationstechnisch einfacher vermeidbar, ist die Verletzung des N. laryngeus superior. Schädigung der Nebenschilddrüsen Die unbeabsichtigte Entfernung oder Beschädigung der Nebenschilddrüsen (Epithelkörperchen, Glandula parathyreoidea), die in vielen Fällen nur sehr schwer zu identifizieren sind, führt zu Entgleisungen des Calciumstoffwechsels (Hypokalziämie) mit der Folge einer Tetanie, die allerdings in der Regel durch Zufuhr von Calcium gut behoben werden kann und nicht von Dauer ist (Siehe auch Hypoparathyreoidismus). Entfernte oder von der Durchblutung abgeschnittene Epithelkörperchen werden retransplantiert (autologe Transplantation), indem sie zerkleinert in einen Muskel (z. B. Musculus sternocleidomastoideus) eingenäht werden. == Besonderheiten bei der Rezidivstruma == Die Strumaresektion bei bereits voroperierter Schilddrüse (Rezidiv-Struma) stellt den Operateur oft vor eine schwierige Aufgabe, da die Auslösung der Schilddrüse durch Vernarbung deutlich erschwert ist. Oft liegen atypische anatomische Verhältnisse vor: Der N. laryngeus recurrens nimmt einen nicht vorhersehbaren Verlauf. Die Nebenschilddrüsen können oftmals kaum identifiziert werden. Auch die Blutungsgefahr steigt durch atypischen Verlauf der Gefäßversorgung. Aus diesen Gründen steigt die Komplikationsrate – Rekurrensparesen und Hypokalzämien betreffend – bei Operationen der Rezidivstruma auf das Zehnfache im Vergleich zur Erst-Operation. == Postoperative Kontrollen und Nachsorge == Die Stimmbandbeweglichkeit wird entweder durch Laryngoskopie direkt bei Narkoseausleitung oder durch Überprüfung der Phonation (hierzu fordert man den Patienten einfach zum Sprechen auf) nachgewiesen, um eine Rekurrensparese sofort zu erkennen. Bei Hinweisen auf Rekurrensparese muss die Atmung intensivmedizinisch überwacht werden. Der Serumcalciumspiegel wird am ersten postoperativen Tag bestimmt, ist er deutlich erniedrigt, muss von einer Schädigung der Epithelkörperchen ausgegangen und ggf. Calcium zugeführt werden. Eine Nachblutung (Hämatom) kann im Zweifelsfall mittels Sonografie von einer einfachen postoperativen Schwellung abgegrenzt werden. Bei komplikationslosem Verlauf kann der Patient schon am Abend des Operationstages aufstehen und Flüssigkeiten zu sich nehmen. Vom ersten postoperativen Tag an kann normal gegessen werden, die Mobilität ist nicht eingeschränkt. Meist sind nur geringe Mengen an Schmerzmitteln erforderlich. Nur in den Fällen, bei denen aufgrund der Größe der Struma die Halsmuskulatur quer eingeschnitten werden musste, wird für die ersten 10 bis 15 Tage von extremen Wendebewegungen des Kopfes abgeraten. Die Entfernung der Drainagen erfolgt am 2., die Krankenhausentlassung frühestens am 3., normalerweise am 4. oder 5. Tag nach der Operation. Die Hautnaht wird etwa nach einer Woche entfernt. Die verbleibende Narbe ist in den ersten acht bis zwölf Wochen noch auffällig und bildet erst dann ihre endgültige Breite und Farbe aus. Im Idealfall ist als Endergebnis nur mit Mühe ein feiner Strich in einer Hautfalte zu sehen, das Ausmaß der Narbenbildung ist jedoch von Patient zu Patient unterschiedlich. Die Nachsorge besteht aus regelmäßiger Kontrolle der Schilddrüsenhormone und des TSH. Beim Verdacht auf erneute Knotenbildung werden Ultraschalluntersuchungen, gegebenenfalls auch eine erneute Szintigrafie durchgeführt. Je nach Größe und Funktion des Schilddrüsenrestes wird mittels Tabletten eine Hormonersatztherapie („Substitution“) oder – zur Vermeidung eines erneuten Auftretens einer Struma (siehe oben, Rezidivstruma) – eine die Schilddrüsenfunktion hemmende („Suppression“) Therapie durchgeführt. Einzelheiten hierzu im Hauptartikel Struma. == Vergleich mit der Thyreoidektomie == Vorteil der Strumaresektion gegenüber der Thyreoidektomie ist zum einen die etwas einfachere Durchführbarkeit mit etwas kürzerer Operationszeit. Bei geübten Operateuren fällt dieser Unterschied kaum ins Gewicht. Zum anderen verbleibt ein kleiner Teil funktionstüchtigen Schilddrüsengewebes, so dass der Patient nicht vollständig auf die medikamentöse Substitution von Schilddrüsenhormonen angewiesen ist. Allerdings muss zur Prophylaxe eines Rezidivs ohnehin Schilddrüsenhormon zugeführt werden, gegebenenfalls in kleineren Mengen. Vorteil der Thyreoidektomie ist die sichere Rezidivprophylaxe. == Minimalinvasive Strumaresektion == Seit Ende der 1990er Jahre wird die Strumaresektion zunehmend auch in minimalinvasiver Technik durchgeführt. Der Eingriff wird nach angloamerikanischem Sprachgebrauch MIVA-T (minimally-invasive video-assisted thyroidectomy) genannt. Hierzu wird etwas höher als beim Kocher’schen Kragenschnitt ein etwa 2 cm langer Schnitt angelegt, über den die Operation mittels einer 5-mm-Staboptik und Videomonitor durchgeführt wird. Bislang werden hiermit allerdings hauptsächlich kleinere (< 2 cm) Knoten und diffuse Strumen unter 25 ml Volumen behandelt. Große Vergleichsstudien zur Beurteilung der Methode stehen noch aus, es finden sich bislang nur eine Reihe von Einzelstudien. Seit 2003 bzw. 2008 stehen mit den Methoden ABBA (Axillo-Bilateral-Breast-Approach) und EndoCATS (Endoscopic-Cephallic-Access-Thyroid-Surgery) endoskopische Strumaresektionen zur Verfügung, die keine sichtbaren Narben hinterlassen und die die Entfernung von einseitigen Strumalappen bis zu einer Größe von 50 ml zulassen. 2008 beschrieben Witzel et al. den transoralen Zugang zur Schilddrüse, der Voraussetzung für die NOTES-Schilddrüsenresektion ohne sichtbare Narben am Hals ist. == Geschichte == 1791 führte der französische Chirurg Pierre-Joseph Desault die erste sicher belegte und beschriebene Strumaresektion durch. Die meisten operativen Eingriffe zur Behandlung einer Struma (etwa durch Guillaume Dupuytren und Desault) bestanden um 1800 im Einbringen von geflochtenen Tierhaaren in die knotigen Veränderungen, wodurch sich Entzündungen und Nekrosen entwickelten und schließlich ein spaltbarer Abszess. Solche Teilabbindungen wurden wiederholt, bis sich die Struma verkleinerte. Bei zystischen Strumen wurden (so 1792 bei François-Emmanuel Fodéré) hingegen die Zysten punktiert und der Inhalt nach außen abgeleitet. Im Jahr 1838 empfahl dann Luigi Porta, lediglich die oberen Schilddrüsen-Arterien abzubinden, um eine Reduktion großer Kröpfe zu erreichen.Die Strumaresektion wurde – damals noch unter der heute nicht mehr üblichen Bezeichnung Strumektomie – 1876 von dem Schweizer Chirurgen und Nobelpreisträger (1909) Emil Theodor Kocher als Totalexstirpation (also im Sinne der heutigen Terminologie eher als Thyreoidektomie) durchgeführt und 1878 unter dem Titel „Exstirpation einer Struma retrooesophagea“ veröffentlicht. In den folgenden 10 Jahren trug er wesentlich zu einer Verbesserung der Operationstechnik bei und konnte die Sterblichkeitsrate infolge einer Totalexstirpation erheblich senken. Im Jahr 1883, als er bereits über 245 Strumaresektionen durchgeführt hatte, veröffentlichte Kocher, dass Totalexstirpationen zu einem dem Kretinismus ähnlichen Zustand führen könnten. Dies könnte verhindert werden, indem ein Rest Schilddrüsengewebe im Körper des Patienten verbleibe. Nach Emil Theodor Kocher sind der Kocher’sche Kragenschnitt sowie die Kocher-Klemmen benannt, die noch heute benutzt werden.1884 wurde von Rehn die erste Schilddrüsenresektion bei einer Hyperthyreose in Deutschland durchgeführt. == Literatur == Christian Hessler: Schilddrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Mit einem Geleitwort von Rudolf Nissen. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 200–203. H.-D. Röher: Chirurgie der Schilddrüse. In: B. Breitner: Chirurgische Operationslehre Band 1, H. D. Röher (Hrsg.): Chirurgie Kopf und Hals. 2. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München/ Wien/ Baltimore 1990, ISBN 3-541-14412-2. V. Bay, P. Matthaes: Schilddrüse. In: F. Baumgartl, K. Kremer, H. W. Schreiber (Hrsg.): Spezielle Chirurgie für die Praxis. Band 1, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1973, ISBN 3-13-445301-0, S. 482 ff. S2k-Leitlinie Operative Therapie benigner Schilddrüsenerkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). In: AWMF online (Stand 2010) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Strumaresektion
Studiointerview
= Studiointerview = Studiointerview (auch Das Interview oder Plastologie) ist ein Zeichentrick-Sketch des deutschen Humoristen Loriot. Aufgeteilt in vier einzelne Abschnitte ist er Teil der ersten Folge der Fernsehserie Loriot, die erstmals im März 1976 ausgestrahlt wurde. Inhalt des Sketches ist ein Fernsehinterview mit einem Wissenschaftler, der durch Atemtechniken in der Lage ist, eigene Körperteile zu vergrößern. Mit der Fernseh- und der Wissenschaftsparodie sowie der Darstellung von gescheiterter Kommunikation greift der Sketch drei Grundmotive des Fernsehwerks von Loriot auf. Daneben enthält er einige sexuelle Anspielungen, ein für Loriot typisches Gestaltungsmittel. Studiointerview wurde auch in der Neuschnittfassung der Serie Loriot aus dem Jahr 1997 gezeigt. Der Text des Sketches erschien erstmals 1981 und wurde seitdem in mehrere Sammelbände Loriots aufgenommen. == Handlung == Der Sketch hat eine Gesamtlänge von etwa sechs Minuten. Man sieht zwei Männer auf Stühlen in einem Fernsehstudio sitzen. Beide sind als für Loriot typische Knollennasenmännchen gezeichnet. Der linke ist der Fernsehmoderator Gilling, der rechte ist Professor Häubl, Inhaber des Lehrstuhls für Pneumatische Plastologie. Gilling möchte Häubl interviewen, muss jedoch auf den Beginn der Sendung warten, da, wie er vermutet, irgendetwas mit der Technik nicht stimmt. Gilling versucht die Wartezeit mit Smalltalk zu überbrücken. So spricht er von seinem Sternzeichen (Fische) und dem seiner Frau (Steinbock). Häubl geht darauf jedoch nur sehr bedingt ein, indem er von seinen Langhaardackeln spricht. Da sie immer noch nicht auf Sendung sind, fragt Gilling Häubl, ob er drei (allgemein unbekannte) Personen aus Gillings Umfeld kenne. Häubl verneint dies jedes Mal und reagiert seinerseits mit einer Frage nach dem für Gilling unbekannten Professor Duwe, um Gilling die Unsinnigkeit seiner Fragen zu verdeutlichen. Als das Interview endlich beginnt, hat Häubl aufgrund der langen Wartezeit zunächst keine Lust mehr, das Interview zu führen. Nach der Bemerkung Gillings, dass jeder andere froh wäre, seinen Quatsch im Fernsehen verbreiten zu dürfen, gibt er dann doch noch Auskunft. So ermögliche die Pneumatische Plastologie durch Atemtechnik plastische Veränderungen am eigenen Körper. Dies demonstriert er auf Nachfrage Gillings auch. Er hält den Atem an, bis sein Kopf rot wird, und vergrößert damit seinen Zeigefinger, der etwa 30 Zentimeter lang und 8 Zentimeter dick wird. Kurz darauf vergrößert er auch seine Ohren auf das Zehnfache. Außerdem leitet er Gilling bei einem Selbstversuch an, bei dem dieser seine Nase auf eine Länge von etwa 20 Zentimetern und eine Dicke von 15 Zentimetern vergrößert. Im Gegensatz zu Häubl, dessen Körperteile nach kräftigem Ausatmen wieder Normalgröße annehmen, gelingt es Gilling jedoch nicht, seine Nase wieder zu verkleinern. Häubl macht dafür Gillings Ungeschick verantwortlich und rät ihm, Ende August in seine Sprechstunde zu kommen. == Produktion und Veröffentlichung == Der Trickfilm entstand im Trickfilmstudio Loriots, das er Anfang der 1970er Jahre in Percha am Starnberger See unweit seines Wohnorts Ammerland gegründet hatte und in dem er bis zu fünf Mitarbeiter beschäftigte. Wie bei Loriots Trickfilmen üblich, sind die Mundbewegungen Häubls und Gillings mit ihren gesprochenen Worten synchron. Um dies zu erreichen, war eine hohe Anzahl einzeln gezeichneter Phasen notwendig. Wie bei fast allen seiner Trickfilme übernahm Loriot die beiden Sprechrollen selbst.Erstmals gezeigt wurde der Trickfilm in der ersten Folge der Serie Loriot, die den Titel Loriots Sauberer Bildschirm trägt und am 8. März 1976 im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Film ist darin in vier Abschnitte unterteilt, die über die gesamte Folge verteilt gezeigt werden. Der erste Teil wird noch vor der Einblendung des Titels gezeigt und ist damit der erste Beitrag der gesamten Serie. Hier geht es zunächst nur um Gillings Vermutung, dass etwas mit der Technik nicht stimme. Der zweite Teil enthält das Gespräch über Sternzeichen und Langhaardackel. Im dritten Abschnitt des Films sieht man den Dialog über die unbekannten Personen. Der vierte und letzte Teil des Trickfilms wird durch eine Ansage vom auf einem grünen Sofa sitzenden Loriot eingeleitet. In ihr erfährt man zum ersten Mal die Namen der beiden dargestellten Personen. Im Gegensatz zum Trickfilm werden hier auch die Vornamen Gillings (Hartmut) und Häubls (Wilhelm) sowie die Universität Tübingen als Sitz des Lehrstuhls für Pneumatische Plastologie genannt. Loriots Sauberer Bildschirm wurde nach der Ausstrahlung von Manfred Sack in der Zeit positiv rezensiert. Man müsse viel und laut über die spöttischen Späße lachen. Den Trickfilm Studiointerview bewertete er als „ein[en] schöne[n], harmlose[n], nicht ganz bedeutungslose[n] Quatsch.“1997 ordnete Loriot sein Fernsehwerk neu und verteilte die sechs alten, 45-minütigen Loriot-Folgen auf 14 Folgen mit einer Länge von 25 Minuten. In dieser Neuschnittfassung, die ebenfalls den Titel Loriot trägt, wurden auch Beiträge anderer Loriotsendungen wie Cartoon und Loriots Telecabinet aufgenommen. Nötig geworden war sie, da zu der Zeit deutsche Fernsehsender für Comedy-Formate keine Sendeplätze mehr vorsahen, die eine Länge von mehr als 30 Minuten hatten. Studiointerview ist Teil der sechsten Folge Ungewöhnliches aus dem Konzertsaal, Pech im Studio und eine Wohnzimmerkatastrophe, die am 27. Mai 1997 bei Das Erste Premiere feierte. Darin ist der Sketch in dieselben vier Teile geteilt wie in der ursprünglichen Fassung, allerdings fehlt Loriots Ansage zum letzten Teil. Daneben wurde der Film in der Show zu Loriots 70. Geburtstag vom 12. November 1993 am Stück gezeigt.In der 1984 erschienenen VHS-Sammlung Loriots Vibliothek, die viele Sketche von Loriot und einige wenige von Cartoon enthält, ist das Studiointerview in einer Fassung ohne Unterbrechung enthalten. Die DVD-Sammlung Die vollständige Fernseh-Edition aus dem Jahr 2007 enthält neben dieser Fassung den Trickfilm auch als Teil von Loriots Sauberer Bildschirm. Während der Zusammenstellung der DVD-Sammlung fiel auf, dass es zwei Versionen des Films gab, die sich nur im Muster von Häubls Krawatte unterschieden. Während er auf dem MAZ-Band von Radio Bremen eine gepunktete Krawatte trug, war sie in einem Film aus dem Archiv Loriots gestreift. Aufgrund der besseren Qualität entschied sich Loriot zusammen mit seinem Freund und Mitarbeiter Stefan Lukschy für die gestreifte Variante.Der Text von Studiointerview erschien 1981 erstmals in Sammelband Loriots dramatische Werke, der die Texte der meisten Sketche der Serie Loriot sowie einiger weiterer Fernseharbeiten Loriots enthält. Der Sketch ist darin dem Kapitel Kultur und Fernsehen zugeordnet. Der Text wurde seitdem in weiteren Sammelbänden von Loriot veröffentlicht. == Analyse == In der Person Gillings ist deutliche Kritik am Fernsehen zu erkennen, die Loriot bereits in früheren Sketchen zum Ausdruck brachte. An mehreren Stellen stellt Gilling seine offensichtliche Inkompetenz sowie schlechte Vorbereitung auf das Interview unter Beweis. So muss Häubl ihn auf das rote Licht an der Kamera aufmerksam machen, das den Beginn des Interviews anzeigt. Den Namen von Häubls Lehrstuhl wandelt er zu „plasmatische Pneutologie“ ab. Auch nach einer Korrektur durch Häubl ist er nicht in der Lage, den richtigen Namen auszusprechen, und verwendet stattdessen noch einmal seine Abwandlung. Ein weiterer Wortdreher unterläuft ihm bei der Aussage, Häubl befinde sich in einer „rechtlichen öffentlichen Anstalt“, eine Verdrehung der Wendung öffentlich-rechtlich. Auch Gillings Ausruf „Sa-gen-haft!“ auf Häubls einfache Aussage, die pneumatische Plastologie beruhe auf neuen Erkenntnissen im psychosomatischen Bereich, verdeutlicht aus Sicht des Germanisten Uwe Ehlert, der sich in seiner Dissertation mit der Darstellung von Missverständnissen in Loriots Werk beschäftigte, Gillings nur sehr oberflächlichen Umgang mit dem Thema des Interviews.Auch das Verhalten Häubls wird negativ bewertet. Seine Behauptung, Gilling könne sein Verfahren ohne Vorkenntnisse selbst anwenden, zeige laut Uwe Ehlert Häubls Selbstüberschätzung als Wissenschaftler. Nachdem Gilling an der Rückwandlung seiner Nase scheitert, geht Häubl schnell dazu über, Gilling Vorwürfe zu machen, womit er jede Verantwortung für den Unfall von sich weisen und sich als Wissenschaftler unangreifbar machen wolle. Häubls Reaktion auf Gillings Frage nach der Nützlichkeit seiner Entwicklung erinnert den Germanisten Stefan Neumann, der über Loriots Leben und Werk promovierte, an klischeehafte Antworten von realen Wissenschaftlern auf solche Fragen. So arbeite laut Häubl der Wissenschaftler uneigennützig im Dienste der Menschheit und die Wissenschaft sei keine Frage der Nützlichkeit, sondern des Fortschritts. Die Uneigennützigkeit Häubls wird jedoch am Ende von ihm selbst in Frage gestellt, als er Gilling in seine Sprechstunde zitiert. Zudem weist Uwe Ehlert auf einen logischen Fehler in Häubls Argumentation hin, denn eine Forschung „im Dienste der Menschheit“ setze auch eine Nützlichkeit der Ergebnisse voraus.Neben dem Parodieren des Fernsehens und der Wissenschaft spielt fehlerhafte Kommunikation im Studiointerview eine so zentrale Rolle, dass der Germanist Felix Christian Reuter den Trickfilm in seiner Dissertation über Loriots Fernsehsketche als „eine wahre Fundgrube an Kommunikationsstörungen“ bezeichnet. Die erste solche Störung tritt am Beginn des Sketches auf. Auf Gillings Frage, ob da mit der Technik etwas nicht in Ordnung sei, antwortet Häubl, dass er ihn das nicht fragen dürfe. Diese Antwort versteht Gilling akustisch nicht und fragt: „Wie meinen Sie?“ Häubl wiederholt daraufhin seine Aussage, die Gilling jetzt aber auf seine zweite Frage bezieht. Den beiden gelingt es in der Folge nicht, das Missverständnis aufzuklären. Nach einem kurzen Hin-und-Her kehren sie zum Ausgangsproblem zurück, indem Gilling Häubls Aussage, er dürfe ihn nicht nach Technikproblemen fragen, wiederum akustisch nicht versteht. Hier wird der Sketch in der Fernsehversion zum ersten Mal unterbrochen, wodurch die Störung aufgelöst wird und die beiden ihr Gespräch im nächsten Teil ungestört fortsetzen können.Als gestörte Kommunikation ist auch Gillings Versuch der Überbrückung der Wartezeit einzuschätzen. Zwar gibt es in dem Gespräch der beiden einige Ähnlichkeiten von Wendungen, die ein vermeintliches Eingehen auf den anderen suggerieren („Steinbock und Fisch geht ganz gut. / Früher hatte ich zwei Langhaardackel, das ging überhaupt nicht.“). Eigentlich führen beide aber einen Monolog und sind an den Aussagen des anderen nicht interessiert. Dieses Verhalten, bei dem der Gesprächspartner nur als Stichwortgeber dient, ist laut Uwe Ehlert häufig in Alltagskommunikation anzutreffen. In Gillings Fragen zu verschiedenen Personen aus seinem Bekanntenkreis sieht Felix Christian Reuter eine Parodie auf den rhetorischen Trick des Namedroppings, bei dem der Sprecher durch die Nennung prominenter Namen versucht, sich selbst aufzuwerten.Im Studiointerview findet sich außerdem eine Reihe von sexuellen Anspielungen, die typisch für das Werk Loriots sind. So erinnert der vergrößerte Finger von Professor Häubl stark an einen überdimensionierten Phallus. Bei Gillings anschließender Frage, ob er das mit jedem Körperteil könne, klingt der klischeehafte Wunsch vieler Männer nach einem größeren Penis an. Als Häubl einen weiteren Körperteil vergrößern will, versucht Gilling dies zu verhindern, wohl aus Angst vor Obszönitäten im Fernsehen. Auch Häubls Tipp an Gilling, an etwas Kaltes zu denken, um damit seine Nase zu verkleinern, kann sexuell verstanden werden. == Einordnung ins Gesamtwerk == Am Anfang seiner Karriere, die 1950 begann, arbeitete Loriot als humoristischer Zeichner für verschiedene Zeitschriften. Ab 1967 verlagerte sich sein Haupttätigkeitsfeld aufs Fernsehen. Er moderierte die Sendereihe Cartoon, laut Untertitel „[e]in Streifzug quer durch den gezeichneten Humor“. Die Reihe war am Anfang in erster Linie als dokumentarische Sendung konzipiert, die humoristische Zeichnungen und Zeichner aus Deutschland und dem Ausland vorstellen sollte. Von Beginn an trug Loriot aber auch eigene Werke bei. Diese bestanden zunächst vor allem aus kurzen Trickfilmen, die als Bindeglied zwischen Loriots zeichnerischem Werk und seinen späteren realfilmischen Beiträgen angesehen werden können. So wurden im Laufe seiner Fernsehkarriere die Trickfilme immer mehr von Realfilm-Sketchen verdrängt und beschränkten sich später vor allem auf die Darstellung von Tieren oder abstrakter bzw. absurder Situationen wie beim Studiointerview.Im Vergleich zu seinen für Cartoon produzierten Trickfilmen ist Studiointerview mit einer Länge von sechs Minuten deutlich umfangreicher. Die Unterteilung des Films in der Fernsehfolge war eine Neuerung, durch die es Loriot aus Sicht von Stefan Neumann gelang, Längen zu vermeiden und nebenbei das für den Sketch wichtige Vergehen von Zeit deutlich zu machen. Dieses Stilmittel setzte Loriot im Laufe von Loriot noch mehrfach ein, etwa bei den Herren im Bad und dem sprechenden Hund. Mit der Darstellung einer Fernsehsendung greift Studiointerview das zu dieser Zeit wichtigste Grundmotiv in Loriots Fernsehschaffen auf. Fiktive Fernsehinterviews wurden bereits in der Sendereihe Cartoon häufig gezeigt, zunächst als Trickfilm, wie in Familienbenutzer, später auch als Realfilm, wie bei Der Astronaut. In der Einzelsendung Loriots Telecabinet, die 1974, also zwei Jahre nach Ende von Cartoon, ausgestrahlt wurde, bildete die Parodie einer Fernsehtalkshow den Rahmen der Sendung. Auch die erste Folge von Loriot stand noch ganz im Zeichen dieser Thematik. Neben dem Studiointerview beschäftigen sich auch die meisten anderen Beiträge, darunter der bekannte Sketch Der Lottogewinner, mit dem Fernsehen. In den weiteren Folgen von Loriot verlor die Fernsehparodie an Bedeutung. Stattdessen traten Themen rund um Mann und Frau sowie die Familie in den Vordergrund, die vor allem die dritte und die sechste Folge prägen. Diese Themen sind auch Hauptmotive von Loriots Spielfilmen Ödipussi und Pappa ante portas. Auch die Spezialform des Wissenschaftler-Interviews war bereits mehrfach in Cartoon zu sehen. Wie Häubls Fähigkeit, seine Körperteile nur durch Atemtechniken zu vergrößern, waren auch diese Sketche von der Darstellung des Unmöglichen geprägt. So berichtet im Trickfilm Kaninchen ein Professor Mutzenberger davon, wie er Frauen in Kaninchen umgewandelt hat, und im Realfilm-Sketch Professor E. Damholzer stellt der titelgebende Wissenschaftler eine Methode zur Verkleinerung von Menschen auf Größen unter einem Millimeter vor. Bei Loriot wurde das Motiv in der vierten Folge im Trickfilm Der sprechende Hund noch einmal aufgegriffen, in dem der Leiter einer Tierpädagogischen Hochschule behauptet, seinem Hund das Sprechen beigebracht zu haben. Aus Sicht von Felix Christian Reuter brachte Loriot mit diesen Darstellungen seine Kritik an der Fortschrittsgläubigkeit und seine Zweifel der Machbarkeit aller Dinge im Bereich von Naturwissenschaften und Technik zum Ausdruck. Auch Stefan Neumann sieht bei dieser Art von Sketchen einen Zusammenhang zur blinden Wissenschaftsgläubigkeit, die zur Zeit ihrer Erstausstrahlung vorherrschte und sich bis heute gehalten habe. Ein weiteres Kennzeichen von Loriots Wissenschaftsparodien sind erfundene Fachtermini, die die übliche Wissenschaftssprache karikieren. Die „pneumatische Plastologie“ ist dafür ein Beispiel. Sie ist aus dem realen Adjektiv „pneumatisch“ (von altgriechisch πνευματικός pneumatikós, deutsch ‚den Wind oder Atem betreffend‘) und dem erfundenen Wort „Plastologie“ zusammengesetzt. Letzteres verbindet wiederum das Morphem „plasto“, das an das griechische Adjektiv πλαστός (plastos) („gebildet“, „geformt“, aber auch „erdichtet“, „erlogen“) angelehnt ist, mit der in der Wissenschaft üblichen Wortendung -logie, die vom Wort λόγος (logos) abstammt.Wie im Studiointerview spielt auch in Loriots sonstigen Interview-Situationen fehlerhafte oder gescheiterte Kommunikation eine wichtige Rolle. Dieses Thema ist ein zentrales Motiv in Loriots Arbeiten und prägt nicht nur seine Darstellungen von öffentlichen Fernsehauftritten, sondern auch die von privaten Diskussionen, vor allem zwischen Mann und Frau. 1988 bekannte Loriot in einem Interview mit Hellmuth Karasek im Spiegel: „[…] Kommunikationsgestörte interessieren mich am meisten. Alles, was ich als komisch empfinde, entsteht aus der zerbröselten Kommunikation, aus dem Aneinander-Vorbeireden, aus den Problemen, sich zu äußern, aber auch daraus, das Gesagte zu verstehen.“ Den „beinahe unerschöpflichen Fundus“ an Beispielen von problematischer Kommunikation nutzte Uwe Ehlert in seiner Dissertation über die „Darstellung von Mißverständnissen im Werk Loriots.“ == Bildtonträger == Loriots Vibliothek. Band 4: Die Steinlaus und andere Katastrophen in Film und Fernsehen. Warner Home Video, Hamburg 1984, VHS Nr. 4 (am Stück). Loriot – Sein großes Sketch-Archiv. Warner Home Video, Hamburg 2001, DVD Nr. 2 (als Teil von Loriot 6). Loriot – Die vollständige Fernseh-Edition. Warner Home Video, Hamburg 2007, DVD Nr. 3 (als Teil von Loriots Sauberer Bildschirm). Loriot – Die vollständige Fernseh-Edition. Warner Home Video, Hamburg 2007, DVD Nr. 4 (am Stück). == Textveröffentlichungen (Auswahl) == Loriots dramatische Werke. Diogenes, Zürich 1981, ISBN 3-257-01004-4, S. 294–297. Das Frühstücksei. Diogenes, Zürich 2003, ISBN 3-257-02081-3, S. 273–279. Gesammelte Prosa. Diogenes, Zürich 2006, ISBN 978-3-257-06481-0, S. 348–355. == Literatur == Uwe Ehlert: „Das ist wohl mehr ’ne Kommunikationsstörung“. Die Darstellung von Mißverständnissen im Werk Loriots. ALDA! Der Verlag, Nottuln 2004, ISBN 3-937979-00-X, S. 297–315 (zugleich Dissertation an der Universität Münster 2003). Stefan Neumann: Loriot und die Hochkomik. Leben, Werk und Wirken Vicco von Bülows. Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2011, ISBN 978-3-86821-298-3. Felix Christian Reuter: Chaos, Komik, Kooperation. Loriots Fernsehsketche (= Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus [Hrsg.]: FILM - MEDIUM - DISKURS. Band 70). Königshausen & Neumann, Würzburg 2016, ISBN 978-3-8260-5898-1 (zugleich Dissertation an der Universität Trier 2015). == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Studiointerview
Südliche Berliner Vorortbahn
= Südliche Berliner Vorortbahn = Die Südliche Berliner Vorortbahn A. G. (SBV) war ein Straßenbahnbetrieb im Süden Berlins, dessen Linien vorrangig innerhalb der damals selbstständigen Gemeinden Schöneberg, Rixdorf (später Neukölln), Tempelhof und Britz verkehrten. Darüber hinaus besaß dieses Unternehmen mehrere Strecken, die ausschließlich von Linien anderer Gesellschaften befahren wurden. Der Wagenpark umfasste 30 Triebwagen. Beiwagen, Betriebshöfe, Personal und Verwaltung gehörten hingegen zur Großen Berliner Straßenbahn (GBS, Mehrheitsaktionär seit 1910). Die SBV war seit ihrer Gründung bis 1919, als sie in der GBS aufging, selbstständig. == Geschichte == Das Unternehmen wurde am 4. Juli 1898 mit einem Aktienkapital von drei Millionen Mark gegründet (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 23 Millionen Euro). Die Hälfte des Aktienkapitals besaß die GBS, die andere Hälfte die Gesellschaft für elektrische Unternehmungen. Die Gesellschaft übernahm die Verträge des Konsortiums der Südlichen Berliner Vorortbahnen, welches sich mit den wegeunterhaltspflichtigen Gemeinden Britz, Lankwitz (für Lankwitz führte der damalige Gemeindevorsteher Friedrich Dillges die Verhandlungen), Rixdorf, Schöneberg, Tempelhof, Treptow und der Stadt Berlin vertraglich über den Bau einer Kleinbahn geeinigt hatte. Der Zustimmungsvertrag für die Stadt Berlin wurde bis zum 31. Dezember 1919, die Verträge für die übrigen Gemeinden wurden bis zum 1. Juli 1947 abgeschlossen, die staatliche Konzession zum Betrieb der Bahn war bis 1948 ausgestellt. Die Betreiberin hatte jährlich acht Prozent der Bruttoeinnahmen an die Stadt Berlin zu entrichten sowie, sofern der Reinertrag sechs Prozent des aufgewendeten Kapitals überstieg, die Hälfte des Mehrbetrages. An die übrigen Gemeinden sollten für die ersten fünf Jahre keine Abgaben entrichtet werden. Für die Pflasterunterhaltung waren ein jährlicher Betrag von 70 Pfennig pro Kilometer einfachen Gleises an die Gemeinde Rixdorf sowie von 20 Pfennig pro Kilometer an die übrigen Gemeinden zu zahlen. Im November 1898 wurde der erste Bauabschnitt zwischen Britz und Tempelhof in Angriff genommen. Die Betriebsaufnahme erfolgte am 1. Juli 1899 auf zwei Linien. Diese wurden wie bei der GBS mit verschiedenfarbigen Signaltafeln gekennzeichnet. Die erste Linie mit der Bezeichnung „Südring“ und blauen Signaltafeln führte vom Bahnhof Rixdorf über die Bergstraße, den Blücherplatz in Berlin, Schöneberg, Tempelhof und Britz zurück nach Rixdorf. Da die Linie zwischen Tempelhof und Britz durch überwiegend unbebautes Gebiet führte, prägte sich für diese schnell der Spitzname „Wüstenbahn“ ein. Eine zweite Linie mit der Signaltafel Weiß/Blau führte ergänzend zum Südring vom Bahnhof Rixdorf nach Schöneberg. Der Endpunkt befand sich an der Kreuzung Hauptstraße /Ecke Eisenacher Straße. Dieser konnte allerdings erst am 1. Oktober oder 1. Dezember 1899 dem Betrieb übergeben werden. Zuvor endete die Linie zunächst am Militärbahnhof in der Kolonnenstraße. Vier Tage später wurde die Linie vorübergehend bis Hauptstraße /Ecke Mühlenstraße vorgezogen. Zwischen Bahnhof Rixdorf und Yorckstraße /Ecke Katzbachstraße sowie zwischen Kaiser-Wilhelm-Platz und Hauptstraße /Ecke Mühlenstraße wurden die Gleise der GBS mitgenutzt. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Verkehr bei Schneefall eingeschränkt und bei Schneeverwehungen komplett eingestellt wird.Die Linienführung der zweiten Linie wurde am 1. Oktober 1900 geringfügig geändert. Zwischen Katzbachstraße und Kolonnenstraße ging an diesem Tag eine parallel verlaufende Strecke über Kreuzbergstraße, Monumentenstraße und Siegfriedstraße in Betrieb. Am 15. Dezember desselben Jahres wurde für beide Linien innerhalb von Rixdorf eine neue Strecke von der Bergstraße über Richardplatz und Kaiser-Friedrich-Straße zum Hermannplatz in Betrieb genommen. Die direkte Führung über die Bergstraße wurde von den Linien der GBS weiterhin genutzt. Die dritte Linie der SBV ging wenige Monate zuvor am 16. Juli 1900 in Betrieb und hatte keinen Anschluss an die beiden übrigen Linien. Sie führte von Tempelhof, Friedrich-Karl-Straße/Berliner Straße über Bahnhof Mariendorf, Bahnhof Südende und Lankwitz bis zum Anhalter Platz am Bahnhof Groß-Lichterfelde Ost. Die mit weißen Signallampen gekennzeichnete Linie wurde zunächst als Pferdebahn betrieben, da infolge von Einsprüchen die Kabelverlegungen nicht rechtzeitig abgeschlossen werden konnten. Nach der polizeilichen Abnahme im November 1901 verkehrte die Bahn ab dem 22. März 1902 elektrisch. Die Gleisanlagen befanden sich im vollständigen Besitz der SBV. Am 10. August 1900 folgten zwei weitere Linien. Die vierte Linie mit der Signaltafel „Rot mit weißem Strich“ führte von der Kreuzung Eichhornstraße /Ecke Potsdamer Straße über Dennewitzplatz und Kolonnenstraße bis zur General-Pape-Straße unweit des Ring- und Vorortbahnhofs Papestraße. Zwischen der nördlichen Endhaltestelle und der Kreuzung Mansteinstraße /Ecke Großgörschenstraße wurden die Gleise der GBS genutzt. Die fünfte Linie führte weiße Signaltafeln und verlief vom Blücherplatz zur General-Pape-Straße. Am 6. Mai 1902 wurde diese mit der Linie Brunnenstraße – Kreuzbergstraße der GBS zur neuen Linie 41 Brunnenstraße – General-Pape-Straße zusammengefasst und im Anschlussverkehr betrieben. Nach unbestätigten Angaben soll die vierte Linie ab diesem Tage über Yorckstraße – Katzbachstraße – Dreibundstraße umgeleitet worden sein. Ende 1902 erhielt die Linie ihre alte Führung zurück.Im Sommer 1902 wurden bei der allgemeinen Nummerierung der Linien der Großen Berliner Straßenbahn und ihrer Tochtergesellschaften für die Südliche Berliner Vorortbahn römische Zahlen eingeführt. Die Linie III wurde am 21. April 1905 im Anschlussbetrieb mit der GBS über Potsdamer Straße, Leipziger Straße, Lindenkreuzung, Hackescher Markt und Zionskirchplatz bis zur Kreuzung Swinemünder Straße /Ecke Ramlerstraße verlängert. Nach Eröffnung des Lindentunnels nutzte die Linie ab dem 19. Dezember 1916 den östlichen Tunnelteil. Am 1. Januar 1907 wurde die Linie V eingerichtet, indem jeder zweite Wagen der Linie II über die Endhaltestelle Eisenacher Straße hinaus über Hauptstraße, Rheinstraße und Schloßstraße bis Steglitz, Schloßpark fuhr. Am 1. Oktober 1910 wurde diese Linie über die Chausseestraße bis Lichterfelde, Händelplatz verlängert. Die übrigen Wagen der Linie II verkehrten dagegen ab dem 1. Februar 1910 im Zuge des Südrings weiter bis Tempelhof, Germaniastraße/Oberlandstraße, um die Linie I zu verstärken. Am gleichen Tag wurde die Linie IV durch die Anschlusslinie 99 der GBS ersetzt. An Sonntagen wurde die Linie bei Bedarf auch bis Steglitz, Schloßpark, statt nach Tempelhof geführt. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Linie II am 3. August 1914 eingestellt. Zum gleichen Zeitpunkt erhielt die Linie I in Neukölln (bis 1912: Rixdorf) ihre alte Linienführung über Bergstraße und Berliner Straße wieder.Am 28. Mai 1918 kam es zum Abschluss eines neuen Zustimmungsvertrages zwischen dem 1911/1912 gegründeten Verband Groß-Berlin und der GBS, in dem unter anderem ihr Zusammenschluss mit ihren Nebenbahnen festgelegt worden war. Die GBS verfügte seit 1910 über sämtliche Aktien der SBV. Die Verbandsversammlung gab am 3. März ihre Zustimmung zu dem Vorhaben, das am 15. Mai 1919, nach anderen Angaben am 26. April 1919, umgesetzt wurde. Die Südliche Berliner Vorortbahn wie auch die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn, die Westliche Berliner Vorortbahn und die Nordöstliche Berliner Vorortbahn hörten mit diesem Tag auf zu existieren. Die Rechnungsführung der Betriebe wurde rückwirkend zum 1. Januar 1918 vereinheitlicht.Am 11. Mai 1922 wurden die verbliebenen Linien in das Nummernsystem der 1920 aus der GBS hervorgegangenen Berliner Straßenbahn (BSt) integriert. Die Gesamtstreckenlänge betrug zu diesem Zeitpunkt 37,29 Kilometer, davon waren 19,63 Kilometer zweigleisig ausgeführt. Die Betriebsspannung lag zwischen 500 und 550 Volt Gleichstrom. == Weitere Strecken der SBV == Neben den bereits aufgeführten Strecken errichtete die Südliche Berliner Vorortbahn im Laufe ihres Bestehens mehrere Strecken, die nie von den eigenen Linien befahren wurden. Im Einzelnen waren dies: um 1905: Mariendorf, Dorfstraße; Betrieb durch GBS 18. Februar 1907: Kolonnenstraße/Sedanstraße – Gotenstraße; Linie 23 der GBS 20. November 1909: Kaiser-Friedrich-Straße (zw. Hertzbergstraße und Teupitzer Straße); Linie 65 der GBS 27. November 1909: Kaiser-Friedrich-Straße/Wildenbruchstraße – Wildenbruchplatz; Linie 89 der GBS 20. Oktober 1910: Wildenbruchplatz – Elsenstraße/Heidelberger Straße; Linie 89 der GBS 18. Juni 1911: Elsenstraße (zw. Heidelberger Straße und Görlitzer Bahn); Linie 19 der GBS 18. Juni 1911: Erkstraße (zw. Donaustraße und Kaiser-Friedrich-Straße); Linie 19 der GBS 13. Juni 1913: Britz, Chausseestraße/Triftstraße – Buckow West; Linie 28 der GBS 01. Oktober 1913: Britz, Buschkrug – Rudow; Linie 47 der GBSDarüber hinaus befanden sich im Wittelsbacherkorso (heute: Boelckestraße) in Tempelhof bereits eingebaute Gleise. Sie wurden nie ihrer Bestimmung übergeben und in den 1920er Jahren wieder entfernt. Die von der SBV betriebenen Strecken über Richardplatz und in der Bahnstraße wurden bereits am 1. Oktober 1899 eröffnet und zu Beginn ausschließlich von der GBS genutzt. == Wagenpark == Für die Eröffnung des Betriebes 1899 kaufte die SBV 30 Triebwagen und versah diese mit den Wagennummern 1 bis 30. Sie glichen den zur gleichen Zeit beschafften Berolina-Wagen der GBS und besaßen Fahrgestelle vom Typ Neu-Berolina. Die elektrische Ausrüstung wurde von der Union-Elektricitäts-Gesellschaft (UEG) beschafft. Da diese Wagen für den Betrieb nicht ausreichten, musste die Gesellschaft weitere Trieb- und Beiwagen von der GBS leihen, ebenso die Pferdebahnwagen, die zwischenzeitlich auf der Lichterfelder Linie zum Einsatz kamen. Bekannt ist der Einsatz von vierachsigen Triebwagen des Typs Brandenburg auf der Linie III, da diese für die Kreuzung des Boulevards Unter den Linden mit entsprechenden Einrichtungen für den Unterleitungsbetrieb ausgerüstet waren.Nach der Übernahme durch die GBS im Jahr 1919 wurden die Triebwagen mit den neuen Wagennummern 3233–3262 versehen. Von den Wagen 3238, 3251–3256 und 3258 ist der Umbau in die U3l-Wagen 3056II–3063II bekannt. Der Umbau erfolgte 1922 bei der Nationalen Automobil-Gesellschaft und soll darüber hinaus weitere Wagen der SBV umfasst haben. Die verbliebenen Fahrzeuge kamen entweder in den Arbeitswagenpark oder wurden ausgemustert. Die U3l-Wagen ihrerseits waren bis etwa 1934 im Personenverkehr anzutreffen. Von den Wagen 3056II und 3059II ist der nachfolgende Einsatz als Arbeitswagen (A90II bzw. A84) belegt, die beiden Triebwagen wurden 1955 bzw. 1954 ausgemustert.Die Wartung erfolgte mietweise in den Betriebshöfen der GBS, da die SBV über keinerlei vergleichbare Anlagen verfügte. Anfangs erfolgte die Unterbringung im Hof Brandenburgstraße, später auch in den Betriebshöfen Rixdorf beziehungsweise Neukölln und Tempelhof. == Betriebsergebnisse == Das Grundkapital der SBV belief sich auf drei Millionen Mark, von denen je die Hälfte der GBS und der Gesellschaft für elektrische Unternehmungen gehörten. Seit 1910 war die GBS der alleinige Eigentümer. Da das Unternehmen keine Gewinne erzielte, bestand auch kein Reservefonds. Hauptgrund für die Verluste war die Streckenführung durch weitgehend noch nicht erschlossenes Gebiet. Um das Gesamtergebnis positiv zu beeinflussen, übernahm die GBS ab 1910 die Betriebsführung der Linie IV als Anschlusslinie 99. Die weitgehend identisch zur Straßenbahn-Linie 40 der GBS geführte Linie III soll ab 1908 ebenfalls vollständig von der GBS übernommen worden sein, wird aber für das Jahr 1911 als Linie der SBV angegeben. == Tarif == Der Tarif auf den einzelnen Linien richtete sich im Wesentlichen nach dem Verkehrsgebiet, den diese bedienten. Auf den Linien II, III und IV galt ein Einheitstarif von 10 Pfennig für eine ununterbrochene Fahrt. Für die Linie I galt für Fahrten innerhalb des jeweiligen Weichbildes und zu jedem Punkt eines zweiten Vorortes ein Fahrpreis von 10 Pfennig, für Fahrten darüber hinaus ein Fahrpreis von 20 Pfennig. Auf der im Anschlussbetrieb mit der Westlichen Berliner Vorortbahn betriebenen Linie V galt ein Teilstreckentarif mit Fahrkarten zu 10, 15 und 20 Pfennig.Die Fahrscheine zu 10 Pfennig waren weiß, die zu 15 Pfennig rosa und die zu 20 Pfennig grün. Die Ausgabe von Zeit- und Schülerkarten erfolgte ab 1904 nach den bei der GBS üblichen Grundsätzen. Eine Monatskarte für eine Linie kostete anfangs 7,50 Mark, für zwei Linien 10 Mark, für drei Linien 13 Mark und für das gesamte Netz 15 Mark. Nach Einführung der Fahrkartensteuer am 1. August 1906 erhöhte sich der Preis auf 7,70, 10,20, 13,40 und 15,40 Mark. Schülermonatskarten für zwei Linien waren für 3,00 Mark zu erhalten, jede weitere Linie kostete 1,00 Mark mehr. Arbeiterwochenkarten wurden für sechs mal zwei Fahrten zum Preis von 1,00 Mark ausgegeben. == Anmerkungen == == Literatur == Wolfgang Kramer, Siegfried Münzinger: Südliche Berliner Vorortbahn. In: Berliner Verkehrsblätter. Hefte 6, 7, 8, 1963. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdliche_Berliner_Vorortbahn
Theodor Mayer (Historiker)
= Theodor Mayer (Historiker) = Theodor Mayer (* 24. August 1883 in Neukirchen an der Enknach (Oberösterreich), Österreich-Ungarn; † 26. November 1972 in Salzburg) war ein österreichischer Historiker und Wissenschaftsorganisator. Mayers Denken und Handeln war großdeutsch geprägt. Nach einer Tätigkeit als Archivar von 1906 bis 1923 lehrte er als ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte an den Universitäten Prag (1927–1930), Gießen (1930–1934), Freiburg (1934–1938) und Marburg (1938–1942). In seinen Anfangsjahren trat er mit wirtschafts- und siedlungsgeschichtlichen Arbeiten hervor. Er wollte die vermeintliche kulturelle Überlegenheit der Deutschen wissenschaftlich belegen. Mit der Leitung des Alemannischen Instituts, der Badischen Historischen Kommission und der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft nahm er für kurze Zeit in den dreißiger Jahren eine einflussreiche Rolle in der südwestdeutschen Wissenschaftsorganisation ein. Dabei sollten vor allem die „deutschen Leistungen“ gegenüber Frankreich betont werden. Mayer wandte sich entschlossen dem Nationalsozialismus zu. Als prominenter Vertreter der Mediävistik wollte er zur geistigen Mobilmachung beitragen und die Relevanz der historischen Forschung für das neu zu schaffende Europa beweisen. Mayers Ziel war die Erarbeitung eines europäischen Geschichtsbildes, das vor allem von der deutschen Geschichtswissenschaft aus bestimmt wird. Damit sollten die nationalsozialistischen Neuordnungspläne eine historische Legitimation erhalten. Mayer strebte die Gründung eines deutschen historischen Instituts im besetzten Paris an, um die Überlegenheit der deutschen Geschichtswissenschaft in Europa historisch zu untermauern. Als Leiter des sogenannten „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ bei den Mittelalterhistorikern organisierte Mayer bis Kriegsende regelmäßig Tagungen. Als Rektor in Marburg von 1939 bis 1942 ging es ihm um eine enge Verschränkung von Wissenschaft und Krieg. Ab 1942 war er Präsident des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (der vormaligen Monumenta Germaniae Historica) und bekleidete damit das höchste Amt in der deutschsprachigen Mediävistik. Zugleich war er Leiter des Preußischen Historischen Instituts in Rom. Mayers rechtzeitige Evakuierung der Monumenta-Bibliothek im Zweiten Weltkrieg von Berlin nach Pommersfelden in Bayern schuf die Grundlage dafür, dass sich die Monumenta Germaniae Historica (MGH) in München neu etablieren konnten. Der Zusammenbruch des NS-Regimes bedeutete für Mayer 1945 das Ende seiner Hochschullaufbahn und den Verlust der MGH-Präsidentschaft. In der Nachkriegszeit stritt er jahrelang vergeblich um seine Wiedereinsetzung als Präsident. Als Wissenschaftsorganisator blieb er jedoch einflussreich. In Konstanz begründete er mit dem Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (1951–1958 Städtisches Institut für geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebietes) eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die für die Mediävistik bis in die Gegenwart von Bedeutung ist. Der um Mayer in Konstanz versammelte Kreis an hochkarätigen Wissenschaftlern war von der Überzeugung geleitet, ein „krisenfestes Geschichtsbild“ zu entwickeln. Wegweisend für die verfassungshistorische Entwicklung wurde das von Mayer geprägte Konzept des frühmittelalterlichen Personenverbands. Seine Auffassung einer Rodungs- bzw. Königsfreiheit übte über Jahrzehnte wesentlichen Einfluss auf die westdeutsche Diskussion über die hochmittelalterliche Verfassungsentwicklung aus. == Leben == === Herkunft und Jugend === Theodor Mayer wurde am 24. August 1883 im oberösterreichischen Neukirchen an der Enknach im Bezirk Braunau am Inn geboren. Zeitlebens hob er seine Herkunft als „Innviertler“ hervor. Seine Eltern waren der Arzt Johann Nepomuk Mayer und dessen Frau Maria, geborene Wittib. Nach der Grundschule in Neukirchen besuchte er von 1893 bis 1895 das Gymnasium in Linz. Im Jahr 1895 zog die Familie auf Wunsch der Mutter in deren Heimatstadt Innsbruck. Am dortigen Gymnasium freundete er sich mit Heinrich Ficker an, dem zweitältesten Sohn des Historikers Julius Ficker, mit dem er dieselbe Klasse besuchte. Dadurch kam Mayer, der sich als Gymnasiast zur Mathematik hingezogen fühlte, auch in Kontakt mit Alfons Dopsch, der im Sommer 1899 regelmäßiger Gast im Haus der Fickers war. Diese Begegnungen hatten bleibenden Einfluss und bewirkten, dass sich Mayer für das Geschichtsstudium entschied. In Innsbruck legte er 1901 die Matura ab. Seit seiner Jugend war Mayer sehr naturverbunden. Er wurde wie sein Freund Heinrich Ficker, der spätere Meteorologe und Klimatologe, bereits als Gymnasiast Mitglied des Akademischen Alpenklubs und unternahm zahlreiche Bergtouren. Dabei hatte er nach eigener Aussage „immer die Führung“ inne. Die intensive Erfahrung der Natur prägte später auch Mayers Zugang zur Wissenschaft, vor allem zur Landesgeschichte. === Studienjahre in Florenz und Wien === Am Istituto di Studi Superiori, der späteren Universität, studierte er ab 1901 in Florenz Geschichte, widmete sich nach eigener Aussage aber vor allem der Sprache und Kultur Italiens. Ein Jahr später wechselte er an die Universität Wien. Am traditionsreichen Institut für österreichische Geschichtsforschung absolvierte er von 1903 bis 1905 den 25. Ausbildungskurs. Bekannte Mitstudierende waren August Ritter von Loehr, Vinzenz Samanek, Otto Stolz und Josef Kallbrunner. Seine wichtigsten akademischen Lehrer waren Emil von Ottenthal, Oswald Redlich und vor allem der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Alfons Dopsch. Seine Staatsarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung widmete er der mittelalterlichen Burgenverfassung in Österreich. Bei Dopsch wurde er Ende November 1905 mit einer Arbeit über die Handelsbeziehungen der oberdeutschen Städte zu Österreich im 15. Jahrhundert promoviert. Die Abhandlung erschien als Band 6 der von Dopsch 1903 begründeten Reihe Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs. === Archivzeit === Nach seinem Studium war Mayer von 1906 bis 1907 zunächst Praktikant am Staatsarchiv in Innsbruck. In die Zeit als Archivar fällt seine Heirat mit der knapp zehn Jahre jüngeren Johanna Stradal. Seine Frau entstammte einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie und war die Tochter eines Rechtsanwalts aus Teplitz-Schönau in Böhmen. Die Auswertung privater Dokumente zeigt, dass die 1911 geschlossene Ehe harmonisch verlief und von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war. Der katholisch getaufte Mayer wurde durch seine Heirat evangelisch. Aus der Ehe gingen 1913 der Sohn Theodor sowie 1914 und 1920 die Töchter Hanna und Emma hervor. Im September 1912 wurde Mayer mit 29 Jahren zum Direktor des Archivs für Niederösterreich ernannt. Im März 1914 habilitierte er sich an der Universität Wien mit einer Arbeit über die Verwaltungsreform in Ungarn nach der Türkenzeit. Mayer meldete sich noch im selben Jahr als Freiwilliger und wurde einem schweren Artillerieregiment zugewiesen. Bis 1918 absolvierte er Einsätze in Südtirol, Galizien, am Isonzo und an der Piavefront und stieg in den Rang eines Oberleutnants auf. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg setzte er seine Tätigkeit im Archivdienst fort. An der Universität Wien wurde er 1921 unbeamteter außerplanmäßiger Professor. Im Wiener Mittag veröffentlichte er einige Artikel zu volkswirtschaftlichen Themen. Die Zeitschrift trat für die Vereinigung von Deutschland und Österreich ein. === Weimarer Republik === ==== Lehrtätigkeit in Prag (1922–1930) ==== Durch den Rücktritt Emil Werunskys war ab 1920 der Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Deutschen Universität Prag vakant. Nachdem der Wunschkandidat der Berufungskommission, Otto Stolz, Tirol nicht verlassen wollte, wurde Mayer zusammen mit Hermann Aubin an erster Stelle der Berufungsliste vorgeschlagen. Mayer hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Themen der österreichischen Geschichte behandelt und konnte im Bereich der historischen Hilfswissenschaften keine besonderen Leistungen vorweisen. Prag war aber noch wenige Jahre zuvor Teil der Donaumonarchie gewesen, und die deutschsprachigen Prager Professoren fühlten sich auch nach 1918 noch mit Österreich verbunden. Mit seinem Tätigkeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der mittelalterlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte entsprach Mayer den Vorstellungen der Berufungskommission, die sich eine stärkere Berücksichtigung der Geschichte des späten Mittelalters und der Wirtschaftsgeschichte wünschte. In seinem Studienfreund Hans Hirsch, dem alleinigen Vertreter des Fachs mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften, fand er einen Fürsprecher für seine Berufung. Im Dezember 1922 wurde Theodor Mayer als außerordentlicher Professor an die Deutsche Universität Prag berufen. Seine Lehrtätigkeit nahm er im Wintersemester 1923/24 auf. Er bot vorwiegend Vorlesungen und Übungen zur Wirtschaftsgeschichte an, darunter ab dem Sommersemester 1926 regelmäßig eine dreistündige wirtschaftsgeschichtliche Vorlesung. Im Alter von 44 Jahren erhielt er 1927 seine erste ordentliche Professur in Prag. Seine Interessen verschoben sich Ende der zwanziger Jahre, was sich in den Vorlesungen und Publikationen niederschlug. Siedlungsgeschichtliche Fragen traten seit 1928 gegenüber wirtschaftsgeschichtlichen in den Vordergrund. Mayer ließ Katastralmappen fotografieren und Flugbilder anfertigen. Für die Erforschung der böhmischen Siedlungsgeschichte war der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen vorgesehen, in dem Mayer sich engagierte. Als akademischer Lehrer betreute er in seiner siebenjährigen Lehrtätigkeit in Prag 21 Dissertationen, darunter neun über wirtschafts- und siedlungsgeschichtliche Themen. ==== Professur in Gießen (1930–1934) ==== Im Jahr 1930 wurde Mayer als Nachfolger von Hermann Aubin Professor für mittelalterliche Geschichte in Gießen. Die Reichs-, Verfassungs- und vor allem Landesgeschichte standen fortan im Mittelpunkt. Ähnlich wie sein Vorgänger Aubin griff er Fragen der deutschen Ostkolonisation auf und setzte auch damit Themen aus seiner Prager Zeit fort. So hielt er im Wintersemester 1933/34 eine Vorlesung zum Thema Geschichte der deutschen Ostkolonisation. In Gießen traf er auch mit Heinrich Büttner zusammen, den er für das Mittelalter gewann. Zwischen Mayer und Büttner entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Seine Beziehungen zu auslandsdeutschen Kreisen hielt Mayer auch in Gießen aufrecht. Bereits kurze Zeit nach seiner Übersiedlung war er Vorsitzender der dortigen Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland. Er leitete auch die Gießener Ortsgruppe des Kampfrings der Deutsch-Österreicher im Reich. Die Mitglieder vertraten eine großdeutsche Idee und den Anschlussgedanken. Als er zusammen mit Walter Platzhoff und Karl Brandi mit der Neuorganisation des Allgemeinen Deutschen Historikerausschusses beauftragt wurde, wollte er verstärkt „die Auslandsdeutschen und ihre Wünsche“ berücksichtigen.Zwar war Gießen eine vergleichsweise unbedeutende Universität, doch fühlte sich Mayer dort sehr wohl. So unternahm er ausgedehnte Exkursionen, um das Lahntal und die Gegend um Gießen zu erkunden. Gleichwohl äußerte er 1931 in einem Brief den Wunsch zu gehen, wenn ein besseres Angebot käme. === Rolle im Nationalsozialismus (1933–1945) === ==== Verhältnis zum NS-Regime ==== Mayers Frau gehörte noch vor ihrem Mann zu den Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung. Sie soll bereits im Sommer 1932 nationalsozialistisch gewählt haben. Auch sein Sohn Theodor Mayer-Edenhäuser war Bewunderer von Adolf Hitler und trat im Frühjahr 1932 in die NSDAP ein, im Herbst desselben Jahres in die SA.In der Endphase der Weimarer Republik unterstützte Mayer eine rechtsautoritäre Wende. Die DNVP war ihm aber unter ihrem Vorsitzenden Alfred Hugenberg zu „preußisch“, an der NSDAP bemängelte er im Frühjahr 1931 Unfähigkeit zu positiver Politik. „Über Massendemagogie“, kritisierte er, „scheinen sie nicht hinauszukommen“. Im Vorfeld der hessischen Landtagswahlen vom 15. November 1931 besuchte er zwei NSDAP-Veranstaltungen in Gießen. Im Juli 1932 äußerte er sich weiterhin skeptisch über die Regierungsfähigkeit der Nationalsozialisten. Nach seinem Biographen Reto Heinzel entwickelte Mayer spätestens im Herbst 1932 Sympathien für die politischen Ideen des Nationalsozialismus. Er begeisterte sich weniger für die politische Bewegung als für die straffe, autoritäre Regierung unter Adolf Hitlers Führung.Nach Reto Heinzel änderte Mayer seine politische Haltung in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Regierung nicht schlagartig, sondern kontinuierlich, und zwar nicht etwa aus Karrieregründen, sondern aus innerer Überzeugung. Nach den Märzwahlen 1933 war er nach Anne Christine Nagel von den Nationalsozialisten begeistert; er schrieb, dass es nun „wirklich eine Freude [sei], Deutscher zu sein“. In der Geschichtswissenschaft galt Mayer spätestens seit seiner Übernahme des Freiburger Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte im Jahr 1934 als überzeugter Nationalsozialist.In beruflich abgesicherter Stellung als Professor im Alter von fünfzig Jahren äußerte er sich in einem Brief an Wilhelm Bauer vom April 1933 abwertend über den Massenbeitritt hunderttausender Menschen nach der Reichstagswahl im März 1933 (sogenannte Märzgefallene) in die NSDAP. Er selbst beantragte nach der Aufnahmesperre am 22. Mai 1937 die Aufnahme in die Partei und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 4.352.531). Seine politische Zuverlässigkeit war auch ohne Mitgliedschaft in der NSDAP unstrittig. Im August 1933 trat er dem Nationalsozialistischen Lehrerbund bei. Er war auch Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, im Reichsluftschutzbund und im NS-Dozentenbund. In diesem Milieu betonte Mayer seine gemeinsame geographische Herkunft mit Adolf Hitler. Aus der Sicht der nationalsozialistischen Machthaber war Mayer weltanschaulich „einwandfrei“ und politisch „grundecht“. Er war an der zu Adolf Hitlers 50. Geburtstag herausgegebenen Festschrift beteiligt; dort veröffentlichte er eine Forschungsbilanz der „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ seit 1933. Die Gauleitung Kassel kam 1941 in einer „politischen Beurteilung“ zum Ergebnis, dass er sich „als überzeugter Nationalsozialist bewährt“ habe.Ende März 1933 forderte er in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Bauer noch Differenzierung bei der Behandlung der jüdischen Bevölkerung, indem er für eine Unterscheidung plädierte zwischen „Ostjuden und alteingesessenen Juden, deren Familien seit 500 und noch mehr Jahren hier wohnen“. Fünf Jahre später war das nicht mehr der Fall. Den lang ersehnten „Anschluss Österreichs“ kommentierte der großdeutsch orientierte Mayer in einem Brief vom 14. März 1938 an Wilhelm Bauer mit einer Mischung aus Freude und Häme gegenüber dem Schicksal der jüdischen Lehrenden an der Wiener Universität. Über die Reichspogromnacht im November 1938 ist lediglich ein teilnahmsloser Kommentar überliefert. ==== Freiburger Professur (1934–1938) ==== In Freiburg im Breisgau wurde Mayer am 1. Oktober 1934 Nachfolger Hermann Heimpels auf dem traditionsreichen Lehrstuhl Georg von Belows für mittelalterliche Geschichte. Die Übernahme dieses Lehrstuhls an einer deutlich größeren Universität war für ihn ein spürbarer Aufstieg. Das Umfeld war nun merklich politischer als in Gießen. Freiburg befand sich als sogenannte „Grenzlanduniversität“ in unmittelbarer Nähe zur Schweiz und zum Erbfeind Frankreich. Mayers Freiburger Antrittsvorlesung vom 23. Mai 1935 befasste sich mit dem Staat der Zähringer. Sie wurde im selben Jahr veröffentlicht. Für diese Vorlesung fuhr der passionierte Radfahrer die alten Zähringerstraßen und Ortsgründungen in seinem Untersuchungsgebiet mit dem Rad ab. Die Erkundung der Landschaft war für ihn ein wesentlicher Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. 1936/37 war er in Freiburg Prodekan der Philosophischen Fakultät. Zu seinen dortigen akademischen Schülern gehörte Martin Wellmer. Die Karlsruher Kultusbürokratie ernannte Mayer nicht nur wegen seines Ansehens als Wissenschaftler, sondern auch wegen seiner politischen Zuverlässigkeit Ende Mai 1935 zum Vorsitzenden der 1933 aufgelösten und 1935 nach dem Führerprinzip wieder eingerichteten Badischen Historischen Kommission. Anlässlich der Wiederbegründung in Karlsruhe hielt er am 4. Dezember 1935 eine Festrede mit Dank an „unser(en) Führer Adolf Hitler“ und einem Bekenntnis zu der von diesem grundgelegten „nationalsozialistische(n) deutsche(n) Geschichtsauffassung und -betrachtung“. Mit dieser Rede legte er in Anwesenheit des Gauleiters und Reichsstatthalters ein deutliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus ab.Im Jahr 1935 übernahm Mayer von Franz Steinbach die Leitung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft. Im Frühjahr 1935 wurde ihm vom nationalsozialistischen Oberbürgermeister Freiburgs, Franz Kerber, die Leitung des Alemannischen Instituts übertragen. Das Institut wurde von der Stadt Freiburg unterhalten. Mayer hingegen wollte es eng mit der Universität verbinden. Außerdem strebte er die Zusammenarbeit mit Schweizer und Elsässer Gelehrten an. Deshalb wurde gegen den Willen des Bürgermeisters das Institut in Oberrheinisches Institut für geschichtliche Landeskunde umbenannt. Mit Kerber kam es daraufhin zum Zerwürfnis. Auch mit Friedrich Metz, der die Umbenennung des Instituts ebenfalls ablehnte, kam es zu Spannungen. Persönliche Differenzen hatte Mayer auch am Historischen Seminar mit Gerhard Ritter, der kleindeutsch orientiert war. Einer Amtsenthebung kam Mayer nur durch die Annahme der Berufung 1938 nach Marburg zuvor. ==== Lehrtätigkeit und Rektorat in Marburg (1938–1942) ==== Edmund Ernst Stengel wurde 1937 Präsident der Monumenta Germaniae Historica, die seit der institutionellen Umgestaltung 1935 Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde hießen. Als Nachfolger auf Stengels Marburger Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte war Mayer der Wunschkandidat des ausscheidenden Gelehrten. Im Oktober 1938 übernahm er Stengels Nachfolge an der kleinstädtisch und protestantisch geprägten Philipps-Universität Marburg. Mit dem Lehrstuhl war das Institut für geschichtliche Landeskunde in Hessen und Nassau verbunden. Allerdings war Mayer von seiner neuen akademischen Wirkungsstätte keineswegs begeistert. Er hatte nicht vor, „in der hessischen Geschichte aufzugehen“. Neben der Mediävistik befasste sich Mayer auch mit historischen Themen von aktueller politischer Relevanz. Im Sommersemester 1939 hielt er eine Vorlesung über die Geschichte der Deutschen in den Alpen- und Sudetenländern. Den Anlass bildeten die Zerschlagung der Tschechoslowakei und der „Anschluss Österreichs“. Der Sechsundfünfzigjährige meldete sich Monate vor dem 1. September 1939 zum Waffengang. Mit Bedauern nahm er die altersbedingte Absage zur Kenntnis.Schon nach weniger als einem Jahr wurde Mayer von einer Mehrheit der Professoren als Kandidat für die politisch exponierte Stellung des Rektors vorgesehen. Am 2. November 1939 folgte seine Ernennung durch den Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust. Er bekleidete das Rektorat von Spätherbst 1939 bis zum Dezember 1942. Damit stellte er sich auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Machtentfaltung für eine Position zur Verfügung, die nicht allein den Wissenschaftsbetrieb zu ordnen, sondern auch politische Funktionen zu erfüllen hatte. Von 1938 bis 1942 war er auch Leiter der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck. Mayer stellte sich dem „Ahnenerbe“ der SS sowie Parteikreisen wiederholt als wissenschaftlicher Berater zur Verfügung. Seit 1940 war er Leiter der Abteilung Mittelalter des „Einsatzes der Geisteswissenschaften im Kriege“. Dabei handelte es sich um ein vom Kieler Rektor Paul Ritterbusch im Auftrag des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung organisiertes Großprojekt der Geisteswissenschaftler, dessen Ziel ein von deutschen Historikern geprägtes europäisches Geschichtsbild war. Nach Mayers 1941 geäußerter Meinung war ohne Erfüllung dieser Aufgabe an eine geistige Führung Europas gar nicht zu denken. Gute Kontakte bestanden zum „Ahnenerbe“ der SS. Dem Kurator dieser Einrichtung, Walther Wüst, schlug Mayer die Erstellung einer „germanischen Prosopographie“ als Forschungsvorhaben vor. Geplant war die Erfassung von rund 15.000 Personen von der Zeit Karls des Großen bis zum Jahr 1200. Bei der „allgemeinen germanischen Prosopographie“ sollte nach Mayer festgestellt werden, „inwieweit das Bewußtsein der blutmässigen Zusammengehörigkeit des europäischen Adels und damit ein gemein germanisches Gefühl fortlebt und welchen Anteil die Germanen nicht nur durch ihre Zahl, sondern durch die Stellung der führenden Persönlichkeiten am Aufbau der europäischen Völker-, Staaten- und Kulturwelt haben“. Während des Krieges wurden die Arbeiten aufgenommen. ==== Präsident der Monumenta Germaniae Historica (1942–1945) ==== Ab April 1942 war Mayer zunächst kommissarisch Leiter des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, wie die Monumenta Germaniae Historica (MGH) seit 1935 hießen. Am 1. Oktober wurde er als erster Österreicher deren Präsident, ein Umstand, den er wiederholt voller Stolz betonte. Für den Verzicht auf seinen Lehrstuhl in Marburg und das Rektorat sollte er vom Ministerium nicht nur die Präsidentschaft, sondern auch ein Ordinariat an der Berliner Universität bekommen, doch stießen die Bemühungen des Ministeriums in der Berliner Fakultät auf heftigen Widerstand. Der amtierende Dekan Hermann Grapow machte in einem Schreiben an den Reichserziehungsminister vom 28. September 1942 deutlich, „daß die Fakultät Herrn Dr. Theodor Mayer nicht wünscht“. Grapow führte weiter aus, dass er die Harmonie auf dem Gebiet der mittleren und neueren Geschichte durch Mayer gefährdet sah. Dieser stehe im „Ruf eines unruhigen, herrschsüchtigen, ja krakeeligen Mannes“. Für Mayer wurde daraufhin lediglich eine Honorarprofessur eingerichtet. Im Jahr 1942 erlitt Mayer einen persönlichen Schicksalsschlag: Sein 29-jähriger Sohn erlag am 29. Mai 1942 den Folgen einer zweifachen Verwundung, die er in der Schlacht von Charkow erlitten hatte. Nach dem Verlust seines einzigen Sohnes verschärfte sich Mayers Tonfall. In seiner Rede vom 11. Juli 1942 anlässlich der Universitätsgründungsfeier sprach er vom „totalen Krieg“. Der Krieg sei „eine Auseinandersetzung zwischen zwei Weltanschauungen, es ist ein Kampf um das Lebensrecht der einzelnen Völker und ihrer Kultur, um eine bessere Weltordnung mit dem Ziel, der Zersetzung und Vernichtung, die uns von auswärts droht, Einhalt zu gebieten“.Als Präsident stand Mayer einer Einrichtung vor, die sich in erster Linie der Edition mittelalterlicher Quellen widmet. An editorischer Arbeit hatte Mayer jedoch kein Interesse. Er dachte vielmehr daran, die herkömmlichen Aufgaben der MGH unter dem Dach des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands neu zu organisieren. In den letzten Jahren des Totalen Krieges konnte er bei den MGH keine nachhaltigen Gestaltungsmöglichkeiten mehr entfalten. Die MGH wurden 1944 wegen der zunehmenden Bombenangriffe aus Berlin nach Schloss Pommersfelden bei Bamberg evakuiert. Der Vorschlag ging wohl auf Carl Erdmann zurück, der mit dem Grafen Erwein von Schönborn-Wiesentheid gut bekannt war. === Nachkriegszeit === ==== Absetzung als MGH-Präsident ==== Das Kriegsende erlebte Mayer mit einigen wenigen MGH-Mitarbeitern im fränkischen Pommersfelden, das am 14. April 1945 von den Amerikanern besetzt wurde. Anfang September 1945 wurde er von der amerikanischen Militärbehörde verhaftet und bis Juni 1946 im Lager Hammelburg interniert. Im Juni 1946 wurde er nach Pommersfelden entlassen. Mayer machte sich in dieser Zeit vor allem Gedanken über die Zukunft der MGH. Er betonte in einem Brief an den Regierungspräsidenten für Ober- und Mittelfranken, dass die „deutsche Wissenschaft“ im 20. Jahrhundert eine „Führerstellung“ erreicht habe. Kulturpolitisch sei dieser Aktivposten „von höchster Bedeutung“. Mit dem richtigen Einsatz könne man „wirksamste und dabei wenig kostspielige Propaganda treiben“. Mayer wurde im Sommer 1946 von Walter Goetz versichert, dass an seiner Wiedereinsetzung in das Präsidentenamt kein Zweifel bestehe. Mayer gelang es, zahlreiche entlastende Gutachten von namhaften Kollegen vorzulegen. Für seinen treuen Schüler Heinrich Büttner verfasste er selbst ein Gutachten, und Büttner wiederum erklärte sich einverstanden, für Mayer als Entlastungszeuge im Spruchkammerverfahren aufzutreten. Von der Spruchkammer Höchstadt an der Aisch wurde Mayer am 22. September 1947 als „Mitläufer“ in Stufe IV eingeordnet und zu einer Zahlung von 500 Reichsmark verurteilt. Im Urteil der Spruchkammer hieß es, dass er „nur nominell am Nationalsozialismus teilgenommen“ habe. Das zeittypisch milde Urteil sah Mayer als „glänzende Rechtfertigung meiner streng objektiven, wissenschaftlichen Haltung während der ganzen Zeit der nat. soz. Herrschaft“.Ende September 1946 wurde die bis 1935 bestehende Zentraldirektion, der wissenschaftliche Beirat der Monumenta Germaniae Historica, wiederhergestellt. Auf ihrer ersten Sitzung stimmten die Mitglieder der Zentraldirektion noch überein, dass Mayer bei einem Freispruch „ohne weiteres in sein Amt wieder eingesetzt werden“ solle. Das Urteil der Spruchkammer wartete die Zentraldirektion dann jedoch nicht mehr ab. Sie beschloss für Dezember 1947 die Wahl eines neuen Präsidenten. Aus ihr ging der Berliner Mediävist Friedrich Baethgen mit Wirkung vom 1. Januar 1948 als neuer Präsident hervor. Die folgenden Lebensjahre Mayers waren nicht von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geprägt, sondern vom Kampf um Wiedergutmachung des Unrechts, das man ihm aus seiner Sicht angetan hatte. Mayer vertrat den Standpunkt, dass er als Reichsbeamter nie entlassen worden und somit noch immer im Amt sei. Er wandte sich 1948 im Gegensatz zu anderen entlassenen Historikern mit zwei offenen Briefen an eine breitere Öffentlichkeit im In- und Ausland. Darin erklärte er sich zum rechtmäßigen Präsidenten und bestritt die Legitimität der von der Zentraldirektion vorgenommenen Wahl. Mayer rechnete schonungslos mit den Personen ab, von denen er sich betrogen oder verraten fühlte. Baethgen warf er dessen eigene nationalsozialistische Verstrickungen vor, Walter Goetz bezeichnete er als „senile(n) Trottel“. Einige der Kollegen, die auf seiner Seite standen, hielten sich zurück. So wollte Mayers Schüler Heinrich Büttner seine Berufungsverhandlungen nicht gefährden. Anne Christine Nagel meint, dass Mayer nach 1945 „nicht eigentlich über sein Engagement für den Nationalsozialismus stolperte“, sondern „von seinen Kollegen vielmehr wegen erheblicher Defizite im persönlichen Umgang ins Abseits gestellt wurde“.Mayers finanzielle Situation in den ersten Nachkriegsjahren war schlecht. Einen Wiedereinstieg in den Hochschuldienst erschwerte nicht nur seine politische Belastung, sondern auch sein fortgeschrittenes Alter. Mit seiner Frau lebte er von den Erträgen des Marburger Hauses und den Zuwendungen der Töchter Hanna, die in Salzburg Lehrerin war, und Emma. Durch die Veröffentlichung kleinerer Beiträge in der Schweinfurter Zeitung erhielt Mayers Gattin ein kleines Honorar. Nun widmete er sich wieder der wissenschaftlichen Arbeit, insbesondere der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte. Als Ergebnis dieser Tätigkeit erschien 1950 beim Böhlau Verlag in Weimar das Werk Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters. Darin bezog er in 15 Abhandlungen Stellung zu Kirchenvogtei, Königsschutz, Immunität und Gerichtsbarkeit sowie zur Problematik von Reich und Territorium. In diesem Werk legte er auch eine Differenzierung zwischen Reichs- und Königsklöster vor, die von der verfassungsgeschichtlichen Forschung lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde.Mayer äußerte sich nur noch im privaten Gespräch und in Briefen kritisch über die Innen- und Außenpolitik Konrad Adenauers, über den „Fußballnationalismus“ und die Gefahr einer Vorherrschaft der schwarzen über die weiße Rasse. ==== Neue Tätigkeitsfelder: Konstanzer Arbeitskreis und Collegium Carolinum ==== Mayers früherer akademischer Schüler Otto Feger verfolgte seit Anfang 1946 den Plan, in Konstanz ein Institut für die Geschichte und Kulturgeschichte des Bodenseeraumes mit städtischer Unterstützung zu gründen. Für Feger war Mayer der einzig Richtige für die Leitung. Am 20. April 1948 beschloss der Stadtrat eine Satzung des „Städtischen Instituts für Landschaftskunde des Bodenseegebietes“. Mayer, der bis 1951 mit seiner Frau im Schloss Schönborn bei Pommersfelden gelebt hatte, übersiedelte nach Konstanz. Dort fühlte er sich wohl. Die Äußerungen über sein Leben in Konstanz sind weitgehend positiv. Mayer erhielt gemäß Artikel 131 Grundgesetz seine vollen Pensionsbezüge.Mit einem Festvortrag von Heinrich Büttner wurde am 30. Oktober 1951 das Städtische Institut für Landschaftskunde des Bodenseegebietes eröffnet. Ab Herbst 1952 folgten die ersten mehrtägigen Veranstaltungen. Im Frühjahr und Herbst wurde zunächst an verschiedenen Orten getagt. Ab 1957 fanden die Tagungen fast ausschließlich auf der Reichenau statt. Formell gegründet wurde der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 1960. Mayer konnte als Vorsitzender einen Jahresetat von 40.000 bis 50.000 DM verwalten. Die Summe deckte die Reise- und Unterbringungskosten der Teilnehmer ab.Im April 1956 wurde Mayer zum Vorsitzenden des Collegium Carolinum gewählt. Nach Christoph Cornelißen unterschieden sich die dortigen Projekte weder begrifflich noch methodisch von den Vorhaben der Jahre vor 1945. Die Forschungsarbeiten sollten dem „Anteil der Deutschen an der kulturellen, sozialen und rechtlichen Höherentwicklung der böhmischen Länder“ nachgehen. Vorgesehen war auch eine „Gesamtanalyse der Vertreibung“. ==== Letzte Lebensjahre ==== Im Alter von 85 Jahren zog sich Mayer aus Konstanz zurück und ging nach Salzburg, wo die beiden Töchter lebten. Den Vorsitz im Collegium Carolinum gab er erst zwei Jahre vor seinem Tod ab. Am 26. November 1972 starb er in Salzburg. Bis zu seinem Lebensende konnte Mayer die als demütigend empfundene Absetzung als MGH-Präsident nicht verkraften. Im April 1968, kurz vor seinem Wegzug aus Konstanz, schrieb er an Walter Schlesinger: „Es gibt Strömungen, den Arbeitskreis mit den MGH zu verbinden. Bitte, verhindern Sie das, solange ich lebe. Wenn ich sterbe, werde ich mich verbrennen lassen, dann brauche und kann ich mich nicht mehr im Grab umdrehen.“ Reto Heinzel attestiert Mayer einen ausgeprägten Hang zur Selbstgerechtigkeit. Praktisch nie habe er selbstkritische Töne geäußert, vielmehr sei er bis zu seinem Lebensende davon überzeugt gewesen, das „Dritte Reich“ moralisch unbeschadet überstanden zu haben.An seinem Lebensende war Mayer ein vielfach geehrter Gelehrter. Von 1927 bis 1945 war er Mitglied der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik. Im Jahr 1942 wurde er korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Ebenfalls 1942 wurde ihm von der Universität Erlangen die Ehrendoktorwürde verliehen. Zwei Jahre später wurde Mayer Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 1950 nahm man ihn in die Historische Kommission der Sudetenländer auf. Von 1954 bis 1968 war Mayer ordentliches Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, 1968 ernannte man ihn zum Ehrenmitglied. Zum 70. Geburtstag wurde ihm 1954 eine Festschrift gewidmet. Die Gemeinde Neukirchen an der Enknach verlieh ihm 1958 das Ehrenbürgerdiplom. Im Jahr 1963 wurde ihm das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Reichenau zuteil. Zum 80. Geburtstag erhielt Mayer das Große Bundesverdienstkreuz. == Persönlichkeit und Umgang mit Kollegen == Mayer verwies wegen seines beruflichen Erfolges und mit Blick auf den nur wenige Jahre nach ihm geborenen Adolf Hitler, der seine ersten Lebensjahre ebenfalls im Innviertel verbrachte hatte, auf eine spezifische Durchsetzungsfähigkeit der Menschen aus seiner Heimat. Er bezeichnete sich deshalb auch gerne als „Innviertler“. Der österreichische Heimatforscher Eduard Kriechbaum beschrieb in den fünfziger Jahren seinen langjährigen Freund als „typischen Innviertler“, der in gewissen Fällen einen Dickschädel habe und sich ungern etwas gefallen lasse. In der Fachwelt war Mayer wenig beliebt. Er galt im persönlichen Umgang als schroff, ausgeprägt streitsüchtig und selbstherrlich. Nach seinem Weggang aus Freiburg nach Marburg schrieb Willy Andreas im April 1939 an Friedrich Baethgen: „Wir am Oberrhein sind alle froh, dass wir ihn los sind.“ In Marburg hatte sich Wilhelm Mommsen in der Berufungskommission wegen der ausgeprägten Unverträglichkeit Mayers gegen ihn ausgesprochen. Der Kurator der Universität Marburg, Ernst von Hülsen, äußerte über Mayer: „Professor Mayer ist eine Persönlichkeit, die fortgesetzt den Frieden und die Arbeit der Universität durch Übergriffe und unberechtigte Einmischungen sowie durch die Art seiner Menschenbehandlung stört. […] Rektor Mayer leidet an einem übertriebenen Geltungsbedürfnis und Machtstreben und an einem hemmungslosen Machtgefühl.“Joseph Lemberg hat die These von Anne Christine Nagel, dass Mayer wegen seiner Defizite im persönlichen Umgang nach 1945 ins Abseits gestellt wurde, aufgenommen und weiterentwickelt. Nach Lemberg war es der Habitus des sozialen Aufsteigers, der Mayer den Zugang zu den Netzwerken der Wissenschaftsgemeinde erschwerte. Seine deutschen Historikerkollegen stammten überwiegend aus dem protestantisch-bildungsbürgerlichen Bereich; ihnen blieb Mayer mit seinem kantigen Auftreten fremd. Mayer habe dies durch Bündnisse in der Politik auszugleichen versucht. Während Friedrich Baethgen oder Albert Brackmann ihre Nichtmitgliedschaft in der NSDAP als Systemopposition ausgeben konnten, stand dieses Erzählmuster dem ehemaligen Parteimitglied Mayer nicht zur Verfügung. == Werk == Mayer prägte die Konzepte des frühmittelalterlichen Personenverbands, des institutionellen Flächenstaates und der Rodungs- bzw. Königsfreiheit. Seine ab den späten zwanziger Jahren betriebenen Forschungen zu den Siedlungsverhältnissen in Böhmen waren als Teil einer „Volkstumswissenschaft“ im südwestdeutschen „Grenzland“ gedacht. Mayer war davon überzeugt, dass sich die Deutschen stets als Kulturträger durch die Geschichte bewegt hatten. Mit seiner Freiburger Antrittsvorlesung über den Staat der Zähringer und einigen weiteren Arbeiten verlagerte sich sein Arbeitsschwerpunkt zur Verfassungs- und Reichsgeschichte, einem traditionellen Forschungsgebiet der Mediävistik. Eine große, zusammenfassende Darstellung hat Mayer dazu nicht veröffentlicht. Die mit einem Verlag bereits vereinbarte Verfassungsgeschichte des Mittelalters kam nicht zustande. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges trat er vor allem mit Untersuchungen zur mittelalterlichen Reichs- und Verfassungsgeschichte hervor. In seinen Veröffentlichungen finden sich nach Michael Matheus keine rassenbiologischen Argumentationen. Als Präsident der MGH erwarb er sich bleibende Verdienste durch die rechtzeitige Evakuierung der MGH-Bibliothek nach Pommersfelden bei Bamberg. Während seiner Präsidentschaft ging es ihm vor allem um die Verbreitung einer landesgeschichtlich-volkstumswissenschaftlich angelegten gesamteuropäischen Perspektive. In der Nachkriegszeit hat er sich als Wissenschaftsorganisator vor allem als Begründer des Konstanzer Arbeitskreises einen Namen gemacht. === Tätigkeit als Wissenschaftsorganisator === ==== Südwestdeutsche Wissenschaftsorganisation ==== Der Großteil der Finanzmittel für das Oberrheinische Institut floss in die Umsetzung landesgeschichtlicher Projekte. Mit den Geldern sollte die langfristige Arbeit an einem Alemannischen Atlas und die Erforschung der Zähringer im Burgund finanziert werden. Mayer wollte das anvisierte Ziel einer „neuen Grundlegung der alemannischen Geschichte“ durch „umfassende Forschungen auf allen Gebieten“ erreichen. Von den Kollegen wurden Mayers Tätigkeiten für das Institut unterschiedlich eingeschätzt. Nach Franz Quarthal hatte Mayer vor, „dem Institut den Charakter eines mittelalterlich ausgerichteten landesgeschichtlichen Universitätsinstituts zu geben“. Nach Michael Fahlbusch hatte er erheblichen Anteil an der „Gleichschaltung“ des Instituts.Im Jahr 1935 wurde Mayer Leiter der Südwestdeutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Aufgaben waren die Organisation und Leitung von wissenschaftlichen Tagungen. Unter volkstumswissenschaftlichem Gesichtspunkt wurden die gesamten westlichen Grenzgebiete behandelt. Die Tagungsprotokolle wurden nicht in Buchform veröffentlicht, sondern mit dem Vermerk „streng vertraulich“ als Arbeitspapier an die einzelnen Tagungsteilnehmer ausgegeben. Das Ziel war es nicht, die Ergebnisse aus den Zusammenkünften einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen oder der internationalen Forschung zwecks Überprüfung zur Verfügung zu stellen.Als Vorsitzender der Badischen Historischen Kommission konnte Mayer auf die Publikationen erheblichen Einfluss nehmen. Für die Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins befürwortete er die Veröffentlichung von „Arbeiten volkstumsähnlichen Inhalts“. Möglichst viele Aufsätze sollten sich mit der Schweiz und dem Elsass befassen. Das wissenschaftliche Leben im Elsass schätzte Mayer als „zu schwach“ ein. Der deutsche Einfluss auf die Wissenschaft in der französischen Nachbarregion sollte aufrechterhalten werden. Aus politischen oder antisemitischen Motiven lehnte Mayer wiederholt Beiträge ab. Als er erfuhr, dass es sich bei dem Verfasser eines Aufsatzes über die Thanner Steinmetzordnung um den ehemaligen sozialdemokratischen Arbeitsminister Rudolf Wissell handelte, schien ihm nun „auch die dilettantische Art der Stoffbehandlung und die ungemein große Breite klar und verständlich“. Der Beitrag konnte nach Mayers Weggang 1942 doch noch erscheinen. Die Veröffentlichung einer Abhandlung von Käthe Spiegel über das „Friedensprojekt eines Fürstenbergers“ versuchte Mayer zu verhindern. An den Schriftleiter Manfred Krebs schrieb er, dass der Aufsatz nicht gedruckt werden könne, „denn Frl. Spiegel ist nicht arisch, sondern 100% Jüdin. Ich kenne sie von Prag her“. ==== Marburger Rektorat ==== Als Rektor wollte Mayer vor allem die Bedeutung der Universität als eines integralen Bestandteils von Volk und Staat nicht nur für den Kriegsausgang, sondern auch für die Friedenszeit herausstellen. Im Herbst 1939 war auch die Universität Marburg von der kriegsbedingten Schließung einiger Universitäten betroffen. Mayers erste Bemühungen konzentrierten sich auf die Wiedereröffnung. So bat er in einem Schreiben vom 29. November 1939 Gauleiter Karl Weinrich, sich zusammen mit Hermann Göring für die baldige Wiedereröffnung einzusetzen. Mit Weinrich pflegte Mayer in der Folgezeit eine enge und einvernehmliche Zusammenarbeit. Politisch bedingt war sein Entschluss, dem Gauleiter Karl Weinrich und dem Landeshauptmann Wilhelm Traupel die Ehrensenatorwürde zu verleihen. Damit sollte „einerseits die Verwachsenheit der Universität mit dem geistigen Leben unseres Volkes und die unbedingte Einstellung auf die Ziele und Aufgaben der NSDAP ebenso zum Ausdruck gebracht werden wie andererseits die Verwurzelung im kulturellen Leben des hessischen Landes“. Die Verleihung wurde im Sommer 1940 beschlossen, zu einem Zeitpunkt, als durch die militärischen Erfolge das Regime auch in Akademikerkreisen zunehmend Akzeptanz erfuhr. Weinrich lehnte die Ehrung zwar mit Berufung auf eine Verfügung der Parteikanzlei ab, doch konnte sich Mayer während seiner gesamten Rektoratszeit seiner Gunst erfreuen.Am 30. Januar 1940 hielt Mayer aus Anlass der Feier der Reichsgründung und der Machtübernahme in der Aula der Universität Marburg eine Rede über Deutschland und Europa. Dabei versuchte er die Lebensraumpolitik der Nationalsozialisten im Osten in die Tradition der mittelalterlichen Kaiserpolitik zu stellen. In dieser Zeit arbeitete er auch an einer „wehrwissenschaftlichen Vortragsreihe“, deren Absichten „die Verankerung der deutschen Kriegsziele, Belehrung und Erziehung [sowie] geistige Anregung“ waren. Die Zielgruppe war der „einfache Soldat“. Vor allem sollte „die Widerstandskraft der Truppe“ gefördert werden. ==== Koordination des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ ==== Mayer leitete zwischen 1940 und 1945 die Abteilung Mittelalter im von der DFG geförderten „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“. Nach einem Artikel, den Mayer 1942 im Völkischen Beobachter schrieb, hatten sich die Historiker „mit den Fragen des jetzigen Kriegs […] zu befassen, mit dem Kampf für eine neue politische Ordnung, mit ihrem geschichtlichen Unterbau, mit den Kräften, die sie getragen und mit denen, die gegen sie in Vergangenheit und Gegenwart ankämpft, ja sie zerstört haben“. Im Rahmen dieser Funktion organisierte er bis Kriegsende mehrere Tagungen an historisch bedeutsamen Orten im Deutschen Reich. Insgesamt fanden acht Tagungen statt: im Juni 1940 in Berlin, im Februar 1941 in Nürnberg, im November 1941 und im Mai 1942 in Weimar, im November 1942 in Magdeburg, im April 1944 in Erlangen, im Oktober 1944 in Pretzsch bei Wittenberg und im Januar 1945 in Braunau am Inn. Nur 1943 fiel die Tagung wegen eines reichsweiten Tagungsverbots aus. Frank-Rutger Hausmann folgert, „daß diese Wissenschaft kontextualisiert war und explizit ideologischen Zwecken diente“. Die Ergebnisse der Tagungen wurden teilweise veröffentlicht.Die erste von Mayer organisierte Tagung im Juni 1940 sollte eine „Besprechung über den Einsatz der deutschen Geschichtswissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung mit den Westmächten“ sein. Angesichts der aktuellen Kriegslage sollten sich die Historiker mit „dem Verhältnis Englands zum europäischen Kontinent“ befassen. Mayer war von den militärischen Erfolgen der Wehrmacht im Mai und Juni 1940 begeistert. Bereits während der ersten Tagung dachte er deshalb über eine Ausweitung des „Gesamtprogramms“ nach. Die Auseinandersetzung mit England wurde angesichts der veränderten Kriegssituation schon bald durch Untersuchungen zur Rolle des Reichs in Europa ersetzt. Die Tagung des „Kriegseinsatzes“ in Nürnberg im Februar 1941 behandelte das Thema „Reich und Europa“. Im gleichen Jahr erschien der von Mayer und Walter Platzhoff herausgegebene Tagungsband unter dem Titel „Das Reich und Europa“. Mayer und Platzhoff betonten im Vorwort, dass sie einen Beitrag leisten wollten „zu der großen Auseinandersetzung […], die nicht nur eine militärische und politische, sondern ebensosehr eine geistige ist“. Die versammelten Historiker waren „sich ihrer Pflicht bewußt, für das zentrale Problem des jetzigen Krieges und der bevorstehenden Neuordnung Europas das geschichtliche Rüstzeug beizubringen und vom Standpunkt der Gegenwart aus die Entwicklung der Vergangenheit zu betrachten und zu deuten.“ Die Vorstellung einer dem Reich zugedachten Rolle der „europäischen Ordnungsmacht“ war in diesen Jahren unter Historikern weit verbreitet und wurde geradezu zu einem der „Leitbegriffe der Geschichtsdeutung“. Mayer hielt 1942 Vorträge am Deutschen Wissenschaftlichen Institut in Bukarest. Kernpunkt war dabei „die geschichtliche Notwendigkeit der Einordnung Rumäniens in eine von Deutschland geführte europäische Ordnung“.Im Herbst 1941 wurden in Weimar „Fragen des deutschen Königtums, des hohen Adels und des Bauerntums und ihre Bedeutung für die Ausbildung des Staates von verschiedenen Seiten her“ besprochen. Daraus ging der von Mayer herausgegebene Band Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters hervor. Für den Januar 1945 lud Mayer zu einer „wissenschaftlichen Arbeitsbesprechung über Grundfragen einer gesamtbairischen Geschichtsauffassung nach Braunau a. I.“ ein. In seinem Einladungsschreiben vermied er den Begriff „Tagung“, denn seit einem „Schnellbrief“ über die „Abhaltung von Kongressen und Tagungen aller Art“ des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust vom 14. April 1942 waren nur noch „örtliche Veranstaltungen und solche Tagungen“ erlaubt, „die als so kriegswichtig angesehen werden, daß sie auch trotz der angespannten Transportlage stattfinden müssen“. Die Veranstaltung in Braunau am Inn, dem Geburtsort Adolf Hitlers, war vermutlich die letzte Tagung im Rahmen des ‚Gemeinschaftswerks‘. Mayers Einsatz wurde vom NS-Regime wohlwollend registriert. Für seine Tätigkeit im Rahmen des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ wurde er mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet. ==== Wirken als Präsident des Reichsinstituts und Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom ==== Mayer übernahm nicht nur die Leitung des Reichsinstituts, sondern auch die Herausgeberschaft des Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters, der wichtigsten historischen Fachzeitschrift für die Erforschung des Mittelalters. Die MGH wollte er als Präsident über die quellenkundlichen Aufgaben hinaus stärker in die Geschichtsforschung einbinden und zu einem weitausgreifenden Institut für die Geschichte des Mittelalters umwandeln. Davon konnte er in den zweieinhalb Jahren bis Kriegsende kaum etwas umsetzen. Als neue Editionsvorhaben wurden eine vorläufige Ausgabe der Urkunden der staufischen Herrscher Friedrich I. und Heinrich VI. sowie eine Neubearbeitung von Band IX der Reihe Scriptores vorgesehen.Mayer war als Präsident des Reichsinstituts in Personalunion auch Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. In dieser Funktion hatte er die Verantwortung für das in Rom verbliebene wissenschaftliche Personal und musste sich um die Zukunft der wertvollen Bibliothek kümmern. Er initiierte 1942 ein Arbeitsprojekt mit dem Ziel der „Erforschung der Reichsherrschaft in Italien, besonders des Reichsgutes“. Mayer sah in einer Denkschrift vom 1. April 1944 (piano Mayer) den Abtransport aller Bestände der mittelitalienischen Archive als undurchführbar an. Ablehnend äußerte er sich auch über die Verbringung einzelner Archivalien nach Deutschland. Stattdessen forderte er, wichtige Archivalien zu fotografieren. Nach Jürgen Klöckler verhinderte Mayer dadurch einen weitreichenden Archivalienraub, also den großflächigen Transport von Urkunden, Dokumenten und Akten mit deutschen Betreffen ins Reich. Dank dieser Entscheidung konnte er junge Historiker in Rom in einer erweiterten Abteilung Kunstschutz der Militärverwaltung institutionell verankern, womit er ihnen die Einberufung in die Wehrmacht ersparte.Die umfangreichen Berliner Bibliotheksbestände lagerte Mayer aus Angst vor Luftangriffen von Berlin nach Bayern aus. Diese Maßnahme ließ er ohne vorherige Genehmigung des Ministeriums im Januar 1944 durchführen. In Berlin verblieben die beiden Mitarbeiterinnen Margarete Kühn und Ursula Brumm sowie ein Teil des Mobiliars. Nach Margarete Kühn vertrat Mayer bis zuletzt entschieden seine nationalsozialistische Haltung und versuchte entsprechend auf die Mitarbeiter Einfluss zu nehmen. ==== Mayers Pläne für ein Deutsches Historisches Institut in Paris ==== Die militärischen Erfolge der Wehrmacht in Frankreich veranlassten Mayer, in einer Denkschrift vom 10. Februar 1941 die Gründung eines deutschen historischen Instituts in Paris vorzuschlagen. Darin heißt es, die deutsche Geschichtswissenschaft habe die Aufgabe, eine „der politischen Stellung entsprechende Führerfunktion im europäischen Raum“ einzunehmen und „das europäische Geschichtsbild zu formen oder wenigstens entscheidend mitzugestalten“. Mayer verstand unter einem „europäischen“ Geschichtsbild eine „germanische Geschichte Europas“, eine Betrachtung der Geschichte Europas „im germanischen Sinn“. Dieses Vorhaben sei „nur durch strengste wissenschaftliche Arbeit auf weitester Grundlage und mit den besten Kräften und Methoden aber auch der klarsten Zielsetzung möglich“.Rund zwei Jahre verfolgte er dieses Anliegen. Im März 1942 schlug Mayer Büttner als wissenschaftlichen Geschäftsführer für ein neu zu gründendes deutsches historisches Institut in Paris vor. Im April 1942 stellte er im Völkischen Beobachter Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft der Geschichtswissenschaft an. Zu den „Gegenwartsaufgaben“ der deutschen Geschichtswissenschaft gehöre es, sich mit den „Fragen des jetzigen Krieges zu befassen, mit dem Kampf um eine europäische Ordnung, mit ihrem geschichtlichen Unterbau“. Außerdem müsse die Geschichtswissenschaft auch „an der Zukunft des Volkes mitbauen“ und die „führende Stellung des deutschen Volkes“ darstellen, und zwar in einer „Geschichte der germanisch-deutschen Welt seit den ältesten Zeiten“. „Die Gemeinschaft der europäischen Völker und Staaten“ müsse im Sinne einer „gesamtgermanischen Geschichtsauffassung“ planen. Als institutionelle Grundlage müssten „Forschungsstätten außerhalb des Deutschen Reiches“ geschaffen werden. Erneut schlug Mayer ein historisches Institut in Paris vor. Der Kriegsverlauf führte dazu, dass er seinen Institutsplan wiederholt überarbeiten musste. Am Ende konnte selbst ein Arbeitsplatz für einen Historiker nicht verwirklicht werden. Die Gründe dafür waren Knappheit der finanziellen Mittel im weiteren Kriegsverlauf und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den beteiligten Ministerien. Im November 1957 nahm Mayer angesichts der bevorstehenden Eröffnung des Centre Allemand de Recherche Historique gegenüber Eugen Ewig, einem der wichtigsten Akteure bei der Gründung der Einrichtung, in Anspruch, der geistige Urheber dieser Institution zu sein. Mayers Konzeptionen besaßen in der Zeit der deutsch-französischen Annäherung jedoch keinen Vorbildcharakter und blieben daher auch in den Gesprächen und Korrespondenzen unerwähnt. ==== Der Konstanzer Arbeitskreis und die Erarbeitung eines „krisenfesten Geschichtsbildes“ ==== Mehrfach äußerte sich Mayer in den fünfziger Jahren zur Frage eines neuen Geschichtsbildes. Stefan Weinfurter stellt fest, dass sich die Forderung nach einem „neue(n) Bild von der Geschichte […] wie ein roter Faden durch die schriftlichen und mündlichen Äußerungen Theodor Mayers zieht“. In einer Denkschrift von 1952 zur Begründung des Konstanzer Instituts forderte Mayer, die Geschichte „aus dem Zwist des politischen Gegenwartslebens herauszuheben“ und den „Grund für eine ›krisenfeste‹ Geschichte zu legen“. Er habe „mit Schaudern“ wahrgenommen, „wie bei jedem politischen Wandel die deutsche Geschichte umgeschrieben worden“ sei. Als wichtigste Aufgabe für das unter seiner Leitung gegründete „Städtische Institut für Landschaftsgeschichte des Bodenseegebietes“ in Konstanz nannte Mayer 1955 „ein neues Bild von der Vergangenheit des deutschen Volkes und Reiches zu erarbeiten, das krisenfest ist und nicht bei jedem politischen Stimmungswechsel umgeschrieben werden muß“. Dieses Ziel sollte durch die „Förderung der wissenschaftlichen Landesforschung in Deutschland, besonders im Bodenseegebiet“ erreicht werden. Nach seinen 1953 angestellten Ausführungen sollte dafür die geschichtliche Landesforschung die Basis bilden, denn sie sei „besonders befähigt, Brücken zu schlagen, weil sie nicht von staatlich ausgerichteten Konzeptionen ausgeht“. Diese Vorgehensweise ermögliche es, „Kräfte nachzuweisen, von denen wir uns auf Grund der normalen schriftlichen Quellen keine rechte Vorstellung machen können“. Mayer wollte 1961 „ein Geschichtsbild […], das nicht gefährdet ist, das nicht beim nächsten Wandel, der sich vielleicht politisch oder sonst wie einstellt, umgekrempelt, immer wieder ins Gegenteil verkehrt werden muss […]“. Seine allgemein gehaltenen Überlegungen konkretisierte er jedoch nicht anhand eines Forschungsprogramms. Bernd Weisbrod sieht in diesem Vorhaben ein Beispiel für die „rhetorischen Strategien der Selbstentnazifizierung im Denkstil des Mandarinentums“. Peter Moraw hält es für eine „Form der Selbsttäuschung“. Für Reto Heinzel war Mayer ein Unbelehrbarer, der „auf der Suche nach einem neuen Mittelalter auf der Grundlage des Volkstums“ blieb.Inhaltlich wurden auf den Tagungen der fünfziger Jahre verfassungsgeschichtliche Fragen behandelt. Eingeladen wurden Historiker, die sich der persönlichen Wertschätzung des Veranstalters Mayer erfreuten. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten neben Mayer die Mediävisten Karl Bosl, Walter Schlesinger, Helmut Beumann, Heinrich Büttner, Eugen Ewig, Otto Feger und Franz Steinbach sowie der Münchener Byzantinist Hans-Georg Beck. Es referierten Freunde und befreundete Kollegen wie Hektor Ammann, Heinrich Dannenbauer, Eugen Ewig, Wilhelm Ebel, Ernst Klebel, Walther Mitzka, Walter Schlesinger, Helmut Beumann, Heinrich Büttner, Karl Siegfried Bader, Otto Brunner und Joachim Werner. Nach Nagel handelte es sich bei dem Arbeitskreis um ein „Auffangbecken politisch belasteter Personen“. Typisch für den Konstanzer Arbeitskreis war die interdisziplinäre Bearbeitung des Tagungsthemas durch Historiker, Archäologen und Philologen. Nicht nur die Gemeinschaftsarbeit hatte für Mayer zentrale Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch die persönlichen Beziehungen waren dafür wichtig. Wiederholt betonte Mayer, der Konstanzer Kreis sei nicht nur ein Arbeits-, sondern auch ein „Freundeskreis“. Bosl, Büttner, Ewig, Schlesinger und Steinbach waren allesamt Lehrstuhlinhaber an namhaften Universitäten und stellten zugleich die Verbindung zum wissenschaftlichen Nachwuchs her. Etliche der jungen Referenten erhielten später selbst eine Professur, so dass sich der Arbeitskreis bald in der Mediävistik einen entsprechenden Ruf erarbeitete.Von den Tagungen des „Kriegseinsatzes“ bis zu den Reichenau-Tagungen bestand eine personelle Kontinuität. So nahmen die Mediävisten Walter Schlesinger und Karl Bosl auch im Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte eine führende Rolle ein. Traute Endemann hat darauf hingewiesen, dass das personelle Umfeld und die konzeptionellen Ursprünge des frühen Konstanzer Arbeitskreises bis in die frühen dreißiger Jahre zurückgehen. Frank-Rutger Hausmann betont, dass die wissenschaftliche Verbundforschung nach dem Krieg mit dem Konstanzer Arbeitskreis fortgesetzt wurde. === Forschungsarbeiten === ==== Wirtschaftsgeschichtliche Anfänge und Wendung zur völkischen Wissenschaft ==== Mayers frühe Arbeiten aus den zwanziger Jahren behandelten verwaltungs- und wirtschaftshistorische Probleme. Seine Dissertation war wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtet. Im Mittelpunkt der Arbeit stand der Handel auf der Donau, „auf der sich ja der Hauptwarenverkehr Österreichs abwickelte“. Weitere wichtige Untersuchungen veröffentlichte er über die Passauer Mautbücher (1908) und über das Wiener Stapelrecht. Eine der wichtigsten Arbeiten aus seiner Prager Zeit ist die 1928 veröffentlichte Deutsche Wirtschaftsgeschichte, die national und international hohe Anerkennung fand. Marc Bloch hat sie als „modèle de clarté et de bon sens“ („Muster an Klarheit und Einsicht“) bezeichnet. Ihre Bedeutung liegt darin, dass nicht nur klassische wirtschaftsgeschichtliche Probleme, sondern auch sozial- und kulturgeschichtliche Fragen berücksichtigt werden, darunter Städtewesen und Kolonisation im Mittelalter, die Bedeutung der Religion für die Entstehung des Frühkapitalismus oder die Entstehung der „sozialen Frage“. Mayer war der erste deutschsprachige Historiker, der sich ausführlich mit dem Begriff des Kapitalismus befasste. Zugleich löste er diesen Begriff aus der bis dahin ausschließlichen Verwendung durch Nationalökonomie und Soziologie und machte ihn für die Geschichtswissenschaft diskussionsfähig.Mayer wurde wohl durch die böhmische Herkunft seiner Ehefrau mit den Problemen des Sudetendeutschtums konfrontiert. Viele Deutsche sahen sich nach dem Zerfall der Donaumonarchie und der Begründung der Tschechoslowakei in einer Minderheit und wähnten sich in einem existentiellen „Volkstumskampf“, wobei es um den Fortbestand der deutschen Siedlung der Sudeten ging. Mayer nahm zwischen 1926 und 1929 an sechs Tagungen der Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung teil. Die im Oktober 1926 abgehaltene Tagung in Neiße widmete sich dem Thema Schlesien. Mayer referierte über die Geschichte der Industrie der Sudeten. Diese Tagung war interdisziplinär angelegt. Viele der Beiträge gingen von einer „volkstumsmäßigen“ Einheit der sudetenschlesischen Gebiete aus. Eine zentrale Rolle spielte die Betonung germanischer Anteile bei der Besiedlung, Kultur und Sprache. Auch nach dem Ende der Leipziger Stiftung setzte sich Mayer für finanzielle Zuwendungen an kulturpolitisch tätige sudetendeutsche Einrichtungen ein.Ein 1928 veröffentlichter Aufsatz Mayers ist vom sudetendeutschen „Volkstumskampf“ geprägt. Dort versuchte er die „großen Leistungen“ der deutschen Einwanderer seit dem Mittelalter herauszuarbeiten. Die tschechische Entwicklung vernachlässigte er. Wiederholt befasste er sich mit der Geschichte der Sudetenländer, jedoch lernte er während seiner siebenjährigen Zeit in Prag kein Tschechisch und setzte sich auch nicht mit der tschechischen Fachliteratur auseinander. Die wenigen tschechischen Autoren, deren Arbeiten er zur Kenntnis nahm, zitierte er in Übersetzungen, die der damalige Assistent am Historischen Seminar Josef Pfitzner für ihn erstellte. Seine Arbeiten basierten vor allem auf den Ergebnissen deutscher Forscher, die überwiegend mit der Leipziger Stiftung zusammenarbeiteten. Für Mayer stand unzweifelhaft fest, dass die deutschen Leistungen weit über den tschechischen standen. Die Deutschen schilderte er als tüchtiges und kreatives Volk, die Tschechen als passiv und wenig innovativ. Eine deutsche Überlegenheit vertrat Mayer nicht nur in der Rechtsentwicklung, sondern auch auf dem Gebiet neuer technischer Errungenschaften, wobei er etwa den „deutschen Pflug“ anführte. Als „kulturelle Großtat“ der Deutschen sah er das Städtewesen an, hingegen billigte er den slawischen Siedlungen eine sehr beschränkte Entwicklungsmöglichkeit zu. Die gesamte kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Böhmens sei den Deutschen zu verdanken. In Freiburg betonte Mayer für das Elsass und für das gesamte Oberrheingebiet die „deutschen Leistungen“ vor allem gegenüber Frankreich. Er ging von der Überlegung aus, dass im Oberrheingebiet überall ein „einheitliches Volkstum“ lebe. Damit führte er Ansätze von Friedrich Metz fort. Metz hatte 1920 das gesamte Oberrheintal als „kulturelle und wirtschaftliche Einheit“ beschrieben. In der ersten Ausgabe des Zentralorgans der deutschen Volksforscher, des Deutschen Archivs für Landes- und Volksforschung, befand Mayer, als „deutsches Binnenland“ sei das Elsass „eine der kulturell blühendsten Landschaften Deutschlands gewesen“. Die „Angliederung“ an Frankreich habe einen „Stillstand in der eigenen kulturellen Entfaltung“ bewirkt. ==== Neuere deutsche Verfassungsgeschichte ==== Theodor Mayer gehörte neben Otto Brunner, Adolf Waas und Walter Schlesinger zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten „Neueren deutschen Verfassungsgeschichte“. Damit werden die in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Ansätze bezeichnet, die sich nach Auffassung der Beteiligten von der älteren Verfassungsgeschichte absetzten. Sie kritisierten die herrschende Lehre, die zu sehr in liberal-konstitutionellen Vorstellungswelten verhaftet sei und mittelalterliche Staatlichkeit als Trennung von Staat und Gesellschaft auffasse. An die Stelle der bisherigen Konzepte traten „Reich und Volk“, „Führer und Gefolgschaft“, die „Adelsherrschaft“ und die germanische Prägung des Mittelalters. Mayer legte jedoch nie ein Gesamtbild vor, sondern veröffentlichte nur Aufsätze und Einzelstudien.Mayer formulierte seine These vom Wandel des frühmittelalterlichen „Personenverbandsstaats“ zum frühneuzeitlichen „institutionellen Flächenstaat“ erstmals in seiner Gießener Ansprache vom Januar 1933 in der Aula der Hessischen Landesuniversität und arbeitete sie in seiner Freiburger Antrittsvorlesung weiter aus. Ihm ging es nicht nur um das Beispiel der Zähringer, sondern allgemein um die „Entstehung des mittelalterlichen Staates“. Zunächst rückte Mayer Aspekte des Raumes in dem Vordergrund, „in dem die Zähringer ihre geschichtliche Tätigkeit entfalteten“. Schon früh errichteten die Zähringer durch die Rodungstätigkeit der von ihnen bevogteten Klöster St. Georgen, St. Peter und St. Blasien sowie durch Städte wie Freiburg und Villingen, die sie an den wichtigen Straßen gründeten, ein Territorium. Den „neuen Staat“ der Zähringer würdigte Mayer als bedeutende Leistung. Allerdings habe dieser „die Grundlage des Personenverbandstaats, die Personengemeinschaft, die völkische Grundlage des Staates“ vernachlässigt. Er sei deshalb in „Routine zum fürstlichen Selbstzweck“ erstarrt. Mayer ging demnach nicht von einer fortschrittlichen Entwicklung aus, sondern entwarf einen Gegensatz zwischen dem „Personenverbandstaat“, dem „nur oder fast nur auf der Gemeinschaft der Personen ruhende(n) Staat, der ohne großen Führer nicht bestehen kann“ und dem „institutionellen Flächenstaat“, für den immer die Gefahr bestehe, „daß er in bürokratischer Verwaltungsroutine zum Obrigkeitsstaat, der Selbstzweck ist, erstarrt.“Mayers damalige Überlegungen waren von den politischen Hoffnungen der Zeit geprägt. Das Dritte Reich lobte er in der Schlusspassage als Synthese des alten germanischen Gefolgschaftsstaates, der Volksgemeinschaft und des institutionellen Flächenstaates: „Staat und Volk sind eins geworden.“ Persönliche Treue, Gefolgschaft sowie der Volkstumsgedanke seien „tragende Elemente des Staates und der deutschen Volksgemeinschaft geworden und haben Staat und Volk jene sittliche Grundlage und Verantwortung gegeben, ohne die sie nicht auf Dauer bestehen können“. Nach Mayers Ausführungen charakterisiert sich der germanische Staat „durch eine Gemeinschaft von Personen, die durch persönliche Bande, besonders die Treue zusammengehalten werden“. „Dem Personenverbandsstaat entspricht eine Gliederung und Aufteilung der staatlichen Rechte und Funktionen im Sinne der Gefolgschaft und des Lehenswesens.“ Treue, Gefolgschaft und Lehnswesen brachte Mayer in einen wirkmächtigen Zusammenhang, er wies sie als Elemente des germanischen Staates aus. Das NS-Blatt Volksgemeinschaft lobte in einer Besprechung Mayers Ausführungen: „In Bezugnahme auf unsere Zeit ist es sehr lehrreich, dass hier ein moderner Staat wesentlich durch Neulandgewinnung, Urbarmachungen und Besiedelung seinen Machtbereich ausdehnt.“ ==== Rodungs- und Königsfreiheit ==== Der Begriff der „Rodungsfreiheit“ stammt ursprünglich von Karl Weller, der die These einer königlich-staufischen Rodungsfreiheit vertrat. Dieser These zufolge waren die freien Bauern des Hochmittelalters in Südwestdeutschland nicht Gemeinfreie, sondern von den staufischen Herrschern angesiedelte Neusiedler. Mayer etablierte den Begriff der „Rodungsfreiheit“ in der Forschung und bettete seine Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang ein. Landnahme und Reichsgründung der Franken erscheinen hier in einem neuen Licht. Die Eroberung Galliens durch die Merowingerkönige sei nicht durch freie Kriegerbauern erfolgt, sondern durch unfreie Heermannen, die erst durch Kriegsdienst und Ansiedlung auf Königsland die Freiheit erwarben. Demnach war die Freiheit nicht ererbt, sondern vom Königtum für Heeresdienst, Rodung und Siedlung verliehen. Mit Heinrich Dannenbauer entwickelte Mayer die Lehre von den Königsfreien. Er stellte 1955 fest: „[…] wir kamen zu dem Ergebnis, daß die sogenannten Gemeinfreien der Karolingerzeit Königsleute gewesen sind, die zu Kriegsdienst und Steuerleistungen verpflichtet waren und die vom König mit Grundbesitz ausgestattet, somit vielfach Neusiedler wurden“. Freiheit im Mittelalter wurde demnach vom König abgeleitet oder durch Rodung erworben. Der Lehre von der Königsfreiheit wurde große Bedeutung für den Staatsaufbau der fränkischen Zeit beigemessen. Damit seien „die Fundamente für ein neues Gesamtbild vom frühmittelalterlichen Staat“ gelegt worden. ==== Forschungskontroverse mit dem Schweizer Historiker Karl Meyer ==== Zwischen Theodor Mayer und dem Schweizer Historiker Karl Meyer kam es zu einem Forschungsstreit über die Gründung der Schweizer Eidgenossenschaft. Als Schweizer Patriot war Karl Meyer ein Verfechter der „Geistigen Landesverteidigung“. Er befasste sich wiederholt mit der Entstehung der Eidgenossenschaft. Die Gründung der Schweiz hielt er für „einen einzigartigen Ausnahmefall in der Geschichte des Mittelalters und des abendländischen Bauerntums“. Er veröffentlichte 1941 anlässlich des 650. Gedenktages der Gründung der Eidgenossenschaft eine umfassende Darstellung zu diesem Thema.Theodor Mayer übte deutliche Kritik an Meyers Thesen. Er meinte, die Schweiz besitze weder geographische noch volkstumsmäßige Voraussetzungen für eine einheitliche Staatsbildung. Außerdem stelle sie weder in sprachlicher noch in konfessioneller Hinsicht eine Einheit dar. Theodor Mayer kritisierte, die Sichtweise des Schweizer Historikers sei „teleologisch“, also immer auf das spätere Territorium ausgerichtet. Dieser Sicht stellte er seinen Ansatz einer „modernen“ Landesgeschichte entgegen, die als Thema nicht eine bayerische oder badische Geschichte wähle, sondern „die deutsche Geschichte in einem bestimmten Gebiet, die Territorialstaatsbildung innerhalb eines größerem Raumes, also etwa die Territorialstaatsbildung in Südostdeutschland, Südwest- oder Nordwestdeutschland, am Obermain oder Oberrhein“. Indem Theodor Mayer von „Räumen“ ausging, wies er der deutschen Geschichte einen insgesamt größeren „Raum“ zu. Für ihn war die Schweizer Geschichte deutsche Geschichte und die Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft ein deutsches Problem, denn „die Schweiz gehört nun einmal im 13. Jahrhundert zum deutschen Reiche“. Nach Peter Stadler sah Karl Meyer in Mayers Kritik im Deutschen Archiv den „wissenschaftlichen Auftakt zu einer geplanten Einverleibung der Schweiz“. Dagegen wollte er sich zur Wehr setzen; er nahm 1943 unter dem Titel Vom eidgenössischen Freiheitswillen eine „Klarstellung“ vor. In dieser Kontroverse erhielt jedoch Theodor Mayer vielfach Zustimmung, so von Hermann Rennefahrt, Albert Brackmann, Hans Fehr und Hektor Ammann. Kritisch äußerte sich hingegen Meyers Schüler Marcel Beck. Er hielt Theodor Mayer entgegen, sein Vorgehen sei „genau so teleologisch wie das der Schweizer Forschung: nämlich im Hinblick auf die Geschichte des erst sehr spät konsolidierten Deutschen Reiches, das als romantische Idee jahrhundertelang die Gemüter bewegte“. == Rezeption in der Nachwelt == === Wissenschaftliche Nachwirkung === Die sogenannte neuere deutsche Verfassungsgeschichte wurde von Karl Bosl, Walter Schlesinger und Helmut Beumann weiter entwickelt. Bis mindestens in die 1970er Jahre blieb sie die führende Richtung der Mittelalterforschung. František Graus hat 1986 die Zeitgebundenheit der sogenannten „neuen Verfassungsgeschichte“ herausgearbeitet. Deren Ergebnisse sind in den letzten Jahrzehnten revidiert worden, als die „Mechanismen“ der Herrschaftspraxis und des politischen Umgangs wie Herrschaftsrepräsentation, Rituale oder Konfliktregelung verstärkt ins Blickfeld kamen. Nach Gerd Althoff waren es drei Befunde, die maßgeblich zu einer neuen Sichtweise auf das hochmittelalterliche Königtum beitrugen. Sie betreffen soziale Bindungen, die sogenannten „Spielregeln“ der Konfliktführung und der Konfliktbeilegung sowie den Stellenwert von Beratung. Es hat sich herausgestellt, dass soziale Bindungen verwandtschaftlicher und freundschaftlich-genossenschaftlicher Art unter den Großen nicht den Pflichten gegenüber dem König nachrangig waren. Für die ältere Forschung nahm der König noch eine Sonderstellung im Herrschaftsverband ein. Als überholt gilt damit das von Theodor Mayer gezeichnete Bild eines Personenverbandsstaates, der auf Treue und einem Gefolgschaftsgedanken gegenüber einem Führer basiert habe. Bei der Untersuchung von Konflikten innerhalb des Herrschaftsverbandes ließ sich anhand der Beschreibungen vieler Einzelfälle erkennen, dass nicht schriftlich fixierte Normen und die Institution der Vermittler ein Gegengewicht zur Königsmacht bildeten. Vermittler waren in Konflikten nicht an königliche Weisungen gebunden.Die der Lehre vom Personenverbandsstaat zugrundeliegenden Erkenntnisse zur Bedeutung personaler Bindungen sind in der neueren Forschung ausgebaut worden, etwa in den Untersuchungen von Verena Epp zur „amicitia“ oder von Gerd Althoff zu „Gruppenbindungen“ zwischen „Verwandten, Freunden und Getreuen“. Eine Forschungslücke bleibt jedoch eine angemessene Beschreibung von Staatlichkeit im Hochmittelalter im europäischen Rahmen. Problematisch an Mayers Formel vom „Personenverbandsstaat“ erscheint heute unter anderem die Bestimmung des konkreten Ausgangspunkts der Entwicklung. Außerdem ist fraglich, ob tatsächlich von einem zeitlichen Nacheinander zweier grundsätzlich verschiedener Zustände gesprochen werden kann. Das Mayer’sche Diktum wurde von Andreas Rutz in einer 2018 veröffentlichten Studie kritisiert. Rutz spricht stattdessen von einer sowohl dem Mittelalter als auch der Frühen Neuzeit bekannten „Dualität von personenbezogener und flächenmäßiger Herrschaft“. Ein radikaler Wandel von der einen zur anderen Herrschaftsform könne nicht konstatiert werden.Die Lehre von der Rodungs- und Königsfreiheit setzte sich in der verfassungs- und sozialgeschichtlichen Forschung durch, dominierte lange und fand auch Eingang in die Landesgeschichtsforschung. Kritische Bemerkungen zur Rodungsfreiheit brachte vor allem Hans K. Schulze in einer 1974 veröffentlichten Studie vor. Er wies darauf hin, dass die Annahme einer speziellen Form von rechtsständischer Freiheit, die durch Rodung, Siedlung, Heeresdienst oder Königsdienst erworben wurde, in den Quellen keine Stütze findet. An den Rodungsvorgängen waren nach Schulzes Ergebnissen sowohl Freie als auch Unfreie beteiligt. Rodungs- und Siedlungstätigkeit veränderten den persönlichen Rechtsstand der Beteiligten nicht. Sie boten lediglich Aussicht auf wirtschaftliche Vorteile und ein besseres Besitzrecht. Der Irrtum der älteren Forschung beruht nach Wilfried Hartmann darauf, dass aus vereinzelten Angaben in einer spärlichen Quellenüberlieferung weitreichende verfassungsgeschichtliche Folgerungen abgeleitet wurden.Bei der Erforschung der Zähringer lieferte Mayers verfassungsgeschichtlicher Zugriff unter Berücksichtigung landesgeschichtlicher Befunde den nachfolgenden Historikern Hans-Walter Klewitz und Heinrich Büttner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Anregungen. Ab den 1960er Jahren gaben Berent Schwineköper, Walter Heinemeyer und Hagen Keller der Zähringerforschung neue Impulse. Vor allem die große Zähringerausstellung im Jahr 1986 änderte durch neue Fragestellungen das Verständnis der Herzogsdynastie. === Diskussion über Mayers Rolle im Nationalsozialismus === In den Festschriften und Nachrufen auf Theodor Mayer wurden problematische Aspekte seines Wirkens im Nationalsozialismus übergangen oder beschönigend geschildert. Josef Fleckenstein wertete in einer Danksagung an Theodor Mayer zum 85. Geburtstag zwei Bände, die im Rahmen des sogenannten „Kriegseinsatzes“ entstanden sind, als „Zeugnisse sauberer und strenger Wissenschaft“, als „eine erstaunliche Leistung mitten in den Wirren des Krieges“. Die Bände seien ein Beweis dafür, „daß es dem Herausgeber gelungen ist, sich und seine Wissenschaft von aller Parteipropaganda frei zu halten“. Die deutsche Geschichtswissenschaft befasste sich erst sehr spät mit der Rolle einiger prominenter Historiker in der NS-Zeit. Mayers NS-Vergangenheit wurde bis in die 1980er Jahre von nur wenigen Historikern thematisiert. Allerdings konstatierte der DDR-Historiker Gottfried Koch 1962, dass Mayer ebenso wie andere Historiker in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Beiträge mit dem Ziel verfasste, „die Hitlerschen Aggressionspläne pseudohistorisch zu untermauern“.Die kritische Auseinandersetzung mit Mayers Vergangenheit begann 1991 beim vierzigjährigen Jubiläum des Konstanzer Arbeitskreises. Johannes Fried, der damalige erste Vorsitzende, sprach in seinem Festvortrag erstmals die braune Vergangenheit des Vereins und seines Gründers an. Fried führte aus, dass Mayer den drängenden Fragen ausgewichen sei, „sowohl jener nach dem politischen Versagen auch der Geschichtswissenschaft im «Dritten Reich», die er nicht zuletzt selbst an hervorragender Stelle repräsentiert hatte, als auch jener nach der Schuldfähigkeit institutionalisierter Forschung überhaupt“. Der Umstand, dass sich die Geschichtswissenschaft erst sehr spät mit der Rolle führender Historiker im Nationalsozialismus auseinandersetzte, löste 1998 auf dem Frankfurter Historikertag heftige Debatten aus. Die stärkste Beachtung fand die Sektion „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus“ in einer Diskussion am 10. September 1998, die von Otto Gerhard Oexle und Winfried Schulze geleitet wurde. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik führte in der Folgezeit zu einer Vielzahl an Publikationen. Zum fünfzigjährigen Jubiläum des Deutschen Historischen Instituts in Paris untersuchte ein Kolloquium dessen Ursprünge mit einem personengeschichtlichen Ansatz. Die Biografien der Institutsgründer und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus standen im Blickpunkt. Dabei wurde Theodor Mayer in den Kreis der „Gründungsväter“ erhoben. Im November 2019 veranstalteten die Monumenta Germaniae Historica und das Deutsche Historische Institut in Rom das Symposium Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften“?. In den 2021 veröffentlichten Vorträgen wurden unter anderem von Anne Christine Nagel („Allein unter Kollegen“ – Theodor Mayer und die MGH im Krieg) und Folker Reichert (Herr und Knecht – Theodor Mayer und Carl Erdmann) verschiedene Aspekte von Theodor Mayer untersucht.Vorherrschend blieb in der neueren Forschung eine klare Trennung zwischen Mayers wissenschaftlichen und propagandistischen Veröffentlichungen. Eine Monographie über Theodor Mayer war lange Zeit eine Forschungslücke. Im Jahr 2016 wurde diese durch die Darstellung von Reto Heinzel geschlossen. Heinzel wertete Bestände in 33 Archiven und vor allem Mayers eigenen Nachlass sowie die Nachlässe seiner Korrespondenzpartner aus. Ziel seiner Arbeit ist es, „das Werk und die Handlungen Theodor Mayers […] in ihrer gesamten Breite“ in den Blick zu nehmen, um „die geläufige Trennung zwischen dem Wissenschaftler und der politisch denkenden Person […] zu durchbrechen“. Heinzel konnte mit zahlreichen Beispielen belegen, dass Mayer regelmäßig und bewusst die Grenze zwischen Wissenschaft und politischer Propaganda überschritt. == Schriften (Auswahl) == Ein Schriftenverzeichnis, das allerdings nur die Veröffentlichungen bis zum Jahre 1959 umfasst, erschien in: Theodor Mayer: Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze. Thorbecke, Lindau 1959, S. 505–507 (2., unveränderter Nachdruck. Thorbecke, Sigmaringen 1972). Aufsatzsammlung Theodor Mayer: Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze. Thorbecke, Lindau 1959.Monographien Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters. Böhlau, Weimar 1950. Der Staat der Herzoge von Zähringen (= Freiburger Universitätsreden. Bd. 20). Wagner, Freiburg im Breisgau 1935. Mit Kürzungen wieder abgedruckt in: Ders.: Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze. Thorbecke, Sigmaringen 1959, S. 350–364. Deutsche Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit (= Wissenschaft und Bildung. Bd. 249). Quelle & Meyer, Leipzig 1928. Deutsche Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (= Wissenschaft und Bildung. Bd. 248). Quelle & Meyer, Leipzig 1928. Die Verwaltungsorganisationen Maximilians I. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung. Wagner, Innsbruck 1920. Der auswärtige Handel des Herzogtums Österreich im Mittelalter (= Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs. Bd. 6). Wagner, Innsbruck 1909.Herausgeberschaften Der Vertrag von Verdun 843. 9 Aufsätze zur Begründung der europäischen Völker- und Staatenwelt. Koehler & Amelang, Leipzig 1943. Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters. (= Das Reich und Europa. Bd. 6). Koehler & Amelang, Leipzig 1943. == Quellen == Anne Christine Nagel, Ulrich Sieg (Bearb.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte (= Pallas Athene. Bd. 1 = Academia Marburgensis. Bd. 7). Steiner, Stuttgart 2000, ISBN 978-3-515-07653-1, S. 373–452. == Literatur == Reto Heinzel: Theodor Mayer. Ein Mittelalterhistoriker im Banne des „Volkstums“ 1920–1960. Schöningh, Paderborn 2016, ISBN 3-506-78264-9. Reto Heinzel: Theodor Mayer. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. Unter Mitarbeit von David Hamann. 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bd. 1, De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 485–488. Helmut Maurer: Theodor Mayer (1883–1972). Sein Wirken vornehmlich während der Zeit des Nationalsozialismus. In: Karel Hruza (Hrsg.): Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Portraits. Böhlau, Wien u. a. 2008, ISBN 978-3-205-77813-4, S. 493–530. Anne Christine Nagel: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (= Formen der Erinnerung. Bd. 24). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-35583-1, S. 156–187 (Digitalisat). == Weblinks == Literatur von und über Theodor Mayer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Mayer, Theodor. Hessische Biografie. (Stand: 24. September 2020). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS). Veröffentlichungen von Theodor Mayer im Opac der Regesta Imperii == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Mayer_(Historiker)
Nur zwei Dinge
= Nur zwei Dinge = Nur zwei Dinge ist ein Gedicht des deutschen Lyrikers Gottfried Benn. Es ist datiert auf den 7. Januar 1953 und wurde erstmals in der Frankfurter Ausgabe der Neuen Zeitung vom 26. März 1953 veröffentlicht. Im Mai desselben Jahres erschien es in Benns Gedichtsammlung Destillationen. Den letzten durch Benn persönlich herausgegebenen Band, die Gesammelten Gedichte aus seinem Todesjahr 1956, beschließt Nur zwei Dinge vor dem lyrischen Epilog. Das Gedicht blickt in einer Du-Ansprache auf ein Leben zurück, stellt die Sinnfrage und findet die Antwort im Ertragen des Vorbestimmten. Nach der Einsicht in die allgemeine Vergänglichkeit schließt das Gedicht mit einer Gegenüberstellung von Leere und gezeichnetem Ich. Im Gegensatz zu den abstrakten, nihilistischen Aussagen steht die geschlossene und eingängige Form des Gedichts, die durch traditionelle Stilmittel geprägt ist. Dabei lassen chiffrenhafte Formeln vieldeutige Interpretationen zu. Nur zwei Dinge gehört zu den populärsten Gedichten Gottfried Benns und wurde auch als seine persönliche Lebensbilanz verstanden. == Inhalt == Die erste Strophe des dreistrophigen Gedichts lautet: Dies wird als Kinderfrage bezeichnet. Erst spät hat das Du des Gedichts erkannt, was es im Leben zu ertragen gelte: Angesichts der allgemeinen Vergänglichkeit, wofür beispielhaft Rosen, Schnee und Meere genannt werden, bleibt als Fazit: == Form == Das Gedicht besteht aus drei Strophen. Die vier Verse der beiden Außenstrophen stehen im Kreuzreim und enden abwechselnd mit einer Hebung oder Senkung. Die Binnenstrophe wird mittels eines zusätzlichen Paarreims auf fünf Verse erweitert. Durch den Einschub als Parenthese fällt der achte Vers aus dem Gedicht heraus, das sich ebenso gut ohne ihn lesen ließe. Die Wirkung der zusätzlichen Zeile ist laut Gisbert Hoffmann ein Ritardando, eine Verzögerung des Strophenschlusses. Gleichzeitig verstärkt sie den vorigen Vers 7, „es gibt nur eines: ertrage“, und macht ihn zum Mittelpunkt des Gedichts. Benn setzte das Stilmittel eines zusätzlichen Verses in seinem Werk wiederholt in einzelnen Strophen ein, zwei seiner Gedichte bestehen vollständig aus fünfzeiligen Strophen. Die unruhige Wirkung der Metrik von Nur zwei Dinge erklärte Hoffmann mit der variierenden Anzahl von Silben pro Vers sowie den unregelmäßigen und unerwartet verteilten Versfüßen. Die allesamt dreihebigen Verse bestehen aus unterschiedlichen Kombinationen von Jamben und Daktylen mit Ausnahme der rein jambischen Verse 2, 3 und 8, des aus Anapästen gebildeten Verses 4, sowie des abschließenden Verses 13, der als einziger mit einer Hebung beginnt und dadurch die Schlussformel akzentuiert. Allerdings sind auch abweichende Skandierungen möglich, nach denen etwa Vers 4 betont, Vers 13 dagegen unbetont einsetzt und somit das Schema von Vers 9 wiederholt.Fehlt in der ersten Strophe des Gedichts noch jedes Subjekt, tritt an dessen Stelle ab der zweiten Strophe eine Du-Anrede. Dies kann als monologische Selbstansprache verstanden werden, allerdings wies Kaspar H. Spinner darauf hin, dass die Aussagen aus einem höheren Bewusstsein heraus zum Du gesprochen werden. Dabei hebe die Du-Form die Verse über eine Identifizierung des Autors als Sprecher hinaus, sie verleihe dem Gedicht eine Autonomie in der Aussageinstanz. Während das „Du“ die Rolle des lyrischen Ichs übernehme, wandle sich das „Ich“ als substantiviertes Pronomen zum Objekt, im letzten Vers sogar mit Artikel und Adjektiv. Gernot Böhme und Gisbert Hoffmann sahen eine Aufspaltung des Ichs in ein frühes und ein spätes Ich. Letzteres wende sich auf der Grundlage des erworbenen Wissens an sein früheres Bewusstsein, sein biografisches Ich. Dieser „Ich-Du-Zirkel“ lade laut Ulrike Draesner den Leser ein, „sich ins Rondo des Sprechens und Angesprochenseins einzuschalten“, indem eine Kommunikationsebene eröffnet werde, die sonst intimen Selbstgesprächen vorbehalten bleibe.Theo Meyer betonte den Kontrast zwischen der offenen Frage und den definitiven Antworten des Gedichts, das einen Hang zur Generalisierung und zum Thesenhaften aufweise. Insbesondere die beiden ersten Strophen bestünden ausschließlich aus abstrakten Aussagen ohne jedes bildhafte Element. Auch ein historisch-aktueller Bezug sei vollständig ausgeblendet. Allerdings sah Hans-Martin Gauger die Abstraktion durch Reim und Rhythmus „rhetorisch rauschend“ gestaltet. Das Satzgefüge sei hypotaktisch, der „sprachliche Prunk“ erzeuge einen „hohen Ton“. Der Aufbau des Gedichts übernimmt nach Achim Geisenhanslüke eine traditionelle Liedform. Jürgen Schröder beschrieb eine „parlandohafte Poesie“, die einen Gegensatz zum „apodiktischen Inhalt“ bilde. Der weiche Ton des Gedichts werde durch Assonanzen, Alliterationen und Anaphern hervorgerufen. So beginnen die ersten sechs Verse mit dem Buchstaben D, der im Abschluss der beiden letzten Strophen wieder aufgegriffen wird. Weitere wiederholte Stilmittel sind die in jede Strophe montierte Reihung dreier Substantive, der mehrfach zur Zuspitzung eingesetzte Doppelpunkt, sowie das Enjambement der abschließenden Verse. Im Ergebnis entstehe laut Schröder ein rhythmischer Auf- und Abstieg jeder einzelnen Strophe, sowie ein Kreislauf von Anfang bis Ende des Gedichts, der sich vom „Ich“ des zweiten zum „Ich“ des letzten Verses runde. Insgesamt verliehen die lyrischen Mittel Nur zwei Dinge eine starke Suggestivität, die den Leser zur Identifikation mit den radikalen inhaltlichen Aussagen verführe. Für Helmuth Kiesel wirkte insbesondere der Reim vordergründig im Sinne einer „Milderung und Bekömmlichmachung“ des desillusionierenden Inhalts, er sende aber auch unterschwellig eine Gegenbotschaft der Schönheit. == Interpretation == Trotz der direkten Formulierungen des Gedichts ist laut Hermann Korte keine eindeutige Entschlüsselung des Inhalts möglich. Zwar lasse sich das Thema mit den Begriffen Vergänglichkeit, Vergeblichkeit und Einsamkeit eingrenzen, doch setzen sich die Verse aus vieldeutigen Chiffren zusammen, die ihren Sinn nicht vollständig preisgeben. Der Rückgriff auf Prinzipien der Reduktion und Lakonie zeige hermetische Tendenzen. Für Dieter Liewerscheidt kennzeichnete sich Nur zwei Dinge gleichermaßen durch semantische Offenheit wie syntaktische Unschärfe. Die chiffrierten Kurzformeln und Leerstellen des Gedichts laden zur Rezeptionsästhetik ein, die allgemeinen Andeutungen und die unterschiedliche Interpretierbarkeit der Begriffe erlaubten ein „sympathetisches Einschwingen des Lesers“ in die Grundstimmung von Weltschmerz. === „Durch so viel Formen geschritten“ === Edith A. Runge, eine der frühesten Interpretinnen von Nur zwei Dinge, sah im Gedicht „die Summe der Existenz“ gezogen, wobei bereits die erste Zeile Resignation, Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit ausdrücke. Die durchschrittenen Formen „Ich“, „Wir“ und „Du“ deutete sie als das Selbst, die Gemeinschaft und das Gegenüber. Für Gisbert Hoffmann symbolisierten die drei Personalpronomina dagegen einen Lebensweg durch verschiedene Stadien des Daseins, ähnlich Helmuth Kiesel, der von vergangenen Versuchen eines erfüllten Lebens durch Individualismus, Kollektivismus und Partnerschaft ausging. Jürgen Schröder erklärte die Stadien historisch: Danach stehe das „Wir“ für das Jahr 1933 und damit für Benns eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus.Einen ganz anderen Ansatz verfolgte Friederike Reents. Ihrer Interpretation zufolge schreite Benn als Dichter durch literarische Formen, durch Lyrik, Prosa und Essay, um am Ende das vollendete Gedicht zu schaffen, in dem sich Form und Poetik erfüllen. Insofern stehen die „Leere“ und das „gezeichnete Ich“ für sie am Ende auch nicht für nihilistische Resignation, sondern bis zuletzt für den Glauben des Dichters, durch Kunst Unvergängliches aus dem Nichts zu schaffen. Eine Verbindung von ästhetischen Formen im ersten Vers und sozialen Beziehungen im zweiten Vers stellte Jürgen Egyptien her, während sich für Hans Bryner in beiden Versen Existenz- und Sprachformen verknüpfen und eine Verbindung von Leben und Schreiben herstellt: Für den Dichter Benn gehe es darum, das Leben schreibend zu gestalten. === „die ewige Frage: wozu?“ === Die Frage nach dem Wozu beinhaltet laut Hans Bryner im Kontext des Gedichts dreierlei: die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Erwartung einer negativen Antwort und das Leiden an dieser Tatsache. Dabei sah Dieter Liewerscheidt das Erleiden des Subjekts und die Frage nach den Gründen mittels der Präposition „durch“ auf doppelte Art verbunden: Zum einen lasse sich ein aus dem Leben entstandenes Leid durch die Sinnsuche tröstlicher gestalten. Zum anderen könne das später als „Kinderfrage“ etikettierte naive Fragewort als Ursache allen Leidens aufgefasst werden. Eva Maria Lüders führte aus, dass die falsche Fragestellung zu lange von der eigentlichen Problematik, wie der Mensch seine auferlegte Lebenssituation bewältigen könne, abgelenkt habe. Dagegen wertete Gisbert Hoffmann die Sinnfrage nicht als Ursache, sondern als Folge des Leidens. Sie entstehe erst aus den Desillusionierungen, die mit dem Durchschreiten der Lebensstadien einhergingen.Auch der Begriff der „ewigen Frage“ lässt sich nach Hans Bryner auf zweierlei Arten erklären: die Sinnfrage als Urfrage des menschlichen Daseins, die trotz ausbleibender Antwort seit Ewigkeiten immer wieder gestellt werde, sowie als „ewige Fragerei“, als lästige Wiederholung einer absurden „Kinderfrage“. Während Hans-Martin Gauger explizit eine theologisch-religiöse Bedeutung verneinte und das Adjektiv „ewig“ rein umgangssprachlich verstand, sah Hermann Korte die Rolle und Bedeutung der Frage nach dem Wozu im Gedicht letztlich ungeklärt und aus ihr ein „weites Feld metaphysischer Reflexionen eröffnet.“ Friedrich Kienecker nannte die Frage mit einem Zitat aus Benns Gedicht Satzbau „überwältigend unbeantwortbar“. === „ob Sinn, ob Sucht, ob Sage“ === Die als Parenthese eingeschobene dreifache Alliteration auf S erlaubt eine Vielzahl von Interpretationen. Eva M. Lüders erkannte in den Begriffen „die drei Bereiche, in denen uns unsere Existenz zur eigenen Erfahrung, zur ‚Auflage‘ werden kann“. Danach stehe der „Sinn“ für den metaphysischen Drang, das Leben zu erkennen, aber auch für die Sinneswahrnehmung, die „Sucht“ für das Verlangen der Triebe, aber auch für den Wortstamm der Suche, die „Sage“ für den Mythos, die Literatur oder auferlegte Arbeit des Dichters. Gernot Böhme bezeichnete Sinn, Sucht und Sage als die drei möglichen Weltanschauungen, die Erklärungsmuster des menschlichen Lebens, das seine Bestimmung aus ideellen Zielen, inneren Antrieben oder vorbestimmten Fügungen heraus erfahre.Fred Lönker erklärte den Sinn als Versuch der Welt- und Selbstdeutung, die Sucht als Selbstvergessenheit im Rausch. Die Sage deutete Gisbert Hoffmann aus Benns Gedicht Abschied als „die eigene Sage –: das warst du doch –?“ das Selbst- oder Fremdbild des eigenen Ichs. Hans Helmut Hiebel verknüpfte die Dreiheit mit den vorigen Personalpronomina: das Du der Liebe mit der Sucht, wozu er später auch die Rosen gesellte, das Wir mit der gemeinschaftlichen Sinnsuche, das Ich mit den Künsten der Sage. Allerdings relativierte Jürgen Egyptien die Bedeutung der Aufzählung, denn gleichgültig ob ein Antrieb als Sinnerfüllung, Obsession oder Prophetie ausgewiesen werde, mit dem folgenden Vers offenbare er sich als fremdbestimmt, ein dem Menschen innewohnender Zwang. === „dein fernbestimmtes: Du mußt“ === Laut Gisbert Hoffmann setzte Benn Leben mit „Leben müssen“ gleich. Niemand könne aus seiner Haut heraus, niemand sei in der Lage, anders zu handeln, als ihm vorbestimmt sei. Ein Dichter müsse schreiben, in seinem Werk sei er fremd bestimmt, ohne den Ursprung des Drangs ergründen zu können. Hans Helmut Hiebel verortete die Beweggründe des Handelns in einer fernen, dunklen Vergangenheit. Theo Meyer sprach vom „Bestimmtwerden durch ein übersubjektives, undurchschaubares und anonymes Prinzip“, das charakteristisch für die monologische Lyrik Benns sei. Auf weitere Begriffe, mit denen Benn jene fremd bestimmende Instanz in seinen Gedichten belegte, verwies Hans Bryner: Moira, Kismet, Heimarmene, Verhängnis, die Parzen. Im „Du mußt“ erkannte er ebenso eine Antwort auf die zuvor gestellte Frage nach dem „wozu?“ wie eine Reduzierung der Zehn Gebote auf das bloße „Du sollst“.Gernot Böhme wies darauf hin, dass von Fern- und nicht von Fremdbestimmung gesprochen werde, somit nicht notwendigerweise eine andere Instanz im Spiel sei. Auch folge nicht das ganze Leben dieser Bestimmung, sondern lediglich das „Du mußt“, also die Konstellation, in die ein Mensch gestellt sei und die er als Aufgabe begreife. Jürgen Schröder bezog den Vers auf die Biografie Gottfried Benns, der den Nationalsozialismus anfänglich in seinen Schriften begrüßt hatte, wofür er später in Rechtfertigungszwang geriet. Durch das „Du mußt“ werde das Schicksal als „Alibi moralischer und historisch-politischer Schuld mißbraucht“, die Niederlage und der Irrtum zu einer Voraussetzung für den Ruhm überhöht. Benns eigene Schuld werde somit aufgehoben, das abschließende „gezeichnete Ich“ zum Ausdruck seiner Selbstrechtfertigung. === „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere“ === Die dritte Reihung von Substantiven, die in der abschließenden Strophe die Vergänglichkeit aller Dinge veranschaulicht, lässt erneut vielfältige Deutungen zu. Gernot Böhme sah in dem Vanitas-Motiv die Natur in ihrer Gesamtheit eingefangen: die Rosen symbolisierten alles Lebendige, der Schnee die klimatischen Einflüsse und die Meere die Topografie. Dabei schloss Hans-Martin Gauger die Beobachtung an, dass es sich um drei außermenschliche Phänomene handle. Edith A. Runge las sie jedoch als Chiffren für die Naturschönheit, das Sterben und das unergründliche Sein. Für Maria Behre bildete die Zeit den gemeinsamen Nenner der Begriffe: Rosen, Schnee und Meere veranschaulichten für sie die Zeitformen der Reifung, des Augenblicks und der Ewigkeit. Hingegen sah Eva M. Lüders die Welt durch drei besonders veränderliche Vertreter auf ein flüchtiges Werden und Vergehen reduziert und damit die äußere Wirklichkeit insgesamt geleugnet.Auf die sonstige Verwendung dieser Metaphern in Benns Werk verwies Gisbert Hoffmann. Dort symbolisiere die Rose vielfach Schönes und Schwermut, der Schnee Reinheit, das Meer Weite und Ruhe. Theo Meyer erkannte schlicht keinen geschlossenen Zusammenhang der drei Substantive, sondern „unbestimmte, vielsinnige und allgemeine Zeichen“, die weniger „konkrete Bezeichnungen als chiffrenhafte Sinnfiguren“ seien. Jürgen Schröder brachte Oswald Spenglers Kulturkreislehre ins Spiel, die in den drei Begriffen naturalisiert und zu einem sinnlosen Kreislauf kurzgeschlossen werde. Indem im folgenden Vers das einzig „aktiv-sinnliche“ Verb des Gedichts „erblühte“ sofort durch das folgende „verblich“ aufgehoben werde, ende Nur zwei Dinge in einer Passivität und Statik der Substantive. === „die Leere und das gezeichnete Ich“ === In den beiden letzten Versen zieht Benn das Fazit des Gedichts. Laut Theo Meyer sei das Verhältnis des Subjekts zur Welt reduziert auf das Gegenüber von „Leere“ und „Ich“, zwischen denen sich alle Sinnbezüge aufgelöst haben. Möglich sei nur noch eine formelhafte Selbstvergewisserung. Von einer „Mischung aus Resignation und Selbstbehauptung“ sprach Achim Geisenhanslüke. Maria Behre folgerte aus der Erkenntnis der Leere, der Abwesenheit einer metaphysischen Instanz, die Selbstverpflichtung zur Autonomie des Ichs. Dabei sei das Ich laut Hans Helmut Hiebel durch das „erlittene“ Leid und das „Du mußt“ stigmatisiert. In der Doppelbedeutung des Wortes „gezeichnet“ versuche das Ich sich aber auch selbst der Kunst einzuzeichnen. Dieter Liewerscheidt stellte die Frage, von wem, bei einer Verleugnung der Außenwelt, das Ich überhaupt gezeichnet sein könne, um selbst zu antworten, dass es nur die Position der eigenen fatalistischen Einsamkeit sein könne, an der das Ich leide. Damit sah er das Gedicht im Verdacht, „lediglich einer narzißtischen Schmerzenspose Raum zu bieten“.Während Hans-Martin Gauger die Zeichnung ausschließlich negativ verstand als ein durch Alter und Erfahrungen reduziertes Ich, war für Jürgen Schröder in der Formulierung ein Bewusstsein von Berufung und Auserwähltsein spürbar. Benn verknüpfe hier ein elitäres Selbstverständnis und den Bezug auf christliche Vorbilder zu einer „Christus-Typologie“, die der Dichter in vielen Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen 1934 und 1937 gepflegt habe. Einen anderen biblischen Bezug suchte Friedrich Hahn, der in einer christlich orientierten Interpretation dem durch die Leere gezeichneten Ich die Zeichnung Zions gegenüberstellte: „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände“ (Jes 49,16 ). Hans Bryner verwies dagegen auf das Kainsmal als mythischen Beginn der Menschheit. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner erkannte im gezeichneten Ich einen literarischen Bezug: das „hingezeichnete Ich“ als den Entwurf eines Dichters. == Bezug zu anderen Werken Benns == Im Zentrum von Nur zwei Dinge steht laut Edith A. Runge eines der Grundmotive des Werks von Gottfried Benn: der Dualismus zwischen Leben und Geist, deren Unvereinbarkeit ihn schließlich zum Nihilismus als einzig angemessener Geisteshaltung führte. So unterteilte Benn 1949 in Ausdruckswelt: „Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt.“ Den Prozess, sich damit abfinden zu müssen, beschrieb er bereits damals: „Es ist schwer erkämpft dies alles, sehr durchlitten.“ Benn habe sich in diesem Dualismus für den Geist als das einzig Gültige ausgesprochen und das Leben mehr und mehr verneint, was auch poetisch zum Prinzip der reinen Form, die ihren Gegenstand auslösche, geführt habe. Durch die Hinwendung zur völligen Transzendenz bleibe Benn laut Runge am Ende nur „die Leere, das erkennende Ich, und das Leiden – es bliebe ihm eigentlich nur das Schweigen.“Auch das knapp drei Jahre vor Nur zwei Dinge entstandene Gedicht Reisen stellt die Sinnfrage und berichtet von einer späten Erfahrung, bereits hier manifestiert sich „die Leere“, die einen Reisenden auf den Straßen der verschiedenen Städte anfällt. Am Auffälligsten ist allerdings die Übereinstimmung der letzten Verse: „das gezeichnete Ich“ und „das sich umgrenzende Ich.“ Gisbert Hoffmann stellte die beiden Gedichte einander gegenüber. Es komme jeweils zu einer Konfrontation des Ichs mit der Leere, die in Reisen allerdings nicht vom Ich getrennt sei, sondern aus diesem heraus entstehe. Zudem sei das Ich in Reisen nicht passiv gezeichnet, sondern grenze sich aktiv gegen die Umwelt ab. Dass der Leere nicht bloß mit der Passivität des „Ertragens“ aus Nur zwei Dinge zu begegnen sei, sondern mit Aktivität und eigenem Gestalten, habe Benn bereits 1949 in Der Radardenker verkündet: „Es gibt keine Leere und es gibt keine Fülle, es gibt nur die Möglichkeit, die Leere zu füllen hier, sofort, am Fenster mittels Lotung und Transformation.“Jürgen Schröder verwies beim Ausdruck „das gezeichnete Ich“ auf ein Gedicht von 1935 mit dem Titel Ach, das Erhabene: Bereits hier werde der Gezeichnete zum Auserwählten überhöht, eine Tendenz, die sich auch in der Erzählung Weinhaus Wolf aus dem Jahr 1937 fortsetze. Dort rechtfertige Benn seine enttäuschte Abkehr von der nationalsozialistischen Gesellschaft und greife für den Gezeichneten auf religiöse Bilder aus der Offenbarung des Johannes zurück. Sowohl das spätere „Du mußt“ als auch die „Leere“ sah Schröder schon in den geschichtsphilosophischen Betrachtungen aus Weinhaus Wolf angelegt: „Alle großen Geister der weißen Völker haben, das ist ganz offenbar, nur die eine innere Aufgabe empfunden, ihren Nihilismus schöpferisch zu überdecken.“Auf eine andere „strukturelle und weitgehend auch substanzielle Kontinuität“ von Nur zwei Dinge zu einem Brief von 1938 an den Bremer Kaufmann und langjährigen Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze wies Jürgen Haupt hin. Damals schloss ein zorniger Ausbruch Benns, „daß das Ganze ein großer Dreck ist, die Menschheit, ihre Gesellschaft, ihre Bio- u. Soziologie, dieser ganze stinkige Zinnober um uns herum“, mit einer ähnlichen Formulierung: „Es giebt nur 2 Dinge: dreckige Menschheit u. einsames schweigendes Leiden – keine Grenzverschiebungen!“ == Entstehung und Veröffentlichung == Das Gedicht Nur zwei Dinge wurde von Benn eigenhändig auf den 7. Januar 1953 datiert. In Benns Notizen finden sich Vorarbeiten aus demselben Monat. Eine frühe Version des Gedichts war zweigeteilt. Die dritte Strophe der Endfassung folgte der Einleitung: Abgesetzt schloss sich ein erster Entwurf der ersten und zweiten Strophe an. Lesarten der frühen Fassungen lauteten beispielsweise: „wie sie blühten u. verblichen“ statt „was alles erblühte, verblich“, „Der Mann hat immer gewusst“ statt „Dir wurde erst spät bewußt“, sowie „Das eine dunkle: Du musst“ statt „dein fernbestimmtes: Du mußt.“Erstmals wurde das Gedicht in der Frankfurter Ausgabe der Neuen Zeitung vom 26. März 1953 abgedruckt. Im Mai desselben Jahres erschien es als Teil der Gedichtsammlung Destillationen. In einem Brief an Oelze urteilte Benn zu diesem Band: „Ich fürchte, es sind langweilige, altmodische Aussagegedichte“. Knapp zwanzig Jahre zuvor hatte Benn dafür die Floskel „gereimte Weltanschauung“ geprägt. In der Ausgabe letzter Hand der Gesammelten Gedichte aus Benns Todesjahr 1956 sollte Nur zwei Dinge ursprünglich die Sektion 1949–1955 einleiten, rückte dann jedoch ans Ende des Bandes vor dem Gedicht Epilog 1949. Darin sah Fred Lönker einen Hinweis auf die besondere Bedeutung, die Benn dem Gedicht beimaß. Dieser hatte zuvor angewiesen, den Band mit einem der Gedichte, „die mir am besten erscheinen“, zu beschließen. Für Jürgen Schröder wurde durch die abschließende Positionierung von Nur zwei Dinge dessen „Bilanz- und Vermächtnischarakter betont“, Helmuth Kiesel bezeichnete das Gedicht als Teil von Benns „poetischem Testament“. == Rezeption == Nur zwei Dinge wurde laut Jürgen Schröder zu einem der populärsten Gedichte Gottfried Benns. Dieser habe es „auf derart griffige und wohlklingende Formulierungen gebracht, daß man den Autor bald ganz darauf festlegte.“ So trug etwa die erste Taschenbuchausgabe von Benns Briefen den Titel Das gezeichnete Ich. Das Gedicht ermögliche dem Leser, den Inhalt auf einige allgemeingültige Aussagen herunterzubrechen: alles sei vergänglich und nicht zu ergründen, jeder Mensch letztlich allein. Gerade in der Nachkriegszeit habe die existenzielle Selbstrechtfertigung des Gedichts die Stimmung der westdeutschen Bevölkerung getroffen. Die Mischung von Trauer und Melancholie bewirkte eine Katharsis, ohne sich konkreter Schuld stellen zu müssen, und ermöglichte laut Schröder, „auf poetische Weise die verleugnete Vergangenheit zu bewältigen“. Mit den sechziger Jahren sei eine solche Lesart nicht mehr aktuell gewesen und Benn unmodern geworden. Erst in den achtziger Jahren sei wieder eine neue, weniger zeitbezogene Lesart des Gedichts möglich gewesen.Bei einer Umfrage des Westdeutschen Rundfunks vom Mai 2000 nach den Lieblingsgedichten der Deutschen landete Nur zwei Dinge auf dem 39. Platz. Marcel Reich-Ranicki nahm es sowohl in seinen Kanon der deutschen Literatur auf als auch in die persönliche Auswahl von 100 Gedichten des 20. Jahrhunderts. In einer zeitgenössischen Rezension von Benns Gedichtsammlung Destillationen ordnete Karl Krolow, der andere Gedichte dieser Ausgabe sehr kritisch beurteilte, Nur zwei Dinge unter „einige herrliche Stücke“ ein und beschrieb: „Hier steht Fatalität neben Zauber.“ Hans Helmut Hiebel wertete Nur zwei Dinge als Benns „Lebensbilanz“, in der dieser „seine Erfahrungswirklichkeit kompakt, prägnant und stimmig zum Ausdruck“ gebracht habe. Das Gedicht sei „– trotz der Abstraktionen – sprechend und mit der ‚Glasur‘ des Schönen überzogen.“ Peter Rühmkorf fühlte sich rückblickend durch Gedichte wie Nur zwei Dinge in seinem „finalen Fracksausen geradezu leidensgenossenschaftlich von Gottfried Benn angezogen“. Für Wolfgang Emmerich war Nur zwei Dinge ein „auf seine Weise perfekter, populärer Text“.Der lyrische Ton und die formale Perfektion des Gedichts wurden allerdings auch kritisiert. So sprach Wolfgang Braungart von einem „berühmten und schauderhaften“ Gedicht. Die letzte Strophe sei „bestes Poesiealbum-Niveau (‚Rosen, Tulpen, Nelken / Alle Blumen welken‘). Die absurde Zusammenstellung (Rosen, Schnee, Meere) liest sich wie eine unfreiwillige Parodie.“ Für Mathias Schreiber war Nur zwei Dinge „ein nihilistischer Schlager“. Er kritisierte: „Der glatte, Formgeschlossenheit simulierende Singsang der Endreime ist ohne Ironie: Er soll allen Ernstes die Aussage tragen, mit pseudo-prophetischem Orgelton bekräftigen“. Unbeabsichtigt werde die selbstsichere Sprache zum „Hohn auf das ‚gezeichnete Ich‘“. Im Gedicht herrsche „Tiefe ohne Oberfläche, also Scheinradikalität: Ein Musterbeispiel für Kitsch.“ Auch Dieter Liewerscheidt beanstandete die „glänzende ästhetische Kehrseite eines gleichgültig gewordenen, pauschalen Inhaltsbezugs“. Der „Formkult, der die Welt schon hinter sich gelassen hat“ feiere „einen hohlen Triumph“.Neben Abdrucken des vollständigen Gedichts in Lyrikanthologien wurden insbesondere die letzten beiden Verse von Nur zwei Dinge häufig zitiert. Friedrich Kienecker sprach vom „gezeichneten Ich“ als Metapher „für das Selbstgefühl und Selbstverständnis des modernen Menschen“, das „eine menschliche Grunderfahrung“ ausdrücke, die er in abgewandelter Form in vielen zeitgenössischen Gedichten wiederfand. Auch für Eva M. Lüders war das „‚gezeichnete Ich‘ der Träger und Held der modernen Dichtung“. Es stehe für „das Ende jener persönlichen Lebenskultur, in der das ‚lyrische Ich‘ beheimatet war.“ Allerdings begehrte Paul Celan bei einer Begegnung mit Hans Mayer gegen die Schlussformel von Nur zwei Dinge auf. Laut Mayer versage sich Celan solcher „sentimentalen Aura“, weil in seiner Poetik das Gedicht im Zentrum stehe, bei Benn der gezeichnete und zum Ausdruck verurteilte Dichter. Der spanische Lyriker Leopoldo María Panero verfasste mit dem Gedicht After Gottfried Benn eine „posthume Imitation Gottfried Benns“, die sich gleichzeitig von den schönen Worten seines Vorbilds distanziert. Sein gezeichnetes Ich steht nahe am Wahnsinn und wartet in einer stinkenden Zelle auf den Tod. Eine weitere Replik auf Nur zwei Dinge veröffentlichte 1997 Marcel Beyer mit seinem Gedicht Nur zwei Koffer, das mit den Zeilen schließt: „Es bleiben nur / die zwei Koffer, Rasurfehler hier, und du: ich / stelle die Kinderfrage ebenso lautlos. Wozu.“Nur zwei Dinge wurde gemeinsam mit anderen Gedichten Benns mehrfach auf Tonträger veröffentlicht, so in Lesungen von Gottfried Benn selbst, von Will Quadflieg und Dieter Mann. Bis 1995 entstanden insgesamt sechs musikalische Umsetzungen des Gedichts, unter anderem von Heinz Friedrich Hartig als Teil des Oratoriums Wohin (1963/64), Xaver Paul Thoma für Altstimme und Bratsche (1977) und Günter Bialas für mittlere Stimme und Tenorsaxophon (1987/88). Der Hamburger Popmusiker Das Gezeichnete Ich entlieh Benns Gedicht sein Pseudonym. == Literatur == === Veröffentlichungen === Erstpublikation: Die Neue Zeitung. Frankfurter Ausgabe. Nr. 72 vom 26. März 1953, S. 4. Gottfried Benn: Destillationen. Neue Gedichte. Limes, Wiesbaden 1953, S. 19. Gottfried Benn: Gesammelte Gedichte. Limes, Wiesbaden 1956, S. 358. === Sekundärliteratur === Gernot Böhme: Die Frage Wozu? – eine Kinderfrage? In: Gernot Böhme, Gisbert Hoffmann: Benn und wir. Existentielle Interpretationen zu Gedichten von Gottfried Benn. Xenomoi, Berlin 2008, ISBN 978-3-936532-81-4, S. 33–52, auch online als Vortrag im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen (pdf; 156 kB). Hans Bryner: Das Rosenmotiv in Gottfried Benns Lyrik. Skizzen zu Bild und Bau. Peter Lang, Bern 1985, ISBN 3-261-04087-4, S. 119–132. Hans Helmut Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900–2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil I (1900–1945). Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3200-4, S. 238–242. Gisbert Hoffmann: Vergänglichkeit und Dauer. In: Gernot Böhme, Gisbert Hoffmann: Benn und wir. Existentielle Interpretationen zu Gedichten von Gottfried Benn. Xenomoi, Berlin 2008, ISBN 978-3-936532-81-4, S. 53–89. Fred Lönker: Gottfried Benn. 10 Gedichte. Erläuterungen und Dokumente. Reclam, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-15-016069-5, S. 134–145. Eva M. Lüders: Das lyrische Ich und das gezeichnete Ich. Zur späten Lyrik Gottfried Benns. In: Wirkendes Wort 15/1965, S. 361–385. Theo Meyer: Kunstproblematik und Wortkombinatorik bei Gottfried Benn. Böhlau, Köln 1971, ISBN 3-412-93071-7, S. 341–344. Edith A. Runge: Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“. In: Wolfgang Peitz (Hrsg.): Denken in Widersprüchen. Korrelarien zur Gottfried Benn-Forschung. Becksmann, Freiburg im Breisgau 1972, S. 343–364. Erstdruck in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur. Vol. XLIX, 1957, S. 161–178. Jürgen Schröder: Destillierte Geschichte. Zu Gottfried Benns Gedicht Nur zwei Dinge. In: Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Gegenwart I. Reclam, Stuttgart 1982, ISBN 3-15-007895-4, S. 20–28. == Weblinks == Stefanie Golisch: Möblierter Herr. Gottfried Benn und Leopoldo María Panero: Nur zwei Dinge. Mit einem Volltext des Gedichts Nur zwei Dinge. Auf poetenladen.de, 21. Juni 2006. F.A.Z.-Hörprobe: Folge 1: Hesse und Benn. Gottfried Benn liest u. a. Nur zwei Dinge. Auf FAZ.net. Jürgen Schröder: „Der Ruhm hat keine weißen Flügel“. Ein Blick auf Gedichte aus fünf Jahrzehnten zum 50. Todestag Gottfried Benns. Vortrag bei der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 7. Juli 2006 (pdf; 165 kB). Gernot Böhme: Die Frage Wozu? – eine Kinderfrage? In: Neue Zürcher Zeitung vom 25. Oktober 2003. Gernot Böhme: Die Frage Wozu? – eine Kinderfrage?. Vortrag bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2002 (pdf) Nur zwei Dinge, Gesprochene Deutsche Lyrik == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Nur_zwei_Dinge
Useless
= Useless = Useless ist ein Album des englischen Musikers T. V. Smith aus dem Jahr 2001, das einen Querschnitt seines musikalischen Werkes seit 1977 bietet. Fast alle Titel wurden ursprünglich von Smiths ehemaligen Gruppen The Adverts und Cheap oder von ihm als Solist veröffentlicht, jedoch gemeinsam mit der Düsseldorfer Band Die Toten Hosen für diese Produktion neu eingespielt. == Entstehungsgeschichte == T. V. Smith gehört zu den Musikvorbildern aus der englischen Punkszene, zu denen Die Toten Hosen 1991 für ihr Album Learning English Lesson One den Kontakt suchten. Nachdem Smiths Bands sich aufgelöst hatten, seine Plattenfirma in Konkurs gegangen war und sich kein Produzent mehr für seine Musik fand, sank sein Bekanntheitsgrad. Seine frühen Platten mit den Adverts und sein Soloalbum March of the Giants waren auf dem Markt nicht mehr erhältlich, und die Songs schienen vollkommen in Vergessenheit zu geraten. Dieser Entwicklung wollten Die Toten Hosen entgegenwirken, und so kam es wiederholt zur Zusammenarbeit mit Smith für dieses Album, welches als sogenanntes Best-of-Album des Künstlers herausgebracht wurde, jedoch eine eigene, arbeitsintensive und neue Produktion darstellt.Als die Band im Oktober 2000 wegen einer Verletzung ihres Sängers Campino ihre damalige Tour abbrechen musste, nutzte man die Lücke, um dieses bereits länger geplante Projekt zu verwirklichen. Die übrigen Bandmitglieder Andreas von Holst und Michael Breitkopf spielten an den E-Gitarren, Andreas Meurer am E-Bass, Vom Ritchie am Schlagzeug, und Campino wirkte beim Hintergrundgesang mit. An den Aufnahmen zum Album war zusätzlich der ehemalige Keyboarder der Adverts, Tim Cross, beteiligt. Melodien und Texte der Originalversionen wurden prinzipiell nicht verändert. Im Gegensatz zur minimalen Begleitung bei der Erstveröffentlichung steuert hier die sechsköpfige Begleitband einen kräftigeren „Rocksound“ bei. Die älteren Stücke profitieren darüber hinaus von den in der Zwischenzeit verbesserten Möglichkeiten der Aufnahmetechnik. Das Coverfoto von Slavica Ziener zeigt einen, trotz des trüben Himmels, gut besuchten Badestrand am Meer, und das Begleitheft enthält neben sämtlichen Liedtexten, Schwarzweißportraits der Bandmitglieder während der Studioarbeit, aufgenommen von Donata Wenders. == Themen und Titelliste == T. V. Smith beschäftigt sich in seinen Liedern mit den sozialen Umständen und den politischen Gedanken des „kleinen Mannes“, benennt was ihn stört deutlich beim Namen, verwendet jedoch Metaphern und Wortspiele, die nicht selten eine Portion Galgenhumor enthalten. Musikalisch benutzt er unterschiedliche Stilmittel aus Punk, Rock und Blues. Die Musikstücke des Albums sind weder chronologisch nach Datum der Erstveröffentlichung, noch thematisch geordnet. Schnellere Stücke wechseln sich mit ruhigeren Titeln ab. Die Lieder setzen sich jedoch alle mit menschlichen Wertvorstellungen in verschiedenen Bereichen auseinander. === Ästhetische Maßstäbe === One Chord Wonders stammt noch aus der Zeit, als Smith Mitglied der Adverts war und bedient sich musikalisch sämtlicher Punkrock-Klischees. Das Lied beginnt mit einem einzigen übersteuerten E-Gitarrenton. Es folgt die klassische Taktvorgabe, „Eins, zwei, drei, vier“, ersetzt durch die Worte: “One, chord, won, – ders”. Danach setzen Schlagzeug und Gitarre ein und schlagen einen energischen Rhythmus, zu dem Smith den Text brüllt. Anstelle eines Refrains wird das letzte Wort des jeweiligen Absatzes lang über mehrere Höhen und Tiefen gedehnt. Der Text treibt ein Spiel mit dem englischen Wort “wonder”, welches man als Substantiv mit „Wunder“ übersetzt. Hier wird es zusätzlich als Verb gebraucht um etwas in Frage zu stellen. Die Gruppe, die sich mit diesem Lied vorstellt, fragt sich, ob sie nicht doch noch etwas üben sollte und im nächsten Jahr mit New Wave wiederkommen sollte, um dann den Geschmack des Publikums sicher zu treffen. Die Musiker kommen jedoch zu dem Schluss, dass es ihnen egal wäre, ob man Gefallen an ihnen finden würde oder nicht. Diese Meinung bringen sie im letzten Satz, der am Ende des Liedes zwölfmal wiederholt wird, deutlich zum Ausdruck: “The Wonders don’t care – we don’t give a damn!”Als zweiter Song im Album wird die 24 Jahre jüngere, hier erstmals veröffentlichte Komposition Only One Flavour gegenübergestellt. Der melodische Rocksound und ein eingängiger Refrain lassen das Lied ausgereifter wirken, während sich der Text mit nahezu demselben Thema befasst. Es geht dabei um den Albtraum einer überkonformen Gesellschaft, in der jeder die gleiche Musik hört, dieselbe Kleidung trägt und nur eine Richtung vorgegeben ist, die jeder einzuschlagen hat. === Jugend === Bored Teenagers hat Smith im Alter von achtzehn Jahren geschrieben, als er selbst noch auf dem Land lebte und dort keine Möglichkeit sah, seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Seinen Unmut darüber wird er in diesem knapp zweiminütigen Punksong los. Wolfgang Büld wählte das Stück als Titelmelodie für seinen deutschen Fernsehfilm Brennende Langeweile aus dem Jahr 1979, in dem Smith als Sänger der Adverts eine Rolle übernahm.Gather Your Things and Go hat mit seinem ruhigen, gleichmäßigen Sound, den Charakter eines Roadsongs und auch die Textzeile: “Get on your bike, gather your things and go!” lässt zunächst an Bikerfreiheit denken. Die Handlung liegt jedoch fern ab von dieser Romantik, denn es geht um arbeitslose Sechzehnjährige, die von den Behörden mit den Worten: „Haut ab! (On yer bike!)“ vor die Tür gesetzt werden. Hintergrund des Liedes ist Teil einer Rede des konservativen Politikers Norman Tebbit aus den achtziger Jahren. Tebbit äußerte, dass er in den dreißiger Jahren mit einem arbeitslosen Vater aufgewachsen sei, der schließlich auch nicht rebelliert, oder die Hände in den Schoß gelegt hätte, sondern sich auf sein Fahrrad setzte und so lange nach Arbeit gesucht hätte, bis er welche gefunden hatte. So entstand der Slogan ”On yer bike!“, mit dem arbeitslosen Jugendlichen jegliche Unterstützung verweigert wurde. In Generation Y, in der ursprünglichen Aufnahme 1998, eine rein mit akustischen Instrumenten gespielten Ballade, bringt Smith seine Enttäuschung über die Ende der siebziger Jahre Geborenen zum Ausdruck, die kein Ziel für irgendeinen politischen Einsatz vor Augen haben. Smith äußert sich wie folgt zu diesem Thema: === Macht und Geld === Das schwungvolle Lied My String Will Snap spielt Smith jedes Mal, nachdem er während eines Konzerts eine neue Gitarrensaite aufziehen muss. Im Booklet witzelt er darüber, dass er es eigens zu diesem Zweck geschrieben hat. Tatsächlich geht es jedoch um den Geduldsfaden, der ihm reißen würde, wenn die Regierenden weiterhin so an ihm zerrten. Er warnt vor der Energie, die dann frei werden würde. Ein treibender schneller Rhythmus und der Einsatz aller Instrumente unterstreichen den rebellischen Text. Ready for the Axe to Drop begleitet ein aggressiver Rocksound und warnt alle Staatsoberhäupter, die aus lauter Ehrgeiz und Machthunger Krieg anzetteln. Sie sollen schon mal ihren Hals für das Fallbeil frei machen, das sie treffen wird, wenn sie danach in den Minenfeldern stehen und zurückgeschossen wird.In Immortal Rich kritisiert Smith, mit welcher Dekadenz wir in den wohlhabenden westlichen Industrieländern unseren Reichtum „genießen“ und in unserer Überflussgesellschaft den wahren Wert der Dinge vergessen haben. Wir denken, alles sei mit Geld zu bezahlen. Die Musik ist sehr rockig, mit einer eingängigen Melodie, die im Refrain vom „Hosenchor“ unterstützt wird. === Naturwissenschaft und Technik === Der Erzähler in Gary Gilmore’s Eyes wacht nach einer Hornhautverpflanzung im Krankenhaus auf und nimmt wahr, dass ihm ein Organ des hingerichteten Gary Gilmore verpflanzt wurde. Er kann es nicht verkraften, dass er fortan durch die Augen eines Mörders blickt und befürchtet, dass diese von ihm Besitz ergreifen würden. Er beschließt die Lider für immer geschlossen zu halten. Das Lied beginnt zur Tempovorgabe des Schlagzeugs mit einem geheimnisvoll geflüsterten: “Gary Gilmore’s eyes”. Nach ein paar Gitarrenklängen und einer deutlichen Betonung auf dem ersten Wort des Satzes “I ’m lying in a hospital”, setzt die Musik ein, die den energisch gesungenen Text lediglich rhythmisch unterstützt. Der Titel war einer der ersten Erfolge der Adverts und wurde bereits 1991 von den Toten Hosen für ihr Album Learning English Lesson One unter Teilnahme Smiths gecovert. The Day We Caught the Big Fish hat den Charakter eines Shantys, wobei das Keyboard ein Schifferklavier ersetzt. Es wird die groteske Geschichte von ein paar Fischern erzählt, die kräftig zupacken müssen, als ihnen eines Tages ein kleines Atom-U-Boot ins Netz geht. Nach diesem Tag wurden sie nie wieder gesehen. Im amerikanischen Musikmagazin Goldmine stand am 12. Juni 1996 folgendes über den Song: Runaway Train Driver ist die fiktive Geschichte eines Lokführers, der sich im Leben einflusslos und unbedeutend fühlt. Bei einem Castortransport, im Text mit den Worten: “It’s a loaded son of a gun with the hammer cocked” beschrieben, sieht er die Möglichkeit, sich einen „Namen“ in der Öffentlichkeit zu machen und entscheidet sich, die Geschwindigkeit der Lok zu steigern und den Zug einem fatalen Ende entgegenzusteuern. Die Musik gibt den Rhythmus eines Zuges wieder, der über die Gleise donnert. Es gibt zweierlei Refrains: “I’m a runaway train driver, heading off the rails” und “This is not the green train”. Die deutsche Übersetzung für „Runaway Train“ ist „Zug außer Kontrolle“. Der Zug hat kein grünes Licht und darf nicht mit Höchstgeschwindigkeit fahren. 2002 erschien ein Cover des Stückes auf der B-Seite der Single Nur zu Besuch von den Toten Hosen und 2007 in der Neuauflage von Crash-Landing. === Verlierer der Gesellschaft === Der Mann, der in Expensive Being Poor von sich selbst erzählt, hat auch in schlechten Lebensverhältnissen seinen Humor nicht verloren und betont im Refrain, dass er gut aussieht, wenn er verzweifelt ist. Weil der preisgünstige Supermarkt zu weit entfernt ist, bezahlt er für seine Lebensmittel mehr. Das Auto wäre sicher längst aus dem Verkehr gezogen worden, wenn er denn je eines besessen hätte. Sein Fernseher ist kaputt und den Eintritt für das Kino kann er sich nicht leisten. Trotzdem macht er „gute Miene zum bösen Spiel“ und schlägt sich „gerade mal so“ durchs Leben. Begleitet wird die Aufzählung seiner faden Alltagsprobleme von monotonen Gitarren- und Schlagzeugklängen, einem wie Weihnachtsglöckchen klingenden Keyboard und dezentem Chorgesang. Lediglich während des Refrains gewinnt der Sound etwas an Höhen und Tiefen. Dennoch klingt die Musik hier etwas kräftiger als in der ursprünglich 1998 erschienenen, rein akustischen Version des Songs. Wim Wenders nahm den Titel in den Soundtrack des Films Land of Plenty auf. Auch die märchenhafte Lyrik in Lion and the Lamb, einer poetischen Ballade, hat Bezug zur Überschrift des Albums. Selbst wenn dein Leben bisher von wenig Erfolg gekrönt ist, bist du trotzdem wertvoll: “I see you sparkle in the mud, like a little diamond in the rough, ready for the cut, ready for the cut.” Weiter heißt es im Text, dass man nicht aus jedem Kampf als Sieger hervorgehen könne, manchmal wäre man eben das Opferlamm. Dies sei Plan der Natur und nicht zu ändern. Jedoch dürfe man sich nicht mit allem abfinden und müsse sich um seine Belange selbst kümmern, denn es würde kein Erlöser kommen, der das Leben für einen in die Hand nimmt. Das predigt Smith im nächsten Titel Lord’s Prayer, der englischen Bezeichnung für das Vaterunser, das hier allerdings die gegenteilige Aussage hat. Im Begleitheft schreibt Smith über den Titel: “I once sold this song for £150. Who says religion is worth nothing?” Smith hatte die Komposition an The Lords of the New Church verkauft, die den Titel 1985 auf ihrem Album Killer Lords veröffentlichten.Im abschließenden Titelsong Useless, der einen Bluescharakter hat, begleitet sich Smith einzig mit der akustischen Gitarre und singt mit heiserer Stimme, wie wertlos man sich vorkommt, wenn man sich jahrelang im Geschäftsleben redlich bemüht hat, dann wegen der schlechten Wirtschaftslage seinen Arbeitsplatz verliert und durch das soziale Netz fällt. Als Überschrift hierfür schreibt Smith im Booklet: “Nothing and no-one is useless. You can’t use a hammer to turn a screw, or a screwdriver to bang in a nail. What they believe to be useless is only waiting to find its use.” == Video und Vinyl == Im Musikvideo Only One Flavour des Regisseurs Sven Offen aus dem Jahr 2001 spielen die Toten Hosen an einem verregneten Tag auf dem Dach der ehemaligen Diamantmehl-Fabrik im Hafen von Düsseldorf. T. V. Smith singt im Vordergrund und bewegt sich lebhaft zur Musik, während sich Campino, der sonst dominante Frontmann der Toten Hosen, weitgehend im Hintergrund hält und optisch durch eine getönte Brille und das schwarze längere Haar kaum wiederzuerkennen ist.2004 veröffentlichte das Bochumer Label Dirty Faces Records das Album Useless als Schallplatte und zusätzlich auf farbig gesprenkeltem Vinyl in limitierter Auflage von 525 Stück. Eine weitere Ausgabe des Albums in pinkfarbenem Vinyl erschien im Jahr 2017 bei Drumming Monkey Records. == Wirkung == Die „Useless-Tour“, durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, auf der die Toten Hosen in Düsseldorf und Zürich ein Gastspiel gaben, war gut besucht. Bei den großen Radiostationen fand das Album kaum Beachtung, und in den Chartlisten sucht man vergeblich danach. Dennoch fand die deutsche Clubszene Interesse an T. V. Smith und es gelang ihm, dort Fuß zu fassen. Auch bei kleineren Radiostationen und Fanzines ist Smith bis heute ein gern gesehener Gast. Er verkauft im deutschsprachigen Raum inzwischen mehr Platten als in Großbritannien.Stephan Hageböck schreibt auf laut.de über Useless von einem Album, das den Bogen von 1977 über die 1980er Jahre hin zu dem spannt, was man in Deutschland im Jahre 2001 für Punk hält, und er meint weiterhin Punk sei 1979 nicht wirklich gestorben und es hätte ihn schon vor den Sex Pistols gegeben. Punk sei in all denen, die ihn leben wollen, vielleicht sogar in manchem Highschool-Pickel-Kid. In diesem Sinne sei Useless sicherlich kein großes, aber dennoch ein gutes, wichtiges Album.Der Rezensent im Artikel Immer Punk geblieben im Musikmagazin Access! meinte, es sei „erstaunlich wie frisch sich dieser Haufen altgedienter Punkrocker auf Useless präsentiere“. Useless sei „eine durchweg gelungene Werkschau mit vielen Highlights aus dem über 20-jährigen Songwriterschaffen, die der querköpfige Brite mit den Toten Hosen als Backing Band einspielte – als gäbe es in England nicht genug Punkrock-Youngster, die etliche Gliedmaßen dafür gäben, einmal mit einem T. V. Smith auf der Bühne stehen zu dürfen.“Henning Richter bezeichnete das Album in der Zeitschrift Metal Hammer als „eine saftige Punkproduktion voll melodiöser Hämmer.“ Smiths Songs kämen „ohne Schnörkel daher, aber immer auf den Punkt“. Zudem würde „es Spaß machen, sich mit den kritischen Texten des ungezähmten Überlebenden der alten Garde auseinander zu setzen.“ == Weblinks == Songtexte auf der offiziellen Website von T. V. Smith Musikvideo zu Only one Flavour auf der Webpräsenz des New Musical Express. Useless bei AllMusic (englisch) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Useless
Vertebral Heart Score
= Vertebral Heart Score = Der Vertebral Heart Score (englisch für ‚Wirbel-Herz-Wert‘, Abkürzung VHS) – auch Vertebral Heart Size (engl. für ‚Wirbel-Herz-Größe‘), Vertebral Heart Scale (engl. für ‚Wirbel-Herz-Maßstab‘) oder Herzwirbelsumme – ist eine anhand einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs bei Tieren gewonnene Messgröße, die eine Beurteilung der Herzgröße unabhängig von der Größe des Patienten erlaubt, ähnlich dem Herz-Thorax-Quotienten in der Humanmedizin. Der VHS wird vor allem bei Haushunden bestimmt und dient der Erkennung einer Herzvergrößerung, insbesondere bei mit einer Herzerweiterung einhergehenden Herzerkrankungen (Dilatative Kardiomyopathien). Bei der Methode werden Längs- und Querachse des Herzens auf die Brustwirbelsäule ab dem vierten Brustwirbel übertragen und die Anzahl der Wirbel bestimmt, welche diese Strecken einnehmen. Der VHS wurde 1995 von Buchanan und Bucheler etabliert. Ein VHS < 10,5 spricht für eine normale Herzgröße beim Hund, für einige Rassen können noch höhere Werte als gesund angesehen werden. == Bestimmung und Normwerte == Der VHS wird zumeist anhand einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs in Seitenlage bestimmt. Auf dem Röntgenbild werden die Strecke von der Aufzweigung der Luftröhre zur Herzspitze sowie eine rechtwinklig dazu verlaufende Strecke an der breitesten Stelle des Herzens ermittelt. Für Hunde mit einer starken Vergrößerung des linken Vorhofs schlägt Buchanan vor, das obere Ende der Längsachse am angehobenen linken Bronchus anzusetzen. Bei älteren Katzen, bei denen die lange Herzachse oft fast parallel zum Brustbein verläuft, wird statt der Luftröhrenaufzweigung die Basis der Vene des vorderen Lungenlappens als Messpunkt empfohlen. Die Vermessung der Herzachsen kann auch auf einer Röntgenaufnahme in Rückenlage erfolgen. Allerdings ist beim Hund bei dieser Projektion der linke Vorhof nicht an der Bildung der Herzsilhouette beteiligt.Die beiden Strecken werden auf die Brustwirbelsäule, beginnend jeweils am Vorderende des vierten Brustwirbelkörpers, übertragen. Anschließend wird die Anzahl der Wirbel bestimmt, die diese Strecken einnehmen. Wenn das Ende der Strecke keinen ganzen Wirbel mehr umfasst, wird dieser Teilwirbel auf ein Zehntel genau ermittelt: Reicht also beispielsweise die Länge der Längsachse vom Anfang des vierten bis zur Mitte des neunten Brustwirbels, so beträgt der Wert für diese Strecke 5,5. Die Länge eines Wirbelkörpers zusammen mit der zugehörigen Bandscheibe dient dabei als ein die Größe des Individuums reflektierendes, relatives Längenmaß. Da die Wirbelkörperlängen innerhalb der Wirbelsäule variieren, ist es von Bedeutung, stets mit einem definierten Wirbel zu beginnen. Der in der Humanmedizin zur Größenbeurteilung des Herzens herangezogene Herz-Thorax-Quotient ist bei Hunden wegen der großen Rasseunterschiede in der Brustkorbform nicht geeignet. Der Vertebral Heart Score ist die Summe der Wirbel, die Längs- und Querachse einnehmen. Ein VHS bis 10,5 (Hund) bzw. 8,1 (Katze) gilt als normal, höhere Werte sprechen für eine Herzvergrößerung (Kardiomegalie). Für das Erkennen einer Herzverkleinerung (Mikrokardie) wird der VHS nicht herangezogen. Dafür wird die Anzahl der Zwischenrippenräume bestimmt, über die die Herzsilhouette reicht. Eine Herzverkleinerung ist in der Regel nicht durch eine Herzerkrankung, sondern durch einen Blutvolumenmangel bedingt. Das Herz nimmt dabei weniger als zwei Zwischenrippenräume ein.Es gibt einige Hunderassen, für die noch größere VHS typisch sind. So gilt für den Deutschen Boxer ein Normalbereich von 10,8 bis 12,4, für Französische und Englische Bulldoggen von 11 bis 14,4 und für den Boston Terrier von 10,3 bis 13,1. Für weitere Rassen (Zwergspitz, Cavalier King Charles Spaniel, Mops, Whippet und Labrador Retriever) können noch Werte bis 11,5 als physiologisch angesehen werden.Die Beziehung zwischen Herz- und Brustwirbelgröße wurde mittlerweile auch bei anderen Tierarten untersucht. Onuma et al. ermittelten bei Hauskaninchen mit weniger als 1,6 kg Körpermasse einen mittleren VHS von 7,55, bei schwereren Tieren von 8. Die gleiche Arbeitsgruppe stellte beim Frettchen die Herzachsen in Bezug auf die Länge des sechsten Brustwirbelkörpers (Th6) dar. Bei Weibchen betrug die Herzlängsachse das 3- bis 3,3-Fache, die Querachse das 2,2- bis 2,4-Fache der Th6-Länge, für männliche Tiere das 3,2- bis 3,7-Fache beziehungsweise das 2,3- bis 2,7-Fache. Für Alpaka-Lämmer wurde ein mittlerer VHS von 9,36 ermittelt, für den Katta von 8,9.Beim Menschen wird zur Größenbeurteilung des Herzens der Herz-Thorax-Quotient (cardiothoracic ratio, CT-Quotient) ermittelt. Dabei werden anhand einer Aufnahme im Stehen von vorn die Strecken von der Mittellinie zum äußersten rechten und linken Herzrand bestimmt und die Summe beider Strecken zum Querdurchmesser des Brustkorbs in Höhe der rechten Zwerchfellskuppel in Beziehung gesetzt. Das Verhältnis sollte 1:2 nicht überschreiten. == Einflussfaktoren und Fehlerquellen == Die Festlegung der Streckenendpunkte und damit die Ermittlung der Länge der Herzachsen und des VHS sind subjektiven Einschätzungen unterlegen. In einer Studie schwankte der VHS je nach Untersucher um bis zu eine Wirbellänge. Werden die Messungen jedoch durch erfahrene Tierärzte vorgenommen, beträgt der Variationskoeffizient nur 2,8 % und die erhobenen Werte korrelieren gut mit den Befunden anderer Untersuchungsmethoden des Herzens (Herzultraschalluntersuchung, EKG). Das Alter hat bei Hunden keinen Einfluss auf den VHS, während gesunde junge Katzen einen leicht höheren VHS aufweisen und erst im Alter von neun Monaten die für erwachsene Katzen typischen Werte auftreten. Geschlecht und Brustkorbform beeinflussen den VHS nicht. Die Aufnahme sollte immer in maximaler Einatmung gemacht werden, da in der Phase der Ausatmung die Herzgröße zwischen Systole und Diastole stärker schwankt.Vor allem Flüssigkeitsansammlungen oder Fetteinlagerungen im Herzbeutel können zu einer Überschätzung der Herzgröße führen, da die röntgenologisch erfassbare Herzsilhouette eigentlich den normalerweise dem Herzen eng anliegenden Herzbeutel repräsentiert. Flüssigkeitsansammlungen im Herzbeutel führen zu einem VHS größer als 12. Bei den vor allem bei Boston Terrier, Bulldoggen und Mops vorkommenden Halb- und Keilwirbeln im Bereich der Brustwirbelsäule ist die Wirbelkörperlänge vermindert, was zumindest teilweise für die höheren VHS-Werte bei diesen Rassen verantwortlich ist. Miteinander verwachsene Wirbel (Blockwirbel) verfälschen den VHS ebenfalls. Ob der VHS auch seitenabhängig ist, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. In einigen Studien war der VHS bei Aufnahmen in rechter Seitenlage etwas größer als bei solchen in linker Seitenlage, vermutlich weil der Abstand des Herzens zum Röntgenfilm etwas größer ist, was zu einer leicht vergrößerten Abbildung führt. Bei Verlaufsuntersuchungen sollte daher immer die gleiche Seite gewählt werden. == Aussagekraft == Insbesondere beim Hund ist die Variabilität der Herzgröße relativ hoch. Die Spezifität (Richtig-negativ-Rate) des Verfahrens wird beim Hund mit 76 %, die Sensitivität (Richtig-positiv-Rate) mit 80 % angegeben. Bei Katzen ist die Spezifität des VHS akzeptabel, seine Sensitivität für das Erkennen von Herzerkrankungen aber nur gering. Das hängt vor allem damit zusammen, dass bei Katzen vorwiegend Erkrankungen mit Verdickung der Herzwand (Hypertrophe Kardiomyopathien) auftreten. Die durch die konzentrische Verdickung der Herzkammerwand entstehende Einengung des Innenraums der Herzkammern muss sich jedoch nicht in einer Vergrößerung der äußeren Silhouette niederschlagen.Mit der Schwere einer Herzerkrankung nimmt die Zuverlässigkeit des VHS sowohl beim Hund als auch bei der Katze zu. Vorteile der röntgenologischen Herzuntersuchung sind, dass ein Röntgengerät in vielen Tierarztpraxen verfügbar ist und auf dem Röntgenbild auch Formveränderungen der Herzsilhouette infolge von Vergrößerungen einzelner Herzabschnitte sowie herzbedingte Lungenveränderungen (Lungenödem, Stauung der Lungengefäße) erkennbar sind. Die Bestimmung des VHS ist somit ein sinnvoller Beitrag zur Herzdiagnostik. Für die meisten Herzerkrankungen bei Hund und Katze ist jedoch die Herzultraschalluntersuchung die sensitivere Untersuchungstechnik, für Herzrhythmusstörungen und Frühformen der dilatativen Kardiomyopathie die EKG-Untersuchung, insbesondere das Langzeit-EKG. Die Kombination aus Herzultraschall und Langzeit-EKG ist bei den dilatativen Kardiomyopathien der „Goldstandard“, es kann demzufolge keine Aussage darüber getroffen werden, ob diese eventuell auch falsch positive oder falsch negative Ergebnisse liefert. == Literatur == Michael Deinert: Therapie erworbener Herzerkrankungen bei Hund und Katze. Enke, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8304-1148-2, S. 22–24. W. H. Adams und Silke Hecht: Herz und große Gefäße. In: Silke Hecht (Hrsg.): Röntgendiagnostik in der Kleintierpraxis. 2. Auflage. Schattauer, Hannover 2012, ISBN 978-3-7945-2812-7, S. 181–203. == Weblinks == Markus Killich und Gerhard Wess: Röntgendiagnostik: Bestimmung der Herzgröße, Ludwig-Maximilians-Universität München James Buchanan Cardiology Library: Vertebral Heart Size (VHS) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Vertebral_Heart_Score
Werkverzeichnis des Meisters von Meßkirch
= Werkverzeichnis des Meisters von Meßkirch = Das Werkverzeichnis des Meisters von Meßkirch ist eine Bestandsübersicht des Œuvres eines namentlich unbekannten, mit dem Notnamen Meister von Meßkirch bezeichneten Renaissancekünstlers aus Süddeutschland. Die Liste orientiert sich an dem 1933 von dem Kunsthistoriker Heinrich Feurstein erstellten Werkverzeichnis und dem Katalog zur Großen Landesausstellung „Der Meister von Meßkirch – Katholische Pracht in der Reformationszeit“ vom 8. Dezember 2017 bis 2. April 2018 in Stuttgart. == Geschichte des Œuvres == Der Meister von Meßkirch war ein hauptsächlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an der Oberen Donau tätiger Künstler, dessen Hauptwerk im Auftrag der in Meßkirch residierenden Grafen von Zimmern entstand. Durch Erbfolge und die besondere Beziehung Joseph von Laßbergs zum Haus Fürstenberg kamen bedeutende Teile des Werkes in die Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen. Von einem ihrer späteren Leiter, Heinrich Feurstein, stammt deshalb auch das erste systematische Werkverzeichnis. Neben den zunächst im Familienbesitz gebliebenen Hausaltären wie den Sigmaringer Marientafeln, dem Falkensteiner Altar, dem Sigmaringer Hausaltärchen und dem Wildensteiner Altar und einigen ihm zugeordneten Porträts und Epitaphen sowie den Seccomalereien im Kloster Heiligkreuztal besteht das erhaltene Hauptwerk des Meisters aus der Altarausstattung für die Kirche Sankt Martin in Meßkirch. Diese Altarausstattung wurde in den Jahren 1535–1540 von ihm und, wie die unterschiedlichen qualitativen Ausfertigungen belegen, von seinen Werkstattmitarbeitern gefertigt. Auf der Basis der erhaltenen Mitteltafeln, Zuordnung einzelner Heiliger zu spezifischen Altarstiftungen und den baulichen Gegebenheiten, waren es bis zu zwölf Altäre mit jeweils einer Mitteltafel, zwei beidseitig bemalten Flügeln und je zwei Standflügeln, also 12 Mittelstücke und 72 Flügelbilder. Heute bekannt sind 9 Mittelteile und eine Kopie eines Mittelteils sowie 58 Flügelbilder. Nur vier der Altäre, der Hauptaltar (Hochaltarretabel), zwei heute in Sankt Gallen befindliche Altäre (Abendmahlretabel, Versuchungsretabel) und ein weiterer Nebenaltar, lassen sich im ungefähren Werkszusammenhang rekonstruieren, auch wenn die Einzelteile über mehrere Museen und Standorte verteilt sind. Die Kirche wurde im Jahr 1772 unter der Mitarbeit von Meinrad von Au im Stil des Rokoko grundlegend umgestaltet und die Altäre zunächst eingelagert, möglicherweise auch in benachbarten Kirchen weiterverwendet. === Der Weg des Œuvres in Sammlungen und Museen === Bis auf einige wenige Ausnahmen – die Fresken in Heiligkreuztal, die aber nicht mehr sehr gut erhalten sind, das Bildnis des Eitelfriedrich III. von Zollern (1561), das Sigmaringer Hausaltärchen sowie die Mitteltafel des Dreikönigaltars – befinden sich die Werke heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext, sondern verstreut in Museen und Sammlungen auf zwei Kontinenten. Frühromantische Autoren wie Friedrich Schlegel, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck hatten in ihren Schriften zu einer Wiederentdeckung der mittelalterlichen Tafelmalerei aufgerufen. Durch die Säkularisation, aber auch durch die Mediatisierung und die dadurch bedingte Neuorganisation der Kirchenverwaltung (im hier betrachteten Gebiet: Auflösung des Bistums Konstanz, Neugründung der Bistümer Freiburg und Rottenburg), war Kirchengut nicht nur in den Klöstern und Stiften, sondern auch in Stadt- und Dorfkirchen in neue und unsichere Eigentumsverhältnisse gekommen. Privatsammler bekamen die Möglichkeit, sich solches Kulturgut anzueignen. Obwohl heute oft die Klage über den Verlust von Kulturgut in jener Zeit in den Vordergrund gestellt wird, bewirkte dies, dass Kunstwerke der im Zeitalter von Barock und frühem Klassizismus verpönten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst, die sich bedingt durch diesen Stilwandel schon nicht mehr am originalen Aufstellungsort befand, sondern oft eingelagert war oder ganz zweckentfremdet genutzt wurde, sowohl materiell gerettet als auch ästhetisch rehabilitiert werden konnten. Bei den Werken des Meisters von Meßkirch waren dies hauptsächlich zwei Sammler: Joseph von Laßberg und Johann Baptist von Hirscher. Laßbergs wissenschaftliches Interesse entsprang nicht nur der beginnenden Germanistik, sondern auch der ebenfalls gerade beginnenden Kunstgeschichte als Wissenschaft, geprägt von der oben erwähnten romantischen Ästhetik. Er betrieb langjährige Studien, in denen er eine oberschwäbische Abstammung der Holbein-Familie beweisen wollte, inklusive eines angeblichen Aufenthalts Holbeins bei den Grafen von Zimmern. Er schrieb die von ihm gefundenen Werke des Meisters von Meßkirch zeitlebens Hans Holbein zu.Neben dieser Holbein-Forschung waren die Tafelbilder für Laßberg Tauschobjekte, um damit Handschriften zu erwerben, so zum Beispiel die Sankt Galler Versuchungs- und Abendmahlsretabeln im Tausch mit Bischof Carl Johann Greith aus dessen Bibliothek noch in den 1850er Jahren. Oder sie waren Geschenke und Tausche unter Freunden und Verwandten wie Der Heilige Werner für Werner von Haxthausen.Johann Baptist von Hirscher war Theologe; in seinen Schriften finden sich keine Gedanken zu kunstgeschichtlichen Themen. Und dennoch stellen die 250 Gemälde und Schnitzwerke, die sich aus den Unterlagen über die Verkäufe aus seiner Sammlung rekonstruieren lassen, eines der geschlossensten Ensembles spätmittelalterlicher Kunst dar, die ein Privatsammler in Süddeutschland jemals zusammengetragen hat. ==== Sammlung Hirscher ==== Mit dem Sammeln von Kunstwerken kam Hirscher erstmals beim Besuch der Galerie des Fürsten Ludwig zu Oettingen-Wallerstein im Jahr 1816 in Berührung. Er begann unmittelbar mit dem Sammeln mittelalterlicher Kunst und unterbreitete Wallerstein bereits 1821 ein Angebot, das dieser nicht annahm. Aus dem Angebot lässt sich aber rekonstruieren, welche Werke des Meisters von Meßkirch damals schon in Hirschers Besitz waren. „Von Hans Holbein - eine Grablegung 2 × 2 1/2 Schuhe“„Von demselben - eine Auferstehung Christi 2 1/4 × 2 Schuhe“„Von demselben - 15 Stücke, z.T. doppelt bemalt, und einzelne Heilige vorstellend. Es befindet sich auf je einer Seite ein Heiliger. Einige haben Goldgrund 2 × 3/8-4/8 Schuhe“„Außer der inneren Glaubwürdigkeit haben diese Bilder sämtlich das Zeugnis des Freiherrn von Laßberg (Herausgeber der Sammlung altdeutscher Gedichte) für sich, welcher von einer anderen Seite her einen Teil dieser ehemals zusammengehörigen Bilder erworben und versichert hat, daß er es urkundlich habe, daß dieselben von dem Basler Holbein seien […]“ Die Tafeln scheinen zu diesem Zeitpunkt noch nicht gespalten worden zu sein. Nimmt man die heute der Sammlung Hirscher zugeschriebenen Werke, so fehlen zwei Tafeln. Vier Rückseiten scheinen ebenfalls verschollen zu sein. Wie seine späteren Verkäufe zeigen, besaß er über dieses Angebot hinaus noch weitere Werke des Meisters von Meßkirch, die er erst später zum Verkauf anbot. Hirscher gab niemals Auskunft über den Ort, von dem seine Kunstwerke stammten oder von wem er sie erworben hatte. Dass es ihm dennoch nicht um den reinen Gelderwerb ging, wird dadurch deutlich, dass er seine Sammlung in der Regel en bloc an ausgewiesene Kunstsammler oder Institutionen verkaufte. Der erste dieser Verkäufe erfolgte an den Stuttgarter Kunstsammler Carl Gustav Abel im Jahr 1834. Dieser erwarb am 26. Juli insgesamt 61 Gemälde zum Preis von 2.100 Gulden.In einer Aufstellung zur Sammlung Abel bei Franz Kugler sind 1837 folgende Werke, welche dem Meister von Meßkirch zugeordnet werden können, vermerkt: Hans Holbein, der Ältere Aus einer Kirche in MesskirchMaria Magdalena Johannes Baptist St. Martin St. WernherBeham (?) Aus einer Kirche zu Meßkirch Vier Bilder mit MärtyrernZusätzlich noch aus Konstanz Votivtafel der Familie von Bubenhofen (Sic dilexit Deus mundum) Die Werke des Meisters von Meßkirch waren 1859 nicht im Verkauf der Sammlung Abel an Württemberg enthalten. Die an Abel verkauften Werke gingen alle in den privaten Kunsthandel. Aus der Sammlung Hirscher waren das die beiden Mitteltafeln M1, M2, die zwischenzeitlich von ihren Vorderseiten getrennten Rückseiten (Außenseiten) 4, 8, 9, eine Schauseite ohne bekannte Rückseite (10) und die nur einseitig bemalten Standtafeln 6, 7, 11, 12 und 13. Im Jahr 1850 kam ein von Gustav Friedrich Waagen in die Wege geleiteter Verkauf weiterer Teile der Sammlung Hirscher an die Gemäldegalerie des königlich preußischen Museums in Berlin zustande. Vom Meister von Meßkirch waren dies fünf Schauseiten, die nun in einer neuen Montierung präsentiert wurden. Ein weiterer größerer Verkauf von insgesamt 109 Bildern zum Gesamtpreis von 16.000 Gulden aus der Sammlung Hirscher erfolgte im Jahr 1858 an das Großherzogtum Baden.Vom Meister von Meßkirch waren dies die Festagsseiten Der Heilige Veit und Der Erzengel Michael als Seelenwäger (Innenseiten 8 und 9) sowie Die Heilige Lucia (Außenseite 5) und die Mitteltafel M3 (Geißelung Christi und Christus vor Pilatus). Ein Jahr vor seinem Tod wandte sich Hirscher an die württembergische Regierung. Er bot 47 Gemälde und 12 Skulpturen an, die er gerne als Teil der Staatsgalerie Stuttgart sehen wollte. Der Kaufvertrag kam, nur fünf Tage vor seinem Tod, am 29. August 1865 zu Stande. Von den Werken des Meisters von Meßkirch fand der Der Heilige Benedikt im Gebet (S1) Eingang in die Sammlung. Ein weiteres Bild, das zu einem größeren Ensemble zusammenhängender Tafeln gehört, welches sich in Hirschers Sammlung befand, ist heute Bestandteil des Diözesanmuseums Rottenburg. Die Heilige Dreifaltigkeit (D1) kam mit der Sammlung Dursch des Georg Martin Dursch mit dem Ankauf von dessen Sammlung an das Museum. Dursch war ein Schüler Hirschers und wurde von diesem selbst zum Sammeln spätgotischer Holzbildwerke und Tafelmalereien inspiriert. Feurstein vermutet, dass es ebenfalls ursprünglich aus der Sammlung Hirschers stammt. ==== Joseph von Laßberg als Sammler ==== Laßberg ist uns heute vornehmlich als Handschriften- und Büchersammler in Erinnerung. Aber seine Liebe zum Mittelalter inszenierte er auch im eigenen Leben hemmungslos, so in seiner Blauen Stube im Schloss Eppishausen. „Die gemalten Glasscheiben mit den alten Wappen und Bildern; die Tafelrunde in der Mitte des Zimmers mit dem antiken Tintengefäß und alten Büchern und Werkzeugen überdeckt; deutsche Holzgemälde an den Wänden aufgehängt; alte Gewehre und Waffen in den Ecken hingestellt; Schränke mit schönen Bildern von eingelegter Arbeit verziert; ein großer Kopf mit türkischem Tabak gefüllt und eine Anzahl verschiedenartig geformter Tabakspfeifen; selbst die Krüge, Flaschen und Gläser und der Teller auf der Tafel - Alles machte auf den Betrachter einen überraschenden Eindruck.“ Er reagierte auf das Trauma der Französischen Revolution, die darauf folgenden territorialen Umwälzungen und die Zerschlagung der altständischen Ordnung des Reiches mit einem Aufruf zum Sammeln. Er war bemüht, die durch den Wandel seiner Zeit und die Zerstörung der alten Ordnung dem Verlust und der Zerstreuung ausgesetzten Kulturgüter zu bewahren. Einem Kettenbruder, Friedrich Carl von und zu Brenken, schrieb er 1820: „Lassen Sie uns, jeder an seinem Orte, sammeln und bewaren, was wir aus der Flut der Zeiten zu retten vermögen.“ Und seinem Freund Johann Adam Pupikofer schrieb er „Ich habe gesammelt, so viel mir möglich war. Nun legen auch Sie, junger Freund, zum nämlichen Zwecke kräftig die Hand ans Werk! Richten Sie Ihr Augenmerk am schärfsten auf dasjenige, was dem Untergange nahe steht und, einem ungewissen Schicksal preisgegeben, der Rettung bedarf, damit es nicht spurlos verschwinde!“Nach einem Brief aus dem Jahr 1850 an seinen Freund Carl Johann Greith, dem späteren Bischof von Sankt Gallen, erwarb Laßberg 1817 oder 1818 die Altarflügel von den Meßkircher Kirchenpflegern.Einen Beleg für einen Kauf gibt es aber erst für die Jahre 1821/22. Christian Altgraf zu Salm unterstellte Laßberg deshalb in seiner 1950 erstellten Dissertation zum Meister von Meßkirch einen altersbedingten Gedächtnisfehler. Da Hirscher wie Laßberg bereits vor 1821 Werke des Meisters von Meßkirch besaß, ist davon auszugehen, dass Laßberg mehrfach Werke aus Meßkirch bezog. Da nicht bekannt ist, welche Werke er wann bezog, werden in Publikationen meist beide Daten „1817/18“ und „1821/22“ angegeben. Laßberg hatte Elisabeth zu Fürstenberg in der Zeit der Mediatisierung des Fürstentums und in der Vormundschaft ihres Sohnes Karl Egon unterstützt und wurde auch von ihr in seiner Sammlertätigkeit unterstützt. Laßberg scheint auch eine ziemlich freie Hand im Umgang mit den im fürstenbergischen Familienbesitz befindlichen Bildern gehabt zu haben. So sind die Umstände unklar, wie im Rahmen der Restaurierung des Falkensteiner Altars unter der Federführung der Gebrüder Boisserée in München im Jahr 1838 die Bilder des linken Drehflügels (Der Heilige Georg und Der Heilige Johannes der Täufer) an Werner von Haxthausen gelangen konnten, seinen Freund, Kettenbruder und Onkel seiner zweiten Frau Jenny von Droste zu Hülshoff. Ab 1842 verhandelte er mit dem Haus Fürstenberg über den Verkauf seiner Sammlungen (Bücher und Gemälde), der Verkauf erfolgte aber erst 1852 zum Preis von 27.000 Gulden.Einige seiner Bilder kamen auch über den Familienbesitz seiner Töchter in den Kunsthandel. ==== Der Verbleib der Werke ==== Viele der Werke des Meisters von Meßkirch fanden gemeinsam Eingang in größere Museen. Die Werke aus der Sammlung Laßberg fanden zunächst ihren Weg in die Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen, die Werke aus der Sammlung Hirscher in das Berliner Kaiser Friedrich Museum und in die Großherzögliche Gemäldegalerie Karlsruhe. Obwohl die Staatsgalerie Stuttgart auch Werke aus der Sammlung Hirscher übernahm, war darunter kein Werk des Meisters von Meßkirch. Der Grund liegt in der damaligen Ankaufpolitik dieser Sammlungen. In Karlsruhe beauftragte der Großherzog Friedrich I. von Baden den Historien- und Porträtmaler sowie Professor und Lehrer der Antiken- und Malklasse an der Karlsruher Kunstschule Ludwig des Coudres und als Zweitgutachter den Direktor der Großherzoglichen Gemäldegalerie Carl Ludwig Frommel mit der Begutachtung der Kunstwerke. Für die beiden hatte die Sammlung keine Galeriewürdigkeit. Aus dem Angebot Hirschers, das nach heutigem Verständnis illustre Namen beinhaltete, wurden nur fünf Bilder für vorzüglich befunden, 27 für gut, 34 als „respektabler Mittelschlag“ und 11 als „fast werthlos“.Es ist also wenig verwunderlich, dass die Werke des Meisters von Meßkirch, den diese akademischen Maler noch nicht einzuordnen wussten, über die Erben Hirschers und Abels im privaten Kunsthandel landeten, wie zum Beispiel die abgespaltenen Außenseiten der Drehflügel des nur noch rekonstruierbaren Nebenaltarretabels. Sie wurden 1863 über Lempertz an George Gillis Haanen in Köln verkauft, am 9. November 1909 mit der Sammlung von Édouard Louis François Fétis bei Le Roy Frères in Brüssel versteigert und kamen über Frederik Muller, Amsterdam an John G. Johnson, der sie 1917 mit seiner Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Werke, die Laßberg nicht an die Fürstenbergsammlung verkaufte, wie die beiden Standflügel „Der Heilige Kosmas“ und „Ein Heiliger Diakon“, kamen an die Freiin Carla Droste zu Hülshoff als Erbin und sind zuletzt 1934 in der Galarie Caspari in München nachgewiesen. Sie gelten seither als verschollen. Die abgespaltene Außenseite des linken Drehflügels des ehemaligen Hochaltarretabels „Der Heilige Werner“, den Laßberg um 1836 mit Werner von Haxthausen gegen eine Heilige Familie von Jan van Hemessen tauschte, kam über dessen Erben an Hermann von und zu Brenken, von diesem an Richard von Kaufmann und über eine Auktion an Walter von Pannwitz. Nach dessen Ableben wurde die Tafel von seiner Witwe nach Schloss Hartekamp in den Niederlanden gebracht. Im Januar 1941 wurde das Werk über den Kunsthändler Walter Andreas Hofer an Hermann Göring verkauft. Über den Munich Central Collecting Point wurde es an die Staatliche Sammlung des Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed restituiert und ist heute im Bonnefantenmuseum in Maastricht ausgestellt. Nachdem sich das Haus Fürstenberg in den 1990ern bereits von seinem alten Bibliotheksbestand getrennt hatte, begann es Anfang der 2000er, seine Gemäldesammlung Alter Meister aufzulösen. Der Industrielle Reinhold Würth erwarb für einen zweistelligen Millionenbetrag den Großteil der Sammlung, bis auf die Werke, die sich bereits als Dauerleihgaben in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe und in der Staatsgalerie Stuttgart befanden. So kamen die in der Fürstenbergsammlung verblieben Tafeln der Drehflügel des Hauptaltarretabels nach Karlsruhe; die vierte Tafel befindet sich wie oben erwähnt als geschütztes nationales Kulturgut in den Niederlanden. Die beiden Standflügel waren schon früh als Werke Albrecht Dürers in den Pariser Kunsthandel gelangt und 1869 von Franz von Rinecker erworben worden. Sie sind heute Teil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und befinden sich in der Staatsgalerie Altdeutsche Meister in Augsburg. Nur die Mitteltafel „Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“ befindet sich – nun als Seitenaltar – am ursprünglichen Ort, der Stadtpfarrkirche Sankt Martin in Meßkirch. Der Wildensteiner Altar, der sich seit 2002 als Leihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart befand, konnte im Jahr 2012 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung endgültig erworben werden. Nach dem „Ausverkauf kultureller Bedeutung durch das Adelshaus Fürstenberg“ wurde er als „Die Trophäe unter den Neuerwerbungen“ bezeichnet. == Liste der Werke des Meisters von Meßkirch == Heinrich Feurstein hatte 1933 seine Liste nach der alphabetischen Sortierung der damaligen Standorte nummeriert. Dies stimmt mit den heutigen Standorten nicht mehr überein. Die Große Landesausstellung vom 8. Dezember 2017 bis 2. April 2018 in Stuttgart stellte die bisher vollständigste Schau der Werke des Meisters von Meßkirch dar. In der Ausstellung und im Katalog wurde versucht, die einstigen Werkzusammenhänge wieder darzustellen. Da einige wenige Werke nicht ausgestellt werden konnten (mit n.a. markiert), ist die Ausgangssortierung dieser Liste chronologisch nach dem Entstehungsjahr der Werke, bei den Altären aus St. Martin noch nach den dem Stuttgarter Katalog folgenden, rekonstruierten Werkzusammenhängen eingeordnet. Die Liste ist sortierbar: Nach Werkzusammenhang, Sammlung, Inventarnummer, Standort, nach der Katalognummer der Landesausstellung Stuttgart (Tabellenspalte LaSt) und nach Feursteinnummer (Tabellenspalte Fst). == Literatur == Heinrich Feurstein: Der Meister von Meßkirch im Lichte der neuesten Funde und Forschungen. Urban, Freiburg i.Br. 1933. Claus Grimm und Bernd Konrad: Die Fürstenbergsammlungen Donaueschingen. Altdeutsche und schweizerische Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts. Prestel, München 1990, ISBN 3-7913-1000-3. Glaube Kunst Hingabe. Johann Baptist Hirscher als Sammler. In: Diözesanmuseum Rottenburg (Hrsg.): Participare. Schriften des Diözesanmuseums Rottenburg. Band 1. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2015, ISBN 978-3-7995-0690-8. Enno Krüger: Frühe Sammler altdeutscher Tafelgemälde nach der Säkularisation von 1803, Dissertation, Philosophische Fakultät der Rupprechts-Karls-Universität Heidelberg, ZEGK - Institut für Europäische Kunstgeschichte, 21.01.2009 Ingeborg Krummer-Schroth: Meister von Meßkirch. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 16, Duncker & Humblot, Berlin 1990, ISBN 3-428-00197-4, S. 717 f. (Digitalisat). Staatsgalerie Stuttgart, Elsbeth Wiemann (Hrsg.): Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit. Hirmer, München 2017, ISBN 978-3-7774-2918-2. == Weblinks == Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit. Große Landesausstellung Staatsgalerie Stuttgart, 8. Dezember 2017 – 2. April 2018 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Werkverzeichnis_des_Meisters_von_Me%C3%9Fkirch
Wieslauterbahn
= Wieslauterbahn = Die Wieslauterbahn – seltener Wasgaubahn, Wieslautertalbahn oder Lauterbahn genannt – ist eine Eisenbahnnebenstrecke in Rheinland-Pfalz. Sie zweigt im Bahnhof Hinterweidenthal Ost von der Bahnstrecke Landau–Rohrbach ab und führt über Dahn nach Bundenthal-Rumbach. Ihre größte Bedeutung erlangte sie im Ausflugsverkehr. Die Strecke wurde 1911 als eine der letzten innerhalb der Pfalz eröffnet. 1966 folgte als Reaktion auf den konkurrierenden Individualverkehr die Einstellung des Personenverkehrs; davon ausgenommen war lediglich der in Ludwigshafen beginnende Ausflugszug „Bundenthaler“. Im Jahr 1976 kam für diesen Zug ebenfalls das Aus. Bis 1995 gab es noch Güterverkehr. 1997 wurde an Sonn- und Feiertagen wieder Personenverkehr eingeführt, dessen Fortführung nach der Jahrtausendwende zeitweise gefährdet war, inzwischen jedoch mittelfristig gesichert ist. In den Folgejahren wurde das Angebot auf mittwochs und samstags ausgedehnt. Jahrzehntelangen Stilllegungsplänen begegneten die Bewohner der Region wiederholt mit Widerstand und trugen so zum Erhalt der Bahnstrecke bei. == Geschichte == === Erste Initiativen (1862–1870) === Erste Pläne für den Bau einer Eisenbahnstrecke durch den Wasgau beziehungsweise dessen Teilbereich Dahner Felsenland bestanden schon 1862. Die Strecke sollte von Zweibrücken aus über Pirmasens, Kaltenbach, Dahn und Bergzabern verlaufen und bei Winden in die 1855 eröffnete Pfälzische Maximiliansbahn einmünden. Hauptargument war zunächst der sehr ergiebige Holztransport der Gegend.Zusammen mit der 1865 auf voller Länge eröffneten Bahnstrecke Winden–Karlsruhe sollte sie als Teil einer weiteren Abfuhrstrecke für Kohle aus der Saargegend fungieren. Ein zusätzlicher Beweggrund für den Bau einer Strecke durch den Wasgau war das seinerzeit gesehene touristische Potential. Die geplante Bahnlinie stand jedoch in Konkurrenz zur projektierten Südpfalzbahn Landau–Zweibrücken, die weiter nördlich entlang der Queich und der Rodalb über Annweiler verlaufen sollte. Da der Bau einer Wasgaustrecke in Ost-West-Richtung aufgrund der komplizierten Topographie sich als schwierig gestaltet hätte, kam zunächst lediglich die Südpfalzstrecke zum Zuge, die in den Jahren 1874 und 1875 eröffnet wurde. Aus dem Projekt einer Bahn quer durch den Wasgau ging lediglich die 1870 eröffnete Bahnstrecke Winden–Bad Bergzabern hervor. === Weitere Pläne (1870–1900) === Nach dem Deutsch-Französischen Krieg fiel das benachbarte Elsass-Lothringen an das neu gegründete Deutsche Kaiserreich. Unmittelbar daraus resultierten vonseiten der elsässischen Stadt Weißenburg (vormals Wissembourg) Bestrebungen, eine dem internationalen Verkehr dienende Strecke entlang der Wieslauter über Dahn und Selz bis nach Rastatt zu errichten. Im Jahr 1873 bildete sich ein entsprechender Ausschuss. Im selben Jahr konstituierte sich ein weiterer in Dahn, der eine Strecke entlang der Wieslauter projektierte. Parallel dazu legte die Direktion der Pfälzischen Eisenbahnen Pläne einer Bahnlinie von Hinterweidenthal nach Bergzabern vor, die überwiegend entlang der Wieslauter verlaufen sollte. Ein Anschluss nach Weißenburg in Form einer Zweigstrecke war von vornherein mit einbezogen. Obwohl die bayerische Regierung eine Zinsgarantie bereitstellte, verhinderte die Konjunkturlage der 1870er Jahre die Umsetzung dieser Pläne. Erst in den 1890er Jahren kamen die Bestrebungen, die Region mit einem Bahnanschluss zu versehen, wieder auf. Vor allem der Dahner Rentamtmann Ludwig Foohs setzte sich vehement für einen Bahnanschluss seines Heimatortes ein. Jedoch gab es erneut unterschiedliche Vorstellungen über den konkreten Streckenverlauf. Bergzabern wollte die in Winden beginnende Stichstrecke bis nach Dahn verlängert haben, während letztere eine Strecke nach Weißenburg forcierte. Darüber hinaus existierten Pläne einer Verbindung von Bergzabern über Schönau nach Saarburg, die dem überregionalen Verkehr dienen sollte. So begann 1899 von bayerischer Seite die konkrete Planung einer Verbindung in der Relation Pirmasens–Lemberg–Dahn–Weißenburg. Nachdem sich herausstellte, dass mit 7,5 Millionen Mark der finanzielle Aufwand einer solchen Linienführung zu teuer sein würde, fiel die Entscheidung zugunsten einer deutlich billigeren Stichstrecke über Hinterweidenthal bis nach Bundenthal, die von der Südpfalzbahn Landau–Zweibrücken abzweigen sollte. === Genehmigung, Bau und Eröffnung === 1904 wurde das Projekt in einem Gesetz genehmigt. Der staatliche Zuschuss betrug gemäß der „Behandlung der bestehenden Vizinalbahnen und den Bau von Sekundärbahnen betreffend“ insgesamt 1.699.700 Mark. Gegen Jahresende 1907 kam die Detailprojektierung zum Abschluss. Anschließend fanden Verhandlungen für den Erwerb der benötigten Grundstücke statt. Ursprünglich war die Eröffnung der Strecke Anfang 1909 vorgesehen. Tatsächlich wurde erst in dem Jahr mit dem Bau der Strecke begonnen. Die bereits 1905 vorgesehene Verstaatlichung des pfälzischen Eisenbahnnetzes, die erst zum 1. Januar 1909 stattfand, verzögerte den Bahnbau ebenfalls. Eigens für die neu entstehende Bahnstrecke entstand an der Südpfalzbahn zwischen den Unterwegshalten Hauenstein und Hinterweidenthal-Kaltenbach der neue Abzweigbahnhof Kaltenbach Ost. Der Bahnhof Hinterweidenthal-Kaltenbach erhielt die neue Bezeichnung Kaltenbach. Da weder die Station Kaltenbach noch der neue Bahnhof sich in günstiger Nähe zum Siedlungsgebiet von Hinterweidenthal befand, erhielt die Gemeinde an der Nebenbahn einen Bahnhof in unmittelbarer Ortsnähe. Weitere Stationen entstanden in Dahn, Reichenbach, Bruchweiler und Bundenthal. Am 1. Dezember 1911 fand die Streckeneröffnung statt. Der erste Zug fuhr in Richtung Bundenthal mit einer Dampflokomotive der Gattung T 4.I und war mit blau-weißen Fahnen dekoriert. Der Andrang in der Bevölkerung war am Eröffnungstag an allen Bahnhöfen sehr groß. Betreiber der Strecke waren zunächst die Königlich Bayerischen Staats-Eisenbahnen, denen seit knapp drei Jahren das gesamte pfälzische Streckennetz gehörte. === Erste Jahre (1911–1920) === Durch die Inbetriebnahme der Wieslauterbahn erlebte der Tourismus in der Region einen Aufschwung. Dazu verkehrte auf der Bahnstrecke bereits wenige Jahre nach Streckeneröffnung auf Initiative des Pfälzerwald-Vereins jeden Sonntag ein Ausflugszug von Landau bis nach Bundenthal-Rumbach. Ein solcher hatte bereits ab 1906 existiert, jedoch lautete das Fahrtziel in den ersten Jahren Pirmasens. Die Städte Bergzabern und Weißenburg hofften weiterhin darauf, dass die Bahnstrecke ab Bundenthal eine Fortsetzung in Richtung Osten erhielte. Die Regierung in Bayern hatte sich bereits 1910 bereit erklärt, die Verlängerung nach Weißenburg auf dem pfälzischen Gebiet bauen zu wollen, sofern im Gegenzug die Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen bei der geplanten Errichtung einer Magistrale Kaiserslautern–Pirmasens–Trulben–Eppenbrunn–Bitsch mitzögen. Im April 1914 deutete zunächst alles auf die Durchbindung der Strecke bis ins elsässische Weißenburg hin. Der vier Monate später ausgebrochene Erste Weltkrieg verhinderte jedoch den Bau dieser Verbindung. Da Weißenburg (frz. Wissembourg) nach dem Ende des Krieges zusammen mit dem übrigen Elsass wieder zu Frankreich gehörte, kamen die entsprechenden Pläne endgültig zum Erliegen.In der Folgezeit bildeten sich Initiativen, die sich um eine Fortführung in Richtung Süden entlang der Sauer bemühten, um vor allem die bislang abseits gebliebenen Orte Schönau, Fischbach und Ludwigswinkel ans Bahnnetz anzubinden. Nach dem Ersten Weltkrieg begann im Jahr 1919 die militärische Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch alliierte Truppen. Das Einzugsgebiet der Wieslauterbahn lag fortan in der französisch besetzten Zone. Der Bahnbetrieb blieb zunächst in den Händen der Bayerischen Staatseisenbahnen. === Entwicklung unter der Deutschen Reichsbahn (1920–1945) === Zum 1. April 1920 ging die Strecke in das Eigentum der Deutschen Reichsbahn über. 1922 erfolgte die Eingliederung der Strecke in die neu gegründete Reichsbahndirektion Ludwigshafen. Nach Beginn des Ruhrkampfes übernahm das französische Militär Anfang 1923 den Betrieb der Eisenbahnen in den besetzten Gebieten. Dieser Regiebetrieb betraf ebenso die Nebenbahn im Wieslautertal und dauerte bis zum 15. November 1924. Auf Betreiben des französischen Militärs, das im Zuge der Alliierten Rheinlandbesetzung ein Lager in Ludwigswinkel betrieb, entstand ab 1920 die kurzlebige, in Bundenthal beginnende, Wasgauwaldbahn. Ursprünglich war geplant, sie in Normalspur als Fortsetzung der Wieslauterbahn über Niederschlettenbach–Nothweiler–Schönau–Fischbach zu bauen; das Reichsschatzministerium erlaubte aus Kostengründen lediglich eine Ausführung in Schmalspur.1935 modernisierte die Reichsbahn die Strecke. Unter anderem erhielten die Unterwegsstationen mit mechanischen Stellwerken Bauart Bruchsal eine neue Signaltechnik. Im Zuge der Auflösung der Reichsbahndirektion Ludwigshafen fiel die Bahn zum 1. Mai 1936 in den Zuständigkeitsbereich der Saarbrücker Direktion. Zum Bau des Westwalls fand über die Bahnlinie der Transport von Materialien und Arbeitskräften statt, zudem wurde beim Bahnhof Hinterweidenthal Ort ein Eisenbahngeschütz platziert. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges legte die Reichsregierung einen 20 Kilometer breiten Streifen im Bereich der Grenze zu Frankreich als Rote Zone fest, in den die Wieslauterbahn mit einbezogen war. Dies zog die Evakuierung der Bewohner dieses Bereiches nach sich, so dass der Personenverkehr für die Dauer von einem Jahr zum Erliegen kam. Obwohl die Wieslauterbahn im Zweiten Weltkrieg das Ziel mehrerer Luftangriffe war, entstanden kaum größere Schäden. Dennoch musste der Verkehr im weiteren Kriegsverlauf mehrfach eingeschränkt beziehungsweise eingestellt werden. === Der Niedergang nach dem Zweiten Weltkrieg === Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstand die Bahnstrecke der Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen (SWDE), die 1949 in die neu gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) überging. Letztere gliederte die Wieslauterbahn in die Bundesbahndirektion Mainz ein, der sie alle Bahnlinien innerhalb des neu geschaffenen Bundeslandes Rheinland-Pfalz zuteilte. Im Jahr 1956 erhielt Dahn den zusätzlichen Haltepunkt Dahn Süd. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs Dahn musste aufgrund der Kriegsschäden einen Neubau erhalten, der 1959 in Betrieb ging. In den 1950er Jahren entstand zudem zwischen Hinterweidenthal und Dahn ein rund ein Kilometer langes Anschlussgleis zu einem Treibstofflager der NATO. Der in der Nachkriegszeit deutlich zunehmende Autoverkehr bewirkte, dass die Inanspruchnahme der Strecke zurückging. Deshalb beantragte die Deutsche Bundesbahn beim Bundesverkehrsministerium die Einstellung des Personenverkehrs. Zudem hatte die Deutsche Bundesbahn parallel Bahnbusverkehr eingeführt, der weitere Reisende vom Schienenverkehr abzog. Die Deutsche Bundesbahn erklärte unter anderem deshalb den Betrieb der Wieslauterbahn für unrentabel. Am 25. September 1966 stellte sie auf der Strecke der Personenverkehr ein. Die Bevölkerung protestierte gegen dieses Vorhaben so vehement, dass sie die Abschiedsfahrt des letzten fahrplanmäßigen Zuges am 24. September 1966 im Dahner Bahnhof um mehrere Stunden verzögerte. Lediglich der Ausflugszug „Bundenthaler“ verkehrte aufgrund der großen Nachfrage vorerst weiterhin. Im Mai 1976 fuhr auch dieser Zug letztmals. Von Güterzügen abgesehen gelangten fortan ausschließlich Sonderzüge auf die Strecke, so beispielsweise der Zug „Deutsche Weinstraße“. Bereits 1971 wechselte die Strecke im Zuge der Auflösung der Mainzer Direktion in den Zuständigkeitsbereich ihres Saarbrücker Pendants. Der sporadische Güterverkehr kam am 30. Mai 1995 offiziell zum Erliegen, nachdem der letzte Güterzug bereits am 2. Mai verkehrte. Zur selben Zeit war die Bundesbahndirektion Saarbrücken bestrebt, die Strecke komplett stillzulegen. Um dies zu erreichen, legte sie sämtliche Kosten, die zum Unterhalt der Strecke notwendig waren, auf die wenigen Sonderzüge um. === Reaktivierung (1997–2006) === Viele Bürger vor Ort wollten sich mit der Einstellung des Gesamtbetriebes nicht abfinden. Dies führte bereits 1987 zur Gründung des Vereins Eisenbahnfreunde Dahn e. V., dessen Vereinsziele unter anderem beinhalten, die Wieslauterbahn vor der Stilllegung zu bewahren und sie unter Denkmalschutz zu stellen. Die Bemühungen waren bald erfolgreich: Am 1. Juni 1997 folgte die Reaktivierung der Wieslauterbahn zunächst ausschließlich an Sonn- und Feiertagen. Dies führte ebenso zur Reaktivierung des „Bundenthaler“, der zunächst in Neustadt begann. Zunächst verkehrten zwei Zugpaare, deren Anzahl sich bald verdoppelte. Neuer Eigentümer der Strecke war die Verbandsgemeinde Dahner Felsenland. Letztere wendete zudem 180.000 DM zur Sanierung der Bahnanlagen auf, während die Verbandsgemeinde Hauenstein 20.000 DM und der Landkreis Südwestpfalz 100.000 DM beisteuerten. Der Abzweigbahnhof Hinterweidenthal hatte zwischenzeitlich die Bezeichnung Hinterweidenthal Ost erhalten, da seine vorherige Bezeichnung mittlerweile an den im Ortsteil Kaltenbach gelegenen Haltepunkt an der Bahnstrecke Landau–Rohrbach vergeben war. Infrastrukturunternehmen war zunächst die Kuckucksbähnel-Infrastruktur GmbH, die im Elmsteiner Tal seit den 1980er Jahren die gleichnamige Museumsbahn unterhält.Die Strecke war wenige Jahre nach der Reaktivierung erneut von der Einstellung bedroht: So wurden 2001 Pläne der Stadt Dahn bekannt, wonach die Bahntrasse auf einer Länge von 800 Metern einer Umgehungsstraße weichen sollte. Die Verbandsgemeinde Dahner Felsenland unterstützte dieses Vorhaben. Jedoch machte sich der Widerstand vor Ort erneut bemerkbar, Experten kritisierten die geplante Stilllegung ebenfalls. === Jüngere Vergangenheit (seit 2006) === 2006 kam es zur öffentlichen Ausschreibung der Bahnstrecke. Daraufhin bewarben sich insgesamt vier Eisenbahninfrastrukturunternehmen. Den Zuschlag erhielt die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), die die Strecke am 1. September 2007 für die Dauer von zehn Jahren pachtete. Die DB Regio führt neben der AVG weiterhin den Betrieb auf der Wieslauterbahn durch. Die Strecke ist inzwischen Bestandteil des Südpfalznetzes. Vor allem seit den 2000er Jahren stiegen die Fahrgastzahlen kontinuierlich. So erzielte die Wieslauterbahn im Jahr 2009 einen Zuwachs um 40 Prozent; andere Angaben sprechen von mehr als 60 Prozent. Im selben Jahr verkaufte die Verbandsgemeinde Dahner Felsenland die Strecke für 160.000 Euro an die AVG, behielt sich für den Fall einer Streckenstilllegung jedoch ein Rückkaufrecht vor. Der Pachtvertrag mit der AVG wurde über das Jahr 2017 hinaus verlängert. == Streckenverlauf == Im Bahnhof Hinterweidenthal Ost zweigt die Strecke von der Bahnstrecke Landau–Rohrbach ab. Unmittelbar nach der Ausfahrtsweiche befindet sie sich im Besitz der AVG. Zunächst verläuft die in diesem Bereich an Höhe verlierende Bahntrasse parallel zur Hauptstrecke sowie zur Bundesstraße 10, um letztere anschließend zu unterqueren und das Siedlungsgebiet der Ortsgemeinde Hinterweidenthal zu erreichen. Ab dort folgt sie der namensgebenden Wieslauter, die sie zusammen mit einigen ihrer Nebenflüsse im weiteren Verlauf mehrfach überquert. Annähernd parallel verläuft bis Dahn die Bundesstraße 427. Noch vor Dahn befinden sich Abstellgleise sowie ein früherer Gleisanschluss zu einem nahe gelegenen ehemaligen Tanklager.Anschließend passiert die Strecke die Ruine der Burg Neudahn; in diesem Bereich liegt der Haltepunkt Moosbachtal. Auf Höhe des Bahnhofs Dahn befindet sich der Jungfernsprung. Nach dem Haltepunkt Busenberg-Schindhard folgt eine größere Rechtskurve; das Tal wird dort zunehmend breiter. Nach rund 15 Kilometern erreicht sie den Endbahnhof Bundenthal-Rumbach. Die Wieslauterbahn verläuft auf kompletter Länge innerhalb des Landkreises Südwestpfalz. Mit Hinterweidenthal, Dahn, Bruchweiler-Bärenbach und Bundenthal wird dabei das Gebiet von vier Gemeinden durchquert. == Verkehr == === Personenverkehr === ==== Zeit der Bayerischen Staatseisenbahnen und der Deutschen Reichsbahn ==== Der erste Fahrplan verzeichnete insgesamt vier Zugpaare. Drei Jahre später waren werktags zwei weitere hinzugekommen. Eines von ihnen endete bereits in Busenberg-Schindhard. An Wochenenden war das Zugangebot meist etwas breiter gefächert. So fuhren 1914 an Sonn- und Feiertagen acht Paare, von denen eines bis nach Landau durchgebunden wurde. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges reduzierte sich das Angebot etwas. Der Regiebetrieb des französischen Militärs in den Jahren 1923 und 1924 brachte eine Verschlechterung des Angebotes mit sich. Hatte eine Fahrt von Hinterweidenthal nach Bundenthal-Rumbach zuvor 40 Minuten gedauert, stieg sie durch diesen Umstand auf 50 Minuten an. Zudem war das Angebot auf werktäglich vier und am Wochenende auf drei Zugpaare beschränkt; ein spezieller Zug für Ausflügler verkehrte während dieser Zeit nicht.1931 war das sonntägliche Zugangebot doppelt so hoch wie das an den übrigen Wochentagen. Ein Zug fuhr lediglich zwischen Hinterweidenthal und Dahn. Hinzu kam ein Ausflugszug – inoffiziell „Bundenthaler“ genannt –, der vormittags in Neustadt begann und abends zurückfuhr. Die Reichsbahn hegte zunächst Pläne, den „Bundenthaler“ zum Winterfahrplan 1932/33 zu streichen. Der Protest in der Bevölkerung gegen dieses Vorhaben war jedoch so groß, dass es verworfen wurde. Während der Zeit des Dritten Reiches kam ein weiteres Zugpaar hinzu. Da die Strecke sich innerhalb der Roten Zone befand, gab es nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vorerst keinen Personenverkehr, zwischen 1940 und 1944 gab es täglich fünf Zugpaare. Aufgrund des Kriegsgeschehens verlängerten sich die Fahrtzeiten erneut. ==== Nachkriegszeit und Deutsche Bundesbahn ==== Ab Anfang 1946 existierten zwei Zugpaare. An Sonntagen gab es eine zusätzliche Verbindung nach Bundenthal. Ein vormittäglicher Zug verkehrte ausschließlich auf besondere Anordnung. Als Kuriosum existierte an Werktagen eine Verbindung, die in Godramstein und damit jenseits eines Eisenbahnknotenpunktes begann. Mitte der 1950er Jahre wies die Strecke den dichtesten Personenverkehr in ihrer Geschichte auf: Insgesamt acht Paare fuhren an Werktagen zwischen Hinterweidenthal und Bundenthal-Rumbach, an Sonntagen ein weiteres. Der „Bundenthaler“ wurde 1951 reaktiviert und verkehrte während dieser Zeit bereits ab Ludwigshafen. Bis Neustadt folgte er der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken, um nach einem Richtungswechsel bis Landau die Maximiliansbahn und danach bis Hinterweidenthal die Bahnstrecke Landau–Rohrbach zu benutzen. Dieser Ausflugszug war stark frequentiert. Bis Landau bediente er alle Unterwegshalte und fuhr bis Hinterweidenthal als Eilzug; entsprechend hielt er in diesem Abschnitt ausschließlich in Albersweiler, Annweiler und Wilgartswiesen.1965, ein Jahr vor der Einstellung des regulären Personenverkehrs, verkehrten montags bis freitags drei Zugpaare, während sonntags der Bundenthaler als einziger Zug verblieben war. Für letzteren, der trotz seines Namens zuletzt lediglich bis Dahn fuhr, kam im Mai 1976 ebenfalls das Aus. Um trotzdem nach Bundenthal zu gelangen, mussten die Fahrgäste am Bahnhof Dahn in einen namenlosen Ausflugszug aus Saarbrücken umsteigen. Der Fahrplan beider Züge war entsprechend aufeinander abgestimmt. ==== Seit der Reaktivierung ==== In den ersten Jahren nach der Reaktivierung der Personenbeförderung an Sonn- und Feiertagen 1997 verkehrten zwei Zugpaare, deren Anzahl sich später auf vier erhöhte.Planmäßiger Schienenpersonennahverkehr findet als RB 56 (KVV- und DB-Bezeichnung, VRN-Liniennummer RB 57) mittwochs, an Wochenenden und an Feiertagen in den Monaten Mai bis Oktober statt. Das Angebot erhöhte sich bald auf täglich fünf Zugpaare. Im Zulauf auf Hinterweidenthal wird eine fahrplanmäßige Regionalbahn auf dem Abschnitt Landau – Hinterweidenthal Ost um eine zweite Einheit verstärkt und in Hinterweidenthal Ost wieder geteilt (Flügelung). Die vordere Einheit fährt weiter nach Pirmasens und die hintere nach Bundenthal-Rumbach. Samstags und sonntags fährt ein Regionalexpress als Felsenland-Express von Karlsruhe nach Bundenthal-Rumbach und zurück, nachdem dieser mehrmals zwischen Bundenthal und Hinterweidenthal Ost gependelt ist. === Güterverkehr === Vor allem die regionale Holzwirtschaft war ein bedeutendes Standbein des Güterverkehrs. In den 1960er Jahren betrug das Wagenaufkommen pro Tag im Schnitt 5,6 Tonnen, wenngleich er sich bereits zu diesem Zeitpunkt auf das erforderliche Minimum beschränkte. Bereits ein Jahrzehnt zuvor entstand zwischen den Bahnhöfen Hinterweidenthal Ort und Dahn bei Streckenkilometer 3,78 ein Anschlussgleis zu einem benachbarten Tanklager der NATO. In der Folge verkehrten auf dem nördlichen Streckenabschnitt regelmäßig schwere Kesselwagen-Züge, für die eine eigene Diesellokomotive zuständig war. Die Zahlen im Güterverkehr waren nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich rückläufig: Wurden 1972 entlang der Strecke 8495 Tonnen Stückgut empfangen, waren es zehn Jahre später nur noch 3750 Tonnen. Dasselbe Bild gab es beim Versand: 61205 Tonnen im Jahr 1972 standen 6875 Tonnen gegenüber. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab die United States Army das Tanklager und ein Militärgelände in der Nähe von Fischbach 1992 auf. Dadurch verlor die Strecke ihre strategische Bedeutung.Der Güterverkehr verlief nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst über Neustadt und Landau. Nach der Auflösung der Bundesbahndirektion Mainz im Jahr 1971 erfolgte seine Abwicklung über Pirmasens, das, genau wie die Wieslauterstrecke, fortan der Saarbrücker Direktion unterstand, während Landau und Neustadt der Karlsruher Direktion unterstanden. Die letzten Holztransporte fanden im Sommer 1987 statt. Zum Zeitpunkt der Einstellung des Güterverkehrs im Jahr 1995 gab es gelegentlich gegen zehn Uhr eine Übergabefahrt.Dennoch kam es im März 1998 zu einem weiteren Transport auf der Strecke. Der Grund hierfür war, dass sich der Zirkus Althoff für einige Tage im Dahner Ortsteil Reichenbach niederließ. Da der gesamte Güterverkehr in der Region bereits deutlich zurückgegangen war, stellte dies eine große logistische Herausforderung dar. Trotzdem gelang es, eine Diesellok und einen speziellen Güterwagen für den Transport der Elefanten bis zur Station Busenberg-Schindhard zu beschaffen. == Fahrzeugeinsatz == === Dampflokomotiven === Anfangs kamen auf der Strecke Dampflokomotiven der Baureihe T 4.I zum Einsatz, die sowohl den Personen- als auch den Güterverkehr übernahmen. Da die T 4.II im ab 1920 existierenden Bahnbetriebswerk Landau stationiert waren, gelangten sie mutmaßlich ebenfalls bis ins Wieslautertal. Ab Ende der 1920er Jahre waren Lokomotiven der Baureihe 64 größtenteils zuständig, ehe sie von Lokomotiven der Baureihe 86 abgelöst wurden. Für den Güterverkehr setzten DR und DB die Baureihe 50 ein. === Dieselfahrzeuge === Ab Mitte der 1950er Jahre übernahmen bis zur vorübergehenden Einstellung des Personenverkehrs hauptsächlich Uerdinger Schienenbusse der Baureihen VT 95 und VT 98 die Leistungen im Personenverkehr. Die Sonderzüge zogen ab den 1970er Jahren Diesellokomotiven der Baureihe 218. Ab Mitte der 1960er Jahre trugen Diesellokomotiven der Baureihen 211 und 212 den Güterverkehr, die zunächst aus Landau und ab 1971 aus Kaiserslautern kamen. Ebenfalls zum Zuge kam hierbei die Baureihe V 160.Von der Reaktivierung im Jahr 1997 bis zur Sommersaison 2010 fand der Betrieb, für den die DB Regio zuständig ist, mit Dieseltriebwagen der Baureihe 628 statt. Seit der Saison 2011 verkehren Dieseltriebwagen der Baureihe 642. Von 2010 bis 2016 kam zusätzlich planmäßig ein Esslinger Triebwagen der AVG zum Einsatz, der die Fahrten des Felsenland-Express an Sonn- und Feiertagen sowie an Samstagen bediente. Der Triebwagen, der 1958 entstand und bis 1994 Eigentum der SWEG war, erfuhr eigens für seinen Einsatz auf der Wieslauterbahn eine Aufarbeitung des Innenraums. An den entsprechenden Kosten beteiligte sich der Landkreis Südwestpfalz. Seit Ende des Jahres 2016 ist der Triebwagen nach einem schweren, verschleißbedingten Getriebeschaden nicht mehr einsatzfähig. == Betriebsstellen == === Hinterweidenthal Ost === Der zwischenzeitlich stark zurückgebaute Bahnhof Hinterweidenthal Ost befindet sich rund zwei Kilometer nordöstlich des Siedlungsgebietes der Ortsgemeinde Hinterweidenthal und hieß in seinen ersten Betriebsjahren Kaltenbach Ost. Er entstand erst im Zuge des Baus der Wieslauterbahn und diente ausschließlich dem Umstieg zur Bahnstrecke Landau–Rohrbach. In seiner Anfangszeit hielten entlang der Hauptstrecke auch Schnellzüge an diesem Bahnhof. Später erhielt er den Namen Hinterweidenthal, seit der Wiederaufnahme des Personenverkehrs nach Bundenthal-Rumbach trägt er die Bezeichnung Hinterweidenthal Ost.Bereits beim Bau erhielt er einen Bahnsteigtunnel. Darüber hinaus verfügte er über insgesamt sechs Gleise. Unter ihnen befanden sich ein Überhol- und vier Abstellgleise.An seinem Hausbahnsteig (Gleis 1) beginnen die Züge der Wieslauterbahn. Züge der Hauptstrecke halten im Bahnhof lediglich zu den Betriebszeiten der Wieslauterbahn, da er aufgrund seiner ortsfernen Lage genau wie früher ausschließlich dem Umstieg auf die Anschlussstrecke dient. === Hinterweidenthal Ort === Der Bahnhof Hinterweidenthal Ort befindet sich am nordwestlichen Rand von Hinterweidenthal. In den ersten Jahren seines Bestehens trug er lediglich die Bezeichnung Hinterweidenthal. Erst nachdem der Ausgangspunkt der Bahnstrecke diesen Namen erhalten hatte, kam der Zusatz „Ort“ hinzu. Er besaß einst als Holzverladestelle eine große Bedeutung. Die dafür benötigten Gleisanlagen sind bis auf ein Ladegleis inzwischen demontiert worden. Wichtigster Güterkunde im Bahnhof war die Westpfälzische Holzindustrie, für die eines der beiden Anschlussgleise zuständig war. Noch in den 1980er Jahren verfügte der Bahnhof über ein Ladegleis einschließlich Laderampe, zwei Anschlussgleise sowie mechanische Signale. Letztere wurden 1989 demontiert. Das Bahnhofsgebäude steht unter Denkmalschutz. Für den Bahnbetrieb selbst hat es keine Bedeutung mehr und hat seither auch keine anderweitige Verwendung mehr gefunden.Darüber hinaus bildete der Bahnhof den Gütertarifpunkt für die anderthalb Kilometer südliche Ausweichanschlussstelle zu einem benachbarten Tanklager der NATO. === Moosbachtal === Die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) errichtete im Jahr 2012 den Haltepunkt Moosbachtal im Norden der Gemarkung der Stadt Dahn auf Höhe des Moosbachtals und der Burg Neudahn. Er erschließt zwei Campingplätze, die Dahner Hütte – Im Schneiderfeld, den Dahner Felsenpfad und einige Gaststätten. Baubeginn war Anfang Juli 2012, die Betriebsaufnahme erfolgte am 15. September 2012. Die Bahnsteiglänge von 60 m erlaubt keine Bedienung durch die üblicherweise eingesetzten Triebwagen 642 in Doppeltraktion. === Dahn === Der Bahnhof Dahn ist der einzige Halt, an dem heute noch Zugkreuzungen möglich sind. Nur das östliche der beiden Gleise besitzt einen Bahnsteig. Seine größte Bedeutung hatte er Ende der 1930er-Jahre. Im Güterverkehr empfing der Bahnhof hauptsächlich Bau- und Brennstoffe. Bedeutende Güterkunden vor Ort waren die Spankorbfabrik Frank sowie die Raiffeisengenossenschaft. Erstere wurde bis zur Einstellung der Güterbeförderung auf der Strecke bedient. Im März 1945 fiel das Empfangsgebäude im Zuge der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges einem Luftangriff zum Opfer. 1959 fand die Einweihung seines Nachfolgers statt. Im Zuge des Baus einer Ortsumgehungsstraße ist in wenigen Jahren sein Abriss geplant.Noch bis in die 1950er-Jahre handelte es sich um einen so genannten Inselbahnhof, da er ein Anschlussgleis mit drei Rampen umfasste, das sowohl das Bahnhofsgebäude als auch den Güterschuppen umschloss. Später wurden daraus zwei Stumpfgleise, deren Demontage im Jahr 1997 stattfand. Ursprünglich besaß er ein mechanisches Stellwerk, das die Deutsche Bundesbahn 1978 abbaute. === Dahn Süd === Der Haltepunkt Dahn Süd befindet sich am südwestlichen Siedlungsrand von Dahn. Er wurde im Jahr 1956 neu eingerichtet, da er näher am Zentrum der Stadt liegt als der Dahner Bahnhof. Mit einer Bahnsteiglänge von 60 m können Dieseltriebwagen des Typs 642, die in Doppeltraktion verkehren, den Halt nicht anfahren. === Busenberg-Schindhard === Busenberg-Schindhard war früher ebenfalls ein Bahnhof, ehe der Rückbau zu einem Haltepunkt stattfand. Er liegt nicht auf der Gemarkung einer der beiden namensgebenden, einige Kilometer entfernt liegenden Gemeinden, sondern auf der von Dahn, auf Höhe des Ortsteils Reichenbach. Seinen Namen erhielt er, weil er hauptsächlich besagten Gemeinden sowie Erfweiler diente. In der Vergangenheit wurde er inoffiziell deshalb oft als Reichenbach bezeichnet. Ab den 1930er Jahren verfügte er über ein Stellwerk, das inzwischen in ein Ferienhaus umgewandelt wurde. Ein Schreiner erwarb zudem 1983 das heruntergekommene frühere Empfangsgebäude. Er baute es in ein Restaurant um. 1998 erhielt es einen Anbau und zwei Jahre später wurde der Außenbereich verändert.1967 wurde das Personal abgezogen, aber noch in den 1980er Jahren besaß der Haltepunkt ein Anschlussgleis. Es ist für die Zukunft geplant, einen neuen Bahnsteig in veränderter Position anzulegen und den bestehenden aufzugeben. === Bruchweiler === Der Unterwegshalt Bruchweiler (auch als Bruchweiler-Bärenbach bezeichnet) befindet sich am Ortseingang von Bruchweiler-Bärenbach. Er war früher ebenfalls ein Bahnhof, der im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen zum Haltepunkt zurückgebaut wurde. Er besaß jedoch zu keinem Zeitpunkt ein Empfangsgebäude, sondern lediglich ein Wartehäuschen. In den 1950er Jahren fand der Fahrkartenverkauf durch einen örtlichen Gemüsehändler statt. === Bundenthal-Rumbach === Der Bahnhof Bundenthal-Rumbach – zeitweise auch Bundenthal genannt – ist ein Kopfbahnhof und auch der Endbahnhof der Wieslauterbahn. Er befindet sich am nördlichen Ortsrand der Ortsgemeinde Bundenthal. Er besaß einen mittlerweile nicht mehr existierenden Lokomotivschuppen in Fachwerkbauweise. Zunächst verfügte er über drei reguläre Gleise und ein Abstellgleis vor dem Bahnhofsgebäude. Später fand ein Umbau der Gleisanlagen statt, so dass neben zwei Umfahrgleisen im nördlichen Bahnhofsbereich noch ein Anschlussgleis vorhanden war. Von ersteren existiert inzwischen nur noch eines.Von 1921 bis 1930 begann hier die schmalspurige Kleinbahn Wasgauwaldbahn nach Ludwigswinkel, deren Gleisanlagen sich westlich der normalspurigen befanden. Nach der Stilllegung des Personenverkehrs plante die Deutsche Bundesbahn Anfang der 1970er Jahre den Abriss aller Hochbauten. Jedoch bildete sich auf Initiative zweier Unternehmer aus der Region 1972 der Verein Fördergemeinschaft Wasgau e. V., der diese Maßnahmen verhindern wollte. Während der Güterschuppen noch vor der Vereinsgründung beseitigt wurde, gelang die Rettung des Bahnhofsgebäudes. Im selben Jahr erwarb der Förderverein eine 1941 von Škoda gebaute Werkslokomotive der Dillinger Hütte, die am Bahnhofsvorplatz als Denkmal steht. == Zukunftspläne == Zwar wurde die Einführung regelmäßiger Zugverbindungen insbesondere im Berufsverkehr immer wieder diskutiert, fand aber in der Ausschreibung des Pfalznetzes zur Inbetriebnahme am 10. Dezember 2023 keine Berücksichtigung. Bis zum Fahrplanwechsel im Juni 2037 sind daher weiterhin nur Saisonzüge auf der RB 56 ausgeschrieben.Im Güterverkehr gibt es immer wieder Überlegungen, das Anschlussgleis beim früheren Bahnhof Busenberg-Schindhard für den Versand von Rundholz zu aktivieren, wofür allerdings ein geeigneter Verladeplatz erstellt werden müsste. Dadurch könnte eine Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene erfolgen. == Unfälle == Im Oktober 1958 wurde beim Haltepunkt Dahn Süd ein Lastkraftwagen von einem Güterzug erfasst. == Literatur == Fritz Engbarth: 100 Jahre Eisenbahnen im Wieslautertal. (PDF; 2,7 MB) 2011, archiviert vom Original am 27. Januar 2016; abgerufen am 14. September 2012. Klaus D. Holzborn: Eisenbahn-Reviere Pfalz. transpress, Berlin 1993, ISBN 3-344-70790-6. Karl Kissel: Dahn- eine Chronik. Stadt Dahn, Dahn 1999, ISBN 3-00-002205-8, S. 286–296. Reiner Schedler: Neben- und Schmalspurbahnen in Deutschland einst und jetzt. In: Wolf-Dietger Machel (Hrsg.): Neben- und Schmalspurbahnen in Deutschland (einst & jetzt) (von Rügen bis Rosenheim, von Aachen bis Zwickau). GeraNova Zeitschriftenverlag, 1998. Heinz Sturm: Die pfälzischen Eisenbahnen (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Band 53). pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-26-6, S. 240–241 und S. 249. == Weblinks == Streckendetails auf der Internetseite des Betreibers Albtal-Verkehrs-Gesellschaft Homepage der Eisenbahnfreunde Dahn/Pf. e. V. Bilder der Strecke (Oktober 2012) auf vergessene-bahnen.de Fritz Engbarth: 100 Jahre Eisenbahnen im Wieslautertal (pdf; archivierte Fassung) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Wieslauterbahn
Schwarz-Rot-Gold
= Schwarz-Rot-Gold = Schwarz-Rot-Gold sind nach Art. 22 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes die Farben der Flagge der Bundesrepublik Deutschland. Traditionell führt man die Farben auf die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 zurück; Verweise auf das Mittelalter sind nachträglich konstruiert, trugen aber im 19. Jahrhundert erheblich zu ihrer Popularisierung bei. Die Urburschenschaft von 1815 führte diese Farben erstmals und machte sie zu einem Symbol für die deutsche Einheit. Damals waren die vielen deutschen Staaten nur durch den Deutschen Bund vereinigt. Das Ziel der Studenten waren auch Freiheitsrechte und politische Mitbestimmung. Beim Hambacher Fest 1832 wurde die schwarz-rot-goldene Fahne erstmals (auch) in der heutigen Form geführt und wurde das Symbol für eine deutsche Republik. Noch vor der eigentlichen Märzrevolution 1848 erklärte der Deutsche Bundestag die Farben zu den offiziellen Bundesfarben. Die Frankfurter Nationalversammlung folgte dem mit einem Reichsgesetz betreffend die Einführung einer deutschen Kriegs- und Handelsflagge vom 12. November 1848. Nach Niederschlagung der Revolution wurden die Farben aus dem öffentlichen Leben zunächst verbannt; im Jahr 1863 wehte allerdings eine schwarz-rot-goldene Flagge anlässlich des Frankfurter Fürstentages. Nach dem Deutschen Krieg von 1866 gründete Preußen mit seinen Verbündeten schließlich den kleindeutschen Bundesstaat (zunächst Norddeutscher Bund, dann Deutsches Kaiserreich). Dabei wurden die Farben Schwarz-Weiß-Rot in der Verfassung verankert. Die Weimarer Republik erklärte in ihrer Verfassung vom 11. August 1919 Schwarz-Rot-Gold zu den Reichsfarben. In dieser Zeit wurde die Flaggenfrage politisch aufgeladen: Gegner der Republik bevorzugten nun meistens Schwarz-Weiß-Rot. Im Jahr 1933 machten die Nationalsozialisten diese Farben wieder offiziell. Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings entschieden sich beide deutschen Staaten wieder für Schwarz-Rot-Gold. == Vorläufer und Legenden == In der Zeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gab es keine Nationalfarben; als kaiserliche Farben wurden Schwarz und Gold verwendet, die in den Wappen vieler Reichsstädte vorkamen (siehe auch Stadtfarben) und vom Kaisertum Österreich noch bis 1918 verwendet wurden. In der Entstehungszeit der Heraldik im 12. Jahrhundert wurde es üblich, in einen kaiserlich-goldenen Schild den schon seit der Antike als Reichssymbol verwendeten Adler in Schwarz zu setzen. Das erste Reichswappen dieser Art ist auf einem Silberpfennig Kaiser Friedrich Barbarossas zwischen 1172 und 1190 belegt, die erste farbige Darstellung in Schwarz-Gold unter Kaiser Otto IV. zwischen 1198 und 1218. Ab dem 14. Jahrhundert wurden Fänge und Schnabel des Reichsadlers rot tingiert. Dieses nun dreifarbige Wappen hat seinen frühesten Beleg in der um 1300 entstandenen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) auf einem Bild Kaiser Heinrichs VI. Auf diese Farbgebung (im goldenen Schild ein schwarzer, rotbewehrter Adler) im Wappen des Heiligen Römischen Reiches wurde später oft Bezug genommen, wenn es darum ging, den Ursprung der Farben Schwarz-Rot-Gold zu erklären. Eine Version der ersten Verwendung von schwarz-rot-goldenen Farben erwähnt die Zeremonie der Wahl von Friedrich Barbarossa zum deutschen König im Jahr 1152: Angeblich sei die Strecke vom Frankfurter Dom bis zum Römerberg mit einem Teppich in den Farben Schwarz, Rot und Gold ausgelegt worden. Nach der Zeremonie wurde dieser Teppich an die Bevölkerung verteilt, wobei viele einzelne Stücke abgerissen wurden. Diese Stofffetzen präsentierte man anschließend in der Stadt als kleine Fähnchen.Während des Deutschen Bauernkrieges sollen 1525 die Bauern der Landgrafschaft Stühlingen, gemäß Friedrich Engels und dem kommunistischen Politiker und Journalisten Albert Norden, unter der schwarz-rot-goldenen Reichsfahne in den Aufstand gezogen sein. == Geschichte == === Lützowsches Freikorps === In Zusammenhang mit der Idee eines deutschen Nationalstaates traten die drei Farben erstmals während der Befreiungskriege (1813–1815) gegen Napoléon I. in Erscheinung. Sie entstammen den Farben der Uniformen des Lützowschen Freikorps, einer Freiwilligeneinheit des preußischen Heeres unter Führung von Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow. Die Truppe trug schwarze Uniformen mit roten Vorstößen und goldfarbenen Messingknöpfen. Für diese Farbwahl führen Historiker ganz pragmatische Gründe an: Die Angehörigen des Freikorps, darunter viele Studenten und Akademiker, waren sogenannte Selbstversorger, d. h., sie empfingen keinen Sold und rüsteten sich selbst aus. Sie waren deshalb darauf angewiesen, mitgebrachte Bekleidung zur Uniform umzufärben, und das war mit Schwarz als Grundfarbe am leichtesten. Goldfarbene Messingknöpfe waren weit verbreitet und leicht erhältlich. Rot war die Abzeichenfarbe für Aufschläge und Vorstöße. Die Ulanen des Freikorps führten rot-schwarze Lanzenwimpel. „Lützows Schwarze Jäger“ waren damals in der Bevölkerung sehr populär; sie verdankten ihre große Bekanntheit vor allem ihren vielen prominenten Mitgliedern, wie beispielsweise dem 1813 gefallenen Dichter Theodor Körner, der dem Freikorps das bekannte Gedicht Lützows wilde Jagd (vertont in veränderter Form von Carl Maria von Weber) widmete, dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und Joseph von Eichendorff. Über die weitergehende Verwendung der Farben berichtet Friedrich Christoph Förster, der Kompaniechef von Eleonore Prochaska, in einem Brief, dass er Anfang April 1813 eine schwarz-rote Fahne mit goldenen Fransen in der Dresdner Werbestube der Lützower Jäger gesehen habe. Dabei dürfte es sich um eine von Berliner Frauen gestiftete Fahne aus roter und schwarzer Seide mit goldenen Fransen und der in Gold gestickten Inschrift „Mit Gott fürs Vaterland“ gehandelt haben. Der König lehnte es jedoch am 8. April 1813 ab, dass das Freikorps unter dieser Fahne in den Kampf zog. Angeblich – wie man in der am Grab Theodor Körners gelegenen Mahn- und Gedenkstätte Wöbbelin erfahren kann – unter dem Wahlspruch Von schwarzer Nacht durch rotes Blut der goldenen Sonne entgegen. === Jenaer Urburschenschaft === Im Jahr 1815 wurden die Farben des Freikorps für die Fahne der in Jena gegründeten Urburschenschaft verwendet, der einige ehemalige Freiwillige der Lützower Jäger angehörten. Die von der Idee eines deutschen Nationalstaates begeisterten Studenten lösten nach ihrer Rückkehr aus den Befreiungskriegen die bestehenden, nach Herkunftsregionen organisierten Verbindungen („Landsmannschaften“) auf und gründeten eine einheitliche, Studenten („Burschen“) aus allen deutschen Ländern umfassende Burschenschaft – so wie auch die deutschen Länder sich zugunsten eines deutschen Nationalstaates auflösen sollten. Die Satzung der Jenaischen Burschenschaft enthielt den Passus: Ihre Fahne war Rot-Schwarz-Rot mit einem goldenen Eichenzweig in der Mitte und goldenen Fransen am Rand. Sie war 1816 von den „Frauen und Jungfrauen von Jena“ gestickt worden und wurde auf dem Wartburgfest 1817 erstmals öffentlich gezeigt. Sie befindet sich heute im Stadtmuseum von Jena. Auf der Fahrt zum Wartburgfest, wo Teilnehmer bereits schwarz-rot-goldene Kokarden trugen, dichtete der Kieler Student August Daniel von Binzer ein Lied mit der Textzeile Stoßt an, Schwarz-Rot-Gold lebe! Dies ist die früheste Erwähnung des Dreiklangs Schwarz-Rot-Gold. Über den Ursprung der Farben der Urburschenschaft ist viel diskutiert worden. Die gängige Theorie besagt, dass viele Studenten der Jenaer Universität während der Befreiungskriege Angehörige des Lützowschen Freikorps waren und ihre Uniformen in Jena als Studentenuniform in ihren Verbindungen weiter trugen. Die schwarz-rot-goldenen Uniformfarben galten ihnen als Symbol für den Kampf um nationale Befreiung und fanden deshalb Verwendung in der Fahne der Urburschenschaft. Daneben gibt es aber auch die Vermutung, dass die Farben aus den Farben der frühen Corps („Landsmannschaften“) entstanden seien, aus denen die Urburschenschaft hervorgegangen war. So hatte z. B. die Thuringia die Farben „Schwarz-Rot-Weiß von unten“. Einige der Gründer der Urburschenschaft haben sich Jahrzehnte später selbst zur Wahl der Farben geäußert. So Heinrich Herrmann Riemann, ehemals Mitglied der Vandalia und Sprecher der Urburschenschaft und Redner beim Wartburgfest 1817, anlässlich der 300-Jahr-Feier der Universität Jena 1858: Mitbegründer Carl Horn sagte zu gleichem Anlass: Dagegen bestand Anton Probsthan, ebenfalls wie Horn ehemaliger Vandale, Lützower Jäger und Mitbegründer der Urburschenschaft, in seiner nach 1865 entstandenen und im Stadtarchiv Dresden als Manuskript erhaltenen Genesis der deutschen Tricolore Schwarz-Roth-Gold auf den Farben der Vandalen (Blutigrot-Gold) als Ursprung.Karl Hermann Scheidler aus Gotha, zuerst Mitglied der Thuringia und dann Mitgründer der Jenaischen Urburschenschaft, schrieb 50 Jahre nach der Gründung der Urburschenschaft in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ vom 5. August 1865, Seite 98: Der Deutsche Bund verbot durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 bis 1848 alle selbstverwalteten studentischen Zusammenschlüsse. Anlässlich der Auflösung der Jenaer Burschenschaft dichtete August Daniel von Binzer im Jahr 1819 das Lied Wir hatten gebauet ein stattliches Haus. Dort heißt es in der 7. Strophe: Die Niederschrift des Liedes im Stammbuch des ersten Wartburgfestes ist die älteste schriftlich fixierte Erwähnung der Farben Schwarz-Rot-Gold in dieser Reihenfolge. Zunächst hatte Binzer die Reihenfolge „war Roth Schwarz und Gold“ gewählt, dies anschließend aber korrigiert, indem er den Farben die Nummern 1, 2 und 3 zuwies und sie so in die heutige Reihenfolge brachte.Bis heute tragen die studentischen Burschenschaften sehr häufig Schwarz-Rot-Gold als Couleurfarben, aber auch die Kombinationen Schwarz-Gold-Rot sowie Schwarz-Rot auf Gold sind gebräuchlich. Alle Varianten existieren auch in der umgekehrten Reihenfolge bzw. in der Lesweise von unten (wie bei den Jenenser, Hallenser und Leipziger Verbindungen üblich). Auch Wilhelm Hauff, der in seinen Studentenjahren in Tübingen der dortigen Burschenschaft angehörte oder ihr zumindest nahestand, schrieb zu Ehren seines Bruders „Seni“ in seinem Gedicht Die Seniade. Ein scherzhaftes Heldengedicht in vier Gesängen aus dem Jahr 1825 mit Bezug auf die Jahre nach 1820 als letzte Strophe: === Hambacher Fest === Beim Hambacher Fest im Jahr 1832 wurden viele Schwarz-Rot-Goldene Trikoloren, als Symbol für das Streben nach Freiheit, Bürgerrechten und deutscher Einheit, gezeigt. Die Farben hatten sich bis dahin, im Zusammenhang mit der Burschenschaftsbewegung, weit verbreitet. Deshalb waren die Fahnen auf dem Hambacher Schloss noch mehrheitlich in der burschenschaftlichen Reihenfolge „schwarz-rot-gold von unten“ zu sehen (siehe Abbildung unten). Als Hauptfahne des Hambacher Festes fertigte Johann Philipp Abresch die erste Trikolore in der heute gebräuchlichen Reihenfolge mit der Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“. Diese „Ur-Fahne“ von 1832 befindet sich heute im Museum im Hambacher Schloss in Neustadt an der Weinstraße. In einem Hambacher Festlied wurden die Farben des Lützowschen Reiterkorps der Freiheitskriege aktuell umgedeutet: Nach dem Hambacher Fest und dem gescheiterten Frankfurter Wachensturm im Jahr darauf folgte eine Zeit der reaktionären Unterdrückung, in der die Farben Schwarz-Rot-Gold das Symbol für die Demokratie blieben. Hoffmann von Fallersleben gab in seinem Gedicht „Deutsche Farbenlehre“ von 1843 seiner Hoffnung auf Veränderung Ausdruck. Hoffnungsträger waren für ihn die deutschen Farben: Deutsche Farbenlehre Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht, und die eigene Schmach und Schande hat uns diese Nacht gebracht. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor: Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht, das die Nacht der Schmach und Schande und der Knechtschaft endlich bricht. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?Lange hegten wir Vertrauen auf ein baldig Morgenrot; kaum erst fing es an zu grauen, und der Tag ist wieder tot. Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?Immer unerfüllt noch stehen Schwarz, Rot, Gold im Reichspanier: Alles läßt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr? Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?(aus: Deutsche Salonlieder 1843)Eine alternative Deutung der Farben in der DDR setzte Schwarz mit dem verschossenen Pulver der Befreiungs- und Einigungskriege (Deutsches Reich), Rot mit dem dabei und in den Revolutionen 1848/1918 vergossenen Blut und Gold sowohl mit der erhofften goldenen Zukunft als auch mit den dafür erbrachten hochkarätigen Opfern („Gold gab ich für Eisen“) gleich. === Märzrevolution === Bereits zu Beginn der sogenannten Märzrevolution von 1848 machten die Regierungen der deutschen Staaten Zugeständnisse in der Symbolik: Sie eigneten sich vielmals die bislang verbotenen Farben Schwarz-Rot-Gold an. In seinen Beschlüssen Anfang 1848, mit dem der Bundestag das Volk beruhigen wollte, erklärte er Schwarz-Rot-Gold zu den Bundesfarben: Damals am 9. März 1848 war der Bundestag, die Vertretung der Mitgliedsstaaten, noch nicht mit liberalen Reformern besetzt. Der Bundestag entschied später, am 20. März, dass die schwarz-rot-goldene Flagge in allen Bundesfestungen und bei den Bundestruppen zu verwenden sei.Am 10. März 1848 wehte die schwarz-rot-goldene Fahne auch in Wien vom Stephansdom. Der österreichische Kaiser Ferdinand I. sah sich genötigt, sich mit einer entsprechenden Fahne in einem Fenster der Hofburg zu zeigen. In Berlin verlief die Entwicklung dramatischer. Dort kam es am 18. März 1848 zu Barrikadenkämpfen. Unter dem Druck der Ereignisse sagte König Friedrich Wilhelm IV. am 19. März in einer Proklamation zu, seine Truppen aus den Straßen Berlins zurückzuziehen. König und Königin mussten den mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückten Särgen der gefallenen Aufständischen ihre Reverenz erweisen. Am 21. März ritt der König mit einer schwarz-rot-goldenen Armbinde durch die Stadt und schloss sich damit symbolisch der bürgerlichen Freiheitsbewegung an. Der Dichter Ferdinand Freiligrath hatte zu diesen Ereignissen am 17. März 1848 in London das später vertonte Gedicht „Schwarz-Rot-Gold“ geschrieben, das zum bewaffneten Kampf für eine gesamtdeutsche Republik aufrief. Auch für ihn stellten die Farben die heraldischen Farben des Wappens des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation dar: Schwarz-Rot-Gold In Kümmernis und Dunkelheit, Da mußten wir sie bergen! Nun haben wir sie doch befreit, Befreit aus ihren Särgen! Ha, wie das blitzt und rauscht und rollt! Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold! Pulver ist schwarz, Blut ist rot, Golden flackert die Flamme!Das ist das alte Reichspanier, Das sind die alten Farben! Darunter haun und holen wir Uns bald wohl junge Narben! Denn erst der Anfang ist gemacht, Noch steht bevor die letzte Schlacht! Pulver ist schwarz, Blut ist rot, Golden flackert die Flamme! … Die Freiheit ist die Nation, Ist aller gleich Gebieten! Die Freiheit ist die Auktion Von dreißig Fürstenhüten! Die Freiheit ist die Republik! Und abermals: die Republik! Pulver ist schwarz, Blut ist rot, Golden flackert die Flamme! …(aus: Neuere politische und soziale Gedichte, 1849–1851) === Frankfurter Nationalversammlung === Am 18. Mai 1848 trat in Frankfurt am Main die Nationalversammlung zum ersten Mal zusammen. Dabei zogen 7000 Menschen durch die schwarz-rot-gold geschmückten Straßen. Der Saal in der Paulskirche war ebenfalls in diesen Farben geschmückt und mit dem doppelköpfigen Reichsadler ausgestattet. Ebenfalls unter diesen Farben zog im Juli der Reichsverweser in die Stadt ein. Die Nationalversammlung erließ am 12. November 1848 ein Gesetz über die Kriegs- und Handelsflagge, das die Farben Schwarz-Rot-Gold festlegte. Dabei erhielt die Kriegsflagge zusätzlich zu den drei Farben noch in einem gelben Obereck am Flaggenstock den „doppelten schwarzen Adler mit abgerundeten Köpfen, ausgeschlagenen roten Zungen und goldenen Schnäbeln und desgleiche offenen Fängen“. Beim Umsetzen dieser Gesetzgebung stellte sich heraus, dass die deutsche Zentralgewalt die Handelsflagge nicht gegen den Widerstand der Einzelstaaten durchsetzen konnte. Nur die neu aufgestellte Reichsflotte führte die schwarz-rot-goldene Flagge auf ihren Kriegsschiffen. Allerdings war diese Flagge den auswärtigen Staaten nicht offiziell angezeigt worden, so dass zum Beispiel die britische Seemacht sie als „Piratenflagge“ betrachtete. Auch wurde die Reichsflotte bereits 1852 wieder aufgelöst; ihre Schiffe wurden versteigert. Die von der Nationalversammlung ab 28. März 1849 verabschiedete und nie in Kraft getretene Frankfurter Reichsverfassung des entstehenden Deutschen Reiches enthielt keine Bestimmung über die Farben (oder andere Symbole), die damals für selbstverständlich gehalten wurden. Die Revolution wurde gewaltsam niedergeschlagen; am 2. September 1850 wurden die Farben Schwarz-Rot-Gold vom Turm der Paulskirche eingeholt, am 15. August 1852 vom Frankfurter Bundespalais, dem Sitz des Bundestages. In einigen deutschen Staaten wurden diese Farben ausdrücklich verboten. Dennoch blieben die Farben das Symbol der republikanisch-revolutionären und antimonarchischen Bewegung in Deutschland und für viele die „wahre“ Flagge Deutschlands. So wurde sie beispielsweise 1863 auf dem deutschen Fürstentag in Frankfurt gehisst, als Österreich die nationale Frage in seinem Sinn vorantreiben wollte. Heinrich Heine brachte seine Enttäuschung über das Scheitern der Demokratiebewegung später in seinem Gedicht Michel nach dem März zum Ausdruck und bezieht sich in seiner Kritik auch auf die Farben: Die Entscheidung um die Vorherrschaft bei der Einigung Deutschlands fiel im Deutschen Krieg von 1866, als Österreich und Preußen mit ihren jeweiligen Bundesgenossen gegeneinander ins Feld zogen. Das VIII. Armeekorps, die sogenannte Reichsarmee, bestehend aus Truppenkontingenten süddeutscher Staaten, die auf Seiten Österreichs kämpften, führte dabei Schwarz-Rot-Gold auf Armbinden. === Norddeutscher Bund und Kaiserreich === Das Königreich Preußen bestimmte von nun an die Bedingungen der Einigung und setzte Zeichen bei der Symbolik. So formte der Norddeutsche Bund seine Flagge aus den Farben Preußens (Schwarz-Weiß) und den Farben der norddeutschen Hansestädte (Weiß-Rot) zu einer Trikolore in Schwarz-Weiß-Rot. Diese Flagge wurde ab der Reichsgründung 1871 auch als Handelsflagge des Kaiserreichs übernommen. Die allgemein anerkannten Farben schwarz-rot-gold konnten schon deshalb keine Verwendung finden, weil die Truppen des Deutschen Bundes 1866 vielfach mit derartigen Armbinden ins Feld gezogen waren. Aber interessanterweise setzte eben die Reichsverfassung auch gar keine eigentliche Nationalflagge fest. Erst in den neunziger Jahren wurde Schwarz-Weiß-Rot für die „Kauffahrteischiffe“ in die Rolle einer wirklichen „Nationale“ überführt, gleichsam faute de mieux. Und die Deutsch-Österreicher führten bis 1918 Schwarz-Rot-Gold als Kennzeichen, was die Entscheidungen der jungen deutschen Republik nicht unwesentlich beeinflusst hat, die Trikolore von 1848 zu wählen. Auch einige rechtsextreme Gruppierungen und Parteien wählten die Farben Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck ihrer „nationalen Opposition“. So hieß es in den „Leitzielen“ der im Jahr 1900 aus der Spaltung der Deutsch-Sozialen Reformpartei hervorgegangenen antisemitischen Gruppierung gleichen Namens: „Wir brauchen ein deutsches Zentrum, eine deutsch-soziale Reformpartei. Ihr Banner sei schwarz-gold-rot, die Fahne des geeinten Großdeutschlands (österreichisch schwarz-gold und deutsch schwarz-weiß-rot vereinigt)“.Der in völkischen und antisemitischen Kreisen beliebte Autor Julius Langbehn erklärte bereits im Jahr 1890 in seinem Buch Rembrandt als Erzieher die Farben Schwarz-Rot-Gold zu „deutschen Idealfarben“. Er erklärte unter anderem, dass die politische Entwicklung in Deutschland noch nicht abgeschlossen und daher ein abermaliger Wechsel der Nationalfarben erforderlich sei: Insgesamt sah das gesamte „großdeutsche Lager“ in Schwarz-Rot-Gold den Ausdruck der eigenen politischen Zielsetzung. Neben den antisemitischen Parteien gehörten dazu vor allem auch die Linksliberalen in Bayern, Baden und Württemberg.Die Farben Schwarz-Rot-Gold spielten auch eine nicht unbedeutende Rolle in der Völkischen Bewegung. Grundsätzlich bestand dort die Tendenz, die Farben der alten Nationalbewegung zu übernehmen und für die eigenen Zwecke anzupassen. Vertrat man zunächst bei der Interpretation der schwarz-rot-goldenen Farben noch die Auffassung, das Schwarz stehe für den Reichsadler, das Rot für seine Bewehrung und das Gold für das Wappenfeld, so änderte sich die Deutung bald. Durch eine Veränderung des politischen Idealbildes kam es zur Ausbildung esoterischer Vorstellungen und einer Verbindung der Farben mit der germanischen Götterwelt: Danach sollten die nun so bezeichneten „Wotans-Farben“ zurückgehen auf den schwarzen Adler als heiligen Vogel Odins, auf den roten Schild des germanischen Kriegsgottes Zio und auf den „golden wallenden Lockenschmuck unserer Ahnen“. Andere Gruppen stellten bei der Interpretation der Farben Zusammenhänge mit völkischen Verschwörungstheorien her. Eine so genannte „Deutsche Loge“ vertrat die Auffassung, die Farben symbolisieren den Kampf gegen die schwarze, die rote und die goldene Internationale. Die so zum „völkischen“ gemachten Farben Schwarz-Rot-Gold wurden von verschiedensten völkisch orientierten Gruppen, wie dem „Deutschen Schulverein“ oder dem „Deutschen Volksbund“ verwendet. In den Jahren 1904 und 1905 erschien in Stuttgart eine Zeitschrift mit dem Titel „Schwarz-Rot-Gold“ und in zahlreichen Vereinigungen war der Ruf „Heil Schwarz-Rot-Gold!“ eine beliebte Form, seine Wertschätzung für die Farbkombination zum Ausdruck zu bringen.Hin und wieder wurde an Stelle des Liedes „Wacht am Rhein“ auch das Lied „Midgard“ gesungen: Stoßt an, Schwarz-Rot-Gold lebe! Hurra Hoch! Der die Sterne lenkt am Himmelszelt, Der ist’s, der uns’re Fahne hält. Heil, Deutschland, Heil! Stoßt an! Midgard soll leben! Hurra hoch! Von des Bottenmeeres höchstem Hort, bis Donau, Zuidersee und Fjord. Heil Midgard! Heil!(aus: Der Deutsche Herold, München, o. J. (vor 1914)) === Schwarz-Rot-Gold in Österreich === Die Farben Schwarz-Rot-Gold lebten seit der Revolution von 1848 vor allem in den österreichischen Burschenschaften und der Turnerbewegung fort. Eine propreußische bzw. „großdeutsche“ Tendenz machte sich schon in den 1860er Jahren bemerkbar. Bedeutsamerweise wurde die schwarz-rot-goldene Fahne des 1. Wiener Turnvereins von 1861 in der Ostsee getauft. Die steigende Popularität der Farben konnte auch durch Verbote und Strafandrohungen der Regierung nicht beseitigt werden. Eine besondere Rolle bei der Verbreitung der schwarz-rot-goldenen Farben spielte der österreichische, deutschnationale Politiker Georg von Schönerer, der unter anderem glühender Verehrer von Kaiser Wilhelm I. sowie von Otto von Bismarck war. Als solcher verfocht er unter anderem die Idee einer Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Selbst nachdem die Schönererbewegung ihre Bedeutung deutlich eingebüßt hatte, blieb Schwarz-Rot-Gold beliebt und wurde teilweise als „Kampffarbe gegen den Panslawismus“ (panslawische Farben = rot-weiß-blau) eingesetzt. Noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 war Schwarz-Rot-Gold insbesondere im jüngeren Teil der Bevölkerung die vorherrschend gezeigte Farbkombination. Mit dieser und dem Tragen der Kornblume (der Parteiblume Schönerers) sollte die großdeutsche Gesinnung hervorgehoben werden.Adolf Hitler äußerte sich in Mein Kampf zu Schwarz-Rot-Gold: Er erklärte, die Trikolore habe vor allem in Deutschösterreich einmal einen guten Sinn als „bürgerliche Parteifahne“ und Ausdruck großdeutscher Ziele gehabt. Er verschwieg in diesem Zusammenhang jedoch die offensichtliche Vorbildrolle, die die österreichische DAP gespielt haben dürfte, denn die österreichischen Nationalsozialisten verwendeten selbstverständlich Schwarz-Rot-Gold, um ihre Zugehörigkeit zum deutschnationalen Lager deutlich zu machen. Ihr Parteiabzeichen bestand unter anderem aus einem schwarz-rot-goldenen Schildfuß. Auch trugen Saalordner noch im Jahr 1920 auf dem so genannten „Zwischenstaatlichen Vertretertag“, bei dem auch Hitler anwesend war, schwarz-rot-goldene Armbinden. === Weimarer Republik und Drittes Reich === Mit Gründung der Weimarer Republik 1919 wurde Schwarz-Rot-Gold zur Nationalflagge Deutschlands. Allerdings wurden in der Handelsflagge aus Gründen der internationalen Erkennbarkeit die alten Farben Schwarz-Weiß-Rot zunächst weiterverwendet; aufgrund eines Kompromisses wurde dann im Juli 1919 ein schwarz-weiß-rotes Grundtuch mit Schwarz-Rot-Gold in der linken oberen Ecke angenommen. Ein ähnlicher Kompromiss setzte sich im November 1920 auch für die noch stärker umstrittene, da für das Militär höchst symbolträchtige Reichskriegsflagge durch. Diese Regelung galt bis 1933, als das schwarz-rot-goldene Eck wieder entfernt wurde. ==== Großdeutsche Symbolik ==== Obwohl konservative, monarchistische Kräfte und radikale Rechte die neue Nationalflagge später als Schwarz-Rot-Gelb, Schwarz-Rot-Senf, Schwarz-Rot-Mostrich oder derb auch Schwarz-Rot-Scheiße verhöhnten und die alten kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot befürworteten, kam der erste Vorschlag, Schwarz-Rot-Gold zu den Reichsfarben zu machen, von der politischen Rechten. Ein bereits am 9. November 1918 vom Alldeutschen Verband publizierter Aufsatz propagierte klar diese Farben: Dieser Aufruf traf jedoch sowohl innerhalb des Verbandes als auch bei anderen rechten Gruppierungen auf heftigen Widerstand. Nach anfänglichen Sympathien erklärten sich auch die Burschenschaften nicht mit der Übernahme „ihrer“ Farben als Nationalflagge Deutschlands einverstanden, da nach ihrem Verständnis auch Österreich zu einem vereinten Deutschland gehörte. Der Burschentag beschloss dazu 1920: ==== Annahme in der Nationalversammlung ==== In Wirklichkeit waren die Farben am 3. Juli 1919 in der Weimarer Nationalversammlung mit einer sehr deutlichen Stimmenmehrheit von 211 Stimmen bei 90 Gegenstimmen angenommen worden. Die breite Mehrheit aus Sozialdemokraten, Katholiken und Linksliberalen begrüßte den Wechsel zu den Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold, mit denen eine Anknüpfung an die Deutsche Revolution 1848/1849 und die Frankfurter Nationalversammlung verbunden war. Dagegen gestimmt hatten zudem nicht nur Befürworter von Schwarz-Weiß-Rot, sondern auch der linksrevolutionären Roten Fahne. Die größten Widerstände kamen jedoch von Anfang an von gegenrevolutionären, monarchistischen und nationalistischen Kräften, vor allem aus dem Militär und der Beamtenschaft, die eine neue Flagge als Symbol für die als illegitim betrachteten revolutionären Umwälzungen vom November 1918 empfanden und deshalb grundsätzlich ablehnten. Unter den Gegnern einer Einführung neuer Reichsfarben befanden sich in der Nationalversammlung auch die bürgerlichen Nationalliberalen, die einen Farbenwechsel als „Angriff gegen die nationale Würde“ empfanden. Auch in der liberalen DDP und im katholischen Zentrum gab es Befürworter der alten Farben. ==== Polarisierung im Flaggenstreit ==== Als Erklärung für die vehemente Ablehnung der Farben von rechts wurden in Publikationen der Weimarer Zeit verschiedene Legenden bemüht. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass die Farben Schwarz-Rot-Gold während des Weltkriegs von Exildeutschen als Propagandamittel benutzt worden seien. Diese so genannte Gruppe „Freunde der deutschen Republik“ sei von der französischen Regierung finanziert worden. Noch im Jahr 1918 seien Flugblätter von französischen Flugzeugen über den deutschen Frontlinien abgeworfen worden. Diese riefen zur Desertion und zum Umsturz auf und waren mit schwarz-rot-goldenen Markierungen versehen. Polemik gegen die neuen Reichsfarben kam auch vom esoterischen Flügel der Rechten, die in der Reichsflagge das Zeichen der dreifachen Internationale sahen: Das Schwarz stehe für den ultramontanen Katholizismus, das Rot für den internationalen Sozialismus und das Gold für das internationale Kapital. Allem zusammen habe sich Deutschland unterworfen. Außerhalb Deutschlands wurde Schwarz-Rot-Gold aber auch in der Sozialdemokratie teils abgelehnt. So war es Anfang der 1920er Jahre üblich, auf Deutschen Volkstagen im damaligen Eger in Böhmen Schwarz-Rot-Gold zu flaggen. Die deutschen Sozialdemokraten Böhmens lehnten diese Farben ab und bezeichneten sie als Symbol der deutschen Nationalisten und der Bourgeoisie.Schwarz-Rot-Gold wurde in den Auseinandersetzungen des sehr emotional geführten Flaggenstreits der 1920er Jahre bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten zum wichtigsten Identifikationssymbol der von gemäßigten Kräften gestützten Republik, während sich die kaiserlichen Farben vom monarchistischen Symbol immer stärker zum allgemeinen Erkennungszeichen der antirepublikanischen Rechten entwickelten. Dadurch erhielten die beiden Trikoloren eine politische Bedeutung, die sie vorher in dieser Ausprägung nicht besaßen. Auch die Nationalsozialisten wählten bereits 1920 die Farbgebung Schwarz-Weiß-Rot für ihre Hakenkreuzfahne. ==== Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ==== Am 22. Februar 1924 wurde in Magdeburg die Organisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegründet. Aktiv darin waren die Liberalen (Deutsche Demokratische Partei), das katholische Zentrum, vor allem aber die SPD und die Gewerkschaften. Das Ziel war der Schutz der parlamentarischen Demokratie, die in der Weimarer Republik unter starkem Druck seitens rechts- und linksextremistischer Kräfte stand. Hauptgegner waren der Nationalsozialismus und der Kommunismus. Ihr erster Vorsitzender Otto Hörsing bezeichnete ihre Aufgabe als Kampf gegen Hakenkreuz und Sowjetstern. Gemäß Satzung war das Reichsbanner ein Bund republikanisch gesinnter Kriegsteilnehmer. Die Mitglieder verbanden ihre Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Eintreten für die Demokratie. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wurde bald zu einer der größten Massenorganisationen der Weimarer Republik, der im Jahr 1932 über drei Millionen Menschen angehörten. In der Endphase der Weimarer Republik wurden die Auseinandersetzungen mit der SA, dem Stahlhelm und dem Rotfrontkämpferbund immer härter, so dass sich das Reichsbanner mit anderen Arbeiter- und Gewerkschaftsorganisationen zusammentat und die Eiserne Front bildete. Zunehmende Militarisierung und die Annahme des Führerprinzips machte die Organisation den radikalen Gruppen immer ähnlicher. Bei Straßenkämpfen und in Saalschlachten verloren 47 Reichsbannerleute ihr Leben. ==== Abschaffung durch die Nationalsozialisten ==== Nach ihrer Machtergreifung erklärten die Nationalsozialisten Schwarz-Weiß-Rot zu Nationalfarben des Deutschen Reiches und schafften Schwarz-Rot-Gold als nationales Symbol sofort ab, da es als Identifikationssymbol der verhassten Republik galt. Von 1933 bis 1935 wurde aufgrund einer Anordnung von Reichspräsident Paul von Hindenburg vom 12. März 1933 die schwarz-weiß-rote Flagge zusammen mit der Hakenkreuzfahne, die eigentlich die Parteifahne der NSDAP war, gezeigt. Nach Hindenburgs Tod 1935 wurde durch das von Hitler erlassene Reichsflaggengesetz die Hakenkreuzflagge die alleinige Reichsflagge. === Nach dem Zweiten Weltkrieg === Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden alle aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden deutschen Hoheitssymbole durch das erste Kontrollratsgesetz vom 20. November 1945 offiziell aufgehoben. Die deutschen Handelsschiffe fuhren gemäß alliiertem Kontrollratsgesetz Nr. 39 vom 12. November 1946 bis zum 23. Februar 1951 mit dem modifizierten Stander „C“ des Internationalen Signalbuches (siehe Flaggenalphabet), einer schwalbenschwanzförmig ausgeschnittenen Flagge in blau-weiß-rot-weiß-blau. In den Beratungen zur Gründung der Bundesrepublik war zunächst die Flagge des 20. Juli 1944, die ein sogenanntes skandinavisches Kreuz in den Nationalfarben zeigt, favorisiert worden. ==== Bundesrepublik Deutschland ==== Im Westen verabschiedete der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 das neue Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das die schwarz-rot-goldene Flagge wieder zur Nationalflagge machte. In Art. 22 GG heißt es ausdrücklich: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.“ Ludwig Bergsträsser, Abgesandter der Sozialdemokraten, begründete das so: Die Bundesdienstflagge der Bundesrepublik Deutschland zeigt zusätzlich den Bundesschild, im goldenen Schild den rotbewehrten, rotgezungten schwarzen Adler, in der dreifarbigen Flagge. Diese Flagge darf jedoch nur von offiziellen Dienststellen der Bundesrepublik Deutschland geführt werden; wird sie von Privatpersonen öffentlich geführt, stellt dies eine Ordnungswidrigkeit nach § 124 OWiG dar und kann mit einem Bußgeld geahndet werden. Die Nationalflagge besteht nur aus den drei Farben. Die Deutsche Bundespost verwendete bis zum 28. November 1994 eine eigene Dienstflagge. Diese zeigte im roten Streifen, der deutlich breiter als 1/3 war, ein goldenes Posthorn mit schwarzen Konturen. Einige westdeutsche Länder – vorwiegend diejenigen, die aus verschiedenen Einzelländern zusammengefügt worden waren, wie Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sowie das ab 1956 wieder angegliederte Saarland und das bis 1952 bestehende Land Württemberg-Baden – wählten ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg Schwarz-Rot-Gold zu ihrer Flagge, allerdings immer in Verbindung mit dem Landeswappen. Während es sich bei den Flaggen des Saarlandes und Niedersachsens um die deutschen Farben handelt, sind die Farben von Rheinland-Pfalz aus dem Landeswappen entnommen. Deshalb liegt das rheinland-pfälzische Wappen nicht im Zentrum der Flagge. ==== Deutsche Demokratische Republik ==== In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) kam die Frage nach einer Flagge für das Territorium bereits anlässlich der Versammlung des Zweiten Deutschen Volkskongresses am 17. und 18. März 1948 auf die Tagesordnung. Während dieser Versammlung war bereits der Gebäudeeingang mit einem Band in den Farben Schwarz-Rot-Gold geschmückt. Schließlich erklärte am 18. Mai 1948 Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident der späteren Deutschen Demokratischen Republik, während einer Sitzung des Verfassungsausschusses, dass als Flagge nur Schwarz-Rot-Gold in Frage komme, da einzig diese Farben alle Deutschen zu einigen vermochten. Friedrich Ebert junior, Sohn des ersten deutschen Reichspräsidenten und damals Vorsitzender des Brandenburger Landtags, stellte daraufhin folgenden Antrag: Das war in dieser Form zu dieser Zeit noch für ein zu vereinigendes Deutschland gemeint. Ebert begründete seinen Antrag folgendermaßen: Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen, auf den Tag genau hundert Jahre nach dem ersten Zusammentreten der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main. Später zerschlug sich die Hoffnung auf eine frühe Einheit Deutschlands. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 wurde die DDR gegründet. Beide Staaten behielten rund zehn Jahre lang die gleiche Staatsflagge, ein Unikum in der Geschichte der Staaten Europas. Ab dem 1. Oktober 1959 setzte die DDR zur Abgrenzung in ihre Flagge das Staatswappen der DDR, ein goldenes Emblem bestehend aus Hammer und Zirkel, die von einem Ährenkranz umrankt sind. Diese sollten die Einheit von Bauern, Arbeitern und Intelligenz symbolisieren. Innenminister Karl Maron begründete dies vor der Volkskammer der DDR noch am selben Tag mit den Worten: Zwischen 1956 und 1964 gab es eine gemeinsame olympische Mannschaft der beiden deutschen Staaten; sie verwendete die schwarz-rot-goldene Trikolore, ab 1960 (bis 1968) mit weißen olympischen Ringen im roten Streifen.In der Bundesrepublik gab es anfangs viele Proteste gegen die sogenannte „Spalterflagge“. Das Hissen oder das Zeigen der Flagge der DDR war in der Bundesrepublik Deutschland zeitweilig strafbar. Diplomatische und konsularische Vertretungen der Bundesrepublik im Ausland versuchten, das Hissen dieser Flagge als „unfreundlichen Akt“ zu brandmarken und zu verhindern, wo es möglich war (siehe Hallstein-Doktrin und Alleinvertretungsanspruch). Das begann sich erst in den Jahren 1969 und 1970 zuerst unter der Großen Koalition und dann im Zuge der Neuen Ostpolitik unter der sozialliberalen Koalition zu legen. Wichtigstes gesamtdeutsches Ereignis dieser Zeit war das Treffen von Bundeskanzler Willy Brandt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt. Protokollarische Anerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland fanden Flagge und Hymne der DDR schließlich im Jahr 1987 anlässlich des Empfangs von Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker durch Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Bundeskanzleramt in Bonn. Auch die Deutsche Post der DDR hatte bis zum 1. Mai 1973 eine eigene Dienstflagge, die der Flagge der Deutschen Bundespost ähnelte, aber ein anderes Posthorn trug. Diese wurde jedoch auch in den Anfangsjahren der Bundespost von 1947 bis 1950 verwendet, als sie ebenfalls noch mit Deutsche Post bezeichnet wurde. === Deutsche Wiedervereinigung === Im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung gewannen die „deutschen Farben“ wieder eine große Bedeutung als Symbolträger des geschichtlichen Vorhabens. In der Zeit der Proteste gegen das SED-Regime verwendeten viele DDR-Bürger die schwarz-rot-goldene Trikolore ohne das DDR-Staatswappen, womit sie ihre Abkehr vom sozialistischen Staat bekunden wollten. In der Zeit zwischen dem Mauerfall und der Wiedervereinigung fanden sich auch Flaggen, bei denen das DDR-Staatswappen kreisrund herausgeschnitten war. Vorbild dafür waren die Ungarn, die 1956 die sozialistischen Symbole entfernt hatten. Auch die Rumänen hatten im Dezember 1989 bei der Dezember-Revolution das sozialistische Staatswappen aus der rumänischen Nationalflagge herausgetrennt. Die Flagge mit dem fehlenden Staatswappen wird heute noch als Symbol von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verwendet. Im Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches für die DDR, der im Frühjahr 1990 der neu gewählten Volkskammer und der Öffentlichkeit übergeben wurde, war ebenfalls eine schwarz-rot-goldene Flagge, in der das alte DDR-Staatswappen durch das Symbol der unabhängigen Friedensbewegung der DDR „Schwerter zu Pflugscharen“ ersetzt wurde, als DDR-Staatsflagge vorgesehen. Der feierliche Akt der Wiedervereinigung wurde dann auch um Mitternacht vom 2. Oktober auf den 3. Oktober 1990 mit dem Hissen einer besonders großen schwarz-rot-goldenen Flagge an einem dafür speziell errichteten Flaggenmast vor dem Reichstagsgebäude in Berlin begangen: der Fahne der Einheit. Generell wird bis heute in der politischen Kultur Deutschlands die Verwendung nationaler Symbole zurückhaltender gehandhabt als in vielen anderen Ländern Europas. Die Erinnerung an den Missbrauch derartiger Symbole im 20. Jahrhundert ist weiterhin gegenwärtig, so dass vielen ein unbefangener Umgang nicht möglich scheint. Diese Zurückhaltung bezieht auch die Farben Schwarz-Rot-Gold mit ein, obwohl die beiden Weltkriege unter anderen Farben ausgetragen wurden. In den letzten Jahren ist jedoch ein vorsichtiger Trend zu erkennen, wonach es auch für Deutsche wieder „normaler“ wird, sich zu Deutschland zu bekennen und auch die Nationalfarben zu zeigen, vor allem bei internationalen Sportveranstaltungen ab den 1990er Jahren. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 entwickelte sich ein regelrechter Deutschland-Flaggen-Boom. Daneben benutzen viele Deutsche die Flaggen ihrer Bundesländer oder andere regionale Flaggen. Die deutschen ISAF-Truppen in Afghanistan liefen Gefahr, dass ihre Fahrzeuge aufgrund der Ähnlichkeit mit einigen Flaggen des Landes verwechselt wurden. Daher wurde dem Bild der Bundesflagge der weiße Schriftzug „Deutschland“ auf Darī zugefügt. == Verwendung bei rechtspopulistischen Demonstrationen == Mit dem Aufkommen von Pegida wurde die deutsche Trikolore (teils verkehrt herum), aber auch die Wirmer-Flagge immer häufiger bei Demonstrationen von Rechtspopulisten und Rechtsextremen verwendet – so auch bei den Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm dies zum Anlass, in seiner Rede am 9. November 2018 zu kritisieren: == Weitere Verwendung == === Die Fürstentümer Reuß-Greiz, Reuß-Gera und Waldeck-Pyrmont === Drei Fürstentümer des Deutschen Bundes und des späteren Deutschen Kaiserreichs verwendeten Schwarz-Rot-Gold als Landesfarben. 1814 verfügte der Fürst von Waldeck-Pyrmont für seine Milizionäre, dass sie als Erkennungszeichen eine schwarz-gelb-rote Kokarde tragen sollten. Gelb und Schwarz waren bereits im 17. Jahrhundert die Farben des Fürstentums. Die Abbildung einer Flagge im Archiv von Bad Wildungen zeigt eine rot-gelb-schwarze Flagge mit einem schwarzen Stern im Zentrum und der Jahreszahl 1775. Da angenommen wird, dass Wildungen keine eigene Flagge besaß, sondern die Flagge des Landes benutzte, wird diese dem Fürstentum zugeordnet. 1830 entsandte Waldeck ein Bataillon in das Bundesheer. Dieses verwendete die schwarz-rot-goldene, horizontale Trikolore. Ab etwa 1890 wurde zusätzlich das Fürstenwappen in dessen Standarte verwendet. Auch in der 5. Strophe des „Waldecklieds“ finden sich die Landesfarben: Die Flagge wurde auch nach der Umwandlung des Fürstentums in einen Freistaat 1918 beibehalten, bis dieser schließlich 1929 Preußen eingegliedert wurde.Die Farben des Fürstenhauses Reuß waren bereits im 17. Jahrhundert Schwarz und Gold. Seit den Zeiten des Rheinbundes ist auch Rot als dritte Farbe belegt. 1820 wurden Schwarz-Rot-Gold als Landesfarben der Reuß’schen Fürstentümer festgelegt. Während die ältere Linie die Farben für ihre Flagge als horizontale Streifen verwendete, zeigte die jüngere Linie die Trikolore im französischen Stil, also in vertikaler Anordnung. Die beiden Fürstentümer wurden 1918 zu Freistaaten umgewandelt. 1919 wurde aus den beiden Reuß-Staaten der Volksstaat Reuß, der die schwarz-rot-goldene, horizontale Trikolore verwendete. 1920 wurde er in Thüringen eingegliedert. === Inoffizielle Flaggen === Trotz Verbot der unbefugten Verwendung der Bundesdienstflagge oder einer dieser zum Verwechseln ähnlich sehenden Flagge, wie z. B. der deutschen Bundesflagge mit dem Bundeswappen Deutschlands nach § 124 OWiG, wird diese inoffizielle Flagge (auch als „Bundeswappenflagge“ bezeichnet), sehr häufig im Rahmen internationaler Sportereignisse, wie z. B. einer Fußball-Weltmeisterschaft, von den deutschen Fans genutzt. Da diese Art der Verwendung jedoch als „sozialadäquat“ und somit nicht als rechtswidrig gilt, wird sie geduldet und nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet.Vor allem bei Fußballspielen wird als Symbol der Deutsch-Türken eine schwarz-rot-goldene Flagge mit dem türkischen, weißen Halbmond und fünfzackigen Stern im roten Streifen, manchmal auch darüber hinausgehend, verwendet. Diese Flagge hat aber keinen offiziellen Hintergrund, sondern wird von Privatpersonen oder als griffiges Symbol in den Medien benutzt. == Schwarz-Rot-Gold oder Schwarz-Rot-Gelb? == In einem Urteil aus dem Jahr 1959 führte der Bundesgerichtshof aus: Dieser Entscheidung aus dem Jahr 1959 steht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. September 2008 entgegen. Hier gab das Gericht der Beschwerde eines Neonazis statt, der von verschiedenen Strafgerichten verurteilt worden war, weil er die Farben der deutschen Nationalflagge in einer öffentlichen Rede als „Schwarz-Rot-Senf“ bezeichnet hatte, wie es rechtsextreme Kräfte bereits in der Weimarer Republik taten. Bei heraldischer Betrachtung lässt sich indes vertreten, was Arnold Rabbow prägnant formulierte: Das Flaggengesetz von 1848 bezeichnete hingegen den untersten Streifen der Flagge ausdrücklich als gelb.Man unterscheidet in der Heraldik zwischen „Farben“ (Blau, Rot, Purpur, Schwarz, Grün) und den „Metallen“ Gold und Silber, die man üblicherweise durch Gelb und Weiß darstellt. Es gilt die Regel, dass nicht Farbe auf Farbe und nicht Metall auf Metall folgen darf. Gleichwohl ist die heraldische Sichtweise nicht zwingend. Die Bundesflagge stellt einen heraldischen Verstoß dar, weil hier die Farben Schwarz und Rot aufeinander folgen; richtig müsste der goldene Streifen, wie bei der Flagge Belgiens, zwischen den beiden Farben angeordnet sein. Die Deutsche Nationalversammlung setzte sich jedoch 1848 zugunsten der damals bereits üblich gewordenen Farbenfolge bewusst über die Regel hinweg. Auch befindet sich im Plenarsaal des Deutschen Bundestages seit 1949 eine Flagge mit einem goldenen dritten Streifen. Die Originalflagge schenkte die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen dem Parlament anlässlich seines ersten Zusammentretens in Bonn als Nachbildung der so genannten Hambacher Hauptfahne; wegen Verschleißerscheinungen wurde sie 1999 während der parlamentarischen Sommerpause durch eine originalgetreue Nachbildung ersetzt. Bei der erhalten gebliebenen Hambacher Hauptfahne von 1832 ist der dritte Streifen ebenso mit Goldfäden gewebt wie etwa auch bei der im Stadtmuseum Rastatt befindlichen Fahne aus dem Jahr 1848. Da die Anordnung über die deutschen Flaggen vom 13. November 1996 (BGBl. I, S. 1729) von „goldfarben“ spricht und die Flaggen im Anhang 1 (S. 1730) auch so bildlich dargestellt sind, ist die (seltene) Darstellung mit metallischem Farbton nicht nur historisch begründbar, sondern bei rechtlicher Betrachtung sogar vorzuziehen. Auf den Hinweis des Heraldikers Rabbow, dass nur schwarz-rot-gelbe Flaggen zu sehen seien, das Bundesinnenministerium aber gleichwohl der Übung der Weimarer Republik folge und in den Flaggenmustern einen goldfarbenen Streifen vorschreibe, erhielt er seinerzeit vom Ministerium folgende Antwort: „… Die Tatsache, daß trotz der Bezeichnung ‚gold‘ die Flaggen in Wirklichkeit kein Gold, sondern Gelb zeigen, ist allein darauf zurückzuführen, daß die Herstellung eines textilen Goldes bisher technisch nicht möglich war. Es wird jedoch bei allen amtlichen Mustern größter Wert darauf gelegt, daß dort, wo die Flaggenfarbe mit ‚gold‘ bezeichnet wird, in der Darstellung auch tatsächlich Gold und nicht Gelb wiedergegeben wird, soweit dies nur irgendwie technisch möglich ist.“ Der brandenburgische Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg hat jedenfalls für seinen Dienstsitz in Brandenburg an der Havel 2009 eine Deutschlandflagge angeschafft, bei der der dritte Streifen aus Goldlurex besteht.Auf der Grundlage des Beschlusses des Bundeskabinetts vom 2. Juni 1999 wurde aber das Corporate Design der Bundesregierung entwickelt. Für die technische Beschreibung verwendet die Bundesregierung momentan folgende RAL-Farbwerte, mit deren Entsprechung im Pantone- und CMYK-System für Wort-Bild-Marken („Logos“) und RGB für Online-Medien: == Schwarz-rot-gelbe Flaggen ohne direkten deutschen Bezug == Als Farbe des Blutes ist Rot eine der am häufigsten verwendeten Farben bei Flaggen. Gelb als Symbol für Reichtum findet sich ebenfalls oft wieder. Schwarz kommt vor allem bei den Panarabischen Farben (Schwarz-Weiß-Rot) vor und bei Flaggen mit afrikanischen Hintergrund, wo Schwarz für die Hautfarbe der Bevölkerung steht. Immer wieder findet sich daher auch die Kombination von Schwarz mit den Panafrikanischen Farben Grün-Gelb-Rot, wie zum Beispiel in den Flaggen von Mosambik und Simbabwe. Deutschlands Nachbarland Belgien verwendet eine vertikale schwarz-gelb-rote Trikolore. Die Farben dieser Flagge stammen aus dem Wappen des Herzogtums Brabant (Burgundischer Reichskreis des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation), einem goldenen Löwen, rot bewehrt, auf schwarzem Grund, und haben daher eine historische Verbindung zu den deutschen Nationalfarben. Eine weitere Trikolore in den Farben benutzte die Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik, die zwischen dem 22. April und dem 28. Mai 1918 bestand. Bei ihrer Flagge war die Reihenfolge Gelb-Schwarz-Rot. Papua-Neuguinea verwendet u. a. die Farben Schwarz, Rot und Gelb in seiner Flagge, die Teile der alten Wappen der beiden ehemaligen Kolonien zeigt, aus denen Papua-Neuguinea entstanden ist – aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea. Zudem spielen diese Farben traditionell auch in der Volkskunst des Landes eine Rolle.Der venezolanische Bundesstaat Miranda führt seit 2006 eine schwarz-rot-gelbe Trikolore mit sechs weißen Sternen und in der Gösch einer Sonne mit Olivenkranz und dem Staatsmotto Libertad o Muerte. Die drei Farben symbolisieren die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Bundesstaates. Diese Flagge, deren Ähnlichkeit zur deutschen Flagge zufällig ist, geht auf die historische Militärflagge von Francisco de Miranda zurück. Der Präsident der Venezolanischen Vereinigung für Symbolkunde hierzu: Die Gemeinde Tetovo in Nordmazedonien führt eine horizontale Trikolore mit einem breiten roten und jeweils einem schmalen schwarzen und gelben Streifen. Rot ist eine Farbe, die von beiden großen Bevölkerungsgruppen Tetovos, Albanern und Mazedoniern, traditionell verwendet wird. Bei den Albanern in Verbindung mit Schwarz, bei den Mazedoniern in Verbindung mit Gelb. Die People’s Progressive Party PPP in Guyana verwendet eine vertikale Trikolore in Schwarz, Rot und Gelb. Diese Farben finden sich, neben Grün, auch in der Flagge Guyanas.Die Stämme der Seminolen und der Mikasuki in Florida führen eine Flagge mit vier horizontalen Streifen in Weiß, Schwarz, Rot und Gelb; bei einigen Verwendungen befindet sich das Siegel des jeweiligen Stammes im Zentrum.Die australischen Aborigines verwenden eine horizontal geteilte schwarz-rote Flagge mit einer gelben Scheibe im Zentrum. Siehe auch: Flagge Angolas, Flagge Bruneis, Flagge Osttimors, Flagge Ugandas == Siehe auch == Geschichte Deutschlands Liste der Flaggen deutscher Gesamtstaaten Nationale Symbole für Deutschland == Literatur == Enrico Brissa: Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen. Siedler, München 2021, ISBN 978-3-8275-0133-2. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Deutsche Wappen und Flaggen – Symbole im demokratischen Staat. Franzis, München 1991, 1998. A. Friedel: Deutsche Staatssymbole. Athenäum, Frankfurt am Main/Bonn 1968, 1969. Berndt Guben: Schwarz, Rot und Gold. Ullstein, Berlin / Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-550-07500-6. Jörg-M. Hormann, Dominik Plaschke: Deutsche Flaggen. Geschichte, Tradition, Verwendung. Hamburg 2006, ISBN 3-89225-555-5. Walter Leonhard: Das große Buch der Wappenkunst – Entwicklung, Elemente, Bildmotive, Gestaltung. 2. Auflage. München 1978, ISBN 3-8289-0768-7. Peter Reichel: Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945. C.H. Beck, München 2005. Erardo Cristoforo Rautenberg: Schwarz-Rot-Gold: Das Symbol für die nationale Identität der Deutschen! In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv. Heft 3-2002, S. 5–21; Jahrbuch der Hambach Gesellschaft 2003. S. 227–246; 2008 aktualisierte Fassung herausgegeben vom brandenburgischen Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit (PDF-Datei, 2,31 MB). Harry D. Schurdel: Flaggen & Wappen Deutschland. Augsburg 1995, ISBN 3-89441-136-8. == Weblinks == Deutscher Bundestag: Schwarz Rot Gold – Symbol der Einheit auf Blickpunkt Bundestag online (offizielle Seite des Deutschen Bundestags) Ferdinand Freiligrath: Schwarz-Rot-Gold im Projekt Gutenberg-DE „Lützows wilde, verwegene Jagd“ von Theodor Körner Schwarz-Rot-Gold. Die deutschen Fahnen aus Jena (Dauerausstellung) Exponateintrag des Historischen Museums der Pfalz auf „museum-digital.de“ zur in der Dauerausstellung des Museums gezeigten Grafik Zug auf das Hambacher Schloss mit Erläuterung der dort abgebildeten Fahnen. Entstehung und Ursprung der schwarz-rot-goldenen Flagge Corporate Design der Bundesregierung E. C. Rautenberg (Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg): Schwarz-Rot-Gold: Das Symbol für die nationale Identität der Deutschen! (PDF; 2,31 MB) == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarz-Rot-Gold
Feline arterielle Thromboembolie
= Feline arterielle Thromboembolie = Die feline arterielle Thromboembolie (FATE-Syndrom) ist eine Erkrankung der Hauskatze, bei der Blutgerinnsel (Thromben) Schlagadern (Arterien) verstopfen und damit eine schwere Durchblutungsstörung verursachen. Bezogen auf die Gesamtzahl der Katzenpatienten ist die Erkrankung selten, bei Katzen mit einer Herzerkrankung jedoch relativ häufig: Etwa ein Sechstel der herzkranken Katzen ist davon betroffen. Eine Herzerkrankung ist die häufigste Grundursache für eine arterielle Thromboembolie. Sie führt zur Entstehung von Blutgerinnseln im Herzen, die es mit dem Blutstrom verlassen und größere Blutgefäße verlegen, bei Katzen vor allem die Aorta am Abgang der beiden äußeren Beckenschlagadern. Die arterielle Thromboembolie tritt plötzlich auf und ist sehr schmerzhaft. Durch die Verlegung des Endabschnitts der Aorta kommt es in den Hinterbeinen zu einer Unterversorgung mit Blut. Die Folge sind Lähmungen, kalte Hinterextremitäten und später schwere Gewebeschäden. Selten sind auch andere Blutgefäße betroffen, die Ausfallserscheinungen hängen dann vom Versorgungsgebiet der betroffenen Arterie ab. Da die medikamentelle Auflösung des Blutgerinnsels bei Katzen keine befriedigenden Ergebnisse erzielt, wird heute auf die Selbstauflösung des Gerinnsels durch körpereigene Reparaturprozesse gesetzt. Begleitend werden eine Schmerztherapie und eine Gerinnungsprophylaxe durchgeführt sowie die zugrundeliegende Erkrankung behandelt. Die Sterblichkeit der arteriellen Thromboembolie bei Katzen ist sehr hoch. 50 bis 60 % der betroffenen Tiere werden ohne Behandlungsversuch eingeschläfert und nur ein Viertel bis ein Drittel der Tiere überlebt ein solches Ereignis. Bei etwa der Hälfte der genesenen Katzen entsteht trotz Gerinnungsprophylaxe eine erneute Thromboembolie. == Vorkommen, Krankheitsursache und Krankheitsentstehung == Die feline arterielle Thromboembolie ist mit einem Anteil von etwa 0,1–0,3 % an der Gesamtzahl der Katzenpatienten eine seltene Erkrankung. Das mittlere Alter bei Auftreten einer Thromboembolie beträgt 12 Jahre (1 bis 21 Jahre).Das FATE-Syndrom entsteht in etwa 70 % der Fälle infolge von Herzerkrankungen, meist einer Herzerkrankung mit Herzwandverdickung (Hypertrophe Kardiomyopathie, HCM). Bis zu 17 % der Katzen mit einer HCM erleiden eine arterielle Thromboembolie, aber auch Katzen mit anderen Kardiomyopathien haben ein erhöhtes Risiko. Eine weitere Risikogruppe stellen Katzen mit einer krankhaft gesteigerten Blutgerinnung dar, die bei Schilddrüsenüberfunktion, Tumoren, ausgedehnten Entzündungen, Blutvergiftung (Sepsis), Verletzungen oder einer Blutgerinnung innerhalb der Blutgefäße auftreten kann. Eine erhöhte Krankheitsneigung gibt es bei männlichen Katzen, was mit der höheren Inzidenz von Herzerkrankungen bei Katern zusammenhängt.Für die Entstehung von Blutgerinnseln (Thromben) sind vor allem die Schädigung der Herzinnenhaut sowie die Verlangsamung des Blutflusses im vergrößerten linken Herzvorhof und Herzohr verantwortlich. Die Gewebsschädigung führt zur Ausschüttung von Gewebefaktor und zur Aktivierung von Gerinnungsfaktoren. Die intakte Glykokalyx der Endothelzellen der Herzinnenhaut vermindert normalerweise den Kontakt mit Blutkörperchen und Makromolekülen. Kommt es zu einer Endothelzellschädigung, werden vermehrt reaktive Sauerstoffspezies (ROS), Stickstoffmonoxid (NO), Matrix-Metalloproteasen und entzündungsfördernde Zytokine gebildet und Zelladhäsionsmoleküle hochreguliert. Durch die Endothelzellschädigung wird die darunterliegende extrazelluläre Matrix freigelegt, an die sich Blutplättchen anlagern und ein Gerinnsel bilden. Das Gerinnsel besteht aus Blutplättchen, die durch das Gerinnungseiweiß Fibrin untereinander verbunden sind. Mit der Reifung des Gerinnsels nimmt der Fibrinanteil zu und das Gerinnsel kann eine Schichtung aufweisen. Auch bei gesunden Tieren treten spontan immer wieder Verletzungen des Endothels auf, dabei besteht jedoch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Thrombenbildung und -abbau. Substanzen wie Antithrombin III, Thrombomodulin, gewebespezifischer Plasminogenaktivator und Urokinase lösen entstandene Blutgerinnsel auf und Prostacyclin und Stickstoffmonoxid hemmen die Zusammenballung der Blutplättchen. Auf dieser körpereigenen Auflösung des Gerinnsels beruht auch die konservative Behandlung der arteriellen Thromboembolie bei Katzen (siehe unten). Bei Katzen entstehen die Blutgerinnsel vor allem im linken Herzohr. Sie oder Teile von ihnen werden mit dem Blutstrom mitgerissen, gelangen über die linke Herzkammer in die Aorta, bleiben an Gefäßabgängen hängen und verstopfen diese. Dieser Zustand wird als Thromboembolie oder Thrombembolie bezeichnet. Bei Katzen tritt dies überwiegend in der Aorta im Bereich ihrer Endaufzweigung, also am Abgang der beiden äußeren Beckenarterien (Aa. iliacae externae), auf. Dies wird auch als „Sattelthrombus“ oder als „Reitender Thrombus“ bezeichnet. Dadurch kommt es zu einer Blutunterversorgung der hinteren Extremitäten. Zusätzlich werden durch die Blutplättchen Thromboxan und Serotonin freigesetzt, welches zu einer Gefäßverengung und damit zu einer Minderdurchblutung auch nicht direkt betroffener Blutgefäße führt. Serotonin stimuliert darüber hinaus Schmerzfasern, was zu der hohen Schmerzhaftigkeit der Erkrankung beiträgt. Nur in 10 % der Fälle sind andere Blutgefäße betroffen, beispielsweise die Oberarmarterie, die Lungenarterien, Hirngefäße, Darmgefäße oder Herzkranzgefäße.Beim Menschen sind Herzerkrankungen (vor allem Vorhofflimmern), eine gesteigerte Blutgerinnung und die Atherosklerose die häufigsten Grunderkrankungen für die Entstehung einer arteriellen Thromboembolie. Auch hier entstehen die Thromben vor allem in der linken Herzseite. Am häufigsten werden Gehirnarterien (Schlaganfall) und die Arterien des Beins (Akuter arterieller Extremitätenverschluss, acute lower limb ischemia) verlegt. Seltener kommt es zu Thromboembolien der Gefäße des Arms, der oberen Gekrösearterie oder der Nierenarterien (Niereninfarkt). Das der häufigsten Lokalisation der Katze entsprechende Leriche-Syndrom (Aortenbifurkations-Syndrom) ist dagegen beim Menschen extrem selten. Beim Haushund treten arterielle Thromboembolien deutlich seltener auf als bei Katzen, häufige Grunderkrankungen sind beim Hund Proteinverlust-Nephropathie, Krankheiten des Immunsystems, Tumoren, Sepsis, Herzkrankheiten, Proteinverlust-Enteropathie und Bluthochdruck. Es kommen zwar auch beim Hund gelegentlich Aortenthrombosen vor, hier entstehen die Thromben aber direkt an der Aortenaufzweigung, als thromboembolisches Ereignis wie bei der Katze sind sie extrem selten. Auch beim Hauspferd gibt es Einzelfallberichte zu Thromboembolien, während sie bei anderen Tierarten ohne praktische Bedeutung sind. Bei den in der humanmedizinischen Schlaganfallforschung eingesetzten Labortieren werden künstlich Thromben erzeugt. == Symptome, klinische Diagnostik und Laborbefunde == Die Erkrankung tritt plötzlich (perakut) auf und geht mit starken Schmerzen einher. Betroffene Katzen schreien („vokalisieren“) und haben häufig Untertemperatur. Das Ausmaß der weiteren Krankheitserscheinungen hängt von der Lage des Gerinnsels ab und davon, ob das Gefäß vollständig oder nur teilweise verlegt ist. Bei Verschluss der Beckenarterien kommt zu einer teilweisen (Parese) oder vollständigen Lähmung (Plegie) der Hinterextremitäten. In den meisten Fällen sind beide Hinterbeine betroffen. Die Muskulatur ist nach etwa 10 Stunden verhärtet und schmerzhaft, vor allem die Unterschenkelmuskulatur. Der Puls an der Oberschenkelarterie (Arteria femoralis) ist deutlich vermindert oder fehlt in 78 % der Fälle ganz. Die Pfoten sind kalt und insbesondere der Bereich der Krallen und Ballen zeigt häufig bläuliche Verfärbungen (Zyanose) oder ist auffallend blass. Die Reflexe der Hintergliedmaße (Patellarsehnenreflex, Tibialis-cranialis-Reflex und Flexorreflex) sind stark reduziert oder fallen ganz aus. Häufig treten eine Erhöhung der Atemfrequenz, Atemnot und Synkopen auf. Auch Wahrnehmungsverluste können vorkommen. Die Hauptsymptome lassen sich in der „5-P-Regel“ – Paresis (Lähmung), Pallor (Blässe), Pain (Schmerz), Pulselessness (Pulsverlust), Poikilothermia (Untertemperatur) – zusammenfassen. Die Schwanzmuskulatur, der Analreflex und die Harnblasenfunktion sind zumeist nicht betroffen.Andere Verschlüsse sind viel seltener und das klinische Bild ist abhängig vom betroffenen Körperteil beziehungsweise Organ. Ein Verschluss der Oberarmarterie tritt vorwiegend rechts auf und verursacht eine plötzlich auftretende Lähmung der Vordergliedmaße. Die Thromboembolie von Blutgefäßen der Lunge zeigt sich in erhöhter Atemfrequenz und Atemnot. Das klinische Bild des Verschlusses von Hirngefäßen (Ischämischer Schlaganfall) hängt stark vom betroffenen Gefäß und damit vom geschädigten Hirnareal ab. Zumeist kommt es zu einseitigen neurologischen Ausfallserscheinungen. Der Verschluss einer Koronararterie (Herzinfarkt) führt zu Herzrhythmusstörungen mit meist tödlichem Ausgang und wird daher häufig gar keinem Tierarzt mehr vorgestellt, so dass dessen Häufigkeit womöglich unterschätzt wird. Der Verschluss von Nieren- oder Darmgefäßen verursacht starke Bauchschmerzen (akutes Abdomen) und führt häufig ebenfalls schnell zum Tod. Es gibt auch Fallberichte über den gleichzeitigen Verschluss mehrerer Gefäße mit Lähmung aller Gliedmaßen oder von Kleinhirn und Nieren mit schweren Gleichgewichtsstörungen. Beim Abhören des Herzens (Auskultation) lassen sich meist Herzgeräusche, ein unregelmäßiger Herzschlag, Herzrasen, Extrasystolen und ein „Galopprhythmus“ – eine Abfolge der Herztöne, die an ein galoppierendes Pferd erinnert – nachweisen. Bis zu zwei Drittel der FATE-Patienten befinden sich im kongestiven Herzversagen, bei dem das Herz nicht mehr ausreichend Blut in den Körper pumpt. Ein mittels EKG feststellbares Vorhofflimmern stellt einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Der Aortenthrombus kann häufig direkt sonografisch dargestellt werden, gegebenenfalls kann auch eine Angiografie oder Elektromyografie durchgeführt werden. Mittels Echokardiografie können Thromben und ihre Vorstufen im Herz sichtbar gemacht und der Funktionszustand des Herzens eingeschätzt werden. Der Pulsverlust an der Oberschenkelarterie kann auch mittels Dopplersonografie erkannt werden, wobei zu beachten ist, dass der Puls bei einem unvollständigen Gefäßverschluss noch sonografisch nachweisbar ist. Mittels Infrarot-Thermografie lassen sich Temperaturdifferenzen zwischen Vorder- und Hintergliedmaßen objektivieren. Die Sensitivität dieses Verfahren liegt zwischen 80 und 90 %, die Spezifität bei 100 %. Eine Thromboembolie der Lunge bleibt häufig unerkannt, hier kann eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs erste Hinweise liefern, eine sichere Diagnose kann mittels Computertomographie oder Szintigrafie der Lunge gestellt werden. Bei Verdacht auf einen Schlaganfall ist eine Magnetresonanztomographie angezeigt.Die Aktivitäten der Enzyme Creatin-Kinase (CK) und Aspartat-Aminotransferase (AST) sind aufgrund des Absterbens von Muskelzellen im Blut erhöht. Wenn eine Herzerkrankung vorliegt, was ja häufig der Fall ist, ist das NTproBNP oberhalb des Normbereichs. Auch die „Nierenwerte“ (Kreatinin, Harnstoff, SDMA) können aufgrund der schockbedingten verminderten Nierenfunktion erhöht sein (prärenale Azotämie). Alle Laborwerte sind allerdings nicht spezifisch für eine arterielle Thromboembolie und spielen für die Sicherung der Diagnose nur eine untergeordnete Rolle. Hilfreich kann die Bestimmung der Blutzucker- oder Laktatkonzentration im Körper im Vergleich zu der in der gelähmten Gliedmaße sein. Die Bestimmung der Thyroxinkonzentration (T4) im Blut ist zum Erkennen einer Schilddrüsenüberfunktion sinnvoll, bei 1,7 % der Katzen mit Thromboembolie war die Schilddrüsenüberfunktion vorher nicht bekannt. == Diagnose und Differentialdiagnose == Die Diagnose kann bei der häufigsten Lokalisation (Aortenthrombose) zumeist bereits aufgrund des Vorberichts und der klinischen Symptome gestellt werden (perakute Nachhandlähmung ohne Trauma). Eine bestehende Herzerkrankung liefert weitere Hinweise, jedoch ist bei nur etwa 15 % der Katzen mit einer Thromboembolie die Herzerkrankung bereits bekannt.Die andere häufigere ischämische Myopathie, das Kippfenster-Syndrom, lässt sich zumeist durch die Befragung des Tierbesitzers ausschließen. Zudem ist das Kippfenster-Syndrom nicht mit starken Schmerzen verbunden. Differentialdiagnostisch sind weiterhin vor allem ein Trauma des Rückenmarks (Verkehrsunfall, Fenstersturz) auszuschließen, das auf ein vom Besitzer eventuell nicht beobachtetes Geschehen zurückzuführen ist. Ein Bandscheibenvorfall oder ein Rückenmarksinfarkt können ebenfalls zu plötzlichen Lähmungserscheinungen führen. Auch Tumoren im Rückenmark oder Wirbelkanal können Nachhandlähmungen auslösen, diese entwickeln sich allerdings zumeist langsam und die Ausfallserscheinungen treten allmählich auf.Schwieriger ist die Diagnose von Gefäßverschlüssen der inneren Organe, hier sind Spezialuntersuchungen (CT, MRT) zur Diagnosesicherung erforderlich, die nur in größeren Einrichtungen verfügbar sind. == Therapie == Die Behandlung der arteriellen Thromboembolie besteht bei Katzen in einer Schmerztherapie, in der Vorbeugung der Entstehung weiterer Gerinnsel sowie gegebenenfalls der Behandlung der unzureichenden Herzfunktion. Meist ist eine intensivmedizinische Betreuung für drei Tage erforderlich, ehe die Behandlung zu Hause fortgesetzt werden kann.Zur Reduktion der Schmerzen ist die Gabe von stark wirksamen Schmerzmitteln angezeigt, wobei Opioid-Analgetika wie Levomethadon oder Fentanyl am wirksamsten sind. Beide Wirkstoffe sind in der EU jedoch nicht für Katzen zugelassen und müssen daher im Sinne eines Therapienotstands umgewidmet werden. Zudem wirkt Fentanyl nur etwa 30 Minuten, Levomethadon etwa 5 Stunden, wenn man Daten für den Hund zugrunde legt, was die Weiterbehandlung zu Hause limitiert. Eine Dauertropfinfusion mit der Kombination von Fentanyl und Lidocain ist beschrieben. Lidocain schützt neben seiner schmerzstillenden Wirkung in gewissem Umfang auch vor Schäden durch die Wiedereröffnung des verstopften Gefäßes (Reperfusionsschaden). Allerdings ist die therapeutische Breite von Lidocain bei Katzen sehr gering, bereits 6 mg/kg können tödlich sein. Das einzige für Katzen zugelassene Opioid-Analgetikum, Buprenorphin, hat für die Initialbehandlung keine ausreichend schmerzstillende Wirkung, zumindest nicht wenn ein Totalverschluss beider äußerer Beckenarterien vorliegt. Für die Weiterbehandlung zu Hause kann es eingesetzt werden, zumal es einfach über die Mundschleimhaut verabreicht werden kann und eine Wirkdauer von etwa 8 Stunden hat. Nichtopioid-Analgetika gewährleisten keine ausreichende Schmerzreduktion und können bei Tieren Durchblutungsstörungen verstärken und damit Nieren- oder Magen-Darmschäden verursachen. Lediglich Metamizol ist zur späteren Weiterbehandlung geeignet. Die Hemmung der Entstehung weiterer Blutgerinnsel, die Thromboseprophylaxe, ist die zweite wichtige Säule der FATE-Behandlung. Sie sollte möglichst früh erfolgen. Hierzu werden zunächst Mittel zur Hemmung der Blutgerinnung wie niedermolekulare Heparine, parallel dazu Mittel zur Verhinderung der Zusammenballung der Blutplättchen (Thrombozytenaggregation) wie ASS und Clopidogrel eingesetzt. Zur Langzeitprophylaxe wird vorzugsweise Clopidogrel verabreicht, da es die Überlebenszeit gegenüber ASS deutlich verlängert. Die Verwendung des Wirkstoffes Rivaroxaban als weiteres wirksames Medikament wird ebenfalls diskutiert. Eine Studie aus dem Jahr 2021 konnte zeigen, dass die Kombination von Clopidogrel und Rivaroxaban eine effektive Rezidivprophylaxe darstellt.Katzen im kongestiven Herzversagen wird zum Ausgleich der Sauerstoffunterversorgung zusätzlich Sauerstoff verabreicht. Zur Senkung von Vor- und Nachlast und damit Entlastung des Herzens wird hochdosiert Furosemid eingesetzt. Bei einer Herzerkrankung mit Herzkammererweiterung (DCM) oder einer Herzerkrankung mit Herzwandverdickung (HCM) im fortgeschrittenen Stadium kann mit Pimobendan die Pumpleistung verbessert werden, gegebenenfalls auch mit Dobutamin. Pimobendan erhöht in geringem Maß auch den Blutfluss im linken Vorhof und Herzohr und verbessert zusätzlich die Vorhoffunktion. Liegt dagegen kein kongestives Herzversagen, sondern eine verminderte Durchblutung (Perfusion) vor, dann werden Vollelektrolytlösungen infundiert. Bei einer zugrundeliegenden Schilddrüsenüberfunktion werden Thyreostatika wie Thiamazol oder Carbimazol verabreicht.Der Nutzen einer externen Wärmezufuhr bei Katzen mit Untertemperatur ist umstritten. Häufig ist der vordere Teil des Körpers normal temperiert und die Untertemperatur betrifft nur den hinteren Teil und damit auch den Mastdarm, wo bei Katzen normalerweise die Körpertemperatur gemessen wird. Die Messung im Achselbereich oder im Ohr ist unzuverlässig. Der Vergleich zwischen Achsel- und Mastdarmtemperatur liefert aber zumindest Hinweise, um zwischen lokaler und genereller Untertemperatur zu unterscheiden. Bei letzterer ist eine Zufuhr von Wärme angezeigt.Die naheliegende Behandlung, die Wiedereröffnung des Gefäßes durch medikamentöse Auflösung (Thrombolyse) oder invasive Entfernung des Gerinnsels (Thrombektomie), wie sie in der Humanmedizin bei Verschlusskrankheiten wie Schlaganfall oder Herzinfarkt lange etabliert ist, liefert bei Katzen unbefriedigende Ergebnisse und wird daher nicht mehr empfohlen. Die Thrombolyse mit Streptokinase, Urokinase oder Gewebespezifischem Plasminogenaktivator hat in verschiedenen Studien keine Verbesserung des Behandlungserfolgs erbracht. Hierbei kommt es meist zu häufig tödlich verlaufenden Reperfusionstörungen, Hyperkaliämie, metabolischer Azidose, Nierenversagen und Blutungen, so dass die Überlebensrate häufig geringer ist als mit konservativer Behandlung. Solche Behandlungen werden in der Humanmedizin nur in hochspezialisierten Einrichtungen (Herzzentren, Stroke Units) mit hohem personellen und apparativen Aufwand durchgeführt. Die chirurgische Beseitigung des Thrombus wird in der Tiermedizin aufgrund der damit verbundenen Risiken ebenfalls selten durchgeführt, obwohl sie in Einzelfällen erfolgreich sein kann. Sie ist mit den gleichen Komplikationen vergesellschaftet wie die Thrombolyse und wird deshalb nicht mehr empfohlen. Daher wird gegenwärtig auf die körpereigene Auflösung des Gerinnsels und damit auf die spontane Rekanalisation gesetzt, die in knapp 40 % der Fälle schnell genug eintritt. == Prognose und Vorbeugung == Die Behandlungsaussicht (Prognose) einer Thromboembolie der Aorta ist unsicher bis schlecht. Nach Angaben einer US-amerikanischen Studie überlebt nur etwa ein Drittel der Katzen eine arterielle Thromboembolie, wobei die Hälfte der versterbenden Patienten ohne Behandlungsversuch eingeschläfert werden. In einer britischen Studie wurden etwa 60 % der Patienten eingeschläfert. Lediglich 27 % der Tiere überlebten die ersten 24 Stunden. Die mittlere Überlebenszeit betrug 94 Tage, nach einem Jahr waren nur noch 2 % der Tiere am Leben.Die Prognose hängt maßgeblich vom Ausmaß und der Dauer der Schädigungen ab, wobei beidseitige Komplettverschlüsse der Beckenarterien die geringste Überlebenschance aufweisen. Wenn nur eine Gliedmaße betroffen ist und noch eine motorische Restfunktion vorhanden ist, ist die Aussicht, dass sich die Katze erholt und bei guter Lebensqualität weiterlebt, besser. Bei einer Körperinnentemperatur über 37,2 °C – die Normaltemperatur bei Hauskatzen beträgt etwa 39 °C – ist die Behandlungsaussicht besser als bei stärkerer Untertemperatur. Ein Kaliumüberschuss im Blut (Hyperkaliämie) und erhöhte Nierenwerte (Azotämie) sind weitere negative prognostische Faktoren. Auch nach einer spontanen Wiedereröffnung des Blutgefäßes (Rekanalisation) kommt es häufig zu Rezidiven durch eine erneute Thromboembolie, die auch die Thromboseprophylaxe nicht sicher verhindern kann. Bei der Hälfte der Patienten kommt es trotz der Behandlung mit Clopidogrel zu einer erneuten Thromboembolie. Zudem bestimmt das Ausmaß der Herzerkrankung, insbesondere das Ausmaß der Vorhofvergrößerung und die Pumpleistung der linken Herzkammer, das weitere Überleben des Patienten.Bei Verschluss kleinerer Hirnarterien ist die Prognose dagegen günstig. Häufig kommt es innerhalb von zwei bis drei Wochen zu einer Reduktion der Ausfallserscheinungen, da andere Hirnareale die Funktion des Infarktgebietes übernehmen. Auch der Verschluss der Oberarmarterie hat eine gute Heilungsaussicht. Die Prognose und Mortalität von Lungenthromboembolien ist nicht bekannt, da sie sehr selten sind. Einzelfallberichte zeigen, dass Katzen ein solches Ereignis überleben können und sich die Lungenfunktion durch Bildung von Kollateralen wieder normalisieren kann. Andere Verschlüsse (Darm-, Nieren- und Herzkranzgefäße) verlaufen sehr häufig tödlich.Einige Kleintier-Kardiologen empfehlen die Gerinnungsprophylaxe bereits bei bestimmten Herzveränderungen, also vor dem Auftreten einer Thromboembolie. So konnte eine Studie zeigen, dass eine Flussgeschwindigkeit im linken Herzohr von unter 0,2 m/s mit dem Auftreten von Thromben und spontanem echokardiografischen Kontrast (smoke) in Zusammenhang steht. Spontaner echokardiografischer Kontrast ist eine Zusammenballung von roten Blutkörperchen und damit ein Thrombus-Vorstadium, das in der sonografischen Darstellung an Rauchschwaden erinnert. Prospektive Studien zum Nachweis der Wirksamkeit einer solchen Behandlung stehen aber noch aus. == Literatur == Dominik Faissler et al.: Ischämische Myopathie. In: Andre Jaggy (Hrsg.): Atlas und Lehrbuch der Kleintierneurologie. Schlütersche, Hannover 2005, ISBN 3-87706-739-5, S. 272–273. Florian Sänger und Rene Dörfelt: Feline arterielle Thromboembolie – Aktueller Stand der Diagnostik und Therapie. In: Kleintierpraxis Band 65, Nummer 4, April 2020, S. 220–235. doi:10.2377/0023-2076-65-220 Lisa Joy Miriam Keller: Hypertrophe Kardiomyopathie der Katze. In: Markus Killich (Hrsg.): Kleintierkardiologie. Georg Thieme, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-13-219991-0, S. 369–370. Alan Kovacevic: Kardiologische Notfälle. In: Nadja Siegrist (Hrsg.): Notfallmedizin für Hund und Katze. Enke, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-13-205281-9, S. 231–255. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Feline_arterielle_Thromboembolie
Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation
= Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation = Die Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation, einer der kanadischen First Nations der Athabasken im Territorium Yukon, reicht ihrer eigenen Anschauung nach mehr als zehn Jahrtausende zurück. Sie betrachten sich seit unvordenklichen Zeiten als Teil des Landes entlang des Yukon (Chu Kon’ Dëk) und Klondike Rivers (Trʼondëk). Da traditionell die Angehörigen dieser indianischen Gruppe im Gebiet rund um Dawson lebten und leben, wurden sie früher auch Dawson Indian Band genannt. Sie sind zumeist Nachfahren der größten Lokalgruppe der südlichsten regionalen Band der Han (Hän Hwëch'in) („Volk, das am Fluss – dem Yukon River – lebt“) zur Zeit des Klondike-Goldrausches und wurden daher oftmals auch nach dem einflussreichsten Häuptling Isaac als Chief Isaac People, Isaac’s Band bezeichnet. Zusammen mit einer allerdings kleinen Gruppe im Alaska Native Village namens Native Eagle Village nahe der Stadt Eagle (Tthee T’äwdlenn) im Osten Alaskas sprechen sie gemeinsam die Sprache Häɬ goɬan bzw. Han. 1995 wählte die First Nation den heutigen Namen als offizielle Bezeichnung; er leitet sich vom Autonym Tr’ondek Hwech’in bzw. Tr’ondëk Hwëch’in („Volk entlang des Klondike River“) her, das sich von der Bezeichnung für den Klondike River als Trʼondëk (abgl. von Tro – „Schlagsteine, zur Befestigung der Stecken der Lachswehre“ und Ndëk – „Fluss“) sowie von Hwech’in / Hwëch’in („Volk“; wörtlich: „Bewohner einer Gegend“) ableiten lässt. Heute identifizieren sie sich jedoch nach ihrem einst bedeutenden Hauptort Tr’ochëk („Mündung des Klondike River“, an der gegenüberliegenden nördlichen Flussseite befindet sich Dawson) als „Volk an der Mündung des Klondike River“. Dem rauen Klima des kanadischen Nordwestens passten sich die Indianer im Rahmen einer halb-nomadischen Lebensweise an, die auf festen Winterdörfern mit Vorratswirtschaft und Wanderzyklen entsprechend den Jagd- und Sammelressourcen basierte. Der Fischfang, vor allem auf Lachse, und die Jagd auf Karibus lieferten den überwiegenden Teil der Lebensmittel, aber auch der Kleidung und einiger Werkzeuge. Teile dieser Werkzeuge, wie Obsidian, aber auch des Schmucks, wie bestimmte Muschelarten, wurden schon früh über ein Netz von weitläufigen Tausch-, Geschenk- und Handelskontakten aus Alaska, dem Norden British Columbias, von Vancouver Island und aus den Nordwest-Territorien beschafft, ebenso wie Kupfer. Pfeil und Bogen lösten den Atlatl wohl erst ab etwa 600 ab. Europäische Händler, die nach 1800 mit dem ausgedehnten Netz von Pfaden, Kontakten und Gütern in Berührung kamen, wurden mehrere Jahrzehnte lang in dieses Netz integriert, wenn auch zunehmend der über die Weltmächte, allen voran Russland und Großbritannien, später die USA, vermittelte Welthandel mit seinen weiträumigen Interessen dominierte. Spätestens 1847 traten die Han erstmals in direkten Kontakt mit Briten. 1874 forderten sie eine amerikanische Handelsgesellschaft auf, einen Posten in ihrer Nähe zu errichten. Dabei konkurrierte die britische Hudson’s Bay Company zunächst mit russischen Pelzhändlern und ab 1867, nachdem die USA Alaska erworben hatten, mit amerikanischen Gesellschaften, vor allem der Alaska Commercial Company. Als besonders folgenreich erwies sich jedoch weniger der Handel als die mangelnde Abwehrkraft der Han gegen die von Europäern eingeschleppten Krankheiten, wie Pocken, Masern und Tuberkulose – ein Phänomen, das die meisten Indianer betraf. Neben Pelzhändlern sickerten zunehmend Goldsucher in die Region ein, was die Lebensbedingungen in dem abgelegenen Gebiet weiter veränderte. Der Klondike-Goldrausch brachte ab 1896 eine so massive Zuwanderung, dass die Han zur kleinen Minderheit von wenigen hundert Menschen wurden, denen bis zu 100.000 Zuwanderer gegenüberstanden. Dazu kam die Entwicklung einer städtischen Gesellschaft und die Umsiedlung nach Moosehide, einige Kilometer von Dawson entfernt, wo der Stamm zwischen 1897 und etwa 1960 lebte. Herausragender Führer in dieser Phase war Chief Isaac, der 1932 starb. Er wehrte sich gegen die Zerstörung der für die traditionelle Lebensweise unverzichtbaren natürlichen Ressourcen, vor allem gegen das Abschlachten der Karibuherden und die Abholzung der Wälder. In Moosehide entstand ein Stammesrat und das traditionelle Häuptlingstum wurde durch gewählte Häuptlinge abgelöst. Die Rohstoff-Ökonomie des Yukon bot den Han nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten, zumal diese mit der Weltwirtschaftskrise einbrach. So herrschte lange der traditionelle Lebensstil vor, der erst mit dem starken Rückgang des Pelzmarkts um 1950 zunehmend aufgegeben werden musste. Zudem war der Anteil der nichtindianischen Bevölkerung nach dem Goldrausch stark rückläufig. Verstärkt wurde die Isolierung der indianischen Gruppen im Territorium durch eine ausgeprägte Politik der Segregation, aber auch durch Vernachlässigung bis weit in die 1960er Jahre. Seitdem gelang es den First Nations nicht nur, politische Rechte, wie das Wahlrecht auf Bundesebene (1960) zu erhalten, sondern im Yukon gelang es den Tr’ondek Hwech’in wie anderen Stämmen auch, die Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete, mit stark abgestuften Rechten, durchzusetzen (1998). Zudem hat sich die First Nation 1998 eine Verfassung gegeben und tritt seither nach innen mit gesetzgeberischen Rechten auf. Sprache und Kultur werden extensiv gepflegt und der externen Öffentlichkeit bekannt gemacht, nachdem die kanadische Regierung mehrere Jahrzehnte lang versucht hatte, sie auszulöschen. Sie sind inzwischen bedeutende Elemente des regionalen Tourismus geworden. == Frühgeschichte == Wichtigster archäologischer Fundplatz ist Tr’ochëk, eine Insel, die heute zu den nationalen historischen Stätten Kanadas gehört, und die direkt gegenüber von Dawson liegt. Früheste Lebensgrundlage waren die Karibuherden, vor allem die Porcupine- und die Forty-Mile-Herde, die zweimal pro Jahr durch das Gebiet um Dawson zogen. Erstere umfasst heute über 100.000 Tiere, letztere wird für die Zeit um 1900 auf 600.000 Tiere geschätzt. 2007 wurde die Herde auf 110.000 bis 112.000 Tiere geschätzt, bis 2010 stieg ihre Zahl auf 169.000. Dazu kamen Elche, Schafe, Murmeltiere und Alaska-Pfeifhasen sowie Vögel und Fische, vor allem Lachse aus den großen Flüssen des Gebiets, dem Yukon und dem Klondike – letzterer Name leitet sich vom Han-Wort für Schlagstein, im Englischen Hammerstone ab. Die Lachse, vor allem Chinook (Königslachs) und später im Jahr Chum (Ketalachs), zogen zum Laichen den Yukon und seine Nebenflüsse aufwärts und boten ab Ende Juni Gelegenheit zum gemeinschaftlichen Fang. Schon früh wurden die Fische auf Holzgestellen getrocknet und so für den überaus kalten Winter konserviert. Die frühesten gesicherten Funde im Bereich des Yukon stellen die drei Bluefish-Höhlen dar, deren Fundbestand mindestens 12.000 Jahre zurückreicht. In Moosehide und im Bereich des späteren Dawson lassen sich rund 8.000 Jahre alte menschliche Spuren nachweisen. Dabei handelt es sich um Steinabschläge, die sich in rund 50 cm Tiefe fanden. Die älteste Spur ist jedoch ein Stück eines Karibugeweihs, das etwa 11.000 Jahre alt ist, und das an einem Nebenfluss des Klondike gefunden wurde, dem Hunker Creek. In dieser frühen Phase war die Region noch weitgehend unbewaldet. Um 5000 v. Chr. wurden die bis dahin verbreiteten massiven Werkzeuge durch Kompositwerkzeuge ersetzt, bei denen Knochen, Geweih und sehr kleine Klingen, sogenannte Microblades, zu Werkzeugen verbunden wurden. Die ältesten Spuren in Moosehide konnten auf 3600 v. Chr. datiert werden, möglicherweise auch auf 4500 v. Chr. Zudem wurde dort Obsidian gefunden, eine Art vulkanischen Glases, das bereits auf einen weiträumigen Handel hindeutet, denn es kommt in der Region nicht vor, sondern nur im Südwesten des Yukon und im Norden British Columbias, am Mount Edziza. Darüber hinaus wurden lanzettartige Speerspitzen gefunden, Bruchstücke von Säugetierknochen, dazu ein Stein, der wahrscheinlich als Netzsenker beim Fischfang diente. Um 3000 bis 2500 v. Chr. wurden die Microblades von seitwärts eingekerbten Speerspitzen, sowie einer breiten Palette von Kratzern ersetzt. Als Jagdwaffe wurde der Atlatl von Eskimos übernommen. Die jährlichen Laichzüge der Lachse förderten saisonale Wanderungen zwischen den entsprechenden Fangplätzen. Diese Phase wird als Northern Archaic tradition bezeichnet. Funde aus der Zeit um 600 n. Chr. weisen erstmals auf den Gebrauch von Pfeil und Bogen hin. Die partiell steinernen Waffen und Werkzeuge waren nicht die einzige erkennbare technologische Neuerung, sondern es kamen metallurgische Techniken hinzu. Diese basierten auf dem einsetzenden Handel mit Kupfer, einem Metall, das aus dem Südwesten, genauer vom Copper und vom White River kam. Im Gebiet des White River, nahe der Grenze zwischen Alaska und Yukon, ereigneten sich um 100 und erneut um 800 n. Chr. zwei der größten Vulkaneruptionen Nordamerikas. Sie löschten wohl das Leben auf einer Fläche von rund 340.000 km² im Südosten Alaskas und im südlichen Yukon weitgehend aus. Das unbewohnbare Gebiet dürfte den äußersten Norden, und damit auch die Vorfahren der Han, von Kontakten nach Süden abgeschnitten haben. Diesen Katastrophen folgte die als Late Prehistoric (späte Vorgeschichte) bezeichnete Phase, in der eine langsame Neubesiedlung zu verzeichnen ist. Kupfer wurde zu verschiedenen Werkzeugen, wie Ahlen und Projektilspitzen verarbeitet, aber auch zu Schmuck. Dentalia-Muscheln (Gehäuse von Kahnfüßern) und Obsidian, aus dem Werkzeuge und Projektilspitzen gefertigt wurden, kamen zu den Tr’ondek Hwech’in. Sie boten dafür Birkenrinde, aus der Körbe und wasserdichte Gefäße hergestellt wurden, roten Ocker zum Färben und getrockneten Lachs. Dieser Handel dürfte jedoch nur partiell auf Tauschhandel basiert haben, sondern vielfach auf Gabentausch, der der Respektsbezeugung und der Sicherung des Status diente. Dazu boten Zusammenkünfte und Feierlichkeiten, wie der Potlatch, Gelegenheit. Dem Austausch diente ein ausgedehntes Netz von Pfaden und Flussstrecken. Obwohl zahlreiche Fundstellen in den Bächen bekannt waren, war Gold ohne Bedeutung. === Vor den ersten Europäern === Um 1800 lebten sechs Sprachgruppen im Yukon, von denen fünf zu den Athabasken zählten, eine zu den Tlingit. Kulturell nahestehende Gruppen trafen einander regelmäßig, vor allem beim Fischfang im Frühjahr und im Sommer. Diese größeren Gruppen zerfielen in Familiengruppen, sobald das Nahrungsangebot sich zum Herbst hin verringerte. Die kalte Jahreszeit verbrachte man in eigenen Winterdörfern. Die meisten Indianer lebten in Flusstälern oder an Seen, nur zur Jagd ging man in die höher gelegenen Gebiete. Dabei beherrschten nicht alle jede Jagdtechnik. Die Han nutzten etwa ausgesprochen aufwändige Fischnetze und -fallen. Die langsame Regenerationsfähigkeit der Natur und die Verstreutheit der Lebensgrundlagen in einem riesigen Gebiet, erzwangen einen sorgsamen Umgang mit Ressourcen sowie weiträumige Wanderbewegungen. Dennoch brachte jahrtausendelange Erfahrung ein relativ gesichertes Leben hervor, das in scharfem Kontrast zu der großen Unsicherheit der Europäer, deren hohen Verlusten und ihrer Abneigung gegen ein Leben im Norden stand, eine Haltung, die für die Tr’ondek Hwech’in schwer nachvollziehbar war. Eine Art von Führungsgruppe entstand unter diesen Bedingungen nur schwer, und ihr Fortbestand hing von Erfolg und Geschicklichkeit Einzelner ab. Formal standen Frauen außerhalb der Rangordnung, doch waren sie als Lehrerinnen, Geschichtenerzählerinnen und Sammlerinnen von großem Einfluss. Daneben hatten Schamanen, die die Europäer oft als „Medizinmänner“ oder „Zauberer“ bezeichneten, die sich durch vertiefte Kenntnis der Natur und ihrer Kräfte und Geister hervortaten, erheblichen Einfluss, und sie betätigten sich als Heiler. Auch waren sie für die Kontaktaufnahme mit spirituellen Mächten zuständig. Sie halfen darüber hinaus beim Auffinden von Jagdbeute oder versuchten das Wetter zu beeinflussen. ==== Regionale und lokale Gruppen ==== Innerhalb der Großgruppen unterscheidet man regional bands, wie die Han, local bands und task groups, Gruppen also, die sich zu einem temporären Zweck zusammenfanden. Die regionale Gruppe kam nur zu großen Versammlungen wie einem Potlatch zusammen, oder an Orte, die über ausreichend Ressourcen verfügten, um eine größere Gruppe zu ernähren. Darüber hinaus war die regionale Gruppe durch Verwandtschaft und gemeinsame Sprache sowie ein traditionelles Territorium verbunden. Die regionale Gruppe der Tr’ondek waren die Han. Die local band, wie hier die Tr’ondek Hwech’in, hatte innerhalb des Großgebiets ein traditionelles Gebiet mit bestimmten Nutzungsrechten. Jede dieser Gruppen hatte ein Winterlager, hinzu kam ein traditioneller Wanderzyklus, der sie an die wichtigsten Jagd- und Sammelplätze führte. Dabei überschnitten sich die traditionellen Territorien in Abhängigkeit von der Jahreszeit, den Nutzungsrechten und sogar den einzelnen Nutzungsberechtigten. Dabei kam es auch zu Spaltungen der eng verwandten Familienstrukturen. Gelegentlich fanden sich mehrere lokale Gruppen oder einfach durch Freundschaft verbundene Männer zur Jagd oder zum Fischfang zusammen. Die regionale Gruppe der Han setzte sich aus lokalen Gruppen zusammen, die um 1900 als David’s und Charley’s band im heutigen Alaska bekannt waren, sowie der Gruppe am Klondike. Nur letztere ist als Tr’ondek Hwech’in anzusprechen. Unklar ist, ob eine vierte Band bestand, die um Nuklako (Jutl’à’ K’ät), dort, wo heute Dawson steht, ihren Kern hatte, oder ob es sich um einen Platz der Klondike-Gruppe handelte. Charley’s band lebte am weitesten im Norden, an der Mündung des Kandik River in den Yukon; dieser ist als Charley Creek bekannt, nicht zu verwechseln mit dem nahe gelegenen Charley River. Auf der gegenüber liegenden Seite, beim Biederman Camp, befand sich ein zweites Dorf, möglicherweise ein drittes zehn Meilen Yukon-abwärts am Charley River. Dort entstand Independence, ein kurzlebiger Goldrausch-Ort. Die Leute vom Charley River zogen möglicherweise zwischen 1900 und 1910 nach Fort Yukon. Charley Village wurde 1914 durch eine Überschwemmung zerstört. Der Häuptling brachte viele der Bewohner nach Eagle Village. Unklar ist, ob es möglicherweise zwei Chiefs gleichen Namens gab. Einer von ihnen wurde jedenfalls 1871 vom anglikanischen Missionar Robert McDonald erwähnt, den der Häuptling freundlich empfing. 1910 lebten im Charley Creek Indian Village 25 Menschen, davon 17 Han, die anderen gehörten zu drei benachbarten Gwich'in-Stämmen. 1911 waren es nur noch 10 bis 12, 1912 waren es sogar nur noch 7. Die meisten waren wahrscheinlich einer Grippeepidemie zum Opfer gefallen. Eine Überschwemmung zerstörte 1914 das Dorf, die wenigen Bewohner zogen nach Circle City. David’s band, die um 1890 rund 65 bis 70 Menschen umfasste, überwinterte regelmäßig am Mission Creek und am Seventymile River. Ihr Jagdgebiet reichte mindestens bis zum Comet Creek und zum Eureka Creek sowie zum American Creek. In den 1880er Jahren starben die meisten von ihnen an Pocken, die Überlebenden zogen nach Fortymile. Zu einem ihrer Lager gehörte Eagle, wo sich sechs Häuser befanden. Der unterhalb des Dorfes befindliche Handelsplatz Belle Isle war zu dieser Zeit bereits aufgegeben. Zweieinhalb Meilen unterhalb von Eagle befand sich ein weiteres Dorf mit acht Häusern, das ebenfalls aufgegeben wurde. Chief David starb spätestens 1903, als ihm zum Gedenken ein Potlatch gegeben wurde. Als Häuptling folgte sein Sohn Peter. Die größte local band war die am Klondike, doch dehnte sie ihre Jagdzüge nie über den All Gold Creek, einen Nebenfluss des Flat Creek, rund 50 km nördlich von Dawson aus, weil sie die Mahoney fürchtete. Mit ihnen lagen sie seit langem im Krieg. Die Tr’ondek fuhren mit Kanus, bevor der Winter kam, flussabwärts zum Coal Creek oder Tatondiak River, oder aber zum Nation River. Den Winter verbrachten sie in den Ogilvie Mountains. Kurz vor Ende des Winters zogen sie Richtung Klondike, bauten Elchhautboote und fingen an der Flussmündung Lachse. ==== Handel, Tausch, Geschenk ==== Die Tr’ondek waren Teil eines ausgedehnten Handelsnetzes. Dabei brachten die zu den Tlingit gehörenden Chilkat begehrte Güter von der Küste über zwei schwierig zu überquerende Pässe ins Hinterland. So kamen Robbenfett, das butterartige Öl des Kerzenfischs (Eulachon), Dentalia-Muscheln, Kisten aus dem Holz des Riesenlebensbaums, Heilpflanzen, aber auch europäische Waren wie Messer, Pfannen und Glasperlen, die für den Schmuck der dominierenden Schicht in großem Umfang gebraucht wurden, zu den Tutchone im südlichen Yukon. Diese lieferten dafür Pelze, Karibuleder oder Kupfer, dazu Haare von Schneeziegen, Sehnen und Farben. Die Han, die nördlich von ihnen lebten, tauschten diese Güter wiederum gegen andere Pelze und Roten Ocker ein, einen Farbstoff; hinzu kamen Birkenrinde und Lachs. Die so erworbenen Güter tauschten sie wiederum bei den im Norden lebenden Gwich'in ein, die ihrerseits wieder mit den Eskimos in Kontakt standen. Den Handelsbeziehungen kamen eheliche Bindungen zustatten, die den kulturellen und sprachlichen Einfluss der Tlingit weit in den Yukon ausdehnten. === Handel mit Europäern, Epidemien (ab 1789) === Sowohl die nördlichen, als auch die südlichen Gruppen traten schon Ende des 18. Jahrhunderts in Kontakt mit Europäern. Alexander Mackenzie war 1789 mit den Gwich'in in Kontakt getreten, 1806 entstand dort Fort Good Hope. Glasperlen setzten sich in der Region als Tauschgut und als Wertmaßstab schnell durch. Die Gwich'in setzten gegen den Widerstand von Eskimos, die das Fort mit 500 Mann angriffen, ein Handelsmonopol durch, das zwischen etwa 1826 und 1850 bestand.Im Westen war die Situation von stärkerer Konkurrenz geprägt, und die Ureinwohner leisteten stärkeren Widerstand. In Alaska erschienen erstmals 1741 Russen, 1763 töteten Unangan rund 200 Bewohner von Unalaska, Umnak und Unimak Island, woraufhin russische Rachezüge ihrerseits 200 Menschenleben forderten; weitere Kämpfe folgten. 1784 kam es zu schweren Gefechten auf Kodiak zwischen Russen und Tlingit, 1804 zur Schlacht von Sitka; die Tlingit verließen die Insel bis 1819. Trotz militärischer Überlegenheit konnten die Russen ihr Pelzhandelsmonopol nur teilweise durchsetzen, die Tlingit setzten sich vielfach erfolgreich zur Wehr. Die Briten versuchten ihrerseits den Russen in Wrangell Konkurrenz zu machen, und sie pachteten 1838 das südöstliche Festland von den Russen. Die Spanier, die gleichfalls versuchten, in der Region Ansprüche durchzusetzen, zogen sich 1819 mit dem Adams-Onís-Vertrag zurück. 1839 entstand am unteren Yukon ein erster russischer Handelsposten namens Nulato, 1842 führte die Expedition von Lawrenti Sagoskin den Yukon aufwärts. Für die Stämme außerhalb des unmittelbaren Machtbereichs der russischen und der britischen Handelsgesellschaften war die Ankunft der europäischen Händler aus Russland und Großbritannien kein umwälzendes Ereignis. Sie gelangten erst 1846 und 1847 mit der Gründung zweier Handelsposten in ihre unmittelbare Nähe und fügten sich lange in das weit entwickelte Handelssystem ein. Zudem brachten sie nur wenige neue Waren in die Region. Der erste umwälzende Faktor waren demnach eher Krankheiten, gegen die eine nur geringe oder gar keine Immunität bestand. Dabei ist die Höhe der Bevölkerungsverluste kaum zu ermessen. In seiner Publikation zur Bevölkerung der Ureinwohner nahm James Mooney 1928 an, dass im Yukon-Tal rund 4.000 Indianer gelebt haben, nach Alfred Kroeber könnten es rund 4.700 gewesen sein. Diese Schätzungen sind jedoch äußerst unsicher. So hat man seit den 1960er Jahren 7.000 bis 9.000 angenommen. 1895 gab es hingegen höchstens noch 2.600, wenn diese Zahl vielleicht auch nur gut geraten war.Besonders schwierig bleibt also die Frage, ob die Bevölkerung ähnlich stark durch Epidemien eingebrochen ist, wie weiter im Süden und an der Küste ab 1775 oder (vor) 1787 in Sitka. Bekannt ist, dass 1835 bis 1839 eine Pockenepidemie in Alaska und am Lynn Canal wütete. 1847 berichtet der Missionar Alexander H. Murray von hohen Sterblichkeitsraten, insbesondere unter den Frauen; ähnlich Robert Campbell 1851. Murray schätzte, dass 230 Han-Männer um Fort Youcon handelten, womit sie die größte Gruppe waren. Falls diese recht hohe Zahl stimmt, muss mit einer Gesamtgröße von über 800 Angehörigen allein dieser Gruppe gerechnet werden. 1865 brachten Bootsmannschaften der Hudson’s Bay Company eine schwere Scharlach-Epidemie an den Yukon. James McDougall schätzte, dass die Hälfte der Indianer um Fort Youcon starb. Dabei förderten zwei Dinge die Ausbreitung: Die Infizierten hatten, bei einer Inkubationszeit von einer bis zweieinhalb Wochen im Fall der Pocken, genügend Zeit in den Schutz ihrer Verwandten zu fliehen, oder sie vermuteten Zauber durch einen anderen Stamm, und begannen dementsprechend Rachezüge. Beides führte zu zahlreichen Neuinfektionen, gegen die die Schamanen kein Mittel hatten. 1865 klagte die Hudson’s Bay Company (HBC) erneut, die Frauen seien besonders betroffen, und einige der besten und für das Fort wichtigsten Proviantjäger seien verstorben. Zahlreiche andere Orte, an denen sich derart unbekannte Epidemien ausbreiteten, zeigen, dass Bevölkerungseinbrüche um zwei Drittel nichts Ungewöhnliches waren. Dazu verhinderte frühzeitiger Tod die Weitergabe kultureller Elemente und Fertigkeiten, brachte die dünne Führungsschicht in Legitimitätsprobleme und gefährdete das Vertrauen in ihre spirituelle Welt. Bei den ersten Begegnungen zwischen Briten und Han war deren Kultur also schon stark verändert, die Bevölkerungszahl in unbekanntem Ausmaß rückläufig. === Streit um Handelsmonopole: Briten, Russen, Indianer (ab 1806) === Russische Händler kamen spätestens 1839/42 an den unteren Yukon, britische an den Mackenzie schon um 1806. Zwischenhändler brachten schon Jahrzehnte vor Ankunft der ersten Europäer russische und britische Waren in die Region, wobei die Tlingit diesen Handel im Westen dominierten, die Gwich'in im Nordosten. Begehrt waren Gewehre und Glasperlen, die überwiegend gegen Pelze getauscht wurden. Die HBC sah sich aufgrund fallender Preise für Biberpelze jedoch gezwungen, verstärkt auf seltenere und teurere Pelze zu setzen. Dies veranlasste die Pelzhändler, weiter nordwärts vorzudringen. John Bell eröffnete daher einen Posten am Peel River, das spätere Fort McPherson. Doch hatten die dortigen Gwich'in, die ihre neue Position als Zwischenhändler nutzen wollten, kein Interesse, die Briten weiter westwärts ziehen zu lassen. Sie übertrieben die Transportprobleme und führten sogar einige Händler in die Irre oder ließen sie im Stich. Bell engagierte daher 1845 indianische Pfadfinder von außerhalb, die erfolgreicher waren. Den Gwich'in gelang es nicht, den Verlust ihrer vorteilhaften Position auf Dauer zu verhindern, wenn sie die HBC auch mehr als fünf Jahre aufhalten konnten. 1846 entstand der kleine Handelsposten Lapierre’s House am Westhang der Richardson Mountains, 1847 entstand Fort Youcon rund 5 km oberhalb der Mündung des Porcupine in den Yukon. Nun profitierten die dortigen Indianer vom Pelzhandel und arbeiteten gegen Provision und europäische Waren, sowie das daraus resultierende Ansehen. Parallel dazu setzte die HBC von Süden an, indem Robert Campbell 1838/40 Handelsposten am Dease und am Frances Lake sowie am oberen Pelly River errichtete. Je mehr er sich jedoch dem Yukon näherte, desto deutlicher stieß er auf das hoch entwickelte Handelssystem der Chilkat-Tlingit, so dass seine Verbindungsleute 1843, angeblich aus Angst vor „Wilden“, zurückkehrten. Angehörige der Southern Tutchone hatten die Briten verschreckt, als sie ihnen von angeblichen Kannibalen berichtet hatten. Dennoch eröffnete Campbell 1848 einen Posten am Zusammenfluss von Pelly und Yukon. 1849 stoppten jedoch dreißig Tlingit seine Händler. Unter diesen Umständen gelang es ihm während seiner fünf Jahre im 1848 gegründeten Fort Selkirk nicht, Gewinne zu machen, nahm jedoch Kontakt mit den Han auf, durch deren Gebiet er bis nach Fort Youcon den Strom abwärtsfuhr. Am 19. August 1852 plünderten und zerstörten die Chilkat jedoch den Posten auf einer Insel im Pelly River. Campbell hatte schon früh erkannt, dass Kenntnis von Terrain, Gebräuchen und Sprachen den Chilkat entscheidende Vorteile gaben. Hinzu kam, dass die HBC auf den Liard River angewiesen war, der schwer zu befahren war, und zudem die Preisstrukturen seitens der HBC-Zentrale vorgegeben wurden. Diese hingen wiederum vom Mackenzie-Gebiet im Osten ab, während die Chilkat den Preisen des Pazifikraums folgten. Im Yukon stießen also zwei Handelskreise aufeinander, deren westlicher auf den Pazifik und damit auf China ausgerichtet war, während der östliche viel stärker von den Märkten in Europa abhing. Die HBC musste den südlichen Yukon zugunsten von Fort Youcon im heutigen Alaska aufgeben. Hinzu kam eine weitere Fehleinschätzung. Die HBC glaubte, den Handelskontakt mit führenden Männern, so genannten trading chiefs (Handelshäuptlingen), aufnehmen zu müssen. Dabei schätzten die Briten aber die andersartigen inneren Strukturen falsch ein. Die Indianer wählten zwar einen trading chief, doch sie waren nicht dauerhaft an seine Weisungen gebunden, und sie brachten ihre Pelze je nach Angebot an günstigere Orte. Zudem verlangte die HBC, dass Waren nicht mehr auf Kredit vergeben werden durften, ein weiteres Missverständnis. Die Indianer betrachteten Tauschhandel nicht nur als Warenaustausch, sondern auch als eine Art Geschenkverkehr, bei dem Ansehen und Ehre wichtige Kriterien sind. Dabei wurden die Gaben nicht gleichzeitig, sondern in zeitlichem Abstand ausgetauscht. Die Indianer zogen die Konsequenz und konnten in Fort Youcon durchsetzen, dass weiterhin auf Kredit gehandelt wurde. Dabei spielten sie geschickt die HBC und die Russisch-Amerikanische Kompagnie gegeneinander aus, denn die Briten fürchteten zu Recht eine geplante Expansion der Russen stromaufwärts. Als ein russischer Agent erschien, zog Strachan Jones mehrere hundert Meilen den Yukon abwärts, um die dortigen Indianer zu überreden, in Fort Youcon zu handeln. In den folgenden Jahren sandte die HBC Händler flussabwärts, und die Youcon-Indianer verloren ihr Handelsmonopol. Diese nutzten ihrerseits Interessengegensätze zwischen dem Mackenzie-Distrikt, wo die Briten inzwischen ein unumstrittenes Handelsmonopol genossen, und Fort Youcon, indem sie drohten, diese oder jene Region zu versorgen – ein Vorteil ihrer nomadischen Lebensweise. Auch verbanden sie sich und verweigerten Fleischlieferungen, von denen das Überleben der kleinen Handelsposten abhing, um bessere Konditionen durchzusetzen. Ein Monopol war damit im Yukon nicht durchsetzbar. Als 1867 die Amerikaner Alaska kauften und feststellten, dass Fort Youcon auf ihrem Gebiet lag, musste die HBC 1869 das Fort räumen, und die Handelsnetze veränderten sich drastisch. === Erste direkte Kontakte zwischen Han und Europäern (ab 1847) === Die ökonomisch vergleichsweise flexiblen Tr’ondek hielten andere Stämme von ihren Handelsorten wie Forty Mile fern, wie etwa die Copper Indians im White-River-Distrikt. Ähnlich agierten die Tlingit, die die Copper Indians von Haines fernhielten. Daher fiel noch den ersten Besuchern der 1873 gegründeten kanadischen Polizeitruppe für den Nordwesten, der North West Mounted Police auf, dass diese Indianer vergleichsweise rückständig wirkten, alte Gewehre besaßen usw. Ähnliches galt bis zum Goldrausch für die Kaska im Südosten und die östlichen Tutchone. Als erstmals Europäer in das Gebiet der Tr’ondek kamen, war ihr Häuptling Gäh St’ät oder „Rabbit skin hat“ (Kaninchenfellhut), den die Neuankömmlinge „Catsah“ nannten. Die ersten Europäer stellten fest, dass neben traditionellen Handels-, Tausch- und Verschenkgütern wie Birkenrinde, Roter Ocker, Felle oder Lachs, auch schon Tee, Tabak, Glasperlen oder metallene Kessel bekannt waren. Der erste bekannte Kontakt zwischen Weißen und Han fand am 5. April 1847 statt. Der Händler der HBC Alexander Hunter Murray berichtet über ein Zusammentreffen in LaPierre’s House am oberen Porcupine. Ihr Führer war demnach ein junger Chief, der 20 Marderfelle mitbrachte, die er gegen ein Gewehr eintauschen wollte. Murray nannte sie „Gens de fou“. Sie führten halbgetrocknete Gänsezungen, Karibuhäute und Pelze mit sich. Drei von ihnen hatten bereits Weiße gesehen, wohl Russen, mit denen sie angeblich in Nulato in Alaska gehandelt hatten. Im Gegensatz zu den „Rat Indians“ – gemeint sind wohl die Gwich'in die Bisamratten jagten – freuten sie sich über das geplante Fort Yukon, das näher an ihrem Gebiet lag. Anfang August 1847 besuchte erstmals eine größere Gruppe das Fort. Murray war allerdings von Gwich'in gewarnt worden, dass die Han wütend auf die Briten seien, da diese glaubten, der Tod eines ihrer Häuptlinge stehe mit der Ankunft der Briten in Zusammenhang. Als die rund 25 Kanus anlegten, geschah dies in vollkommener Stille, ohne Gesang also, wie es bei den anderen Athabasken sonst üblich war. Die Ankömmlinge wirkten auf Murray besonders „wild“, da sie lange Haare trugen und ihre Hemden mit Perlen und Messing schmückten. Sie brachten Pfeifen aus Zinn und Blech mit, die sie bei Russen eingetauscht hatten. An Tauschwaren führten sie wenig mit sich, nur einige Bärenfelle, Fleisch und hundert Gänse, die sie unterwegs mit dem Bogen erlegt hatten. Am zweiten Tag drohten einige, dass sie im Falle schlechter Behandlung das Fort zerstören würden, wie es bereits bei den Russen geschehen sei – wofür es keine Belege gibt. Vor allem aber verlangten sie Waren auf Kredit, was Murray ablehnte. Bis 1852 durchquerten mindestens siebenmal Angestellte der Hudson’s Bay Company das Gebiet der Han, darunter waren auch die Männer Murrays, die den Yukon abwärts nach Fort Youcon fuhren, und der Dolmetscher Antoine Hoole, der 1851 den Fluss befuhr. === Grenzziehung von 1867, neue Konkurrenz im Pelzhandel, Handelsforts === Fort Yukon blieb trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten bis 1869 der Haupthandelsposten für die Han. Mit dem Kauf Alaskas und der Einrichtung einer Grenze zu Alaska wurde der Stamm jedoch 1867 geteilt, so dass die Dörfer der Han formal durch eine Grenze getrennt wurden. Aus Alaska kam auch der spätere Häuptling Isaac, der dem Wolf Clan entstammte und um 1859 geboren worden war. Er heiratete die Häuptlingstochter Eliza Harper vom Crow Clan, dem zweiten Clan des Stammes. Nur zwischen diesen Clans durfte geheiratet werden, nicht innerhalb der Clans. Das Paar dürfte etwa 200 Menschen geführt haben. Bereits 1873 gründete Moses Mercier, der aus Fort Youcon hatte abziehen müssen, einen ersten kleinen Handelsposten namens Belle Isle am linken Ufer des Yukon, in der Nähe des späteren Eagle, und damit im Gebiet der Han. Ende August 1874 gründete Leroy Napoleon McQuesten, besser als Jack McQuesten bekannt, einen zweiten Handelsposten namens Fort Reliance, rund 10 km unterhalb der Mündung des Klondike, den er als „Trundeck River“ kannte. Zusammen mit Frank Barnfield errichtete er eine Hütte, wobei die beiden Männer Indianer zum Fällen und Tragen der Bäume engagierten. Andere jagten für sie. McQuesten blieb als einziger mehrere Jahre, insgesamt zwölf, in dem Posten, dessen Grundfläche rund 30 mal 20 Fuß bemaß. An seinem Handelsposten trafen sich Han, Upper Tanana und Northern Tutchone. Die ansässigen Indianer bezeichnete er als „Klondike Han“. Einige Zeit lebten er und seine Partner vom Handel und erwarben Pelze für die Alaska Commercial Company, in deren Auftrag McQuesten handelte. McQuesten führte zudem die Yukon, das erste Dampfboot auf dem Yukon River. Von Westen setzte die Alaska Commercial Company, die 1867 für 350.000 Dollar das Handelsmonopol der abziehenden russischen Konkurrenz gekauft hatte, bis 1874 ein weitgehendes Handelsmonopol auf dem unteren Yukon durch. Doch konkurrierten unabhängige Pelzhändler mit ihr. Viele indianische Gruppen nutzten die Konkurrenzsituation und wandten sich den Amerikanern zu. Die Briten räumten den Händlern um Rampart House nun ohne weiteres Handel auf Kredit ein. Sie engagierten noch mehr Pfadfinder, Jäger, Fischer und Dolmetscher, verlängerten die Verträge von drei auf sechs Monate, konnten aber nicht mehr wie früher 300 km flussabwärts bis nach Nuklukayet fahren. Die amerikanische Konkurrenz ging wesentlich aggressiver vor und offerierte bessere Preise, suchte entferntere Gruppen gezielt auf, bot sogar britische Waren an und machte die Indianer zu selbstständigen Partnern. Zudem brachten sie ein rund 17 m langes Dampfboot auf den Yukon, womit sie die Warentransporte erheblich verbilligten und beschleunigten. Mit dem Erwerb Alaskas durch die USA (1867) und dem erzwungenen Abzug der Briten aus Fort Youcon am 9. August 1869, das westlich der vereinbarten Grenze am 141. Längengrad lag, änderte sich die Situation insofern, als sich bald verschiedene Kompanien Konkurrenz machten. Häuptling Catsah (Gah ts'at) hatte auf die Gründung von Fort Reliance gedrängt. 1877 oder 1878 musste der Posten jedoch geräumt werden, da es – nach amerikanischen Quellen nach einem Tabakdiebstahl – zu Feindseligkeiten kam. 1877 kam es zudem zu einem Zwischenfall nach der Räumung des Forts. In den verlassenen Räumen befanden sich Überreste von Fett, das zur Bekämpfung von Mäusen mit Arsenik vermischt worden war. Drei Frauen vergifteten sich damit, eine von ihnen, eine 16-jährige Blinde, starb daran. McQuesten und der Häuptling einigten sich auf Kompensationen, die Mutter akzeptierte einen Hund. McQuesten eröffnete den Posten bereits 1878 wieder, und die Han leisteten Kompensationen für den Tabak. 1880 entstand eine Konkurrenzgründung im Han-Gebiet durch die Western Fur and Trading Company rund 130 km flussabwärts bei David’s Village nahe dem heutigen Eagle. Moses Mercier musste diesen nicht profitablen Posten jedoch 1881 bereits wieder aufgeben. 1882 gründete er, nun für die Alaska Commercial Company, in derselben Gegend den Posten Belle Isle. Sein ehemaliger Arbeitgeber eröffnete daraufhin den aufgegebenen Posten neu, und die beiden Gesellschaften konkurrierten nun aufs schärfste. Schon 1883 endete diese für die Han vorteilhafte Situation, als die Alaska Commercial Company ihren Rivalen übernahm. Der Monopolist erhöhte nun die Preise der eigenen Waren, senkte die Pelzpreise und begrenzte die Kreditvergabe. Die Amerikaner setzten zudem Dampfboote ein, wie die Yukon der Alaskan Commercial Company (ACC) oder ab 1879 die 25 m lange St Michael der Western Trading and Fur Company, was die Warenmengen weiter erhöhte. 1887 kam die New Racket hinzu, die von einer Goldsuchergruppe gebaut worden war, die die ACC jedoch aufgekauft hatte. Nun kamen einerseits Massengüter wie Mehl und – was die HBC ablehnte – Repetiergewehre und Segeltuch für Zelte in das Gebiet, aber auch exotische Waren, wie chinesische Teetassen. Damit wurde die Mittlerposition der Han für solche Waren gestärkt. Ab 1889 kam die über 40 m lange Arctic hinzu, nach Einsetzen des Klondike-Goldrauschs kamen sogar über 70 m lange Schiffe hinzu, die an die Manövrierfähigkeiten auf dem unberechenbaren Fluss höchste Anforderungen stellten. Als weiterer Faktor kamen in den 1880er Jahren Walfangboote nach Herschel Island, weit im Norden vor der Küste der Beaufortsee. Sie brachten Winchester-Repetiergewehre, deren Verkauf Amerikaner und Briten gleichermaßen verweigerten, und Alkohol. === Goldfunde === Schon 1872 war es im Cassiar-Distrikt zu einem kurzen Goldrausch gekommen, 1885 entdeckte man Gold am Stewart River. Schon Campbell wusste von Gold bei Fort Selkirk und Reverend Robert McDonald, der 1862 bis 1863 in Fort Yukon stationiert war, hatte Gold gefunden, wohl am Birch Creek. George Holt sandte als erster Gold aus Alaska nach außerhalb. Manche Pelzhändler wechselten in das neue, profitablere Gewerbe. Doch hierbei waren die Hürden höher, denn die Prospektoren lehnten oftmals die indianische Arbeit ab. Die Technik des Goldwaschens – andere Vorkommen hätten höheren Kapital- und Arbeitseinsatz sowie entsprechende Maschinen erfordert – bedurfte kaum bezahlter Arbeit, sondern wurde von den Prospektoren selbst durchgeführt (placer mining). Zudem waren diesmal die Europäer und Amerikaner extrem flexibel, denn immer neue Gerüchte von Goldfunden trieben die Männer und wenigen Frauen von Fundort zu Fundort. 1886 kam es zu einem ersten größeren Goldfund am Fortymile River (Ch’ëdäh Dëk) und mehrere hundert Männer zogen hierher, wo bisher gefischt wurde, und wo eine Durchgangsstelle für Karibus die Jagd erleichterte. Die Tr’ondek Hwech’in versorgten den neuen Ort Forty Mile mit Lebensmitteln sowie mit den überlebensnotwendigen Pelzen. Sie erhielten dafür in ihren Augen kunstvolle Glasperlen, Metallgeräte und Alkohol. Ihr Führer war inzwischen Chief Isaac, dessen traditioneller Name nicht mehr bekannt ist, und der der Schwiegersohn von Gäh St’ät war. McQuesten gab nun Fort Reliance auf (1886) und baute einen neuen Posten an der Mündung des Stewart River. 1894 entstand 60 Meilen oberhalb von Fort Reliance an der Mündung des Sixtymile Creek ein neuer Posten, der nach William Ogilvie benannt wurde, der als Historiker des Goldrauschs im Yukon gilt. Auf amerikanischem Gebiet entstand Circle City nach Goldfunden am Birch Creek (1893/94). 1895 brachten Goldfunde am American Creek das Dorf Eagle City hervor, wo sich zeitweise an die tausend Goldgräber aufhielten. Dort entstand 1899 Fort Egbert zur Überwachung der Grenze. Schon vor dem großen Goldrausch schätzt man die Zahl der Goldsucher im Yukon auf tausend bis zweitausend, unruhige Männer, die unkontrolliert durch das Gebiet der Tr’ondek zogen. Manche Tr’ondek arbeiteten als Träger, als Packer für die Boote, oder beim Waschen des Goldes mit, doch erwarben nur wenige Indianer Claims. Offenbar genügte ihnen die geringe Aussicht auf weit entfernt liegenden Lohn nicht als Motiv, um die ungesunde und langwierige Arbeit auf sich zu nehmen. Zudem hatten sie keine Pläne, ihre Heimat zu verlassen, und Gold war dort von schnell sinkendem Wert. Die erfolgreichen Goldsucher von außerhalb hingegen wollten das Gebiet so schnell wie möglich wieder verlassen und mit ihrem Ertrag ein komfortables Leben in den südlichen Städten führen. Der Lohn für die Träger von Dawson nach Forty Mile variierte zwischen Sommer und Winter, denn in der kalten Jahreszeit erlaubten Hundeteams größere und schnellere Transporte. Sie erhielten allerdings nur ein Drittel des Lohns. In den Minen verdienten Indianer zwischen 4 und 8 Dollar am Tag, Weiße zwischen 6 und 10, jedoch konnten sie Lohnforderungen angesichts des unterschwelligen Rassismus nur schwer durchsetzen. Dennoch meinte der für sie zuständige Bischof William Carpenter Bompas, die Indianer würden reich durch die Arbeit in den Minen, und durch die Versorgung der Prospektoren und ihrer Schlittenhunde mit Fleisch und Fisch. Einige Prospektoren kauften die Blockhütten von Indianern für rund 100 bis 200 Dollar. Schon jetzt machte sich eine erhebliche Inflation bemerkbar, ein Phänomen, das die Indianer nicht kannten. Daher waren ihre Hausverkäufe zu einem ungünstigen Zeitpunkt erfolgt. === Mission, anglikanische Steuerung der interkulturellen Kontakte (ab 1862) === 1862 kam als erster Missionar William West Kirkby nach Fort Youcon und blieb für einige Tage, 1863 veranlasste er einen Medizinmann und vier junge Männer, die er für die Mission vorgesehen hatte, mit ihm einige Texte zu lesen. Im Norden, am Porcupine, missionierte 1862 Robert McDonald, ein Halbindianer aus dem Red River District. 1864 erschien der spätere Bischof Bompas im Norden. Er wurde 1876 Bischof von Athabasca. 1890 übernahm er das Bistum Selkirk, aus dem später Yukon wurde, das wiederum aus der Aufteilung des Mackenzie-Bistums hervorgegangen war. 1887 kam neben William Ogilvie und Bernard Moore der Erzdiakon Robert McDonald in die Region. Im selben Jahr gründete der anglikanische Missionar J. W. Ellington die Missionsstation Buxton Mission auf Mission Island oberhalb von Forty Mile, doch musste Ellington die Mission zwei Jahre später aus Gesundheitsgründen aufgeben. 1891 besuchte Bischof William Carpenter Bompas die Region; er kehrte im nächsten Jahr mit seiner Frau Charlotte Selina zurück. Abgesehen von einem Jahr (1899–1900), wo er in Moosehide lebte, blieb er bis 1901 in Fortymile (Buxton). Bompas glaubte, die Han, „dieses niedrigste aller Völker“, vor Alkoholkonsum und sexuellen Kontakten zu den ganz überwiegend männlichen Pelzhändlern und Goldsuchern sowie vor allen schlechten Einflüssen schützen zu müssen. Diese veranstalteten nach Abschluss eines Handels Feste, bei denen es zu Trinkfeiern und in deren Verlauf zu sexuellen Kontakten mit Frauen der Indianer kam. Da dies immer wieder an denselben Orten vorkam und sie erkannten, dass dies weiße Männer anzog, begannen die Han, ein Tanzhaus auf Mission Island zu bauen. Bischof Bompas kaufte ihnen den begonnenen Bau ab und ließ daraus eine Kirche bauen. Die HBC förderte hingegen diese Art von Kontakten, zumindest für die niederen Ränge, um die meist jungen Männer durch die Ehe mit einer Indianerin länger im Land zu halten. Den höheren Rängen riet sie ausdrücklich ab. So hatte schon Alexander Hunter Murray seine nichtindianische Frau 1847 mit nach Fort Youcon gebracht. Robert Campbell wurde von Governor George Simpson ausdrücklich davor gewarnt, sein Leben durch eine indianische Frau zu verkomplizieren.Bischof Bompas sorgte für eine Schule und die ab 1895 beginnende Präsenz der 19 Männer der North West Mounted Police unter Charles Constantine. Bei Fortymile entstand das nach ihm benannte Fort Constantine, auf Mission Island lebte die Station neu auf. Eines seiner Hauptziele war die Trennung der Rassen. Bompas setzte sich für ein striktes Alkoholverbot ein, da es während der kurzen Aufenthalte von Goldsuchern und Han in seinen Augen zu häufig zu Trinkfeiern kam. Da die Europäer die Indianer nur bei solchen Gelegenheiten zu Gesicht bekamen, glaubten diese, die Indianer verhielten sich immer unmäßig, und erließen folglich ein generelles Verbot. Die Polizeitruppe verhängte Bußgelder von bis zu über 100 Dollar gegen Alkoholhändler, die ihr Produkt an Indianer verkauften. Jedoch brachten gerade diese Eindämmungsversuche Schwarzbrenner, Schmuggler, Pelzhändler, Goldsucher und Indianer zusammen und förderten ungewollt den Alkoholmissbrauch. Außerdem hatten Missionare und Polizisten, in Erwartung steigender Gewaltbereitschaft und puritanischer Furcht vor sexuellen Kontakten, Angst vor Feiern dieser Art, während sie für die weißen Männer oftmals ein Mittel zur Aufnahme sexueller Kontakte zu den Han-Frauen darstellten. Dies wiederum dürfte mit hohen kulturellen Hürden, vor allem dem Mangel an sprachlicher Kommunikation und Unkenntnis zusammenhängen, sicherlich auch mit der geringen Zahl an Frauen und den entsprechend seltenen Kontaktmöglichkeiten. Diese Kontakte waren ganz überwiegend kurzlebig, zumal die meisten Weißen fürchteten, als „Squaw men“ beschimpft zu werden. Die Kinder aus solchen Beziehungen blieben bei den Han, meist den Müttern, selten bei den Vätern. == Klondike-Goldrausch ab 1896, Chief Isaac, Moosehide == === Wirtschaftliche und politische Einordnung === In Kanada setzten globale Engpässe in der Goldversorgung umfangreiche Suchunternehmungen in Gang, die im Abstand von wenigen Jahren ab etwa 1858 immer wieder fündig wurden. Die ersten Goldfunde lösten in diesem Umfeld eine gewaltige Massenbewegung in das extrem dünn besiedelte und schwer erreichbare Gebiet am Yukon aus. Dies war für Kanada von hoher politischer Brisanz, zumal der überwiegende Teil der Goldsucher aus den USA stammte. 1867 erwarben die USA zudem Alaska von Russland. Die Goldsucher brachten nun nicht nur die Indianer in die Minderheit, sondern auch die Briten, die 1867 Kanada gegründet hatten, um die Expansion der USA nach Norden zu bremsen. 1898 erhob Kanada das Gebiet zu einem eigenen Territorium und entsandte eine kleine Polizeitruppe. Ein Teil der Goldgräber kam über Alaska, das den überwiegenden Teil des pazifischen Küstensaums beherrschte, und dessen Häfen einen leichteren Zugang zum Klondike boten, als die in Kanada. Eine Kontrolle der langen Grenze entlang des 141. Längengrads war praktisch nicht möglich, und den Goldsuchern im Yukongebiet war es weder klar noch wichtig, ob sie sich gerade auf dem Territorium der USA oder dem Kanadas befanden. In den USA war es nach der Panik von 1893 und der von 1896 zu schweren wirtschaftlichen Erschütterungen gekommen. Als die Portland am 17. Juli 1897 in Seattle anlegte und die ersten erfolgreichen Goldsucher mitbrachte, forderten die rund 5.000 Anwesenden die Passagiere durch Zurufe auf, ihr Gold zu zeigen. Diese präsentierten es der jubelnden Menge. In der „Klondike-Ausgabe“ berichtete der Seattle Post-Intelligencer unter der Schlagzeile Gold! Gold! Gold! Gold! und Sixty-Eight Rich Men on the Steamer Portland (Achtundsechzig reiche Männer auf dem Dampfer Portland) von Gold im Wert von 700.000 Dollar. === Chief Isaac und Moosehide === 1894 lebten rund tausend Goldsucher im Yukon. Doch mit dem Klondike-Goldrausch ab 1896 kamen über 100.000 Weiße in die Region. Unmittelbar auf der gegenüberliegenden nördlichen Flussseite des Tr’ondek-Dorfes Tr’ochëk entstand Dawson, die mit Abstand größte Goldgräberstadt mit zeitweise über 40.000 Einwohnern. Bereits 1901 stellten die Indianer nur noch etwas mehr als 10 % der Bevölkerung des Territoriums Yukon. Bis zum Goldrausch war Tr'ochëk das Sommerlager von Häuptling Isaac, dem Führer der Tr’ondek Hwech’in. Er stammte aus einem Dorf in Alaska, das seit 1867 zu den USA gehörte. Er wuchs in Eagle Village und im Gebiet um Forty Mile auf. 1892 traf er Bischof William Bompas und ließ sich taufen. Er nahm zwar häufig an Gottesdiensten der Anglikanischen Kirche teil, doch hielt er zugleich an seinen Traditionen fest. So reiste er häufig zu Potlatches nach Fort Selkirk, Forty Mile und Eagle, wie 1915 beim Tod von Häuptling Jackson bei der Selkirk First Nation. Von Bischof Bompas erbte er eine Uhr, wofür er seinem Nachfolger das steinerne Jagdmesser seines Großvaters als Gegengeschenk überreichte. 1897 fand jedoch ein grundlegender Umbruch statt. So berichtet der anglikanische Missionar Frederick Flewelling, dass er am 29. Mai 1897 in das bis dahin ruhige Tr'ochëk zurückgekehrt war, nachdem er eine Winterreise nach Forty Mile absolviert hatte. „Fünf- oder sechshundert Männer sind allein in diesem Frühjahr hierher gekommen, und ihre Zelte sind überall verstreut.“ Spekulanten hatten vielen Han ihr Land abgekauft, so dass sie nicht wussten, wo sie im Winter bleiben sollten. Flewelling kaufte daher einen 40-Acre-Trakt zwei Meilen flussabwärts und schlug vor, die Han dort unterzubringen und eine Mission zu gründen. Aus den Erinnerungen der Han-Ältesten geht jedoch hervor, dass sie und ihr Häuptling Isaac ihr Schicksal sehr wohl selbst in die Hand nahmen und die Fremden willkommen hießen, auch wenn ihre Gier nach Gold unverständlich blieb. Isaac beobachtete, wie die Weißen das Gold um sich warfen, wunderte sich, dass sie nur deshalb so zahlreich kamen, und meinte, es gebe zu viel davon. Er fürchtete die negativen Folgen des Kontakts und machte selbst den Vorschlag zur Umsiedlung nach Moosehide. ==== Bevölkerungseinbruch ==== Wie schon zuvor, spielten eingeschleppte Krankheiten eine überaus zerstörerische Rolle. Die Zahl der Indianer im Territorium fiel zwischen 1901 und 1911 um mehr als die Hälfte von 3.322 auf 1.489. Dabei gerieten die Han gleichfalls in Bedrängnis. Das unruhige Dawson mit seinen ausschwärmenden Goldsuchern vertrieb das Wild, zudem verbrauchten die Weißen das wenige Holz der Region als Bau- und Feuerholz, die zahlreichen Flöße und Boote zerstörten ihre Fischreusen. Die Luft war voller Rauch, weil die Goldsucher das Unterholz niederbrannten und die angekohlten Stämme schlugen. Darüber hinaus wurden die Tr’ondek von Krankheiten wie Tuberkulose befallen, gegen die sie eine nur geringe Resistenz aufwiesen. Häuptling Isaac fürchtete zudem die Verrohung der Sitten sowie zunehmende Abhängigkeit. Es gelang ihm dennoch, einen fragilen Frieden aufrechtzuerhalten. Er lernte Englisch und hielt sogar Vorträge. Seine persönliche Autorität manifestierte sich jeden Morgen darin, dass er als erster sein Haus verlassen durfte, das Dorf mit lauter Stimme weckte und daraufhin verkündete, wo zu jagen war oder wohin der Stamm ziehen sollte. Zu Weihnachten 1902 kam jeder Dorfbewohner vor das Haus des Häuptlings und tauschte mit ihm Geschenke aus. ==== Moosehide und Dawson (ab 1896) ==== Um Konflikte zu vermeiden, begannen die Indianer ab Herbst 1896 mit Vertretern von Kirche und Regierung zu verhandeln, also mit Bischof William Bompas und Inspector Charles Constantine. Die Han zogen zunächst von Tr’ochëk in die Mounted Police reserve auf der anderen Flussseite, doch war auch dies zu nah an Dawson. Im Frühjahr 1897 zogen sie einige Kilometer flussabwärts nach Moosehide. Wichtig war, dass es frisches Wasser aus einem Bach gab, Holz zur Verfügung stand, Pfade bestanden, die den Zugang zu den Jagdgebieten ermöglichten und dass von hier aus gut Lachs gefangen werden konnte. Gleichzeitig konnten sie Fleisch an die Goldsucher verkaufen, aber auch Arbeit auf den Schaufelraddampfern, in Holzbetrieben oder im Hafen finden. Chief Isaac übergab sicherheitshalber viele Kultgegenstände, vor allem aber Lieder und Geschichten an die Verwandten in Alaska, zu denen er weiterhin enge Beziehungen pflegte. So feierte er 1907 ein Potlatch in Eagle mit Chief Alex. Twelve Mile oder Tthedëk entstand ebenfalls im Zuge des Klondike-Goldrauschs, als einige der Familien nicht mit nach Moosehide ziehen wollten. Die mindestens zehn Familien unter Führung von Charlie Adams und seiner Frau hatten engere Beziehungen zu den Gruppen in Alaska, als zu denen um Dawson, das 30 km oberhalb des Ortes lag. Doch diese Siedlung musste aufgegeben werden, 1957 zerstörte eine Überschwemmung die verbliebenen Häuser. Im Frühjahr 1898 kamen, nachdem Zeitungen die Nachricht weltweit bekannt gemacht hatten, zehntausende von Goldsuchern, Stampeders genannt, nach Dawson. Im Mai wurde Tr’ochëk von Neuankömmlingen mit Beschlag belegt, und Lousetown entstand, auch Klondike City genannt. Dort siedelten sich zahlreiche Prostituierte an. Archäologen fanden allein am steilen Abhang der Insel 72 Hausplattformen der dortigen Blockhütten. Diese wurden mit massiven Steinblöcken befestigt. Andere Neusiedler bauten einfache Zelte, die von Hölzern gehalten wurden, und die nur wenige Spuren hinterließen. Müll und Abwässer wanderten den Hügel abwärts in den Fluss. Am 27. März 1900 richtete die Regierung ein Reservat in Moosehide ein. Doch war die Ernährungslage dort in diesem Jahr so angespannt, dass der Inspector der North West Mounted Police Z. T. Wood mit Mehl, Reis und Tee aushalf, um die 10 bis 12 am schwersten Betroffenen zu unterstützen. Chief Isaac unterhielt weiterhin gute Kontakte in die Stadt. Seine Frau, Eliza Harper, verband eine enge Freundschaft mit Klondike Kate (Kathleen Rockwell), einer während des Goldrauschs bekannten Tänzerin, die einen der Goldgräber namens Johnny Matson heiratete und bis zu ihrem Tod 1957 in Bend in Oregon lebte. Sie schrieben sich bis zu ihrem Tod zahlreiche Briefe und Kate sandte ihrer Freundin Kleider. Kate schrieb dabei an „Mrs Chief Isaac“. Eliza, die 1960 im Alter von 87 Jahren starb, brachte 13 Kinder zur Welt, von denen aber nur 4 erwachsen wurden – eine Sterblichkeitsrate, die nicht ungewöhnlich war. Ihre Kinder waren Patricia Lindgren, Angela Lopaschuck, Charlie und Fred Isaac, die für die mündliche Überlieferung und im Falle der Söhne für die politisch-religiöse Selbstorganisation des Stammes wichtige Rollen spielten. 1906 starb Isaacs ältester Sohn Edward an Tuberkulose. Ab 1913 besuchte sein achtjähriger Sohn Fred zusammen mit sieben anderen Moosehide-Kindern als erster die Schule in Carcross. Diese Schule, die Choutla School, war zwei Jahre zuvor eröffnet worden. Sie bestand bis Anfang der 1960er Jahre, brannte allerdings 1939 ab, daher duften die Kinder in Moosehide von 1948 bis 1957 zu Hause unterrichtet werden. 1920 entstand ein Haus für Kinder aus „Mischehen“, das St Paul’s Hostel (bis 1952). 1901 besuchte Chief Isaac zusammen mit seinem Bruder Walter Benjamin und dem Medizinmann Little Paul seinen Freund Jack McQuesten, der lange ebenfalls Gold im Yukon gesucht hatte. Dazu reisten die drei auf dem Dampfboot Sarah auf dem Yukon nach St. Michael, dann weiter nach Seattle, San Francisco und Berkeley in Kalifornien. Sie waren Gäste der Alaska Commercial Company und besichtigten die Goldgräberstädte entlang der Route. Zwischen 1904 und 1919 sicherte sich der Häuptling vier Claims, nicht um Gold zu suchen, sondern um die Siedlung um Moosehide zu sichern. 1905 fürchtete der Yukon Territorial Council, dass anhaltende Trockenheit die Goldgewinnung unmöglich machen würde. So beauftragte er den Regenmacher Charlie Hatfield für ein Honorar von 10.000 Dollar Regen zu machen. Als nur wenig Regen fiel, bot Chief Isaac an, für nur 5.000 Dollar vier Medizinmänner zu beauftragen, Hatfield zu zeigen, wie man Regen macht. ==== Reservatsgrenzen, Auseinandersetzungen ==== Am 15. Dezember 1911 sagte Chief Isaac in einem Interview in den Dawson Daily News: „All Klondike belong my people… Long time all mine. Hills all mine, caribou all mine, moose alle mine, rabbits all mine, gold all mine. White men come and take all my gold. Take millions, take more hundreds fifty million, and blow 'em in Seattle. Now Moosehide Injun want Christmas. Game is gone. White man kill all moose and caribou near Dawson… Injun everywhere have own hunting grounds. Moosehides hunt up Klondike, up Sixtymile, up Twentymile, but game is all gone. White man kill all.“ Er beharrte damit darauf, dass das Klondike-Gebiet seit Langem seinem Volk gehöre, alle Hügel, Karibus, Elche, Kaninchen und das Gold. Doch die weißen Männer hätten all sein Gold genommen, im Wert von 150 Millionen Dollar, und sie hätten es in Seattle verprasst. Jetzt seien die Indianer Christen, das Wild sei verschwunden, der Weiße Mann habe alle Elche und Karibus um Dawson getötet, und auch in Isaacs Gebieten seien die Tiere verschwunden. Der weiße Mann habe sie alle getötet. Auch brachte er zum Ausdruck, dass das Goldschürfen akzeptiert werde, das Abschlachten der Lebensgrundlage hingegen nicht. Die Ressourcen schwanden und die Jagd erforderte einen immer größeren Aufwand und längere Abwesenheit. Zugleich verbrauchten Dampfboote und Brennöfen die Wälder um Dawson, so dass Isaac versuchte, ein Waldgebiet unter Schutz zu stellen, aus dem sein Stamm seinen Bedarf decken konnte. So fragte er 1907 über den Missionar Benjamin Totty bei der Regierung wegen eines Waldgebiets am Moosehide Creek an. Ende der 1920er Jahre war jedoch das Reservat zugunsten von Holzfällern verkleinert worden, da man glaubte, dieses Holz sei von geringem Nutzen für die Han. ==== Kirche ==== Als Missionar arbeitete bis 1926 Benjamin Totty, den Bompas angeworben hatte, in Moosehide. 1908 entstand in Erinnerung an Bompas die St Barnabas Church. Jonathon Wood, ein Indianer, arbeitete als Katechet. Die Kirche initiierte den Moosehide Men’s Club und die Senior Women’s Auxiliary. 1932 entstand die vermutlich einzige indigene Anglican Young People’s Organization in Kanada. Diese Einrichtungen dienten vor allem der Überwachung des Lebenswandels und der Sauberkeit der Siedlung durch seine eigenen Mitglieder. ==== Polizeiaufgaben ==== Weitergehende Befugnisse erhielt der von der Polizei eingesetzte Constable. Um 1911 stellte die Mounted Police einen der Stammesangehörigen als Constable ein. Diese Constables, der erste überlieferte Name ist Henry Harper, wurden für genau spezifizierte Aufgaben eingestellt. So wurde 1912 ein Constable vereidigt, dessen Aufgabe darin bestand, die Bewohner von Moosehide wegen einer Masernepidemie davon abzuhalten, Dawson zu besuchen. Auch Chief Isaac war mehrfach Constable, weitere Namen sind jedoch nicht überliefert, außer dem von Sam Smith. Er war ein älter Gwich'in von Fort McPherson, der bis zu seinem Tod im Jahr 1925 in Moosehide lebte. Wahrscheinlich erhielten die Constables Anweisungen vom Rat und von den Älteren. Die Special Constables sollten in Moosehide für Ruhe sorgen, was ihnen laut einem Bericht der Polizei auch gelang. ==== Erster Dorfrat, Tod Isaacs (1921–1932) ==== Im März 1921 wählten die Leute von Moosehide einen ersten Rat. Den Vorsitz des siebenköpfigen Gremiums übernahm Esau Harper, Chief Isaac wurde nur zweiter Vorsitzender. James Woods wurde Sekretär, Sam Smith wurde Inside Guard, David Robert war als Wächter für die Kinder zuständig. Tom Young und David Taylor betätigten sich als Hauswächter. James Thompson war Dorfinspektor north-end und Peter Thompson south-end. Seine Aufgabe sah der Rat darin, das Dorf sauber zu halten, sich um Kranke und Alte zu kümmern, die Schulpflicht durchzusetzen, das Verhältnis von Männern und Frauen zu überwachen und Bußgelder zu verhängen, auch wegen Alkoholmissbrauchs. In seiner ersten Sitzung verbot der Rat jungen Mädchen, mit Weißen zu gehen, und verbot Nichtindianern den Zutritt zum Reservat. Kinder sollten zur Schule gehen und um 9 Uhr abends im Bett sein. Alle Indianer sollten eine Stunde zuvor Dawson verlassen haben, Frauen, die allein unterwegs waren, sogar um 7 Uhr – es sei denn, sie waren in Begleitung einer verheirateten Frau. Männer durften nur in Begleitung eines Kameraden in der Stadt übernachten. Männer waren verantwortlich für das Herbeischaffen von Holz und Wasser für ihre Familien, zudem war das Weiterreichen von Kautabak – wohl als Präventionsmaßnahme – verboten. Darüber hinaus wurden Hunde im Haus verboten. Weiße durften nur noch in Geschäften nach Moosehide kommen.Diese tiefreichenden Eingriffe stießen jedoch auf Widerstand, so dass das Gremium zunehmend versuchte, statt auf Strafen auf Überzeugung zu setzen. Auch reduzierte es drastisch die Eingriffe in innerfamiliäre Vorgänge. Insgesamt betrachtete der Indianeragent Hawskley den Rat von Moosehide als Experiment, wehrte sich aber gegen Vorschläge aus Ottawa, dieser Institution Dauerhaftigkeit zu verleihen. Isaac führte den Stamm bis zu seinem Tod am 9. April 1932 und wurde ein Ehrenmitglied des Yukon Order of Pioneers. Er hielt zahlreiche Vorträge, wie etwa zum Victoria Day, der in den Metropolen mit großem Aufwand gefeiert wurde, oder zum Discovery Day. Isaac war in der Gesellschaft Dawsons ein häufig geladener Gast, obwohl er immer wieder daran erinnerte, dass die Gäste auf seinem Land waren, und dass sie das Wild abschlachteten. Er forderte sie sogar auf, auf die Jagd und den Fischfang zu verzichten, so wie die Tr’ondek auf die Goldsuche verzichteten. Er starb am 9. April 1932 im Alter von 73 Jahren an einer Grippe. Sein Leichnam wurde auf einem Wagen von zwei Pferden über das Eis nach Moosehide gezogen; an der Beerdigung nahmen alle Indianer der Umgebung teil und viele Bewohner Dawsons. ==== Nachfolge (1932 bis etwa 1960) ==== Seine beiden Brüder Johnathon Wood und Walter Benjamin waren Priester. Johnathon diente an der St. Barnabas Church in Moosehide und starb am 6. Januar 1938 als ältester Bewohner, Walter Benjamin diente an der Episcopal Church Mission im alaskanischen Eagle Village. Im Dezember 1935 traf sich der Rat mit dem Indianeragenten G. Binning, um über eine mögliche Absetzung von Isaacs Nachfolger, Chief Charlie Isaac zu beraten. Doch trug man dem Häuptling, der offenbar zu häufig abwesend war, das Amt erneut an. Im Januar 1936 wurde er jedoch abgesetzt und durch Chief John Jonas ersetzt. Charlie Isaac diente von 1939 bis 1945 auf verschiedenen Kriegsschauplätzen in der kanadischen Armee und war in Vancouver und in Victoria stationiert. Er starb am 25. Februar 1975. Sieben Jahre zuvor war sein Bruder Fred verstorben. Seine beiden Schwestern Princess Patricia, die früh erblindete, und Angela lebten bis 1991 und 1993. Sie waren wichtige Quellen der mündlichen Überlieferung. James oder Jimmie Wood, ein Absolvent der Choutla School in Carcross, übernahm das Häuptlingsamt um 1940. Er wurde ein anglikanischer Katechist, Hilfslehrer in Moosehide und diente während des Krieges in einer lokalen Patrouille; danach unterstützte er ein Hausbauprogramm. Nach zehn Jahren der Krankheit starb der Häuptling 1956 an Tuberkulose. Zweiter Häuptling war Happy Jack Lesky. Dem Häuptling folgte abermals Chief Jonas, doch war er bereits 78 Jahre alt. Er war der letzte der so genannten „Moosehide Chiefs“. 1961 lebten nur noch sieben Familien in Moosehide, davon vier Han-, zwei Peel-River-Gwich'in und eine gemischter Herkunft. === Eagle, die Han in Alaska === Ähnlich tiefgreifend waren die Veränderungen bei den Verwandten in Alaska. Im Mai 1898 erwarben 28 Amerikaner einen Trakt am Mission Creek. Binnen weniger Monate stieg die Zahl der Bewohner auf 1.700, über 500 Blockhütten entstanden. 1899 entstand Fort Egbert zur Überwachung des Gebiets und der Grenze. Nur aus mündlichen Quellen geht hervor, dass die Armee den Han nicht mehr erlaubte, in ihrem Gebiet zu leben. Demnach überredete Chief Philip, dessen Haus voller Decken der Hudson’s Bay Company und voll der begehrten Perlen war, seinen Stamm, drei Meilen weiter zu ziehen, dorthin wo seine Hütte stand. Ihre Begräbnisstätten ließen sie zurück. Im Sommer 1898 hatte der erste episkopalistische Bischof von Alaska Peter Trimble Rowe bereits einen Platz für eine Kirche vorgesehen, doch im nächsten Jahr war Eagle City von der Armee besetzt. Auch waren dort Katholiken und Presbyterianer aktiv, so dass er beschloss, seine Aktivitäten auf Eagle Village zu konzentrieren, wohin die Han gegangen waren. 1905 bis 1906 entstand die St. Paul’s Mission, 1925 wurde der Indianer Walter Benjamin zum Laienprediger ernannt. Er unterstützte zudem bis 1946 den örtlichen Missionar. George Burgess, der von 1909 bis 1920 im Dorf als Missionar lebte, versuchte, ähnlich wie in Moosehide, den Einfluss der Weißen, vor allem der Soldaten aus Fort Egbert, fernzuhalten. So beendete er die Tanzveranstaltungen. Jeder Mann ab 12 Jahren musste einer Temperenzler-Gesellschaft angehören – gegen eine Aufnahmegebühr von einem Dollar und 25 Cent pro Monat Mitgliedsbeitrag, und gegen das Versprechen, ein Jahr keinen Alkohol anzurühren. Im Gegensatz zu Moosehide bzw. Dawson konnten die Han keinen Alkohol in Eagle City erwerben. Bereits 1902 entstand eine Tagesschule für die Han-Kinder in Eagle City, 1905 eröffnete die Episcopal Church eine Tagesschule in Eagle Village. Die Lehrerin setzte mit dem Stock den ausschließlichen Gebrauch der englischen Sprache durch. Zugleich war der Gesundheitszustand schlecht, Tuberkulose, Lungen- und Verdauungskrankheiten waren weit verbreitet. „Es gab keine Medizin“, wie sich später einer der Älteren erinnerte. Wie viele Kinder an diesen Krankheiten starben, ist nicht ermittelt worden, das nächste Krankenhaus war in Fort Youcon bzw. in Dawson. === Vordringen der Geldwirtschaft === Die Geldwirtschaft erreichte das Gebiet um Dawson und entlang der Anreisewege fast schlagartig, doch löste sie den Tauschhandel und den auf dem Austausch von Gaben basierenden Gütertausch nur unter Widerständen ab. Die Indianer versorgten Forty Mile ab 1886 mit Nahrungsmitteln und Pelzen. Sie erhielten dafür Glasperlen, Metallgeräte und Alkohol, offenbar seltener Geld. Die Chilkoot, die lange vor dem Goldrausch einen der Pässe kontrollierten, verdienten als Erste Geld. Sie arbeiteten als Träger. Die Männer trugen bis zu 200 Pfund, auch Frauen und Halbwüchsige beteiligten sich, und schleppten bis zu 75 Pfund. Doch die Indianer horteten den Lohn, den sie in Form von Gold- und Silbermünzen erhielten, so dass ständig zu wenig Geld in Umlauf war. Dabei verdienten auch die Frauen gut, denn sie verkauften zusätzlich Hüte, Handschuhe und Mukluks. Doch je mehr Männer ohne Claims sich im Yukon sammelten, desto niedriger wurden die Löhne. Im Frühjahr 1894 wurden Inspector Constantine und Sergeant Brown von der Regierung in den Yukon geschickt, um für die Eintreibung von Gebühren und Abgaben zu sorgen. Zu dieser Zeit und auch während des eigentlichen Klondike-Goldrauschs zirkulierte Geld vor allem zwischen den Händlern und den Goldsuchern. Je mehr Goldsucher wieder ohne Erfolg abzogen, desto mehr fielen die Preise der liegen gebliebenen Ausrüstungen. Viele verdingten sich als Lohngräber oder boten den Claim-Inhabern andere Dienstleistungen an. Joseph Ladue errichtete im August 1896 am Zusammenfluss von Klondike und Yukon eine Sägemühle, dazu ein Warenhaus und einen Saloon. Von 1898 bis 1899 entwickelte sich eine erste Gewerbestruktur in Dawson. Am Yukon erstreckte sich der Handelsbezirk mit Läden und Lagern. Von deren Waren hingen alle Bewohner vollständig ab, insbesondere während der sechs Monate, in denen die Stadt nicht per Schiff erreicht werden konnte, und damit weder Waren noch Geld aus- und einströmten. Wer keinen Claim bekam oder aus sonstigen Gründen nicht nach Gold suchte, wurde Cheechako genannt. Einige von ihnen schufen einen Luxusmarkt, etwa für aufwändige Hausfassaden, aber auch für Musikinstrumente, teure Stoffe oder Schmuck. Mit dem Nachzug von Frauen und Familien verminderte sich der anfangs sehr hohe Bedarf an Wäschereien, ähnliches galt für die Prostitution. Im Mai 1899 mussten die Frauen jedoch den Kernbezirk verlassen, und sie erhielten einen abgelegeneren Bezirk zwischen der Fourth und der Fifth Avenue. 1901 wurden sie noch weiter abgedrängt und mussten nach Klondike City, auch Lousetown (Läusestadt) genannt, umziehen, dort wo bis 1896 die Tr’ondek Hwech’in gewohnt hatten. Doch der Boom war kurzlebig und endete spätestens 1906 mit dem Abriss der Residenz des Commissioners. Die Regierung sah keine große Zukunft mehr für Dawson. Die Tr’ondek Hwech’in, die sowohl an der Phase der Konkurrenz zwischen Tlingit und Hudson’s Bay Company im Pelzhandel, als auch an der kurzlebigen Phase des von Amerikanern dominierten Freihandels partizipiert hatten, konnten zunächst – zumindest einige von ihnen – als Träger, Schlittenhundeführer, Jäger, Fischer oder Packer Geld verdienen. Jedoch saßen sie in der frühen Phase zwischen den Monopolgebieten am Mackenzie, um Fort Youcon und dem der Chilkat im Südwesten. Nun brach der Goldrausch mitten in ihrem Gebiet herein. Dabei fanden sie saisonale Arbeit an verschiedenen Orten, was ihrer bisherigen Lebensweise sehr entgegenkam. Die neuen Waren und Produkte erforderten allerdings, verstärkt durch steigende Preise, einen höheren Anteil der durch Geld honorierten Arbeit und einen niedrigeren Anteil der reinen Subsistenzarbeit. Solange nicht Massen an konkurrierenden Arbeitskräften eintrafen, fanden die Tr’ondek einen Zugang zum kapitalistischen Arbeitsmarkt. Die Gier nach Gold, aber vor allem Massen an Zuwanderern zerstörten dieses Gleichgewicht. Waren 1896 noch vier von fünf Bewohnern des Yukon Indianer gewesen, so war es 1901 nur noch einer von neun. Dabei kostete der Ausbau der Verkehrswege, vor allem der Eisenbahnbau, die Indianer viele Arbeitsplätze als Träger. Außerdem erhöhte die Anordnung der Regierung, jeder Prospektor müsse seine Ausrüstung selbst mitbringen zwar den Anteil an Lohnarbeit für das Tragen, reduzierte aber die Lebensmittelversorgung gegen Provision. Zudem gingen viele der Prospektoren, die die Goldsuche aufgegeben hatten, nun selbst auf die Jagd und machten den Indianern auf dem Provisionsmarkt Konkurrenz. Hunde waren begehrt, und so zogen manche nordwärts und erwarben Schlittenhunde, die sie in Dawson teurer verkauften. Die zahlreichen Dampfer boten einfache Arbeiten, aber auch die Holzproduktion, einige, wie die Dawson Boys, zugewanderte Gwich'in aus dem Norden, arbeiteten auf Dampfern, etwa als Lotsen oder Handlanger, aber auch als Schreiner, Bootsmechaniker oder lizenzierte Händler, Frauen arbeiteten in Wäschereien oder als Köchinnen in den Camps. Meist zogen die Männer während des Sommers, ähnlich wie früher zur Jagd, an die neuen Einkunftsstätten und nahmen danach ihre zyklischen Wanderungen und ihren winterlichen Lebensstil wieder auf, so dass eine gemischte Ökonomie auf der Grundlage der alten Ökonomie entstand. Frauen belieferten den entstehenden Markt mit Kleidung, aber auch Schlitten und Schneeschuhe wurden nachgefragt. Zwar besuchten einige Indianerinnen die Häuser der Goldsucher in Forty Mile, und auch in Dawson kam dies vor, doch die weiße Konkurrenz war auch auf dem Sektor der Prostitution übermächtig. Dies stand in Gegensatz zu den Erfahrungen an anderen Orten, an denen Goldsucher sich zusammengefunden hatten. Bischof Bompas setzte durch, dass Wohlfahrtsleistungen an minderbemittelte Indianer ausgegeben wurden, wovon jedoch nur Gruppen am Bennett-Dawson-Korridor entlang der Polizeistationen profitierten. Je stärker jedoch die Industrialisierung der Goldgewinnung zunahm, desto kleiner wurde der Markt für nicht ausgebildete Arbeitskräfte, ein Markt, der zunehmend bessere Ausbildung verlangte. Diese fehlte den Indianern jedoch, und es bestand kaum Zugang zu technischer Ausbildung. Hinzu kam das Fortdauern vorindustrieller Mentalität und Lebensweise. Der Klondike-Goldrausch trennte die Ökonomie in zwei Sphären, in die der Gewinnung, Verarbeitung und des Abtransports von Rohstoffen und in die von Jagd, Fallenstellerei, Fischfang und Sammeln. Die Überschneidungen in diesen Bereichen hatten sich, nachdem sie anfänglich sehr stark gewesen waren, wieder stark reduziert. == Ökonomisches Abseits, Weltwirtschaftskrise, Alaska Highway (etwa 1905 bis 1960) == Die Tr’ondek standen nach 1905 weitgehend abseits der regionalen ökonomischen Entwicklung. Diese wurde von großen Rohstoffunternehmen dominiert, die die Kultfigur des Goldsuchers nicht mehr brauchten. Die drei wichtigsten fanden sich 1929 in der Yukon Consolidated Gold Corporation zusammen. Eine rapide fallende Zahl von Prospektoren durchsuchte das Territorium, doch große Funde wurden selten. Stattdessen eröffneten Kupferminen bei Whitehorse, Silberminen bei Mayo und Keno. Manche Indianer, wie Sam Smith und Big Lake Jim betätigten sich als Prospektoren und wurden bei Little Atlin fündig. Die wachsende Schiffsflotte auf den Flüssen, die vor allem dem Transport von Rohstoffen diente, bot die Möglichkeit, entlang der Flüsse Brennholz zu verkaufen. Um Dawson bot auch nach wie vor die Jagd Einkommensmöglichkeiten. 1904 brauchte die Stadt etwa 2.300 Karibus und 600 Elche bei allerdings nur noch 9.000 Einwohnern.Wie in vielen Branchen, so wurden Indianer auch im Yukon durch Gesetzesänderungen, auf die sie wenig Einfluss hatten, verdrängt. 1923 verdrängte sie ein solches Gesetz aus einer kleinen Branche, der der Jagdführer, die vor allem im Süden und Osten von Bedeutung war. Indianer durften nur noch als Hilfsführer und Lagerhelfer arbeiten, nicht mehr als chief guides. Allerdings gab es 1941 erst drei chief guides, und erst in den 1950er Jahren wuchs dieser Bereich deutlich an. Die ältere Branche der Pelzindustrie erlebte im Yukon, im Gegensatz zu Kanada insgesamt, eine gewisse Wiederbelebung. Bestanden 1921 nur 27 Handelsposten von 18 verschiedenen Unternehmen oder Personen, so waren es 1930, auf dem Höhepunkt, 46 Posten von 30 Unternehmern, davon gehörten allein 11 Taylor und Drury. Dabei schwankte der Marktwert zwischen 23.000 (1933) und über 600.000 Dollar (1944–1946) als Jahresertrag extrem stark. Viele Jäger verschuldeten sich übermäßig. Die Regierung des Territoriums versuchte 1923 bis 1929 durch eine Gebühr von 100 Dollar Nicht-Yukoner von der Jagd auszuschließen, doch im Norden wurden damit die außerhalb des Yukon lebenden Gwich'in behindert, wobei die Vuntut Gwitchin wiederum davon profitierten, die die einzige Gruppe der Gwich'in im Yukon waren. Die Weltwirtschaftskrise traf die Tr’ondek dadurch, dass die wenigen Arbeitsplätze auf den Schaufelraddampfern, die den Yukon und seine Nebenflüsse befuhren, nun durch Weiße besetzt wurden. Zudem trieb die massenhafte Arbeitslosigkeit viele von ihnen in die Jagd, so dass sie den Indianern noch mehr Konkurrenz machten, und zugleich der Pelzmarkt einbrach. In den 1940er Jahren gingen die Wildbestände so stark zurück, dass die Jagd um Dawson verboten wurde. Ähnlich wie im Schiffsverkehr sah es auf den Docks und in der Holzindustrie aus. Darüber hinaus schlossen die letzten Goldminen, viele Weiße verließen das Territorium. Nur noch rund 2.700 Nicht-Indianer lebten im Territorium. Viele Tr’ondek meldeten sich zur Armee, so auch zwölf Männer aus Eagle Village. Andere gingen in den südlichen Yukon, um ab 1942 beim Bau des Alaska Highway mitzuarbeiten, den die USA in Erwartung einer japanischen Invasion bauten. Mehr als 30.000 Arbeiter, meist aus den USA, waren dort beschäftigt. Auch das Canol-Pipelineprojekt bot zahlreiche neue Stellen. 1942 entstand sogar ein Mangel an Arbeitskräften in den Minen, da viele zum Straßenbau gingen. Die Minenunternehmen engagierten daher Indianer, mussten aber feststellen, dass diese im Herbst ihre Arbeitsplätze verließen, um zur gewohnten und lebensnotwendigen Jagd zu gehen. Außerdem fürchteten sie, sich mit den aus dem Süden eingeschleppten Krankheiten zu infizieren, Epidemien, die nach wie vor ganze Orte auslöschten, wie etwa Champagne am Alaska Highway, das heute fast eine Geisterstadt ist. 1947 und 1948 brach der Pelzmarkt in den USA und damit bei den westlichen Han zusammen, das Gleiche galt für die kanadischen Märkte. Erst 1950 wurden in Yukon die so genannten trap lines, die in British Columbia bereits 1926 eingeführt worden waren, verteilt. Sie sollten bestimmte Gebiete nur noch für die Jagd entsprechender Stämme reservieren, um weiße Konkurrenz fernzuhalten. Doch das Gegenteil geschah. Gebühren, vor allem aber die Vererbung der Anrechte über die männliche Linie, statt wie traditionell über die weibliche, führten zu Streitigkeiten und letztlich zu einem Vordringen nichtindianischer Pelztierjagd. Dies machte die Indianer wiederum von der kanadischen Wohlfahrt abhängig, die während des Krieges stark gefördert worden war und die ab etwa 1955 auch die Indianer des Yukon erreichte. Unterbeschäftigung und Abhängigkeit schufen ein zunehmendes Alkoholproblem. Ähnlich wie im Yukon verstärkte der Straßenbau, hier des 1953 bis 1955 entstandenen Taylor Highway, die Zufuhr auch in Eagle. 1964 beschloss Eagle Village per Abstimmung die Abschaffung des Verkaufs, ein Beschluss, der bis heute gültig ist. Die Bevölkerung ging dennoch weiter zurück. Hatte der Ort 1966 noch 64 Einwohner, so waren es 1997 nur noch 24, im Jahr 2000 wieder 30 bzw. 68 als Census-designated place. 1957 schloss die Schule in Moosehide, was auch die letzten Bewohner veranlasste, nach Dawson zu gehen. Reverend Martin verließ als letzter dauerhafter Bewohner 1962 Moosehide. In Dawson besaßen die Tr’ondek jedoch keinerlei Schutz durch ein Reservat, sondern siedelten sich familienweise an. Die Stadt war indes so stark geschrumpft, dass nur geringe Polizeikräfte verblieben. Waren 1904 noch 96 Männer der North West Mounted Police in Dawson, so waren es 1910 nur noch 33, 1925 nur noch 15, 1945 gar 3. Die Regierung unterstützte den Hausbau, schuf aber durch die nahe beieinander stehenden Häuser ein eigenes indianisches Quartier in der Stadt. == Segregation, Vernachlässigung (etwa 1905 bis 1942) == Insgesamt erreichte die anglikanische Kirche zusammen mit der Polizeitruppe eine Phase relativ stabiler Segregation ab etwa 1905, die bis 1942 andauerte. Sie war ohne die Entwicklung stereotyper Bilder des Indianers und der Vorstellungen von „Wildheit“ und allgemein Minderwertigkeit in der weißen Gesellschaft des Korridors zwischen Dawson, Mayo und Whitehorse jedoch nicht vorstellbar. So wehrte man sich in Dawson 1925 heftig gegen eine Schule für Kinder aus gemischten Beziehungen. Andererseits verlor jede indianische Frau, die einen Weißen heiratete, ihren Status als Indianerin (vgl. Indian Act). Dabei stieg der Altersunterschied zwischen den Ehepartnern erheblich. Hatte er 1900 bis 1925 noch bei 4 Jahren gelegen, so stieg er 1925 bis 1950 auf rund 12 Jahre, die weißen Männer, die Indianerinnen heirateten, waren sogar 16 Jahre älter. Dabei verfügte man über kein legales Mittel, um Indianer aus den Städten fernzuhalten, wie 1913 der Indianeragent von Whitehorse mit Bedauern feststellte, außer dem „bluff“. Sie mussten Dawson im Sommer ab 19 Uhr, im Winter ab 17 Uhr verlassen. Strafen durften gegen die Leute aus Moosehide verhängt werden, wenn sie die Sperrstunde verletzten, wenn sie tranken oder einfach, wenn sie zu freundlich zu weißen Bewohnern waren. Ab 1929 mussten Indianer Dawson um 20 Uhr verlassen, 1933 brauchten sie zum Aufenthalt in der Stadt eine Sondererlaubnis. Diese erhielten sie üblicherweise, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorwiesen. Ob, wie in Mayo 1947, eine laute Glocke die Sperrstunde verkündete, ist unklar. Einen Sonderfall stellten die Frauen von Missionaren dar, die in der Stadt bleiben durften, denn der langjährige Missionar Toddy war mit einer Indianerin verheiratet, die ihn wegen eines Ohrenleidens pflegen sollte. Neben den eigentlichen Missionsschulen und den in ganz Kanada für die Ureinwohner eingerichteten Schulen besuchten bis 1949 nur Kinder in Teslin eine integrierte Schule. Dabei kam der Widerstand gegen die Aufnahme indianischer Schüler inzwischen weder aus der Verwaltung noch aus der Lehrerschaft, sondern aus den Kreisen der Eltern. Ende der 1940er Jahre zogen viele Moosehider nach Dawson, doch überredete der zuständige Indianeragent sie zurückzukehren, da er Ausbrüche von Tuberkulose fürchtete. Die völlige Vernachlässigung medizinischer Versorgung, die Segregation und die Armut hatten in der Tat dazu geführt, dass die Tuberkulose sich ausbreitete. Schon 1907 war es zudem bei einer Diphtheriewelle zu 7 Toten in Moosehide gekommen. Diese Krankheiten traten immer wieder auf, und so rechnete man bis 1941 mit 18 bis 37 (registrierten) Sterbefällen pro Jahr im Yukon. 1942 schnellte diese Zahl auf 64 in die Höhe, als der Alaska Highway ausgebaut wurde.Die medizinische Versorgung der Indianer wurde zwar von den wenigen Hospitälern übernommen, doch wurden sie, wie in Mayo, in einem Zelt hinter dem Gebäude versorgt. Das von der Treadgold Mining Company gegründete Institut verweigerte ihre Aufnahme. In Dawson weigerten sich weiße Mütter, den Raum mit Indianerinnen zu teilen. Die medizinische Versorgung basierte auf einem Entlohnungssystem der Ärzte, bei dem das Department of Indian Affairs einsprang, wenn die Patienten nicht zahlungsfähig waren. Dazu stellte es vier Ärzte, die 1914 auf der Basis eines festen Honorars durch zwei Ärzte in Dawson und Whitehorse ersetzt wurden. J. O. Lachapelle erhielt, wie sein Kollege in Whitehorse, 1.200 Dollar im Jahr, statt, wie bisher, zwei Dollar pro Patient.Bei der umfassenden Segregation und Vernachlässigung stagnierte die Zahl der Indianer im Yukon bei hohem Krankheitsstand und hoher Kindersterblichkeit von 1911 bis 1951 bei rund 1.300 bis 1.600. 1901 hatte ihre Zahl noch bei 3.322 gelegen, 1961 waren es erst wieder 2.207, 1971 2.580.Zugleich wurde ihre Lebensgrundlage durch Überjagung der Karibuherden verstärkt bedroht. So umfasste die Forty Mile Herd 1920 rund 568.000 Tiere, doch bereits 1953 existierten nur noch 50.000 Tiere. Bis 1973 schrumpfte die Herde durch weitere Überjagung auf 6.500 Exemplare zusammen. Heute umfasst die Herde wieder 39.000 Tiere; sie soll auf 50 bis 100.000 vergrößert werden. Seit einigen Jahren taucht sie auch wieder bei Dawson auf. == Landansprüche und Selbstregierung, kulturelle Wiederbelebung (seit etwa 1950) == In den 1950er Jahren begannen die Tr’ondëk das verlassene Tr'ochëk wieder zu besiedeln, nachdem Dawson stark entvölkert war, so stark, dass die Hauptstadt Yukons nach Whitehorse verlegt wurde. Wenige Jahre zuvor hatten sich Familien aus Fort Selkirk dort angesiedelt. Die Familien der Johnsons, der Blanchards, der Baums, der Isaacs zogen Anfang der 1950er Jahre wieder nach Tr'ochëk, wo sie teils traditionell, teils von Lohnarbeit außerhalb des Dorfs lebten. In den 1960er Jahren war Fred Isaac einer der wenigen, die noch in Moosehide wohnten. Erst 1960 erhielten die Indianer Kanadas das Wahlrecht, 1961 nahmen die Yukoner Indianer erstmals an einer Wahl im Territorium teil. 1969 wurde Percy Henry zum Häuptling gewählt (bis 1984). In den 1970er Jahren entwickelten die wenigen noch lebenden Han-Sprecher zusammen mit Linguisten wie John Ritter eine Schrift, die ihre Sprache möglichst genau wiedergeben konnte. Damit erhielt der geplante Sprachunterricht eine wichtige Stütze. Zudem wurden Erinnerungsbräuche wie das Moosehide Gathering, eine aus weitem Umkreis beschickte Versammlung, die alle zwei Jahre stattfindet, initiiert, und alte, wie die Erste Jagd, wiederbelebt. Im Dezember 1973 wurde Premierminister Pierre Trudeau das Manifest der Landforderungen Together today, for our children tomorrow überreicht. 1975 sprachen sich die Älteren des Stammes dafür aus, Tr’ochëk als integralen Bestandteil ihrer Landforderungen zu betrachten, doch 1977 setzten sich dort Goldsucher fest. Noch 1991 wurden diese Tätigkeiten illegal fortgesetzt, wobei dortige Artefakte zerstört wurden. Audrey McLaughlin, Angehörige des Yukoner Parlaments, forderte die Regierung auf, diese Tätigkeiten sofort zu untersagen.Auf Percy Henry folgte 1984 erstmals eine Frau als Chief, Peggy Kormendy. Ein Jahr zuvor war in Eagle bereits Joanne Beck zum Häuptling gewählt worden. Der Stamm nahm 1991 Verhandlungen mit dem Territorium um seine Landansprüche auf, 1992 bezog die Regierung Tr’ochëk in die Verhandlungen ein. 1993 unterzeichneten vier Stämme ein Agreement in principle, doch die Verhandlungen der Tr’ondek stagnierten. Im Juli 1995 beschloss der Stamm, seinen Namen von Dawson First Nation offiziell in Tr’ondëk Hwëch’in First Nation zu ändern. 1997 kaufte die Regierung Kanadas alle Claims im Bereich von Tr’ochëk für eine Million Dollar auf, und es kam zu einem Abkommensentwurf. Am 30. August 1996 brannte das nach Chief Isaac benannte Stammesbüro an der Front Street ab. === Der Vertrag von 1998 === Am 16. Juli 1998 kam es, mit 72 % Zustimmung, beim Moosehide Gathering zum Vertragsabschluss. Der Vertrag trat am 15. September in Kraft. Er umfasst 531 Seiten, hinzu kommt ein Anhang B mit zahlreichen Karten. Der Stamm erhielt 2598,52 km² Siedlungsland, dazu 1553,99 km² Land der Kategorie A, wo ausschließliche Jagdrechte, aber auch Anspruch auf die Landoberfläche und die darunter liegende Schicht besteht, dazu 1044,52 km² Land der Kategorie B, wo die Tr’ondek nur Anspruch auf die Bodenoberfläche (also nicht auf Bodenschätze), dazu gemeinsames Jagdrecht mit anderen besitzen. Im gesamten traditionellen Gebiet behalten Stammesangehörige ihr Jagdrecht. Bei Entwicklungsprojekten, z. B. der Gewinnung von Bodenschätzen, wird der Stamm beteiligt, auch in Form von Arbeitsplätzen. Dazu erhält der Stamm 48 Millionen Dollar, von denen allerdings 17 aus verschiedenen Gründen zurückgezahlt werden müssen. Dazu kommt der Zugang und eine 50-prozentige Repräsentation in allen zuständigen Gremien inklusive der dazugehörigen Einnahmen und Honorare, meist vertreten durch den Council for Yukon First Nations. Schließlich sollte für alle Zeit der Tombstone Territorial Park unter Schutz stehen, die Tr’ondek auch hier hälftig beteiligt sein. So entstand ein Schutzgebiet von 2.100 km² zu dem ein Teil der Mackenzie Mountains Ecoregion, die Ogilvie Mountains und die Blackstone Uplands gehören. Des Weiteren wurden drei historische Stätten (Historic Sites) eingerichtet: Forty Mile, Fort Cudahy und Fort Constantine. Der Stamm und das Territorium haben gemeinsame Besitzrechte und beschicken den Verwaltungsrat mit je der Hälfte der Mitglieder. Der Vertrag sieht unter ähnlichen Bedingungen auch vor, eine Caribou Habitat Study Area einzurichten, in der festgestellt werden soll, ob die größte Karibu-Herde Nordamerikas, die beinahe ausgerottet worden war, wiederhergestellt werden kann. 2002 wurde Tr'ochëk als National Historic Site of Canada ausgewiesen. Die Tr'ochëk Heritage Site bietet entsprechende ökonomische Möglichkeiten der Nutzung, vor allem aber der kulturellen Repräsentation. Im zuständigen Gremium stellen die Tr’ondek 60 % der Mitglieder. Parks Canada und YTG Heritage stellen seit 2002, als die Stätte zur nationalen historischen Stätte erhoben wurde, die übrigen Mitglieder. Sie bieten Unterstützung in archäologischen und historischen Fragen und bei der Abfassung einer Geschichte des Ortes. Die örtliche Robert Service School hat eine archäologische Abteilung und bietet Schülern und Studenten archäologische Lehrgänge. Auch auf die Han in Alaska übte der Vertrag eine starke Wirkung aus, denn jeder, der nachweislich einen Han-Vorfahren hat, kann dem Vertrag beitreten. Einer der Unterhändler, Joe Joseph aus Dawson, reiste bereits ab Sommer 1997 nach Alaska und trug Antragsteller in eine Liste ein. Entsprechend einem US-Gesetz, dem Native American Graves Protection and Repatriation Act (NAGPRA) von 1990 forderte Karma Ulvi aus Eagle Village die Rückgabe von Artefakten, die sich im University of Alaska Museum in Fairbanks befinden. Ähnliche Aufstellungen entstanden in Dawson. === Verfassung, weitergehende Verträge === Am 22. August 1998 gab sich der Stamm eine Verfassung. Neun der elf Mitglieder-Stämme des Council of Yukon First Nations (CYFN) haben inzwischen Verträge über Landansprüche und Selbstregierung abschließen können. Die meisten staatlichen Aufgaben liegen seitdem in ihrer Hand, wozu vor allem Gesetzgebung, Exekutive und ein eigenes Steuersystem gehören. 1997 ging Tr'ochëk wieder in das Eigentum des Stammes über. Bereits in diesem Jahr begann eine Grabungskampagne, bei der die Jugendlichen des Stammes eine wichtige Rolle spielten und zugleich ihre traditionelle Kultur zu verstehen lernten. Dort entstand ein Lehrpfad und eine Schutzhütte, 2002 wurde die Insel zur nationalen historischen Stätte erhoben, 2011 wurde die entsprechende Beschilderung vorgenommen.Zusammen mit der First Nation of Nacho Nyak Dun schlossen sie einen Vertrag mit Yukon Energy zur Versorgung Dawsons mit Strom über die 232 km lange Mayo Dawson Power Line. === Aktuelle Situation === 2002 entstand, bedingt durch Mangel an Bauland, ein neuer Land Claim (C-4) bei Dawson. In dieser neuen, so genannten subdivision entstanden in Zusammenarbeit des Stammes mit der Canada Mortgage and Housing Corporation, einer 1946 gegründeten staatlichen Organisation zur Förderung des Hausbaus, zunächst sechs Häuser, 2003 entstanden weitere sechs. Diese Häuser mussten den schwierigen Bedingungen auf Permafrostboden genügen. Zudem wohnen die Tr’ondek Hwech’in meist in Großfamilien, bei denen die Älteren (Elders) einen integralen Bestandteil bilden. Darüber hinaus sollten die hierzu entwickelten Konzepte des HealthyHousing dafür Sorge tragen, dass Energieeffizienz und gesundes Raumklima berücksichtigt wurden. Um den sich verändernden Familien angepasst werden zu können, wurde zusätzlich das FlexHousing-Konzept entwickelt. Dies betrifft sowohl die Zahl der Zugänge, als auch die Raumaufteilung, aber auch die Möglichkeit, Anbauten zu schaffen, die zentral beheizt und belüftet werden können, sowie Barrierefreiheit. Dabei knüpft man an bekannte Bautechniken und Materialien an, die in der Umgebung verfügbar sind, denn die extrem kurze Bauphase im Sommer erfordert eine besonders strenge Zeitplanung. Da nach Recherchen und Rückgabeverhandlungen nun ein Teil der Artefakte nach Dawson zurückgekehrt ist, wird die Kultur der Han auch für Touristen zunehmend sichtbar. Neben dem Kulturzentrum versucht man, auch die anderen Orte einzubeziehen. So existiert seit 2001 die River of Culture tour, die von Han Natural Products, einem Ableger von Chief Isaac, betrieben wird. Das Schiff Luk Cho (King Salmon) fährt von Dawson über Tr'ochëk nach Moosehide Island. 2008 wurde Eddie Taylor für drei Jahre zum Häuptling gewählt. Die bis 2020 für die Indianer Kanadas zuständige, bis 2015 Department of Indian Affairs and Northern Development genannte Einrichtung Indigenous and Northern Affairs Canada, zählte im August 2009 genau 692, im Dezember 2011 genau 716 Menschen zum Stamm. Die vom Stamm selbst geführte Liste umfasste am 5. Mai 2008 hingegen 1.048 Mitglieder, von denen 338 in Dawson lebten, 218 in anderen Orten Yukons, 492 außerhalb, davon 65 außerhalb Kanadas. Im Mai 2020 zählte die staatliche Institution, die aufgelöst und als Crown-Indigenous Relations and Northern Affairs Canada eingerichtet werden soll, 874 Stammesangehörige. Von diesen lebten 683 außerhalb der Reservate, knapp 200 auf Kronland und nur noch drei Männer im Reservat. Bis Juni 2020 hatte die Corona-Pandemie die Indigenen im Yukon noch nicht erreicht. === Moosehide Gathering, Versammlung zur Erinnerung an die Umsiedlung === Alle zwei Jahre findet das Moosehide Gathering statt, das ein halbes Jahrhundert der Umsiedlung in Erinnerung behalten will. Solche Versammlungen wurden seit langem abgehalten, um die weit verstreuten Gruppen zusammenzubringen. Dort wurden politische Streitigkeiten geschlichtet, geheiratet, man traf sich mit Angehörigen anderer First Nations, etwa um zu handeln, rituelle Feste, wie das Potlatch wurden begangen. Mit der Missionierung traten neben die Feiern anlässlich der Lachswanderungen auch Ostern und Weihnachten als Termine in den Vordergrund. Nach Moosehide kamen dann Leute aus Forty Mile und Eagle, aus Tetlin, aber auch Gwich'in vom Peel und Blackstone River, Nördliche Tutchone und Tanana. Dabei hatten vor allem die Häuptlinge, wie Isaac, Gegenbesuche zu machen, wie bei der Ernennung eines Nachfolgers für einen verstorbenen Häuptling. Im Gegensatz zu British Columbia, wo ab 1885 der Potlatch verboten war, kam es in Yukon zu keinen Verhaftungen, jedoch durch Anwesenheit der Polizei zur Überwachung, durch die Missionare zur Umwandlung in einfache Feierlichkeiten. Erst in den 1970er Jahren kam es zu einer Wiederbelebung der traditionellen Potlatchfeiern. So kam es 1993 zu einem ersten Moosehide Gathering, es folgte ein zweites 1994. Seitdem findet die Feier alle zwei Jahre statt. Hunderte von Besuchern aus Alaska, Yukon und den Nordwest-Territorien besuchen die viertägige Feier. 1998 wurde entsprechend die Annahme des Landnutzungsvertrags gefeiert, dabei wurden Geschenke verteilt, die die Erinnerung wach halten und die Zeugen persönlich verpflichten. Zugleich erhalten die jüngeren Stammesmitglieder Gelegenheit, die Reichweite ihrer Kultur kennen zu lernen, indem sie sie ausüben. === Rückkehr von Kulturgütern und -wissen aus Alaska === Die Lieder, die Chief Isaac an die in Eagle in Alaska lebenden Verwandten übergeben hatte, sind inzwischen wieder in den Besitz des Stammes zurückgekehrt. Damit wird wieder das Erlernen der Sprache gefördert. === Kulturzentrum in Dawson (seit 1998) === Zudem konnte im Monat der Vertragsunterzeichnung, also im Juli 1998, das Dänojà Zho Cultural Centre (auch Long time ago house) eröffnet werden. Es entstand durch Mittel, die der Stamm anlässlich der 100-Jahr-Feier des Klondike-Goldrauschs erhielt. 1999 erhielt das Zentrum die Lieutenant Governor of British Columbia’s Medal in Architecture für seine Architektur. Das Haus ist das einzige, das in Dawson, das als nationale historische Stätte eigentlich keine neueren Bauten als die der Goldgräberzeit gestattet, moderne Architektur mit Elementen der viel älteren Kultur der Tr’ondek Hwech’in verbindet. === Black City, Jagdgebiet und Siedlung (bis 1927) === Das Jagdgebiet der Blackstone Uplands teilten sich die Tr’ondek mit zwei Gwich'in-Stämmen, den Tukudh-Gwich'in vom oberen Porcupine River und den Teetl'it-Gwich'in vom oberen Peel River. Die Uplands waren durch den Seela-Pass mit dem Yukon und über den Chandindu mit dem Twelvemile River verbunden. Black City, gelegentlich auch Blackstone Village genannt, war eine der dortigen Siedlungen mit rund 40 bis 50 Einwohnern am Westufer des East Blackstone River, unweit des Dempster Highway. Die Siedlung lag nahe an einem Wanderpfad zweier Karibuherden, die in den Uplands überwinterten. Andere Orte waren Calico Town, Ts'ok giitlin und Cache Creek. Viele Gwich'in, die Dawson zweimal pro Jahr über einen Pfad durch das Chandindu Valley auf Hundeschlitten oder Traghunden mit Fleisch versorgten, blieben in Moosehide, manche auch in der Umgebung von Dawson. In Moosehide fanden um Weihnachten entsprechende Empfangsfeierlichkeiten statt, und Familien wurden gegründet, wie die Martins, Henrys und Semples, die in Moosehide blieben. Manche brachten auch unbekannte Krankheiten, wie die Grippe mit, und eine unbekannte Zahl von ihnen wurde vom Diakon Richard Martin beigesetzt. Das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Black City war um 1927 jedoch wieder verlassen, seine Bewohner waren nach Moosehide, Old Crow oder Fort McPherson gegangen. Um 1938 erfolgte wohl der letzte Jagd- und Handelszug der Gwich'in durch das Gebiet. Sie kamen vom Hungry Lake, Doll Creek oder den Burning Mountains. Heute ist das Gebiet von Black City im Rahmen des Tombstone-Parks geschützt, archäologische Projekte dienen der Erforschung, aber auch der stärkeren Anbindung der Jüngeren an die Region. 1989 begannen Grabungen in Black City und im Umland. Das Management der Stätte liegt ausschließlich bei den Tr’ondek Hwech’in, Jagd und Fischfang werden bis heute praktiziert. === Zerstörung und Wiederaufbau von Eagle (seit 2009) === Im Mai 2009 wurde Eagle von der schwersten überlieferten Überschwemmung getroffen und von umhertreibenden Eisblöcken weitgehend zerstört. Unter den 25 zerstörten Häusern befand sich das Eagle Customs House von 1900. Auch Eagle Village wurde völlig zerstört, dazu gehört als historisches Gebäude die Kirche. Präsident Obama rief den Notstand aus. In Eagle City hielten sich während des Sommers permanent mindestens 60 freiwillige Helfer auf, bis August entstanden 13 neue Häuser. In Eagle Village bauten vor allem der Mennonite Disaster Service, Samaritan’s Purse und das Eagle Rebuilding Construction Team. == Quellen == Neben archäologischen Funden und mündlicher Überlieferung stellen die Berichte der Hudson’s Bay Company die frühesten Quellen dar. Zu den ältesten Journalen zählen die Berichte Murrays, die 1847 einsetzen (Murray 1910). Murray war zwar Augenzeuge, doch dürften die Verständigungsmöglichkeiten eher begrenzt gewesen sein. Von gewisser Bedeutung sind die Berichte von William Hardisty und Strachan Jones, wenn sie auch sehr knapp sind. Frederick Schwattka, der in militärischem Auftrag berichtete, liefert uns für die Zeit vor 1900 ausführlichere Darstellungen zur Kultur der Han, wenn er auch nicht über Dolmetscher verfügte, ebenso wie der Journalist Tappan Adney, der kurze Zeit bei ihnen lebte (1897–1898) und in Harper’s New Monthly Magazine (1900) und in Outing (1902) darüber berichtete. Auch der Arzt Ferdinand Schmitter, der etwa 1906 in Fort Egbert stationiert war, kannte die Han aus eigener Anschauung. Er interessierte sich vor allem für die Medizinmänner, jedoch ist nicht immer klar, ob er die Dinge selbst beobachtet hat, oder ob er sie aus anderen Quellen bezog. Bis etwa 1930 gibt es keine weiteren Untersuchungen oder Darstellungen. 1932 befragte der Anthropologe Osgood, der allerdings zu dieser Zeit über die Gwich'in forschte, einige Han in Eagle, vor allem Walter Benjamin, dessen Mutter die Schwester von Chief Isaac war, und den um 1850 geborenen Jonathan Wood. Richard Slobodin arbeitete bei den Han 1963. Er befragte vor allem Han aus Dawson, unter ihnen Charlie Isaac, Simon und Mary McLeod. Insgesamt ist die dünne Quellenlage für die Zeit bis in die 1970er Jahre von geringem Interesse an der Kultur, wenig wissenschaftlicher Ausrichtung, die, wenn sie auftrat, sich auf die benachbarten Stämme richtete, und einer schlechten sprachlichen Verständigung geprägt. == Literatur == Zwei weitgehend ethnologische, entgegen dem Titel nur zu einem geringen Teil historische Arbeiten stammen aus den USA, eine ist im Yukon entstanden. Hinzu kommen Arbeiten im Auftrag des Stammes und der Heritage Resources Unit in Whitehorse zur Archäologie, sowie zum Hausbau. Als richtungweisende historische Arbeit für die Zeit von 1840 bis 1973, partiell bis 1990 gilt der Beitrag von Ken S. Coates. Chief Isaac, Trondek Heritage (PDF; 588 kB). Chris Clarke und K'änächá Group, Sharon Moore (Hrsg.): Tr'ëhuhch'in näwtr'udäh'¸a = finding our way home, Tr'ondëk Hwëch'in Publ., Dawson City, ca. 2009, ISBN 978-0-9688868-3-0. Ken S. Coates: Best Left as Indians. Native-White Relations in the Yukon Territory, 1840–1973, McGill-Queen’s University Press, Montreal / Kingston 1991, Paperback 1993. Helene Dobrowolsky: Hammerstones: A History of the Tr’ondek Hwech’in, Tr’ondek Hwech’in Han Nation, 2003. Helene Dobrowolsky: Tr'ondëk Hwëch'in (First Nation) Yukon Territory. Forty Mile Historic Site: bibliography: archival sources for Forty Mile, Fort Constantine and Fort Cudahy Historic Site / zusammengestellt für Tr'ondëk Hwëch'in, Whitehorse: Yukon Government, Heritage Resources Unit 2002. Thomas J. Hammer, Christian D. Thomas: Archaeology at Forty Mile/C'hëdä Dëk, Yukon Tourism and Culture, Whitehorse 2006. Innovative Buildings. Homes for the Tr'ondëk Hwëch'in Hän. FlexHousingTM in Dawson City. Craig Mishler, William E. Simeone: Han, People of the River. Hän Hwëch'in: An Ethnography and Ethnohistory, University of Alaska Press, 2004. ISBN 1-889963-41-0 Cornelius Osgood: The Han Indians. A Compilation of Ethnographic & Historical Data on the Alaska-Yukon Boundary Area, Yale University Publications in Anthropology, 1971 – Osgood versucht die Kultur der Han um 1850, also zum Zeitpunkt der ersten direkten Kontakte mit Europäern, darzustellen. Adney Tappan: The Klondike Stampede, University of British Columbia, 1994. ISBN 978-0-7748-0490-5 == Siehe auch == Geschichte der First Nations Liste der in Kanada anerkannten Indianerstämme Schenkökonomie == Weblinks == Website der Tr’ondëk Hwëch’in First Nation Tr'ondëk Hwëch'in Heritage Sites Chief Isaac's People of the River – Website mit dem Schwerpunkt Chief Isaac MacBride Museum of Yukon History == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Tr%E2%80%99ondek_Hwech%E2%80%99in_First_Nation
Insektenpheromone
= Insektenpheromone = Insektenpheromone sind Botenstoffe, die der chemischen Kommunikation zwischen Individuen einer Insekten-Art dienen. Sie unterscheiden sich damit von Kairomonen, also Botenstoffen, die Information an artfremde Organismen übertragen. Insekten produzieren Pheromone in speziellen Drüsen und geben sie an die Umgebung ab. In den Pheromonrezeptoren der Sinneszellen des Empfängers erzeugen sie bereits in sehr geringer Konzentration einen Nervenreiz, der schließlich zu einer Verhaltensantwort führt. Die innerartliche Kommunikation der Insekten über diese Stoffe erfolgt in vielfältiger Weise und dient unter anderem zum Finden von Geschlechtspartnern, der Aufrechterhaltung der Harmonie in einer Kolonie sozial lebender Insekten, der Markierung von Territorien oder dem Auffinden von Nestplätzen und Nahrungsquellen. Im Jahr 1959 identifizierte und synthetisierte der deutsche Biochemiker und Nobelpreisträger Adolf Butenandt den ungesättigten Fettalkohol Bombykol, den Sexuallockstoff des Seidenspinners (Bombyx mori), als erstes bekanntes Insektenpheromon. Bei den Sexualpheromonen weiblicher Schmetterlinge handelt es sich meist um mono- oder bis-olefinische Fettsäuren beziehungsweise deren Ester, Fettalkohole, deren Ester oder die entsprechenden Aldehyde. Männliche Falter verwenden ein breites Spektrum von Chemikalien als Sexualpheromone, zum Beispiel Pyrrolizidinalkaloide, Terpene und aromatische Verbindungen wie Benzaldehyd. Die Erforschung der chemischen Kommunikation von Insekten erweitert das Verständnis darüber, wie diese ihre Nahrungsquellen oder Plätze zur Eiablage auffinden. So nutzen Imker ein künstlich hergestelltes Nasanov-Pheromon, das Terpene wie Geraniol und Citral enthält, um Bienen zu einem ungenutzten Bienenstock zu locken. Die Land- und Forstwirtschaft verwendet Insektenpheromone kommerziell bei der Schädlingsbekämpfung mittels Lockstofffallen zur Verhinderung der Eiablage und bei der Praktizierung der Verwirrmethode. Es besteht die Erwartung, dass Insektenpheromone auf diese Weise auch zur Eindämmung von durch Insekten übertragenen Infektionskrankheiten wie Malaria, Denguefieber oder Afrikanische Trypanosomiasis beitragen können. == Etymologie und Einteilung == Adolf Butenandt und Peter Karlson schlugen im Jahr 1959 den Begriff der Pheromone für Stoffe vor, die der intraspezifischen Kommunikation dienen. Die Definition des Pheromonbegriffs erfolgte im selben Jahr durch Karlson und den Schweizer Zoologen Martin Lüscher. Demnach sind Pheromone Das Wort Pheromon besteht aus den altgriechischen Wortteilen φέρειν phérein, überbringen, melden und ὁρμᾶν hormān, antreiben, erregen. Laut Karlson und Lüscher war es das Ziel, für eine Klasse von Substanzen basierend auf einer klaren Definition einen international verständlichen wissenschaftlichen Begriff zu prägen. Es sollte ein kurzes Wort sein, das in vielen Sprachen gesprochen werden kann. Die Endung mon diente als Suffix, wie es in den Wörtern Hormon, Kairomon und Allomon vorkommt und damit deren Verwandtschaft unterstrich. Der Begriff Pheromon löste den Ausdruck Ektohormon beziehungsweise Homoiohormon ab, den Albrecht Bethe bereits im Jahr 1932 mit gleicher Definition vorgeschlagen hatte. Die Bezeichnung von Bethe setzte sich nicht durch, weil die Bezeichnungen Ekto und Hormon sich laut Butenandt gegenseitig ausschlossen. Der Wirkmechanismus eines Pheromons entspricht auch nicht dem eines von einem anderen Individuum in den Blutkreislauf aufgenommenen Hormons und wurde daher als irreführend empfunden. Die Einordnung der intraspezifisch wirkenden Pheromone in die Gruppe der Semiochemikalien, also der Botenstoffe, die der Kommunikation zwischen Organismen dienen, zeigt die folgende Grafik: Karlson unterteilte sie nach der Art des Empfangs weiter in olfaktorisch wirkende und oral wirkende Insektenpheromone. Im Jahr 1963 führten Edward O. Wilson, der im Jahr zuvor die Spurenpheromone der Ameisen entdeckt hatte, und William H. Bossert die Begriffe der Releaser- und Primerpheromone ein. Releaserpheromone, die meist olfaktorisch wahrgenommen werden, bewirken eine augenblicklich beobachtbare Verhaltensreaktion, wohingegen Primerpheromone, die häufig oral wirken, physiologische Veränderungen beim Empfänger auslösen. Primerpheromone unterdrücken zum Beispiel die Ausbildung der Eierstöcke bei Arbeitsbienen. Häufig werden Pheromone nach ihrer verhaltensauslösenden Funktion definiert. Neben den bekannten Sexuallockstoffen wirken sie unter anderem als Aggregationspheromone, Dispersionspheromone, Alarmpheromone, Spurpheromone, Markierungspheromone, Bruterkennungspheromone, Eiablagepheromone, Rekrutierungspheromone oder als Kastenerkennungsstoffe.Vincent Dethier teilte die Insektenpheromone nach ihrer generellen verhaltensauslösenden Wirkung in sechs Kategorien ein. Dazu zählen die normalerweise nur auf kurze Entfernung wahrnehmbaren Arrestants, die ein in Bewegung befindliches Insekt zum Anhalten veranlassen, sowie die Locomotor Stimulants, welche die Geschwindigkeit der Insekten erhöhen oder die Anzahl von Richtungsänderungen verringern. Attractants sind Lockstoffe, die eine orientierte Bewegung zur Riechquelle hin auslösen, wohingegen Repellents eine Fluchtbewegung von dieser weg auslösen. Feeding- beziehungsweise Oviposition Stimulants lösen die Fütterung oder die Eiablage aus. Deterrents dagegen hemmen den Fraß oder die Eiablage. Funktional definierte Insektenpheromone enthalten oft Mischungen verschiedener Komponenten in genau definierten Mengenverhältnissen. Diese sogenannten Pheromoncocktails enthalten häufig Stoffe verschiedener Kategorien mit Nah- und Fernorientierungsfunktion. So enthält der Aggregationspheromoncocktail der Deutschen Schabe Blattella germanica sowohl Stoffe, die als Attractant wirken als auch Stoffe, die als Arrestant wirken.Zum Teil werden Insektenpheromone nach dem Ort ihrer biologischen Produktion benannt. Männchen verschiedener Falterarten wie etwa der Bananenfalter besitzen im Hinterleib sogenannte androconiale Organe, die Pheromone abgeben. Diese Insektenpheromone werden entsprechend als Androconialpheromone bezeichnet. Die Königinnen der Westlichen Honigbiene produzieren das Bienenköniginnenpheromon in Mandibeldrüsen. Im englischen Sprachraum werden sie daher oft als Queen Mandibular Gland Pheromones, Königinnenmandibeldrüsenpheromone, bezeichnet. == Geschichte == === Erste Entdeckungen === Der englische Imker Charles Butler beobachtete im Jahr 1609, dass durch den Stich einer Biene eine Flüssigkeit freigesetzt wurde. Diese Flüssigkeit zog andere Bienen an und diese begannen daraufhin in Massen zu stechen. Butler stellte damit erstmals die Wirkung eines Alarmpheromons der Bienen dar, das in den 1960er Jahren als Isoamylacetat identifiziert wurde.Sir John Ray vermutete bereits 1690, dass Birkenspannerweibchen männliche Artgenossen über einen Duft anlockten: Der französische Entomologe Jean-Henri Fabre berichtete Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls über Versuche mit Nachtpfauenaugen und Eichenspinnern, bei denen in Drahtkäfigen gefangene Weibchen innerhalb weniger Tage zu bestimmten Uhrzeiten Hunderte von Männchen anlockten. Bei Versuchen mit markierten Seidenspinnermännchen fanden noch 40 % der Männchen aus einer Entfernung von vier Kilometern und 26 % der Männchen aus elf Kilometern zu einem gefangenen Weibchen.Bei vielen Insektenarten rätselten Forscher lange Zeit über den Mechanismus des Zusammenfindens der Geschlechtspartner: Visuelle oder akustische Reize konnten weder die von Fabre durchgeführten Versuche noch, wie Nachtfalter mit großer Sicherheit paarungsbereite Weibchen fanden, erklären. Theorien über eine Lockwirkung durch Infrarot- oder andere Strahlung bestätigten sich nicht. Ebenso unerklärlich blieb lange Zeit die Organisation von Insektenstaaten. Der Schriftsteller und Bienenforscher Maurice Maeterlinck spekulierte über den Spirit of the hive, den (Team)-Geist des Bienenstocks, ohne dessen Wesen näher bestimmen zu können. === Definitionen von Bethe === Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte Ernest Starling die Hormone als erste biologische Botenstoffe. Im Jahr 1932 veröffentlichte der Neurophysiologe Albrecht Bethe, der zu dieser Zeit das Institut für Tierphysiologie an der Universität Frankfurt am Main leitete, einen Artikel über ein erweitertes Hormonkonzept, bei dem er zwischen Endohormonen und Ektohormonen unterschied. Die Endohormone wirken demnach im produzierenden Organismus selbst und entsprechen der klassischen Hormondefinition. Im Gegensatz dazu gibt der Organismus Ektohormone nach außen ab und überträgt sie auf andere Individuen. Als Beispiel führte Bethe die Wirkung des Laktationshormons an, das von einem Fötus an die Mutter abgegeben wird und bei dieser das Wachstum der Brustdrüse und anschließend die Milchsekretion hervorruft. Dieses Konzept schlug er auch für die chemische Kommunikation unter Insekten vor. Bethe unterteilte die Ektohormone weiter in Homoiohormone, die – entsprechend der heutigen Definition eines Pheromons – auf Individuen der gleichen Art wirken, und Alloiohormone, die auf Individuen einer anderen Art wirken. Damit prägte er den Vorläuferbegriff der Allelochemikalien. === Arbeiten von Butenandt === Auch Adolf Butenandt vermutete, dass die Kommunikation unter Insekten auf Botenstoffen basierte, und begann in den 1940er Jahren ein Projekt zur Identifizierung des Sexuallockstoffs des Seidenspinners (Bombyx mori). Es handelt sich dabei um einen ursprünglich in China beheimateten Schmetterling aus der Familie der Echten Spinner, der dem Seidenbau dient und dessen Aufzucht und Haltung gut bekannt war. Erst nach fast 20-jähriger Arbeit gelang die endgültige Extraktion und Reinigung eines Stoffes aus mehr als 500.000 Insekten, den Butenandt später Bombykol nannte. Durch Elementaranalyse bestimmte Butenandt die Summenformel des Stoffes zu C16H30O. Infrarotspektroskopische Untersuchungen wiesen auf die Anwesenheit von konjugierten Doppelbindungen hin. Mit damals gängigen Methoden wie der katalytischen Hydrierung, der Schmelzpunktbestimmung und dem oxidativen Abbau durch Kaliumpermanganat zeigte Butenandt, dass es sich bei dem gesuchten Stoff um einen ungesättigten Fettalkohol, das (10E,12Z)-10,12-Hexadecadien-1-ol, handelte.Butenandt synthetisierte anschließend Bombykol aus Vernolsäure [(12R,13S)-Epoxy-9-cis-octadecensäure] in mehreren Schritten über die Diolbildung, dessen Spaltung in den Aldehyd, Doppelbindungsisomerisierung und Wittig-Olefinierung. Er synthetisierte die vier möglichen Stereoisomere und testete sie auf ihre biologische Aktivität. Nur ein Isomer zeigte dieselbe Aktivität wie das Extrakt. Damit erbrachte Butenandt den Nachweis, dass die Kommunikation unter Insekten auf stofflicher Basis erfolgt. === Primer- und Releaserpheromone === Gegen Ende der 1950er Jahre definierte Edward O. Wilson Stoffe, die das Alarm- und Grabverhalten von Ameisen auslösen, als Chemical Releaser. Der britische Biochemiker Robert Kenneth Callow identifizierte im Jahr 1961 mit der Verbindung (E)-9-Oxo-dec-2-ensäure, kurz 9-ODA, ein weiteres Pheromon, auch bekannt als Bienenköniginnenpheromon. Die Wirkung dieses Pheromons war offensichtlich anders geartet als die der Alarmpheromone, da es sich langfristig auf die Physiologie der Empfänger auswirkte. Im Jahr 1963 führten Wilson, der im Jahr zuvor bereits die Spurenpheromone der Ameisen entdeckte, und William H. Bossert dafür den Begriff der Releaser- und Primerpheromone ein, um die verhaltenssteuernde Wirkung von zum Beispiel Sexuallockstoffen von den Pheromonen, die in das Hormonsystem des Empfängers eingreifen, zu unterscheiden. === Moderne Forschungsrichtungen === Durch die im Laufe der Jahre enorm verfeinerten Extraktions- und Analyseverfahren identifizierten Chemiker und Biologen zahlreiche weitere Pheromone. Zum Nachweis der zweiten Komponente des Pheromoncocktails von Bombyx mori, des Bombykals [(10Z,12E)-Hexadecadienal], genügte im Jahr 1978 bereits ein Extrakt von 460 Drüsen, aus denen 15 Nanogramm des Aldehyds isoliert wurden. Neben der Erforschung der Funktion und des Empfangs von Pheromonen und der chemischen Identifizierung untersuchten Wissenschaftler eingehend die Biochemie der Pheromonproduktion. Im Jahr 1984 entdeckten Ashok Raina und Jerome Klun, dass die Produktion des weiblichen Sexuallockstoffs des Eulenfalters Helicoverpa zea durch hormonelle Substanzen, die sogenannten Pheromon-Biosynthese-aktivierenden Neuropeptide (PBAN) im Gehirn weiblicher Falter gesteuert wird. Andere moderne Forschungsschwerpunkte sind die Untersuchung des Empfangs von Insektenpheromonen mittels des Geruchs- und Geschmacksinns, genetische Faktoren und evolutionsbiologische Fragestellungen, wie die Koevolution der weiblichen Sexualpheromonproduktion und der Empfang beim Männchen.Die Bekämpfung von Krankheitsüberträgern wie der Malariamücken bildet einen weiteren Schwerpunkt der Forschung. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation betrug die Zahl der Malariainfektionen im Jahr 2012 etwa 207 Millionen mit 627.000 Todesfällen. Culexmücken übertragen den Erreger der Filariose oder das West-Nil-Virus. Eine Möglichkeit zur Eindämmung dieser Populationen bieten mit Eiablagepheromonen ausgestattete Fallen. Um diese zu optimieren, werden die duftstoffbindenden Proteine in den Antennen der Weibchen, die eine entscheidende Rolle bei der Erkennung der Eiablageplätze spielen, intensiv untersucht. == Herstellung == Als Pheromone bei Insekten dienen oft die Folgeprodukte von Fettsäuren, wie gesättigte und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, Fettalkohole, Ester und Aldehyde, aber auch Isoprenoide und andere Verbindungen. Pheromone sind oft nicht reine Stoffe, sondern sogenannte Pheromoncocktails, die aus verschiedenen Komponenten bestehen. Oft löst nur ein spezielles Enantiomer einer Verbindung eine Verhaltensreaktion aus, während das andere Enantiomer keine oder eine andere Reaktionen auslöst. Manchmal erfolgt die Biosynthese des Pheromons nur, wenn die biochemischen Vorstufen in Form bestimmter Alkaloide aus Nahrungspflanzen aufgenommen wurden. Der Sexuallockstoff signalisiert in diesem Fall gleichzeitig das Vorkommen von Nahrungsquellen.Durch die potentielle kommerzielle Anwendung im Pflanzenschutz nahm die Intensität der Untersuchung von Pheromonen nach Butenandts Entdeckung stark zu und führte zur Entwicklung hochempfindlicher Analysemethoden und der breiten Anwendung chemo-, regio- und stereoselektiver Synthesen in der organischen Chemie. === Biosynthese === Insektenpheromone werden von einer Vielzahl von exokrinen Drüsen, die vorwiegend aus modifizierten Epidermalzellen an verschiedenen Stellen des Insektenkörpers bestehen, hergestellt. So geben die Hinterleibsdrüsen des Seidenspinnerweibchens neben dem Sexuallockstoff Bombykol Spuren des (E,E)-Isomers des Alkohols als auch den analogen (E,Z)-Aldehyd Bombykal ab. Geeignete Oberflächengeometrien in der Umgebung der Drüsen, etwa geriefte Porenplatten, können die effektive Verdampfung eines ausgetretenen Pheromons begünstigen. Honigbienen besitzen 15 Drüsen, mit denen sie eine Reihe verschiedener Substanzen herstellen und abgeben und damit ein komplexes, auf Pheromonen basierendes Kommunikationssystem unterhalten. Männchen verschiedener Schmetterlingsarten besitzen im Hinterleib sogenannte androconiale Organe, mit denen sie Pheromone verbreiten können, andere Falter geben diese über Duftschuppen oder Duftborsten an ihren Vorderflügeln oder dem Hinterleibsende ab. Die Duftborsten und Duftschuppen dienen der Oberflächenvergrößerung und erleichtern das Abdampfen der Insektenpheromone.Anstatt eine völlig einmalige Reihe von Enzymen für die Pheromon-Biosynthese zu entwickeln, modifizieren Insekten oft normale Stoffwechselprodukte zu Pheromonen mit hoher Regio-, Chemo-, (E/Z)-, Diastereo- oder Enantioselektivität und in genau definierten Mengenverhältnissen. Die Biosynthese der Insektenpheromone geschieht entweder de novo nach dem Schema der Fettsäuresynthese durch sukzessiven Anbau von Malonyl-CoA an ein initiales Acetyl oder durch Aufnahme von Precursorn aus der Nahrung. Viele Schmetterlinge nutzen die biosynthetische Möglichkeit, eine bestimmte Mischung von Derivaten einfacher Fettsäuren herzustellen. Die Entwicklung des Enzyms Δ-11-Desaturase in Kombination mit kettenverkürzenden Reaktionen erlaubt es ihnen, eine Vielzahl von ungesättigten Acetaten, Aldehyden und Alkoholen in verschiedenen Kombinationen zu produzieren.Durch spezielle Enzymsysteme erfolgt gegebenenfalls eine Dehydrierung der Kohlenstoffkette und die Reduktion der Säurefunktion zum Alkohol. Weitere Schritte können die Oxidation zum Aldehyd oder die Acetylierung zum Essigsäureester sein. Bei Bombyx mori wird die Biosynthese tagesperiodisch von Pheromonen durch ein Neurohormon, das sogenannte Pheromon-Biosynthese-aktivierende Neuropeptid (PBAN), aktiviert.Die hormonellen Mechanismen der Pheromonproduktion unterscheiden sich von Art zu Art erheblich. Juvenilhormone etwa kontrollieren die Pheromonproduktion des Eulenfalters Mythimna unipuncta. Diese werden in hinter dem Gehirn liegenden meist paarig vorkommenden Corpora allata gebildet und in die Hämolymphe abgegeben. Dort binden sie an bestimmte Transportproteine. Werden die Corpora allata entfernt, produzieren die Weibchen keine Pheromone. Juvenilhormone greifen aber eher indirekt in die circadiane Freisetzung von PBAN ein.Männliche Schmetterlinge aus der Familie der Danainae verwunden zum Teil mit winzigen Klauen an ihren Füßen Raupen, die Alkaloide aus Seidenpflanzen aufgenommen haben, um die austretende Flüssigkeit aufzunehmen, ein als Kleptopharmakophagie beschriebenes Verhalten. Die Falter nutzen die aufgenommenen Alkaloide für die Verteidigung gegen Fressfeinde und um Sexualpheromone herzustellen. === Pheromone aus Pflanzeninhaltsstoffen === Männliche Feuerkäfer der Art Neopyrochroa flabellata und auch verschiedene andere Käferarten nutzen das Terpenoid Cantharidin als Sexualpheromon beziehungsweise Aphrodisiakapheromon. Dieses Isoprenoid wird von Neopyrochroa flabellata mit der Nahrung aufgenommen und beim Paarungsakt auf die Weibchen und anschließend auf die Brut übertragen. Die Weibchen prüfen den Gehalt einer Drüse am Kopf des Männchens vor der Paarung. Das Cantharidin wirkt als Fraßgift und macht die Eier für Räuber ungenießbar; Weibchen bevorzugen daher Männchen mit einem hohen Cantharidingehalt.Falter wie Utetheisa ornatrix und Tirumala limniace nehmen im Larvenstadium Pyrrolizidinalkaloide aus Nahrungspflanzen wie Crotalaria, Sonnenwenden oder Leberbalsam-Schafgarbe auf, die das erwachsene Männchen durch Oxidation in Pheromone wie Hydroxydanaidal umwandelt. Wie beim Feuerkäfer werden die Alkaloide, die starke Fraßgifte sind und gegen Fressfeinde wie Spinnen, Ameisen oder Netzflügler wirken, auf Weibchen und Eier übertragen. Erwachsene Monarchfalter nehmen sekundäre Pflanzenstoffe auf und erhöhen damit ihre pheromonale Attraktivität. Manchmal erfolgt die Biosynthese des Pheromons nur, wenn die biochemischen Vorstufen in Form bestimmter Alkaloide aus Nahrungspflanzen aufgenommen wurden. Der Sexuallockstoff signalisiert in diesem Fall gleichzeitig das Vorkommen von Nahrungsquellen.Die Aufnahme von Pheromonvorstufen aus Pflanzen ist auch für bestimmte Arten von Prachtbienen und Bohrfliegen bekannt. Männliche Bienen sammeln eine Mischung von Terpenoiden aus Orchideen und nutzen sie als Aggregationspheromon zur Bildung von Balzplätzen. Manchmal steuern die Pflanzeninhaltsstoffe die Entwicklung der Pheromondrüsen von männlichen Schmetterlingen. === Laborsynthese === Karl Ziegler und Günther Otto Schenck gelang bereits 1941 die Synthese von Cantharidin. Die Darstellung der Pheromone erfordert die Anwendung hoch chemo-, regio- und stereoselektiver Synthesen. In den siebziger Jahren gelang es mittels asymmetrischer Synthese unter Verwendung der SAMP-Methode, verschiedene Pheromone enantiomerenrein herzustellen. Des Weiteren setzten Chemiker asymmetrische Epoxidierungen, asymmetrische Dihydroxylierung, Biokatalyse, Olefinmetathese und viele weitere stereoselektiv verlaufende Reaktionen zur Synthese von Pheromonen ein. Die Wittig-Reaktion eignet sich zur Synthese von Pheromonen mit (Z)-olefinischen Doppelbindungen.Auch gentechnisch veränderte Tabakpflanzen können Sexualpheromone produzieren. Die daraus durch Extraktion gewonnenen Fettalkohole werden anschließend acetyliert, um die jeweiligen Zielsexualpheromone zu gewinnen. Dieser halbsynthetische Weg der Herstellung produziert Insektenpheromone in relativ großer Menge und mit hoher Reinheit. == Eigenschaften == Die chemische Kommunikation zwischen Lebewesen mittels Pheromonen erfolgt nach den gleichen Prinzipien wie die technische Datenübertragung. Ein Sender, zum Beispiel die Drüse eines weiblichen Insekts, gibt das Signal in Form einer chemischen Substanz ab. Sowohl die chemische Struktur der Moleküle als auch ihr Mengenverhältnis bestimmen den Informationsgehalt und dienen als gemeinsamer Zeichenvorrat der Art. Die physikalischen Eigenschaften der Stoffe wie der Dampfdruck determinieren die Funktion ihrer Moleküle als Kurz- oder Fernwegsinformationsüberträger.Das Insektenpheromon wird durch direkten Kontakt oder über ein Medium wie Wasser oder Luft übertragen. Vom Empfänger, zum Beispiel den Pheromonrezeptoren in der Antenne eines Insektenmännchens, wird der Stoff empfangen und löst eine Verhaltensreaktion aus. Der Begriff der Antenne wurde zunächst für die Fühler der Insekten und danach in der Technik verwendet. Insektenpheromone wirken hochgradig artspezifisch, das heißt, dass sie die gewünschte Verhaltensreaktion nur bei Artgenossen hervorrufen, jedoch nicht bei Individuen anderer Arten. Obwohl zum Beispiel die chemischen Verbindungen, die als Sexualpheromone bei Schmetterlingen wirken, bei verschiedenen Arten gleich sein können, ist die Zusammensetzung des Pheromoncocktails bei allen Arten verschieden. Daneben enthalten die Pheromoncocktails oft Substanzen, die als Verhaltensinhibitoren für andere Arten wirken und etwa die Anflugrate von Männchen fremder Arten auf ein lockendes Weibchen erheblich reduzieren. === Physikalisch-chemische Eigenschaften === Die Pheromone werden meist als Flüssigkeit hergestellt und entweder durch direkten Kontakt übertragen oder als Flüssigkeit oder Dampf in die Umgebung entlassen. Sie können sowohl schwer- als auch leichtflüchtig sein. Die Diffusionsfähigkeit beeinflusst die Funktion des Pheromons maßgeblich. Alarmpheromone sind oft leichtflüchtig, um sich schnell durch Diffusion zu verbreiten. Es handelt sich daher oft um kurzkettige Stoffe mit relativ hohem Dampfdruck und geringer Komplexität. Eine hohe Anforderung an die artspezifische Wirkung der Codierung wie bei Sexualpheromonen besteht nicht. Sexuallockstoffe weisen eine höhere Komplexität als die meisten Alarmpheromone auf, jedoch eine niedrigere molare Masse als Markierungspheromone, die dauerhaft ein Gebiet anzeigen.Bei fliegenden Insekten – wie Schmetterlingen – darf das Pheromon als Molekül nicht zu groß sein, da sonst Dampfdruck und Flüchtigkeit zu gering sind. So handelt es sich bei über 200 identifizierten Sexuallockstoffen von Schmetterlingsarten um mono- und bis-olefinische Fettaldehyde, Fettalkohole und deren Acetate mit Ketten von 10 bis 18 Kohlenstoffatomen.Je nach Funktion gibt es verschiedene Emissions- und Empfangsszenarien. Ameisen emittieren etwa Alarmpheromone stoßweise oder kontinuierlich in der meist windstillen Umgebung des Ameisenbaus. Spurenpheromone werden von einer Ameise als bewegliche Quelle ausgesandt. Die Sexualpheromone des Seidenspinners werden in diskreten Duftfäden in einem Luftstrom ausgestoßen. Männliche Monarchfalter emittieren keine flüchtigen Pheromone, sondern pheromonbeladene Nanoteilchen, Pheromon-Transfer-Partikel genannt, mit deren Hilfe sie Arrestants oder Aphrodisiakapheromone auf die Weibchen übertragen. Die Pheromon-Transfer-Partikel positionieren die Männchen auf ihren Pinselhaaren und verstreuen sie während des Balzflugs. Die Nanoteilchen bleiben auf den mit Pheromonrezeptoren ausgestatteten Fühlern der Weibchen haften, wo sie die Pheromone langsam abgeben und so zu einem lange anhaltenden Reiz für das Weibchen führen.Weibchen der arktischen Bärenspinnerspezies Pyrrharctia isabella emittieren ein Aerosol, das ausschließlich aus Sexualpheromontröpfchen besteht. Die dabei freigesetzte Pheromonmenge ist wesentlich größer als bei anderen bekannten weiblichen Faltern. Die scheinbare Verschwendung des Sexualpheromons erklärt sich mit der aufgrund des kurzen arktischen Frühlings knappen Zeitspanne, die ein erwachsenes Tier hat, um einen Fortpflanzungspartner zu finden.Die Empfänger nehmen Pheromone meist in einem Umfeld wahr, das durch die Präsenz vieler anderer Chemikalien geprägt ist. Um eine spezifische Wahrnehmung zu gewährleisten, muss die Pheromonchemikalie entweder so komplex sein, dass sie in der Natur nicht mehrfach vorkommt, oder das richtige Verhältnis mehrerer Einzelkomponenten muss den Reiz auslösen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass nur in Ausnahmefällen eine einzige Substanz die Botschaft vermittelt. Oft muss ein Gemisch von Substanzen in sehr präzisen Mengenanteilen vorliegen, die neben der chemischen Struktur der einzelnen Pheromone den Informationsinhalt des Pheromoncocktails bestimmen. Die chemische Struktur von Pheromonen steht in direktem Zusammenhang mit ihrer Signalfunktion und Signalumgebung. An die Luft abgegebene Pheromone weisen oft eine Kohlenstoffkette von 5 bis 20 Atomen und eine molare Masse von etwa 80 bis 300 g·mol−1 auf. Bei einer Kohlenstoffkette von weniger als fünf Kohlenstoffatomen ist die Anzahl der möglichen Isomere gering und eine gezielte artspezifische Codierung schwierig. Bei längeren Kohlenstoffketten steigt die Zahl der möglichen Isomere schnell an. Periplanon B, das Sexualpheromon der Amerikanischen Großschabe, ist ein Beispiel einer komplexen Einzelsubstanz, auf die Männchen bereits in extrem geringen Mengen von 10−5 Nanogramm ansprechen. === Biologische Eigenschaften === Der von einem Insektenweibchen ausgestoßene Sexualpheromoncocktail breitet sich windabwärts aus. Beim Empfängermännchen treffen die Moleküle auf die Antennen, wo der Empfang der Pheromone mittels olfaktorischer Zellen auf den Riechhaaren oder Sensillien erfolgt. Die Antennen adsorbieren etwa 30 % der in einem Luftstrom enthaltenen Pheromonmoleküle. Die übrigen Moleküle treffen auf die äußere Körperdecke und werden dort enzymatisch abgebaut. Die Pheromonmoleküle gelangen zunächst auf die Cuticula der Riechhaare und diffundieren über Poren in einen Porenkessel und von dort aus in Tubuli. Von dort diffundieren die Moleküle weiter zur Dendritenmembran. Diese Membran besitzt Rezeptoren, die beim Empfang eines Pheromons über die Öffnung von Ionenkanälen eine Veränderung des elektrischen Widerstands hervorrufen und ein elektrisches Potential erzeugen, das einen Sinnesreiz zur Folge hat. Schon ein einzelnes Pheromonmolekül kann einen Nervenimpuls auslösen. Die Erkennung eines speziellen Pheromoncocktails erfordert jedoch eine gewisse Erregungshöhe verschiedener Zelltypen unterschiedlicher Spezifität. Es wird angenommen, dass die von den verschiedenen Rezeptoren im Zentralnervensystem eingehenden charakteristischen Erregungen dort zu einem Erregungsmuster moduliert werden. Stimmt dieses Erregungsmuster, das vom Mengenverhältnis der empfangenen Pheromonmoleküle abhängt, mit der Codierung eines angeborenen Verhaltensmusters überein, führt dies zur Auslösung einer entsprechenden Verhaltensantwort, etwa dem Gegenwindanflug auf eine Pheromonquelle. == Pheromonarten == Nach ihrer Wirkung lassen sich zwei Klassen von Pheromonen, die Primer- und die Releaserpheromone, unterscheiden. Unter bestimmten Bedingungen wirken gewisse Pheromone sowohl als Releaser- als auch als Primerpheromone. === Releaserpheromone === Releaserpheromone haben eine kurze, unmittelbar verhaltenssteuernde Wirkung. Das erste entdeckte Pheromon, Bombykol, ist ein Beispiel dafür. Zu den Releaserpheromonen gehören typischerweise neben den bekannten Sexuallockstoffen unter anderem Aggregationspheromone, Dispersionspheromone, Alarmpheromone, Spurpheromone und Markierungspheromone. ==== Aggregationspheromone ==== Aggregationspheromone werden von beiden Geschlechtern produziert und dienen der geschlechtsunspezifischen Anziehung von Individuen derselben Art. Diese sind zum Beispiel beim Borkenkäfer und anderen Käferarten, Zweiflüglern, Schnabelkerfen und Heuschrecken bekannt. Insekten nutzen Aggregationspheromone zur Verteidigung gegen Fressfeinde, bei der Partnerwahl und zur Überwindung der Resistenz von Wirtspflanzen bei einem Massenangriff. Eine Gruppe von Individuen an einem Standort wird unabhängig vom Geschlecht als Aggregation bezeichnet. Die Aggregationspheromone spielen neben den Sexuallockstoffen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Pheromonfallen zur selektiven Schädlingsbekämpfung.Untersuchungen mittels Elektroantennogrammtechnik zeigten, dass Aggregationspheromone relativ hohe Rezeptorpotentiale geschlechterunspezifisch auslösten, wogegen die Sexualpheromone hohe Rezeptorpotentiale nur bei einem Geschlecht bewirken. Bei den Aggregationspheromonen handelt es sich daher möglicherweise um evolutionäre Vorläufer der Sexualpheromone. ==== Sexualpheromone ==== Sexualpheromone signalisieren die Bereitschaft des weiblichen Tieres zur Paarung. Männliche Tiere emittieren ebenfalls Pheromone; sie enthalten Informationen über das Geschlecht und den Genotyp. Viele Insekten setzen Sexualpheromone frei; manche Schmetterlingsarten nehmen dabei das Pheromon noch in einer Entfernung von 10 Kilometern wahr. Die Sinneszellenantwort beim männlichen Seidenspinner beginnt bereits bei einer Konzentration von etwa 1000 Molekülen pro Kubikzentimeter Luft. Das Duftsignal eines Weibchens löst, sobald ein gewisser Konzentrationsgrenzwert überschritten wird, beim Seidenspinnermännchen zunächst einen orientierten Gegenwindflug aus. Bei anderen Arten wie dem Apfelwickler dagegen prüft das Männchen die stereochemische Reinheit des Lockstoffmoleküls. Sobald eine geringe Beimengung eines anderen Stereoisomers im Pheromoncocktail vorhanden ist, bleibt der Anflug zur Quelle aus. Das andere Stereoisomer wirkt in diesem Fall als Repellent. Manche Arten geben neben den Hauptkomponenten noch sogenannte Nahbereichskomponenten in geringer Menge ab, welche die Verhaltensreaktion beeinflussen.Fouragierende Honigbienen verbreiten den Duft von (Z)-11-Eicosen-1-ol. Bienenwolfweibchen lassen sich von diesem Duft leiten, um Honigbienen zu erbeuten. Die Bienenwolfmännchen nutzen diese Komponente und damit die existierende sensorische Präferenz der Weibchen für Bienenduft als Teil ihres Sexualpheromoncocktails, um diese anzulocken. ==== Aphrodisiakapheromone ==== Aphrodisiaka-Pheromone stimulieren die Paarungsbereitschaft. Das Spiroacetal Olean etwa ist das Aphrodisiakapheromon der Olivenfruchtfliege (Bactrocera oleae). Nur das (R)-Enantiomer wirkt auf die Männchen, das (S)-Enantiomer ist bei ihnen unwirksam. Das Weibchen produziert das Racemat, spricht auf (R)- und (S)-Olean an und stimuliert sich damit auch selbst.Genau umgekehrt wirken sogenannte Anti-Aphrodisiaka. Nymphen der Bettwanze schützen sich mit einem solchen Pheromon, das ein bestimmtes Mischungsverhältnis der Aldehyde (E)-2-Hexenal, (E)-2-Octenal und 4-Oxo-(E)-2-Hexenal aufweist, gegen Begattungsversuche von Bettwanzenmännchen. Dieses bohrt direkt ein Loch in den Hinterleib geschlechtsreifer weiblicher Wanzen und injiziert dort seine Spermien (traumatische Insemination). Für begattete Nymphen kann eine solche Verletzung jedoch tödlich sein. ==== Alarmpheromone ==== Einige Insektenarten geben bei einem Angriff Alarmpheromone ab. Diese lösen entweder die Flucht oder gesteigerte Aggression aus. Bei Bienen etwa sind zwei Alarmpheromon-Gemische bekannt. Eines wird durch die Koschewnikow-Drüse in der Nähe des Stachels freigesetzt und enthält mehr als 40 verschiedene Verbindungen, wie das bereits von Butler in der Wirkung beschriebene Isoamylacetat, daneben Butylacetat, 1-Hexanol, 1-Butanol, 1-Octanol, Hexylacetat, Octylacetat und 2-Nonanol. Diese Komponenten haben eine niedrige molare Masse, sind flüchtig und sind die unspezifischsten aller Pheromone. Alarmpheromone werden freigesetzt, wenn eine Biene ein anderes Tier sticht, um andere Bienen anzuziehen und zum Angriff zu verleiten. Rauch unterdrückt die Wirkung von Alarmpheromonen, was von Imkern ausgenutzt wird.Das andere Alarmpheromon der Honigbiene enthält hauptsächlich 2-Heptanon, eine ebenfalls flüchtige Substanz, die von den Kieferdrüsen freigesetzt wird. Diese Komponente hat einen abstoßenden Effekt auf räuberische Insekten. Der Alarmpheromoncocktail der Bettwanze enthält ungesättigte Hexen- und Octenaldehyde, die in von Wanzen befallenen Zimmern als charakteristischer, süßlicher Geruch wahrgenommen werden. ==== Markierungs- und Dispersionspheromone ==== Gewisse Insekten wie die Kirschfruchtfliege markieren ihre Eiablageplätze in einer Weise, dass andere Weibchen derselben Art den Ort meiden und ihre Eier an anderen Plätzen ablegen, um unter dem Nachwuchs Konkurrenz um Nahrung zu vermeiden. Auch territoriale soziale Insekten, wie zum Beispiel Kolonien von Ameisen, markieren von ihnen beanspruchte Territorien mit Pheromonen.Zu den Markierungspheromonen gehören die Dispersionspheromone, mit denen zum Beispiel Borkenkäfer eine Überbesiedlung eines Baumes verhindern. Die Weibchen und Nymphen der Deutschen Schabe übertragen Dispersionspheromone im direkten Kontakt über ihren Speichel. Diese dienen im Nymphenstadium der Abschreckung erwachsener Schaben und damit zum Schutz vor Kannibalismus. Bei erwachsenen Tieren verhindern sie die Übersiedlung eines Lebensraums. ==== Spurpheromone ==== Spurpheromone sind vor allem bei in Kolonien lebenden Insekten bekannt, die ihre Pfade mit schwerflüchtigen Substanzen wie höhermolekularen Kohlenwasserstoffen markieren. Vor allem Ameisen markieren oft auf diese Weise den Weg von einer Nahrungsquelle zum Nest. Solange die Nahrungsquelle besteht, wird die Spur erneuert. Beim Versiegen der Nahrungsquelle übersprühen die Ameisen das Spurpheromon mit einem abstoßenden Pheromon. Der US-amerikanische Naturforscher Charles William Beebe berichtete 1921 über das Phänomen der Ameisenmühle, das Spurpheromone bei Wanderameisen auslösen können: Werden die Tiere von der Hauptspur der Kolonie getrennt, folgen die blinden Ameisen den Pheromonspuren vor ihnen laufender Ameisen. Diese laufen in großen Kreisen bis zu vollkommener Erschöpfung oder dem Tod, ohne zur Kolonie zurückzufinden. ==== Rekrutierungspheromone ==== Rekrutierungspheromone sind als Element der chemischen Kommunikation weit verbreitet bei sozialen Insekten und wurden für Bienen, Termiten und Ameisen nachgewiesen. Diese Pheromone werden von Insekten verwendet, um andere Mitglieder der Kolonie zur Nahrungssuche bei einer Nahrungsquelle anzuregen. Hummeln führen einen dem Bienentanz ähnlichen Tanz auf, der primär zur Verteilung von Rekrutierungspheromonen dient. === Primerpheromone === In der Ordnung der Hautflügler findet sich die größte Gruppe eusozialer Insekten, darunter viele Bienen, insbesondere der Unterfamilie Apinae, Ameisen sowie einige Arten der Faltenwespen, insbesondere der Unterfamilie der Echten Wespen. Die Merkmale sind oft das Vorhandensein einer reproduktiven Königin sowie Kasten mit spezialisierten Arbeiterinnen und Soldaten. Termiten bilden die zweite große Gruppe eusozial lebender Insekten. Die Kolonien sind in verschiedene Kasten unterteilt, mit einer Königin und einem König als reproduktionsfähige Individuen, Arbeitern und Soldaten, die die Kolonie verteidigen. Primerpheromone haben einen großen Einfluss auf die Organisation der von Hautflüglern gebildeten Hymenopterenstaaten und von Termitenkolonien. Diese Pheromone beeinflussen das Hormonsystem des Empfängers; oft greifen sie über eine Signalkaskade in den Stoffwechsel ein oder aktivieren Proteine, die an die DNA binden können. Im Gegensatz zu den Releaserpheromonen sind die Primerpheromone weniger gut untersucht. So war lange Zeit nur ein Primerpheromon, das 9-ODA, bekannt. ==== Primerpheromone der Bienen ==== Ein bekanntes Beispiel für Primerpheromone sind die Bienenköniginnenpheromone. Diese Pheromone steuern das soziale Verhalten, die Instandhaltung der Waben, das Ausschwärmen und die Ausbildung der Eierstöcke der Arbeitsbienen. Bei den Komponenten handelt es sich um Carbonsäuren und aromatische Verbindungen. (E)-9-Oxo-dec-2-ensäure (9-ODA) unterdrückt beispielsweise die weitere Zucht von Königinnen und hemmt die Entwicklung der Eierstöcke von Arbeitsbienen. Es handelt sich auch um ein starkes Sexualpheromon für Drohnen auf dem Hochzeitsflug.Bruterkennungspheromone werden von Larven und Puppen emittiert und halten Arbeiterbienen davon ab, den Stock zu verlassen, solange noch Nachwuchs zu pflegen ist. Weiterhin unterdrücken sie die Ausbildung der Eierstöcke bei den Arbeitsbienen. Die Pheromone bestehen aus einer Mischung von zehn Fettsäureestern, unter anderem Glyceryl-1,2-dioleat-3-palmitat. Arbeiterpuppen enthalten 2 bis 5, Drohnenpuppen etwa 10 und Königinnenpuppen 30 Mikrogramm des Pheromons. Ältere, fouragierende Arbeitsbienen setzen Ölsäureethylester frei, was die Entwicklung der Ammenbienen hemmt und diese länger zur Brutpflege veranlasst. Der Ölsäureester wirkt als Primerpheromon und stabilisiert das Verhältnis von brutpflegenden und nahrungsbeschaffenden Bienen. Die Sammlerinnen produzieren es aus mit Spuren von Ethanol versetztem Nektar, den sie an die Ammenbienen verfüttern. Deren Entwicklung wird dadurch solange verzögert, bis die Zahl der älteren Sammlerinnen abnimmt und damit die Exposition der Ammenbienen mit Ölsäureethylester. ==== Kastendeterminierende Pheromone ==== Die Gelbfüßige Bodentermite nutzt Terpene wie γ-Cadinen und γ-Cadinenal als kastenstimulierende oder -hemmende Primerpheromone. Diese unterstützen das Juvenilhormon bei der Bestimmung über die Position totipotenter Arbeiter im Kastensystem. Bei Ameisen besitzen die weiblichen Larven einige Zeit Bipotentialität und damit die Möglichkeit, sich entweder als Königinnen oder Arbeiterinnen zu entwickeln. Zu einem gewissen Zeitpunkt der Larvenentwicklung bestimmt die weitere Ernährung das Schicksal der Larve. Wird der Juvenilhormon-Titer über einen bestimmten Schwellenwert gehoben, entwickeln sich Gynomorphe, ansonsten Arbeiterinnen. Die Steuerung der Larvenernährung wird über ein Primerpheromon der Ameisenkönigin gesteuert. == Anwendung == Im 19. Jahrhundert entkamen dem Entomologen Étienne Léopold Trouvelot in Massachusetts Schwammspinner, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts über die gesamten USA ausbreiteten und heute zu den am meisten gefürchteten Schädlingen zählen. Bereits 1898 unternahmen Edward Forbush und Charles Fernald Versuche, die Population des Schwammspinners durch Anlockung der Männchen in Fallen, die mit lockenden Weibchen besetzt waren, einzudämmen. Das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten führte diese Versuche in den 1930er Jahren fort, wobei zur Attraktion männlicher Falter Extrakte weiblicher Abdominalspitzen eingesetzt wurden. Die Anwendung von Insektenpheromonen im Pflanzenschutz ist vor allem seit den ersten Synthesen intensiv untersucht worden, mit dem Ziel, umweltschonende Methoden zur Kontrolle der Populationsdynamik zu entwickeln. Im Pflanzenschutz ist der Einsatz von Pheromonen in Lockstofffallen zur Bekämpfung von Insekten gängige Praxis. Dabei können die Insekten angelockt werden, um sie mit einem Insektizid oder physikalisch zu töten, um sie einzufangen oder zum Monitoring. Borkenkäfer werden mit Aggregationspheromonen angelockt, um sie in Fallen zu fangen. Der Lockstoff wird normalerweise beim Einbohren in das Fichtenholz freigesetzt und signalisiert, dass der Baum besiedelt werden kann. Die Borkenkäferfalle ist ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Borkenkäfer. Die Verwendung von Lockstofffallen birgt jedoch das Problem, dass das Pheromon gegebenenfalls als Kairomon wirkt und somit räuberische Insekten anlockt. Durch die Reduktion der Population natürlicher Fressfeinde des Borkenkäfers wirkt die Pheromonfalle in diesem Falle kontraproduktiv. Das Monitoring mittels Lockstofffallen, etwa Fensterfallen, dient der quantitativen Erfassung von Schädlingen, um sie mit Insektiziden in Abhängigkeit von der festgestellten Aktivität gezielter zu bekämpfen. Daneben werden sie bei der Identifizierung neuer Arten eingesetzt.Fangbäume funktionieren nach demselben Prinzip wie Lockstofffallen. Die Borkenkäfer des Erstbefalls locken durch Aggregationspheromone weitere Artgenossen an. Als Fangbäume eignet sich Sturmholz, das zur Verstärkung der Lockwirkung mit Pheromondispensern ausgestattet werden kann. Die so präparierten Bäume lenken anfliegende Borkenkäfer vom Bestand ab und binden diese an kontrollierbare Stämme. Die Verwendung von Fangbäumen erfordert eine regelmäßige Kontrolle der Bäume. Beim Auftreten von Larvengängen werden die Bäume entrindet, wobei Larven und Puppen vertrocknen. Gegebenenfalls kann der befallene Baum mit Insektiziden behandelt werden oder er wird verbrannt, um den Ausflug der nächsten Generation zu unterbinden.Eiablageverhindernde Markierungspheromone sind in der Insektenwelt weit verbreitet. In verschiedenen Experimenten konnte die Möglichkeit einer Kontrolle der Populationsdynamik durch diese Pheromone aufgezeigt werden. Die Anwendung des eiablageverhindernden Markierungspheromons der Kirschfruchtfliegen, die sich zum Beispiel mit Gelbtafeln nicht bekämpfen lassen, reduzierte den Befall der Kirschen um 90 %.Eine weitere Anwendung ist die Verwirrmethode oder Paarungsstörung. Dabei wird eine hohe Stoffkonzentration von künstlich hergestellten Pheromonen ausgebracht. Dadurch ist es den männlichen Tieren nicht mehr möglich, den Pheromonen der Weibchen zu folgen, wodurch die Vermehrung des Schädlings behindert wird. Die Verwirrmethode wirkt artspezifisch. Sie ist bei genügender Ausbringung von Dispensern meist erfolgreich in Bezug auf eine Art, teilweise besetzen jedoch verwandte Arten die freiwerdende ökologische Nische. Bienen nutzen das Nasanov-Pheromon, um Arbeitsbienen zurück zum Stock zu führen. Das Pheromon enthält Terpene wie Geraniol und Citral. Imker nutzen ein künstlich hergestelltes Produkt, um Bienen zu einem ungenutzten Bienenstock zu locken. Das Verfahren eignet sich zum Fang afrikanisierter Honigbienen in Fangboxen. == Toxikologie == Toxikologische Untersuchungen wurden hauptsächlich im Zusammenhang mit der Zulassung von Pheromonfallen und -dispensern durchgeführt. Eine Gesundheitsgefährdung ist aufgrund der großen chemischen Vielfalt der Pheromone nicht allgemein zu beurteilen, wird jedoch meist ausgeschlossen, weil nur geringe Mengen emittiert werden. In höheren Dosen führen jedoch oral verabreichte Pheromone wie Cantharidin in seltenen Fällen zum Tod. == Nachweis == Die kommerzielle Anwendung im Pflanzenschutz intensivierte die Untersuchung von Pheromonen und führte zur Entwicklung hochempfindlicher Analysemethoden. Die Identifizierung eines Pheromons verläuft über mehrere Stufen. Zunächst wird ein Extrakt des Pheromons gewonnen. Dies erfolgt nach der schon von Butenandt angewandten Methode der Extraktion von Drüsen oder ganzen Tieren mit einem leicht verdampfbaren Lösungsmittel, idealerweise zum Zeitpunkt hoher Pheromonproduktion. Alternativ wird das Pheromon an Aktivkohle aus der Gasphase adsorbiert und mit wenig Lösungsmittel ein Extrakt gewonnen. Für sehr geringe Spuren eignet sich die Festphasenmikroextraktion. Zur Identifizierung werden die Extrakte beziehungsweise die Festphasenmikroextraktionsproben mittels Gaschromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung untersucht.Zur Untersuchung der biologischen Aktivität von Insektenpheromonen eignet sich die Elektroantennogrammtechnik. Eine in den Antennenhauptstamm und einen Antennenast eingebrachte Elektrode misst dabei die Änderung der elektrische Spannung als Funktion der Konzentration von auf der Antenne auftreffenden Pheromonmolekülen, die durch einen Luftstrom in definierter Weise zur Antenne transportiert werden. Durch Variation des Pheromonmoleküls lässt sich der Einfluss bestimmter funktioneller Gruppen ermitteln, die mit den chiralen Elementen der Rezeptoren wechselwirken.Die Kopplung von Gaschromatographie und Elektroantennogramm erlaubt die Überprüfung der biologischen Aktivität der in einem Extrakt vorliegenden Verbindungen. Die Form des Elektroantennogramms ist abhängig von der Duftkomponente im Luftstrom, die Amplitude steigt mit der Konzentration und der Strömungsgeschwindigkeit der Luft an. == Literatur == Edward O. Wilson, W. H. Bossert (1963): Chemical communication among animals. In: Recent Progress in Hormone Research. Bd. 19, S. 673–716, PMID 14284035. Hans Jürgen Bestmann, Otto Vostrowsky (1993): Chemische Informationssysteme der Natur: Insektenpheromone. In: Chemie in unserer Zeit. Bd. 27, Nr. 3, S. 127–133, doi:10.1002/ciuz.19930270304. Stefan Schulz: The Chemistry of Pheromones and Other Semiochemicals II. Springer, 2005, ISBN 3-540-21308-2. R. T. Carde, A. K. Minks: Insect Pheromone Research: New Directions. Springer, 1997, ISBN 978-0-412-99611-5. == Weblinks == Insektenpheromon-Datenbank. In: pherobase.com. Abgerufen am 15. November 2013. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Insektenpheromone
Pantherfell
= Pantherfell = Das Pantherfell (auch Leopardenfell) war im Alten Ägypten ein rituelles Kleidungsstück. Es ist seit der frühdynastischen Zeit (um 3000 v. Chr.) sicher belegt. Die mythologischen Wurzeln reichen bis in die Zeit davor (Prädynastik) zurück. In diesen Epochen diente noch die Göttin Mafdet als Himmelspanther, deren kosmische Funktionen im Verlauf der altägyptischen Geschichte die Himmelsgöttin Nut übernahm. Die Altägypter benutzten den Ausdruck „Pantherfell“ daher im Zusammenhang mit dem göttlichen Panther. Zu Lebzeiten wies das Pantherfell den König oder seinen von ihm bestimmten Nachfolger als göttlich-legitimierten Herrscher aus. Im Totenkult wird das Pantherfell in den Pyramidentexten als ein besonderes Schutz- und Herrschaftszeichen des verstorbenen Königs in Verbindung seines Himmelsaufstieges nach dem Mundöffnungsritual genannt. Nach erfolgreichem Himmelsaufstieg nimmt ihn der Sonnengott Re in die göttliche Gesellschaft auf. Das Pantherfell ist das Herrschaftssymbol des Königs, mit dem er seine tägliche Fahrt durch die himmlischen Gewässer an der Seite des Sonnengottes unternimmt. Damit gehört das Pantherfell zu den Zeichen, die seine Unvergänglichkeit sichtbar machen. Mit dem Leoparden oder Gepard konnte es bis heute nicht gleichgesetzt werden. == Ursprünge == === Begriffsverwendung und Namensherkunft === In der Ägyptologie sind die Fachbegriffe Panther- oder Leopardenfell gebräuchlich, wobei in der deutschsprachigen Ägyptologie hauptsächlich der Ausdruck Pantherfell Verwendung findet. Einige zusätzliche Hinweise auf einen möglichen Bezug zum ähnlichen Ginsterkatzenfell sind durch die Schriftquellen hinsichtlich des Pantherfells nicht belegt. Die Ägypter zählten den Panther zu der Familie der Großkatzen und den göttlichen Wüstentieren. In dieser Verbindung waren mehrere hieroglyphische Darstellungen möglich, so beispielsweise auch in der Kurzform als „Die Göttliche“ oder als Ideogramm. Im Alten Reich (2707–2216 v. Chr.) ist zudem der Name einer Totengottheit mit „Kenmet“ als „Leopard“ übersetzt, wobei eine Gleichsetzung mit dem Leoparden auch dort nur indirekt abgeleitet wurde und nicht gesichert ist. Im Mittleren Reich wechselte die ursprüngliche Bezeichnung in die neue Form „Ba-Abi“, mit der speziell weibliche Panther gemeint waren. In direktem Zusammenhang steht die erstmals im Mittleren Reich bezeugte Nennung der zugehörigen Gottheit Abi. === Mythologische Verbindungen === Das Pantherfell war ursprünglich eine Tracht, die im Zeitraum der 1. bis 2. Dynastie (3032–2707 v. Chr.) von Personen getragen wurde, die dem König sehr nahe standen; getragen wurde sie zumeist vom Königssohn. Seit der 3. Dynastie (2707–2639 v. Chr.) sind Pantherfellträger mit der Bezeichnung „Sem“ bezeugt, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits das damit verbundene Priesteramt schon ausgebildet war. Möglicherweise liegt hier schon ein Bezug zu dem Gott Sameref als „liebender Sohn des Königs“ vor, der etwa zeitgleich erstmals mythologisch in Erscheinung trat. Hinweise darauf, dass zu dieser Zeit nichtkönigliche Personen die Funktion eines „Sem“ als Pantherfellträger ausübten, liegen nicht vor, so dass es deshalb wahrscheinlich ist, dass der Königssohn die Aufgaben des „Sem“ vollzog. In der 5. Dynastie (2504–2347 v. Chr.) zeigen Abbildungen auf königlichen Tempelreliefs des Alten Reiches insbesondere eine Koppelung altägyptischer Beamtentitel an den Pantherfellträger; beispielsweise wird auf den Sedfestdarstellungen des Sahure in Verbindung mit dem Königssohn als Pantherfellträger das neue Priesteramt des „Sem“ erwähnt. == Darstellungsformen == In prädynastischer Zeit (spätes 4. Jahrtausend v. Chr.) sind verschiedene Typen des Pantherfells dargestellt. Bruce Williams hält es für möglich, dass die abgebildeten Personen auf Vasen der Naqada-IIC-Zeit (3800–3300 v. Chr.) den Träger eines Pantherfells symbolisieren. Er setzt deshalb die zeremonielle Tätigkeit mit einem Funktionsträger sowie mit der des Tjet gleich, die in einer Grabanlage von Hierakonpolis abgebildet sind. Es bleibt jedoch in diesem Zusammenhang unklar, ob es sich um das Fell eines Panthers, Rindes oder einer rinderähnlichen Art handelt.Die zweifelsfrei älteste Abbildung ist auf dem Keulenkopf des Skorpion II. um 3100 v. Chr. belegt. Der Pantherfellträger befindet sich im unmittelbaren Gefolge des Königs. Er trägt wahrscheinlich eine Garbe Ähren und folgt einer Person, die Saatgut aus einem Korb in die Erde streut. Weitere Nachweise sind auf der Narmer-Palette und dem Keulenkopf des Narmer belegt. Auf vielen Reliefdarstellungen ist für das Pantherfell keine Fleckung zu erkennen, obwohl es jedoch in vielen Fällen sicher in gemalten Varianten vorhanden war. Auf den wenigen erhaltenen farblichen Fassungen in ramessidischen Gräbern der Könige (1292–1070 v. Chr.) ist die Untergrundfarbe des Pantherfells stets Gelb. Die Zeichen sind auf die Untergrundfarbe in schwarzer oder weißer Farbe aufgetragen. In den thebanischen Königsgräbern finden sich für das Pantherfell in einigen Fällen ergänzend Darstellungen mit Sternen, was auf die Himmelssymbolik des Pantherfells verweist. Die am häufigsten verwendeten ikonografischen Motive zeigen ein Fellgewand, das den gesamten Oberkörper bedeckt, sowie einen nur teilweise bedeckenden Fellumhang. Der Fellumhang kann auf verschiedene Art am Körper angebracht werden; eine Möglichkeit ist das Durchziehen des Fells unter einem Arm, während die beiden Vorderpranken nur auf einer Schulter befestigt werden. Die andere Schulter bleibt frei. Der Rumpf ist dagegen vollständig vom Fell bedeckt. Andere Varianten zeigen eine Vorderpranke und den Kopf des Panthers auf den Schultern oder das Kreuzen der Vorderpranken auf der Brust, wobei beide Tatzen unter den Armen durchgeführt werden. Der Pantherkopf wird zumeist am Hals vorbei über die Schulter gelegt, wobei dann der Bauch unbedeckt ist. Die damit verbundene Haartracht stellt einen nach vorn eingerollten Seitenzopf dar, öfter in Kombination einer kappenartigen Kurzhaarfrisur. Besonders in der 18. Dynastie (1550–1292 v. Chr.) wurde diese Erscheinungsform beispielsweise von Amenophis I. bis Thutmosis III. in Anlehnung an frühzeitliche Traditionen verwendet. == Geschichtliche Bedeutung des Pantherfells == Der Pantherfellträger trug unter anderem ergänzend die Jugendlocke, die ihn als Sohn des Königs auswies. In der Ikonografie diente die Jugendlocke auch im weiteren Verlauf der altägyptischen Geschichte der Kennzeichnung vornehmlich jener königlicher Nachkommen, die als designierte Thronfolger in Frage kamen. Der mit dem Pantherfell ausgestattete älteste Königssohn trat im Rahmen seiner priesterlichen Funktion als Tjet oder „Sem“ sowie als Verkörperung des Sameref somit als Mittler zwischen dem König und der Götterwelt auf. === Frühzeit (3100–2707 v. Chr.) === Aus dem Bereich des früheren Hathor-Tempels in Gebelein stammt ein Reliefbruchstück, auf dem der Pantherfellträger im Königskult zu sehen ist. Der Kalksteinblock, der sich im Museo Egizio Turin befindet, wird zumeist in die 2. oder beginnende 3. Dynastie datiert. Ägyptologen deuten die Handlungen des Pantherfellträgers als Gründungs- oder Jagdritual und als Zeremonie innerhalb des Sedfestes. Zweifelsfrei handelte es sich aber um einen symbolischen Akt, da zusätzlich die Kronengöttin Wenut am Geschehen beteiligt war. Der Pantherfellträger wurde dabei im Umfeld des Horusgeleits tätig, in dem die königliche Amtsausübung als Aufrechterhaltung der Königsherrschaft das beherrschende Motiv der feierlichen Handlungen darstellte. === Altes Reich (2707–2216 v. Chr.) === In königlichen Ritualhandlungen des Alten Reiches war das Pantherfell ab der 5. Dynastie ausschließlich die Tracht des Sem-Priesters, der unter den Priestern des Königs die Person war, die in Prozessionen unmittelbar vor der Sänfte des Königs schritt. Wolfgang Helck verdeutlicht, dass nur der älteste Königssohn die königliche Zustimmung besaß, sich in seiner direkten Nähe aufzuhalten. Diesen Zusammenhang zeigen bildlich auch die Festszenen der Pepi-II.-Pyramide, weshalb angenommen werden kann, dass das Amt des Pantherfellträges als Sem-Priester in den zugehörigen Zeremonien entweder der Königssohn besetzte oder ihn als handelnde Person symbolisch kennzeichnete. === Mittleres Reich (2137–1781 v. Chr.) === Im Mittleren Reich dokumentiert ein aus Granit für Amenemhet III. gefertigter Torso die Möglichkeit, dass auch ein designierter König als Pantherfellträger auftreten konnte. Vor seiner alleinigen Thronbesteigung regierte Amenemhet III. mit seinem Vater Sesostris III. etwa zwanzig Jahre zusammen. Auf dem Granitblock ist Amenemhet III. mit einer Strähnenperücke sowie einem mehrreihigen Perlenstrang, dem „Menit“, zu sehen. Das hauptsächlich rücklings getragene Pantherfell endet auf seinen Schultern. Wolfhart Westendorf hebt hervor, dass die Ikonografie des Mittleren Reiches der tradierten Priesterkleidung des Tjet entspricht und Amenemhet III. in der mythischen Phase des göttlichen Horus zeigt, bevor er den Platz seines Vaters einnahm. Ergänzend offenbart Amenemhet III. das von der Gottheit Iunmutef verkörperte Prinzip des jungen Horus in Chemmis. Den Hintergrund bildete die mythologische Vorstellung, dass sich der junge Horus am geheimen Ort Chemmis aufhielt, um verborgen vor Seth von Isis zum Mann heranzuwachsen, wobei das Pantherfell Amenemhet III. als jungen Horus und Ritualkundigen ausweist. === Neues Reich (1550–1070 v. Chr.) === Das Neue Reich stand im Zeichen des großen Umbruchs. Toten- und Sargtexte wurden zum Totenbuch vereinigt. Das Leben nach dem Tod und die Reise nach Sechet-iaru in der Duat war nun für alle möglich, die finanziell in der Lage waren, sich ein persönliches Totenbuch schreiben zu lassen. Entsprechend gehörte das Pantherfell ohne Bindung an eine bestimmte Gottheit zum Ornat verschiedener Hohepriester; zudem durften ebenso einfache, im Rang nachgeordnete Priester ergänzend das Pantherfell tragen.Hauptsächlich war die Tracht des Pantherfells aber nach wie vor mit dem Amt des Sem-Priesters verbunden. Sethos I. erhob die bis dahin nur als mystisch verehrte Gestalt Horus Iunmutef zur neuen Totengottheit und ließ sich zu dessen pantherfelltragenden Hohepriester ernennen. Außerdem ist Sethos I. im Amun-Tempel in Karnak als Hohepriester des Amun dargestellt, der während eines Prozessionszuges die königliche Barke in seiner Rolle als Göttersohn begleitet: Wie bereits im Fall Amenemhets trug später Ramses II. als Sohn von Sethos I. und mitregierender König in jungen Jahren ebenfalls das Pantherfell. Im Totentempel des Sethos I. in Abydos waren die Sameref-Priester von Ramses II. im Opferkult für seinen Vater Sethos I. vor den königlichen Ahnen als Träger des Pantherfells tätig. Ramses II. ist dort in den zugehörigen Abbildungen hinter Sethos I. stehend positioniert und verweist als rechtmäßiger Erbe auf die mit Namen untertitelte Dynastie der vor ihm regierenden Könige. === Spätzeit (664–332 v. Chr.) === In der Spätzeit kam in der mythologischen Ausdeutung ein erweiterter Kreis der Pantherfellträger hinzu. Es war nun insbesondere die Tracht der Königinnen des Reiches von Kusch. Die kuschitischen Königsmütter sahen sich in der Rolle der Göttin Isis, die sich als Mutter des Horus für die königlichen Nachfolger verantwortlich zeichnete.Die Königinnen hatten entscheidenden Einfluss im Krönungsritual. Sie übernahmen daher in Umdeutung der früheren Funktion des Sameref als Pantherfellträgerin die rituelle Ausführung der notwendigen Festakte. Dabei machten sie sich die Inhalte des Osirismythos zu eigen und übernahmen die Attribute der Gottheit Horus-Iunmutef. == Das Pantherfell im Totenkult == Bereits im Alten Reich ist der Grabinhaber in Darstellungen häufig mit einem Pantherfellumhang auf Scheintüren und den Eingangsbereichen von Grabkammern zu sehen. Ergänzend kommen Kulthandlungen in Verbindung mit dem Vorführen des Viehs sowie der Bereitstellung von Opfergaben hinzu. Das Pantherfell repräsentiert im Totenkult kein irdisches Amt, sondern zeigt den ideellen Rang des Grabinhabers, der mit dem Abschluss der Bestattung erreicht wird und ihm als Träger des Pantherfells das Weiterleben im heiligen Land der Verstorbenen mit magischen Kräften ermöglicht. Im Mittleren Reich kommen weitere Funktionen des Pantherfells mit der Ausübung des Totenkults hinzu. Es gehört ergänzend zur Standardausstattung der Personen, die im Bereich der Totenopfer tätig sind; zumeist der älteste Sohn oder die Sem-Priester, die in den Rang eines Zauberers erhoben wurden und damit den Status als „göttlich ausgestattete sowie anerkannte Totengeister“ erhielten. Grabreliefs und Stelen zeigen parallel zum Grabinhaber in der traditionellen Rolle die neu hinzugekommene Ritualtracht. Mit Beginn des Neuen Reichs überwiegen die Abbildungen des Pantherfells bezüglich seiner Anbindung im priesterlichen Totenkult als „liebender Sohn“ und „Erster des Opfergeleits“. In der Mundöffnungszeremonie bewahrt das Pantherfell jedoch weiterhin seine zentrale Wirkung als Kultobjekt des Verstorbenen. === Unas (2380–2350 v. Chr.) === Als erster König (Pharao) ließ Unas die unterirdischen Pyramidenkammern mit rezitierenden Totentexten in Form von „Totensprüchen“ beschriften. Mit der Verwendung der Pyramidentexte begründete Unas eine Tradition, die sich durch die Pyramidenbauten der Könige und Königinnen der 6. Dynastie zog und die Basis für spätere Totenliturgien wie die Sargtexte und das altägyptische Totenbuch bildete. Das Pantherfell erscheint in den Texten des Unas im direkten Bezug zur kosmischen Wiedergeburt des Königs. Das spätere Nutbuch beschreibt die tägliche Fahrt des Sonnengottes Re. Die dazu als Grundlage vorliegenden Totentexte berichten parallel vom verstorbenen König, der wie Re zwischen den Horizonten pendelt, um sich nach Sonnenuntergang in Sechet-iaru im Merencha nachts zu reinigen, um am nächsten Morgen erneut mit Re gemeinsam den Tag zu beginnen. Die Inhalte der Totentexte zeigen, dass das Pantherfell ergänzend mit der himmlischen Herrschaft des verstorbenen Königs auch mit seiner Unversehrtheit verbunden ist. Für die himmlische Existenz war dieser Zustand unbedingt notwendig, da das Fehlen des Pantherfells negative Auswirkungen auf das jenseitige Fortleben des Verstorbenen hatte. Mit der Opferformel wird dem König die Regentschaft über die Bereiche des Horus und Seth verliehen, die sich im Osthimmel befinden. === Tutanchamun (1332–1323 v. Chr.) === Das Grab des Tutanchamun ist wegen der Fundlage hinsichtlich des Pantherfells besonders bemerkenswert. Als Wandmalerei ist die Mundöffnungszeremonie zu sehen, in der Tutanchamuns Nachfolger Eje II. selbst als Pantherfellträger und Sem-Priester fungiert. Neben den zahlreichen Beigaben fanden sich zwei Pantherfelle im Grab: eines aus echtem Pantherfell, mit goldenen Sternen dekoriert, wobei der Kopf aus Holz gearbeitet und mit Gold überzogen wurde, das andere ist hingegen eine Nachbildung aus Leinen. Das gleiche Motiv ist auf einer Gruppenstatue im Louvre zu sehen, wo Tutanchamun mit einem sternenbedeckten Pantherfellumhang bekleidet ist und zwischen den Beinen einer Statue des Amun steht, der ihn von hinten umschließt. Beide Arme des Gottes liegen auf den Oberarmen Tutanchamuns. In dieser Darstellung ist die symbolische Vater-Sohn-Beziehung gut erkennbar, in der Tutanchamun als „liebender Sohn“ seines „Vaters“ Amun auftritt. Das Pantherfell ist hierbei das optische Zeichen der Familienbande von Tutanchamun und Amun. In seiner Eigenschaft als göttlicher Sohn ist Tutanchamun damit berechtigter Träger des Pantherfells. == Literatur == Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten. Beck, München 2003, ISBN 3-406-49707-1 B. Brentjes: Das Leopardenfell im Alten Orient. In: Das Pelzgewerbe Nr. 6, 1965, Hermelin-Verlag Dr. Paul Schöps, Berlin u. a., S. 243–253 Rainer Hannig: Großes Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch: (2800–950 v. Chr.). von Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-1771-9 Ute Rummel: Das Pantherfell als Kleidungsstück im Kult: Bedeutung, Symbolgehalt und theologische Verortung einer magischen Insignie. In: Alexandra Verbovsek, Günter Burkard, Friedrich Junge: Imago Aegypti. (Internationales Magazin für ägyptologische und koptologische Kunstforschung, Bildtheorie und Kulturwissenschaft, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Archäologischen Institut, Abteilung Kairo) Band 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 3-525-47011-8, S. 109–152. Elisabeth Staehelin: Untersuchungen zur ägyptischen Tracht im Alten Reich. Hessling, Berlin 1966. Jacques Vandier: Le Papyrus Jumilhac. Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1962, S. 113–114. Bruce Williams: The wearer of the leopard-skin in the Naqada Period. In: Jacke Phillips (Hrsg.): Ancient Egypt, the Aegean, and the Near East: Studies in honour of Martha Rhoads Bell, Band 2. Van Siclen, San Antonio (TEX) 1997, ISBN 0-933175-44-2, S. 483–496. == Weblinks == Amenemhet III. als Pantherfellträger Der Sem-Priester als Tekenu-Pantherfellträger == Einzelnachweise == == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Pantherfell
Mastzelltumor des Hundes
= Mastzelltumor des Hundes = Der Mastzelltumor des Hundes ist eine von Mastzellen ausgehende Neubildung (Neoplasie) beim Haushund, die vor allem in der Haut und Unterhaut auftritt. Mastzelltumoren sind bei Hunden nicht nur außerordentlich häufig, sondern neigen bei ihnen auch wesentlich häufiger zu bösartigen Verläufen als bei anderen Tierarten. Die mittlere Überlebenszeit beträgt bei bösartigen Tumoren nur vier Monate, bei gutartigen dagegen über zwei Jahre. Mastzellen sind Zellen des Immunsystems, die eine Rolle bei der angeborenen Immunantwort spielen. Sie produzieren eine Reihe von biologisch aktiven Substanzen, darunter vor allem Histamin. Mastzelltumoren machen etwa ein Fünftel aller Hauttumoren des Hundes aus. Sie zeigen sich als Knoten oder erhabene Flecken, bei etwa einem Fünftel betroffener Tiere treten Geschwüre und Blutungen im Magen und Zwölffingerdarm auf. Tochtergeschwulste bei bösartigen Mastzelltumoren treten vor allem in Lymphknoten, Leber, Milz und im Knochenmark auf. Jeder Knoten in der Haut oder Unterhaut kann ein Mastzelltumor sein. Der Nachweis ist nur durch eine Gewebeentnahme mit einer feinen Kanüle (Feinnadelbiopsie) mit anschließender Färbung und mikroskopischer Untersuchung (Zytodiagnostik) möglich. Obwohl die Einteilungen nach den klinischen Erscheinungen und dem Zellbild in der Zytodiagnostik Hinweise auf das biologische Verhalten (gut- oder bösartig) und damit die Heilungsaussicht geben, ist diese Tumorerkrankung unberechenbar und sollte frühzeitig behandelt werden. Mittel der Wahl ist die vollständige chirurgische Entfernung, die eventuell auch mit einer Strahlen- oder Chemotherapie kombiniert wird. Tumoren, bei denen eine chirurgische Entfernung nicht oder nur unvollständig möglich ist, können auch mit Tyrosinkinase-Inhibitoren behandelt werden. Mastzelltumoren kommen auch bei Hauspferden, Frettchen und Hauskatzen häufiger vor, verhalten sich bei diesen Tierarten aber meist gutartig. Bei anderen Tierarten und beim Menschen sind Mastzelltumoren sehr selten. == Mastzelle == Mastzellen (Mastozyten) sind Zellen des Immunsystems und stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen der angeborenen und erworbenen Immunantwort dar. Sie entstehen aus Vorläuferzellen im Knochenmark und wandern als unreife Zellen in viele Gewebe, vor allem in solche mit engem Kontakt zur Außenwelt, wo sie ausdifferenzieren. Reife Mastzellen sind rundliche Zellen im Bindegewebe, deren Cytoplasma Granula mit abweichendem Färbeverhalten (Metachromasie) enthält. Die Granula sind gespeichertes Histamin, Heparin sowie Zytokine wie der Tumornekrosefaktor-α. Auf der Zelloberfläche tragen Mastzellen Bindungsstellen (Rezeptoren), von denen zwei funktionell die größte Bedeutung haben: Der Stammzellfaktor-Rezeptor (Tyrosinkinase KIT) reguliert über die Bindung des Stammzellfaktors die Differenzierung, Vermehrung, Aktivierung und Lebensdauer der Mastzellen. Der Immunglobulinrezeptor FcεRI (high-affinity IgE receptor) bindet Immunglobulin E (IgE) mit hoher Bindungsstärke (Affinität). Nicht nur der Stammzellfaktor, sondern auch eine Reihe von Interleukinen und Ultraviolettstrahlung führen zu einer Aktivierung und Vermehrung von Mastzellen. Bei der Aktivierung von Mastzellen werden von ihnen Entzündungsmediatoren, Zytokine und Proteasen entweder aus den Granula freigesetzt oder in kurzer Zeit neu gebildet und abgegeben.Am besten ist die Funktion der Mastzellen bei Allergien erforscht, darüber hinaus sind sie auch an Autoimmunerkrankungen und an der Verstärkung der Entzündungsreaktionen bei bakteriellen Infektionen beteiligt. Anderseits können Mastzellen auch entzündungshemmend wirken, da sie vor schädigenden Faktoren wie Bakterien und Parasiten schützen. Zudem können Mastzellen durch ihr großes Repertoire biologisch aktiver Substanzen zur Entstehung und zum Wachstum anderer Hauttumoren beitragen. == Vorkommen und Entstehung == Mastzelltumoren kommen beim Hund vor allem in der Haut und Unterhaut vor. Sehr selten sind sie in inneren Organen wie dem Dünndarm, der Maulschleimhaut, der Nasenschleimhaut oder der Bindehaut anzutreffen. Etwa 20 % aller Hauttumoren beziehungsweise 6 % aller Tumoren beim Hund sind Mastzelltumoren. Gehäuft treten sie bei einigen Rassen auf: Deutscher Boxer und verwandte kurzköpfige Rassen, Golden Retriever, Beagle, Irish Setter, Dackel und Berner Sennenhund. Eine Abhängigkeit vom Geschlecht des Tieres besteht nicht. Das mittlere Alter betroffener Hunde beträgt acht Jahre, ein Mastzelltumor kann aber bereits bei vier Monate alten Hunden oder erst in einem sehr hohen Alter entstehen. Beim Menschen sind eine Reihe von Mutationen und Chromosomenveränderungen bekannt, die zur krankhaften Vermehrung von Mastzellen (Mastozytosen) führen. Mutationen des Gens für den Stammzellfaktor-Rezeptor (c-KIT) führen zu einer verlängerten Zelllebensdauer und vermehrten Neubildung von Mastzellen. Die D816V-Mutation ist die häufigste dieser c-KIT-Mutationen und tritt bei 80 % der Patienten mit Mastozytose auf. Es gibt aber auch Mastozytose-Patienten ohne Veränderungen am Stammzellfaktor-Rezeptor. Insgesamt sind beim Menschen über 20 Chromosomenveränderungen bekannt, die zu Mastozytosen führen können, wobei am häufigsten die Chromosomen 2, 7, 12, 13, 14 und X betroffen sind.Auch beim Hund scheinen c-KIT-Veränderungen eine Rolle zu spielen. Dabei können sowohl eine gesteigerte Genexpression als auch eine Mutation mit Phosphorylierung des Stammzellfaktor-Rezeptors, die zu einer Aktivierung ohne Bindung des Stammzellfaktors (Liganden-unabhängig) führt, auftreten. Mittlerweile sind über 30 solcher Mutationen bekannt, von denen die häufigste eine Verdopplung (Tandemmutation) des Exon 11 ist, welches den direkt an der Innenseite der Zellmembran liegenden Anteil (Juxtamembrandomäne) des Stammzellfaktor-Rezeptors codiert. Aber auch beim Hund kommen Mastzelltumoren ohne c-KIT-Mutation vor, im Gegensatz zu US-amerikanischen Studien wurden bei Mastzelltumoren deutscher Hunde sogar fast keine relevanten c-KIT-Mutationen nachgewiesen. Ob dies zufällig oder methodisch bedingt war oder genetische Unterschiede in den Zuchtlinien reflektiert, muss durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Die Ursachen für das gehäufte Auftreten von Mastzelltumoren beim Hund sind bislang ungeklärt, vermutlich gibt es mehrere Ursachen (multifaktorielles Geschehen). == Klinisches Bild == Mastzelltumoren der Haut zeigen sich als Knötchen (Papel), erhabene Flecken (Plaque) oder Knoten (Nodus), die oberflächlich geschwürig zerfallen können. Ihre Konsistenz reicht von weich bis derb-knotig. Lokal können Rötung und Juckreiz auftreten (Darier-Zeichen). Gelegentlich treten Satellitenknoten auf, das heißt Absiedlungen des Tumors über Lymphgefäße in benachbarte Hautgebiete, in etwa 10 % der Fälle sind von Anfang an mehrere Mastzelltumoren ausgebildet (primäre Multiplizität).Mastzelltumoren können Tochtergeschwulste (Metastasen) in die für das Gebiet zuständigen (regionären) Lymphknoten sowie in andere Organen wie Leber, Milz und Knochenmark bilden, andere Lokalisationen sind sehr selten. Bei gutartigen Mastzelltumoren liegt die Metastasierungsrate unter 10 %, bei bösartigen über 50 %.Auch ohne die Bildung von Tochtergeschwulsten kann ein Mastzelltumor schwere Allgemeinstörungen auslösen (paraneoplastisches Syndrom). Diese werden durch die Freisetzung von Entzündungsmediatoren und Zytokinen ausgelöst. Durch die Bildung von Heparin durch die Mastzellen kann es zu einer vermehrten Blutungsneigung kommen, infolge der Produktion Fibroblasten-hemmender Zytokine (vor allem FGF-2) zur Störung von Wundheilungsvorgängen. Bei etwa einem Fünftel der Hunde mit einem Mastzelltumor treten Fressunlust, Erbrechen, Teerstuhl und Blutarmut infolge von Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüren auf, bei Obduktionen werden solche Geschwüre sogar bei über 80 % der Patienten nachgewiesen. Etwa 80 % der Hunde mit solchen Geschwüren werden aufgrund des schlechten Allgemeinbefindens eingeschläfert. In besonders schweren Fällen können diese Geschwüre zu einem lebensgefährlichen Magen- beziehungsweise Darmdurchbruch führen. Darüber hinaus kann es auch zu einem Krankheitsbild kommen, das an eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems erinnert. Diese systemische Mastozytose wird vor allem bei Tieren beobachtet, bei denen zuvor ein Mastzelltumor entfernt wurde. Dabei treten Abgeschlagenheit, Fressunlust, Erbrechen, Gewichtsverlust, Blässe, Leber- und Milzvergrößerung auf.Nach dem klinischen Bild werden Mastzelltumoren entsprechend den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation in vier Stadien eingeteilt: == Diagnostik == Eine Blick- oder Tastdiagnose ist nicht möglich, da weder Aussehen noch Konsistenz eine Abgrenzung zu anderen Hauttumoren ermöglichen. Diagnostisches Mittel der Wahl ist die Feinnadelbiopsie, da aus Mastzelltumoren ausreichend Zellen gewonnen werden können. Im zytologischen Präparat lassen sich Mastzellen aufgrund ihrer Granula relativ einfach von anderen Zelltypen unterscheiden, wobei jedoch zu beachten ist, dass bestimmte Schnellfärbelösungen Mastzellgranula nur unzuverlässig anfärben und Zellen wenig differenzierter Mastzelltumoren sehr wenig Granula enthalten können.Im Blutbild werden nur selten Veränderungen beobachtet, gelegentlich kann eine Vermehrung einer Unterform der weißen Blutkörperchen (Eosinophilie) auftreten. Bei einer systemischen Mastozytose tritt häufig eine Abnahme der weißen Blutkörperchen (Leukopenie) auf. Im Blut zirkulierende Mastzellen werden zumeist nicht beobachtet.Nach dem histopathologischen Zellbild werden Mastzelltumoren des Hundes in verschiedene Grade eingeteilt. Die am weitesten verbreitete Einteilung der Mastzelltumoren basiert auf dem Schema von Patnaik und Mitarbeitern aus dem Jahr 1984: Eine Studie aus dem Jahr 2011 stellt diese Einteilung jedoch in Frage. Dabei wurden identische Präparate von 95 Mastzelltumoren, von denen auch der Ausgang der Erkrankung bekannt war, an 28 Pathologen in 16 verschiedenen Einrichtungen verschickt. Während die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Untersuchern bei Grad-3-Tumoren 75 % betrug, lag sie bei den Graden 1 und 2 unter 63 % und auch die daraus abgeleiteten Prognosen zeigten nur wenig Übereinstimmung mit dem Ausgang der Erkrankung. Kiupel und Mitarbeiter schlugen daher ein neues System vor, das nur noch zwei Grade vorsieht: low-grade und high-grade. Als high-grade (hochgradig, bösartig) werden dabei Tumoren beurteilt, bei denen in zehn Gesichtsfeldern bei starker Vergrößerung (Objektiv 40fach) ein oder mehrere folgender Kriterien erfüllt sind: mindestens sieben Mitosen mindestens drei mehrkernige Zellen (drei oder mehr Zellkerne) mindestens drei abnorme Zellkerne (Einziehungen, Segmentierung, unregelmäßige Form) Kernvergrößerung (Karyomegalie, die Zellkerndurchmesser von 10 % der Mastzellen variieren um mindestens das zweifache).Die mittlere Überlebenszeit betrug bei Tieren mit high-grade-Mastzelltumor vier Monate, bei Tieren mit low-grade-Mastzelltumor dagegen über zwei Jahre. Zudem waren Rezidive und Metastasen bei high-grade-Mastzelltumoren deutlich häufiger. Darüber hinaus scheint ein Zusammenhang zwischen der Art der c-KIT-Mutation einerseits und dem biologischen Verhalten bzw. dem Tumorgrad andererseits zu existieren. Auch der immunhistochemische Nachweis von Zellteilungsmarkern wie Ki-67 oder der argyrophilen Nukleolusorganisatorregion (AgNOR) zeigt Korrelationen mit dem biologischen Verhalten von Mastzelltumoren. Mehr als 23 Ki-67-positive Zellen pro cm2 bzw. mehr als vier AgNOR pro Zellkern gelten als prognostisch ungünstig.Das biologische Verhalten von Mastzelltumoren ist also bei Hunden sehr variabel und nur bedingt vorhersehbar, weshalb bei Hunden der Begriff Mastzelltumor den Begriffen Mastozytom (gutartig) und Mastosarkom (bösartig) vorzuziehen ist. Das klinische Stadium, der histopathologische Grad, c-KIT-Expressionsmuster und Zellteilungsmarker geben Hinweise, lassen aber keine präzisen Aussagen zu. Offenbar handelt es sich bei den Mastzelltumoren des Hundes um molekular heterogene Neubildungen. Mastzelltumoren beim Deutschen Boxer, eine der am häufigsten betroffenen Rassen, zeigen meist einen gutartigen Verlauf. Die Lokalisation des Tumors scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen. So neigen Mastzelltumoren der Zehen, des Damms, der Leiste und der Schleimhäute eher zu Metastasen als solche anderer Regionen. Dagegen neigen Mastzelltumoren der Bindehaut kaum zu Rezidiven oder Metastasen, unabhängig vom Grad. Offenbar können epigenetische Faktoren, die unmittelbaren Umgebungsbedingungen (microenvironment), die Gefäßneubildung und Wachstumsfaktoren das biologische Verhalten beeinflussen.Differentialdiagnostisch kommt jeder andere Hauttumor des Hundes in Betracht: In der Haut insbesondere Histiozytome, Basaliome, Melanome und T-Zell-Lymphome, in der Unterhaut vor allem Lipome, Hämangioperizytome und Hämangiosarkome. Die Abgrenzung dieser Tumoren bereitet aber in der Zytodiagnostik kaum Probleme. == Behandlung == Obwohl die Einteilungen nach den klinischen Erscheinungen und dem Zellbild in der Zytodiagnostik Hinweise auf das biologische Verhalten geben, bleibt ein Mastzelltumor unberechenbar und ist potentiell als bösartig einzuschätzen. Die Behandlungsmethode der ersten Wahl ist die frühestmögliche chirurgische Entfernung des Tumors. Begleitend können Chemotherapie und Bestrahlung notwendig sein, vor allem wenn die vollständige Entfernung aus anatomischen Gründen nicht möglich oder unsicher ist. Bei inoperablen Tumoren kann ein Behandlungsversuch mit Tyrosinkinase-Inhibitoren unternommen werden. Generell gilt, dass die Aussicht auf Heilung bei gut differenzierten Mastzelltumoren (low-grade bzw. Grad 1) und bei Tieren ohne Allgemeinsymptome (Unterstadien a) am besten ist. Bei jungen Hunden (< 1 Jahr) ist die Prognose ebenfalls besser als bei älteren. === Chirurgie === Die chirurgische Entfernung (Resektion) sollte möglichst frühzeitig erfolgen, also bevor Lymphknoten oder gar andere Organe befallen sind (Stadium 1). Mastzelltumoren besitzen eine Pseudokapsel aus komprimierten Tumorzellen und meist feine Ausläufer in das umgebende Gewebe, die über das tastbare Tumorgewebe hinausgehen. Aus diesem Grund wird ein Sicherheitsabstand von etwa 3 cm über den tastbaren Rand empfohlen. Die Entfernung erfolgt, auch bei Mastzelltumoren in der Unterhaut, mit der kompletten Haut und in der Tiefe einschließlich der Unterhautfaszie. An den Gliedmaßen kann es schwierig sein, den dadurch entstandenen Hautdefekt zu verschließen, so dass auch eine Hauttransplantation notwendig werden kann. Aus den Rändern und dem verbliebenen Gewebe in der Tiefe (Tumorbett) sollten Biopsien entnommen werden, um das Vorhandensein von Tumorrestgewebe zu überprüfen.Vor allem an den Gliedmaßen lassen sich diese tumorchirurgischen Grundregeln nicht immer vollständig umsetzen, weil dies den Verlust von Nerven, Gefäßen und Sehnen zur Folge hätte, so dass auch eine Amputation in Erwägung gezogen werden muss. Unter Umständen kann durch die Anwendung von H₁- und H₂-Rezeptor-Antagonisten vor der Operation versucht werden, die Tumorgröße zu verringern. Auch bei unvollständiger Entfernung zur Verringerung der Zahl der Tumorzellen (zytoreduktive Resektion) ist die Gabe dieser Wirkstoffe angezeigt, da der Eingriff zu einer Degranulation der Mastzellen und damit Freisetzung von Entzündungsfaktoren führen kann.Bei gut differenzierten Mastzelltumoren, die kleiner als 5 cm sind, ist die Heilungsaussicht (Prognose) bei ordnungsgemäßer chirurgischer Entfernung sehr gut, bei Rezidiven dagegen schlecht. Die Planung des chirurgischen Vorgehens beim Ersteingriff ist daher von entscheidender Bedeutung. Bei Tumoren kleiner 2,5 cm ist die Überlebenszeit auch bei high-grade-Tumoren sehr hoch. === Strahlentherapie === Die Strahlentherapie wird vor allem bei nicht vollständig entfernbaren Mastzelltumoren als Begleittherapie eingesetzt und gilt dabei als Mittel der Wahl. Mastzellen sind sehr empfindlich gegenüber ionisierender Strahlung. Bei Grad-2-Mastzelltumoren zeigen verschiedene Studien nach einem Jahr Krankheitsfreiheit bei etwa 95 % der Patienten, zwischen dem zweiten und fünften Jahr nach der Behandlung bei etwa 90 % der Patienten. Bei Grad-3-Tumoren ohne Lymphknotenbeteiligung betrug die Einjahresüberlebensrate in einer Studie 71 %. Die Strahlentherapie kann auch als neoadjuvante oder palliative Behandlung eingesetzt werden, da sie meist zu einer deutlichen Schrumpfung des Tumors führt. Eine Studie zur Kurzdistanzstrahlentherapie bei Tumoren der Grade 2 und 3 nach chirurgischer Entfernung zeigte ebenfalls gute Erfolge und eine gute Verträglichkeit. === Chemotherapie === Zur Chemotherapie werden verschiedene Wirkstoffe eingesetzt. Glucocorticoide haben einen direkten hemmenden Effekt auf die Vermehrung von Mastzellen. Die direkte Injektion in den Tumor wird nicht mehr empfohlen, die systemische Verabreichung wird dagegen häufig mit der Gabe von Zytostatika kombiniert. Als Zytostatika werden Vincaalkaloide wie Vinblastin, Cyclophosphamid, Hydroxycarbamid, Doxorubicin, Mitoxantron und L-Asparaginase eingesetzt, wobei Kombinationen verschiedener Wirkstoffe erfolgversprechender sind. Nach dem europäischen Konsenspapier aus dem Jahre 2012 ist eine Chemotherapie immer angezeigt, wenn sich der Tumor bereits im Körper verbreitet hat oder wenn bei unvollständiger chirurgischer Entfernung weder Nachoperation noch Bestrahlung möglich sind.Hydroxycarbamid sprach in einer Studie bei 28 % der behandelten Hunde an, 4 % (zwei Tiere) zeigten eine vollständige Heilung (komplette Remission). Nebenwirkungen waren vor allem Blutbildveränderungen wie Anämie und Neutropenie. Die Kombination von Hydroxycarbamid mit Prednisolon bei unvollständig entfernten Grad-2-Tumoren führte in zwei Fällen zum Tod durch Leberversagen, von den verbliebenen Hunden überlebten alle das erste und 77 % das zweite Jahr. Mit der Kombination von Hydroxycarbamid, Vinblastin und Prednisolon konnte bei nicht oder unvollständig entfernbaren Mastzelltumoren eine Ansprechrate von 65 % erzielt werden, die mittlere Überlebenszeit war bei Grad-2- deutlich höher als bei Grad-3-Tumoren (954 gegenüber 190 Tage). Die Nebenwirkungen (Neutropenie, Anstieg der Leberwerte) waren moderat. === Tyrosinkinase-Inhibitoren === Mittlerweile gibt es mit den Tyrosinkinase-Inhibitoren Wirkstoffe, die spezifisch am Stammzellrezeptor der Mastzellen wirken. Seit 2009 wurden zwei Tyrosinkinase-Inhibitoren – Masitinib (Handelsname Masivet) und Toceranib (Handelsname Palladia) – zur Behandlung von Mastzelltumoren bei Hunden in der EU zugelassen.Masitinib ist zur Behandlung inoperabler Mastzelltumoren der Grade 2 und 3 (bzw. high-grade) mit c-KIT-Mutation zugelassen. Nebenwirkungen sind vor allem Erbrechen, Durchfall, Neutropenie, Anämie und Proteinurie, die jedoch meist mild sind. Die mittlere Überlebenszeit stieg in einer Studie an Hunden mit Tumoren der Grade 2 und 3 ohne Metastasen von 75 auf 118 Tage, wenn der Wirkstoff zur Erstbehandlung eingesetzt wurde auf 253 Tage.Toceranib hat mehrere Angriffspunkte (multitarget drug): Es wirkt nicht nur am Stammzellrezeptor, sondern auch an den Rezeptoren für den Gefäß- (VEGF) und den Plättchenwachstumsfaktor (PDGF) und ist damit auch bei Mastzelltumoren ohne c-KIT-Mutation einsetzbar. Die Nebenwirkungen sind ähnlich denen von Masitinib, treten aber sehr häufig auf und sind bei über einem Drittel der Tiere schwerwiegend.Positive Erfahrungen gibt es auch mit dem für die Humanmedizin zugelassenen Tyrosinkinase-Inhibitor Imatinib. === Tigilanoltiglat === Seit 2019 gibt es eine neue Behandlungsoption durch die Injektion von Tigilanoltiglat (EBC-46), einem Wirkstoff aus der Blushwood-Frucht, direkt in den Tumor. Tigilanoltiglat aktiviert die Proteinkinase C und führt durch Schädigung der Blutgefäße zu einer Nekrose der Tumorzellen. Eine Studie konnte bei 75 % der Tiere mit einer einmaligen Injektion eine vollständige Tumorremission erzielen, die bei 93 % ohne Rezidiv blieb. Bei einer zweimaligen Injektion stieg die Erfolgsrate auf 88 %. In der EU ist mittlerweile ein Medikament (Handelsname Stelvonta, Virbac) zur Behandlung von Mastzelltumoren zugelassen. Tigilanoltiglat eignet sich zur Behandlung von Mastzelltumoren der Haut und Unterhaut bis zu einem Volumen von 8 cm3, begleitet wird die Behandlung mit der Gabe eines Antihistaminikums, eines Kortikoids und eines Schmerzmittels. == Mastzelltumoren anderer Spezies == === Mastzelltumoren beim Menschen === Eine krankhafte Vermehrung von Mastzellen wird in der Humanmedizin als Mastozytose bezeichnet. Die vermehrte Einlagerung von Mastzellen in die Haut (Kutane Mastozytose) ist eine seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von unter zehn Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner. Die häufigste Form dieser Haut-Mastozytosen ist die gutartig verlaufende Urticaria pigmentosa („Pigmentnesselsucht“). Bei etwa 20 % der Kleinkinder sind auch andere Organe betroffen, bei Erwachsenen schwanken die Angaben zwischen 40 und 90 %.Vereinzelte Mastzelltumoren wie beim Hund sind beim Menschen dagegen sehr selten. Gutartige Mastzelltumoren (Mastozytom, Mastzellnävus) entstehen meist bei Kleinkindern unter zwei Jahren und zeigen sich als einzelne oder mehrere, rötliche oder rotbraune erhabene Flecken oder Knötchen der Haut. Auf mechanische Reize oder spontan können sie nesselsuchtartig anschwellen (Darier-Zeichen) und Juckreiz auslösen. Es besteht keine Tendenz zur Entartung oder zur Beteiligung anderer Organe. Mastozytome bilden sich meist ohne Behandlung zurück, was aber Jahre in Anspruch nehmen kann. Bösartige Mastzelltumoren (Mastzellsarkome) sind beim Menschen äußerst selten und als eigenständiges Krankheitsbild umstritten. === Mastzelltumoren bei anderen Tierarten === Relativ häufig sind Mastzelltumoren auch bei Pferden, Katzen und Frettchen, allerdings seltener als beim Hund. Beim Hauspferd treten sie vor allem bei älteren Tieren im Kopf- und Halsbereich sowie an den unteren Gliedmaßenabschnitten auf. Die Rezidivrate ist bei sachgemäßer chirurgischer Entfernung gering. Bei der Hauskatze sind Mastzelltumoren der Haut zumeist gutartig. Eine histologische Gradierung wie beim Hund hat sich nicht als sinnvoll erwiesen. Die chirurgische Entfernung ist auch bei der Katze die Behandlungsmethode der Wahl, bei unvollständiger Resektion auch in Kombination mit einer Bestrahlung. Wenn zahlreiche Mastzelltumoren auftreten, kann auch eine palliative Behandlung mit Glucocorticoiden versucht werden. Eine Sonderform des Mastzelltumors tritt bei Siamkatzen auf. Hier ähneln die Mastzellen Histiozyten und in den Tumor sind Ansammlungen von Lymphozyten und eosinophilen Granulozyten eingestreut. Bei älteren Katzen treten gelegentlich auch Mastzelltumoren im Dünndarm auf, die zu einer Darmeinstülpung oder Darmperforation führen können und ein aggressives biologisches Verhalten zeigen. Bei Frettchen machen Mastzelltumoren etwa 16 % der Hauttumoren aus, verhalten sich aber ebenfalls meist gutartig.Bei anderen Säugetieren sind Mastzelltumoren sehr selten. Es gibt Einzelfallberichte bei Hausrind, Hausesel, Hausschwein, Lama, Richardson-Ziesel, Hamster und Afrikanischen Igeln. Bei Mäusen sind spontane Mastzelltumoren sehr selten, in der Forschung wird die Mäuse-Masttumor-Zelllinie P 815 jedoch sehr häufig verwendet. Bei Vögeln und Reptilien sind Mastzelltumoren sehr selten, Einzelfälle wurden beim Haushuhn, der Kettennatter und einer Galápagos-Riesenschildkröte beschrieben. == Weblinks == Martin Kessler: Der Mastzelltumor des Hundes: ein Tumor mit vielen Gesichtern. Mastzelltumor – Informationen der Uni München == Literatur == Martin Kessler: Kleintieronkologie: Diagnose und Therapie von Tumorerkrankungen bei Hunden und Katzen. 2. Auflage, Parey Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-8304-4103-8, S. 210–215. Martin Kessler: Mastzelltumoren, Mastozytom (Mastzellsarkom). In: Hans Georg Niemand, Peter F. Suter (Hrsg.): Praktikum der Hundeklinik. 10. Auflage, Parey Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-8304-4141-0, S. 1135–1136. Anthony S. Stannard und L. Thoma Pulley: Mastocytoma of the dog. In: Jack E. Moulton (Hrsg.): Tumors in domestic animals. 2. Auflage, University of California Press, Berkeley [u. a.] 1978, ISBN 0-520-02386-2, S. 26–31. C. Guillermo Couto: Mast cell tumors in dogs and cats. In: Richard W. Nelson und C. Guillermo Couto (Hrsg.): Small animal internal medicine. 3. Auflage, Mosby, St. Louis 2003, ISBN 0-323-01724-X, S. 1146–1149. 55. Österreichische Apotheker-Verlagsgesellschaft m.b.H: Austria-Codex Schnellhilfe 2016/17. Druckerei Berger, Horn 2016, S. 1015, ISBN 978-3-85200-244-6 == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Mastzelltumor_des_Hundes
Fadenwurminfektionen des Hundes
= Fadenwurminfektionen des Hundes = Fadenwurminfektionen des Hundes – die Ansteckung (Infektion, auch Infestation) von Hunden mit parasitisch lebenden Fadenwürmern (Nematoda) – sind neben dem Bandwurmbefall und den Infektionen mit Einzellern (Giardiose, Neosporose) häufige Parasitosen in der tierärztlichen Praxis. Fadenwürmer besiedeln als sogenannte Endoparasiten („Innenschmarotzer“) verschiedene innere Organe – die meisten von ihnen den Verdauungstrakt – und die Haut. Bislang sind bei Haushunden etwa 30 verschiedene Fadenwurmarten nachgewiesen worden; sie sind im Wesentlichen auch bei wildlebenden Hundearten zu finden. Die Mehrzahl davon ruft aber bei erwachsenen Tieren häufig keine oder nur geringe Krankheitserscheinungen hervor. Die Infektion muss sich also nicht zwangsläufig auch in einer Wurmerkrankung (Helminthose) äußern. Für die meisten Fadenwürmer lässt sich eine Infektion durch eine Untersuchung des Kots auf Eier oder Larven nachweisen. Von gesundheitspolitischer Bedeutung ist in Mitteleuropa vor allem der Befall mit dem Hundespulwurm und dem Hundehakenwurm, da sie auch auf den Menschen übergehen können (Zoonose). Eine regelmäßige Entwurmung kann die Befallshäufigkeit und damit die Infektionsgefahr für Menschen und Hunde deutlich reduzieren. == Parasitosen des Verdauungstrakts == === Spulwurmbefall === Bei Hunden treten zwei Spulwurmarten auf: Toxocara canis und Toxascaris leonina. T. canis ist ein 8 bis 18 cm langer Fadenwurm, der im Dünndarm parasitiert (als Parasit lebt). Dort geben die erwachsenen Weibchen etwa 85 µm große ungefurchte Eier ab, deren Schale dick und rau (golfballähnlich) ist und die über den Kot in die Außenwelt gelangen. Der Zeitraum von der Infektion bis zur Eiablage (Präpatenz) beträgt je nach Infektionsweg und Alter des Hundes drei bis sechs Wochen. Für die Entwicklung benötigt T. canis keinen Zwischenwirt, die Ansteckung der Hunde kann aber über Sammelwirte wie Nagetiere und Vögel erfolgen. In Sammelwirten (paratenischen Wirten) kommt es zu keinem vollständigen Entwicklungszyklus der Parasiten, aber durch Mehrfachinfektionen können sich in ihnen infektiöse Stadien anreichern. Prinzipiell sind für T. canis drei Infektionswege möglich: Die perorale Infektion sowie die bei Welpen wesentlich häufigere transplazentare und galaktogene Infektion. Die perorale Infektion (Infektion über den Mund) erfolgt durch Aufnahme von Eiern aus der Umgebung oder von Larven aus Sammelwirten. Die Wurmeier sind erst etwa zwei Wochen nach der Ausscheidung über den Kot in der Außenwelt infektiös. In dieser Zeit entwickelt sich innerhalb der Eihülle das zweite Larvenstadium (Larve L2), welches – wie auch Larven aus Sammelwirten – bei der Verdauung im Dünndarm des neuen Wirtes freigesetzt wird. Diese Larven durchbohren die Darmwand und gelangen über die Pfortader in die Leber, wo die Entwicklung zur Larve L3 erfolgt. Über den Blutkreislauf wandert diese in die Lunge, wo sie hochgehustet und wieder abgeschluckt wird. Erst jetzt häuten sich die Larven zu den adulten Würmern. Bei ihrer Körperwanderung können die Larven auch in andere Organe, vor allem in die Skelettmuskulatur, gelangen und dort eine Gewebszerstörung hervorrufen. Häufig formen sie im Gewebe aber auch persistierende Stadien (Stadien, bei denen die Larven im Gewebe überdauern), welche für die beiden anderen Infektionswege wichtig sind. Bei der transplazentaren Infektion (Infektion über den Mutterkuchen) wandern die persistierenden Larven L3 aus der Gebärmutter durch den Mutterkuchen (Plazenta) und infizieren die ungeborenen Welpen bereits im Mutterleib. Die galaktogene Infektion (Infektion über die Muttermilch) der Welpen erfolgt durch Ausscheidung der in der Milchdrüse persistierenden Spulwurmlarven über die Muttermilch während der Säugeperiode. T. leonina ist 6 bis 10 cm lang, die Eier sind etwa 80 µm groß und dickschalig. Im Gegensatz zu den Eiern von T. canis haben sie eine glatte Oberfläche. Die Ansteckung erfolgt peroral durch Aufnahme mit Eiern kontaminierter (verunreinigter) Nahrung oder über Sammelwirte wie Nagetiere, Vögel, Reptilien oder Gliederfüßer. Die Präpatenz beträgt 7 bis 10 Wochen.In einer deutschen Studie wurde T. canis in einer Häufigkeit (Prävalenz) von 22,4 %, T. leonina nur bei 1,8 % der Haushunde nachgewiesen. In Österreich wurde für T. canis eine Prävalenz von 5,7 %, für T. leonina von 0,6 % ermittelt. Beide Spulwürmer kommen weltweit vor. Eine tschechische Studie zeigt große Unterschiede in der Prävalenz je nach Lebensverhältnissen: 6 % der Hunde in privater Haltung in Prag, 6,5 % der Tierheimhunde und fast 14 % der Hunde aus ländlichen Gebieten waren mit T. canis infiziert. Darüber hinaus wurde ein Anstieg der Prävalenz im Herbst aufgezeigt. Haushunde in Belgien zeigten für T. canis eine mittlere Befallshäufigkeit von 4,4 %, solche aus größeren Zwingerhaltungen von bis zu 31 %. Bei Haushunden in Serbien war T. canis bei 30 % der Tiere nachweisbar, bei Hüte- und Jagdhunden in Griechenland bei 12,8 % und T. leonina bei 0,7 % der Tiere. In Kanada wurde für T. canis eine Prävalenz von 3,9 % ermittelt, im Nordosten der USA von 12,6 %. In Australien wurde T. canis bei 38 % der Haushunde nachgewiesen, bei Tieren innerhalb des ersten Lebensjahrs sogar bei 73 %. In Brasilien ließ sich T. canis bei etwa 9 % der Haushunde nachgewiesen, in Thailand bei 7,4 %. In Nigeria wurde T. canis in einer Häufigkeit von 9 % beobachtet, T. leonina nur in einer von 0,6 %, in Gabun waren 58,5 % der Haushunde mit T. canis infiziert. Bei Wölfen, die in der gemäßigten Klimazone leben, ist dagegen T. leonina der häufigste Darmfadenwurm überhaupt (Prävalenz 74 %). Untersuchungen am Rotfuchs in Südengland zeigten eine Prävalenz von 56 % (T. canis) bzw. 1,5 % (T. leonina), in Dänemark von 59 bzw. 0,6 %. Füchse stellen damit ein natürliches Erregerreservoir dar. Während die Infektion mit T. leonina nur sehr selten klinische Erscheinungen wie Durchfall hervorruft, ist die krankheitsauslösende (pathogene) Wirkung von T. canis deutlich stärker. Bei Welpen treten ein herabgesetztes Allgemeinbefinden, struppiges Fell, Zurückbleiben im Wachstum, abwechselnd Durchfall und Verstopfung, ein aufgetriebener Bauch („Wurmbauch“) und Blutarmut auf. Komplikationen des T.-canis-Befalls mit teilweise tödlichem Ausgang sind Darmverschluss durch Wurmknäuel, Dünndarmdurchbruch, Lungenentzündung, Leberentzündung oder neurologische Erscheinungen durch verirrte Wanderlarven im Zentralnervensystem.Die Diagnose kann bei Würmern in Erbrochenem bereits ohne Spezialuntersuchungen gestellt werden. Relativ sicher kann ein Spulwurmbefall durch den mikroskopischen Nachweis der über das Flotationsverfahren aus dem Kot herausgelösten Eier nachgewiesen werden, allerdings erst nach Ablauf der Präpatenz. === Hakenwurmbefall (Ankylostomyasis) === Bei Hunden kommen vor allem zwei Hakenwurmarten vor: Ancylostoma caninum und Uncinaria stenocephala. Sie parasitieren im Dünndarm und verursachen durch das Saugen von Blut eine Blutarmut sowie Schädigungen der Darmschleimhaut. Die Würmer haben mit etwa 5–15 mm nur etwa ein Zehntel der Länge von Spulwürmern, ein hakenförmig abgewinkeltes Vorderende (daher der Name „Hakenwurm“) und eine große Mundkapsel mit Schneidplatten. Weibchen von A. caninum geben etwa 65×40 µm große Eier ab, die bei der Ablage bereits 4–10 Furchungstadien aufweisen. Sie sind oval und dünnschalig und gelangen über den Kot in die Außenwelt. Die Präpatenz beträgt zwei bis vier Wochen. Die aus den Eiern freiwerdenden Larven können sich durch die Haut in einen neuen Wirt bohren (perkutane Infektion) oder peroral aufgenommen werden – zumeist über Sammelwirte wie Nagetiere. Wie bei T. canis ist eine Ansteckung der Welpen auch über die Muttermilch möglich (galaktogene Infektion). Die in der Milchdrüse ruhenden Larven können nach einmaliger Infektion einer Hündin über einen Zeitraum von bis zu drei Säugeperioden ausgeschieden werden.Die Eier von U. stenocephala ähneln denen von A. caninum, haben mit 85×45 µm aber eine größere Längsachse. Die Infektion erfolgt ausschließlich über die perorale Aufnahme von Larven über kontaminiertes Futter beziehungsweise Sammelwirte. In Deutschland wurde eine Befallshäufigkeit von 8,6 % ermittelt, in Österreich von 0,1 % für A. caninum und 0,2 % für U. stenocephala. Eine tschechische Studie ermittelte für beide Hakenwürmer eine Prävalenz von je 0,4 %, eine griechische von zusammen 2,8 %. In Studien an Haushunden in Serbien und Nigeria waren bei einem Viertel der untersuchten Haushunde Hakenwürmer nachweisbar, U. stenocephala aber nur bei 0,4 % der Tiere. In Gabun waren beide Hakenwürmer bei 35 % der Haushunde nachweisbar. In Kanada wurde A. caninum bei lediglich 1,3 % der Haushunde nachgewiesen, im Nordosten der USA dagegen bei 12 %. In einer brasilianischen Studie (37,8 % der Haushunde) und einer thailändischen Studie (58,1 % der Haushunde) war A. caninum sogar der häufigste Fadenwurm überhaupt. In Australien wurde eine Prävalenz von 26 % für U. stenocephala ermittelt. Bei Wölfen, die Tundren besiedeln, ist dagegen U. stenocephala der häufigste Darmfadenwurm (Prävalenz 45 %). Bei Rotfüchsen ist dieser Parasit mit einer Vorkommenshäufigkeit von 68 % ebenfalls sehr häufig.Während der Befall mit U. stenocephala häufig nur geringe Krankheitserscheinungen wie Durchfall verursacht, kann der Befall mit A. caninum vor allem bei Welpen schwere Krankheitsbilder verursachen. Dabei können blutiger Durchfall, starke Abgeschlagenheit und Blutarmut auftreten, teilweise mit akutem oder perakuten Verlauf und plötzlichen Todesfällen. Bei chronischem Verlauf bleiben die Jungtiere im Wachstum zurück, sind teilnahmslos, zeigen mangelnden Appetit, Durchfall und Abmagerung. Eher selten tritt eine Lungenentzündung durch wandernde Larven auf. Ein Hakenwurmbefall kann durch den Nachweis der Eier im Kot mittels Flotationsverfahren diagnostiziert werden. === Peitschenwurmbefall (Trichuriasis) === Der häufigste Peitschenwurm des Hundes ist Trichuris vulpis. Er ist 4–8 cm lang, hat ein langes dünnes Vorder- und ein verdicktes Hinterende. Die Eier sind zitronenförmig, 80×40 µm groß, bräunlich, dickschalig und haben an den Polen Verdickungen („Polpfröpfe“). Sie sind bei der Eiablage ungefurcht. Die Infektion erfolgt durch Aufnahme der in der Außenwelt embryonierenden (eine Larve enthaltenden) Eier. Die Präpatenz ist mit 9–10 Wochen relativ lang. T. vulpis parasitiert im Blind- und Grimmdarm.T. vulpis ist weltweit verbreitet. In Deutschland sind etwa 4 % der Haushunde befallen, in Österreich 3,1 %. In Tschechien wurde eine Prävalenz von etwa 1 % ermittelt, in Griechenland von 9,6 %. In einer Studie an Haushunden in Serbien war T. vulpis dagegen der häufigste Darmparasit und bei 47 % der untersuchten Tiere nachweisbar. Im Nordosten der USA waren 15 % der Haushunde befallen. In Nigeria wurde er in einer Studie nur bei 0,5 % der Tiere nachgewiesen, in einer anderen Studie deutlich häufiger, in Gabun waren 50 % der Haushunde infiziert. In Brasilien betrug die Befallshäufigkeit 7 %, in Thailand 20,5 %. In Australien war T. vulpis mit einer Prävalenz von 41 % der häufigste Fadenwurm bei ausgewachsenen Hunden. Beim Rotfuchs liegt die Befallshäufigkeit bei 0,5 %.Die krankheitsauslösende Wirkung von T. vulpis ist mittelgradig. Befallene Hunde zeigen Durchfall, der blutig, bei weniger schwerem Verlauf mit Schleim durchsetzt ist. Die Tiere magern ab, Jungtiere bleiben im Wachstum zurück, bei starkem Befall kann sich eine Blutarmut entwickeln. Eine sichere Diagnose kann nur über den Einachweis im Kot mittels Flotationsverfahren gestellt werden. === Zwergfadenwurmbefall (Strongyloidiasis) === Die Infektion mit dem Zwergfadenwurm Strongyloides canis kann durch Aufnahme infektiöser Larven über die Muttermilch, perorale Aufnahme oder durch aktives Eindringen der Larven durch die Haut erfolgen. Eine Autoinfektion, also die Infektion des gleichen Tieres durch von ihm ausgeschiedene Larven, ist möglich. S. canis parasitiert im Dünndarm. Die Eier sind etwa 50 µm lang und enthalten bei Ausscheidung mit dem Kot bereits die infektiöse Larve. Bei griechischen Hüte- und Jagdhunden wurde eine Prävalenz von 1,8 % ermittelt, bei Haushunden in Thailand eine von 2 %.Die Strongyloidiasis verursacht bei Welpen akuten bis chronischen Durchfall, gelegentlich auch eine Verstopfung. Die Diagnose kann durch den Nachweis der Eier im Kot mittels Flotationsverfahren gestellt werden. === Magenwurmbefall === Magenwürmer (Physaloptera spp.) gehören zu einer weltweit verbreiteten Gattung von Fadenwürmern, welche die Schleimhaut von Magen und Zwölffingerdarm befallen können. Männliche Würmer sind bis zu 30 mm, weibliche bis zu 40 mm lang. Die Eier sind oval, dickschalig, 55 × 32 µm groß und enthalten bereits eine Larve. Die Larven bilden Zysten in verschiedenen Insekten – insbesondere Käfer, Schaben und Grillen sind Zwischenwirte. Mäuse und Frösche können den Hund als Sammelwirte ebenfalls infizieren. Die Larven schlüpfen im Magen, heften sich direkt an die Schleimhaut und häuten sich zu Adulten (geschlechtsreifen Würmern).Die Magenwürmer verursachen Schäden an der Magenschleimhaut, was zu Gastritis, Blutungen und chronischem Erbrechen führt. Bei starkem Befall kommt es zu Gewichtsverlust und Blutarmut. Der Nachweis der Eier im Kot mit dem Flotationsverfahren ist unsicher, da sie kaum aufschwemmen. Daher gibt es keine systematischen Untersuchungen zur Vorkommenshäufigkeit. Eine sichere Diagnose kann mittels Magenspülproben oder einer Magenspiegelung gestellt werden. === Speiseröhrenwurmbefall === Der Speiseröhrenwurm (Spirocerca lupi) ist ein hellroter Wurm, der zu Knötchen in der Speiseröhrenwand führt. Männliche Würmer messen etwa 40 mm, weibliche Würmer sind ungefähr 70 mm lang. Die Infektion erfolgt peroral über Zwischenwirte (verschiedene Mistkäfer) oder über paratenische Wirte wie Hühner, Reptilien und Nagetiere, welche sich durch den Verzehr der Käfer infiziert haben. Die Larve wandert durch die Wand der Aorta, in der sie etwa drei Monate verbleibt, und von dort in die Speiseröhrenwand, wo sie sich zum adulten Wurm entwickelt. Die Präpatenz beträgt fünf bis sechs Monate. Die Eier sind von zylindrischer Form, haben abgerundete Kappen, eine dünne, glatte Wand und messen 30–37 × 11–15 µm. Zum Zeitpunkt der Ausscheidung befindet sich in ihnen bereits die Larve.Die Infektion ist im Süden der USA sowie in tropischen Ländern verbreitet. In Gabun ließ sich der Parasit bei einem Viertel der Haushunde nachweisen.Die Würmer können während ihrer Wanderung gelegentlich ein Aortenaneurysma verursachen, oft sind befallene Hunde jedoch symptomlos. In der Speiseröhre selbst verursacht S. lupi eine granulomatöse Gewebsreaktion, welche ohne Behandlung sehr oft entartet und dann verschiedene bösartige Tumoren bildet. Neben Plattenepithelkarzinomen und Fibrosarkomen können die Speiseröhrenzellen auch zu Osteosarkomen entarten. Durch die tumorbedingte Raumforderung im Brustkorb kann es zusätzlich auch zu einer hypertrophischen Osteopathie kommen. Diagnostiziert wird ein Befall durch eine Endoskopie. Diese zeigt eine Masse in der Speiseröhre mit Parasiten an den warzenartigen Öffnungen. Bestätigt werden kann die Diagnose durch den Nachweis embryonierter Eier im Kot. === Leberhaarwurmbefall === Der Leberhaarwurm Capillaria hepatica kommt vor allem bei Nagetieren und Hasenartigen vor, Infektionen von Hunden sind selten. Die Infektion erfolgt durch das Fressen der Leber eines Nagetieres. Klinisch treten Symptome wie Bauchbeschwerden und Lebervergrößerung auf, die durch die Wanderung der Larven durch die Leber und die Eiablage entstehen. Eine sichere Diagnose ist nur durch eine Leberbiopsie möglich. == Parasitosen der Atemwege == === Lungenhaarwurmbefall (Capillariasis) === Der Lungenhaarwurm (Capillaria aerophila, Syn.: Eucoleus aerophilus) ist bis zu 25 mm lang und parasitiert in den unteren Luftwegen. Die von den Wurmweibchen produzierten Eier besitzen zwei Polpfröpfe und eine farblose bis grünliche, körnige Schale. Sie gelangen durch Hochhusten und Abschlucken in den Magen-Darm-Kanal und schließlich über den Kot in die Umwelt. Die Infektion erfolgt durch Aufnahme von mit Eiern kontaminierten Futters oder Wasser. Im Darm schlüpfen die Larven und gelangen über den Blutkreislauf in die Lunge. Die Präpatenz beträgt etwa 40 Tage.In Deutschland wurde bei Haushunden eine Befallshäufigkeit von 2,3 % ermittelt, in Österreich von 0,2 %, in Tschechien von 0,6 % und in Kanada von 0,3 %. Bei Rotfüchsen in Südengland wurde für C. aerophila eine Prävalenz von 0,2 % ermittelt, in Dänemark dagegen von 74 %, womit Lungenhaarwürmer zu den am häufigsten vorkommenden Fadenwürmern zählen und Füchse ein bedeutendes natürliches Erregerreservoir für die Ansteckung von Hunden darstellen. Auch andere Raubtiere wie Wölfe, Marderhunde, Marderartige, Luchse und Katzen werden befallen.Der Befall mit dem Lungenhaarwurm ruft nur selten klinische Symptome wie Husten, Niesen und Nasenausfluss hervor. Bei bakterieller Sekundärinfektion können aber auch tödlich verlaufende Bronchopneumonien auftreten. Die Diagnose kann durch eine Kotuntersuchung mittels Flotationsverfahren auf Eier oder durch eine Lungenbiopsie gestellt werden. === Lungenwurmbefall === Der Lungenwurm Crenosoma vulpis ist bis zu 1,6 cm lang und wird indirekt über das Fressen von Zwischenwirten wie Schnecken übertragen. Er besiedelt die Luftröhre und die Bronchien. Hauptwirt ist der Rotfuchs, aber auch Hunde, Marderhunde, Wölfe und Kojoten werden befallen.C. vulpis wurde in Deutschland bei etwa 1 % der Haushunde nachgewiesen, bei Hunden mit Lungensymptomatik bei 2,4 bis 6 % der Tiere. In Kanada wurde eine Befallsrate von 3,2 % ermittelt. Bei Rotfüchsen in Dänemark wurde eine Prävalenz von 17 % ermittelt, in Nordamerika Befallsraten zwischen 25 und 50 % – der Rotfuchs kann also als natürlicher Hauptwirt angesehen werden.Klinisch ist eine Infektion durch chronischen Husten gekennzeichnet und ähnelt einer allergischen Bronchitis.Der Nachweis von C. vulpis in Kotproben mit Standardflotationsverfahren ist relativ unsicher, lediglich 28,5 % der nach dem Larvenauswanderungsverfahren positiven Kotproben führten auch mit dem Standardverfahren zu einem positiven Ergebnis. === Filaroididae === Filaroididae sind eine Gruppe von in der Lunge und der Luftröhre schmarotzenden Fadenwürmern. Die häufigsten Spezies sind Oslerus osleri (Syn. Filaroides osleri), der in der Luftröhre – vor allem in der Gegend der Luftröhrengabel (Bifurcatio tracheae) – parasitiert (Oslerose) und Filaroides hirthi, der das Lungengewebe befällt (Filaroidose). Männliche O. osleri werden etwa 6–7 mm groß, weibliche 10 bis 13 mm. Die Eier messen 80–120 × 60–70 µm, die Larve L1 ist etwa 250 µm lang. F. hirthi ist 2–3 mm (Männchen) bzw. 7–13 mm (Weibchen), die Larve L1 ist 240–290 µm lang. Andersonstrongylus milksi (Syn. Filaroides milksi) ist ein beim Hund seltener Vertreter der Filaroididae und ähnelt in Aussehen, Lebenszyklus und klinischem Bild weitgehend Filaroides hirthi.Die Parasiten verursachen kleine Knötchen im Bereich der Aufzweigung der Luftröhre bzw. im Lungengewebe; abgestorbene Würmer können auch größere Granulome verursachen. Die weiblichen Würmer legen Eier, aus denen die Larven schlüpfen, die sich über fünf Häutungen zum adulten Wurm entwickeln. Die Infektion erfolgt entweder über Eier oder die erste Larve, meist über direkten Kontakt mit Speichel, Nasensekret oder über regurgitierten Mageninhalt bei der Fütterung der Welpen durch die Mutter. Eine Ansteckung über das Fressen von Kot ist möglich, aber selten. Eine Selbstinfektion befallener Tiere ist ebenfalls möglich, da die Würmer keinen Zwischenwirt benötigen. Bei der Infektion wandert die Larve aus dem Darm über Blut- oder Lymphgefäße in den Blutkreislauf, von wo aus sie in die Lunge bzw. Luftröhrenwand gelangt und sich zum adulten Wurm entwickelt. Die Präpatenz für O. osleri beträgt zehn Wochen, für F. hirthi fünf Wochen.Die Vertreter der Filaroididae kommen weltweit vor. O. osleri ist vor allem bei Füchsen und anderen wildlebenden Hundeartigen verbreitet, Infektionen von Haushunden sind selten. F. hirthi wurde erstmals bei Hunden der Rasse Beagle in den USA beobachtet, tritt aber mittlerweile weltweit und auch bei anderen Hunderassen auf, vor allem jedoch bei als Laborhunden gehaltenen Beagles.Die Infektion mit O. osleri ruft eine chronische Entzündung der Luftröhre und Bronchien mit starkem trockenen Husten sowie krankhaften Atemgeräuschen bei der Einatmung hervor. Die Erkrankung manifestiert sich in der Regel erst am Ende des ersten Lebensjahres und spricht auf eine antibiotische Behandlung nicht an. Das gleichzeitige Auftreten ähnlicher Symptome bei der Mutter und ihrer Welpen ist ein Hinweis auf eine solche Infektion. Gelegentlich kann bei Belastung eine anfallsartige Atemnot auftreten. Fieber tritt zumeist nicht auf.Zur Diagnose kann der Nachweis von Knötchen mittels Lungenspiegelung, eventuell auch auf Röntgenbildern des Brustkorbs, sowie der Larven in Lungenspülflüssigkeit oder Luftröhrenabstrichen genutzt werden. Der Nachweis von Larven im Kot mittels Flotationsverfahren ist unsicher, zumal die Larven nur unregelmäßig über den Kot ausgeschieden werden, während der relativ langen Präpatenz überhaupt nicht. == Parasitosen des Blutkreislaufs == === Herzwurmbefall (Dirofilariose) === Erreger der Erkrankung ist Dirofilaria immitis, ein Fadenwurm von 1 mm Dicke und 20–30 cm Länge. Er benötigt für seine Entwicklung einen Zwischenwirt, ein Teil des Entwicklungszyklus – vom Larvenstadium L1 bis L3 (Mikrofilarien) – verläuft in Stechmücken. Die Übertragung auf den Hund erfolgt beim Saugakt. In der Unterhaut entwickelt sich die Larve L4, welche in die Blutbahn eindringt und sich dort zu den erwachsenen Würmern häutet. Die adulten Herzwürmer besiedeln die rechte Herzhälfte, den Lungengefäßstamm und die herznahen Abschnitte der Hohlvenen. Erst etwa sechs Monate nach der Infektion bilden die Weibchen wiederum Mikrofilarien (Larve L1), die mit dem Blut in kleinere Blutgefäße gelangen und beim Saugakt erneut von Mücken aufgenommen werden.Bislang wurden über 70 Stechmückenarten als Überträger nachgewiesen, allerdings keine in Mitteleuropa heimischen Arten. In der Türkei haben 26 % der Haushunde Antikörper gegen D. immitis (Seroprävalenz). In den Südstaaten der USA liegt die Seroprävalenz bei 4 %, in den nördlichen Bundesstaaten bei 1 %. Im australischen Bundesstaat Viktoria wurde bei 8 % der über zwei Jahre alten Hunde Antikörper gegen D. immitis nachgewiesen, in Südkorea beträgt die Seroprävalenz etwa 40 %.Befallene Tiere zeigen mit der Entwicklung der reifen Würmer, also erst etwa sechs Monate nach der Infektion, eine reduzierte Leistungsfähigkeit und ermüden schnell. Es entwickelt sich eine Rechtsherzinsuffizienz mit Überlastung und Erweiterung der rechten Herzseite (Cor pulmonale), die sich in Atemnot, Husten und der Bildung von Ödemen äußert. Infolge der Herzinsuffizienz kann auch ein Leber- und Nierenversagen entstehen.Zur Diagnostik wird vorzugsweise der serologische Nachweis von D.-immitis-Antigen angewendet, der hochspezifisch und sensitiv ist. Darüber können über eine Blutuntersuchung mit Anreicherung oder gelegentlich auch mit einem einfachen Blutausstrich Mikrofilarien mikroskopisch nachgewiesen werden. Allerdings sind diese Nachweise auf die Phasen beschränkt, in denen wirklich Mikrofilarien in größerer Anzahl im Blut vorhanden sind, weshalb sie als aufgrund vieler falsch-negativer Befunde als wenig sensitiv angesehen werden. === Angiostrongylose === Der Französische Herzwurm (Angiostrongylus vasorum) ist ein Parasit des Lungengefäßstamms, der Lungenarterien und der rechten Herzkammer. Die sehr dünnen (170–360 µm), rosafarbenen Würmer werden 1,4 bis 2 cm lang. Die Präpatenz variiert zwischen 35 und 60 Tagen. Hauptsächlicher Endwirt des Parasiten sind Füchse, aber auch Hunde, Wölfe, Kojoten, Dachse, Pampasfüchse, Brasilianische Kampfüchse, Krabbenfüchse und Kleine Pandas werden befallen. Ursprünglich war der Parasit vor allem in Frankreich, Dänemark und Großbritannien verbreitet. Weltweit steigt die Befallshäufigkeit seit einigen Jahren deutlich an, so gibt es endemische Herde auch in den Vereinigten Staaten, Südamerika, Australien und im asiatischen Teil Russlands. Jüngste Zahlen zeigen in Deutschland eine Befallshäufigkeit von 7,4 % bei Tieren mit einer Lungenerkrankung bzw. 0,5 % der Gesamthundepopulation. Weibliche Würmer legen undifferenzierte Eier, die über die Blutbahn in die Lungenkapillaren gelangen, wo die Larven L1 schlüpfen und in die unteren Luftwege auswandern. Die Larven werden ausgehustet, abgeschluckt und mit dem Kot ausgeschieden. Die Ausscheidungsdauer (Patenz) beträgt bis zu fünf Jahre. In Zwischenwirten (verschiedene Schneckenarten) entwickeln sie sich zur infektiösen Larve L3. Nach Aufnahme dringen die Larven in die Darmwand ein und entwickeln sich in den Lymphknoten der Bauchhöhle weiter. Danach gelangen sie auf dem Blutweg in die rechte Herzkammer und die Lungenarterien, wo sie sich zu den adulten Würmern häuten.Die Larven erreichen die Lungenarterien zehn Tage nach der peroralen Infektion und verursachen schwere Lungenveränderungen und Störungen der Blutgerinnung auftreten. Gelegentlich wandern die Würmer und Larven auch in andere Organe (Larva migrans). Klinisch zeigen befallene Hunde eine langsam fortschreitende Einschränkung der Herz- und/oder Lungenfunktion. Chronischer Husten, Atemnot, Nahrungsverweigerung und Gewichtsabnahme, Durchfall, zentralnervöse Symptome und Gewebsblutungen sind ebenfalls häufige Symptome. Die Diagnose wird durch den Nachweis der Larve L1 im Kot mittels Larvenauswanderungsverfahren gestellt. Das zeitaufwändige Larvenauswanderungsverfahren kann durch serologische (Sandwich-ELISA) oder PCR-Nachweis ersetzt werden. Für den serologischen Nachweis ist ein Schnelltest (IDEXX Angio Detect) verfügbar. == Parasitosen der Harnorgane == === Riesennierenwurmbefall === Der Riesennierenwurm (Dioctophyme renale; Syn. Dioctophyma renale) ist der größte bekannte parasitische Fadenwurm und kann beim Hund die Niere, gelegentlich auch die Bauchhöhle befallen. Weibliche Würmer erreichen Längen von über einem Meter bei einem Durchmesser von bis zu 12 mm; männliche Würmer messen 20 cm auf 6–8 mm. Beide Geschlechter haben eine blutrote Farbe. Der Parasit ist weltweit verbreitet, in Europa allerdings selten. Er ist nicht auf den Hund als Endwirt beschränkt, sondern kann die meisten Säugetiere (inklusive Mensch) befallen. Zur Fortpflanzung und Eiausscheidung kann es nur kommen, wenn dieselbe Niere sowohl von einem weiblichen als auch von einem männlichen Wurm befallen ist und die Würmer das Nierenbecken bereits perforiert haben. Über das Nierenbecken werden Eier mit dem Urin ausgeschieden. Diese Eier sind oval bis zylindrisch, gelbbraun, dickwandig, mit rauer, genoppter Oberfläche und 71–84 × 45–52 µm groß. Die Eier embryonieren je nach Umgebungstemperatur innerhalb von zwei Wochen bis drei Monaten und sind dann für Zwischenwirte infektiös.Die Infektion erfolgt über den Verzehr von Zwischenwirten oder paratenischen Wirten, welche Zysten mit Larven des Parasiten enthalten. Zwischenwirte sind Regenwürmer und wasserlebende Wenigborster, in denen die Larve L1 schlüpft und sich bis zur Larve L3 entwickelt; paratenische Wirte sind Süßwasserfische oder Frösche, in denen sich die Larve L3 im Muskelfleisch einkapselt. Die Larve wird im Verdauungstrakt des Endwirts aus ihrer Zyste freigesetzt, durchdringt die Darmwand und wandert für etwa 50 Tage in die Leber. Im Anschluss daran dringt sie direkt durch die Bauchhöhle in die Niere ein, wo sie sich zum adulten Wurm entwickelt. Dabei ist die rechte Niere häufiger betroffen als die linke. Bei Hunden verbleibt der Parasit allerdings recht häufig in der Bauchhöhle, was für den Hund weniger gravierende Folgen hat als ein Befall der Niere. Die befallene Niere wird durch den Parasiten langsam zerstört, der dabei üblicherweise auch das Nierenbecken perforiert. Da Eier im Urin sehr selten auftreten, ist deren Nachweis zur Diagnostik ungeeignet. Ein Nierenwurmbefall kann mittels Sonografie nachgewiesen werden. === Harnblasenhaarwurmbefall === Der Harnblasenhaarwurm Capillaria plica ist 13 bis 60 mm lang und besiedelt die Harnblase, gelegentlich auch den Harnleiter und das Nierenbecken. Die Eier sind 63–68 × 24–27 µm groß, bedeckelt und haben eine leicht aufgeraute Schale. Sie werden über den Urin ausgeschieden. Als Zwischenwirte dienen Regenwürmer, in denen sich die infektiöse Larve L1 entwickelt. Die Ansteckung erfolgt durch Aufnahme der Zwischenwirte oder indirekt über Sammelwirte.Bei Haushunden in größeren Zwingern können bis zu drei Viertel der Tiere befallen sein. Bei Rotfüchsen in Dänemark wurde eine Prävalenz von 80 % festgestellt, womit Harnblasenhaarwürmer die am häufigsten vorkommenden Fadenwürmer waren und Füchse ein bedeutendes natürliches Erregerreservoir für die Ansteckung von Hunden darstellen.C. plica ruft selten Krankheitserscheinungen hervor. Bei stärkerem Befall kann es zu einer Harnblasenentzündung mit Harndrang und Harninkontinenz kommen. Die Diagnose kann durch den Einachweis im Urin gestellt werden, allerdings aufgrund der langen Präpatenz nicht bei Tieren, die jünger als acht Monate sind. == Parasitosen der Haut == === Peloderose === Pelodera strongyloides (Syn. Rhabditis strongyloides) ist ein normalerweise frei lebender Fadenwurm, der weltweit in feuchtem, faulendem organischen Material vorkommt und dessen Larve L3 gelegentlich die Haut von Hunden befällt. Die Ansteckung erfolgt durch direkten Kontakt mit larvenhaltigem Material in feuchten und verschmutzten Liegeplätzen (beispielsweise bei der Verwendung von feuchtem Stroh als Einstreu). Es ist unklar, ob die Larven in die gesunde Haut eindringen können; jedenfalls begünstigen bereits bestehende Hauterkrankungen und feuchte, die Haut aufweichende Verhältnisse die Infektion. Die Larven schmarotzen in den Haarfollikeln und den oberen Schichten der Lederhaut.Die Läsionen sind normalerweise auf diejenigen Hautteile beschränkt, die in direktem Kontakt mit dem infektiösen Material waren, meistens also Bauch, Unterbrust und Extremitäten. Die betroffene Haut ist gerötet, mäßig bis stark entzündet und teilweise bis völlig haarlos. Es besteht ein ausgeprägter Juckreiz, der zu weiteren Hautläsionen (Krustenbildung) und bakteriellen Sekundärinfektionen führen kann. Normalerweise ist die Krankheit selbstlimitierend, auch weil der Hund für die Würmer einen Fehlwirt darstellt. Die Diagnose wird durch ein Hautgeschabsel gestellt, in dem die etwa 600×38 µm messenden Larven mit dem Mikroskop leicht erkannt werden können. === Drakunkulose === Dracunculus insignis ist ein vor allem in Nordamerika vorkommender Fadenwurm, dessen Hauptwirt Waschbären darstellen. Der Medinawurm (D. medinensis) kommt in Asien und Afrika vor und befällt zahlreiche Säugetiere einschließlich des Menschen. Beide Parasiten kommen in diesen Gebieten gelegentlich auch beim Haushund vor. Die Infektion erfolgt peroral durch Aufnahme von Wasser mit Hüpferlingen, die als Zwischenwirt dienen, oder indirekt über die Aufnahme von Sammelwirten wie Fröschen. Die Larven werden bei der Verdauung freigesetzt und bohren sich durch die Darmwand. Weibliche Würmer wandern nach der Paarung in die Unterhaut. Hier bilden sie schmerzhafte und teilweise fistelnde Pseudozysten, die bei Kontakt mit Wasser aufplatzen und die etwa 0,5 mm langen Larven freisetzen. Die Diagnose kann durch den Nachweis der Larven oder der Wurmweibchen in solchen Zysten erfolgen. === Kutane Dirofilariose === Dirofilaria repens ist ein Parasit des Unterhautgewebes bei Hunden. Als Zwischenwirt und Überträger fungieren Stechmücken. Er kommt vor allem in Süd-, südlichem Ost- und Westeuropa sowie weiten Teilen Asiens vor, breitet sich aber immer weiter nach Nordeuropa aus und wird auch in Deutschland zunehmend nachgewiesen.Der Befall mit D. repens verursacht gelegentlich Hautknoten, Schwellungen, Juckreiz, Abszesse und Haarausfall, verläuft aber oft auch völlig ohne klinische Symptome. Zur Diagnose kann die Saure-Phosphatase-Reaktion angewendet werden. === Seltene Filariosen === Acanthocheilonema reconditum (Syn. Dipetalonema reconditum) kommt in den USA und Südeuropa vor. Die Befallsraten liegen in Süditalien bei 16,5 %, in Griechenland bei bis zu 8 %. Als Überträger dienen der Katzen- und der Hundefloh. Die Würmer parasitieren vor allem in der Unterhaut, ein kleiner Teil der Parasiten ist auch in inneren Organen zu finden.Cercopithifilaria grassi (Syn. Dipetalonema grassi, Acanthocheilonema grassi) kommt in Südeuropa vor, in Griechenland sind etwa 1 % der Hunde befallen. Überträger ist die Braune Hundezecke. Die Larven (Mikrofilarien) parasitieren in der Haut.Dipetalonema dracunculoides (Syn. Acanthocheilonema dracunculoides) kommt in Afrika und Spanien vor. In Afrika sind vor allem Lausfliegen die Überträger, in Spanien, wo die Prävalenz bei 1,5 % liegt, die Braune Hundezecke. Die Präpatenz beträgt 2–3 Monate. == Parasitosen der Augen == === Thelaziose === Die Thelaziose wird durch Vertreter der Gattung Thelazia hervorgerufen. Es handelt sich um weißliche Fadenwürmer von etwa 1,5 cm Länge. Thelazia callipeda ist vor allem im Fernen Osten (Japan, China, Korea, Indien und Russland) verbreitet, aber auch in einigen Regionen Italiens mit Befallsraten von bis zu 60 % ein häufiger Erreger von Augenerkrankungen. In der Schweiz und Frankreich kommt es in jüngerer Zeit vermehrt zu Einzelfällen. In Deutschland wurden bislang vier Fälle dokumentiert, drei davon nach einem Aufenthalt in Italien. Thelazia californiensis ist in Kalifornien verbreitet. Die Biologie dieser Fadenwürmer ist nicht endgültig geklärt, als Überträger werden Fliegen vermutet, die die Larve L1 aufnehmen und in denen die Entwicklung bis zur infektiösen Larve L3 stattfindet.Thelazien parasitieren am Augapfel unter der Nickhaut sowie in den Tränenwegen und verursachen eine Bindehautentzündung und vermehrten Tränenfluss. Auch eine Verlegung der Tränenwege oder eine Hornhautentzündung kann auftreten. Bei starkem Befall sind die Würmer bereits mit bloßem Auge sichtbar. Eine sichere Diagnose kann durch den Nachweis der Würmer oder ihrer Larven in Augenspülproben oder einem Bioptat der Tränendrüse erfolgen. === Onchozerkose === Erreger der Onchozerkose der Hunde ist Onchocerca lupi. Die Erkrankung kommt in Nordamerika und einigen Ländern Europas (Griechenland, Ungarn) vor, ist aber selten – bislang wurden 64 Fälle beschrieben. Die Würmer rufen erbsen- bis bohnengroße granulomatöse Knötchen in der Sclera, der Augenumgebung und Bindehaut hervor. Unter Umständen kann sich eine lymphoplasmazytäre Entzündung der mittleren Augenhaut entwickeln. Die Diagnose kann durch den Nachweis der Würmer in den Knötchen gestellt werden. == Sonstige Parasitosen == === Trichinenbefall (Trichinellose) === Trichinen (Trichinella spp.) sind eine Gattung von Fadenwürmern, deren Larven in die Skelettmuskulatur einwandern. Trichinen haben keine Außenweltphase, die Infektion erfolgt durch den Verzehr von rohem Muskelfleisch eines befallenen Tieres. In Europa ist Trichinella spiralis bei Haustieren am weitesten verbreitet, darüber hinaus kommen Trichinella britovi und Trichinella nativa beim Hund vor. Im Darm werden das Muskelfleisch und die Zystenkapseln verdaut, wodurch die Larven freigesetzt werden und in die Schleimhaut von Zwölffinger- und Leerdarm eindringen. Dort entwickeln sie sich innerhalb von etwa vier Tagen zur adulten Trichine. Nach der Paarung bohren sich die weiblichen Würmer tiefer in die Schleimhaut und legen über vier bis 16 Wochen bis zu 1500 Eier pro Individuum. Die geschlüpften Larven sind etwa 100 Mikrometer lang. Sie wandern zunächst in die Lymphgefäße und danach über die Pfortader ins periphere Blutgefäßsystem. Sobald sie dabei die Muskulatur erreichen, verlassen sie das Blutgefäß und bohren sich in eine einzelne Muskelfaser. Dort wachsen sie rasch auf eine Länge von 1 mm heran, kapseln sich ein und beginnen die typische eingerollte Form anzunehmen. Die Kapselbildung im Muskelgewebe beginnt etwa 15 Tage nach der Infektion und ist nach vier bis acht Wochen abgeschlossen – das Fleisch des Wirts ist dann infektiös. Die Larven können in den Muskeln eines Wirts über Jahre hinweg infektiös bleiben; am häufigsten findet man sie in Zwerchfell, Zunge, Kaumuskeln und Zwischenrippenmuskeln.Zur Häufigkeit des Trichinenbefalls bei Hunden existieren nur wenig Daten. In Finnland, das eine sehr hohe Prävalenz von Trichinen bei Wildtieren aufweist, wurde bei Hunden serologisch eine Befallshäufigkeit zwischen 4,9 % und 8,6 % festgestellt. In derselben Studie wurden aber bei lediglich einem von 102 Hunden Zysten in der Muskulatur nachgewiesen. In China, wo Hunde zum menschlichen Verzehr geschlachtet werden, wurden im Rahmen der Trichinenschau bei durchschnittlich 16,2 % der geschlachteten Hunde Trichinen festgestellt, wobei die Prävalenz je nach Region zwischen 1,2 und 44,8 % schwankte. === Waschbärspulwurmbefall === Der Waschbärspulwurm (Baylisascaris procyonis) ist ein Verwandter des Hundespulwurms (Toxocara canis, siehe oben), der sich auf den Waschbären als Endwirt spezialisiert hat. In Deutschland sind 70 % aller Waschbären mit dem Parasiten infiziert. Infektionen des Hundes als Endwirt und Eiausscheider sind aus den USA bekannt, in ihrer Häufigkeit tendenziell zunehmend und stellen eine beträchtliche Zoonosegefahr dar. Klinisch schwerwiegender ist jedoch der Befall des Hundes als Fehlwirt durch die Aufnahme von Eiern. Die Larve des Waschbärspulwurms wandert sehr häufig in das zentrale Nervensystem des Fehlwirtes und verursacht dort schwere neurologische Ausfallerscheinungen, die tödlich sein können. == Bekämpfung == Die meisten Infektionen sind für erwachsene Hunde eher harmlos, da sich bei intaktem Immunsystem ein Erreger-Wirt-Gleichgewicht einstellt. Da aber einige von ihnen gesundheitliche Störungen auslösen können und einige auch eine potentielle Gefahr für den Menschen darstellen, sind regelmäßige Wurmkuren bei Hunden durchaus sinnvoll. Vor allem für Hunde in größeren Haltungen, Jungtiere, Hunde mit Kontakt zu anderen Tieren, Jagdhunde, Streuner und Tiere, die mit rohen Fleischprodukten gefüttert werden, besteht ein höheres Infektionsrisiko. Der European Scientific Counsel Companion Animal Parasites (ESCCAP) – die europäische Vereinigung der Fachleute für Parasiten bei Hund und Katze – hat daher Empfehlungen für die Bekämpfung der Wurminfektionen herausgegeben. Diese werden durch nationale tiermedizinische Fachgesellschaften an regionale Besonderheiten angepasst. In den Vereinigten Staaten gibt es ebenfalls solche Leitlinien, die hier vom Companion Animal Parasite Council (CAPC) herausgegeben werden. Die zuletzt im Juli 2014 nach den ESCCAP-Richtlinien für Deutschland angepassten Empfehlungen zielen darauf, Hunde „(…) durch eine fachgerechte Diagnostik, Medikation und Prävention vor Infektionen mit Würmern und deren Folgen zu schützen“. Eine regelmäßige Bekämpfung wird vor allem für Spulwürmer empfohlen. Da Hundewelpen bereits bei der Geburt mit Spulwürmern infiziert sein können, sollten sie ab einem Alter von zwei Wochen alle 14 Tage bis zum Absetzen entwurmt werden. Säugende Hündinnen sollten bei der ersten Welpenentwurmung ebenfalls behandelt werden. Einen sicheren Schutz vor der Weitergabe von Spulwürmern bietet nur die monatliche Entwurmung. Ein monatlicher Turnus kann laut ESCCAP bei Hunde, die viel Kontakt zu anderen Hunden haben, regelmäßig unbeaufsichtigten Auslauf haben oder engen Kontakt in Familien mit Kleinkindern haben, erwogen werden. Prinzipiell sollte aber für jedes Tier eine individuelle Risikobewertung erfolgen. Sofern dies nicht möglich ist oder wenn Infektionen nicht durch diagnostische Untersuchungen ausgeschlossen werden können, wird eine viermalige Entwurmung pro Jahr angeraten. Für besondere Ereignisse, z. B. einen Sportwettkampf oder eine Ausstellung, empfiehlt die ESCCAP einmal ca. vier Wochen vorher sowie nochmals zwei bis vier Wochen nach dem Ereignis zu entwurmen. Für die Behandlung gegen Spulwürmer sind in Deutschland für Haushunde Arzneimittel auf der Basis von Emodepsid, Fenbendazol, Flubendazol, Mebendazol, Milbemycinoxim, Moxidectin, Pyrantel und Selamectin zugelassen. Diese Arzneistoffe sind Breitbandanthelminthika und entfalten eine Wirkung auch gegen die meisten anderen bei Hunden vorkommenden Fadenwürmer. Für die Behandlung trächtiger Hündinnen ist derzeit kein Präparat zugelassen, obwohl experimentelle Untersuchungen zeigten, dass die Anwendung von Selamectin oder Emodepsid in der Trächtigkeit einer Infektion der ungeborenen Welpen wirksam vorbeugt. Die Herzwurmbekämpfung spielt in Deutschland nur eine Rolle bei Hunden, die ins endemische Ausland (u. a. süd- und osteuropäische Länder) verbracht werden sollen oder von dort kommen. Zur Therapie und Prophylaxe der Herzwurmerkrankung sind derzeit Moxidectin, Milbemycinoxim und Selamectin zugelassen. Außerdem empfiehlt sich bei Reisen in Herzwurm-Endemiegebiete ein Schutz mit insektenabweisenden Mitteln (Repellentien) wie Permethrin oder Deltamethrin. Um den Infektionsdruck mit Würmern generell zu minimieren, ist auch die Bekämpfung der Parasiten in der Umwelt wichtig. Kot sollte täglich eingesammelt und über den Hausmüll entsorgt werden. Spulwurmeier sind im feuchten Boden beispielsweise bis zu vier Jahre, Peitschenwurmeier über sechs Jahre infektiös. Diese Eier haben eine hohe Tenazität, sind aber gegenüber längerfristigen Temperaturen über 35 °C und Trockenheit empfindlich. Regelmäßige Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen sind unbedingt empfehlenswert. Fußböden können mit einem Dampfreiniger mit über 60 °C effektiv gereinigt werden, auf eine gute anschließende Trocknung sollte geachtet werden. Das Abflammen des Zwingerbodens sorgt für eine Beseitigung oder zumindest Verminderung der infektiösen Eier und Larven. Die meisten Desinfektionsmittel sind nicht gegen Fadenwurmeier wirksam, auch Handdesinfektionsmittel nicht, weshalb beim Umgang mit Kot Handschuhe getragen werden sollten. == Gefahren für den Menschen == Der Mensch ist für den Hundespulwurm Toxocara canis und den Hundehakenwurm (Ancylostoma caninum) ein Fehlwirt, das heißt, die Larven schädigen befallene Organe, aber es findet keine Entwicklung zu adulten Würmern statt. Beide sind in Mitteleuropa die wichtigsten Zoonoseerreger unter den Fadenwürmern des Hundes. Die Infektion mit T. canis erfolgt meist über eine Schmierinfektion durch perorale Aufnahme von mit Hundekot verunreinigtem Erdreich. Landwirte, Gärtner, Kanalarbeiter, Tierärzte und Kleinkinder (Spielen im Sandkasten) sind besonders gefährdet. In Österreich wurde bei 3,7 % der Gesunden Antikörper gegen T. canis nachgewiesen (Seroprävalenz), bei Personen in exponierten Berufen bei 44 %. In der Slowakei wurde bei gesunden Blutspendern aus städtischen Gebieten eine Seroprävalenz von 12 %, bei solchen aus ländlichen Gebieten von 17 % ermittelt. In den USA ist 14 % der Bevölkerung seropositiv. Eine ägyptische Studie ermittelte bei gesunden Erwachsenen eine Seroprävalenz von 18 %, eine ähnlich hohe Infektionsrate wurde bei Kindern aus ländlichen Regionen in China ermittelt. In Jordanien liegt die Seroprävalenz bei 11 %, in Nigeria bei 30 %, in ländlichen Gebieten Argentiniens bei 23 %. Diese Seroprävalenzen zeigen jedoch nur an, welcher Prozentsatz der Bevölkerung eine Infektion durchlebt hat. Eine solche Infektion muss aber nicht zwangsläufig in eine Krankheit münden, sondern kann vom Immunsystem auch ohne Krankheitserscheinungen abgewehrt werden. In Sandkästen europäischer Großstädte wurde eine Kontamination mit Wurmeiern in 10–100 % der Proben ermittelt. Erkrankungen treten vor allem bei Kindern und Jugendlichen auf. Die Larven des Hundespulwurms können als Eingeweidewanderlarven (Larva migrans visceralis) verschiedenste Organe befallen und dort schwere Gewebsschädigungen verursachen. Am häufigsten sind Augen, Lunge, Leber und Zentralnervensystem betroffen.Die Larven von A. caninum können beim Barfußlaufen über mit Hundekot verschmutzten Böden durch die Haut eindringen. Dort rufen sie als Wanderlarven (Larva migrans cutanea, „Hautmaulwurf“) stark juckende Hautrötungen hervor. Die durch die Larven gebohrten Gänge sind oft mit bloßem Auge erkennbar. Die Erkrankung heilt meist spontan aus, was allerdings Monate dauern kann. Infektionen dieser Art sind in Mitteleuropa aber selten, in tropischen und subtropischen Regionen aber eine der häufigsten Hauterkrankungen. Darüber hinaus kann A. caninum auch eine Darmentzündung mit Anzeichen eines akuten Bauchs auslösen.Von den Filarien sind der Herzwurm (Dirofilaria immitis) und Dirofilaria repens Zoonoseerreger. D. immitis ist für den Menschen nur selten krankheitsauslösend, obwohl etwa 20 % der Bevölkerung in Endemiegebieten Antikörper aufweisen. Zumeist kommt es zu einer Abkapselung der Larven in der Lunge. Für D. repens sind mehr als 400 Fälle beschrieben, in Europa vor allem in Italien und Frankreich. Die Seroprävalenz beim Menschen liegt in Italien bei 68 %, in Frankreich bei 22 %. Die adulten Würmer wandern vor allem in die Unterhaut, können sich aber in alle möglichen Organe einnisten.Der Hund stellt für die Verbreitung der Trichinellose nur in wenigen Regionen der Welt eine Rolle. In China ist der Verzehr von Hundefleisch eine wichtige Infektionsquelle für den Menschen. Für den Befall mit dem Augenwurm (Thelaziose) sind bislang vier Fälle beim Menschen in Italien und Frankreich beschrieben, insbesondere unter der ärmeren Bevölkerung in Asien ist die Erkrankung aber weit verbreitet. Darüber hinaus können Hunde zur Verbreitung von nicht wirtsspezifischen Parasiten wie dem Riesennieren- oder Medinawurm beitragen. Die epidemiologische Bedeutung des Haushundes für Infektionen des Menschen ist für diese Parasiten allerdings bislang nicht untersucht. Um zoonotische Wurminfektionen bei Menschen zu vermeiden, ist Hygiene eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen. Dazu gehört u. a. Händewaschen, Entsorgung von Hunde- und Katzenkot sowie auch Verzicht auf den Verzehr von ungewaschenem Gemüse. == Literatur == Johannes Eckert et al. (Hrsg.): Lehrbuch der Parasitologie für die Tiermedizin. Enke-Verlag, 2. Auflage 2008, ISBN 978-3-8304-1072-0. Thomas Schnieder (Hrsg.): Veterinärmedizinische Parasitologie. Paul Parey, 6. Auflage 2006, ISBN 3-8304-4135-5. Peter F. Suter und Barbara Kohn (Hrsg.): Praktikum der Hundeklinik. Paul Parey, 10. Aufl. 2006, ISBN 978-3-8304-4141-0. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Fadenwurminfektionen_des_Hundes
Justizanstalt
= Justizanstalt = Der Begriff Justizanstalt (JA) bezeichnet in Österreich alle Gefängnisse des judikativen Strafvollzugs. Diese Einrichtungen sind dem Bundesministerium für Justiz unterstellt und für den Vollzug von Freiheitsstrafen und Untersuchungshaft oder den Maßnahmenvollzug ausgelegt. Bei Justizanstalten wird gesetzlich zwischen gerichtlichen Gefangenenhäusern, Strafvollzugsanstalten und Sonderanstalten unterschieden. Maßgeblich für den Vollzug von Freiheitsstrafen in Österreich ist dabei das Strafvollzugsgesetz (StVG) sowie das vom Ministerium erlassene Vollzugshandbuch (VZH). Neben der Durchführung der Strafhaft werden in den österreichischen Justizanstalten auch Untersuchungshäftlinge und Inhaftierte des Maßnahmenvollzugs untergebracht. Vergleichbare Einrichtungen in Deutschland werden als Justizvollzugsanstalten bezeichnet, in der Schweiz heißen die der Justiz unterstellten Gefängnisse Strafanstalten. == Österreichisches Strafvollzugswesen == === Konzept und Zweck === Im Strafvollzugsgesetz (StVG) definiert der § 20 den Zweck des Strafvollzugs. In Österreich liegt dem Strafvollzug kein Rachegedanke, sondern ein Resozialisierungsgedanke zu Grunde. Die Häftlinge sollen während ihrer Haftzeit darauf hingewiesen werden, dass ihr Handeln falsch und verwerflich war. In diesem Sinne liegt der Grundgedanke des österreichischen Strafvollzugs in der Wiedereinführung der Straftäter in die Gesellschaft. Die Abschließung der Gefangenen wird ebenso hauptsächlich zu diesem Zweck sowie zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung innerhalb der Justizanstalt durchgeführt. Dies ist in § 20 Abs. 2 StVG definiert. Eine totale Abschließung ohne Aussicht auf Bewährung, wie dies teilweise in Supermax-Gefängnissen in den Vereinigten Staaten praktiziert wird, widerspricht der Selbstdefinition des österreichischen Strafvollzugs. Diesem Konzept folgt allerdings nicht die Unterbringung im Maßnahmenvollzug. Häftlinge des Maßnahmenvollzugs sind zwar ebenfalls dem Resozialisierungsgedanken unterworfen, allerdings zielen die Maßnahmen meistens gegen die Gefährlichkeit der Täter ab. Daher ist der Zweck einer Unterbringung im Maßnahmenvollzug meistens der Schutz der Gesellschaft vor dem Straftäter bzw. dessen „geistiger oder seelischer Abartigkeit“ sowie der Versuch der Heilung von selbiger. Im Maßnahmenvollzug gegen entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher ist der Zweck der Unterbringung wiederum der, den Gefangenen vom „Mißbrauch berauschender Mittel oder Suchtmittel zu entwöhnen“. Dagegen sind gefährliche Rückfallstäter ausschließlich aufgrund ihrer „schädlichen Lebenseinstellung“ im Maßnahmenvollzug untergebracht, sind also von der Gesellschaft fernzuhalten. === Haftgründe und -arten === In Österreich wird zwischen acht verschiedenen Arten der Unterbringung in Haft unterschieden. Dabei werden nicht alle Arten in Justizanstalten (wozu Strafvollzugsanstalten, gerichtliche Gefangenenhäuser und Sonderanstalten zählen) vollzogen, sondern auch in Arrestzellen der Polizeiinspektionen und in Polizeianhaltezentren. Verwahrungshaft ist eine vorläufige, maximal 48 Stunden dauernde, Unterbringung in einer Arrestzelle bei begründetem Straftatverdacht bis zur Überstellung in die Untersuchungshaft. Untersuchungshaft ist eine Haftart, in der einer Straftat verdächtigte Personen maximal bis zu zwei Jahre beziehungsweise bis zum Beginn ihrer strafgerichtlichen Hauptverhandlung angehalten werden können. Diese wird in den gerichtlichen Gefangenenhäusern vollzogen. Strafhaft entsteht durch ein gerichtliches Urteil oder durch eine Ersatzfreiheitsstrafe im Fall von uneinbringlichen Geldstrafen. Sie wird entweder in einem gerichtlichen Gefangenenhaus oder in einer Strafvollzugsanstalt vollzogen. Unterbringung im Maßnahmenvollzug ist eine vorbeugende, freiheitsentziehende Maßnahme, die zusätzlich zur fälligen Freiheitsstrafe ausgesprochen und in den Sonderanstalten des Strafvollzugs vollzogen wird. Verwaltungsstrafhaft von 12 Stunden bis zu 6 Wochen kann für verwaltungsstrafrechtliche Tatbestände oder für uneinbringliche Geldstrafen aus dem Verwaltungsstrafrecht verhängt werden. Sie wird in der Regel in Polizeianhaltezentren vollzogen. Polizeiliche Haft ist eine Form der vorläufigen, maximal 24 Stunden dauernden Unterbringung in einer Arrestzelle aufgrund eines Verfahrens wegen eines Delikts des Verwaltungsstrafrechts. Fremdenpolizeiliche Haft bedeutet die unmittelbare Unterbringung von Personen in Arrestzellen der Polizei zur anschließenden Vorführung bei der Fremdenpolizeibehörde. Schubhaft ist die Inhaftierung von zur Abschiebung nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 vorgesehenen Personen in einem Zeitraum von maximal 18 Monaten in einem Polizeilichen Anhaltezentrum. === Besonderheiten des Strafvollzugs === ==== Rechtshilfe Liechtenstein ==== Mit dem Vertrag zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über die Unterbringung von Häftlingen wurde vereinbart, dass auch von Liechtensteiner Gerichten verhängte Haftstrafen in österreichischen Justizanstalten abgebüßt werden. Da das Fürstentum Liechtenstein über keine eigenen Strafvollzugsanstalten verfügte, wurden sämtliche Häftlinge des Kleinstaats für die Dauer ihrer Haftstrafe an die österreichische Justiz überstellt und in österreichischen Justizanstalten untergebracht. Mittlerweile verfügt das Fürstentum über ein eigenes Landesgefängnis mit 20 Haftplätzen, welches eine Zeit lang auch Häftlinge mit einer Haftdauer von unter zwei Jahren aufnahm. Da das Liechtensteinische Landesgefängnis aber nicht mehr internationalen Anforderungen genügte, wurde 2017 in einem memorandum of understanding zwischen der Liechtensteinischen und der österreichischen Regierung vereinbart, dass sämtliche Strafgefangene und Inhaftierte des Maßnahmenvollzugs der österreichischen Justiz überstellt werden. Dies ist nur möglich, wenn der Gefangene wegen einer Tat verurteilt wurde, die auch in Österreich strafbar ist und seine Haftdauer die nach österreichischem Recht maximal festgelegte Haftdauer nicht überschreitet. Darüber hinaus dürfen die Häftlinge keine politisch oder steuerrechtlich verurteilten Straftäter sein. Der Vertrag wurde am 4. Juni 1982 vom damaligen österreichischen Justizminister, Christian Broda und dem Liechtensteiner Regierungschef, Hans Brunhart unterzeichnet. Die Ratifikationsurkunden zwischen Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, gegengezeichnet durch Bundeskanzler Fred Sinowatz, und Fürst Franz Josef II. wurde am 9. Juni 1983 übergeben. Daraufhin trat das Rechtshilfeabkommen am 1. September 1983 in Kraft.Im Jahr 2012 waren 15 liechtensteinische Häftlinge mit insgesamt 4338 Hafttagen in österreichischen Strafvollzugsanstalten untergebracht. Dies entsprach knapp 25 Prozent der Gesamtauslastung des liechtensteinischen Landesgefängnisses. ==== Haftentlastungsprogramm ==== Im Sommer 2007 schlug die damalige Justizministerin Maria Berger vor, zur Entlastung der überfüllten österreichischen Justizanstalten ein Haftentlastungsprogramm zu beginnen. Dieses sah unter anderem vor, dass Personen, welche zu einer Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt wurden, diese nicht antreten, sondern stattdessen gemeinnützige Arbeit verrichten müssen. Das Motto dieser Aktion wurde von der Justizministerin mit „Schwitzen statt Sitzen“ festgelegt. Weitere Punkte des Maßnahmenpakets waren die Ausweitung bedingter Entlassungen durch die Aufhebung der Generalprävention bei der Zwei-Drittel-Entlassung, mehr Weisungen und Bewährungshilfe, das Absehen von der Durchführung der Freiheitsstrafe bei gleichzeitiger Ausweisung und Aufenthaltsverbot sowie die Einführung der elektronischen Fußfessel im österreichischen Strafvollzug. Obwohl der Koalitionspartner der SPÖ in der Bundesregierung Gusenbauer, die ÖVP, zunächst skeptisch auf den Vorschlag reagierte, signalisierten letztlich auch Politiker der Volkspartei Zustimmung zum Haftentlastungsprogramm. Lediglich die Parteien BZÖ und FPÖ lehnten die Einführung ab. Die Justizministerin entgegnete den Kritikern des Programms, dass sie sich nicht erwarte, dass viele Verurteilte das Programm in Anspruch nehmen werden, vielmehr erwarte sie einen Anstieg bei jenen Personen, die ihre Schulden letztlich doch bezahlen, um der „drohenden“ Arbeit zu entgehen. So sollten laut der Ministerin bis zu 10.000 Haftplätze eingespart werden.Am 7. November 2007 wurde die Gesetzesvorlage vom Ministerrat abgesegnet und dem Nationalrat übergeben. Dieser genehmigte den Gesetzesvorschlag mit einer Reihe anderer Gesetzesänderungen in seiner Sitzung am 5. Dezember. Das neue Haftentlastungspaket erlangte damit am 1. Jänner 2008 Rechtsgültigkeit. Aufgrund der massiven Überbelastung der österreichischen Justizanstalten wurde mit den ersten bedingten Entlassungen bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes begonnen.In einer Aussendung von Justizministerin Berger im Juli 2008, in der sie eine Bilanz über ihre bisherige Amtszeit zog, bezeichnete diese das Haftentlastungsprogramm als vollen Erfolg. So sind die durchschnittlichen Inhaftierungszahlen von 8.850 bis 9.100 im Jahr 2007 auf bis zu 8.044 Personen Anfang Juli 2008 abgesunken. Gleichzeitig stieg – ebenfalls als Auswirkung des Haftentlastungsprogramms – die Zahl der bedingten Entlassungen von 923 im ersten beziehungsweise 845 Personen im zweiten Halbjahr 2007 auf 1.584 bedingt Entlassene im ersten Halbjahr 2008. Von der neu geschaffenen Möglichkeit der Ausreise für inhaftierte Nicht-Österreicher inklusive Rückkehrverbot machten 152 Personen aus 30 verschiedenen Nationen im ersten Halbjahr 2008 Gebrauch. ==== Justizbetreuungsagentur ==== Im April 2008 wurde bekannt, dass das Bundesministerium für Justiz plante, einen eng eingegrenzten Teilbereich der Strafvollzugsaufgaben an ein privates Unternehmen abzugeben. Mit der neu geschaffenen Justizbetreuungsagentur sollte es dann laut den Plänen der Justizministerin möglich sein, vermehrt Fachärzte und Psychologen in den Justizanstalten über diese Agentur anzustellen. Auslöser dieser Neuüberlegung waren besonders die gestiegenen Kosten bei der Betreuung der im Maßnahmenvollzug gegen geistig abnorme Rechtsbrecher Untergebrachten. Da das Justizministerium mit den eigenen Planstellen den gestiegenen Bedarf an Fachpersonal nicht mehr zu decken gedenkt, sollten Ärzte und Psychologen in Zukunft privatrechtlich über die Agentur angestellt werden. Kritik an dieser Überlegung kam besonders vom Rechnungshof, der Volksanwaltschaft, der Personalvertretung der nicht-uniformierten Justizangestellten sowie dem grünen Justizsprecher im Nationalrat, Albert Steinhauser. Insbesondere wurde ein Verlust der bisherigen Qualität der Betreuung befürchtet. Die Kritik wurde laut Information des Bundesministeriums geprüft und der entsprechende Gesetzesvorschlag überarbeitet. Am 14. Mai wurde der endgültige Gesetzesvorschlag schließlich an den Nationalrat übermittelt und am 5. Juni von diesem angenommen. Das Justizbetreuungsagentur-Gesetz erlangte damit Gesetzeskraft. ==== Elektronische Aufsicht ==== Die Elektronische Aufsicht, umgangssprachlich meist Elektronische Fußfessel genannt, ist eine Möglichkeit zur Strafmilderung im österreichischen Strafvollzug. Gesetzlich möglich ist diese seit 1. September 2010. Dienen soll diese Haftform, bei der sich der Gefangene zuhause aufhalten kann, wo er allerdings mittels eines elektronischen Überwachungswerkzeugs unter Hausarrest gestellt ist, vor allem der Entlastung der Justizanstalten. Zugleich wird der Häftling nicht völlig aus seinem sozialen und beruflichen Umfeld herausgerissen, was letztlich auch der Resozialisierung zugutekommen soll. Generell ausgenommen vom Einsatz der elektronischen Aufsicht sind Personen im Maßnahmenvollzug. Sexualstraftätern wird die Bewilligung der elektronischen Aufsicht durch die Einforderung eines Gutachtens erschwert beziehungsweise unmöglich gemacht. == Arten von Justizanstalten == Gesetzlich werden die Justizanstalten in gerichtliche Gefangenenhäuser, Strafvollzugsanstalten und Sonderanstalten unterschieden (§ 8 StVG). In der Praxis kommen zu diesen Typen noch spezielle Strafanstalten für Jugendliche, für weibliche Straftäter sowie für lungenkranke Inhaftierte. Einzelnen Justizanstalten sind außerdem noch Außenstellen organisatorisch angegliedert, in denen zumeist der gelockerte Strafvollzug durchgeführt wird. === Gerichtliche Gefangenenhäuser === Im Bundesgebiet existieren 15 gerichtliche Gefangenenhäuser, wobei jeweils jedem der 16 für Strafsachen zuständigen Landesgerichte ein gerichtliches Gefangenenhaus angeschlossen ist. Im Bereich des Landesgerichts Steyr übernimmt die Funktion eines gerichtlichen Gefangenenhauses eine Außenstelle der Justizanstalt Garsten, die bis 2010 eine eigenständige Justizanstalt war. Meistens sind die gerichtlichen Gefangenenhäuser baulich direkt an das Gerichtsgebäude angeschlossen oder befinden sich in unmittelbarer Nähe des selbigen. Eine Ausnahme bilden hier die Justizanstalten Salzburg und Innsbruck, die sich beide etwas außerhalb der Stadtzentren – im Fall von Salzburg sogar in der Umlandgemeinde Puch bei Hallein – und damit einige Kilometer entfernt vom zuständigen Landesgericht befinden. Im Gefängnistyp des gerichtlichen Gefangenenhauses werden vornehmlich Untersuchungshäftlinge festgehalten sowie Freiheitsstrafen bis zu 18 Monaten abgebüßt. === Strafvollzugsanstalten === Die Strafvollzugsanstalten sind keinem Gericht angeschlossen, sondern decken meistens mehrere Gerichtssprengel ab. Sie sind zuständig für den Vollzug von Haftstrafen mit einer Dauer von über 18 Monaten bis lebenslänglich. Ausnahmen können nur dann gemacht werden, wenn die entsprechende Strafvollzugsanstalt nicht für die Einleitung des Vollzugs geeignet ist. In diesem Fall kann die Strafe im gerichtlichen Gefangenenhaus des heimatlichen Gerichtssprengels eingeleitet werden und der Strafgefangene wird erst anschließend in eine Strafvollzugsanstalt überstellt. Von den 8 Strafvollzugsanstalten in Österreich sind 7 Männerstrafvollzugsanstalten. Daneben gibt es eine Frauenstrafvollzugsanstalt in Schwarzau am Steinfeld, welche auch für weibliche Jugendliche und den Maßnahmenvollzug bei Frauen zuständig ist. Lediglich fünf Prozent aller österreichischen Häftlinge sind weiblich.Es gibt keine Vorschriften für die Unterbringung der Gefangenen unter Berücksichtigung ihrer Gefährlichkeit, jedoch entscheidet die Generaldirektion für den Strafvollzug und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen als weisungsbefugtes Vollzugsorgan in Fällen von überdurchschnittlicher Gefährdung durch den Gefangenen oder besonders langen Haftstrafen in der Regel auf eine Unterbringung in den Justizanstalten Graz-Karlau, Stein oder Garsten. Diese drei Justizanstalten sind damit hauptverantwortlich für den Vollzug von Freiheitsstrafen mit einer Dauer von mehr als 15 Jahren. === Sonderanstalten === Neben der regulären Haftstrafe gibt es in Österreich die Möglichkeit, Straftäter in einer Haftanstalt im Zuge des Maßnahmenvollzugs unterzubringen. Diese Inhaftierung ist unabhängig von der begangenen Tat oder der zu verbüßenden Strafe, sie ist allein abhängig von der Gefährlichkeit des Täters. Ein Täter kann in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter, eine Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher oder eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden. Die erste Maßnahme bezieht sich auf die Gefährlichkeit des Täters, der Maßnahmenvollzug gegen entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher ist mit einer Zwangseinweisung in den Drogenentzug gleichzustellen und die Maßnahmen gegen geistig abnorme Rechtsbrecher haben den Charakter einer psychiatrischen Unterbringung. Während der Vollzug für Maßnahmen gegen entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher in nahezu jeder Justizanstalt in Österreich durchgeführt werden kann (speziell dafür konzipiert ist nur die Justizanstalt Wien-Favoriten), ist für gefährliche Rückfallstäter eine Inhaftierung in der Justizanstalt Sonnberg in Hollabrunn und für geistig abnorme Rechtsbrecher eine Unterbringung entweder in der Justizanstalt Göllersdorf in Göllersdorf (nicht Zurechnungsfähige) oder in der Justizanstalt Wien-Mittersteig (für Zurechnungsfähige) vorgesehen. Zusätzlich ist zur Behandlung weniger gefährlicher geistig abnormer Rechtsbrecher die Justizanstalt Asten als Forensische Psychiatrie eingerichtet. Auch die Justizanstalt für Jugendliche in Gerasdorf, die im Abschnitt Jugendstrafvollzugsanstalten behandelt wird, fällt offiziell unter die Bezeichnung Sonderanstalt. === Jugendstrafvollzugsanstalten === Rund drei Prozent aller Häftlinge in Österreich sind Jugendliche (im Alter von 14 bis 18 Jahren), rund acht Prozent werden als „junge Erwachsene“ (18–21 Jahre) bezeichnet. Neben den Jugendabteilungen in nahezu allen Justizanstalten gibt es eine eigene Justizanstalt für Jugendliche in Gerasdorf. In dieser werden männliche Jugendliche von 14 bis maximal 27 Jahren inhaftiert, daneben stehen auch Abteilungen zur Unterbringung jugendlicher Häftlinge des Maßnahmenvollzugs zur Verfügung. Weibliche Jugendliche werden generell in der Frauenvollzugsanstalt Schwarzau inhaftiert. Bis zum Jahr 2003 war in Wien-Erdberg zudem eine Justizanstalt für Jugendliche beim Jugendgerichtshof eingerichtet. Seit der Auflösung des Jugendgerichtshofs sind die jugendlichen Sträflinge in der Jugendabteilung D der Justizanstalt Wien-Josefstadt untergebracht. Generell können Erwachsene nur bis zu einem Alter von 24 Jahren im Jugendstrafvollzug untergebracht werden. Unter der Voraussetzung, dass sie nur noch maximal ein Jahr Strafe zu verbüßen haben, können sie auch darüber hinaus noch im Jugendstrafvollzug angehalten werden. Spätestens mit Vollendung des 27. Lebensjahres sind aber generell alle Häftlinge in Österreich im „Erwachsenenstrafvollzug“ unterzubringen. Sämtliche Sonderregelungen bezüglich des Jugendstrafvollzugs sind im siebten Abschnitt des Jugendgerichtsgesetzes 1988 geregelt. == Standorte == Im gesamten Bundesgebiet bestehen insgesamt 28 Justizanstalten. Diesen sind 12 Außenstellen angegliedert, welche teilweise als landwirtschaftliche Betriebe geführt werden. Die Häftlinge können in Österreich im Normalfall zur Arbeit in den Gefängnisbetrieben verpflichtet werden. In den einzelnen Bundesländern sind unterschiedlich viele Justizanstalten angesiedelt. Spitzenreiter unter den Ländern ist dabei Niederösterreich mit 10 Standorten. Die größte Strafvollzugseinrichtung in Österreich ist die Justizanstalt Wien-Josefstadt mit einer Kapazität von 1057 Insassen, das kleinste Gefängnis ist die Justizanstalt Wien-Mittersteig mit 95 Haftplätzen. === Eigentümer der Liegenschaften === Von 28 in Österreich bestehenden Justizanstalten befinden sich 12 im direkten Eigentum der Republik. Dazu zählen alle Strafvollzugsanstalten sowie die Sonderanstalten Gerasdorf, Göllersdorf und Wien-Mittersteig und das gerichtliche Gefangenenhaus in Innsbruck. Außerdem sind die Gebäude von 8 Außenstellen Bundeseigentum. Die weiteren gerichtlichen Gefangenenhäuser und Außenstellen befinden sich im Besitz der Bundesimmobiliengesellschaft, einer Bau- und Verwaltungsgesellschaft, die sich wiederum selbst hundertprozentig im Besitz der Republik Österreich befindet. === Geplante Justizanstalten === Insgesamt plante das Justizministerium ab dem Jahr 2007 bis zu 200 Millionen Euro für die Erneuerung und die Instandhaltung ihrer Gerichte und Justizanstalten auszugeben. Damit sollten auch zwei neue Justizzentren, also Gerichte mit angeschlossener Justizanstalt neu gebaut werden. Zudem werden und wurden die Justizanstalten in Feldkirch, St. Pölten, Krems, Eisenstadt und Graz umgebaut, erweitert und saniert.Bereits für das Jahr 2010 war ursprünglich die Fertigstellung des Justizzentrums Wien-Baumgasse geplant. In der angeschlossenen Justizanstalt Wien-Baumgasse sollten 230 jugendliche Häftlinge, 90 Frauen und 100 Inhaftierte des Maßnahmenvollzugs untergebracht werden. Diese Planung wurde mittlerweile allerdings wieder verworfen.Die zuletzt neu errichtete Justizanstalt ist der Neubau der Justizanstalt Salzburg außerhalb der Stadt Salzburg in der Gemeinde Puch bei Hallein, der im Jahr 2015 fertiggestellt wurde. Aktuell bestehen Pläne, die Justizanstalt Klagenfurt ebenfalls aus der Stadt Klagenfurt abzusiedeln und in einem Neubau außerhalb unterzubringen. == Unterbringungsformen == Strafgefangene in Österreich werden im Normalvollzug in Gemeinschaftszellen untergebracht. Obgleich das Strafvollzugsgesetz für die Zeit der Nachtruhe eine Einzelunterbringung der Inhaftierten vorsieht, sind diese meistens aus organisatorischen Gründen auch in der Nacht in Gemeinschaftszellen eingeschlossen. Am Tag sind im Normalvollzug die Türen von Zellen und Gemeinschaftsräumen im Allgemeinen nicht verschlossen. Für den gesonderten Vollzug an Gefangenen mit psychischen Besonderheiten ist der Absatz zum Maßnahmenvollzug zu beachten. === Einzelhaft === Ein Gefangener kann als besondere Form einer Disziplinarstrafe oder auf eigenen Wunsch einzeln inhaftiert werden. Falls der Häftling während der Zeit, die er in Einzelhaft verbringt, keine Besuche empfängt, muss er zumindest einmal am Tag von einem Beamten der Justizwache kontrolliert werden. Unterbringungen in Einzelhaft mit einer Dauer von über vier Wochen sind nur mit Zustimmung des Vollzugsgerichts zulässig, das darüber auf Antrag des Anstaltsleiters zu entscheiden hat. Dem Vollzugsgericht obliegt es außerdem, die Dauer der Einzelinhaftierung zu bestimmen. Bei einer Einzelunterbringung von Gefangenen über sechs Wochen hat der Häftling diese ausdrücklich zu verlangen und der Anstaltsarzt muss sie genehmigen. === Gelockerter Vollzug === Bei entsprechender guter Führung können Häftlinge in Österreich im Rahmen ihrer Freiheitsstrafe im gelockerten Strafvollzug untergebracht werden. Die häufigste Form einer solchen Vollzugslockerung ist die Unterbringung im offenen Vollzug. In diesem Fall werden die Aufenthaltsräume der Strafgefangenen nicht mehr abgesperrt, sie können sich damit frei im Anstaltsgelände bewegen. Die Bewachung bei der Arbeit kann auch außerhalb der Anstalt beschränkt oder aufgehoben werden. Eine weitere Form der Vollzugslockerung kann mit der Berufsausbildung außerhalb der Justizanstalt gewährt werden. Dem Gefangenen können zudem zwei Ausgänge im Monat zugebilligt werden. Die Entscheidung über den gelockerten Vollzug obliegt immer dem jeweiligen Anstaltsleiter. Als besondere Form der Vollzugslockerung gibt es seit dem Jahr 2001 in manchen Justizanstalten die Möglichkeit zu familiären Kontakten in speziell eingerichteten Langzeitbesucherräumen. In diesen können Strafgefangene, die sonst zu keiner Vollzugslockerung zugelassen wurden, ihre Familie für einen längeren Zeitraum zum Besuch empfangen. Diese als „Kuschelzellen“ bezeichneten Hafträume sind in der Öffentlichkeit umstritten. === Erstvollzug === Falls ein Häftling zum ersten Mal eine Freiheitsstrafe in einem österreichischen Gefängnis verbüßt, muss er von den restlichen Gefangenen getrennt im Erstvollzug untergebracht werden. Gefangene, die eine Strafdauer von über drei Jahren zu verbüßen haben, können auf dieses Recht verzichten. Während des Tages ist diese Trennung allerdings nicht vorgesehen, sie wirkt sich nur auf die Zellenunterbringung der Häftlinge aus. Sträflinge, von denen ein schädlicher Einfluss auf Mitgefangene befürchtet wird, haben kein Recht auf Unterbringung im Erstvollzug. === Fahrlässigkeitsvollzug === Strafgefangene, die wegen einer fahrlässig begangenen Straftat inhaftiert sind, haben ein Recht auf gesonderte Unterbringung. Zudem müssen solche Häftlinge an Unterrichtsstunden zur Unfallverhütung und an Erste-Hilfe-Kursen teilnehmen. Diese Unterbringungsform entfällt für Häftlinge, die bereits zweimal oder öfter wegen eines vorsätzlich begangenen Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurden. == Hausordnung == Gemäß § 25 des Strafvollzugsgesetzes hat jeder Häftling eine Hausordnung der Anstalt zu erhalten, in der die Rechte und Pflichten ersichtlich sind. Diese ist auch in Fremdsprachen zu übersetzen. Die Hausordnung ist für Österreich allgemein gültig, erlaubt aber lokale Abweichungen in einem Anhang. === Ansuchen === Sämtliche Begehren sind schriftlich per Formular anzusuchen. Diese werden wochentags abgesammelt und danach bearbeitet. Ansuchen von Untersuchungshäftlingen, die die Außenwelt betreffen, müssen auch vom Haftrichter genehmigt werden, daher gibt es zwei unterschiedliche Formulare. Ansuchen sind z. B. notwendig für: Kontakt zum Sozialen Dienst, Psychologischen Dienst oder Seelsorger Vorführung zum Arzt Besuchserlaubnis Telefonerlaubnis Erlaubnis für Bücherei- oder Gottesdienstbesuch Erwerb elektrischer Geräte Begleitung zur Depositenstelle, um Telefonnummern aus dem eingelagerten Telefon zu lesen Verlegung in einen anderen Haftraum bzw. eine andere Haftanstalt === Hauskonto === Gefangenen ist der Handel mit Beschäftigten und anderen Insassen verboten. (§ 30 StVG) Um dies zu gewährleisten, dürfen sie weder Bargeld noch Wertvolles besitzen. Gelöst wird dies durch den Gefangenengeldverkehr (GGV) über das Hauskonto. Jeder Häftling erhält ein mit seiner Nummer verknüpftes Hauskonto, auf dem dessen persönliches Geld verwaltet wird. Es kennt drei Bereiche: Eigengeld: bei Haftantritt mitgebrachtes Bargeld und Überweisungen von Außen Hausgeld: Entgelt durch Arbeit oder sonstige Belohnungen Rücklage: 50 % des Arbeitsentgeltes wird für die Zeit nach der Entlassung angespartWährend der Haft ist die Verwendung des Geldes nur für offizielle Einkäufe und Telefonkosten möglich. Auch Disziplinarstrafen werden vom Hausgeld bezahlt. Bei der Entlassung wird das Guthaben in bar ausbezahlt (§ 54 StVG). === Arbeit === Strafgefange sind in der Regel verpflichtet, zu arbeiten. Diese Arbeit wird entlohnt, der Stundensatz beträgt zwischen vier und sechs Euro (§ 52 StVG). Kann jemandem kein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden, erhält er eine Entschädigung (Unbeschäftigtenvergütung). Pensionisten müssen nicht arbeiten. Untersuchungshäftlinge dürfen nach Antrag arbeiten, erhalten aber keine Entschädigung, wenn es keine Arbeit für sie gibt. Die Arbeitsvergütung kommt als Hausgeld und Rücklage auf das Hauskonto. Strafgefangenen werden aber vorher 75 % als Kostenbeitrag für den Strafvollzug abgezogen (§ 32 StVG). Die möglichen Arbeiten sind in erster Linie solche, die den Betrieb der Anstalt betreffen (Küche, Wäscherei, Hausarbeiten, Elektriker, Installateur) und zusätzlich in Werkstätten, die je nach Anstalt betrieben werden (Schlosserei, Kfz, Tischlerei, Autoreinigung, Lohnarbeit). Dort ist oft auch ein Lehrabschluss möglich. Anstalten und Außenstellen in ländlichen Gebieten bieten auch landwirtschaftliche Tätigkeiten an. === Einkaufsmöglichkeit === Häftlinge haben gemäß § 34 StVG einmal in der Woche die Möglichkeit zum „Bezug von Bedarfsgegenständen“. Diese auch „Ausspeise“ genannte Einkaufsmöglichkeit findet in einem eigenen Geschäftsraum in der jeweiligen Anstalt statt. Erhältlich sind Lebensmittel, Hygieneartikel, Schreibwaren und Rauchwaren. Elektrische Geräte wie Fernsehapparate, Radios und elektrische Rasierapparate dürfen nur nach Ansuchen an die Anstaltsleitung erworben werden. Bezahlt wird mit dem Geld auf dem Hauskonto, wobei die Verwendung von Eigengeld außer für den Erstbezug für Strafgefangene beschränkt ist (§ 91 StVG). Nachdem es am 14. November 1996 in der Justizanstalt Graz-Karlau bei der Ausspeise zu einer Geiselnahme kam, sind die Verkaufsräume in den meisten Justizanstalten heute mit Gittern und Wartebereichen abgesichert und der Warenverkauf erfolgt nicht mehr durch externes Personal. === Kleidung === Gefangene erhalten bei Haftantritt eine Ausstattung mit Bekleidung, Bettwäsche und Handtüchern. Während früher das Tragen von privater Oberbekleidung eine Vergünstigung war, ist dies seit 2009 allgemeines Recht. Zu Beginn darf eine gewisse Grundausstattung mitgebracht bzw. abgegeben werden. Weitere Versorgung mit privaten Kleidungsstücken erfordert ein Ansuchen, Bekleidung für die Gerichtsverhandlung darf kurz vor dem Termin ohne Ansuchen abgegeben werden. Bei bestimmten Anlässen (Außenarbeiten mit Fluchtgefahr) kann das Tragen der Anstaltskleidung (hellblau und beige) vorgeschrieben werden. Private Kleidung wird in der Anstalt kostenlos gewaschen. Sie kann dazu einmal in der Woche in nummerierten Netz-Säcken abgegeben werden. === Besuche === Dem Gefangenen ist mindestens einmal in der Woche der Empfang eines Besuches von 30 Minuten innerhalb der Besuchszeiten zu erlauben. Bei längerer Anreise des Besuchers bzw. längeren Besuchspausen ist die Zeit entsprechend anzupassen. Für wichtige persönliche, wirtschaftliche und juridische Erledigungen sind auch Besuche außerhalb der Besuchszeit möglich.Je nach Anstalt werden aber zumindest zwei Besuche in der Woche erlaubt. Dafür kommen drei Arten in Frage: Scheibenbesuch: Trennung durch Glasscheibe, Gespräch mit Telefonhörern Tischbesuch: Gespräch am Tisch Langzeitbesuch: längere Besuche in einem eigenen Haftraum.Besuche durch den Anwalt sind nicht an die Besuchszeiten gebunden, dafür stehen in den Landesgerichten auch eigene Kojen zur Verfügung. Sie dürfen nicht überwacht werden. Während einzelner Wellen der COVID-19-Pandemie wurden Besuche zeitweise gänzlich ausgesetzt bzw. nur mehr Scheiben- statt Tischbesuche erlaubt. Stattdessen wurden Videokonferenzen über Zoom angeboten. === Telefonieren === Gemäß § 96a StVG ist dem Insassen aus „berücksichtigungswürdigen Gründen“ das Telefonieren zu erlauben. Eine generelle Genehmigung von Telefongesprächen entspricht nicht dem Gesetz, wird aber sehr oft als „Vergünstigung“ gewährt. Im Rahmen des Spaziergangs hat dann der Insasse die Möglichkeit Telefonate zu führen. Im Gelockerten Vollzug ist das auch zu anderen Zeiten möglich. Seit einem Umbau 2015 stehen österreichweit einheitliche spezielle Telefonapparate der Firma PKE Electronics AG zur Verfügung, die über den privaten Anbieter Talk2U arbeiten. Der Zugang erfolgt durch Eingabe der Häftlingsnummer und einer PIN. Es können jedoch nur persönlich erlaubte Nummern gewählt werden, d. h. es werden nach Antrag bis zu fünf Telefonnummern freigeschaltet, Anwalt und Bewährungshelfer sind noch zusätzlich erlaubt. Das Wertguthaben muss zudem zuvor vom Hauskonto aufgeladen werden. Da das Guthaben bei der Firma direkt verwaltet wird, kann es auch bei einer Verlegung in eine andere Anstalt weiter verwendet werden. Bei der Entlassung erfolgt die Auszahlung direkt durch den Anbieter. Die Gesprächszeit ist technisch nicht begrenzt. Die Gespräche können mitgehört und aufgezeichnet werden, eine automatische Ansage weist am Beginn jedes Gespräches darauf hin. Die Tarife betragen ungefähr das Doppelte von den sonst üblichen. Das ist aber billiger als vor 2015, als es österreichweit drei unterschiedliche Systeme mit untereinander nicht austauschbaren Wertkarten oder Codes gab. === Rundfunkempfang === Für den Radioempfang erhält der Gefangene einen Kopfhörer, mit dem fix eingestellte Radioprogramme gehört werden können. Dazu wird der Stecker in die jeweilige Buchse beim Bett gesteckt. In den letzten Jahren wurden in vielen Justizanstalten die Hafträume mit eigenen Fernsehgeräten ausgestattet. Über Kabelfernsehen sind damit lokale (ORF und Private), deutsche und auch internationale Sender frei verfügbar. Es gibt dafür keine zeitliche Beschränkung, außer dass die Nachtruhe eingehalten werden muss. === Gesundheitsversorgung === Häftlinge (auch Untersuchungshäftlinge) sind nicht krankenversichert (§ 89 ASVG Abs. 1–2). Die Anstalten haben eigene Krankenstationen mit Ärzten und Pflegepersonal. Neben praktischen Ärzten gibt es auch Verträge mit Zahnärzten, Psychiatern und Psychologen. Alle anderen externen Leistungen bei Krankenanstalten, Fachärzten und Laboren müssen von der Justiz bezahlt werden, wobei hier der Privatpatientarif gilt. Ein hoher Betrag sind hier die Kosten für die externe Unterbringung geistig abnormer Rechtsbrecher. Da keine Versicherungsanstalt interessiert ist, diese Personengruppe, von der kaum Beiträge bezahlt würden, zu versichern, sind bis jetzt Bemühungen zur Versicherung der Häftlinge gescheitert. Schon jetzt muss die dafür am ehesten infragekommende Österreichische Gesundheitskasse sämtliche Gruppen versichern, die mehr kosten als sie einzahlen: Arbeitslose, Asylwerber, ... Vor 2013 gab es eine Beteiligung der Länder an den Kosten bei den öffentlichen Krankenhäusern, die jedoch mit 2014 auslief. Seitdem stiegen die Kosten von 74 Mio. auf 94 Mio. im Jahre 2018. Zu diesen Kosten kommen noch Transport- und Bewachungskosten für die Untersuchungen und Behandlungen bei den externen Gesundheitsdienstleistern. Der Häftling hat jedoch das Recht, auf eigene Kosten einen Privatarzt heranzuziehen (§ 10 AnhO Abs. 5). Tritt ein Häftling in den Hungerstreik, sind Aufklärungsgespräche und tägliche Untersuchungen vorgeschrieben, jedoch keine Zwangsernährung erlaubt (§ 10 AnhO Abs. 4). == Organisation und Kontrolle == Sämtliche österreichischen Justizanstalten unterstehen dem Bundesministerium für Justiz als Oberster Vollzugsbehörde, wobei innerhalb des Justizministeriums die Sektion II, Generaldirektion für den Strafvollzug und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen, zuständig ist. Neben der obersten Vollzugsbehörde sind die Volksanwaltschaft sowie weitere staatliche und internationale Organisationen zur Kontrolle des Strafvollzugs in Österreich berechtigt. === Generaldirektion === Bis zum 1. Juli 2015 war die Vollzugsdirektion (offiziell Direktion für den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen) als eigenständige und dem Bundesministerium für Justiz weisungsbefugt unterstellte Vollzugsoberbehörde eingerichtet. Nach einer Reihe von Vorfällen im Strafvollzug, die ein negatives Licht auf diesen warfen, entschied sich Justizminister Wolfgang Brandstetter schließlich, die Vollzugsoberbehörde wieder in das Justizministerium einzugliedern. Die nunmehr neu geschaffene Generaldirektion für den Strafvollzug und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen ist eine Sektion des Bundesministeriums für Justiz und nimmt auch die bislang durch das Strafvollzugsgesetz der Vollzugsoberbehörde übertragenen Aufgaben wahr. Sie ist die oberste Instanz bei vollzugsrechtlichen Entscheidungen und regelt beinahe alle Bereiche der einzelnen Justizanstalten. Sie ist genauso für die Errichtung und Erhaltung der Gefängnisse zuständig, wie für den ordnungsgemäßen Betrieb selbiger. Ihr kommen eine Vielzahl von Entscheidungen zu, angefangen von Sanktionen gegen Häftlinge über Freigänger bis hin zur Entlassung von Gefangenen. Hierzu ist die Generaldirektion in vier Abteilungen unterteilt, die nach strategischen und operativen Ausrichtungen voneinander getrennt sind. === Vollzugssenate === Das am Sitz desjenigen Oberlandesgerichts, in dessen Sprengel die Strafe vollzogen wird, bestehende Landesgericht entscheidet durch einen Vollzugssenat (§ 18 StVG) über Beschwerden der Strafgefangenen (§ 16 Abs 3StVG). Die Vollzugssenate setzen sich aus zwei Berufsrichtern, von denen einer den Vorsitz führt, und einem Vollzugsbediensteten als fachkundiger Laienrichter zusammen. Die fachkundigen Laienrichter werden vom Bundesminister für Justiz auf Vorschlag des Präsidenten des Oberlandesgerichts für eine Dauer von sechs Jahren bestellt. Gegen Entscheidungen des Justizministeriums in Angelegenheiten des Strafvollzugs sowie gegen Entscheidungen der Vollzugssenate der Landesgerichte ist eine Beschwerde an das Oberlandesgericht Wien zulässig (§ 16a StVG), das dabei eine bundesweite Zuständigkeit übernimmt. Das Oberlandesgericht Wien entscheidet ebenfalls durch einen Vollzugssenat, der aus einem Berufsrichter und zwei Vollzugsbediensteten besteht. Bis zum 31. Dezember 2013 wurden die Aufgaben der Vollzugssenate durch weisungsfreie Verwaltungsbehörden, den sogenannten Vollzugskammern besorgt, denen ebenfalls ein Berufsrichter als Vorsitzender angehörte. Diese Vollzugskammern mussten jedoch aufgrund der mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 verbundenen Abschaffung des administrativen Instanzenzugs aufgelöst werden. === Volksanwaltschaft und andere Kontrolleinrichtungen === Zur externen Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte im Justizvollzug ist die Volksanwaltschaft berufen, die zu diesem Zweck einen Menschenrechtsbeirat und diesem angegliederte regionale Kommissionen eingesetzt hat. Diese Kommissionen können im Auftrag der Volksanwaltschaft die Zustände in allen Einrichtungen, in denen Personen mit staatlicher Befugnis gegen ihren Willen festgehalten werden, jederzeit prüfen. Die Volksanwaltschaft hat über die Prüfungsergebnisse dem Parlament jährlich Bericht zu erstatten. Daneben gibt es noch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, eine internationale Organisation zur Folterprävention. Dieses besuchte bislang sechsmal österreichische Haftanstalten, zuletzt im September 2014. Zahlreiche andere Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Amnesty International überwachen zudem regelmäßig die Zustände in den österreichischen Gefängnissen. == Statistik == In ganz Österreich befanden sich im Jänner 2020 8354 Personen in Haft, was ungefähr 0,1 % der österreichischen Gesamtbevölkerung entspricht. Am Stichtag 1. Jänner 2019 kamen auf insgesamt 8616 Haftplätze 8354 Häftlinge (inkl. U-Haft). 5907 Insassen befanden sich in Strafhaft (davon waren 440 Insassen weiblich und 311 in elektronisch überwachtem Hausarrest), 1742 in Untersuchungshaft. Zuvor hatte es im Juli 2009 noch etwa 8.400 Haftinsassen gegeben, im Frühjahr des Jahres 2008 waren dagegen mehr als 8.600 Inhaftierte in österreichischen Gefängnissen untergebracht. Hauptgrund für diese kurzfristig zurückgegangenen Häftlingszahlen dürfte das Anfang 2008 in Kraft getretene Haftentlastungspaket gewesen sein, das es ermöglichte, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum etwa 900 Personen weniger in Haft zu haben (8.044 Insassen im Juli 2008; 8.973 Insassen im Juli 2007).2019 waren 4290 (46 %) der Insassen mit österreichischer Staastbürgeschaft, 1682 (18 %) andere EU-Bürger und 3357 (36 %) Drittstaatenangehörige. Der Anteil der Strafgefangenen mit einer Haftdauer bis zu einem Jahr beträgt 40 %, der von ein bis fünf Jahren 46 %, 15 % haben Haftstrafen mit einer Dauer von mehr als fünf Jahren zu verbüßen. Die höchste Strafe, die ein österreichisches Gericht über eine Person verhängen kann, ist nach § 18 Strafgesetzbuch die Freiheitsstrafe auf Lebensdauer. Zum Stichtag 1. November 2019 verbüßten 204 Personen eine lebenslange Haftstrafe in österreichischen Gefängnissen. Durchschnittlich werden Gefangene, die zu „lebenslänglich“ verurteilt wurden, nach 21 Jahren auf Bewährung bedingt entlassen. Allerdings gibt es auch Täter, die weitaus länger in Haft gehalten werden, wie etwa der Fall von Harald Sassak beweist, der seit dem Jahr 1974 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2013 eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßte. In der Regel werden solche Häftlinge mit sehr langen Freiheitsstrafen in den Strafvollzugsanstalten Graz-Karlau, Stein oder Garsten untergebracht. Weibliche Gefangene mit lebenslanger Haftstrafe befinden sich generell in der Justizanstalt Schwarzau. === Personal und Budget === Insgesamt waren im Jahr 2019 in den österreichischen Justizanstalten rund 4000 Bedienstete tätig. 81 % davon sind Justizwachebedienstete, arbeiteten also als Aufsichts- und Betreuungspersonen für die Häftlinge. 671 davon gehörten der Justizwache Einsatzgruppe an, einer Sondereinheit der österreichischen Justizwache.Im Jahr 2019 waren daneben noch 80 Sozialarbeiter, 57 Ärzte, 66 Psychologen und Psychotherapeuten sowie 14 Pädagogen im österreichischen Strafvollzug beschäftigt. Die Zahl der angestellten Ärzte vermehrte sich von 1997 bis 2007 um etwa 20 %, die Gesamtmitarbeiterzahl um etwa 25 %. Gleichzeitig stieg allerdings auch die Gesamtzahl der Inhaftierten kontinuierlich an. So waren Anfang der 90er-Jahre noch etwa 6800 Personen in Österreich inhaftiert, in den darauf folgenden Jahren stiegen die Häftlingszahlen jedoch rapide an, bis schließlich 2019 über 8350 Personen in den Justizanstalten untergebracht waren. Der Aufwand für den Strafvollzug betrug im Jahr 2019 rund 518 Millionen Euro (davon 228 Millionen Personalaufwand, 250 Millionen sachbezogene Kosten und 40 Mio. für Bewährungshilfe). Durch den Arbeitsdienst in den Justizanstalten konnten zudem Einnahmen von 62 Millionen Euro erwirtschaftet werden (Vollzugskostenbeiträge, Erträge für Verkauf von Produkten und Leistungen, Beiträgen der Länder). Die durchschnittlichen Kosten für einen Hafttag betragen somit ca. 130 Euro, wobei der Maßnahmenvollzug beträchtlich teurer ist, besonders wenn eine Unterbringung in psychiatrischen Krankenanstalten erfolgt.Da Häftlinge nicht krankenversichert sind, sind die Behandlungskosten auch aus dem Jusizbudget zu leisten. 2018 betrugen diese rund 95 Mio. Euro. === Ausbrüche und Ausbruchsversuche === In den letzten Jahren ist die Zahl der Ausbrüche und Ausbruchsversuche in Österreich stark zurückgegangen. Bei Fluchten aus den Justizanstalten wird zwischen Ausbrüchen (aus dem geschlossenen Bereich), Entweichungen (aus dem nicht geschlossenen Bereich, aus dem offenen Vollzug oder einer Ausführung) und Nichtrückkehr von einer Vollzugslockerung unterschieden. Waren Mitte der 90er-Jahre noch bis zu 50 Ausbrüche im Jahr zu verzeichnen, so gibt es heute kaum noch erfolgreiche Ausbruchsversuche. Eine Ausnahme von dieser zurückgehenden Statistik stellt das Jahr 2005 dar, in dem 17 Personen die Flucht aus einem österreichischen Gefängnis gelang. Grund für die Abnahme ist eine zunehmende Modernisierung der Sicherheitstechnik in den Justizanstalten.Im Gegensatz zu manchen anderen Ländern ist der Ausbruch eines Gefangenen aus dem Strafvollzug in Österreich kein strafbares Delikt. Ein Gefängnisausbruch kann somit für den Gefangenen nur eine anstaltsinterne disziplinäre Strafe nach sich ziehen. Allerdings machen sich ausbrechende Häftlinge meistens der schweren Sachbeschädigung (Beschädigung einer Einrichtung der Republik Österreich) oder der schweren Körperverletzung (Verletzung eines Beamten der Justizwache) schuldig. Wer jedoch einen Gefangenen befreit oder befreien will, macht sich der Befreiung von Gefangenen nach § 300 StGB schuldig, es sei denn, man ist selbst Gefangener. === Suizide und Suizidversuche === Durchschnittlich nehmen sich jedes Jahr bis zu 15 Häftlinge in österreichischen Justizanstalten das Leben. Suizide begehen aber nicht nur Insassen mit mehrjährigen Haftstrafen, sondern regelmäßig auch Untersuchungshäftlinge und (hier nicht eingerechnet) Schubhäftlinge. Von 1947 bis 1999 gab es 410 dokumentierte Suizide im österreichischen Strafvollzug. Als Ursache für die meisten Selbstmorde wird von Experten der hohe Stress besonders bei Neuankömmlingen vermutet. Bei der Hälfte aller Suizide ging ein erfolgloser Suizidversuch voraus, in 37 Prozent der Fälle ging dem Selbstmord eine explizite Ankündigung voraus.Zur Prävention wird das VISCI (Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions) angewandt. Dieses hat eine Ampel für die aktuell bestehende Gefahrenstufe. Äußert ein Häftling Selbstmordgedanken, erhält er den Status VISCI rot (hohe Gefahr, keine Einzelhaft bzw. Videoüberwachung, Vorführung zum Psychiater) oder VISCI gelb (Gefahr, keine Einzelhaft bzw. längeres Alleinsein). Die Verhängung von Maßnahmen und das Herabstufen der Ampelfarbe obliegt dem Psychiater. Der VISCI-Status ist auch an der Zellentür angebracht. Die Maßnahmen reichen von Unterbringung in einem Sonderhaftraum (Gummizelle), Videoüberwachung in eigenen Zellen (keine Kabel, kein Besteck, kein Geschirr usw.) bis zum Verbot, längere Zeit allein in der Zelle zu sein. „Selbstbeschädigung“ ist gemäß § 27 StVG ausdrücklich verboten. == Weblinks == Informationswebsite der österreichischen Justizanstalten. Wolfgang Gratz, Andreas Held, Arno Pilgram: Strafvollzug in Österreich (Memento vom 1. April 2010 im Internet Archive). Deutsche Fassung aus: Dirk Van Zyl Smit, Frieder Dünkel (Hrsg.): Imprisonment Today and Tomorrow. Den Haag, London, Boston 2001. Abrufbar auf der Internetseite des Fortbildungszentrums Strafvollzug in Wien. Geltende Fassung des Strafvollzugsgesetzes im Rechtsinformationssystem des Bundes. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Justizanstalt
Prostitution in der Antike
= Prostitution in der Antike = Prostitution in der Antike unterscheidet sich trotz vieler Gemeinsamkeiten von Prostitution in anderen Epochen. Im antiken Griechenland ist besonders die Einteilung in eine Unterschichtenprostitution und eine in der heutigen Wissenschaft recht umstrittene Oberschichtenprostitution von Hetären zu erkennen. Für Rom indes ist auffällig, dass es so gut wie keine hochpreisige Prostitution gab. Anders als viele andere Kulturen lehnten weder Griechen noch Römer männliche Prostitution ab, auch wenn sie nicht immer gern gesehen war. Prostituierte waren besonders häufig Sklaven, Sklavinnen und Freigelassene. Für das antike Griechenland ist die Situation in Athen relativ gut überliefert, sonst ist die Quellenlage recht dürftig. In römischer Zeit ist vor allem die frühe Kaiserzeit umfangreich durch historische Quellen zu rekonstruieren. == Bezeichnungen == Das Substantiv Prostitution ist vom lateinischen Verb prostituere abgeleitet. Prostituere bedeutet wörtlich „(sich oder jemand anders) draußen auf die Straße stellen“, was „zum Verkehr anbieten“ bedeutet. Die Bezeichnungen für Prostituierte in der antiken Welt sind vielfältig und zum Teil drastisch. So gab es beispielsweise in Griechenland die Bezeichnung σποδεσιλαύρα (spodesiláura, „Gossenfegerin“), bei den Römern lupa („Wölfin“) und scortum („Fell“). Die meisten Bezeichnungen beziehen sich auf Frauen und ihre Käuflichkeit, so διώβολον (diōbolon, „Zwei-Obolen-Frau“), πόρνη (pórnē, von πέρνημι, pérnēmi, „in die Ferne verkaufen“) bei den Griechen und meretrix (von merere, „verdienen“) bei den Römern. Andere Bezeichnungen beziehen sich auf die Verfügbarkeit der Prostituierten: δῆμος (dēmos) und κοινή (koinē, beide Bezeichnungen stehen für „Gemeine“); die Römer verwendeten den Begriff publica („Öffentliche“). In einigen Fällen bezieht sich die Bezeichnung auch auf den Ort, wo eine Prostituierte nach Kunden suchte. So gibt es bei den Griechen die γεφυρίς (gephyrís, „Brückensteherin“) und bei den Römern die prostituta („die auf der Straße steht“).Anders als bei den griechischen Ἑταίραι (Hetáirai, „Gefährtinnen“) und den römischen amicae („Freundinnen“) wollte ein Kunde keine längere Beziehung zu einer Prostituierten eingehen, sondern nur seine schnelle sexuelle Befriedigung. Das Substantiv Prostitution (lateinisch prostitutio) wurde in der Antike ausschließlich von christlichen Autoren verwendet. Dies zeigt, dass erst eine neue Betrachtungsweise, die mit dem Christentum aufkam, das Bedürfnis nach einem entsprechenden Begriff erzeugte. == Prostitution im antiken Griechenland == Es ist unbekannt, seit wann es die Prostitution im antiken Griechenland im Sinne von sexueller Dienstleistung gegen Geld oder andere Entlohnung gab. Erstmals schriftlich bezeugt wird sie bei Archilochos im 7. Jahrhundert v. Chr. Aussagen über die Prostitution in Griechenland hat man, von Einzelfällen abgesehen, erst seit klassischer Zeit. Besonders Korinth war für seine Prostitution bekannt. === Quellenlage === Die bedeutendste Quelle für die Erforschung der antiken Prostitution ist die Anklagerede des Apollodoros – überliefert als eine der Reden des Demosthenes (Pseudo-Demosthenes) – gegen die ehemalige Hetäre Neaira. Ihr wurde vorgeworfen, einen Athener Bürger geheiratet zu haben, obwohl sie nicht aus Athen stammte, und ihre eigenen Kinder als seine ausgegeben zu haben, was in Athen strafbar war. In dieser Rede zeichnet der Ankläger, der eigentlich nur den Lebensgefährten der Neaira treffen wollte, die ganze Lebensgeschichte der Neaira von ihren ersten Schritten als Prostituierte in einem Korinther Bordell bis in ein Alter von über 50 Jahren nach. Es ist nicht nur die einzige derart umfassende Quelle für Griechenland, sondern für die gesamte Antike. Die Überlieferung im Kanon der demosthenischen Reden ist ein Glücksfall für die Erforschung der griechischen Kulturgeschichte. Hier wurde, wie es bei athenischen Gerichtsreden üblich war, nicht nur das Problem dargestellt, sondern es wurden auch die relevanten Gesetze genannt. Neben der Rede finden sich längere Stellen bei Athenaios. Auch bei den griechischen Historikern und manchen Dichtern, vor allem den attischen Komödiendichtern in zum Teil starker Überzeichnung, finden sich ab und an und meist episodenhaft Hinweise oder Berichte über einzelne Hetären. === Profane Prostitution === Die meisten Hinweise auf Prostitution in der antiken Geschichte Griechenlands stammen aus Athen. Dort waren nachweislich vor allem im Hafen Piräus, im Vorort Skiron und im Kerameikos verschiedene Formen der Prostitution anzutreffen. Es gab sowohl die Straßenprostitution als auch jene in diversen Bordellen; ihr Besuch war sehr billig und stand allen Männern, selbst Sklaven, frei. Moralische Bedenken gab es nicht, höchstens konnten allzu häufige Besuche einen Mann zum Gespött für die Öffentlichkeit werden lassen. Athen war auf dem griechischen Festland auch dahingehend etwas Besonderes, weil es in der Stadt poliseigene Bordelle gab, in denen staatseigene Sklavinnen arbeiteten. Der Umgang mit Prostituierten war für männliche Athener unproblematisch. Dennoch verlangte die Sitte, dass Männer mit Prostituierten nicht unter dem Dach verkehrten, wo sich die Ehefrau, Mutter oder Schwester aufhielt oder gar lebte. Aus Quellen ist belegt, dass beleidigte Frauen die Scheidung einreichten mit der Begründung, ihr Mann habe nicht genügend Diskretion walten lassen. Für Männer gab es selten eine andere Gelegenheit, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, da sie im Allgemeinen nicht vor dem dreißigsten Lebensjahr heirateten und sexuelle Beziehungen mit freien Bürgerinnen nicht nur verpönt und entsprechend selten waren, sondern auch beide Partner in Lebensgefahr bringen konnten. Ein Vormund, der das in seiner Obhut befindliche Mädchen mit einem Eindringling erwischte, durfte diesen töten. So hatten junge Athener kaum Kontakt zu Frauen, mit denen sie nicht verwandt waren. Hinzu kam, dass es in Athen allem Anschein nach weniger Frauen als Männer gab, so dass viele Männer gar nicht heiraten konnten. Problematisch war für viele junge Männer, dass die Prostituierten, die als gewinnsüchtig galten, bezahlt werden mussten. Es kam wohl nicht selten vor, dass junge Männer ihr Erbe mit Prostituierten, eher aber wohl mit luxusverwöhnten Hetären durchbrachten. Der Rechtsschutz von Prostituierten war äußerst begrenzt, und ohne männlichen Schutz konnten die Frauen wohl nicht überleben. Zwar standen Ehefrauen und Konkubinen unter dem Schutz der Gesetze, doch für die Prostituierten galt dies offenbar nicht. Ohne einen Schutz, den nur Männer gewähren konnten, ging es also nicht. Auch ohne solche Probleme war das Leben hart, und zur Kindstötung entschlossen sich die Prostituierten häufiger als die Bürgerinnen. Das galt besonders für den männlichen Nachwuchs, da er anders als Mädchen nicht zu Prostituierten herangezogen werden konnte und eher eine finanzielle Belastung denn eine Altersversorgung der Frauen war. In der Umgebung der Ruinen von römischen Bordellen wurden wiederholt zahlreiche Baby-Skelette gefunden.Viele bürgerliche Familien setzten ihre Töchter aus, damit sie später nicht die teure Mitgift bezahlen mussten. Wurden diese Mädchen gefunden, waren sie Eigentum des Finders und wurden nicht selten zu Dirnen herangezogen. Diese Praxis war einer der Gründe für das zahlenmäßige Ungleichgewicht der Geschlechter. Heiraten durften diese Frauen nicht, die Ehe war allein freien Frauen vorbehalten. Die größte Hoffnung, die eine als Prostituierte arbeitende Sklavin haben konnte, war die Freilassung. Doch selbst dann erloschen nicht alle Ansprüche des früheren Besitzers, was sexuelle Dienste einschloss. In Athen konnte man drei Frauenbilder unterscheiden, wie sie von Apollodoros in seiner Rede gegen Neaira dargelegt wurden: Hetären (Prostituierte) zum Vergnügen, Konkubinen zur täglichen körperlichen Befriedigung, Ehefrauen zur Zeugung von legitimen Nachkommen und als Hausverwalterinnen.Diese Einteilung ist allerdings nicht immer stimmig (vgl. Abschnitt zu den Hetären). Eine Sonderform athenischer Prostituierter waren die Flötenmädchen (αὐλέτιδες, aulétides). Es gab sie seit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr., möglicherweise schon früher. Ihren Namen hatten sie von dem Instrument, das sie spielten, dem aulos. Beim Symposion unterhielten sie zunächst die Gäste mit ihrer Musik, später mit sexuellen Gefälligkeiten. Allerdings waren diese Flötenmädchen keine der angesehenen Hetären. Sie waren normale Prostituierte, die im Allgemeinen im Hafen Piräus ihre Kunden suchten. Obwohl es sogar Schulen für Flötenmädchen gab – allerdings sollen sie die Kunst des Flötenspiels meist weniger gut beherrscht haben – gehörten sie zu den niedersten Prostituierten der Stadt. Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. wurde die Bezeichnung αὐλέτιδες (aulétides) schon fast zum Synonym für „billige Prostituierte“. Der Höchstpreis, den sie verlangen konnten, war gesetzlich geregelt und betrug zwei Drachmen. Es ist überliefert, dass Männer, die mehr als die erlaubten zwei Drachmen zahlten, angezeigt und verurteilt worden sind. Häufig gab es bei Symposien zwischen Männern Kämpfe um bestimmte Flötenmädchen, wie aus der Literatur bekannt ist. Im Allgemeinen einigte man sich jedoch durch einen Losentscheid, wenn mehrere Männer Anspruch auf ein Mädchen erhoben. Die Frau selbst hatte kein Mitspracherecht. So verwundert es nicht, dass der Dichter Anakreon solche Prostituierte als „öffentlichen Durchgang“ oder gar „Zisterne“ (zur Aufnahme von Körperflüssigkeiten) bezeichnete. Die Lebensumstände im Bordell wurden offenbar als schlimmer empfunden als ein Leben auf der Straße: Aus der Rede Gegen die Stiefmutter des Antiphon von Rhamnus ist bekannt, dass die Sklavenkonkubine des Philenos ihren Herrn vergiftete, als sie erfuhr, dass er ihrer überdrüssig war, und sie nun fürchten musste, in ein Bordell abgeschoben zu werden. Größere Bordelle hießen πορνέα (pornéa). Bekannt ist in Athen das sogenannte Gebäude Z. mit 15 kleinen Räumen, das lange Zeit als Bordell und Herberge diente. In ihm wurden sowohl Gegenstände aus dem Besitz der dort arbeitenden Frauen als auch Geschirr für Symposien gefunden. Der Dirnenlohn wurde vor dem Intimverkehr ausgehandelt. Es gibt auch Berichte, wonach ein Eintritt gezahlt werden musste und sich der Kunde dann nach freier Wahl bedienen konnte. Nicht zuletzt der profane Umgang mit Geld unterschied die normalen Prostituierten von den begehrten Lustknaben und den Hetären, von denen man sich mehr erwartete als nur eine schnelle sexuelle Handlung. Das Geld bekam im Allgemeinen der Besitzer des Bordells, der πορνοβοσκός (pornoboskós) genannt wurde. In der griechischen mittleren und neuen Komödie waren diese Zuhälter häufig Ziel des Spottes. Sie wurden meistens als geldgierige Schurken dargestellt. Die Prostituierten waren im Allgemeinen Sklavinnen, die von ihren Herren abhängig waren und für die ein sozialer Aufstieg so gut wie unmöglich war. Doch gab es nicht nur sklavische Prostituierte: Aus Athen sind sowohl freigelassene Frauen als auch Nichtathenerinnen belegt, die sich prostituierten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Oft mussten Frauen ihre durch den Selbstfreikauf entstandenen Schulden auf diese Weise abarbeiten. Solche Frauen mussten sich registrieren lassen und hatten eine Sondersteuer zu zahlen. Es war für Besitzer von Sklavinnen offenbar üblich, sie auch arbeiten zu lassen, wenn sie keine Kunden hatten. Eingesetzt wurden sie meist in der Tuchherstellung, wie die Darstellung von spinnenden Prostituierten auf vielen Vasenbildern zeigt. Auch der Fund von über hundert Webgewichten im schon erwähnten Gebäude Z. scheint das zu belegen. === Hetärentum === Die Bezeichnung Hetäre ist an sich schon problematisch. Wie auch das Wort γυνή (gynē) sowohl Ehefrau als auch Frau im Allgemeinen bedeuten konnte, bezeichnete ἑταίρα (hetáira) sowohl Frauen mit eigenem Vermögen oder hohen Preisen als auch einfache, sich prostituierende Sklavinnen. In der modernen Forschung hat sich der Begriff Hetäre für die teuren, angeseheneren Prostituierten durchgesetzt. Im Bewusstsein der Griechen unterschied sich eine solche Hetäre sehr stark von einer einfachen Prostituierten. Hetären waren ein teurer Luxus und in der Regel nur reichen und aristokratischen Männern zugänglich. In deren Augen bezahlten sie die Hetäre jedoch nicht für sexuelle Handlungen, sondern sahen sich in der Tradition der aristokratischen Ethik des Gabentausches als großzügige Zuwender. Sie unterstützten demnach die Hetäre und bekamen dafür Gesellschaft, Zuwendung und sexuelle Gefälligkeiten. Prostituierte waren im Normalfall die einzigen weiblichen Teilnehmer an Symposien. Das konnten einfache Flötenmädchen sein, aber auch teure Hetären. Sie sorgten hier für die Unterhaltung der anwesenden Männer, wozu zunächst das Tanzen und Musizieren gehörte, mit fortgeschrittener Zeit jedoch auch sexuelle Handlungen einschloss. Darstellungen von Hetären gibt es in der griechischen Kunst recht häufig. Besonders oft waren sie auf den Innenbildern von Trinkschalen im rotfigurigen Stil gezeichnet (vgl. Abbildungen rechts). Derartige Trinkschalen gehörten auch beim schon erwähnten Symposion zum benutzten Inventar. Hetären waren zum Teil Sklavinnen, zum Teil aber auch freie Frauen. Vereinzelt brachten sie es zu großem Wohlstand. Versklavte Hetären wurden vielfach von reichen Gönnern freigekauft. Danach konnten sie auf eigene Rechnung wirtschaften oder unterhielten eine Beziehung zu ihrem Gönner. Die schon erwähnte Neaira, deren Schicksal das einzige überlieferte einer antiken Prostituierten ist, hatte nach ihrem Freikauf das Problem, dass zwei Männer Anspruch auf sie erhoben. Der eine war der Mann, der sie freikaufte, der andere ein neuer Gönner. Schließlich einigten sich die beiden Männer über die Modalitäten. Ob Neaira damit einverstanden war, ist nicht bekannt; sie musste sich dem Urteil fügen. Im Vergleich zur Quellenlage zu einfachen Prostituierten ist die zu Hetären und ihrer gesellschaftlichen Position im griechischen Altertum weitaus umfangreicher; viele Hetären sind namentlich überliefert. Am bekanntesten ist Aspasia, die Gemahlin des Perikles, allerdings zu Unrecht, weil sie keine Hetäre war. Ihre Ehe wurde in Athen wegen ihrer ausländischen Herkunft nicht als rechtsgültig anerkannt, daher galt sie als Konkubine und konnte als solche von politischen Gegnern ihres Mannes direkt mit Prostitution in Verbindung gebracht werden. Dieses Beispiel zeigt, wie die Unschärfe der Begriffe zu demagogischen Zwecken genutzt wurde. Dieses Problem wirkte noch bis ins 20. Jahrhundert nach. Um die eigenen moralischen Ansichten mit der Vorstellung von diesen Frauen in Einklang zu bringen, wurde in der Forschung das Bild einer gebildeten Frau konstruiert. Heute kann dieses Bild jedoch nicht mehr aufrechterhalten werden. In der aktuellen Forschung verschwimmen die Grenzen von Hetären und einfachen Prostituierten immer mehr, manche Forscher bestreiten schon die reale Existenz von Hetären und sehen in ihnen entweder nur teure Prostituierte oder Konkubinen, die gar keine Prostituierten waren. === Männliche Prostitution === Im Unterschied zur angesehenen päderastischen Knabenliebe, die sich innerhalb der Polis-Gesellschaften der klassischen Epoche Griechenlands zwischen freigeborenen und mit dem Bürgerrecht der jeweiligen Polis ausgestatteten männlichen Personen vollzog und eigentlich nicht in den Bereich der Prostitution gehört, waren die männlichen Prostituierten in den griechischen Städten der klassischen und hellenistischen Zeit in der Regel Sklaven; wie zu den weiblichen kamen zu den männlichen Prostituierten ausschließlich männliche Kunden. Männliche Prostituierte mussten eine Hurensteuer zahlen (πορνικὸν τέλος, pornikón télos). Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass dies auch auf die weiblichen Prostituierten zutraf. Die Knabenliebe war in der Regel nicht gleichbedeutend mit käuflicher Liebe. Sie wurde oft als Erziehungsmittel eingesetzt, und selbst wenn sie auf Gegenleistungen beruhte, waren diese selten monetär, sondern wurden unterschwellig in Form von Geschenken erbracht. Größere Bordelle mit Männern gab es wohl zumindest in Athen nicht. Sie bewirtschafteten eher kleine, einzelne Räume (οἴκημα, óikēma), deren Tür sich zur Straße öffnete. Hatten sie keinen Kunden, saßen sie vor der Tür und warteten auf Kundschaft. Bekannt ist der Fall des Phaidon aus Elis, eines Freundes und Schülers des Sokrates, dem Platon ein Denkmal mit dem gleichnamigen Werk gesetzt hat: Nach der Eroberung von Elis sei er nach Athen verschleppt und als Sklave in einem Knaben-Bordell eingesetzt worden. Später sei er von Sokrates befreit worden. Ein Solon zugeschriebenes Gesetz verbot bei Todesstrafe Athener Bürgern, die sich prostituiert hatten, vor der Volksversammlung zu sprechen, ein Amt zu bekleiden oder anderweitig am öffentlichen Leben teilzunehmen. === Sakrale Prostitution === In der modernen Forschung ist die Existenz einer Tempelprostitution, bei der sich Tempelsklavinnen (Hierodulen) zu Ehren einer Gottheit gegen Geld prostituierten, umstritten. In antiken Quellen wird vor allem aus Korinth von einem Kult im Tempel der Aphrodite berichtet. Pindar würdigte in einem seiner Gedichte den Korinther Xenophon für die Weihung von 100 Hierodulen. Der Historiker V. Pirenne-Delforge bestreitet jedoch, dass solche sakrale Prostitution in Griechenland je existiert habe. Auch für den sizilianischen Kult der Aphrodite vom Eryx nimmt man sakrale Prostitution an, wie etwa Ovid, Strabon und Diodor zu berichten wissen. Hier sollen noch bis in die frühe römische Kaiserzeit Hierodulen als Tempelprostituierte aktiv gewesen sein. Dieser Kult war von überregionaler Bedeutung und strahlte bis nach Rom aus, wo es jedoch keine nachgewiesene sakrale Prostitution gab, auch wenn Dirnen bei den Festen für Venus Erycina, Venus Verticordia, Fortuna Virilis und Flora eine bedeutende Rolle spielten. == Prostitution bei den Römern == === Quellenlage === Von antiken römischen Autoren gibt es keine umfassende Darstellung zu diesem Thema. Die vorhandenen zahlreichen Quellen zur römischen Prostitution im Altertum sind unterschiedlichen Charakters. Meist handelt es sich um Randbemerkungen in Texten zu anderen Themen. Das betrifft historische Texte ebenso wie rein literarische Werke. Viele derartige Bemerkungen sind heute schwer zu interpretieren; sie wurden im Laufe der Auseinandersetzung damit auch unterschiedlich bewertet. Wichtigste Autoren sind Catull, Ovid, Martial und Petronius. Relevante Quellen sind auch Werke zum römischen Recht, die sich zum Teil ausführlicher mit der Prostitution befassen. So gibt es in den Digesten eine erste umfassende und genaue Definition von Prostitution. Ebenso ergiebig sind epigrafische Texte, vor allem Graffiti aus Pompeji. Schließlich gibt es vor allem für Ägypten in wirtschaftlichen Texten auf Papyri viele Aussagen zur wirtschaftlichen Dimension der Prostitution. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Schriften aus dem Zeitraum von etwa 200 v. Chr. bis etwa 300 n. Chr. Vor allem die literarischen Quellen beziehen sich überwiegend auf die Stadt Rom. Wenn nicht anders angegeben, gelten die folgenden Aussagen zur römischen Prostitution dem Zeitraum der späten Republik und der römischen Kaiserzeit bis zum Erstarken des Christentums unter Konstantin dem Großen in der Spätantike. Dennoch endet die Prostitution auch in dieser Zeit nicht, trotz zum Teil heftiger Traktate der christlichen Schriftsteller (siehe aber den entsprechenden Abschnitt zur Rechtslage unten). === Lebenswelt der Prostituierten === ==== Herkunft der Prostituierten ==== Die kommerzielle Ausbeutung sowohl männlicher als auch weiblicher Personen zu sexuellen Zwecken war nur ein Teil der erzwungenen Leistungen. Jeder Sklave und jede Sklavin konnte von ihrem Besitzer sexuell missbraucht oder dazu an Dritte weitergegeben werden. Der Verkehr mit Sklaven war nicht nur anerkannt, sondern wurde sogar in der Literatur beschrieben und empfohlen und war in keiner Weise als schändlich zu betrachten. Das traf sowohl für den Herrn als auch für die Sklaven zu. Da sich reiche Männer bei ihren Sklaven schadlos halten konnten, gab es im Unterschied zu vielen anderen Kulturen bei den Römern kaum eine Nobelprostitution. Sexuelle Dienstleistungen fanden zum größten Teil im Unterschichtenmilieu statt, in höheren Gesellschaftsschichten galt der Unterhalt einer Prostituierten eher als Mäzenatentum. Die eher geringe Zahl von Edelprostituierten zog ihre reiche Klientel vor allem durch ihre sexuellen Kunstfertigkeiten an. Staatlichen Schutz für Sklavinnen gab es ohnehin nicht, da die römische Rechtsstruktur nur den Eigentümern Rechte zugestand. Es gab mehrere Möglichkeiten, in den Stand der Prostitution zu geraten. Am weitesten verbreitet war die Verschleppung von Kriegsgefangenen. In späterer Zeit, als es immer weniger neue Sklaven gab, wurde auch die Vermehrung von Sklaven im eigenen Haus immer wichtiger. Andere Möglichkeiten waren organisierter Menschenraub – vor allem Seeräuber hielten über Jahrzehnte die Gewässer des Mittelmeers in Unsicherheit – sowie Kindesaussetzung, Kindesverkauf und auch, bis zum endgültigen Verbot im 2. Jahrhundert v. Chr., der Selbstverkauf. Doch nicht nur Sklaven gerieten in die Prostitution. In der neueren Forschung geht man davon aus, dass es eine weitaus höhere Zahl an freiwilligen Prostituierten gab als früher angenommen. Freiwillig bedeutet meist jedoch nur, dass die Frauen nicht von ihren Besitzern zum Verkauf ihres Körpers gezwungen wurden. Das augusteische Eheverbot zwischen Prostituierten und nicht ehrlosen Personen legt nahe, dass es durchaus eine nennenswerte Zahl freier Prostituierter gab. Ebenso ist bekannt, dass sich vereinzelt Frauen in Bordellen einmieteten und sich dort auf eigene Rechnung den Freiern anboten. Auch Prostitution, die vom Vater erzwungen wurde, mag es gegeben haben. Quellen dazu gibt es allerdings erst aus der Zeit der Kaiser Theodosius und Valentinian. Während ihrer Herrschaft wurden Gesetze erlassen, die festlegten, dass Väter die Verfügungsgewalt (patria potestas) über ihre Töchter verloren, wenn sie diese prostituierten. Gründe für die Prostitution freier Frauen waren im alten Rom kaum andere als heute. Dazu zählen eine schlechte ökonomische Basis, fehlende Ausbildung und katastrophale Ereignisse im Familienverband. Nicht selten war es aber auch so, dass man mit Prostitution schneller, leichter und mehr Geld verdienen konnte als mit schwerer körperlicher Arbeit, beispielsweise in der Textilherstellung. ==== Artes meretriciae: Auftreten, Kleidung und Kunstfertigkeiten ==== Wie zu allen Zeiten üblich, mussten auch in der römischen Antike die Prostituierten auf sich aufmerksam machen, um Kunden zu werben. Diese Form der Selbstpräsentation wurde als artes meretriciae bezeichnet. Sie wurde zwischen den Prostituierten weitergegeben und umfasst soziale Regeln, Schönheitstipps, aber auch allgemeinere Verhaltensmaßregeln.Da es für eine ordentliche römische Frau nicht statthaft war, sich besonders auffällig oder gar aufreizend auf den Straßen zu bewegen, so war dies für das Geschäft der Dirnen unumgänglich. Lange Zeit ging man in der Forschung von Kleidervorschriften für Prostituierten aus, was allerdings heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wenn Dirnen ihrem Gewerbe nicht nachgingen, trugen sie oft die einfache Toga mit einer kurzen Tunika. Sie trugen die einfache Kleidung der normalen Bevölkerung, aber ihre Berufskleidung entsprach durchaus einem raffinierten Kodex: Zum Teil stellten sich Bordelldirnen nackt oder mit nackten Brüsten zur Schau. Beliebt waren aber auch durchsichtige, aufgeschürzte oder kurze Kleider aus bunten, aus dem Osten importierten Stoffen. Nicht zuletzt um körperliche Mängel oder kleinere Schönheitsfehler zu kaschieren, waren Prostituierte sehr bewandert in der Kunst des Schminkens und im Umgang mit anderen Körperpflegeprodukten. Vor allem die übermäßige Verwendung von Parfüm war schon fast sprichwörtlich und wird in der antiken Literatur häufig beschrieben. Auch auf die Frisur wurde erheblicher Wert gelegt. Da Blondinen als besonders erotisch galten, blondierten sich Prostituierte oft die Haare oder trugen blonde Perücken. Sehr weit verbreitet war auch die Depilation; Prostituierte ohne Schamhaar standen besonders hoch im Kurs, auch wenn aus Pompeji bekannte Graffiti andere Vorlieben einiger Männer kundtun. Der Vorgang des Depilierens war allerdings nicht sehr angenehm, da Arsenik und Kalklauge auf das zu entfernende Schamhaar gestrichen wurden. Die Depilation erfolgte im Allgemeinen im Bad. Viele Bordelle hatten eigene Wasseranschlüsse und einen entsprechend hohen Wasserverbrauch. Reinlichkeit war unter den römischen Huren offenbar üblich. Zumindest im Bordell schienen sie sich zwischen zwei Kundenbesuchen ausgiebig gereinigt zu haben. Prostituierte, die ihr Geld auf der Straße verdienten, konnten sich einen solchen Luxus selten leisten und gingen nur nach ihrer Arbeit ins öffentliche Bad. In der römischen Kultur gab es eine Abscheu vor allen Unreinlichkeiten in Bezug auf Sexualität. Prostituierte, die sich nicht pflegten, verloren schnell ihre Kunden. Vor allem durch die Ausübung bestimmter Praktiken, wie Fellatio oder Analverkehr, wurde den Prostituierten eine gewisse Unsauberkeit nachgesagt. Doch waren es gerade diese – für eine züchtige römische Matrone beziehungsweise Konkubine unzumutbaren – Praktiken, welche den Dirnen viele Kunden in die Arme trieb. Vor allem für junge Männer galt es als normal, üblich und sogar gesund, Prostituierte zu besuchen. Demgegenüber missbilligte man es, wenn ältere Männer dies taten. Alterssexualität war ein gewisses Tabu in der römischen Gesellschaft. Ältere Männer, die zu Prostituierten gingen, mussten mit dem Spott der anderen rechnen, da man von ihnen erwartete, über ihren Trieben zu stehen. Vor allem Oralverkehr stand bei den Kunden hoch im Kurs und galt als eine Art „Königsdisziplin“ unter den Sexualpraktiken. Nicht zuletzt künden unzählige Graffiti Pompejis noch heute davon. Allerdings wurde den Prostituierten wegen der Ausübung häufig Mundgeruch nachgesagt. Vaginaler Geschlechtsverkehr wurde im Allgemeinen in der heute als Missionarsstellung bekannten Form oder indem die Prostituierte auf ihrem Kunden „reitet“ vollzogen. Der Ablauf dieser Handlungen war zumeist unpersönlich und zum Teil recht brutal. Einziges Ziel war die Befriedigung der männlichen Lust. Auch für andere Vorlieben musste ein Mann ins Bordell gehen. Cunnilingus war in der römischen Gesellschaft verpönt. Wer dies tun wollte, musste es bei einer Prostituierten versuchen, da es als unzumutbar für die eigene Frau galt. Innerhalb einer Ehe wurde nur vaginaler Geschlechtsverkehr als normal empfunden, eine Ehefrau sollte zudem generell keine Lust beim sexuellen Akt verspüren, denn er war allein zur Zeugung von legitimen Nachkommen bestimmt. Männer, die gerne Frauen oral befriedigten, galten als impotent. Ebenso galt Voyeurismus als Zeichen der Impotenz. Dennoch wurden Prostituierte auch für Geschlechtsverkehr vor Zuschauern bezahlt. Andere Formen wie Sadomasochismus oder Koprophilie sind nicht belegt. ==== Orte der Prostitution ==== Trotz vielfach schlechter oder uneindeutiger Quellenlage kann man sagen, dass Prostitution im ganzen Römischen Reich verbreitet war. Besondere Anlaufpunkte waren dabei die Städte und Orte wie Wirtshäuser oder ähnliche gesellschaftliche Zentren auf dem Land, wo man Prostituierte oder Sklavinnen fand, die zugunsten ihrer Herren sexuelle Dienste für die Gäste erbrachten. In den Städten lassen sich einige Orte als besonders beliebt für die Kontaktaufnahme zwischen Prostituierten und Kunden ausmachen. Eine ergiebige Quelle dabei ist Ovids Ars amatoria, in der ausführlich die besten Stellen für die Kontaktaufnahme beschrieben wurden. Bevorzugte Orte waren demnach Säulenhallen, Tempel – in erster Linie solche, die vor allem von Frauen verehrten Gottheiten geweiht waren, wie Isis, Pax, Ceres, Bona Dea oder Magna Mater, aber natürlich auch der Venus – Bäder, Circus und Theater und in Rom speziell auch im Armenviertel Subura. An der Peripherie der Stadt konnte man Prostituierte an den Ausfallstraßen vor den Stadttoren finden, besonders berüchtigt waren hier die Gräberstraßen. In der Provinz sind Militärlager und Bordelle häufig in direkter Nachbarschaft anzutreffen. Das begründet sich wohl auch darin, dass römische Legionäre nicht heiraten durften. Sowohl vor den Toren als auch bei den Militärlagern waren vermutlich vor allem Reisende oder kurzzeitig in Rom stationierte Soldaten die Hauptkunden, wohingegen etwa in der Subura hauptsächlich dort lebende Bewohner als Kunden anzunehmen sind. Das gewöhnliche römische Bordell wurde als lupanar bezeichnet, was sich von lupa (Wölfin) ableitet. Andere Bezeichnungen waren lustrum (Morast, Pfütze, Wildhöhle; im Plural lustra auch Bordell und „ausschweifendes Leben“) oder fornix (Gewölbe, Mauerbogen). Vor allem die beiden ersten Bezeichnungen hatten schon damals einen negativen Beigeschmack. Bordelle waren private Unternehmungen, nur in Ägypten gibt es Anzeichen für strenger geregelte Systeme, über die man bisher jedoch noch keine genaueren Aussagen treffen kann. Es gab mehrere Formen von Bordellen oder bordellähnlichen Unterkünften: das von Beginn an als Bordell geplante Bordellgebäude, andere Betriebe, die neben ihren eigenen Produkten auch sexuelle Leistungen anboten, etwa Wirtshäuser, Kneipen, Geschäfte (vor allem Bäckereien), Einzelzimmer, die zumeist zur Straße hin gelegen waren.Vor allem die letzten beiden Formen sind sehr schwer nachzuweisen, da hier oft auch andere Nutzungen nicht unbedingt ausgeschlossen werden können. Nach einem aus konstantinischer Zeit stammenden Verzeichnis gab es in Rom fünfundvierzig Lupanare, im kurze Zeit später entstandenen Curiosum wurden sogar sechsundvierzig genannt. Für Pompeji wurden früher weit übertriebene Zahlen angenommen, heute geht man jedoch davon aus, dass nur ein einziges Bordell ersten Typs in der Stadt lag. Dieses Lupanar von Africanus und Victor ist heute das bedeutendste archäologische Beispiel für ein römisches Bordell. Es hatte zehn Räume, fünf davon befanden sich im unteren, weitere fünf im oberen, nicht mehr erhaltenen Stockwerk. Die unteren, um einen Korridor angeordneten, nur zwei Quadratmeter großen Zellen waren kleiner als die in der oberen Etage und beherbergten vermutlich die preiswerteren Dirnen. In jedem Zimmer gab es eine gemauerte Bettstelle mit einem erhöht gemauerten Kopfstück. Andere Einrichtungsgegenstände gab es nicht, abgesehen von Öllampen, die die fensterlosen Räume erleuchteten. Verschlossen wurden die Räume von einer Holztür oder einem Vorhang. Die aus der Literatur bekannte miserable Luft ist dann verständlich, da es zum Korridor hin nur einen kleinen Abzug gab. Die Wände des Korridors waren recht weit oben mit erotischen Szenen bemalt. Das legt nahe, dass diese Bilder sowohl zur Stimulation der Wartenden als auch als eine Art Leistungskatalog zu interpretieren sind. Solche Kataloge scheint es auch auf Papyrus gegeben zu haben, zumindest sind sie aus Abbildungen bekannt. Die Wandbilder wurden von den Forschern noch bis vor kurzem übergangen, da ihnen die Abbildungen als unmoralisch erschienen. Sie wurden nicht einmal beschrieben. Der heutige Zustand ist folglich recht schlecht. Die Bordelle betrieben zum Kundengewinn recht offensive Werbung. Die Eingänge der Freudenhäuser waren auf verschiedene Weise gekennzeichnet. Möglich waren beispielsweise Reliefs mit erotischen Darstellungen oder Phallusreliefs oder Lampen mit Phallussymbol. Allerdings ist auch hier die Deutung vielfach schwer, weil solche Darstellungen durchaus üblich waren und nicht zwingend einen Bezug zur Prostitution haben mussten. Zur Werbung wurden auch Graffiti an die Wände gemalt. Sie waren mitunter sehr deutlich, da sie durchaus lautschreierisch in großen Buchstaben geschrieben wurden. Manchmal waren es die Prostituierten selbst, die diese Inschriften anbrachten, manchmal der Zuhälter oder Besitzer, manchmal aber auch ein zufriedener (oder auch unzufriedener) Kunde. Offensichtlich gab es auch subtilere Methoden der Werbung. So hatten einige Prostituierte auf den Sohlen ihrer Schuhe Texte angebracht, die als Abdrücke im Sand den Männern signalisierten, sie mögen doch folgen. Weitaus weniger subtil waren die eher rabiaten Methoden, mit denen manche Bordellwirte Kunden lockten: Es waren Schlepper und Kundenfänger unterwegs, die in schlechten Zeiten zum Teil auch Gewalt anwandten, um die Kundschaft zu ihrem flüchtigen Vergnügen zu zwingen. Auch die Dirnen versuchten manchmal, Kunden mit sich zu zerren, und waren bei einem Misserfolg für ihre Schimpfkanonaden bekannt. Das einfachste Mittel der Werbung war jedoch, wenn die Prostituierten leicht bekleidet vor dem Bordell saßen oder standen. Unklar ist die Bedeutung mancher tesserae, die möglicherweise als Gutscheine von Kaisern als Streumarken unter das Volk gebracht wurden. Die Bedeutung dieser spintriae ist in der Forschung sehr umstritten, es sprechen allerdings viele Aspekte dafür, dass neben Gutscheinen für den „Circus“, für Getreide und Wein auch Gutscheine für Bordellbesuche verteilt wurden. Dafür spricht nicht nur die Verzierung der Marken mit sexuellen Motiven, darunter die Wiedergabe von Stellungen, sondern ebenso die Nummerierung von ein bis 16 As, was den gängigsten Tarifen der Prostituierten entsprach. ==== Die Kunden ==== Grundsätzlich war es wie bei den Griechen auch bei den Römern üblich, dass ausschließlich Männer Prostituierte beiderlei Geschlechts in Anspruch nahmen. Die römische Gesellschaft sah nicht vor, dass Frauen außerhalb einer Ehe oder eines Konkubinats sexuelle Kontakte hatten. Ehen waren weder zur Lustbefriedigung des Mannes noch der Frau gedacht, sondern in erster Linie zur Zeugung legitimer Nachkommen. Selbst die Entwicklung einer Liebe war nur von untergeordneter Wichtigkeit und höchstens als Zugabe zu sehen. Obwohl Frauen als das lasterhaftere und lüsternere Geschlecht angesehen wurden, wurde ihnen das freie Ausleben ihrer Sexualität weder in einer Beziehung noch als Prostituierte oder mit Prostituierten zugestanden. Sexuelle Erfüllung brauchten, nach den in der römischen Gesellschaft vorherrschenden Ansichten, nur Männer zu erlangen. Da diese innerhalb einer Ehe oder des Konkubinats nicht möglich war und bestimmte Sexualpraktiken als verpönt galten, war es für einen römischen Mann absolut in Ordnung, seine Befriedigung in einem Bordell zu suchen. Wer keine eigenen Sklaven oder anderweitig abhängige Personen zur Verfügung hatte, konnte an vielen Stellen der Stadt Prostituierte antreffen. Teurere Kurtisanen ließ man sich sicher ins Haus kommen, ebenso Tänzerinnen, Musikerinnen und Sängerinnen, die bei Festen auftraten und nicht selten auch für sexuelle Gefälligkeiten zu haben waren. Wer sich das nicht leisten konnte, ging in ein Bordell oder suchte nach Kontaktmöglichkeiten direkt auf der Straße. Entweder zog man sich dann in ein zu mietendes Zimmer zurück, ging in das Zimmer der Prostituierten oder suchte sich einfach einen Platz, wo man den Akt im Verborgenen vollziehen konnte. Möglichkeiten gab es auch auf den Gräberstraßen vor den Stadttoren. Die dort tätigen, busturiae genannten Dirnen, denen man nachsagte, sie würden es vor allem mit Totengräbern treiben, galten als besonders verrucht. Ihr Status galt als die unterste Stufe, auf die eine Prostituierte geraten konnte. Ein Großteil der Prostitution spielte sich innerhalb der einfachen Stadtviertel ab und war dort allgegenwärtig. Prostituierte waren nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern Teil von ihr. Zwar unterlagen sie gewissen Beschränkungen – etwa bei den Ehegesetzen – und mussten eine Sondersteuer zahlen, deren Höhe und Modalitäten wohl häufig durch Ädile (in Griechenland durch Agoranomen) geregelt war. Jedoch selbst beim religiösen Kult waren sie integriert und nahmen manchmal sogar in tragenden Rollen an den Festen und Mysterien teil. Somit lebten die Kunden und die Prostituierten örtlich nahe beisammen und stammten dabei meist aus demselben Milieu. Der niedrige Preis lud ein, des Öfteren sexuelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Ein Mann bekam für wenig Geld relativ viel geboten und konnte auch Dinge tun, die mit der Ehefrau unmöglich zu sein schienen. Allerdings war der Respekt vor den sexuellen Dienstleistern nicht immer vorhanden und die Bordelle galten nicht zuletzt als Orte der Gewalt. Aus der literarischen Überlieferung ist vielfach der raue Umgang der Kunden mit den Prostituierten bekannt, die geschlagen wurden und auf die auch beim Verkehr kaum Rücksicht genommen wurde. Eine Prostituierte hatte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit keinen Anspruch auf zuvorkommende Behandlung, was viele Männer ausnutzten. Eine Gesellschaft, die eher an raue Sitten gewöhnt war – man denke nur an Gladiatorenspiele und Tierhetzen –, nahm folglich auch keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten käuflicher Frauen und Männer. In der Kunst gibt es jedoch, anders als aus der griechischen Zeit, keine derartigen Darstellungen. Wahrscheinlich noch schlechter als den Dirnen im Bordell erging es denen, die auf der Straße ihr Geld verdienten. In der Literatur werden die Kunden auch häufig als betrunkener Pöbel beschrieben. Möglicherweise um Geld zu sparen, kam es auch vor, dass sich zwei Kunden eine Frau teilten, wie aus Graffiti in Pompeji hervorgeht. Im Laufe der Zeit bildeten sich für die spezifischen Wünsche der Kunden auch Spezialbordelle heraus. So gab es neben lupanaren für Frauen und Männer wahrscheinlich auch Bordelle mit Tieren oder Kindern. Martial lobt Kaiser Domitian dafür, dass dieser ein Verbot des Verkaufs von Kindern zu Unzuchtszwecken erlassen hatte. Allerdings schloss das nicht aus, dass im Haus geborene Sklaven auch weiterhin missbraucht wurden. Aber auch hier sind die Quellen nicht eindeutig zu interpretieren. Einen nicht zu unterschätzenden Anteil unter den Bordellbesuchern stellten Sklaven und Freigelassene, die kaum eine andere Möglichkeit hatten, ihr sexuelles Verlangen zu erfüllen. Auch hierfür geben die Graffiti auf den Bordellwänden in Pompeji beredtes Zeugnis, was in der Literatur ebenfalls gut belegt ist. So macht beispielsweise Cato der Ältere ein Geschäft daraus, dass er sich von seinen männlichen Sklaven die Erlaubnis zum Verkehr mit seinen Sklavinnen bezahlen ließ. In der Literatur kristallisierten sich zwei Sklaventypen heraus: Zum einen der arbeitsame Landsklave, zum anderen der verlotterte Stadtsklave. Daran ist zweifelsohne ein wahrer Kern, da in der Stadt all die städtischen Vergnügungen – auch für Sklaven – zum Greifen nahe waren und neben Bordellbesuchen auch Besuche etwa in Thermen und bei den Spielen abgestattet werden konnten. Auf dem Land gab es all diese Möglichkeiten nur in begrenztem Umfang oder gar nicht. Neben den Kunden der Unterschicht gab es vermutlich nicht wenige jüngere Burschen aus der Oberschicht, die sich bei den einfachen Prostituierten „ihre Hörner abstießen“. Wo ältere Vertreter der Oberschicht schlecht angesehen waren, wenn sie ein Bordell auch nur betraten, sah man es den jüngeren Besuchern nach. Ihnen wurde nur dann ein Vorwurf gemacht, wenn sie in den Bordellen ihr Erbe vergeudeten. Die vor allem in der Oberschicht beliebten Kurtisanen standen, anders als eine normale Prostituierte, für den reichen Gönner, genau wie eine griechische Hetäre, auch für längere Beziehungen zur Verfügung. Oft wurden sie von nur einem einzigen Kunden unterhalten. Bekannt sind solche amicae an der Seite vieler bedeutender antiker Männer bekannt, etwa bei Scipio dem Jüngeren, Sulla, Verres, Pompeius und Marcus Antonius. Im römischen Recht wurden diese Kurtisanen, nicht zuletzt wegen ihrer Wahlfreiheit, nicht als Prostituierte angesehen. Einen nicht unbeachtlichen Teil der Kundschaft stellten die Soldaten. Wo immer sich römische Heere sammelten, waren auch Prostituierte im Tross anzutreffen. Die Soldaten, die ja seit der Gesetzgebung des Augustus bis zum Rang des Zenturios nicht heiraten durften und eine lange Dienstzeit ableisteten, hatten für sexuelle Kontakte kaum eine andere Wahl als den Gang zu Prostituierten. Die strengen Vorschriften des Augustus wurden während der Regierungsjahre von Trajan und Hadrian gelockert und unter Septimius Severus ganz aufgehoben. Manche Soldaten hatten Sklavinnen, die sicher auch sexuell zu Diensten sein mussten. Homosexuelle Kontakte innerhalb der Truppe waren ungern gesehen, vor allem dann, wenn höhere Ränge ihre Macht über einfache Soldaten in dieser Richtung missbrauchten. Seit Caligula hatten die Soldaten noch einen weiteren Bezug zu den Prostituierten, da sie ab dieser Zeit für die Einziehung der Hurensteuer zuständig waren. ==== Die Profiteure des Geschäftes ==== Bei der Rekonstruktion des Wirkens der Zuhälter und ähnlicher Personen ist die Interpretation schwierig. Schon in den frühen Komödien werden oft lenones und lenae, Zuhälter und Zuhälterinnen, genannt. Sie werden äußerst negativ dargestellt. Der Beruf des leno wurde zur Zeit von Valentinian I. und Theodosius I. als Zuhälterei verboten. Leno waren Zuhälter im kleinen Stil. Manche von ihnen haben möglicherweise nur die eigene Frau, Tochter oder Schutzbefohlene prostituiert. Seit der Augusteischen Gesetzgebung war diese Form der Prostituierung als Ehebruch verboten. Auch die Gastwirte, caupones, betätigten sich häufig als Zuhälter im kleinen Stil. Viele vermieteten Zimmer an Prostituierte und deren Kunden oder boten neben Speisen und Getränken auch ihre meist sklavischen Bedienungen für sexuelle Leistungen an. Neben Wirten und Kneipenbesitzern wurden in dieser Weise auch oft Bademeister, Friseure und besonders häufig Bäcker genannt. Nicht selten zogen Prostituierte auch eigene Töchter oder Findelkinder auf, um sie später für sich arbeiten zu lassen und somit ein gesichertes Auskommen im Alter zu haben. Das erklärt auch die Funde von vielen männlichen, aber nur wenigen weiblichen Babyskeletten in einem römischen Bordell. In der römischen Gesellschaft galt die Prostitution von freien Kindern, wenngleich nicht gesetzlich verboten, als eine der verwerflichsten Taten, die man begehen konnte; sie war nicht einmal mit dem drohenden Hungertod zu rechtfertigen. Bei so genannten unfreien Kindern hatte man solche Bedenken nicht. Professionelle Zuhälter fanden sich nur als Besitzer oder Pächter von Bordellen. Es finden sich keine Informationen, dass die Straßenprostitution etwa in Reviere aufgeteilt und diese von einzelnen Zuhältern verwaltet wurden. Professionelle Zuhälter hatten mehrere Möglichkeiten, an Sklaven zu kommen. Eine war der Sklavenmarkt, der Ankauf von Kindern zumeist notleidender Eltern, aber auch das Aufziehen von Findel- und im Haus geborenen Kindern. Manchmal gehörten Bordelle auch mehreren Personen. Es sind zudem Fälle bekannt, in denen der eigentliche Besitzer nicht bekannt werden wollte, da mit dieser Funktion ein schlechter Leumund verbunden war. Dann ließ er sein Etablissement von anderen Personen, meist einem Freigelassenen oder auch einem Sklaven, verwalten. ==== Preise ==== Die Preise für die sexuellen Dienstleistungen sind zum Teil literarisch, zum Teil papyrologisch, vor allem aber epigrafisch in Form von Graffiti an den Wänden Pompejis überliefert.Aus den Quellen ergibt sich eine normale Preisspanne von 2 bis 16 As (letzteres entspricht einem Denar). Die literarischen Quellen sprechen auch von niedrigeren Preisen, was aber vor allem für Preise unter einem As recht unglaubwürdig anmutet. Die niedersten Dirnen wurden als Quadrantaria bezeichnet, der Name leitet sich von der Bezeichnung für ein viertel As ab, was die übliche Bezahlung für ein solches Mädchen war. Viele höhere Preise sind nicht als realistisch anzusehen, obwohl es durchaus Hetären gab, die gut bis außergewöhnlich gut bezahlt wurden. Die meisten Quellen, die von hohen Preisen berichten – vor allem, wenn sie im Zusammenhang mit den römischen Kaisern genannt werden – sind möglicherweise als gegen die Kaiser gerichtete Propaganda zu sehen. Aus Pompeji sind durch Graffiti Beträge zwischen 2 und 23 As belegt. Knapp die Hälfte der erwähnten Preise nennt 2 As. Somit kann man davon ausgehen, dass dies der übliche Preis war, der vereinzelt auch überboten wurde. Es ist auch anzunehmen, dass für höhere Preise mehr geboten wurde oder dass sich die Prostituierten ihre besondere Schönheit bezahlen ließen. Man kann ebenso vermuten, dass Dirnen, die höhere Preise verlangten, weniger Kunden am Tag hatten. Besonders hohe Preise sollen Jungfrauen erzielt haben. Quellen für die Preise außerhalb Roms und Pompejis sind nur sehr wenige vorhanden, doch kann man festhalten, dass das Preisspektrum in den Städten des Reiches im ersten und zweiten Jahrhundert in etwa gleich war. Für die Prostitution außerhalb der Städte gibt es generell nur wenig Belege; sie legen aber den Schluss nahe, dass die dortigen Preise etwas höher lagen. Das kann man offenbar damit erklären, dass auf dem Land eine wesentlich geringere Konkurrenz herrschte als in Städten. In einem bekannten Dokument aus Aesernia, dem Grabstein des Lucius Calidius Eroticus, wird einem Kunden die Rechnung aufgestellt. Hierbei wurde auch eine Prostituierte, die offenbar abhängig bei einem Gasthof beschäftigt war, abgerechnet. Sie umfasste mit 8 As sogar den größten Teil der Rechnung (14 As), die auch Unterkunft, Mahlzeit und Heu für den Esel einschloss. Der Bedarf für den Lebensunterhalt wurde, so weit es möglich war, von den Historikern Duncan Jones, Bettina Eva Stumpp und anderen berechnet. Stumpp setzt das Existenzminimum mit 3000 As im Jahr an. Ihren Berechnungen zufolge konnten Prostituierte bei idealen Bedingungen etwa 6500 bis 12.000 As netto verdienen. Jedoch ist unklar, inwieweit diese Musterrechnung die damalige Realität abbilden kann. Zudem verloren die Prostituierten mit zunehmendem Alter auch an Attraktivität; so muss man mit Abschlägen rechnen. Abhängige Prostituierte erhielten natürlich weniger, weil ihr Zuhälter oder Besitzer das Geld bekam. Trotzdem kann man annehmen, dass vor allem selbstständige Prostituierte teilweise genug Geld verdienten, um sich selbst einen oder mehrere Sklaven zu kaufen und diese dann im fortgeschrittenen Alter für sich anschaffen gehen zu lassen. Über die Preise für Sklavinnen, die zur Prostitution herangezogen werden sollten, ist bisher wenig bekannt. In der Literatur gibt es zwar einige sehr hohe Preisangaben, die jedoch vor allem im Zusammenhang mit Kritik an kaiserlicher Verschwendungssucht und deren ausschweifendem Lebenswandel zu verstehen sind und nichts mit der Realität zu tun haben müssen. Für eine normale Prostituierte ist wahrscheinlich Martials Preisangabe von 600 Denaren anzunehmen. Das ist am unteren Preissegment für Sklaven anzusiedeln, was jedoch realistisch ist, da Prostituierte ungelernt waren und keine besonderen Fähigkeiten mitbrachten. === Rechtslage === ==== Prinzipat ==== Im römischen Recht gab es immer wieder Versuche, die Prostitution zu regulieren. Ein Versuch, sie abzuschaffen, wurde bis in die Spätantike (siehe unten) nicht unternommen. Die einschneidendste rechtliche Verordnung war die lex Iulia et Papia, die es ranghöheren Personen untersagte, Prostituierte zu heiraten. Ziel dieses Gesetzes war es, den Aufstieg von Prostituierten in höhere Rangklassen des römischen Volkes zu verhindern. Ebenso bedeutend für Prostituierte war die durch die lex Iulia de adulteriis geregelte Ausnahme von der strengen Sittengesetzgebung. So wurden Prostituierte durch dieses Gesetz von den Strafen für Ehebruch ausgenommen. Damit wurde der Platz käuflicher Personen innerhalb der römischen Gesellschaft geregelt. Rechtlich standen sie ganz unten und am Rande der Gesellschaft. Dies galt ebenso für artverwandte Berufe, deren Protagonisten den Prostituierten oftmals auch im Berufsbild gleichgestellt waren, wie männliche und weibliche Schauspieler, Schankmädchen, Sängerinnen und Tänzerinnen. Wie auch in anderen Berufsgruppen und bei Personen, die der infamia ausgesetzt waren, durften Prostituierte nicht oder nur eingeschränkt Erbschaften antreten. Vor Belästigung und Vergewaltigung, vor allem durch höher gestellte Personen, waren die Dirnen nicht geschützt; praktisch waren sie Freiwild. Es ist in der Forschung umstritten, ob das Eindringen in einen geschlossenen Raum und die anschließende Vergewaltigung einer versklavten Prostituierten als Vergewaltigung zu werten war, oder ob hier das Sachenrecht griff. Im Verlauf der Kaiserzeit wurden immer wieder Gesetze gegen erzwungene Prostitution erlassen, beispielsweise das bereits erwähnte Gesetz gegen die Prostitution von Kindern unter Domitian. Aber auch die Prostituierung von Sklavinnen, die ausdrücklich unter der Bedingung verkauft oder vererbt worden waren, dass sie nicht als Dirnen arbeiten müssen, war verboten. Sie wurden in dieser Hinsicht ausdrücklich durch das römische Recht geschützt. In den Quellen finden sich jedoch viele Stellen, wo über die Missachtung solcher Vertragsklauseln berichtet wird. Freigelassene frühere Sklavinnen durften nicht dazu gezwungen werden, ihre Schulden als Prostituierte abzugelten. Seit der Regierungszeit Caligulas mussten Prostituierte und Zuhälter eine Steuer entrichten, die auf griechischen Vorbildern beruhte und im Allgemeinen dem Preis für einen Beischlaf mit der betreffenden Prostituierten entsprach. In Ägypten wurde ein fester Betrag fällig. Viele überlieferte Dokumente sprechen für eine konsequente Erhebung der Steuer. Hierfür waren unterschiedliche Körperschaften zuständig: in Rom und Karthago beispielsweise verschiedene Dienstgrade der Armee, in Palmyra und Ägypten zivile Steuereintreiber. Diese Steuer war offenbar für den römischen Staat von großer Bedeutung, was die konsequente Erhebung bis in die christliche Zeit erklärt. Außerdem war sie ein Zeichen für die Legalität der Prostitution. Solange die Steuer erhoben wurde, war Prostitution im römischen Reich erlaubt. ==== In der Spätantike ==== Die Erstarkung des Christentums hatte auch Auswirkungen auf die Prostitution: Ende des 3. Jahrhunderts schwor Pelagia ihrem früheren Leben ab und zog sich in ein asketisches Dasein zurück, wobei sie ihr Vermögen der Kirche vermachte. Der Bischof Nonnus soll sich aber geweigert haben, es anzunehmen. Konstantin der Große, der das Christentum privilegierte, änderte interessanterweise wenig an der bestehenden Haltung des Staates gegenüber Prostituierten – was allerdings nicht heißen soll, dass es in der Spätantike nicht ernsthafte Versuche gab, die Prostitution zu unterbinden. Um die Mitte des fünften Jahrhunderts wurden von staatlicher Seite Versuche unternommen, bestimmte Probleme der Prostitution zu beseitigen: der in den Quellen als frommer Christ bezeichnete praefectus praetorio per Orientem Florentinus sorgte in der Regierungszeit Theodosius’ II. dafür, dass im Jahre 428 ein neues Gesetz erlassen wurde. Demnach konnten Prostituierte beim Bischof, dem Provinzgouverneur oder in den Städten vorstellig werden, wenn sie aus ihrer Tätigkeit entlassen werden wollten. 439 sorgte Florentinus außerdem dafür, dass alle Prostituierten der Hauptstadt Konstantinopel freigelassen und Bordellbesitzer der Stadt verwiesen wurden. Ebenso wurde, wie schon erwähnt, Vätern verboten, Gewinn aus der Prostitution ihrer Töchter zu ziehen. All das geschah aber nicht nur, weil einzelne christliche Autoren gegen die Prostitution zu Felde zogen: Vielmehr wurde es nun als unethisch angesehen, aus der Prostitution zusätzlichen Gewinn für den Staat zu erzielen. Darin drückte sich der langsam wachsende Kontrast des alten Imperium Romanum zum neuen Imperium Romanum Christianum aus. Unter dem oströmischen Kaiser Leo I. wurde die Prostitution schließlich verboten, die entsprechende Steuer wurde aufgehoben; beides erwies sich freilich als ineffektiv, denn unter Anastasios I. war Ende des fünften Jahrhunderts wieder von der Steuer die Rede.In der Zeit Justinians wurden zusätzlich Gesetze zum Schutz junger Mädchen erlassen, nachdem bekannt wurde, dass das Gewerbe der Prostitution in der Hauptstadt wieder anwuchs. In den Provinzen wurden Mädchen, teils jünger als zehn Jahre, von „Händlern“ eingekauft. Dem machte der Kaiser ein Ende. Seine Ehefrau Theodora setzte sich für Prostituierte ein: Sie ließ die Mädchen befreien, die Bordelle schließen und gab ihnen Kleidung sowie etwas Geld. == Forschungsgeschichte == Wie bei allen Themen, die mit Sexualität zu tun haben, beschäftigten sich zunächst fachfremde Autoren in vorwiegend populärwissenschaftlichen Werken mit dieser Thematik. Fachkundigen Wissenschaftlern war das Thema zu unseriös und verpönt. Wenn überhaupt, widmeten sie sich der Thematik nur unter einem Pseudonym. So ist es nicht verwunderlich, dass diverse Fehlinterpretationen aufkamen, die sich bis heute im gemeinschaftlichen Gedächtnis erhalten haben. Meist waren diese ersten Werke Teile von Gesamtdarstellungen wie Die Geschlechtsausschweifungen unter den Völkern der alten und der neuen Welt geschichtlich und das Gewerbe feiler Weiber staatsrechtlich dargestellt (anonym, 1826). Im Regelfall waren sie unter dem Vorwand verfasst worden, die Sittlichkeit zu heben oder die Geschlechtskrankheiten bekämpfen zu wollen. In anspruchsvolleren Werken wie dem von Ludwig Friedlaender wurde das Thema nur am Rande behandelt. Einen Aufschwung erlebte das Thema um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Unter dem Einfluss von Sozialismus, Psychoanalyse, der Frauenrechtsbewegung und einer beginnenden sexuellen Liberalisierung suchten und fanden Akademiker einen neuen Zugang zum Thema. Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung leistete der Arzt und Begründer der modernen Sexualwissenschaft, Iwan Bloch. Doch auch sein Werk enthielt noch die Absicht, die Prostitution als solche zu vernichten. So ist es nicht verwunderlich, dass viele seiner Ansätze heute als überholt anzusehen sind. In der Forschung dieser Zeit wurden beispielsweise Hetären zunächst in idealisierter Weise dargestellt. Dass sie neben der Ausübung ihrer Fähigkeiten sich auch noch gegen Bezahlung Männern hingaben, wurde als unerfreuliche Begleiterscheinung oft in den Hintergrund gedrängt. Eine andere Sicht vertraten die, die unter dem Einfluss des sich ausbreitenden Feminismus standen. Sie teilten die Frauen in zwei Kategorien: Ehefrauen, deren Sexualität durch die Männer beschränkt wurde, und Prostituierte. Letztere waren sowohl einfach Prostituierte wie auch Hetären und sogar Konkubinen. Letztlich hingen beide Vorstellungen idealisierten Frauenbildern an. Die heutige Forschung sieht hier keine eindeutigen Trennungsmöglichkeiten mehr, alle Grenzen wurden fließend. Erst 1960 setzte erneut eine Welle der Beschäftigung mit dem Thema ein. Unter anderen forschte Hans Herter auf diesem Gebiet. Er veröffentlichte einen seinerzeit vielbeachteten Aufsatz (Die Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums) im Jahrbuch für Antike und Christentum, der allerdings heute nur noch in Teilen aktuell ist. Rückblickend beschäftigten sich die Arbeiten dieser Zeit epochenübergreifend mit Griechen und Römern und sind heute von geringem wissenschaftlichen Belang. Ende der 1980er Jahre zog durch die Studien von Ingeborg Peschel und Carola Reinsberg auch eine feministische Sichtweise in die Altertumswissenschaften ein. Die Arbeiten der beiden interpretierten das Bild der griechischen Hetäre neu. Bettina Eva Stumpp veröffentlichte eine umfassende Studie zur Prostitution im Römischen Reich. Spätestens seit den 1990er Jahren ist das Thema aus der ‚Schmuddelecke‘ geholt, und viele Einzelstudien aus historischer und archäologischer Sicht beschäftigen sich mit Einzelaspekten dieses Forschungsbereiches. == Literatur == === Quellensammlungen === Liselot Huchthausen: Römisches Recht. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1975, ISBN 3-351-01334-5. (Bibliothek der Antike. Römische Reihe) Werner Krenkel: Erotica antiqua. Teubner, Leipzig 1990, ISBN 3-322-00741-3. Karl-Wilhelm Weeber: Decius war hier… Das Beste aus der römischen Graffitiszene. Artemis & Winkler, Zürich/Düsseldorf 1996, ISBN 3-7608-1131-0. (Antike aktuell) === Sekundärliteratur === Iwan Bloch: Die Prostitution. Band 1, Louis Marcus Verlagsbuchhandlung, Berlin 1912. Ernest Bornemann: Diverse Artikel in Lexikon der Liebe, Materialien zur Sexualwissenschaft. Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1978, ISBN 3-548-03585-X. James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen. Siedler Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-8333-0199-6. (Original: Courtesans and Fishcakes: The Consuming Passions of Classical Athens. London 1997) Angelika Dierichs: Erotik in der Kunst Griechenlands. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-2014-0. (Antike Welt, Sonderheft; Zaberns Bildbände zur Archäologie) Angelika Dierichs: Erotik in der Römischen Kunst. von Zabern, Mainz 1993, ISBN 3-8053-1540-6. (Antike Welt, Sonderheft; Zaberns Bildbände zur Archäologie) Ludwig Friedlaender: Sittengeschichte Roms. Phaidon, Essen 1996, ISBN 3-88851-162-3. (Original: Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine. 1862–1871) Jane F. Gardner: Frauen im antiken Rom. Familie, Alltag, Recht. C. H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-39114-1. (Original: Women in Roman law and society. Croom Helm, 1986) Debra Hamel: Der Fall Neaira. Die wahre Geschichte einer Hetäre im antiken Griechenland. Primus-Verlag, Darmstadt 2004, ISBN 3-89678-255-X. Elke Hartmann: Prostitution II. Klassische Antike. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 10, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01480-0, Sp. 451–454. Violaine Vanoyeke: La Prostitution en Grèce et à Rome. Les Belles Lettres, coll. «Realia», Paris 1990. Marilyn A. Katz: Women, Children and Men. In: Paul Cartledge (Hrsg.): The Cambridge Illustrated History of Ancient Greece. Cambridge 1998, S. 100–138. Mary R. Lefkowitz: Die Töchter des Zeus. Frauen im alten Griechenland. C. H. Beck, München 1992, ISBN 3-406-36768-2. (Original: Women in Greek myth. Gerald Duckworth & Co. Ltd., 1986) Peter Mauritsch: Leichte Mädchen, schnelles Geld? oder: Die Ausbeutung des Begehrens. In: Christian Bachhiesl, Markus Handy (Hrsg.): Kriminalität, Kriminologie und Altertum (= Antike Kultur und Geschichte. Band 17). Lit, Wien 2015, ISBN 978-3-643-50639-9, S. 125–142. Thomas A. J. McGinn: Prostitution, Sexuality, and the Law in Ancient Rome. Oxford University Press, Oxford, New York 1998, ISBN 0-19-508785-2. Thomas A. J. McGinn: The Economy of Prostitution in the Roman World: A Study of Social History and the Brothel. University of Michigan Press, Ann Arbor 2004. Florian M. Müller, Veronika Sossau (Hrsg.): Gefährtinnen. Vom Umgang mit Prostitution in der griechischen Antike und heute, Innsbruck 2012, ISBN 978-3-902811-45-5. (SPECTANDA – Schriften des Archäologischen Museums Innsbruck 1) Sarah B. Pomeroy: Frauenleben im klassischen Altertum (= Kröners Taschenausgabe. Band 461). Kröner, Stuttgart 1985, ISBN 3-520-46101-3, (Original: Women in classical antiquity. 9. Auflage. Schocken Books, New York 1984). Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. C. H. Beck, München 1989, ISBN 3-406-33911-5. (Beck's archäologische Bibliothek) Martin Rybarski: Die Funktion des Flötenmädchens beim Symposion von 530 bis 500 v. Chr. München 2010, ISBN 978-3-640-60505-7. Christine Schnurr-Redford: Frauen im klassischen Athen. Sozialer Raum und Bewegungs-freiheit. Berlin 1996. (Dissertation) Wolfgang Schuller: Frauen in der Römischen Geschichte. Piper, München/Zürich 1992, ISBN 3-492-11321-4. Bettina Eva Stumpp: Prostitution in der römischen Antike. Akademie-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-05-003256-1. (Antike in der Moderne) == Weblinks == Rezension zu Bettina Eva Stumpp: Prostitution in der römischen Antike. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Prostitution_in_der_Antike
Seelengrund
= Seelengrund = Seelengrund ist ein Begriff der spätmittelalterlichen Philosophie und Spiritualität, der auch in frühneuzeitlicher geistlicher Literatur vorkommt. Der von Meister Eckhart († 1327/1328) geprägte Ausdruck bezeichnet in einem übertragenen Sinn einen „Ort“ in der menschlichen Seele, an dem nach spirituellen Lehren Gott oder die Gottheit anwesend ist und eine Vereinigung der Gottheit mit der Seele zustande kommen kann. Schon in der Antike trugen Philosophen und Theologen Thesen vor, die später zu Voraussetzungen und Bestandteilen der mittelalterlichen Lehren vom Seelengrund wurden. Auch die einschlägige mittelalterliche Terminologie geht auf Begriffe dieser Denker zurück. Antike stoische und neuplatonische Philosophen waren der Überzeugung, es gebe in der menschlichen Seele eine steuernde Instanz, die der göttlichen, das Weltall lenkenden Macht analog oder wesensgleich sei. Damit wurde die Möglichkeit einer Verbundenheit sterblicher und irrtumsanfälliger Menschen mit dem Bereich des Ewigen, Göttlichen und absolut Wahren begründet. Kirchenschriftsteller griffen philosophische Konzepte vom Verhältnis zwischen Gott und der Seele auf und formten sie in christlichem Sinne um. Der Kirchenvater Augustinus nahm an, es gebe in der Tiefe des menschlichen Geistes einen Bereich, das abditum mentis, in dem ein verborgenes apriorisches Wissen liege. Im 12. Jahrhundert wurden Konzepte entwickelt, nach denen im innersten Bereich der Seele eine Betrachtung Gottes möglich ist, doch erst im Spätmittelalter entstand eine ausgeformte Lehre von der Einheit der Seele mit der Gottheit im Seelengrund. Ihr Urheber war Meister Eckhart, der sich auf Augustinus berief, aber in erster Linie seine eigene unkonventionelle, für damalige Verhältnisse anstößige Lehre vom Göttlichen in der menschlichen Seele verkündete. Er behauptete, es gebe in der Seele ein Innerstes von göttlicher Qualität, das er „Grund“ nannte. Der Seelengrund gehöre nicht zur Schöpfung, sondern stehe über allem von Gott Geschaffenen. Er sei absolut einfach und frei von allen einschränkenden Bestimmungen und unterscheide sich nicht von der „Gottheit“, dem überpersönlichen Aspekt des Göttlichen. Alles Geschaffene sei nichtig und habe keinen Zugang zu Gott; im ungeschaffenen, überzeitlichen Seelengrund hingegen sei eine Gotteserfahrung möglich, denn dort sei die Gottheit immer präsent. Diese Erfahrung bezeichnete Eckhart als „Gottesgeburt“ im Seelengrund. Die Voraussetzung dafür sei „Abgeschiedenheit“: Die Seele müsse sich mit äußerster Konsequenz von allem lösen, was sie von der göttlichen Einfachheit und Undifferenziertheit in ihrem Innersten ablenke. Eckharts Lehre vom Seelengrund wurde bald nach seinem Tod von der Kirche als häretisch verurteilt, doch fand ihr Gehalt teilweise in abgewandelter Form bei spätmittelalterlichen Gottessuchern Zustimmung. In der Moderne ist sie oft als Ausdruck eines mystischen Irrationalismus betrachtet worden. Neuere Philosophiehistoriker betonen jedoch, dass Eckhart keineswegs die Vernunft abwertete, sondern mit einer philosophischen Argumentation überzeugen wollte und den Seelengrund als Intellekt auffasste. In der Frühen Neuzeit lebte das Konzept des Seelengrunds oder Seelenzentrums als Stätte der Gotteserfahrung in geistlicher Literatur fort. Es wurde sowohl von katholischen Autoren als auch im evangelischen Pietismus aufgegriffen. Eine andere Bedeutung gaben Denker der Aufklärung dem Ausdruck „Grund der Seele“. Sie bezeichneten damit den Ort einer „dunklen“ Erkenntnis, aus der die klare hervorgehe. == Vorgeschichte == === Antike === In der Antike entwickelten pagane und christliche Autoren Seelenlehren, mit denen sie Elemente von Meister Eckharts Modell vorwegnahmen. Dabei ging es um einen als göttlich oder gottförmig betrachteten Teil der Seele oder um eine göttliche Instanz in ihr. ==== Frühe Ansätze ==== Der Vorsokratiker Heraklit († um 460 v. Chr.) schrieb, man könne die Grenzen der Seele nicht ausfindig machen, auch wenn man jeden Weg beschreite; so tief sei ihr „Logos“. Heraklit betrachtete die Seele als einen repräsentativen Teil des kosmischen Feuers, der Macht, die nach seiner Lehre alle Dinge konstituiert und von der die Prozesse im Universum abhängen. Er bezeichnete die Seele auch als einen Funken von der Substanz der Sterne.Platon († 348/347 v. Chr.) entwarf ein Modell der Seele, in dem er ihr eine dreiteilige, hierarchisch geordnete Struktur zuschrieb. Nach seiner Theorie wird der niedrigste der drei Seelenteile von den sinnlichen Begierden gesteuert und ist von leidenschaftlicher und unbesonnener Natur. Diesem Bereich in jeder Hinsicht entgegengesetzt ist der höchste Teil, die Sphäre der Vernunft. Der mittlere Teil, das „Muthafte“, steht zwischen der Vernunft und der Begierde; ihm fällt die Aufgabe zu, das von der Vernunft für richtig Befundene in die Tat umzusetzen. Da die Vernunft die Quelle der Weisheit ist, kommt ihr von Natur aus der höchste Rang zu. Diesem Seelenteil gebührt gemäß der natürlichen Ordnung die Herrschaft über die anderen Teile und den Körper, denn nur die Vernunft kann beurteilen, was dem Ganzen zuträglich ist, und ist dank dieser Einsicht zu richtiger Lenkung befähigt. Der vernünftige Seelenteil weist göttliche Eigenschaften auf. Er ist dem Göttlichen, Ewigen und Unveränderlichen verwandt, ähnlich oder gleichartig; wie dieses ist er ungeworden und unvergänglich. Sein Streben richtet sich auf Wissen. Das Ziel sind nicht nur Erkenntnisse, die mittels eines diskursiven Prozesses gewonnen werden; vielmehr geht es in erster Linie um ein besonderes Erfahrungswissen höchsten Ranges, das jeder nur für sich erstreben kann. Inwieweit solches Wissen tatsächlich konkret erreichbar ist, lässt Platon offen. Das Erfahrungswissen, das er meint, resultiert aus einer Art Schau, die intuitiven und religiösen Charakter hat und sich auf einen transzendenten, göttlichen Bereich bezieht. Der Gegenstand solcher Schau ist etwas, was nicht in Sprache und Begriff eingeht. Es ist „unsagbar“ (árrhēton), da sich eine solche Erfahrung weder begründen noch mitteilen lässt; sie ist nicht objektivierbar und kann nicht richtig oder falsch sein, sondern ist dem Subjekt nur entweder gegeben oder nicht. ==== Die stoische Seelenvorstellung ==== Die Stoiker griffen herkömmliche Vorstellungen – darunter das platonische Modell – auf und wandelten sie ab. Sie hielten das Urfeuer für die göttliche Kraft, die aus sich das Weltall entfaltet und gestaltet habe und die es durchdringe, belebe, bewege und im Sein erhalte. Den Menschen betrachteten sie als „Mikrokosmos“, als „kleine Welt“, in der sich die Ordnung des „Makrokosmos“ widerspiegle. Dabei wiesen sie der menschlichen Seele die Rolle des belebenden Feuers im Mikrokosmos zu; sie sahen in ihr ein Ebenbild der Gottheit, die den Kosmos lenke. Daraus ergab sich die Metapher des „Seelenfunkens“; die individuelle Seele erschien als Funke (apóspasma, abgerissener Teil) des göttlichen Urfeuers. Im Mittelpunkt der Seele nahmen die Stoiker eine leitende und koordinierende Instanz an, das hēgemonikón, das sie meist im Herzen verorteten. Dieses Seelenzentrum setzt der stoischen Lehre zufolge die Teilfunktionen – insbesondere das Vorstellen, Denken und Wollen – nach einem einheitlichen Plan in Bewegung und ordnet sie auf ein Ziel, die Erhaltung des Ganzen, hin. Das hegemonikon im Herzen ist das Ordnungsprinzip – der Logos – des Menschen, so wie das Urfeuer, das seinen Sitz in der Sonne hat, im Kosmos die Rolle des ordnenden und strukturierenden Prinzips spielt. Der Logos im Menschen stimmt mit dem Weltlogos überein, die Natur des Makrokosmos und des Mikrokosmos ist ein und dieselbe.Die Seelenlehre der griechischen Stoiker fand Eingang in die Welt der gebildeten Römer, die einschlägigen Begriffe wurden ins Lateinische übertragen und in die Terminologie der römischen philosophischen Literatur übernommen. Später gelangten die griechischen und lateinischen Ausdrücke in den Wortschatz der Kirchenväter. Das Wort hegemonikon wurde unterschiedlich übersetzt oder umschrieben: principale cordis („Hauptinstanz des Herzens“) bei Seneca, Hieronymus, Rufinus; principatus („leitendes Prinzip“, „Grundkraft“) bei Cicero; regalis pars animi („der königliche Teil des Geistes“) bei Apuleius. Der namhafte römische Stoiker Seneca († 65) meinte, die Seele des Weisen, der sich von nichts erschüttern lasse, verfüge über eine übermenschliche Kraft; eine göttliche Macht sei in ihn herabgestiegen. Der größere Teil dieser Seele sei dort geblieben, von wo der kleinere, herabgestiegene Teil gekommen sei. Der stoischen Tradition folgend verwendete Seneca das Bild des „Funkens“ (scintilla), um den göttlichen Ursprung des Geistprinzips im Menschen zu veranschaulichen: Es seien gewissermaßen Sternenfunken auf die Erde gefallen und an diesem himmelsfernen Ort verblieben. Der römische Kaiser Mark Aurel († 180), der sich ebenfalls zur stoischen Lehre bekannte und griechisch schrieb, behauptete, das hegemonikon sei unbezwingbar, „wenn es in sich selbst zurückgezogen mit sich selbst zufrieden ist“, denn es tue nichts, was es nicht wolle. Er verglich es mit einer Burg; wer dort seine Zuflucht suche, werde unbesiegbar. ==== Neuplatonische Seelenkonzepte ==== Eine zentrale Rolle spielt das Konzept einer göttlichen Instanz in der Seele bei Plotin († 270), dem Begründer des Neuplatonismus. Nach seiner Lehre entstammt die unsterbliche Seele einer immateriellen, rein geistigen Welt, in der sie beheimatet ist und Glückseligkeit genießt. Sie hat aber die Möglichkeit, in die Körperwelt hinabzusteigen und sich dort zeitweilig mit einem Körper zu verbinden, den sie dann lenkt und als Werkzeug benutzt. So kommt irdisches Leben zustande. Allerdings bindet sich die Seele dabei nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur teilweise an den Körper. „Etwas von ihr“, ihr höchster „Teil“, verbleibt immer in der geistigen Welt. Zu beachten ist dabei, dass die Bezeichnung „Teil“ hier in übertragenem Sinn verwendet wird, nicht im Sinne einer räumlichen Teilung oder einer realen Teilbarkeit; die Seele bildet eine unauflösliche Einheit. Der höchste Seelenteil ist von göttlicher Qualität, seine Seligkeit wird nie unterbrochen. Durch ihn hat die Seele somit ständig Anteil an der ganzen Fülle der geistigen Welt, auch wenn ihr verkörperter Teil in Verwirrung gerät und Unheil erleidet. Dem menschlichen Bewusstsein bleibt dieser Sachverhalt jedoch gewöhnlich verborgen, denn es wird von den Sinneseindrücken so beansprucht und überwältigt, dass es außerstande ist zu erfassen, was der oberste Seelenteil wahrnimmt. Die mannigfaltigen Nöte und Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins erlebt die Seele zwar mit, aber die Affekte (Gemütserregungen), die dabei entstehen, betreffen sie nur scheinbar. Sie beruhen auf Illusionen, denn die Seele ist eigentlich – hinsichtlich ihres höchsten und weitaus wichtigsten Teils – frei von Leid. Dieser Teil ist permanent auf den universellen Geist (Nous) ausgerichtet, das heißt auf dessen Inhalte, die „platonischen Ideen“, deren Betrachtung ihn entzückt. Die unteren Teile oder Schichten der Seele hingegen sind mehr oder weniger dem Bereich des Materiellen und sinnlich Wahrnehmbaren zugewandt und daher vielen Übeln ausgesetzt. Sie können sich aber, wenn man ein philosophisches Leben führt, ebenfalls auf das Geistige orientieren. Dann wird im Idealfall eine Übereinstimmung der Teile erreicht; deren unterschiedliche Funktionen werden harmonisiert, die ganze Seele wird einheitlich ausgerichtet.Mit seiner Lehre von einem unangreifbaren, allen irdischen Übeln entzogenen obersten Seelenteil nahm Plotin zentrale Elemente des mittelalterlichen Seelengrund-Konzepts vorweg. Sein Ziel war es nach den Worten seines Schülers Porphyrios, das Göttliche in den einzelnen Seelen „emporzuheben zum Göttlichen im All“. Von der Würde der Seele, die er aus deren göttlichem Aspekt ableitete, hatte er eine sehr hohe Auffassung. Bekannt ist sein programmatischer Ausspruch, er nehme nicht am Gottesdienst teil, denn „jene (die Götter) müssen zu mir kommen, nicht ich zu ihnen“. Mit der Annahme, dass in der Seele etwas Göttliches sei, schuf er die theoretische Grundlage für seine These, eine Vereinigung des Individuums mit dem absolut transzendenten höchsten Prinzip, dem Einen, sei möglich und erstrebenswert. Er behauptete sogar, die Einheit mit dem Einen, in dem alles Seiende seinen Ursprung habe, sei schon während des irdischen Lebens erfahrbar. Für ein solches Einheitserlebnis hat sich die Bezeichnung hénōsis (Vereinigung, Einswerdung) eingebürgert. Nach Porphyrios’ Angaben hat Plotin die Henosis als wiederholten Akt für sich selbst in Anspruch genommen. Porphyrios erwähnte, die Einheitserfahrung sei seinem Lehrer in den fünf Jahren, die sie zusammen verbrachten, etwa viermal zuteilgeworden. Plotin betonte, dass das Erlebnis plötzlich eintrete.Plotins Beschreibung der Henosis stimmt in wesentlichen Aspekten mit den mittelalterlichen Darstellungen der Erfahrung im Seelengrund überein. Hierzu gehört die mit der Henosis verbundene Entdifferenzierung, der Übergang in die Formlosigkeit des undifferenzierten, absolut einheitlichen Einen; dies entspricht Meister Eckharts Forderung, „weiselos“ zu werden, so wie Gott „ohne Weise“ (bestimmungslos) sei. Auch das in Eckharts Lehre zentrale Konzept der „Abgeschiedenheit“ klingt schon bei Plotin an, etwa in seiner Feststellung, das „Leben der Götter und göttlicher, seliger Menschen“ sei ein „Abscheiden“ (apallagḗ) von allem Irdischen („von allem anderen, was hier ist“), eine „Flucht des Einen zum Einen“ oder „Flucht des Einsamen zum Einsamen“. Nach Plotins Darstellung tritt man in „ruhiger Gotterfülltheit“ in die Abgeschiedenheit ein, in einen Zustand der Bewegungslosigkeit, in dem nichts mehr ablenkt. Er verglich dies mit dem Betreten eines Heiligtums (ádyton), der innersten Kammer eines Tempels. Bei diesem „Abscheiden“ handelt es sich um eine in höchstem Maß individuelle Selbst-Identifikation mit dem Ursprung, dem Einen, dem nach der neuplatonischen Philosophie alles, was ist, seine Existenz verdankt. Die Voraussetzung dafür ist bei Plotin ebenso wie in der spätmittelalterlichen Spiritualität eine radikale Trennung des Bewusstseins von allem, was nicht der Ursprung ist. Die Identifikation mit der reinen, nichts ausschließenden Einheit erfordert, dass man an nichts festhält, was der Welt des Besonderen, der Zweiheit und Vielfalt angehört. Eine direkte Beeinflussung mittelalterlicher Autoren durch Plotins Schriften ist jedoch ausgeschlossen, da seine Werke damals in West- und Mitteleuropa unbekannt waren. Die These, der höchste Teil der Seele verbleibe immer in der geistigen Welt, stieß bei Iamblichos († um 320/325) und den ihm folgenden spätantiken Neuplatonikern auf entschiedene Ablehnung. Sie meinten, die Seele steige ganz hinab, wenn sie sich mit einem Körper verbinde. Eines der Argumente des Iamblichos war, die Annahme einer ständigen Gemeinschaft eines Seelenteils mit dem göttlichen Bereich sei unstimmig, weil eine solche Verbundenheit der Person nicht unbewusst sein könne; vielmehr müssten, wenn es eine derartige Gemeinschaft gäbe, alle Menschen unablässig glücklich sein. Auch Proklos († 485), einer der einflussreichsten Neuplatoniker der Spätantike, griff Plotins Position an. Die These, „etwas von unserer Seele bleibe oben“, hielt er für widersprüchlich. Er brachte dagegen vor, dass das, was nach einem solchen Modell immer oben bleibe, sich niemals mit dem, was hinabsinke, verbinden könne, denn zwischen ihnen müsse eine Kluft prinzipieller Art bestehen. Außerdem dürfe man nicht annehmen, das Wesen der Seelen und das der geistigen Welt und der Götter sei dasselbe. Vielmehr nehme das Seelische von Natur aus eine untergeordnete Stellung in der hierarchischen Ordnung der Entitäten ein, denn es sei kein Bestandteil der geistigen Welt, sondern etwas von ihr Hervorgebrachtes. Den spätantiken Neuplatonikern erschien Plotins optimistische Einschätzung des Verhältnisses der inkarnierten (in der Körperwelt lebenden) Seele zu höheren Ebenen als unrealistisch und anmaßend. Sie teilten aber seine Überzeugung, dass die geistige Welt der inkarnierten Seele nicht verschlossen sei und dass es unbedingt erstrebenswert sei, sich mit ihr zu verbinden. Proklos hielt auch einen Aufstieg zum transzendenten Einen für vollziehbar. Nach seiner Lehre beruht die Möglichkeit der Zusammenkunft mit dem Einen darauf, dass es „das Eine in uns“, „das Eine in der Seele“ gibt, das der Demiurg, der Weltschöpfer, dort eingepflanzt hat. Dieses individuelle Eine, das auch als „Blüte der Seele“ bezeichnet wird, ist „das Göttlichste von dem, was in uns ist“, das „Eingestaltigste“ und „Einigste“ im Menschen, das Prinzip, das seine Einheit stiftet und die Vielfalt in ihm eint. Es ist dem transzendenten Einen nicht gleich, aber analog; es ist dessen „Bild“ oder „Same“. Aufgrund dieser Ähnlichkeitsstruktur ist das transzendente Eine erkennbar und erreichbar. Erforderlich ist dafür, dass man sich das „Eine in uns“ bewusst macht. Proklos forderte, man solle das „Eine in uns“ erwecken und in Glut entfachen und durch es die Seele mit dem transzendenten Einen verbinden; dann solle man dort gleichsam vor Anker gehen. Für diese Aufstiegsbewegung der Seele bedürfe man des „vergöttlichenden Schwunges“. ==== Rezeption im antiken Christentum ==== Der Kirchenschriftsteller Origenes, ein Zeitgenosse Plotins, knüpfte an die Überlegungen der paganen Philosophen zum Verhältnis von Seele und Gottheit an. Er formte herkömmliches Gedankengut in christlichem Sinne um, indem er den innersten Bereich des menschlichen Geistes als Ort der Gegenwart Gottes im Menschen und Begegnungspunkt des Menschlichen mit dem Göttlichen darstellte. Dort komme es zu einer unmittelbaren Berührung mit dem Göttlichen in der Form eines Erkennens, das sich von der normalen Erkenntnis der äußeren Objekte grundsätzlich unterscheide. Somit führte Origenes eine Unterscheidung zwischen normaler, rationaler Erkenntnis mittels des Denkvermögens und Gotteserkenntnis aufgrund einer besonderen, nur dafür bestimmten Fähigkeit der Seele ein. Damit wich er von der platonischen Tradition ab, die nicht eine „natürliche“ Erkenntnis einer „übernatürlichen“ gegenüberstellte, sondern alle Erkenntnisakte auf dasselbe Prinzip zurückführte, das sich nur auf verschiedenen Ebenen entfalte. Die Platoniker gingen von einer durch alle Formen der Erkenntnis durchgehenden Kontinuität aus. Dieser Auffassung stellte Origenes die in der Geistesgeschichte folgenreiche Trennung zwischen rationalem und irrationalem oder überrationalem Erkennen entgegen.Der außerordentlich einflussreiche Kirchenvater Augustinus († 430) hielt an der platonischen Sichtweise fest, die nicht zwischen prinzipiell verschiedenen Erkenntnisarten des menschlichen Geistes unterscheidet. In seinem Werk De trinitate prägte Augustinus den Begriff abditum mentis („Versteck des Geistes“ oder „das Verborgene des Geistes“). So bezeichnete er einen Bereich in der Tiefe des menschlichen Geistes, dem er ein apriorisches Wissen zuschrieb, das er als Grundlage des Denkens und der Erkenntnis betrachtete. Nach seiner Theorie ist dieses Wissen dort stets präsent, aber verborgen und somit unbewusst; es kann jedoch durch das Denken ins Bewusstsein gehoben werden. Die „verstecktere Tiefe unseres Gedächtnisses“ ist der Ort, wo der Mensch Inhalte findet, die nicht aus seinen eingespeicherten Erinnerungen stammen, sondern die er zum ersten Mal denkt. Dort wird das „innerste Wort“ gezeugt, das keiner Sprache angehört. Im Denken erscheint eine Einsicht, die von einer Einsicht stammt, die schon zuvor vorhanden war, aber im Versteck verborgen war.Die von neuplatonischem Gedankengut beeinflussten Überlegungen des Augustinus zum abditum mentis wurden im Mittelalter aufgegriffen und für den Diskurs vom Seelengrund verwertet. Allerdings ist unklar, ob Augustinus tatsächlich, wie mittelalterliche Autoren meinten, darunter eine bestimmte Instanz und ein leitendes Prinzip des gesamten Seelenlebens verstanden hat. === Hochmittelalter === Im 12. Jahrhundert erlangte die Frage nach den Voraussetzungen und der Natur der Beziehung zwischen Gott und der Seele neue Aktualität. Die damals vorherrschenden Seelenvorstellungen waren maßgeblich von der augustinischen Tradition geprägt. Unter den spirituell orientierten Schriftstellern waren die „Viktoriner“, Theologen des Kanonikerstifts Saint-Victor in Paris, sowie Mönche des Zisterzienserordens am einflussreichsten. In diesen Kreisen wurde die Möglichkeit der Gotteserkenntnis auf ein speziell diesem Zweck dienendes „Vermögen der Seele“ (potentia animae) zurückgeführt. Damit war eine in der menschlichen Seele vorhandene besondere Kraft (vis) oder Fähigkeit gemeint. Man bediente sich der ursprünglich von Aristoteles eingeführten, später ins Lateinische übertragenen Terminologie, in der die einzelnen Betätigungen der Seele wie Wahrnehmen, Denken und Bewegen bestimmten Anlagen, den „Vermögen“, zugeordnet waren. Diese waren nach dem Rang ihrer Objekte hierarchisch geordnet. Das oberste, bei der Gotteserfahrung aktivierte Seelenvermögen wurde als „Intellekt“ (intellectus) bezeichnet und von der ratio, dem für das begriffliche Denken zuständigen Vermögen, unterschieden. Manche Autoren beschrieben es metaphorisch wie ein Organ der Seele. So lehrte Hugo von St. Viktor, die Seele habe drei „Augen“. Mit dem ersten, dem Auge des Fleisches, betrachte sie die physische Welt, mit dem zweiten, dem Auge der ratio, sich selbst und das, was in ihr sei. Mit dem dritten, dem Auge der Kontemplation, nehme sie Gott wahr und das, was in Gott sei, und zwar innerhalb von sich selbst (intra se), denn sie trage Gott in sich. Dieses Auge sei aber infolge der Erbsünde erloschen und sehe jetzt nichts mehr. Daher könne der Mensch Gott nicht mehr unmittelbar wahrnehmen, sondern sei auf den Glauben angewiesen. Erst in der verheißenen künftigen Seligkeit werde die Fähigkeit zu unmittelbarer Gotteswahrnehmung wiederhergestellt werden.Hugos Konzept der drei Seelenaugen entfaltete in der mittelalterlichen geistlichen Literatur eine beträchtliche Wirkung. Daneben gab es die Vorstellung eines bestimmten Bereichs oder Orts in der Seele oder im menschlichen Geist (mens), wo die Gotteserkenntnis zustande komme. Bei diesem Bereich, dem die wichtigste Funktion vorbehalten war, konnte es sich nur um den Kern der Seele, ihr Innerstes, und um das Höchstrangige in ihr handeln. Er galt als der eigentliche Sitz der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In diesem Sinne konstatierte Richard von St. Viktor, einen Gedanken des Augustinus aufgreifend, im menschlichen Geist sei „ohne Zweifel das Höchste zugleich das Innerste und das Innerste zugleich das Höchste“. Richard hielt es für möglich, zum „höchsten und innersten Schoß des Geistes“ emporzusteigen, ihn zu ergreifen und zu halten und dort das unsichtbare Göttliche zu betrachten. Er wies aber darauf hin, dass man diese Wahrnehmung nicht willentlich herbeiführen könne und dass sie nur wenigen vergönnt sei. Sie werde mit dem geistigen Sinn (sensus intellectualis) vollzogen, der vom Vernunft-Sinn (sensus rationalis) zu unterscheiden sei. Mit dem Vernunft-Sinn nehme der Mensch sein eigenes Unsichtbares wahr. Der göttliche Bereich im menschlichen Geist sei durch einen dichten Vorhang des Vergessens abgetrennt. Wer sich dorthin begebe, der vergesse nicht nur alles Äußere, sondern ebenso alles, was in ihm selbst sei. Auch bei der Rückkehr in die vertraute Welt bewirke der Vorhang ein Vergessen, aber kein vollständiges; daher könne man sich nachher an das Erlebte erinnern, doch nur auf unzulängliche Weise, nicht mehr in der ursprünglichen Wahrheit und Klarheit.In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts beschrieb die niederländische, wahrscheinlich in der Nähe von Antwerpen lebende Begine Hadewijch das Verhältnis der Seele zu Gott auf eine Weise, die inhaltlich und terminologisch Elemente spätmittelalterlicher Seelengrundlehren vorwegnahm. Bei Hadewijch kommen bereits die Begriffe „Grund“ (mittelniederländisch gront), „Abgrund“ (afgront) und „Bodenlosigkeit“ (grondeloesheit) vor. Solche Ausdrücke dienten ihr zur Schilderung der wechselseitigen Durchdringung Gottes und der mit ihm vereinten menschlichen Seele. Die „Bodenlosigkeit“ erinnert an Meister Eckharts Bezeichnung der Gottheit als „grundloser Grund“, doch gibt es keinen Beleg dafür, dass er Schriften der Begine kannte. Hadewijch erarbeitete kein theologisches oder philosophisches System, sondern stützte sich auf eigene ekstatische Erfahrungen, die sie in Worte zu fassen versuchte. In ihrem 18. Brief beschrieb sie die Seele als „Bodenlosigkeit, worin Gott sich selbst genügt“. Sein eigenes Selbstgenügen finde sein vollstes Genießen in ihr und sie wiederum in ihm. Gott sei ein Weg, auf dem die Seele in ihre Freiheit herauskomme, nämlich in den Gottesgrund, an den ohne die Tiefe der Seele nicht gerührt werden könne. Hadewijch stellte die Einheit (enecheit) Gottes mit der Seele auf eine Art dar, die zeigt, dass sie ein tiefes Einswerden meinte, bei dem die beiden so verschmelzen, dass sie zumindest auf einer Ebene wirklich ununterschieden werden. == Die spätmittelalterlichen Seelengrund-Konzepte == Den Ausgangspunkt für die Prägung des Begriffs Seelengrund bildete vermutlich der Sprachgebrauch der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung. Dort war vom „Herzensgrund“ die Rede, wenn es um tiefes, inniges Empfinden ging. Die Metapher des Grundes zur Bezeichnung von etwas Innerem und Tiefem wurde in den Bereich der geistlichen Literatur übertragen. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts schrieb Mechthild von Magdeburg, das Herz der Gottesmutter Maria habe „vor allen Menschen den tiefsten Grund an göttlicher Erkenntnis“ gehabt.Ausgearbeitete theologisch-philosophische Konzepte vom Seelengrund entstanden erst im Spätmittelalter. Ihren Urhebern und Hauptvertretern ist gemeinsam, dass sie deutsche Angehörige des Dominikanerordens (Predigerordens) waren und ihre Seelengrundlehren in deutscher Sprache verbreiteten. In England wurde in spätmittelalterlicher geistlicher Literatur der Ausdruck „Grund“ (grounde) für die Natur oder Substanz des Menschen oder der Seele verwendet; er ist besonders bei Juliana von Norwich sehr häufig. Es bestehen zwar Parallelen zwischen den englischen und den deutschen Begriffsverwendungen, aber Kernelemente der deutschen Lehren fehlten in England oder waren dort nur ansatzweise vorhanden. === Meister Eckhart === ==== Die Anknüpfung an die Tradition ==== Der Begriff „Grund der Seele“ wurde von Meister Eckhart († 1327/1328) in den mittelalterlichen spirituellen Diskurs eingeführt. Dabei berief er sich auf die Ausführungen des Augustinus über das „Verborgene des Geistes“, die er im Sinne seiner Seelenlehre interpretierte. Die Worte in abdito mentis aus Augustinus’ Schrift De trinitate zitierte er häufig. Er übersetzte sie mit in dem verborgensten der sêle und ähnlichen Wendungen ins Mittelhochdeutsche. Das in De trinitate behandelte „Verborgene des Geistes“ setzte er mit dem gleich, was er den Seelengrund nannte. Dabei gab er aber dem antiken Ausdruck eine neue Bedeutung, denn sein Denken ging in eine Richtung, die ihn weit vom Konzept des Augustinus wegführte. Der antike Kirchenvater hatte mit dem „Versteck“ den Sitz unbewusster Vorstellungen (notitiae) gemeint, die bestimmte Inhalte des Denkens betreffen und im Denkakt in das Bewusstseinsfeld (conspectus mentis) hervortreten. Es ging ihm also um Begriffe, um ein auf einzelne Dinge bezogenes latentes Wissen, das er im abditum mentis verortete. Eckhart hingegen verstand unter dem „Grund der Seele“ einen Bereich, von dem alles Vorstellen und begriffliche Denken prinzipiell ausgeschlossen ist. Seine Anknüpfung an den Gedanken und die Formulierung des Augustinus war somit mehr äußerlich als inhaltlich. ==== Die Unterscheidung von Gott und Gottheit ==== Grundlegend für Eckharts Verständnis des Verhältnisses der Seele zum Göttlichen ist seine Unterscheidung zwischen „Gott“ (im engeren Sinn) und „Gottheit“. Diese beiden Ausdrücke bezeichnen in seiner Lehre zwei getrennte Ebenen der Wirklichkeit des Göttlichen oder Gottes im weiteren Sinn. Gott (im engeren Sinn) und Gottheit sind nach seiner Darstellung so weit voneinander verschieden wie Himmel und Erde. Auf der niedrigeren Ebene befindet sich Gott im engeren Sinn, das heißt Gott in seiner Eigenschaft als Schöpfer, der als solcher seinen Geschöpfen gegenübertritt. Dort ist „Gott“ der Gegenbegriff zu allem Geschaffenen; Gott steht zu allem, was außer ihm existiert, in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die höhere Ebene „oberhalb von Gott“ hingegen ist die Stätte des Göttlichen als „Gottheit“ oder als „einfaltiges Eins“, das zu nichts außerhalb von sich selbst in einer wie auch immer gearteten Beziehung steht. Eckharts Gottheit verursacht nichts; sie ist keine Instanz, die schafft und damit einen Gegensatz zum Geschaffenen bildet. Da sie absolute Einheit ist, ist sie auch nicht der im Sinne der Trinitätslehre dreifaltige Gott, der in drei Personen in Erscheinung tritt, und nicht der Vater, der den Sohn Jesus Christus zeugt. Vielmehr ist sie der überpersönliche, absolut einheitliche Aspekt der göttlichen Gesamtwirklichkeit. Gott hingegen ist persönlich; er unterhält zu seinen Geschöpfen eine Ich-Du-Beziehung und entfaltet auch in sich ein innertrinitarisches Leben und Beziehungsgeschehen. Die Gottheit bringt nichts hervor, sie teilt sich nicht zeugend und erzeugend mit: „Gott wirkt, die Gottheit wirkt nicht. (…) Gott und Gottheit sind unterschieden durch Wirken und Nichtwirken.“Allerdings ist in Eckharts Sprachgebrauch die Unterscheidung zwischen „Gott“ und „Gottheit“ nicht durchgängig konsequent durchgeführt. Manchmal verwendete er das Wort „Gott“ im engeren Sinn nur zur Bezeichnung des Schöpfers, an anderen Stellen im weiteren Sinn mit Einbeziehung der überpersönlichen „Gottheit“ oder speziell auf sie Bezug nehmend. Was gemeint ist, ist jeweils aus dem Zusammenhang ersichtlich. Die Vorstellung von „zweierlei Gott“ – des in sich differenzierten Gottes – scheint auch dort präsent zu sein, wo sie terminologisch keinen besonderen Ausdruck findet.Über Eckharts Gottheit kann nichts Bestimmtes ausgesagt werden, da sie sich jenseits jeglicher Differenzierung befindet. Sie ist „weiselos“, das heißt ohne Eigenschaften, durch die sie definiert werden könnte; sie ist ein „grundloser Grund“ und eine „stille Wüste“, eine „einfaltige Stille“. Ebenso wie das neuplatonische Eine kann sie keinerlei Merkmale aufweisen, denn jedes Merkmal wäre zugleich eine Begrenzung und als solche mit dem undifferenzierten Charakter der Gottheit unvereinbar. Daher müssen ihr alle Eigenschaften, die Gott kennzeichnen, wie Güte, Macht oder Weisheit, abgesprochen werden. Nicht einmal das Sein kommt ihr zu, denn auch das Sein ist eine Bestimmung und als solche vom Bestimmungslosen fernzuhalten. Somit trifft die Aussage, dass die Gottheit „ist“, nicht zu; vielmehr handelt es sich bei ihr um „ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit“. Mit der konsequenten Verwerfung aller positiven Aussagen über die Gottheit folgte Eckhart der Tradition der „negativen Theologie“, insbesondere der Lehre des antiken Denkers Pseudo-Dionysius Areopagita.Die Ebene, auf der Gott als Person mit persönlichen Eigenschaften existiert, ist von derjenigen der Gottheit abgetrennt und ihr untergeordnet. Da es unmöglich ist, in das Bestimmungslose eine Bestimmung hineinzutragen, hat Gott ebenso wie alles andere Bestimmte keinen Zugang zum unpersönlichen Aspekt des Göttlichen – es sei denn, er würde sich seiner Eigenschaften entäußern und alles beiseitelassen, was seine Besonderheit ausmacht. Dazu bemerkte Eckhart: „Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohne Eigenheit. Und drum: Soll Gott je dort hineinschauen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenheit; das muss er allzumal draußen lassen, soll er je dort hineinschauen.“ ==== Die Seele und ihr Grund ==== Als Seelengrund bezeichnete Eckhart den göttlichen Kernbereich der Seele, ihr verborgenes „Innerstes“, das nach seiner Lehre zeit- und raumlos ist und in dem völlige Ruhe herrscht. Er verwendete dafür auch eine Reihe von weiteren Bezeichnungen. Unter anderem sprach er vom „Funken“, „Licht“ oder „Bürglein“, vom „Höchsten“, „Lautersten“ oder „Haupt“ der Seele. Er betonte aber auch, dass der Seelengrund eigentlich so wie die Gottheit namenlos sei. Von diesem unwandelbaren, jeder Art von Veränderung entzogenen und jeder Betätigung fernen Kernbereich zu unterscheiden sind nach Eckharts Lehre die äußeren Bereiche, in denen sich die Tätigkeiten der Seele abspielen. Dort wirkt sie auf ihre Umgebung ein und wird ihrerseits von der Umwelt beeinflusst; dort äußert sich ihr Wille und ihr Begehren in Worten und Taten, während sie zugleich das, was sie als äußere Einwirkungen erlebt, im Gedächtnis speichert. Mit ihren verschiedenen Funktionen, die in den einschlägigen, im Spätmittelalter maßgeblichen Schriften des Aristoteles beschrieben sind, erfüllt die Seele ihre Aufgaben. Sie hat ihre Fähigkeiten anzuwenden, um den Erfordernissen ihrer Verbindung mit dem Körper gerecht zu werden und für das Überleben des Menschen zu sorgen. Dabei tritt sie mit den geschaffenen und vergänglichen Dingen in Kontakt. Das bedeutet unablässige Veränderung, ein ständiges Werden und Vergehen. Von dieser Sphäre ist der Seelengrund abgetrennt; die mannigfaltigen Eindrücke, die aus der Welt der Sinneswahrnehmung einströmen, erreichen ihn nicht.Als überräumliche und überzeitliche, nichts beeinflussende und von nichts beeinflussbare Gegebenheit zeigt der Seelengrund Übereinstimmung mit Eckharts Gottheit. Auch in einer weiteren Hinsicht gleicht er ihr: Er ist völlig undifferenziert. Im Gegensatz zu den äußeren Seelenbereichen hat er keine unterscheidbaren, nebeneinander existierenden Inhalte oder Funktionen. Im Seelengrund hat die Seele keinerlei Vorstellungen, weder von sich selbst noch von irgendetwas Geschaffenem oder von Gott. Sie hat dort „weder Wirken noch Verstehen“. Alle Unterscheidungen sind aufgehoben. So wie sich die absolut undifferenzierte, von allem Seienden abgelöste Gottheit von der Sphäre des Seins und der Bestimmungen unterscheidet, so unterscheidet sich in der Seele der undifferenzierte Grund von der Gesamtheit ihrer übrigen Bereiche, wo innerseelische Interaktionen stattfinden und Eindrücke von außen aufgenommen werden.Indem Eckhart den Seelengrund als zeit-, raum- und eigenschaftslos auffasste, sprach er ihm eine göttliche Qualität zu, die den geschaffenen Dingen abgeht. Daraus ergab sich eine wichtige, aber für mittelalterliche Theologen problematische Konsequenz: Der Kernbereich der Seele ist nicht nur unvergänglich, sondern auch ungeschaffen. Die Seele ist nicht nur – wie im Mittelalter allgemein angenommen wurde – unsterblich, sondern es hat überdies nie eine Zeit gegeben, in der ihr Innerstes noch nicht existierte. In einer Predigt sagte Eckhart: „Ich habe zuweilen von einem Lichte gesprochen, das in der Seele ist, das ist ungeschaffen und ungeschöpflich.“ Demnach ist der Seelengrund kein Bestandteil der von Gott in der Zeit aus dem Nichts erzeugten und ihm daher untergeordneten Schöpfung; vielmehr ist er ewig und einheitlich wie die Gottheit selbst. Eckhart sprach ausdrücklich von einem „Teil“ der Seele, dem „Bürglein“; „gottgleich“ sei sie nur mit diesem Teil „und sonst nicht“. Für die Wahrheit dieser Aussage verbürge er sich, dafür setze er seine Seele zum Pfand. Nach seinem Verständnis ist das Göttliche in der Seele von allem in ihr, was geschaffen ist und ihre Interaktion mit der Außenwelt betrifft, seiner Natur nach fundamental verschieden. Da der Seelengrund keine räumliche Ausdehnung hat, ist offenkundig, dass Ausdrücke wie „Teil“ oder „innerst“ nicht räumlich zu verstehen sind und die Begriffe bei der Interpretation nicht „verdinglicht“ werden dürfen. Eckhart betonte, der Seelengrund habe nichts gemeinsam mit irgendwelchen „Dingen“. Anders als das abditum mentis des Augustinus ist Eckharts zeit- und ortloser Seelengrund kein „Ding“, er zählt nicht zum dinghaft Seienden, lässt sich nicht in das Kategoriensystem des Aristoteles einordnen und ist daher ebenso wie die Gottheit dem diskursiven Denken entzogen. Eckhart distanzierte sich später von der Vorstellung, die Seele sei aus einem erschaffenen und einem unerschaffenen Teil zusammengesetzt. Das sei eine falsche, böswillige Interpretation seiner Lehre. Er habe nicht gemeint, das Unerschaffene in der Seele sei ein Teil von ihr.Für Eckhart als monotheistischen mittelalterlichen Theologen konnte es nur eine einzige Gottheit geben, und auch aus philosophischer Sicht war es unmöglich, dem absolut transzendenten Einen etwas anderes an die Seite zu stellen. Im Rahmen seines Konzepts einer streng einheitlichen Gottheit konnte der „gottgleiche“ Seelengrund daher nicht als eigenständiges Wesen aufgefasst werden, sondern musste mit der Gottheit gleichgesetzt werden. Demnach ist die Gottheit selbst unmittelbar zuinnerst in der Seele des Menschen ständig anwesend, und diese Anwesenheit ist gemeint, wenn bei Eckhart vom Seelengrund die Rede ist. Damit gewinnt die Beziehung des Menschen zum Göttlichen eine neue Grundlage und Qualität. In seiner Eigenschaft als Geschöpf kann der Mensch Gott, seinen Schöpfer, nicht erreichen. Die Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem vergänglichen Geschaffenen ist nach Eckharts Überzeugung so tief, dass nichts Geschaffenes einen Zugang zu Gott finden kann. Da aber in der Seele ein ungeschaffener Bereich ist, der sich in nichts von der Gottheit unterscheidet, gibt es dort und nur dort den Abgrund zwischen dem Schöpfer und seinem Werk nicht. Im Seelengrund besteht die vollkommene und unaufhebbare Einheit der Gottheit mit sich selbst. Von der „inneren Welt“, dem „Innigsten des Geistes“ gilt: „Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund.“ Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als „mein Eigen“ und als das, was in einem ist. Gott ist „im Grunde der Seele mit seiner ganzen Gottheit“. Dem Menschen bleibt nur die Aufgabe, sich diese Tatsache bewusst zu machen und daraus die Konsequenzen zu ziehen.Aus der Einheit des Seelengrundes mit der Gottheit leitete Eckhart weitreichende Folgerungen hinsichtlich des einzigartigen Ranges der menschlichen Seele ab. Er betonte ihren hohen Adel und behauptete, sie stehe über allen Geschöpfen und sogar über den Engeln, sie sei edler als der Himmel und weit über ihn erhaben. Die Geschöpfe seien nur Spuren Gottes und dessen unwürdig, dass er selbst in ihnen wirke, der Seelengrund aber sei ihm gleich. Im „ersten Berühren“, in dem Gott die ungeschaffene und ungeschöpfliche Seele berührt habe und berühre, da sei sie „der Berührung Gottes nach ebenso edel wie Gott selbst“. Eine weitere Konsequenz der Ungeschaffenheit des Seelengrunds ist nach Eckharts Lehre die menschliche Freiheit. Alles Geschaffene ist unfrei. Frei ist nur der Mensch, der sich am Seelengrund orientiert und dadurch von der göttlichen Gerechtigkeit „ergriffen“ ist. Ein solcher Mensch ist kein Diener mehr, er dient weder Gott noch den Geschöpfen, denn das wäre mit der Freiheit unvereinbar, die er nicht hat, sondern „ist“. Das hierarchische Verhältnis, das zwischen Gott und den Geschöpfen besteht, ist hier aufgehoben. ==== Der Durchbruch zur Gottheit im Seelengrund ==== Eckhart fordert, man solle nicht bei Gott stehen bleiben, sondern „durchbrechen“ zur Gottheit. Das heißt, man soll die Ebene des persönlichen, dreifaltigen Gottes überschreiten, um zur „einfaltigen“ Gottheit vorzudringen. Bei diesem Durchbruch handelt es sich um einen Vorgang, der nur bedingt – jedenfalls nicht im üblichen Sinn – als „Erkenntnis“ bezeichnet werden kann. Ein Erkenntnisobjekt kann die Gottheit nicht sein, weder für sich selbst noch für andere, denn wo ein erkennendes Subjekt von einem erkannten Objekt geschieden ist, liegt keine absolute Einheit vor, und daher bleibt der Bereich der Gottheit verschlossen. Außerdem kann die Seele etwas nur erkennen, wenn sie ein Bild davon besitzt, doch alle Bilder kommen von außen, also nicht von der Gottheit. Somit kann eine Erkenntnis im normalen Sinn auf der Ebene der undifferenzierten Gottheit nicht stattfinden; sie ist nur im Bereich der Bestimmungen und der Bilder möglich. Als Objekt, das von einem Subjekt gesucht wird, ist die Gottheit prinzipiell unerreichbar, wenngleich ihr Dasein als solches erkennbar ist. Dazu bemerkt Eckhart: „Die verborgene Finsternis des unsichtbaren Lichtes der ewigen Gottheit ist unerkannt und wird auch nie erkannt werden.“ Zwar ist bei Eckhart wie im damaligen Sprachgebrauch üblich von Gotteserkenntnis die Rede, doch wenn es um die Gottheit geht, kann nur in einem uneigentlichen Sinn von „erkennen“ gesprochen werden, denn es gibt keinen Erkennenden, der einem Erkannten betrachtend gegenübersteht.Dem „Durchbruch“ weist Eckhart in seiner Lehre eine zentrale Rolle zu. Er nennt ihn – einen Topos der Kirchenväterzeit aufgreifend – Gottesgeburt in der Seele. Gemeint ist, dass die Seele die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahrnimmt und so in ihrem Innersten die Gottheit entdeckt. Dadurch wird sie nicht etwas, was sie vorher nicht war, sondern sie erfasst nur das, was sie zuinnerst überzeitlich ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und ergreift die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung. Erst durch die Gottesgeburt in der Seele erhält die Geburt Christi durch Maria für den Menschen einen Sinn. Außerdem setzt die historische Geburt Christi die Geburt Gottes in Marias Seele voraus. Bei der Gottesgeburt in der Seele handelt es sich nicht um ein punktuelles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern um einen nie endenden Prozess, dessen Zeit das „gegenwärtige Nun“ ist, in dem die Seele „steht“. Die Betonung der Prozesshaftigkeit des Geschehens ist ein besonderes Merkmal von Eckharts Konzept. Er fasst die Gottesgeburt als Rückkehr der Seele zur Gottheit – ihrem eigenen Urgrund und Ursprung – auf. Der Mensch, der sich am allernächsten mit Gott verbinde, könne durch göttliche Gnade das werden, was Gott von Natur aus sei; dann stehe er in der größten Übereinstimmung mit dem „Bild, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Geschöpfe erschuf“.Im Ergriffenwerden der Seele, die von ihrem Grund her vom göttlichen Einfluss erfasst wird, zeigt sich ihre Empfänglichkeit und Passivität; sie nimmt Gott auf. Daher behauptet Eckhart, die menschliche Seligkeit liege nicht im Wirken, sondern im „Erleiden“ Gottes (an dem daz wir got lîden). Er erläutert: „So allmächtig Gott im Wirken ist, so abgründig ist die Seele im Erleiden; und darum wird sie mit Gott und in Gott überformt.“Die Gottesgeburt wird von Gott, der in der Seele wirkt, herbeigeführt, doch die Voraussetzungen dafür hat der Mensch zu schaffen. Nach Eckharts Überzeugung ist göttliches Wirken niemals willkürlich, sondern stets gesetzmäßig: Es ist eine notwendige Folge des Zusammenspiels von Gottes unwandelbarer Natur mit den jeweiligen Gegebenheiten. Daher geschieht die Gottesgeburt in der Seele zwangsläufig, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Sie ist dann eine Naturnotwendigkeit. Gott, der sie ermöglicht, könnte gar nicht anders handeln, ohne sich selbst aufzugeben: „Er muss es tun, mag es ihm lieb oder leid sein“; „Gottes Natur, sein Sein und seine Gottheit hängen daran, dass er in der Seele wirken muss.“ Eckhart vergleicht Gottes Müssen, um dessen Unwillkürlichkeit zu veranschaulichen, mit dem später so genannten physikalischen „horror vacui“, dem Abscheu vor der Leere, den man der Natur zuschrieb. Man hielt es für eine Eigenschaft der Natur, dass sie einen leeren Raum nicht dulde, sondern überall die Entstehung eines Vakuums verhindere. Analog dazu „zwingt“ nach Eckharts Darstellung die Selbstentleerung des Menschen, der die Abgeschiedenheit verwirklicht, Gott dazu, die abgeschiedene Seele aufzusuchen und sich selbst in sie zu ergießen, damit in ihr kein „Vakuum“ entsteht.Obwohl der Durchbruch zur Gottheit alle Gegensätze und Unterschiede aufhebt und damit das diskursive Denken, das mit Bestimmungen operiert, übersteigt, handelt es sich aus Eckharts Sicht nicht um einen irrationalen Vorgang. Die Vernunft wird dabei nicht zurückgelassen. Vielmehr begleitet sie den Menschen beständig, gemäß Eckharts Forderung: „Und der Mensch soll zu allen seinen Werken und bei allen Dingen seine Vernunft aufmerkend gebrauchen und bei allem ein vernünftiges Bewusstsein von sich selbst und seiner Innerlichkeit haben.“ Für die Gottesgeburt gilt: „Erkenntnis und Vernunft vereinigen die Seele mit Gott. Vernunft dringt in das lautere Sein, Erkenntnis läuft voran; sie läuft vorauf und bricht durch.“ Eine zentrale Rolle beim Durchbruch und eine Würde sondergleichen weist Eckhart der Vernunft deswegen zu, weil er Gott als reinen Intellekt betrachtet. Das Sein hält er für den „Vorhof“ Gottes, die Vernunft für seinen Tempel: „Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft.“ Von „Intellekt“ ist bei Eckhart auf zweifache Art die Rede: An manchen Stellen geht es um Intellekt im Sinne von Verstand als eines der Vermögen der Seele, das heißt um die außerhalb des Seelengrunds bestehende Fähigkeit zu diskursiver Erkenntnis; in anderem Kontext handelt es sich um den Intellekt, der im Seelengrund ist und letztlich mit diesem identisch ist; das ist diejenige Vernunft, die dem Menschen den nichtdiskursiven, unmittelbaren Zugang zum Göttlichen ermöglicht. Dies ist der einzige überhaupt mögliche Zugang: „Die Seele hat nichts, in das Gott hineinsprechen könnte, außer der Vernünftigkeit.“Ausführlich geht Eckhart auf die Voraussetzungen ein, die erfüllt sein müssen, damit die Gottesgeburt möglich wird. Da es um ein Eintreten in die Einheit geht, muss alles beseitigt werden, was der Einheit entgegensteht. Hindernisse sind nicht nur Sünden und Laster im herkömmlichen Sinn, sondern schlechthin alles Ungöttliche und daher Vergängliche. Dazu gehören insbesondere die „Bilder“ der Sinnesobjekte, die man aufgenommen hat, denn sie binden und behindern den Menschen. Nachdrücklich widerspricht Eckhart dem von Aristotelikern und Thomisten erhobenen Einwand, in der Seele seien von Natur aus nur Bilder und es entspreche ihrer Natur, durch die Sinne und in Bildern aufzunehmen, und daher sei die Entfernung aller Bilder naturwidrig. Dem hält er entgegen, dass der, der so denke, den Adel der Seele nicht erfasst habe. Er erklärt, nichts hindere die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum seien „Stücke“, Gott aber sei Eines und könne nur oberhalb von ihnen erkannt werden. Daher sei Gotteserkenntnis unmöglich, solange die Seele sich der Zeit oder des Raumes bewusst sei.Wie diese vorbereitende Reinigung der Seele zu bewerkstelligen ist, erläutert Eckhart eingehend. Die Hinwendung zum Göttlichen ist mit einem auf die Welt gerichteten Wollen und Begehren unvereinbar. Daher ist die erste Aufgabe, sich von allen solchen Bestrebungen zu befreien, sich konsequent innerlich vom Irdischen zu lösen, ohne dabei die Erfüllung der weltlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Das Ergebnis einer solchen Abtrennung von der Welt nennt Eckhart „Abgeschiedenheit“. Der Seelengrund ist von Natur aus immer abgeschieden. Es kommt aber darauf an, auch die übrigen Seelenbereiche restlos von „allen Dingen“ zu trennen, sodass der Mensch gänzlich leer wird und Gott in diese Leere eintreten kann. Dann kann Gott die gesamte Seele ausfüllen. Der Mensch „soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben“. Eine solche Haltung führt letztlich zu einer vollständigen Vergöttlichung: „Ganz so werde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Sein wirkt, <und zwar> als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gotte ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt.“ Dass es um nichts Geringeres als eine reale Einheit von Mensch und Gott geht, versichert Eckhart auch mit den Worten: „Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins.“ Diese Einheitsforderung ist so radikal, dass auch die Vorstellung, Gott solle im Menschen eine Stätte zum Wirken finden, verworfen werden muss. Hinter dem Gedanken der Wirkensstätte steckt aus Eckharts Sicht wiederum das Konzept eines bestimmten seelischen Inhalts und einer Beziehung zwischen zwei Entitäten, das mit Abgeschiedenheit unvereinbar ist. Erforderlich ist vielmehr, dass der Mensch „so ledig Gottes und aller seiner Werke steht“, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, dort keine Stätte vorfindet, sondern gar nichts; dann muss er jeweils selbst die Stätte sein, in der er wirken will.Ein zentrales Element der Lehre von der Gottesgeburt im Seelengrund ist die These, dass sie sich unmittelbar, ohne jede Vermittlung, vollzieht: „Das muss geschehen ohne Mittel“, stellt Eckhart fest; „Jederart Vermittlung ist Gott fremd.“ Auf gewisse Weise kann man aber nach Eckharts Verständnis dennoch von einer „Vermittlung“ im Seelengrund sprechen, wenn man das „Schweigen“, die Freiheit von Bildern, als das „Vermittelnde“ betrachtet, das es der Seele ermöglicht, in Gott Ruhe zu finden.Eindringlich schildert Eckhart die gefühlsmäßige Seite der Hinwendung zu Gott in der Seele. Er betont die „große Freude“ und „unermessliche Wonne“, die damit verbunden sei. Demjenigen, dem dies zuteilwerde, erscheine alles menschliche Leid als vergleichsweise belanglos. Es gebe eine „Kraft“ in der Seele, in der Gott „ohne Unterlass glimmend und brennend mit all seinem Reichtum, mit all seiner Süßigkeit und mit all seiner Wonne“ sei. Allerdings unterscheidet Eckhart das Erleben solcher Wonne vom Durchbruch. Er meint, auch diese Kraft habe wie alle Kräfte keinen Zugang zur Gottheit im Seelengrund, denn deren absolute Einfachheit gestatte nichts Äußerem Zutritt. ==== Der im Seelengrund verankerte Lebemeister ==== Mit seinen Ausführungen wollte Eckhart seinen Hörern oder Lesern zunächst eine diskursiv erlangbare Einsicht in die Wahrheit seiner philosophisch-theologischen Lehre vermitteln. Solches Verstehen war aber für ihn nicht das, was dem Menschen zur Gottesgeburt verhilft. Für ausschlaggebend hielt er vielmehr die Lebenspraxis, mit der man die Abgeschiedenheit verwirklicht. Auf die Umsetzung allein komme es an. Um dies zu verdeutlichen, wies er mit einem Wortspiel auf den Unterschied zwischen einem „Lesemeister“ und einem „Lebemeister“ hin. Als „Lesemeister“ bezeichnete man im Dominikanerorden, dem Eckhart angehörte, einen wissenschaftlich ausgebildeten Mönch, der im Bildungssystem des Ordens für die Schulung seiner Mitbrüder zuständig war. Der Lesemeister (Lektor) hielt Vorlesungen und brachte seinen Schülern herkömmliches Lehrgut bei. Eckhart hat diese Funktion wohl selbst in Köln ausgeübt. Einer solchen bloß theoretischen Wissensvermittlung stellte er das Wirken eines „Lebemeisters“ gegenüber, der das von der Theorie Geforderte in seinem eigenen Leben umsetzt und damit als Vorbild dienen kann. Ein Eckhart zugeschriebener Ausspruch lautet, ein Lebemeister sei nötiger als tausend Lesemeister. Mit dem Wortspiel machte er auf den Unterschied zwischen dem gedanklichen Nachvollziehen und dem Verinnerlichen einer Wahrheit aufmerksam: Gedachtes kann aufgegeben oder vergessen werden, Verinnerlichtes bleibt. In diesem Sinne mahnte er: „Der Mensch soll nicht einen gedachten Gott haben und sich damit zufrieden geben; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur.“Nach Eckharts Urteil wird das Leben des Menschen, der sich am Seelengrund orientiert, grundlegend umgeformt; es erhält dadurch einen Sinn und Wert, den es sonst niemals besäße. Die Gottesgeburt verleiht allen Handlungen eines solchen Menschen eine außerordentliche Bedeutung. Dank ihr werden auch seine geringsten Taten weit über alles emporgehoben, was Menschen tun, die den Durchbruch zur Gottheit nicht vollzogen haben. Wenn jemand, der Gott ergriffen hat, auf einen Stein tritt, so ist dies ein göttlicheres Werk, als wenn man ohne solche Gesinnung die Eucharistie empfängt. Wer jemals nur einen Augenblick in den Seelengrund „gelugt“ (geblickt) hat, dem sind tausend Mark Goldes so viel wert wie ein falscher Heller. Wer sich selbst oder seinem vertrauten Freund mehr Gutes gönnt als einem Menschen, der jenseits des Meeres lebt und den er nie gesehen hat, der hat „noch nie nur einen Augenblick lang in diesen einfaltigen Grund gelugt“.Hier stellt sich die Frage nach der Natur des Unterschieds zwischen einem guten Menschen oder Lebemeister und einem Sünder, der sich nicht um Gott kümmert. Da die Gottesgeburt im Bestimmungslosen geschieht und die Gottheit wegen ihrer Bestimmungslosigkeit nicht einmal als „gut“ bezeichnet werden kann, ist der Seelengrund jenseits aller moralischen Wertungen. Nach Eckharts Lehre unterscheidet sich der Seelengrund des guten Menschen in keiner Hinsicht von dem des Sünders. Die für Gott empfängliche Instanz in der Seele eines Menschen ist ihrer Natur nach unveränderlich und steht in keiner Beziehung zu seinen Werken. Der moralische Wert der Taten des Menschen spielt für das göttliche Wirken im Seelenwesen keine Rolle. Sogar denen, die in der Hölle sind, bleibt der Adel der Natur ewig erhalten. Der Unterschied zwischen ihnen und den guten Menschen besteht ausschließlich darin, dass bei diesen das göttliche Licht vom Seelengrund in die „äußeren“ Bereiche der Seele, wo sich die Seelenvermögen betätigen, ausstrahlt und bei den schlechten nicht. Dem schlechten Menschen fehlt die Empfänglichkeit der Seelenvermögen für das göttliche Licht. Eckhart hielt zwar an dem Grundsatz fest, dass die Gottheit nichts tut, also auch nicht liebt, aber indem er lehrte, dass die Liebe aus ihr im Sinne einer Emanation ausfließe, postulierte er doch einen Bezug zwischen ihr und dem Bereich, in dem es Liebe und ethische Unterscheidungen gibt. Als Prediger legte Eckhart Wert darauf, seinem Publikum zu vermitteln, dass der Status des Gerechten oder Lebemeisters kein Privileg einer besonders qualifizierten Elite, sondern für jeden erreichbar sei. Die mit völliger Abgeschiedenheit verbundene Freude sei kein fernes Ziel, sondern in greifbarer Nähe. Keiner der Zuhörer sei so grob oder so klein an Fassungskraft oder so weit von der Abgeschiedenheit entfernt, dass er diese Freude nicht „so, wie sie wahrheitsgemäß ist“ in sich finden könnte, „noch ehe ihr heute aus dieser Kirche kommt, ja noch ehe ich heute meine Predigt beendige“. ==== Die Verurteilung der Seelengrundlehre ==== Gegen Ende seines Lebens wurde Eckhart wegen Häresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubigkeit) denunziert und angeklagt. Ein in Köln gegen ihn eingeleiteter Inquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgerollt und nach seinem Tod zu Ende geführt. Papst Johannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irrlehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltenden Werke. In der Bulle In agro dominico vom 27. März 1329 wurden siebzehn von Eckhart stammende oder ihm zugeschriebene Thesen als irrig oder häretisch eingestuft und elf weitere als verdächtig. Bei den Angriffen auf seine Lehre spielte das Konzept des Seelengrunds mit seinen verschiedenen Aspekten und Konsequenzen eine zentrale Rolle.Als besonders anstößig betrachteten die Ankläger und das päpstliche Gericht die Aussage, es gebe in der menschlichen Seele etwas Unerschaffenes. Die Anklage deutete dies als Behauptung, die Seele sei aus Geschaffenem und Ungeschaffenem zusammengesetzt und das Ungeschaffene, Göttliche sei eine ihrer „Kräfte“, ein Seelenvermögen. Bei einer solchen Interpretation erschien die Lehre von der Präsenz der Gottheit in der Seele als Herabwürdigung Gottes. Dieser Punkt wurde in der päpstlichen Irrtumsliste mehrfach angeführt. Die uneingeschränkte Vergöttlichung bei der seelischen Gottesgeburt wurde als blasphemisch beurteilt, da sie zur Identifikation eines Menschen mit Gott zu führen schien. Außerdem sahen die Kritiker darin eine Gefährdung der Sonderstellung Christi als einziger Gottmensch. Der Papst verdammte die so gedeuteten Thesen des Angeklagten. Eckhart, der die Verurteilung nicht mehr erlebte, hatte sich gegen die Angriffe zur Wehr gesetzt und seinen Gegnern Ignoranz und böswillige Fehldeutung seiner Lehre vorgeworfen.Der Franziskaner Wilhelm von Ockham († 1347), ein entschiedener Gegner des Papstes, erhob gegen Johannes XXII. den Vorwurf, er habe es versäumt, die absurden und phantastischen Thesen Eckharts als Irrlehren zu verurteilen. Offenbar wusste Ockham nichts von der Verurteilungsbulle. Als abwegig betrachtete er insbesondere Annahmen, die mit dem Konzept des ungeschaffenen Seelengrunds und der absoluten Undifferenziertheit der Gottheit zusammenhängen. Ockham nannte die Eckhart unterstellten Behauptungen, dass es im Bereich des Göttlichen (in divinis) keine Unterscheidung (distinctio) gebe und dass jeder beliebige gerechte Mensch in das göttliche Wesen (essentia) verwandelt werde so wie bei der Eucharistie das Brot in den Leib Christi. === Johannes Tauler === Zu den namhaftesten spirituellen Lehrern des Spätmittelalters im deutschsprachigen Raum zählte der Dominikaner Johannes Tauler († 1361). Er schätzte Eckharts Lehre und verdankte ihr wesentliche Impulse. Zu den Konzepten, an die er anknüpfte, zählte auch der Seelengrund, den er wie Eckhart mit dem augustinischen „Versteck des Geistes“ gleichsetzte. Den Ausdruck abditum mentis gab er mittelhochdeutsch mit verborgen appetgrunde („verborgener Abgrund“) wieder. Mit Vorliebe charakterisierte er das Innerste der Seele als Abgrund. Damit nahm er auf die Bibelstelle Ps 42,8 Bezug, wo in der Version der lateinischen Bibel, der Vulgata, von einem Abgrund (abyssus) die Rede ist, der einen Abgrund „ruft“ (invocat). Darunter verstand Tauler die gegenseitige Zuwendung des göttlichen Abgrunds und des Abgrunds der menschlichen Seele. In seinen Predigten ging er oft auf den Seelengrund ein. Er nannte ihn das Lauterste, Innigste und Edelste, „den innersten Grund, wo allein Einheit ist“. Dort könne Gott in Wahrheit „hineingehen“, wenn das „Gemüt“ – der menschliche Geist – emporgetragen werde. Dieser Grund habe nichts mit den irdischen Gegebenheiten zu tun; er sei hoch erhaben über den Bereich der seelischen Kräfte oder Vermögen, der dem Leib Leben und Bewegung gebe. Er sei so edel, dass man ihm eigentlich – ebenso wie Gott – keinen Namen geben könne; Bezeichnungen wie „Boden“ seien unzulänglich.Dennoch verwendete Tauler verschiedene Benennungen für den Seelengrund, darunter neben dem Hauptausdruck „Grund“ auch „Funke“ und „der oberste Mensch“. Nach seiner Anthropologie ist der Mensch wie aus drei Menschen gestaltet: dem „viehischen“ Menschen, der nach den Sinnen lebt, dem vernünftigen Menschen und dem „obersten, inneren“ Menschen, der „gottförmig, gottgebildet“ ist. Wenn die Seele in sich selbst, in ihren Grund einkehrt, dann wird sie göttlich und lebt ein göttliches Leben.In einer Predigt verkündete Tauler, im „allerinnersten, allerverborgensten, tiefsten Grund der Seele“ wirke Gott; von dort könne er ebenso wenig getrennt werden wie von sich selbst. Der Seelengrund besitze durch Gottes Gnade alles, was Gott von Natur aus besitze. Tauler berief sich auf den „heidnischen Meister“ Proklos, den er ausführlich zitierte. Proklos habe bereits erkannt, dass man niemals in den Grund gelangen könne, solange man sich mit Abbildern und mit der Mannigfaltigkeit beschäftige, statt die Aufmerksamkeit nur auf das Eine zu richten. Es sei eine Schande, dass ein Heide darauf gekommen sei und das begriffen habe, während „wir“, die Christen, dieser Wahrheit fern stünden. Die von Proklos formulierte Wahrheit sei dieselbe, die im Evangelium verkündet werde mit den Worten: „Das Reich Gottes ist in euch“ (Lk 17,21 ); damit sei gemeint, das Gottesreich sei nur im Inneren, im Grund, über allen Wirkungen der Seelenkräfte. Tauler hob hervor, es gebe ein ganz reines, unverhülltes und zuverlässiges Erkennen und Gewahrwerden des „inwendigen Grundes“, wo das Reich Gottes sei. Allerdings könne dies nicht mittels der natürlichen Vernunft vollzogen werden, vielmehr sei dafür eine besondere Gnade erforderlich. Nach der Lehre Taulers wird die dabei benötigte Gnade dem Menschen, der sich dafür hinreichend qualifiziert hat, nicht durch einen willkürlichen Beschluss Gottes gewährt, sondern sie muss ihm zwangsläufig zuteilwerden, sobald er alle Voraussetzungen erfüllt. Gott muss dann aus seiner eigenen Seinsnotwendigkeit heraus zum wirkenden Prinzip im Menschen werden. Die Notwendigkeit der Selbstmitteilung ist der Natur Gottes immanent.Ebenso wie Eckhart lehrte Tauler, dass die Vereinigung im Seelengrund eine Beseitigung aller Eigenheiten des Menschen erfordere, da diese der Einheit mit Gott entgegenstünden. Der Mensch müsse sich erst in sich selbst zurückziehen, die Mannigfaltigkeit überwinden und seinen Geist einfach machen, durch Konzentration und Sammlung zu seelischer Einheit kommen, damit die Vereinigung mit dem einfachen Gott möglich werde. In einer Predigt führte Tauler aus, der menschliche Geist versinke dann im göttlichen Abgrund und verliere sich darin, sodass er von sich selbst nichts wisse; er entfalle seiner eigenen Erkenntnis und Wirksamkeit. Dann sei er sich selbst „entsunken“ und habe sich in Gott verloren wie ein Tropfen Wasser im tiefen Meer. Wie Eckhart fasste Tauler die Einkehr in den Seelengrund als Rückkehr auf, die dem Menschen bewusst mache, dass er von Ewigkeit her in Gott gewesen sei, ehe er als Geschöpf geschaffen worden sei: „Als er in ihm war, da war der Mensch Gott in Gott.“Ein fundamentaler Unterschied zu Eckharts Auffassung besteht darin, dass Tauler den Seelengrund als geschaffen betrachtete. Er hielt ihn zwar für die Stätte, wo Gott in der Seele „wirkt“ oder wo, wie er es ausdrückte, die Seele Gott „hat“, doch übernahm er nicht die Identifizierung des Grundes mit der Gottheit. Vielmehr lehrte er, dass bei der Begegnung des ungeschaffenen göttlichen Abgrunds mit dem geschaffenen menschlichen der eine Abgrund in den anderen fließe; dann „versinkt das geschaffene Nichts in das ungeschaffene Nichts“. Mit der Betonung der Kreatürlichkeit des Seelengrunds distanzierte sich Tauler sorgfältig von möglichen Interpretationen seiner Aussagen, die seine Spiritualität in die Nähe der kirchlich als häretisch verurteilten Thesen Eckharts hätten rücken können. Außerdem sah er im Gegensatz zu Eckhart den Grund nicht als unkorrumpierbar an; vielmehr warnte er vor schädlichen Einflüssen von Geschaffenem, die zu einer Verstrickung des Grundes in Ungutes führen könnten. Er forderte, man solle den Seelengrund mit großem Fleiß bearbeiten, wie ein Bauer seinen Acker, und das Unkraut vertilgen.Im Gegensatz zu Eckhart ging Tauler in einer seiner Predigten direkt auf seine persönliche Erfahrung ein. Er behauptete, wenn der Mensch auf richtige Weise in seinen Seelengrund gekommen sei und dort verweile, sei er ein Himmel Gottes, da Gott in ihm wohne. Solche Gottförmigkeit überfordere allerdings den menschlichen Körper, der das kaum aushalten könne. Er selbst sei in eigenem Erleben nicht bis dahin gelangt. Zwar solle eigentlich kein Lehrer von etwas sprechen, was er nicht selbst erlebt habe, doch zur Not genüge es, dass er es liebe und im Sinn habe und ihm kein Hindernis bereite. === Heinrich Seuse === Der Dominikaner Heinrich Seuse († 1366), ein Schüler Meister Eckharts, übernahm Grundzüge von dessen Seelengrund-Konzept. Allerdings verwendete er das Wort „Grund“ nur selten zur Bezeichnung des Seelengrunds. Häufig sprach er vom „Grund des Herzens“, womit er aber – zumindest an manchen Stellen – nur emphatisch das Herz umschrieb. In seinem Büchlein der Wahrheit legte er dar, die ganze Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und Bezeichnungen, die man Gott zulege, darunter auch „Dreifaltigkeit“, sei im Grunde und im „Boden“ (der Gottheit) eine „einfaltige Einheit“. Der Grund sei die Natur und das Wesen der Gottheit; er sei eine „stille einschwebende Dunkelheit“. Sein „eigenes Werk“ sei das Gebären; dabei habe sich – wenn man es auf die Weise der menschlichen Vernunft ausdrücken wolle – „Gottheit zu Gott geschwungen“. Auf die Frage, ob das denn nicht dasselbe sei, antwortete Seuse, Gott und Gottheit seien zwar eins, aber die Gottheit wirke und gebäre nicht, das tue nur Gott. So habe man es sich vorzustellen, da die menschliche Vernunft eine solche „Andersheit“ erfordere, um begreifen zu können. Dabei werde man aber „in der Einbildung betrogen“, denn man betrachte das Göttliche so, wie es der Auffassungsweise eines Geschöpfs entspreche, und das sei der göttlichen Wahrheit nicht angemessen. In Wirklichkeit handle es sich um etwas absolut Einheitliches.Obwohl Seuse damit auf eine Grenze des Erfassungsvermögens der Vernunft hinwies, betonte er in der Tradition Eckharts den „hohen Adel“ der „Vernünftigkeit“ und lobte die „gottförmige“ Vernunft des Menschen. Nach seiner Lehre hat der oberste, „überwesenhafte“ Geist den Menschen dadurch geadelt, dass er von seiner ewigen Gottheit in ihn hineinleuchtete, und daher ist Gottes Bild „in dem vernünftigen Gemüt, das auch ewig ist“. Die „stille Einfaltigkeit“ der namenlosen und „weiselosen“ Gottheit ist eine lebendige Vernünftigkeit, „die sich selbst versteht“. Den „Grund“ beschrieb Seuse, eine paradoxe Formulierung Eckharts aufgreifend, als „grundlos“. Damit meinte er eine „Abgründigkeit“, die keinen Boden zu haben scheint. Aber auch diesbezüglich behauptete er, die göttliche Wirklichkeit sei anders als die menschliche Wahrnehmung: Was dem Geschöpf als unergründlich tiefer Abgrund erscheine, sei sich selbst „ergründlich“ (grúntlich).Das, was Eckhart den Durchbruch nennt, ist bei Seuse „der kräftige, entäußernde Einschlag“ in das göttliche „Nichts“, der „in dem Grund“ allen Unterschied ausmerzt – aber nicht dem Sein nach, sondern nur der menschlichen Auffassungsweise nach (nach nemunge únser halb). Es handelt sich also nur aus der begrenzten Sicht des Menschen, nur in seinem Bewusstsein um einen Akt der Vereinigung, der den Unterschied zwischen Gott und Mensch aufhebt; unter dem Gesichtspunkt des wirklichen Seins ändert sich dabei nichts. Voraussetzung für den „Einschlag“ ist die Zähmung der Seelenkräfte als Leistung des gelassenen Menschen. Nach Seuses Überzeugung müsste im Idealfall, wenn diese Zähmung vollkommen gelänge, dem Menschen, der dann in sich hineinsähe, dabei das ganze All offenbar werden. Die Vereinigung der Seele mit der Gottheit erfordert eine besondere Gnade, sie geschieht nicht von Natur aus. === Nikolaus von Kues === In den 1440er Jahren wurde der alte Konflikt um Eckharts Lehre von der Ungeschaffenheit des Seelengrunds erneut ausgetragen. Der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (Cusanus) legte 1440 in seiner Schrift De docta ignorantia (Über die belehrte Unwissenheit) Ansichten dar, die bei dem Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck auf scharfen Widerspruch stießen. Wenck veröffentlichte 1442/43 eine Kampfschrift mit dem Titel De ignota litteratura (Über die unbekannte Gelehrsamkeit), in der er Nikolaus der pantheistischen Ketzerei und des Irrationalismus beschuldigte. 1449 antwortete der Angegriffene mit der Gegenschrift Apologia doctae ignorantiae (Verteidigung der belehrten Unwissenheit). Wenck bekämpfte vor allem die in De docta ignorantia vorgetragene Lehre vom Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) in der Unendlichkeit des Einen, in der einfachen Einheit Gottes. Er meinte, damit werde jedes wissenschaftliche Denken zerstört, da die Regeln der Logik außer Kraft gesetzt würden. Die Leitidee des Cusanus stamme von Eckhart. Dabei führte Wenck unter anderem die – ihm nur aus einer lateinischen Übersetzung bekannte – These Eckharts an, es gebe in der Seele „eine gewisse Burg“, die auch „Fünklein“ genannt werde und so einfach sei, dass selbst Gott diese Einfachheit nur dann betrachten könne, wenn er sich dabei seiner Namen und Eigenschaften entledige. Für Wenck war die Lehre vom Seelengrund eine verdammenswerte Gleichsetzung des Schöpfers mit dem Geschöpf. Cusanus verteidigte sich und auch Eckhart, den er lobte und zitierte, allerdings ohne die Berechtigung des päpstlichen Eingreifens in Zweifel zu ziehen. Er hielt Eckhart für einen fähigen Denker, der zutreffende Ansichten vertreten habe, dessen anspruchsvolle Ausführungen aber für Ungebildete und für Kleingeister (wie Wenck) unverständlich seien und leicht missverstanden werden könnten. Daher seien seine Werke für die Öffentlichkeit ungeeignet; man solle sie unter Verschluss halten. == Neuzeit == === 16. und 17. Jahrhundert === Im 16. und 17. Jahrhundert waren Ausdrücke, die sich auf den Grund der Seele bezogen, in geistlicher Literatur verbreitet. Mitunter wurde eine solche Terminologie mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Tauler verwendet, so bei dem Benediktiner Louis de Blois (1506–1566) und dem Jesuiten Maximilian van der Sandt (Sandaeus, 1578–1656). Die Karmelitin Teresa von Ávila (1515–1582) verfasste die Schrift El castillo interior (Die innere Burg), ein Grundlagenwerk ihrer Spiritualität. Dort beschrieb sie den Ort der Seele, wo die Vereinigung mit Gott stattfinde, als das „Tiefinnerste“, den „Abgrund“ und das „Wesentliche“ der Seele, wo die Seelenkräfte nichts zu schaffen hätten. In ihrem stillen Zentrum genieße die Seele den tiefsten Frieden, während sie gleichzeitig außerhalb dieses innersten Bereichs Mühseligkeiten und Leiden empfinden könne. Teresas Ausführungen weisen starke Übereinstimmungen mit denen Taulers auf.Johannes vom Kreuz († 1591), der ebenfalls dem Karmelitenorden angehörte, verwendete für das „Zentrum der Seele“ auch die Bezeichnung „Seelengrund“ (fondo del alma). In seinem Werk Llama de amor viva (Lebendige Liebesflamme) beschrieb er den Umgang und die Vereinigung der Seele mit Gott, ihrem Bräutigam. Dort ist vom „Erwachen“ Gottes „in der Mitte und im Grund“ der Seele die Rede. Der Grund der Seele sei „ihr reines und innerstes Wesen“ (la pura e intima sustancia de ella). Dort wohne Gott insgeheim als ihr alleiniger Herr, mit ihr eng geeint (estrechamente unido), und vollziehe seine süße Umarmung mit ihr, wenn sie sich vom Ungöttlichen freigemacht habe. Er weile nicht nur bei den ihn Liebenden, sondern im Grund aller Seelen; wenn das nicht so wäre, könnten sie nicht bestehen. Die Art seiner Anwesenheit sei aber sehr verschieden, sie hänge von der jeweiligen Gesinnung der Person ab. In den Seelen, in denen keine Bilder und Formen und keine Neigungen zu irgendetwas Geschaffenem seien, wohne Gott wie in seinem eigenen Haus; in den anderen, auf Weltliches ausgerichteten halte er sich wie ein Fremder in fremdem Haus auf. Seine Anwesenheit im Seelengrund sei verborgen, denn dorthin könne weder der Teufel vordringen noch der menschliche Verstand, der das erforschen wolle. Den Menschen, bei denen die Vereinigung mit Gott noch nicht stattgefunden habe, sei seine Gegenwart in ihren Seelen gewöhnlich nicht bewusst.Besonderes Gewicht legte die Nonne Marie de l’Incarnation (1599–1672) auf das Erleben der Anwesenheit Gottes in der Seele. Sie bezeichnete den Seelengrund u. a. als Sitz Gottes, als obersten Teil der Seele und als das Innerste der Seele. Bei der Beschreibung ihrer geistlichen Erlebnisse wählte sie Formulierungen wie „Ich wurde stark in den Grund meines Inneren gezogen“ oder „ganz zurückgezogen in den Grund der Seele“. Daneben verwendete sie auch die Bezeichnung „Zentrum der Seele“. Das Seelenzentrum nannte sie Gottes Wohnstätte, mitunter setzte sie es sogar mit dem in der Seele anwesenden Gott gleich. === 18. Jahrhundert === Im 18. Jahrhundert waren in pietistischen Kreisen Ausdrücke wie „Seelengrund“ und „Herzensgrund“ geläufig. Teils war im Sinne des mittelalterlichen Sprachgebrauchs vom „Grund“ als „Ort“ einer Vereinigung des Menschen mit Gott die Rede, vor allem bei Gerhard Tersteegen, teils erhielten die Ausdrücke eine stark abgewandelte oder sogar gegenteilige Bedeutung: Man sprach nun auch von einem „bösen Grund“ des Herzens, der verdorben und gottfern sei. Zunehmend wurden die Begriffe säkularisiert. Diese Entwicklung bereitete sich schon in der pietistischen Literatur vor und prägte sich dann in der Strömung der Empfindsamkeit voll aus. Als Grund der Seele oder des Herzens in weltlichem Sinn bezeichnete man den Sitz starker, tiefer und authentischer Gefühle, etwa im Sinne von „Seelenfreundschaft“. Teils war dabei eine religiöse Konnotation in unterschiedlichem Ausmaß noch vorhanden, teils verblasste und verschwand der christliche Hintergrund völlig.Unabhängig davon kam im 18. Jahrhundert in aufklärerischen Kreisen eine völlig andersartige, philosophische Begriffsverwendung auf: Der Grund der Seele wurde als Ort „dunkler“ Erkenntnis – im Gegensatz zu der von René Descartes geforderten klaren, deutlichen und daher korrekten Erkenntnis – aufgefasst. Als dunkel galt eine Erkenntnis, die nur auf einfacher Sinneswahrnehmung basiert, ohne dass das Erkenntnisobjekt als Ganzes anhand seiner charakteristischen Merkmale bestimmt worden ist. Der Aufklärer Alexander Gottlieb Baumgarten führte 1739 den lateinischen Ausdruck fundus animae („Grund der Seele“) zur Bezeichnung des seelischen Bereichs ein, in dem „dunkle Wahrnehmungen“ seien. Baumgarten schloss diesen Bereich zwar als Gegenstand ästhetischer Analyse aus, bewertete aber die Dunkelheit tendenziell positiv; er sah im Seelengrund eine mögliche Bereicherung, da darin „Vollkommenheiten der sinnlichen Erkenntnis“ enthalten seien. Nach seinem Verständnis durchdringen und profilieren sich die dunkle und die klare Erkenntnis gegenseitig; die dunkle ist an jeder menschlichen Erkenntnis nicht-einfacher Dinge und Sachverhalte beteiligt. Im Gegensatz zur Unwissenheit, die Baumgarten rein negativ beurteilte, billigte er der dunklen, aus dem Seelengrund hervorgehenden Erkenntnis einen beträchtlichen Wert zu. Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier befand 1752, die dunkle Erkenntnis sei das Chaos in der Seele, das von deren schöpferischer Kraft bearbeitet werde und aus dem sie nach und nach alle klare Erkenntnis zusammensetze. Johann Georg Sulzer sah in den „dunklen Vorstellungen“ die unbewussten Ursachen schwer erklärbarer Verhaltensweisen. Er konstatierte 1758, es seien die „in dem Innersten der Seele verborgenen Angelegenheiten“, die den Menschen veranlassten, auf unpassende Weise und gegen seine eigene Absicht zu handeln und zu reden.Johann Gottfried Herder (1744–1803) machte den Seelengrund zum Grundstein seiner Anthropologie. In seiner Auseinandersetzung mit Baumgartens Ästhetik stellte er die These auf, dass „in dem Grunde der Seele unsere Stärke als Menschen besteht“. Herder betrachtete den „dunklen Abgrund der menschlichen Seele“ als die Stätte, wo „die Empfindungen des Tieres zu den Empfindungen eines Menschen werden, und sich gleichsam von fern mit der Seele mischen“. Dort sei auch der Abgrund dunkler Gedanken, „aus welchem sich nachher Triebe und Affekten, und Lust und Unlust heben“. Herder stellte sich die Seele als etwas Zusammengesetztes vor, in dem das Dunkle anteilmäßig überwiege. Er fasste das Dunkle als Ursprung auf, an den alle menschliche Entwicklung gebunden sei; das menschliche Dasein sei durch die Koexistenz von Dunkel und Licht bestimmt. Dazu bemerkte er: „Der ganze Grund unsrer Seele sind dunkle Ideen, die lebhaftesten, die meisten, die Maße [d.h.: Masse], aus der die Seele ihre feinern bereitet, die stärksten Triebfedern unsers Lebens, der größeste Beitrag zu unserm Glück und Unglück.“ Diesen Befund bewertete Herder im Rahmen seines Konzepts der Entwicklung des Individuums durchaus positiv, denn er meinte, alles Klare, jede menschliche Idee gehe aus dem dunklen Seelengrund hervor. Er schrieb 1778, die erkennende, wollende Seele sei das Bild der Gottheit; sie sei bestrebt, auf alles, was sie umgebe, dieses Bild zu prägen. Sie trete in sich zurück, ruhe gleichsam auf sich selbst und könne „ein Weltall drehen und überwinden“. Ihre Taten vollbringe sie mit dem hohen Gefühl, Tochter Gottes zu sein. Dabei blicke sie gleichsam in sich hinein und nehme in ihrem dunklen Grund die Grundlage ihrer Fähigkeiten und Leistungen wahr. Jeder höhere Grad des Vermögens, der Aufmerksamkeit und Losreißung, der Willkür und Freiheit liege „in diesem dunkeln Grunde von innigstem Reiz und Bewußtseyn ihrer selbst, ihrer Kraft, ihres innern Lebens“. === 19. und frühes 20. Jahrhundert === Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verstärkte sich das Interesse an mittelalterlicher Spiritualität beträchtlich, zunächst bei romantisch gesinnten Laien, dann auch in der Gelehrtenwelt. In der Forschung des 19. Jahrhunderts war ebenso wie in der damaligen breiten Öffentlichkeit die Einschätzung der spätmittelalterlichen geistlichen Literatur stark von Schlagwörtern und Vorstellungen beeinflusst, die in neueren Untersuchungen als problematisch und teils irreführend kritisiert werden. Davon war vor allem die Eckhart-Rezeption betroffen. Die These, das Innerste der menschlichen Seele sei ungeschaffen und gottgleich, und die Forderung der Vergöttlichung des Menschen wurden oft als pantheistisch oder zum Pantheismus tendierend eingestuft, doch regte sich dagegen auch Widerspruch. Manche Stellungnahmen im Pantheismusstreit waren mit Bewertungen verbunden, die von der jeweiligen eigenen weltanschaulichen Position des Urteilenden beeinflusst waren; konfessionelle Perspektiven machten sich geltend. Außerdem galt die Lehre von der absoluten Undifferenziertheit der Gottheit und deren Gleichsetzung mit dem Innersten der menschlichen Seele als „mystisch“ im Sinne eines Gegensatzes zur rationalen Denkweise und Argumentation der scholastischen Gelehrten des Spätmittelalters.Eine Wende leiteten die Forschungen des Dominikaners Heinrich Denifle (1844–1905) ein. Denifle zeigte Eckharts Verwurzelung in der scholastischen Tradition auf. Allerdings kritisierte er ihn aus thomistischer Sicht heftig als unfähigen Scholastiker, der teils nur älteres Gedankengut übernommen habe, teils wirre, „krankhafte“ Ansichten vertreten habe. Seine Theologie sei, insoweit sie originell sei, unhaltbar, ihre kirchliche Verurteilung sei durchaus berechtigt gewesen. Cusanus habe ihn zu Unrecht gegen Wencks Kritik verteidigt. Ein echter Pantheist sei Eckhart zwar nicht gewesen, doch habe er einzelne pantheistische Thesen aufgestellt. Denifle polemisierte gegen die gesamte bisherige Forschung und warf evangelischen Gelehrten konfessionelle Voreingenommenheit vor. Seine pointierte Stellungnahme stieß in der Fachwelt teils auf Widerspruch, beeinflusste aber die Forschung stark und nachhaltig. Der einflussreiche Thomist Martin Grabmann (1875–1949), ein Schüler Denifles, trat für die Interpretation seines Lehrers ein und teilte dessen Werturteil. Er rückte Eckharts Gottesauffassung in die Nähe des Averroismus, der mittelalterlichen Lehre von der Einheit des Intellekts, der für die Averroisten nur ein einziger und in allen Menschen derselbe ist, was eine individuelle Unsterblichkeit der Seele ausschließt. Profilierte Vertreter der Gegenmeinung waren Otto Karrer (1888–1976) und Alois Dempf (1891–1982). Sie hielten Eckharts Position einschließlich der Seelengrundlehre für konsistent und im Rahmen des Katholizismus vertretbar.In der Öffentlichkeit lebte das herkömmliche Bild von einer außerrationalen Mystik Eckharts fort und verstärkte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch. Damit verband sich oft die Vorstellung, sein Gottes- und Seelenverständnis sei Ausdruck einer typisch deutschen Gesinnung und weise eine antikirchliche Stoßrichtung auf. Zur Ausformung und Popularisierung eines antikatholischen Eckhartbilds trug maßgeblich Herman Büttners Übertragung der mittelhochdeutschen Werke in modernes Deutsch bei. Sie erschien 1903–1909 im Verlag von Eugen Diederichs und erzielte eine außerordentliche Breitenwirkung. Büttner übersetzte sehr frei und ließ dabei seine eigenen Interpretationen einfließen. Sein Kerngedanke war, dass der Mensch, wenn er in seinen Seelengrund hinabsteige, dort auch den Weltgrund, den „einigen ewigen Grund“ erfahre. In der Erfahrung der Wesenseinheit mit Gott liege die Seligkeit. Wer Gott in seinem Inneren erfahren habe, brauche keinen äußeren Mittler und Erlöser mehr, die Kirche werde dann als überflüssig erkannt. Namhafte Intellektuelle wie Julius Hart (1859–1930), Arthur Drews (1865–1935) und Leopold Ziegler (1881–1958) schlossen sich Büttners Auffassung an oder vertraten ähnliche Ansichten.Begeisterte Zustimmung fand die Seelengrundlehre bei dem Neukantianer Paul Natorp (1854–1924), der darin wie viele seiner Zeitgenossen die Grundlegung einer „eigentümlich deutschen Weltanschauung“ erblickte. Natorp befand, Eckharts Sprache sei hier durchaus die des Entdeckers, der „nie Erhörtes“ ausspreche und den kein Dogma, überhaupt kein geschriebenes oder gesprochenes Wort binde. Verbindlich sei für Eckhart nur das gewesen, was er „aus eignem innersten Gotterleben“ habe bejahen können. Er sei von dem ausschließlichen Gegenüber von Gott und Seele ausgegangen. Das Einswerden der Seele mit Gott sei die ewige Menschwerdung Gottes und zugleich Gottwerdung des Menschen. Das „Lassen“ alles Geschaffenen und sogar Gottes selbst als Voraussetzung der Gottesgeburt in der Menschenseele bedeutet nach Natorps Verständnis „nicht ein Wegwerfen, sondern, zunächst logisch angesehen, eine radikale Abstraktion, die nichts anderes beabsichtigt als auf den letzten Innenpunkt zurückzugehen, von dem aus, wie alle und jede Spaltung, so selbst das letzte Gegenüber von Gott und Seele sich überhaupt erst versteht“. Daraus ergebe sich die Befreiung vom Mittleramt der Kirche und jeglicher vermittelnden Instanz sowie auch vom Sündenbewusstsein, dem „ärgsten Seelenpeiniger des mittelalterlichen Menschen“. Aus der Seelengrundlehre folge „eine Erhöhung des Menschengeistes, wie sie nie zuvor ausgesprochen ist und auch durch nichts Späteres überboten werden konnte“. === Neuere Forschung === ==== Die Rolle des Intellekts ==== Ein oft erörtertes Thema von Untersuchungen und Debatten über den Seelengrund ist die Rolle des Intellekts oder der Vernunft, die in einem großen Teil der neueren Forschungsliteratur stark gewichtet wird. Kurt Flasch hebt in seiner 2010 erschienenen Eckhart-Monographie hervor, dass die Lehre von der Gottesgeburt, „die zunächst einfach und fromm klingt, den Leser in philosophische Prämissen verwickelt“. Eckhart habe die Gottesgeburt im Grund der Seele nicht als „übernatürliches Zusatzgeschenk“ Gottes betrachtet, sondern als einen Vollzug in der Natur der Seele. Flasch macht geltend, dass Eckhart die Natur der Seele mit dem Intellekt gleichgesetzt und die Frage, was das Höchste in der Seele ist, damit philosophisch beantwortet habe. Er habe nicht den geringsten Zweifel daran gehabt, dass der Intellekt den Seelengrund, „also sich selbst“, erkennen könne. Dieser Ansatz sei oft missachtet worden, was zu Fehldeutungen geführt habe. Insbesondere kritisiert Flasch die Sichtweise des namhaften Germanisten Josef Quint (1898–1976), der Eckharts Predigten kritisch herausgegeben und in modernes Deutsch übertragen hat. Quint habe bis in die 1970er Jahre das Feld durch Textausgaben und Interpretationen dominiert und dabei einer verfehlten irrationalistischen Interpretation Vorschub geleistet. In Wirklichkeit habe Eckhart als Philosoph besonderes Gewicht auf seinen Anspruch gelegt, dass er im Licht der natürlichen Vernunft spreche, also in seiner Argumentation keine Glaubensinhalte voraussetze. Auch in seinen volkssprachlichen Predigten über die Gottesgeburt habe er mit vernunftgemäßen Begründungen, nicht mit der Berufung auf die Bibel überzeugen wollen.Eine völlig andere Interpretation trägt Otto Langer vor. Er behauptet, der Versuch, die Lehre vom Seelengrund von einer Intellekttheorie her zu verstehen, führe in die Irre. Das richtige Verständnis sei vielmehr von der ethischen Praxis her zu gewinnen. Eckhart habe gelehrt, die rechte Selbstliebe als Liebe zur eigenen „Menschheit“ falle mit der rechten Nächstenliebe als Liebe zur „Menschheit“ in anderen zusammen; der Mensch, der nach seiner Natur, seiner „Menschheit“, lebe, sei eins mit Gott. In der Nächstenliebe verwirkliche der Mensch die Möglichkeit, mit Gott im Seelengrund eins zu sein. ==== Die Frage der persönlichen Erfahrung ==== Die Frage, ob hinter Eckharts Darlegungen über die Gottesgeburt im Seelengrund eine persönliche Erfahrung steht und in welchem Sinne eine solche gegebenenfalls zu deuten ist, wird unterschiedlich beantwortet. Aus dem Umstand, dass er sich nie dazu geäußert hat, wurde in der älteren Forschung gefolgert, in seinen Werken sei eine „Geistmystik“ dargelegt, die nicht auf eigener Erfahrung des Autors fuße. Gegen diese Hypothese wandte sich Kurt Ruh. Er kam zum Ergebnis, dass sowohl das, was Eckhart über den Seelengrund predigte, als auch die Art, wie er sich „in emphatisch-charismatischer Sprechweise“ ausdrückte, die Eigenerfahrung voraussetze. Überdies habe Eckhart ein verhülltes Bekenntnis zu solcher Erfahrung abgelegt. Seine Wahrheitsbeteuerungen seien in diesem Sinne zu verstehen. Ähnlich äußerten sich Shizuteru Ueda und Peter Reiter.Aus einer anderen Perspektive untersuchte Alois M. Haas diese Frage. Er meinte, man spreche zu Unrecht von „mystischer Erfahrung, der Eckhart teilhaftig geworden sein soll“. Dabei werde übersehen, dass eine solche Ausdrucksweise Eckharts Verständnis des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit nicht gerecht werde. Bei ihm sei „die Kategorie des Neuen aus dem Bereich des Erlebnishaften herausgenommen“. Der „Durchbruch“ werde missverstanden, wenn man ihn ins Kategoriale der menschlichen Erlebenswelt übersetze. Es sei Eckhart gerade nicht um isolierte einzelne Gotteserfahrungen oder Erlebnisse der Vereinigung mit Gott gegangen. Vielmehr bestehe der Durchbruch darin, dass das Eins-Sein des Menschen mit Gott als menschliche Grundverfasstheit offengelegt werde. Eckharts Vorgehen sei durch „Interesselosigkeit gegenüber aller Form psychologischer Konkretisierung“ charakterisiert. Für ihn falle isolierte, punktuelle Erfahrung als Wahrnehmung eines Objekts oder eines seelischen Ereignisses als eines gegenwärtigen unter die Kategorie der „Eigenschaft“, gehöre also zu den Dingen, deren Beseitigung die Voraussetzung der Gottesgeburt sei. Dennoch sei es legitim, den Durchbruch als „Erfahrung“ zu bezeichnen, wenn man diesen Ausdruck nicht psychologisch missverstehe.Ähnlich ist die Position von Erwin Waldschütz. Er nahm an, dass Eckhart selbst – metaphorisch ausgedrückt – in den Grund „hineingeschaut“ habe, was aber nicht als Gottesschau im Sinne eines esoterischen Akts zu verstehen sei, sondern als „Grund-Erfahrung“. Es sei ihm nicht um Erfahrung im Sinn von Einzelerfahrungen sinnlicher oder psychischer Art gegangen, sondern um Erfahrung schlechthin im Sinn der Grunderfahrung. Diese sei „ein völlig eigenständiger Modus des Selbstvollzugs des Menschen“, der sich gegenüber dem Erkennen, Wollen, Fühlen und Wahrnehmen deutlich unterscheiden lasse und die anderen Modi des Selbstvollzugs zu begründen imstande sei. Die Grundzüge der Grunderfahrung seien Betroffenheit und Inanspruchnahme, unableitbare Unmittelbarkeit, Weiselosigkeit, Offenheit für das Ganze und jeden Menschen, Verbindlichkeit sowie Drängen auf Auslegung und Mitteilung.Bernard McGinn befand, für Eckhart sei das ständige Einssein mit Gott keine „Erfahrung“ in irgendeinem gewöhnlichen Sinn dieses Begriffs und kein Akt des Erkennens von „etwas“, sondern eine neue Weise des Erkennens und Handelns. Es sei das, was geschehe, wenn jemand versuche, alle seine Handlungen in Beziehung zur verschmolzenen Identität des Grunds zu setzen. ==== Die Frage der Individualität und Subjektivität ==== Umstritten ist in der neueren Forschung die Frage, welche Rolle angesichts der absoluten Undifferenziertheit von Eckharts Gottheit und Seelengrund dem Individuum und dem Individuellen in seiner Philosophie zukommen kann. Eine Richtung, zu der Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch, Loris Sturlese und Saskia Wendel zählen, interpretiert die Seelengrund-Lehre als Ausdruck eines Subjektgedankens. Bei solchen Auslegungen wird Eckhart manchmal ein Verständnis von Subjektivität zugeschrieben, das sein Konzept als Vorläufer neuzeitlicher Transzendentalphilosophie erscheinen lässt. Andere Forscher (Alois Haas, Otto Langer, Niklaus Largier) sprechen sich dezidiert gegen die subjekttheoretische Interpretation aus und halten sie für völlig verfehlt.Pointiert formuliert Burkhard Mojsisch seine subjekttheoretische Deutung. Er will die herkömmliche Meinung, den Theoretikern des Mittelalters sei eine philosophische Theorie des Ich fremd gewesen, korrigieren, wobei er Eckhart zum Kronzeugen macht. Dieser spreche das Ich als solches an, das heißt den Menschen insofern er nichts anderes als Ich sei, frei von jeder das Ich als Ich determinierenden Gemeinsamkeit mit anderem einschließlich Gottes. Der Gegenstand von Eckharts Theorie sei die Selbstentwicklung eines von jeder Voraussetzung freien, transzendentalen Ich, das sich selbst begründe und durch die Freiheit seiner Selbstbestimmung konstituiert werde. Das Ich, das in der Konkretheit der Individualität existiere, erkenne und wolle als Ich nur sich selbst. Es sei mit dem Seelengrund identisch. Saskia Wendel übernimmt Mojsischs Ergebnisse weitgehend. Sie meint, Eckharts Forderung einer reflexiven Selbsterkenntnis als Sammlung im Inneren und Sinken in den Grund der Seele setze das voraus, was die neuzeitliche Philosophie als Subjekt denke. Seine Erkenntnis des Absoluten lasse sich als intellektuelle Anschauung im Sinne des idealistischen Philosophen Johann Gottlieb Fichte bezeichnen. Die intellektuelle Anschauung sei für Fichte nichts anderes als die Erkenntnis des absoluten Ich. Sie sei nicht erst bei Fichte, sondern schon bei Eckhart zwangsläufig mit dem Subjektgedanken verknüpft. Aus der Seelengrundlehre resultiere nicht die Auflösung des Individuums, sondern dessen Eigenständigkeit und Einmaligkeit. Diese bleibe gewahrt, weil das menschliche Ich die Möglichkeitsbedingung der Einmaligkeit und Besonderheit des Einzelnen sei. Somit hänge die Rettung der Individualität von der Subjektivität des Einzelnen ab, die im „ich“ zum Ausdruck komme.Auf vehemente Kritik stößt Mojsischs Interpretation bei Otto Langer und Alois Haas. Langer meint, es gebe bei Eckhart gar keine Ich-Theorie. Er gebrauche das Wort „ich“ nicht im Sinne einer Intellekttheorie, sondern ganz funktional. Der Seelengrund dürfe nicht als Ich gedeutet werden. Für Alois Haas ist die Bestimmung des Ich als transzendentales Sein eine „groteske Überinterpretation“ von Eckharts Aussagen. Die Individualität sei kein Thema seines Denkens, sondern als vorausgesetzte Gegebenheit ein Hindernis, das er wegräumen wolle. Er betreibe die Vernichtung des Ich in systematischer Weise. Menschliche Autonomie sei für ihn nur unter den Bedingungen eines Eins-Seins mit Gott denkbar. Es sei nicht statthaft, eine solche göttliche Autonomie in eine menschliche umzudeuten, wie es in der neueren Eckhartforschung oft geschehe. Haas hält Eckharts Auffassung des Seelengrundes oder Seelenfunkens für eine radikale Konzeption der absoluten Gottabhängigkeit des Geschöpfs, „welche dem Geschöpf kaum mehr die Chance einer ontologischen Selbständigkeit einräumt“. Gerade deswegen, weil Eckhart die Idee einer letztlichen Gleichheit von Mensch und Gott durchhalte und von allen möglichen Perspektiven her anleuchte, sei er eine normative Gestalt geistlichen Lebens. Auch Erwin Waldschütz verwirft die intellekttheoretische Deutung des „Grundes“. Er lehnt es ab, die Gottesgeburt zur Bedingung der Möglichkeit des Ich zu „degradieren“; sie sei nicht als Konstitution eines Ich zu deuten. Eckhart habe jedes noch so subtile Beharren auf einem Ich überwinden wollen. Zwischen dem Grund-Sein Gottes und dem des Menschen oder der Seele habe er keine seinsmäßige Identität angenommen; der Grund sei nicht seinsmäßig zu erfassen. Vielmehr sei das Grund-Sein ein Beziehung-Sein und Beziehung-Stiften. Die Identität erweise sich als Gleichheit der Beziehung, die immer nur in einem Geschehen bestehe.Karl Heinz Witte befindet, Eckhart habe das Individuelle nicht als etwas Zufälliges und Nichtiges betrachtet. Die Gottesgeburt vollziehe sich immer in einem bestimmten Individuum. Das Heil oder die „Gerechtigkeit“ sei für Eckhart keine objektive Tatsache, sondern etwas, was man sich individuell aneigne. Es komme immer auf „mich“ an. Gemeint sei damit aber „keine Washeit, die ich habe oder prädikativ bin“, kein empirisches Ich mit seinen persönlichen Kennzeichen und seiner Geschichte; dieses zähle vielmehr für Eckhart zum Geschaffenen und damit Nichtigen. Vielmehr gehe es um „ich“ als „mein reines, eigenschaftsloses ewiges Sein, besser mein Ist“, um ein nicht ontologisch aufgefasstes „ist“ oder „ich“. == Literatur == Übersichtsdarstellungen Peter Heidrich: Seelengrund. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Schwabe, Basel 1995, Sp. 93–94 Héribert Fischer, Fernand Jetté: Fond de l’âme. In: Dictionnaire de Spiritualité, Band 5, Beauchesne, Paris 1964, Sp. 650–666Allgemeine Untersuchungen Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Band 4, Herder, Freiburg u. a. 2008, ISBN 978-3-451-23384-5, S. 148–166 (Allgemeines), 208–220, 265–267, 290–330 (Eckhart), 395–407 (Seuse), 427–452 (Tauler) Peter Reiter: Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelenlehre. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-807-3 Saskia Wendel: Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung. Pustet, Regensburg 2002, ISBN 3-7917-1824-X, S. 132–228Untersuchungen zum Seelengrund bei Meister Eckhart Bernward Dietsche: Der Seelengrund nach den deutschen und lateinischen Predigten. In: Udo M. Nix, Raphael Öchslin (Hrsg.): Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr. Herder, Freiburg 1960, S. 200–258 Rodrigo Guerizoli: Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts. Brill, Leiden/Boston 2006, ISBN 978-90-04-15000-3 Shizuteru Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1965 Erwin Waldschütz: Denken und Erfahren des Grundes. Zur philosophischen Deutung Meister Eckharts. Herder, Wien u. a. 1989, ISBN 3-210-24927-XUntersuchungen zum Seelengrund bei anderen Autoren Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit – Studien zur Deutschen Mystik. Kovač, Hamburg 2008, ISBN 978-3-8300-3636-4, S. 247–271 (zu Seuse) Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. Almqvist & Wiksell, Uppsala 1974, ISBN 91-554-0238-0 Paul Wyser: Der Seelengrund in Taulers Predigten. In: Lebendiges Mittelalter. Festgabe für Wolfgang Stammler. Universitätsverlag, Freiburg (Schweiz) 1958, S. 204–311 == Anmerkungen ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Seelengrund
Triple-Osteotomie
= Triple-Osteotomie = Die Triple-Osteotomie (Syn. Dreifache Beckenosteotomie – DBO, Tönnis-Osteotomie, modifizierte Tönnis-Osteotomie oder Triple-pelvic-osteotomy – TPO) des Beckens ist eine der jüngsten Operationstechniken zur Behandlung der Hüftdysplasie (Abk. HD). Der Begriff erklärt sich aus der knöchernen Durchtrennung (Osteotomie) aller drei (Triple) die Hüftpfanne bildenden Beckenknochen (Sitzbein, Schambein und Darmbein). Das Ziel der Operation ist es, die bei Hüftdysplasie bestehenden ungünstigen biomechanischen Verhältnisse im Hüftgelenk zu verbessern. Der Eingriff verspricht auch bei beginnendem und bereits fortschreitendem Hüftgelenksverschleiß (Coxarthrose) Erfolg, sodass die Notwendigkeit eines Gelenkersatzes (Endoprothese) hinausgezögert oder sogar ganz vermieden werden kann.Bei der Triple-Osteotomie wird die knöcherne Hüftpfanne (Acetabulum) vollständig vom Rest des Hüftbeines gelöst. So wird es möglich, die Überdachung des Hüftkopfes dreidimensional und nahezu anatomisch zu rekonstruieren. Das Operationsverfahren – so wie es heute Anwendung findet – wurde Mitte der 1970er Jahre erstmals von Dietrich Tönnis unter Mitwirkung von Klaus Kalchschmidt an der Städtischen Klinik Dortmund durchgeführt und auch dort entwickelt. Ein technisch vergleichbarer Eingriff, der in der Veterinärmedizin bei jungen Hunden mit Hüftdysplasie durchgeführt wird, wird ebenfalls häufig Triple-Pelvic-Osteotomy (TPO) genannt. == Anatomische Besonderheiten == Beckenanatomie Das Becken ist der Mittelpunkt des menschlichen Körpers und vereinigt die Wirbelsäule mit der unteren Extremität (Bein). Gleichzeitig liegen wichtige Organe, wie z. B. die Harnblase, der Enddarm, die Geschlechtsorgane und deren Anhänge, direkt im Beckengewölbe. Große Gefäße und Nerven (Ischiasnerv, Beckenarterie und -vene) gabeln sich hier. Schließlich setzen zahlreiche Muskeln, Sehnen und Bänder am Becken an, die für die Körperstatik und besonders für die komplexen Hüftbewegungen wichtig sind. Die gewölbeartige Struktur des Beckens und die empfindlichen Weichteilverhältnisse (Nerven, Gefäße, Muskel-Sehnenansätze) machen die Zugangswege kompliziert. === Die dysplastische Pfanne === Eine Hüftdysplasie führt zum Minderwachstum des Gelenks und somit zu einer minderwertigen Ausbildung der knöchernen Überdachung des Hüftkopfes. Der laterale und ventrale Pfannenerker sind nur teilweise oder gar nicht angelegt, was zu einer Dezentrierung des Hüftkopfes führt. Biomechanisch führen die unzureichende Überdachung und die Dezentrierung des Kopfes zu einer Verschiebung der Belastungszonen. Je kleiner die tragende Fläche (hier die dysplastische Pfanne), desto höher der entstehende Belastungsdruck (übertragen durch den Hüftkopf). == Ziel der Triple-Osteotomie == Ziel dieser Operation ist es, das Acetabulum (also die Hüftpfanne) in allen Ebenen so zu drehen und zu schwenken, dass der Femurkopf wieder nahezu vollständig, wie von einer gesunden Pfanne, überdacht wird („Containment“). Deshalb spricht man auch von einer dreidimensionalen Rekonstruktion. Da sich die Fehlbildung bei einer Hüftdysplasie nicht auf den seitlichen Pfannenerker beschränkt, sondern die gesamte Pfannenhemisphäre betrifft, reicht es nicht aus, die Überdachung nur in eine Richtung zu verbessern. Ziel ist es, die dysplastische Pfanne anatomisch (soweit möglich) zu rekonstruieren. Dies beinhaltet auch die Einbeziehung der hinteren und besonders der vorderen Überdachung.Je nach Schweregrad der Erkrankung und der resultierenden Verformung von Femurkopf und Acetabulum, muss sich die Rekonstruktion auch an die gegebenen Umstände anpassen. Ist der Femurkopf z. B. stark abgeflacht oder so verformt, dass der laterale Schenkelhals-Kopf-Übergang wegfällt, kann eine zu weite Korrekturschwenkung der Pfanne zu Einschränkungen in der Bewegung führen. Es entsteht ein sogenanntes Femoro-acetabuläres Impingement (kurz FAI). In diesen Fällen wird die Rekonstruktion – also die Pfannenschwenkung – nur „so weit wie möglich“ vorgenommen. Manchmal sind auch remodellierende Maßnahmen am Schenkelhals oder an den Randkanten des Kopfes nötig. Bei Hüftdysplasie oder Perthes-bedingter Schenkelhalsanomalie (siehe CCD-Winkel), die eine anatomische Rekonstruktion verhindern oder einschränken, kann zusätzlich eine Intertrochantere Osteotomie durchgeführt werden. Die meisten Hüftdysplasien führen durch den Hochstand des Femurkopfes bedingt zu einer Coxa valga und häufig auch zu einer Coxa antetorta. Dementsprechend wird, wenn nötig, eine Derotations-Varisationsosteotomie (DVO, siehe Osteotomie) durchgeführt. == Indikationen und Kontraindikationen == Indikationen für eine Triple-Osteotomie sind eine angeborene Hüftdysplasie des erwachsenen Beckens sowie sekundäre Hüftdysplasien, beispielsweise im Rahmen neurologischer Erkrankungen wie einer infantilen Zerebralparese oder einer Poliomyelitis. Eine Dysplasiecoxarthrose (beginnender Gelenkverschleiß der Hüfte bei vorhandener Hüftdysplasie) gilt – besonders im Anfangsstadium – ebenfalls als Indikation, ebenso wie ein Morbus Perthes (frühkindliche Hüftkopfnekrose) mit starker Hüftkopfabflachung. Seltene Formen des Femoro-acetabulären Impingements, beispielsweise bei einer Protrusio acetabuli (angeborene Fehlbildung mit zu tiefem Pfannengewölbe), stellen ebenfalls eine Indikation zur Triple-Osteotomie dar. === Faktor Alter === Die Triple-Osteotomie ist nicht das Universalverfahren für jeden Patienten mit Hüftdysplasie oder Patienten jedes Alters. Erstrebenswert, aber nicht zwingend ist es, diesen Eingriff erst bei komplettem Verschluss aller Wachstumszonen durchzuführen. Bei Kindern im Wachstum haben Triple-Osteotomien jedoch auch gute Ergebnisse erzielt und nicht zu Wachstumsbehinderungen geführt.Es gibt verschiedene Ansichten darüber, ab welchem Alter eine solche Operation durchgeführt werden kann. Zeitweise wurden auch Kinder ab sieben Jahren mit diesem Verfahren behandelt. In diesem Alter werden jedoch mit einfacheren und schonenderen Operationstechniken, z. B. der Acetabuloplastik gleiche Ergebnisse erzielt. Zumeist wird der vollständige Verschluss der Wachstumsfugen am Becken in einem Alter zwischen zwölf und 14 Jahren erreicht, welches laut Experten auch als Untergrenze des Therapiealters gelten sollte.Nach oben sind die Altersgrenzen weitaus schwieriger zu setzen. Sofern keine Kontraindikationen bestehen, können Patienten auch noch im Alter von 50 Jahren mit dieser Operation versorgt werden. Entscheidend ist hierfür der Grad des Gelenkverschleißes und der allgemeine körperliche Zustand des Menschen. Bei der Indikationsstellung ist darüber hinaus darauf zu achten, dass es sich um einen schweren und körperlich belastenden Eingriff handelt, der eine anstrengende und lange Rehabilitation nach sich zieht, aber bei gegebenen Umständen dem Patienten eine Hüftprothese ersparen kann. === Absolute Kontraindikationen === Als absolute Gegenanzeigen werden eine fortgeschrittene Dysplasiecoxarthrose mit entsprechender Bewegungseinschränkung, Erkrankungen oder Folgezustände des Muskel-Sehnen-Apparates der Hüfte, die das dreidimensionale Schwenken des Pfannengewölbes unmöglich machen würden, Narkose- oder Operationsunfähigkeit aus anderen medizinischen Gründen, Schwangerschaft, bakteriell-entzündliche Veränderungen im Bereich der Beckenknochen (z. B. Osteomyelitis oder bakterielle Arthritis des Hüftgelenks), Wundheilungsstörungen, entzündliche Veränderungen im Bereich des Operationsfeldes und Tumoren oder Metastasen im Bereich des Beckens angesehen. == Diagnostik == Sowohl zur genauen Beurteilung der Hüftdysplasie und ihres Schweregrades, als auch zur Planung der Operation werden konventionelle Röntgenbilder des Beckens, sogenannte Beckenübersichtsaufnahmen, angefertigt. Computertomographien (CT) oder Magnetresonanztomographien (MRT) sind nur in Ausnahmefällen notwendig, um z. B. den Grad der Gelenkschädigung besser beurteilen zu können. Computerverfahren zur dreidimensionalen Darstellung von Organen haben sich im Bereich des Beckens nicht etabliert. Jedoch kommt das 3D-CT des Beckens bei CT-gestützten Navigationsverfahren (siehe unten) zum Einsatz. == Operationsablauf == === Anästhesie und Schmerztherapie === Da dieser Eingriff postoperativ zu starken Schmerzen führt, wird meistens ein Periduralkatheter angelegt, der nach der Operation für mehrere Tage zur Schmerzbehandlung dient. Typischerweise wird dies in der Operationsabteilung oder in einem Anästhesie-Vorbereitungsbereich kurz vor der eigentlichen Narkose vorgenommen. Die Operation wird in Vollnarkose mit Intubation und Beatmung durchgeführt. === Lagerung === Die drei verschiedenen Zugänge machen es notwendig, dass der Patient für den ersten Schritt – die Durchtrennung (Osteotomie) des Sitzbeins – auf der Seite oder auf dem Bauch gelagert wird. Das Lagern auf der entgegengesetzten Seite hat sich mittlerweile etabliert, da man so den Patienten steril, also ohne neue Desinfektion und Abdeckung, auf den Rücken drehen kann. Für den zweiten und dritten Zugang (Scham- und Darmbein) bleibt der Patient in Rückenlage. === Operationstechnik === Im ersten Schritt wird die Durchtrennung des Sitzbeines vorgenommen. Das Sitzbein wird schräg zu seinem Verlauf durchtrennt und verbleibt ohne Osteosynthese (operative Wiederzusammenfügung). Nachdem der Patient wieder auf den Rücken gedreht wurde, erfolgt die Osteotomie des Schambeins. Bevor die Osteotomie des Darmbeins angegangen wird, schraubt der Operateur eine Führungsschraube oberhalb der Pfanne ein. An dieser stabilen Schraube kann er das Pfannenfragment unter Röntgenkontrolle so weit drehen und schwenken, bis die Pfanne die gewünschte Position erlangt hat (Joystick-Technik). Anschließend erfolgt die Befestigung des Darmbeins an das Pfannenfragment durch Osteosynthese mit Schrauben oder Drähten. Eine Osteosynthese des Schambeins ist nicht obligat, trägt aber stark zur Gesamtstabilität bei. == Komplikationen == Als Komplikationen werden auch unerwartete Operationsergebnisse gesehen. Bei einer Triple-Osteotomie kann es zu Veränderungen der Beinlänge, Fehlkorrekturen und fehlerhafter Osteosynthese kommen. Auch wird ein postoperatives Anhalten der Beschwerden als Komplikation angesehen. Wie bei jeder anderen Operation kann auch hier nicht für den Erfolg der Behandlung garantiert werden. === Allgemeine intraoperative Komplikationen === Wie bei jeder Operation kann es auch hier zu Blutungen oder Organverletzungen kommen, daher wird in aller Regel mit einem Autotransfusionssystem gearbeitet. Bei komplikationsfreiem Verlauf ist mit einem Blutverlust unter einem Liter zu rechnen. === Spezielle intraoperative Komplikationen === Verletzungen des Hüftgelenks selbst sind äußerst selten und auch nicht als Komplikation anzusehen. Frakturen im Bereich des Beckens durch die Osteotomien oder Verschraubungen können vorkommen und werden während der Operation direkt versorgt. Gelegentlich kommt es bei der Präparation des Schambeins zu Reizungen oder Verletzungen des Nervus cutaneus femoris lateralis. Als Folge davon treten andauernde oder reversible Sensibilitätsstörungen im Bereich des Außenschenkels und der Leiste auf. Bei Männern besteht die Gefahr der Verletzung des Samenstranges oder der parallel laufenden Gefäße und Nerven. Die Präparation zum Sitzbein verläuft sehr nah am Nervus ischiadicus, welcher dabei verletzt werden kann. Bei der Schambeinpräparation kann es zu Verletzungen der Vena femoralis kommen, Verletzungen der Arteria femoralis sind nicht beschrieben. === Postoperative Komplikationen === Typische Frühkomplikationen nach Knocheneingriffen, wie das Versagen der Osteosynthesematerialien (Schrauben oder Drähte) und Ausbrüche von Schrauben aus dem Knochen, sind selten. Wie nach jedem Knocheneingriff kann es auch hier zu Knochennekrosen oder Knochenheilungsstörungen kommen. Allgemeine Operations-Frühkomplikationen sind z. B. Wundheilungsstörungen, Thrombosen/Embolien, andere Gerinnungsstörungen und Wundinfektionen. Spätinfektionen, hervorgerufen durch einen streuenden Entzündungsherd im Körper, sind als extrem selten beschrieben. Bei gelenknahen Operationen kann es u. U. zu postoperativen Bewegungseinschränkungen kommen. Als wirkliche Spätkomplikation ist die Schambein-Pseudarthrose zu nennen. Hierbei wachsen die beiden Schambeinfragmente nicht knöchern, sondern bindegewebig zusammen. Diese Pseudarthrose muss in jedem Fall revidiert, also noch einmal operiert werden, da sonst nicht genügend Stabilität im Becken erreicht wird. == Nachbehandlung und Rehabilitation == In den ersten vier bis sechs Wochen liegen die Schwerpunkte der Nachbehandlung in der Mobilisierung des Patienten und ggf. einer Schmerztherapie. Das Bein der betroffenen Seite darf während dieser Zeit nicht oder nur sehr wenig belastet werden. Die Patienten müssen dabei lernen an Unterarmgehstützen oder mittels anderer Gehhilfen zu gehen. Weiterhin übt der Patient unter physiotherapeutischer Anleitung ein, wie er sitzen und aufstehen muss. In den folgenden Wochen wird in einer stationären oder ambulanten Anschlussheilbehandlung die Belastung des betroffenen Beines langsam und stetig aufgebaut, nicht zuletzt um die Muskulatur zu kräftigen. Auch das Treppensteigen und andere alltägliche Bewegungsabläufe müssen in der Zeit bis zum Erreichen der vollen Belastungsfähigkeit neu einstudiert werden. Zur Kontrolle des Heilungsprozesses der Knochen werden in regelmäßigen Abständen weitere Röntgenaufnahmen des Beckens angefertigt. Die Dauer und der detaillierte Ablauf der Nachbehandlung variieren je nach Operateur sowie individuellen Faktoren. Nach der Entlassung aus der Anschlussheilbehandlung werden die Patienten grundsätzlich noch einige Zeit weiter physiotherapeutisch begleitet. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, über Reha Nachsorgeprogramme der Rentenversicherungen, wie z. B. IRENA (Intensivierte Rehabilitationsnachsorge) oder ASP weiter versorgt zu werden. Die Entfernung der Osteosynthesematerialien erfolgt etwa nach einem Jahr. == Erfolgsquoten == Wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat, bieten dreidimensionale Hüftpfannen-Rekonstruktionsverfahren – wie die Triple-Osteotomie nach Tönnis – viele Möglichkeiten. Die wichtigste davon ist sicherlich die, ein Hüftgelenk vor dysplasiebedingtem Verschleiß zu retten. Trotzdem steht und fällt der Erfolg dieser Operation mit vielen Einflussfaktoren und nicht zuletzt mit dem Patienten selbst. Einflussfaktoren, die den postoperativen Verlauf negativ beeinflussen oder erschweren können, sind z. B. Übergewicht, Rauchen und eine schlecht trainierte („schlaffe“) Muskulatur. Starke Adipositas (Übergewicht) belastet die Osteotomien und Osteosynthese ebenso, wie sie auch die Gelenke der unteren Extremitäten belastet. Das kommt besonders in den ersten Wochen zum Tragen, in denen das operierte Becken nur teilbelastet werden darf. Raucher haben nachweislich eine „weichere“, osteogen weniger potente Knochensubstanz als Nichtraucher. Die Ossifikation, also die (Neu-)Bildung von Knochen, wird wesentlich vom Zug der Muskulatur am Knochen beeinflusst. Je kräftiger die Muskulatur, desto größer ist der Zug an den Knochen während der Anspannung.Je früher eine Hüftdysplasie erkannt wird, desto einfacher und wirkungsvoller ist die Therapie. Solange das Gelenk noch keine arthrotischen Veränderungen zeigt, sind die Chancen auf ein prothesenfreies Leben sehr hoch. Bei beginnendem Verschleiß ist es durchaus möglich, die Notwendigkeit einer Endoprothese zehn bis 15 Jahre oder sogar länger hinauszuzögern.Es gibt bereits einzelne Studien zu mittelfristigen Ergebnissen in Bezug auf die Triple-Osteotomie. Die Studien befassen sich durchgehend mit Patienten, die an Hüftdysplasie leiden. Das Altersspektrum der Studien liegt durchschnittlich zwischen 13 und 46 Jahren. Alle wurden in der Technik nach Tönnis operiert und in identischer Weise nachuntersucht. Die Nachuntersuchungs-Dauer der Studie aus dem Jahr 2002 liegt bei 11,5 Jahren, sie ist damit die langfristigste Studie. Hier wurden 46 Frauen und acht Männer mit – bis dahin unbehandelter – Hüftdysplasie untersucht, die alle in der Technik nach Tönnis operiert worden sind. Die Coxarthrose-Entstehung konnte bei über 90 % der Patienten während der Studien-Dauer verhindert werden. Eine Patientin musste 11 Jahre nach der Tönnis-Osteotomie mit einer Hüft-Endoprothese versorgt werden. Innerhalb der Nachuntersuchungszeit gaben fast 90 % der Patienten eine deutliche Beschwerdebesserung mit Schmerzminderung und gesteigerter Beweglichkeit gegenüber der Zeit vor der Triple-Osteotomie an. Ca. 85 % der untersuchten Patienten beurteilten das Operationsergebnis subjektiv als „sehr gut“. == Geschichte == Seit den 1950er Jahren war die Verschiebeosteotomie nach Chiari zumeist in Verbindung mit einer intertrochanteren Varisierungsosteotomie die gebräuchlichste Operation zur Behandlung der Hüftdysplasie beim geschlossenen Becken. Bald wurde immer häufiger auf die Intertrochantere OT verzichtet, da man herausfand, dass die optimale Therapie in der möglichst anatomischen Pfannenrekonstruktion zu finden war. Da bei der Methode nach Chiari die Rekonstruktion nur in einer Ebene stattfindet, war dies in den meisten Fällen – für eine anatomische Rekonstruktion – nicht ausreichend. In den 1960er Jahren wurden zahlreiche Operationstechniken entwickelt, bei denen das Acetabulum – auf verschiedenen Wegen – aus der Beckenkontinuität gelöst und geschwenkt werden konnte. Die Gebrüder Blavier erprobten 1962 erstmals eine solche Technik, bei der die Pfanne sphärisch herausgelöst und in korrigierter Position wieder befestigt wurde. 1965 führte Wagner eine ähnliche Operation durch. Es folgten zahlreiche Modifikationen dieser Sphärischen Beckenosteotomie (Eppwright, Tagawa, Ganz etc.), die bis heute (vorwiegend in den Vereinigten Staaten und der Schweiz) angewendet wird.Die erste Dreifachosteotomie wurde 1965 von LeCoeur beschrieben. Etliche Chirurgen eiferten ihm nach und entwickelten Variationen der Dreifachosteotomie. Steel entwickelte 1972 eine weitere Form, die sich bis heute gehalten hat. Hier wird auf den posterioren (hinteren) Zugang zum Sitzbein verzichtet, was einen kosmetischen Vorteil darstellt. Der Nachteil dieser Methode ist, dass der Nervus ischiadicus bei der Steel-Osteotomie nicht dargestellt werden kann. Tönnis und Kalchschmidt kamen 1976 mit der hier beschriebenen Triple-Osteotomie dazu. Sie legten die Osteotomieebenen und somit den Drehpunkt noch etwas näher an die Pfanne und osteotomierten das Sitzbein über den beschriebenen hinteren Zugang. Beide Verfahren sind diejenigen, die heute typischerweise angewendet werden.Die ersten Operationen – nach der Technik nach Tönnis – dauerten in den 1970er Jahren noch zwischen sechs und zehn Stunden und bargen etliche Probleme und Komplikationen. Heute liegt die übliche Operationsdauer bei zwei bis vier Stunden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass die Zugangswege, die Technik des Pfannenschwenkens und die Osteosynthese einfacher und sicherer wurden. Heute ist die Triple-Osteotomie ein Standardverfahren zur Therapie der Hüftdysplasie und wird an zahlreichen Kliniken durchgeführt. == Computergestützte Triple-Osteotomie == Seit Mitte der 1980er Jahre wurden Computersysteme entwickelt, die dem Operateur bei bestimmten Eingriffen als „Richtungsweiser“ dienen sollen. Der Begriff „Computer-assisted-surgery“ (CAS) ist heute in vielen Bereichen der Chirurgie, vor allem aber in der Knochenchirurgie, kaum noch wegzudenken. Zahlreiche technisch immer genauere Systeme kommen stetig neu auf den Markt. Die ersten sogenannten OP-Navigationssysteme wurden in der Neurochirurgie bei Mikroeingriffen am Gehirn eingesetzt. Seit 1996 wird akribisch an der „Navigierten Triple-Osteotomie“ gearbeitet. Verfahren, die schon regelmäßig benutzt werden, benötigen eine vorherige Computertomographie für die Berechnung eines 3D-Abbildes des Beckens. So kann das Navigationssystem den Operateur unter Verwendung spezieller – für die Navigation sichtbarer – Instrumente sowohl bei den Sägeschnitten als auch bei der Pfannenschwenkung einweisen. Dies ist nur ein Beispiel aus den verschiedenen technischen Möglichkeiten. Die Techniken und auch die Instrumente und Geräte werden zunehmend einfacher und schneller. Studien über die Erfolge der Navigation bei Beckenosteotomien liegen bereits vor. == Triple-Osteotomie bei Hunden == Triple-Osteotomien werden in der Tiermedizin bislang nur bei Hunden mit Hüftdysplasie durchgeführt. Da die Operation aufwändig ist, ist eine genaue Kosten-Nutzen-Analyse notwendig. Eine Triple-Osteotomie ist nur bei jungen Hunden angezeigt, für die eine Nutzung als Arbeitshund geplant ist. Voraussetzung ist, dass noch keine oder nur geringe arthrotische Veränderungen im Hüftgelenk röntgenologisch nachweisbar sind, der Reduktionswinkel im Hüftgelenk kleiner als 30° ist und der Subluxationswinkel weniger als 10° beträgt. Unter dem Reduktionswinkel wird dabei der Winkel verstanden, bei dem der Kopf des Oberschenkelknochens beim Abspreizen (Abduktion) der Gliedmaße wieder in die Hüftpfanne zurückspringt. Der Subluxationswinkel ist als der Winkel definiert, bei dem der Oberschenkelkopf bei der Einwärtsbewegung (Adduktion) aus der Pfanne springt. Die Triple-Pelvic-Osteotomie wird vor allem nach der Methode von Slocum & Slocum durchgeführt, wobei nach der Durchtrennung der drei Beckenknochen die Hüftpfanne rotiert und nach außen verlagert wird. Die anschließende Fixierung der Beckenknochen erfolgt mit speziell dafür hergestellten Platten. == Siehe auch == Salter-Osteotomie == Literatur und Quellen == Breusch, Mau, Sabo: Klinikleitfaden Orthopädie. Elsevier 2006, ISBN 9783437224713. Klaus Buckup, L.C. Linke, W. Cordier: Kinderorthopädie. Thieme 2001, ISBN 3136976029. V. Bühren, O. Trentz, U. Heim: Checkliste Traumatologie. Thieme 2005, ISBN 978-3135981062. J. Duparc: Chirurgische Techniken in Orthopädie und Traumatologie. Beckenring und Hüfte. Elsevier 2005, ISBN 3437225561. A.B. Imhoff, R. Baumgartner: Checkliste Orthopädie. Thieme 2006, ISBN 3131422815 Ann L. Johnson und Donald A. Hulse: Diseases of the joints. In: Theresa Welch Fossum (Hrsg.): Small Animal Surgery. 2. Auflage. Mosby, 2002, S. 1023–1157. W. Konermann: Navigation und Robotic in der Gelenk- und Wirbelsäulenchirurgie. Springer, 2003, ISBN 3540433058. R.-P. Meyer, A. Gächter: Hüftchirurgie in der Praxis. Springer, 2005, ISBN 978-3540227182. == Einzelnachweise == == Weblinks == Präsentation zu HüftdysplasieAusführliche Informationen einer Selbsthilfegruppe
https://de.wikipedia.org/wiki/Triple-Osteotomie
Windmühlen in Berlin
= Windmühlen in Berlin = Existierten um 1860 rund 150 Windmühlen in Berlin und den umliegenden, noch selbstständigen Dörfern, so sind es auf dem heutigen Stadtgebiet noch acht. Dazu zählen vier Mühlen an ihren ursprünglichen Standorten (Britzer Mühle, Jungfernmühle, Adlermühle, Zehlendorfer Mühle). Hinzu kommen ein Neubau (Bockwindmühle Marzahn) und zwei umgesetzte Mühlen im Deutschen Technikmuseum Berlin, in dem sich ferner eine Wassermühle befindet. Eine weitere umgesetzte Mühle wurde in Gatow aufgebaut. Diese acht Windmühlen verteilen sich auf fünf Holländermühlen und drei Bockwindmühlen. Neben den noch vorhandenen Mühlen und rund zwanzig Straßenbezeichnungen wie Mühlsteinweg oder Am Mühlenberg erinnert das Wappen des ehemaligen Bezirks Prenzlauer Berg, das als stilbildendes Element vier schwarze Windmühlenflügel in goldenem Schild zeigte, an die große Zeit der Berliner Windmühlen. Besondere Bedeutung unter den bestehenden Berliner Mühlen kommt der Britzer Mühle zu, die als einzige der ursprünglichen Mühlen vollständig funktionsfähig ist. Die Mühle bildet seit 1987 in einem anderthalbjährigen Lehrgang Hobbymüller zum Diplom-Windmüller aus. Ein ähnliches Ausbildungsangebot bietet die gleichfalls funktionsfähige Bockwindmühle in Marzahn, die als Neubau aus dem Jahr 1994 allerdings nicht zum historischen Mühlenbestand zählt. Beide Ausbildungen gelten nicht als Berufsausbildung. == Geschichte == Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt in der Beschreibung der vorhandenen Mühlen. Deshalb beschränkt sich der Geschichtsteil auf die Nachzeichnung der wichtigsten Entwicklungslinien in der Berliner Mühlengeschichte. === Zisterzienser und Gewerbefreiheit === In der hoch- und spätmittelalterlichen Wirtschaft gehörte das Mühlenrecht, das eng an das Wasserrecht gekoppelt war, „zu den ergiebigsten und daher auch am meisten umkämpften Privilegien“ (Warnatsch). Gab es im Berliner Raum bereits im 13. Jahrhundert mit der Panke-Mühle und einer Mühle am Mühlendamm zwischen Alt-Berlin und Cölln zwei Wassermühlen, folgten die ersten Windmühlen um 1375 in den damaligen Dörfern Buckow, Rudow und dem Lehniner Klosterbesitz Celendorpe, dem heutigen Ortsteil Zehlendorf. In der Zauche und im Teltow betätigten sich die einflussreichen Zisterziensermönche aus Lehnin als Pioniere im Mühlenbau. Aufgrund ihrer fortschrittlichen Technologie waren sie in den Dörfern der jungen Mark Brandenburg willkommene Entwicklungshelfer und besaßen selbst insgesamt 19 Mühlen. Stefan Warnatsch veranschlagt die Einnahmen der Mönche aus ihren 19 Mühlen auf mindestens durchschnittlich rund 100 Gulden jährlich pro Mühle; der Gewinn der Müller dürfte die drei- bis vierfache Summe betragen haben. Nachdem die Gewerbefreiheit die Restriktionen des Zunftwesens und der Ständegesellschaft abgelöst hatte und im Jahr 1810 als Hauptbestandteil der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen eingeführt worden war, kam es zu einem kurzen Boom an Mühlenbauten. Um 1860 existierten in der Stadt und ihrer Umgebung noch rund 150 Betriebe, die aufgrund mangelnder Kapitalausstattung überwiegend zum technisch rückständigen Typus Bockwindmühle gehörten; die ertragreicheren, erheblich teureren Holländermühlen konnten sich nur wenige Müller leisten. === Vier Zentren === Im Wesentlichen hatten sich vier Zentren mit hohen Mühlenkonzentrationen herausgebildet. Rund dreißig Mühlen standen am Prenzlauer Berg, davon zierten alleine acht Getreidemühlen den Rand des Windmühlenbergs, der dem Bezirk den ursprünglichen Namen gegeben hatte. Das 1992 verliehene Wappen des ehemaligen Bezirks Prenzlauer Berg versinnbildlichte den größten Berliner Mühlenstandort, indem es als stilbildendes Element vier schwarze Windmühlenflügel in goldenem Schild zeigt, die diagonal ausgerichtet sind. Das zweite große Zentrum bildete das Gebiet um Müller- und Seestraße im Wedding, elf Mühlen standen nördlich von Schöneberg um den seinerzeitigen Mühlenweg (seit 1912: Badensche Straße) und eine große Zahl Loh- und Walkmühlen befand sich in Rixdorf. Mehr als zwanzig Straßennamen erinnern im Jahr 2005 an die alten Mühlenstandorte, davon tragen allein zehn die Bezeichnung Mühlenstraße oder Mühlenweg. Hinzu kommen weitere Namen mit den unterschiedlichsten Zusammensetzungen wie beispielsweise Mühlbergstraße, Mühlsteinweg oder Am Mühlenberg. === Berliner Mühlenberge === Die Berliner Mühlenberge und Hügel liegen überwiegend auf den rund 15 Meter dicken Platten des Barnim und Teltow, geschlossenen Grundmoränenbildungen der Saaleeiszeit und der letzten Eiszeit, die zum Teil von flachwelligen Endmoränenbildungen überlagert sind. Insbesondere in den Randbereichen hinterließen die Wassermassen der abtauenden Gletscher vor rund 15.000 Jahren hügelige Ablagerungen aus Geschiebemergel und Sand. Die in weiten Teilen tundraähnlichen Hügel mit spärlichem Bewuchs waren als Standorte für Windmühlen sehr geeignet. Auch auf dem Hangbereich der Nauener Platte, deren Ausläufer bis zur westlichen Havelniederung reichen, findet sich mit dem Gatower Windmühlenberg ein alter – und demnächst erneuerter – Mühlenstandort, der mit dem seltenen Vegetationstyp Sand-Trockenrasenflora unter Naturschutz steht. === Dampfkraft und Elektrifizierung === Die Einführung der effektiveren Antriebsform Dampfkraft führte dazu, dass die meisten naturkraftbetriebenen Mühlen um 1870 dem Konkurrenzdruck nicht mehr gewachsen waren und verschwanden. Diesem sogenannten Ersten Mühlensterben folgte mit der zunehmenden Elektrifizierung des Mühlenantriebs und der Ausbildung der Großmühlen das Zweite Mühlensterben. Von den ehemals rund 150 Betrieben blieb eine Handvoll übrig, die nach 1945 zum Teil noch einmal – vergeblich – versuchten, mit den Großbetrieben mitzuhalten. Die letzte noch tatsächlich produzierende Windmühle, allerdings bereits motorbetrieben, war die Jungfernmühle in Buckow, die 1980 den Betrieb aufgab. Die neben dem Wasserrad älteste Kraftmaschine der Menschheit, das Windrad, hatte damit hinsichtlich der Müllerei in Berlin endgültig ausgedient und wird nur noch aus historischen beziehungsweise musealen Gründen, zu Liebhaber-, zu Lehrzwecken und zur Bewahrung eines Stücks alter Mühlenromantik gepflegt. == Erhaltene Windmühlen, ursprünglicher Bestand == Sämtliche vorhandenen und im Folgenden aufgeführten Berliner Mühlen stehen unter Denkmalschutz. Zwei Berliner Mühlen, die historische Britzer Mühle und die 1993 neugebaute Bockwindmühle in Marzahn, sind vollständig funktionsfähig. === Britzer Mühle === 52° 25′ 55″ N, 13° 26′ 1″ O Die Britzer Mühle am Buckower Damm 130 in Britz, ehemals Stechan’sche Mühle, ist eine typische Galerie-Holländermühle, windgängig und voll funktionsfähig. Der Zwölfkant-Bau aus dem Jahr 1866 hat eine Höhe von rund 20 Metern, der Durchmesser der Jalousieklappenflügel beträgt von Spitze zu Spitze 25 Meter. Eine Windrose dreht die auf gusseisernen Rollen gelagerte Kappe selbsttätig im Wind. Der ehemalige Name geht auf den Mühlenmeister Karl Albert August Stechan zurück, der die Mühle samt Inventar im Jahr 1874 für 19.000 Taler kaufte. Die Mühle gehört organisatorisch zum Britzer Garten, der ehemaligen BUGA 1985, liegt allerdings nicht auf dem Gelände, sondern am Rand inmitten eines weitläufigen Obstgartens. Die Verwaltung obliegt der landeseigenen Grün Berlin Park und Garten GmbH. Führungen durch die Mühle und die Ausbildung zum Diplom Windmüller sind vom Verein Britzer Müllerei e. V. organisiert. Die Mühle ist individuell und bei Führungen zu besichtigen. Brot wird als eigenes Mühlenprodukt zum Verkauf angeboten. Zudem bietet die Britzer Mühle wie die gleichfalls funktionsfähige und 1994 neu gebaute Bockwindmühle in Marzahn die Möglichkeit, den Traum einer Hochzeit „Ganz in Weiß“ zu verwirklichen. === Adlermühle in Mariendorf === 52° 25′ 21,7″ N, 13° 23′ 36,6″ O Die Adlermühle (auch mit der Schreibweise Adler Mühle) aus dem Jahr 1889 im Mariendorfer Buchsteinweg 32–34 ist gleichfalls eine achteckige Galerieholländermühle, allerdings ist keine Technik mehr vorhanden und die Mühle ist nicht mehr windgängig. Der Mahlbetrieb endete im Jahr 1959, seit 1963 steht der Bau unter Denkmalschutz. Nachdem die Mühle lange Zeit ohne Flügel war, ersetzen seit 1982 Segelgatterflügel die historischen Jalousieflügel, außerdem bekam die Mühle einen Steert. Die ehemalige Kornmühle wird als Vereinsheim und Freizeitstätte des Berliner Schwimmvereins „Friesen 1895“ e. V. genutzt, der sich mit Eigen- und öffentlichen Mitteln um den Ausbau und Erhalt der verwahrlosten Mühle verdient gemacht hat. Es finden gelegentlich öffentliche Veranstaltungen wie Pfingstkonzerte, Führungen am Tag der offenen Tür und Ausstellungen am Deutschen Mühlentag statt, den die Deutsche Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung alljährlich durchführt. In der ersten Etage kann ein Raum für Festlichkeiten für bis zu 50 Personen gemietet werden. Die Mühle ist zu den Öffnungszeiten zugänglich.Den Namen führt die Mühle nach dem Adler, dem Wappentier Preußens, der über der Eingangstür angebracht ist. Laut Gerhard Schlimpert „soll die Adlermühle die größte Windmühle der ehemaligen Mark Brandenburg gewesen sein.“ === Zehlendorfer Mühle === 52° 26′ 27,9″ N, 13° 16′ 37,9″ O Die Zehlendorfer Mühle zwischen der Schlettstadter und Berliner Straße 75 am einstigen Zehlendorfer Mühlenpark ist eine Holländermühle in der selteneren Rundform. Die Kornmühle, die auf das Jahr 1881 (andere Angaben 1879, 1880) und den Mühlenmeister Radlow zurückgeht, ist nicht funktionsfähig, hat bereits seit 1943/1944 keine Flügel mehr und auch die Kappe und die Galerie fehlen, sodass nur noch das dreigeschossige Grundgemäuer aus Backsteinen vorhanden ist. Diese Mühle ist die dritte in Zehlendorf. Der erste Bau, eine Bockwindmühle, fand bereits im Landbuch Karls IV. von 1375 Erwähnung und stand am Südausgang des Ursprungsdorfes, das im Besitz der Zisterziensermönche vom Kloster Lehnin war. Da die Mönche zu dieser Zeit insbesondere im Mühlenbau führend waren, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Bau der ersten Zehlendorfer Mühle auf ihre Initiative zurückgeht. Erst im Jahr 1875 musste sie dem Ausbau der Eisenbahn weichen. Fünf Jahre später kam es dann gleich zu zwei Neubauten, wovon einer nach nur fünf Jahren wieder abgerissen wurde; er befand sich an der Sundgauer Straße. Der andere Neubau war die noch vorhandene Zehlendorfer Mühle. Schon im Jahr 1898 stellten die Betreiber wegen Windmangel auf einen Antrieb mit einem petroleumbetriebenen Motor um, den sie 1921 durch einen Elektromotor ersetzten. Die Flügeldemontage erfolgte 1943/1944 aus Gründen der Kriegsführung, um feindlichen Flugzeugen den Orientierungspunkt zu nehmen. Seit den 1950er Jahren war die leerstehende und im Privatbesitz befindliche Mühle Zankapfel zwischen Behörden und dem Besitzer, für eine denkmalgerechte Erhaltung fehlten die finanziellen Mittel. Nach jahrzehntelangem Verfall war das Gemäuer in einem desolaten Zustand. Im Jahr 1997 fand sich ein privater Investor, der mit erheblichen Eigenmitteln und in enger Absprache mit den Denkmalschützern den Grundbau bis unter die ehemalige Kappe sanierte und zu seinem sehr originellen, privaten Wohnhaus umbaute. Die historische Backsteinfassade und die Holzfenster konnten nach dem alten Vorbild bewahrt werden. === Jungfernmühle in der Gropiusstadt === 52° 25′ 55,7″ N, 13° 28′ 4,9″ O Die kleine achteckige Jungfernmühle (Wieneckesche Mühle) in der Gropiusstadt, Goldammerstraße 34 ist eine Galerie-Holländermühle (Kornmühle). Die älteste erhaltene Mühle der Stadt aus dem Jahr 1757 (andere Angaben 1753) hat nur noch Jalousieflügel- und Windrosenattrappen und ist ohne Funktion. Allerdings wurde hier noch bis zum Frühjahr 1980 – mittels elektrischer Energie – Korn gemahlen, so dass die Jungfernmühle die letzte aus wirtschaftlichen (und nicht musealen) Gründen betriebene Berliner Windmühle war. In der Mühle befindet sich ein Restaurant. Mit den Neubauten am umgebenden Platz versuchten die Städteplaner, ein harmonisches Bauensemble zu gestalten und statteten die Neubauten daher als holländische Giebelhäuser mit roten Backsteinen aus. Die Jungfernmühle hat zwei Umsetzungen hinter sich. Der Bau des holländischen Zimmermanns Adrian den Ouden, einem der letzten niederländischen Bewohner des berühmten Potsdamer Holländischen Viertels und verheiratet mit der Witwe des Baumeisters des im holländischen Stil gehaltenen Jagdschlosses Stern, befand sich ursprünglich auf dem Amtsacker in der Nähe des Nauener Tores in Potsdam. Seit 1788 im Eigentum des Müllermeisters Walsleben, musste die Mühle 1860 nach rund einhundertjährigem Betrieb der Arndt’schen Villa, in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 63, weichen. Ein neuer Besitzer, Johann Wilhelm Blankenberg aus Rixdorf, ließ die Mühle sehr wahrscheinlich auf den Rixdorfer Rollbergen wieder aufbauen. Hier stand sie nur kurze Zeit, denn nach erneutem Eigentümerwechsel im Jahr 1872 ließ der nächste Besitzer und Namensgeber des Zweitnamens der Mühle (Wienecke’sche Mühle), Otto Wienecke, das Gebäude an seinen heutigen Standort nach Buckow verlegen. Eine Inschrift teilt dazu mit: Vier Generationen Müllermeister Wienecke 1969. Der Erstname Jungfernmühle geht auf eine tragische Begebenheit beim Bau im Jahr 1757 in Potsdam zurück, als die Müllerstochter bei der Besichtigung der neuen Mühle unter plötzlich auftretendem Wind von den Flügeln erfasst und in einem hohen Bogen auf der Galerie zerschmettert wurde. „Der Vater ließ das Bildnis der toten Tochter in Eichenholz stechen und zur Erinnerung an das tragische Ende seines Kindes unter der Welle der Mühle einsetzen, wo es sich noch befindet.“In den 1990er Jahren wurde die Mühle für einen Restaurantbetrieb umgebaut. Durch zusätzlich eingebaute Glasfenster ist der Blick bis in den Dachstuhl noch möglich. Der Rest der Innenräume ist dem Restaurantbetrieb entsprechend umgestaltet worden. Seit Frühjahr 2018 wird die Jungfernmühle durch die Restaurantgruppe Wiesenstein bewirtschaftet, die in Berlin mehrere – zum Teil historische – Gaststätten und Standorte verwaltet. == Neue und umgesetzte Windmühlen == Da in den folgenden Abschnitten von Mühlen die Rede ist, die nach Berlin umgesetzt wurden, sei einleitend erwähnt, dass diese Umsetzungen auch in umgekehrter Richtung stattfanden, also aus Berlin hinaus. Insbesondere in der Gründerzeit nahmen die aus dem Boden schießenden Wohnsiedlungen den Mühlen zunehmend den Wind. So kam es beispielsweise im Jahr 1888 zur Umsetzung einer Schöneberger Mühle nach Mariendorf, die von dort bereits 1903 weiter zu ihrem Standort auf dem Mühlenberg in Saalow, Ortsteil der Gemeinde Am Mellensee bei Zossen, transportiert wurde. Dort steht die 1974/1975 restaurierte Paltrockwindmühle noch. Die Kastenbauweise der hölzernen Paltrock- und Bockwindmühlen war so konstruiert, dass sie leicht auseinanderzunehmen und an anderem Ort wieder aufzubauen waren. === Marzahner Bockwindmühle, Neubau von 1994 === 52° 32′ 38,6″ N, 13° 33′ 48,8″ O Die zurzeit einzige – nichtmuseale – Berliner Bockwindmühle, ein Neubau aus dem Jahr 1994 des niederländischen Mühlenbauers Harrie Beijk, befindet sich in Marzahn, in der Straße Hinter der Mühle. Sie ist neben der Britzer Mühle die zweite komplett eingerichtete und funktionsfähige Mühle und verfügt über Jalousieflügel und intakten Schrotgang, doppelten Sechskantsichter, Quetsche, Ausmahlmaschine und Askaniasichter. Bei einem Flügeldurchmesser von 20,5 Metern und einem Gesamtgewicht von 44 Tonnen kann die Mühle mit zwei Gängen bis zu 1000 Kilogramm Roggen- oder Weizenmehl pro Tag erzeugen. Die Luftströmungen lassen jährlich rund 200 windbetriebene Betriebstage mit einer nutzbaren Antriebsleistung von 8–12 Kilowatt zu. Neben der Mühle steht ein Kleinwindkraftwerk, das als Windmessstation (Anemometer) dient. Wie bei der Britzer Mühle bieten auch hier qualifizierte Fachkräfte Fortbildungskurse zur historischen Müllerei an. Die Marzahner Mühle steht für Besichtigungen oder für die Teilnahme an Führungen offen. Sie liegt unmittelbar benachbart zum alten Kern des ehemaligen Angerdorfes Marzahn auf einem kleinen Hügel, auf dem kleinere Tiergehege mit Gänsen, Schafen, einem Pferd und einem Esel sowie ein kleines Areal mit historischen landwirtschaftlichen Geräten eingerichtet wurde. Eingebettet in die dichte Hochhaus- und Plattenbaukulisse Marzahns an der Ecke der stark frequentierten Landsberger Allee und Allee der Kosmonauten bietet das historische Marzahn mit seiner neuen Mühle ein bizarr-kontrastreiches Bild. Die drei Vorläufermühlen dieses Neubaus reichen zurück bis in das Jahr 1815, als der erste Marzahner Müller Christian Friedrich Krüger eine Bockwindmühle errichten ließ. Diese erste Mühle, die Folgebauten von 1873 und 1908 und der heutige Neubau verteilten sich auf drei Standorte in Marzahn. 1978 erwarb die DDR die letzte Mühle, die nur noch aus einem gemauerten Turm mit einem flügellosen Stahlgerüst bestand, und ließ sie abreißen. Vier Jahre später fasste der Ost-Berliner Magistrat den Beschluss zum Neubau, um den Marzahner Dorfkern gestalterisch aufzuwerten. Ursprünglich hatten die Planungen die Errichtung einer Hollandmühle vorgesehen. Wegen der gesellschaftlichen Umbrüche kam es nicht mehr zur Realisierung. Der erste Müller fand sich 1994 auf eine Stellenanzeige, auf die sich zehn Interessenten gemeldet hatten. === Holländermühle Foline im Technikmuseum === 52° 29′ 44,9″ N, 13° 22′ 32,8″ O Die sehr kleine, achteckige Galerieholländermühle Foline kam aus Poghausen, Ortsteil von Uplengen in Ostfriesland, in das Deutsche Technikmuseum nach Kreuzberg und 1985 zur Aufstellung. Die komplette Kornmühle mit Windrose und Jalousieflügeln ist windgängig und gelegentlich in Betrieb, obwohl die hohen Baumbestände vor ihr die Winde nicht völlig frei anströmen lassen. Ursprünglich eine reine Schrotmühle, ist sie mit einer zusätzlichen kleinen Motormühle mit Quetsche, Walzenstuhl, Sichtung ausgestattet. Der Name Foline zählt zu den typischen altostfriesischen weiblichen Namen. Die beiden Mühlen des Technikmuseums befinden sich – landschaftlich untypisch umgeben von Baumbestand – im sechs Hektar umfassenden Museumspark, der auf dem Gelände des seit langem stillgelegten Bahnbetriebswerks des ehemaligen Anhalter Bahnhofs liegt. Ganz ähnlich wie im neuen Natur-Park Schöneberger Südgelände mit seinem doppelsinnigen Motto „Bahnbrechende Natur“, der seit dem Jahr 2000 als Naturpark unter Schutz steht, konnte sich hier eine über Jahrzehnte unberührte Natur mit für Berlin seltenen und vielfältigen Beständen herausbilden und über das alte Bahngelände ausbreiten. Am 2. September 2011 wurde auf diesem Gelände der Ostpark des Parks am Gleisdreieck eröffnet, dessen westlicher Weg unmittelbar an den beiden Windmühlen vorbeiführt. Die Mühlen sind von diesem öffentlichen Weg aus zwar sehr gut zu sehen, aber nicht zugänglich, da das Museumsgelände durch einen Zaun vom Park getrennt ist. === Bohnsdorfer Bockwindmühle im Technikmuseum === 52° 29′ 47,2″ N, 13° 22′ 35,2″ O Im Freigelände des Technikmuseums befindet sich eine weitere Windmühle, die Bohnsdorfer Bockwindmühle. Die etwa 14 Meter hohe Mühle verfügte über Türenflügel mit rund 20 Metern Durchmesser, war windgängig mit einem Schrotgang und Beutelwerk und manchmal in Betrieb. Bei einem Besuch der Mühle im November 2022 waren die Flügel nicht mehr montiert, Reste eines Fügels lagen etwas abseits verfallen am Boden. Das ursprünglich Vollkropfmühle oder nach einem Besitzer auch Staberow’sche Mühle genannte Bauwerk stammt aus dem Jahr 1820, stand bis 1874 in der Grünauer Straße bei Köpenick und kam anschließend nach Bohnsdorf in die Glienicker Straße 508. 1958 unter Denkmalschutz gestellt und 1983 abgebaut, erfolgte noch im gleichen Jahr ihre Neuaufstellung auf dem Gelände des Technikmuseums. Auch wenn diese Mühle in Berlin verblieben ist, zählt sie wegen der Umsetzung in das Museum nicht zu den erhaltenen historischen Mühlen an ihren originären Standorten. Die älteren Namen der Mühle finden sich in amtlichen Aufzeichnungen beispielsweise als Wuhlkropfmühle (1820) oder Vollkropfs Mühle (1850). Nach den Analysen des Namenforschers für den Teltow, Gerhard Schlimpert, geht der Name auf den sogenannten Vollkropf zurück, der bereits 1704 als Amtsforst verzeichnet ist. An den Namen erinnern zwischen Glienicker Weg und Spree ein Reststück des Vollkropfgrabens und das kleine Biotop Vollkropfwiesen am Graben. Die Feucht- und Nasswiesen mit Magerrasen und Röhrichtbeständen stehen unter Naturschutz. Da auf dem ausgedehnten Gebiet südlich der Spree eine slawische Siedlung gefunden wurde, könnte es sich um einen alten slawischen Wüstungsnamen handeln. Ein Nachweis dazu existiert jedoch nicht und eine stimmige etymologische Ableitung zum Namen Vollkropf liegt nicht vor. Kursierende Ableitungen aus dem mittelniederdeutschen Krop = Auswuchs, Kropf, Schlund hält Schlimpert für nicht plausibel, da zum einen die Mundartform fehlt und zum anderen das Beiwort Voll- unklar bleibt, das sich auch als Vulc-krop findet. === Wiedererrichtete Bockwindmühle in Gatow === 52° 29′ 11″ N, 13° 10′ 40,4″ O Seit dem Jahr 2004 gibt es eine weitere – anfangs noch zerlegte – Bockwindmühle in Berlin, die nach Auskunft der Käufer der Mühle im Technikmuseum sehr ähnlich sein soll und die aus Metzelthin, Ortsteil von Wusterhausen/Dosse, von der Prignitz nach Gatow in die Buchwaldzeile 43 umgesetzt wurde. Der Aufbau der Mühle, für die ursprünglich ein Standort bei Wriezen am Oderbruch geplant war, wurde seit 2004 vorbereitet und im Jahr 2008 vollendet. Standort ist der historische Windmühlenberg mit der seltenen Sand-Trockenrasenflora, der inmitten einer kleinen Siedlung liegt und seit dem 9. Februar 2002 als Naturschutzgebiet Windmühlenberg unter Schutz steht. Auf dem 52 Meter hohen Berg stand bis 1921 (nicht 1923, wie oft angegeben) die alte Gatower Bockwindmühle aus dem Jahr 1845 (andere Angaben 1824 und 1844), die ein skurriles Ende nahm, als sie für einen Film des Regisseurs Richard Eichberg (1888–1952) regelrecht abgefackelt wurde. Der Mühlenbesitzer, der Ortsbäcker, hatte die verwahrloste und ausgediente Mühle zuvor an die Produktionsfirma des Films verkauft, die das hölzerne Bauwerk gemäß Drehbuch für die letzte Szene in Brand steckte. Recherchen des Fördervereins historisches Gatow ergaben, dass es sich bei dem Film von Eichberg, der 1938 mit dem zweiteiligen und vertonten Remake von Joe Mays Das indische Grabmal (1. Teil: Der Tiger von Eschnapur) weltweit bekannt wurde, um den Stummfilm Die Liebesabenteuer der schönen Evelyne, Deutscher Titel Die Mordsmühle auf Evenshill, handelte. Die Uraufführung des in den USA indizierten und im Deutschen Reich nicht jugendfreien Films fand am 23. Dezember 1921 in Berlin statt. Das weitere Schicksal des Films ist unklar, die Kopien sind offenbar verschollen (Darsteller waren u. a. Lee Parry, Oskar Sima in einem seiner ersten Filme überhaupt, Karl Falkenberg und Felix Hecht). Der Förderverein Gatow kaufte die neue Mühle für rund 4000 Euro aus der Konkursmasse der Gesellschaft, die die Mühle der Stadt Wriezen hatte spenden wollen. Die zerlegte Mühle lagerte bereits auf dem Güterbahnhof des Oderbruch-Städtchens. Laut Förderverein gleicht die rund 225 Jahre alte Mühle der abgebrannten Gatower Mühle. In Absprache mit den Behörden fand sich am Rand des Schutzgebietes ein Platz neben einem alten Wasserturm, an dem sich die Errichtung der Mühle mit den Erfordernissen des Naturschutzes in Einklang bringen ließ. Von Oktober 2005 bis Oktober 2006 ruhte das Bauvorhaben, da gegen die bereits erteilte Baugenehmigung aus nachbarrechtlichen Gründen Widerspruch eingelegt wurde. Der Widerspruch wurde 2006 abgewiesen. Der Bau begann noch im Oktober 2006. Maßgeblich an den Arbeiten beteiligt waren die Auszubildenden der Knobelsdorff-Schule unter der Leitung des Zimmerermeisters Wellner. Die „Taufe“ der nahezu fertiggestellten Mühle fand am 6. September 2008 in Gegenwart des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit mit einem Festakt statt. Nach 87 Jahren drehten sich also wieder Windmühlenflügel auf dem Gatower Berg. Die Kosten des gesamten Baus hatten rund 180.000 Euro betragen, finanziert mit 150.000 Euro Lottomitteln, 30.000 Euro Eigenmitteln und zahllosen Stunden ehrenamtlicher Arbeit. Im Jahr 2008 fand das Jubiläum 750 Jahre Gatow an der Havel, 1258–2008 statt – das Logo zu dieser Feier zeigt eine Bockwindmühle, das ehemalige und jetzt wiederhergestellte Wahrzeichen des Dorfes in der Stadt. == Siehe auch == Geschichte der Windenergienutzung Deutsche Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung Windmüller == Literatur == Gerald Bost: Die Britzer Mühle – Ein technisches Denkmal mit bewegter Geschichte, Berlin 2016 terra press, ISBN 978-3-942917-24-7. Britzer Mühle. Hrsg.: Britzer Garten. Berlin 1991 (Broschüre). Micaela Haas, Joachim Varchmin: Mühlen gestern und morgen, Wind- und Wasserkraft in Berlin und Brandenburg. Martina Galunder Verlag, Nümbrecht 2002, ISBN 3-89909-009-8. Heinrich Herzberg, Hans Joachim Rieseberg: Mühlen und Müller in Berlin. Ein Beitrag zur Geschichte der Produktivkräfte. Berlin 1986. Werner Peschke: Das Mühlenwesen in der Mark Brandenburg. Von den Anfängen der Mark bis um 1600. Diss. VDI-Verlag, Berlin 1937. Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch. Teil 3. Die Ortsnamen des Teltow. Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972. (Zitat zur Adlermühle S. 214, zur Bohnsdorfer Bockwindmühle = Wuhlkropfmühle/Vollkropfmühle, S. 251 f.) Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser. Band 12.1. Diss. Berlin, Freie Universität 1999. Lukas Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-931836-45-2. (zum Klosterbesitz Zehlendorfer Mühle S. 276 und allgemein zum Mühlenwesen der Mönche in der Mark S. 276 ff.; Zitat zum Mühlenrecht, S. 279) Jürgen Wolf: Die Bockwindmühle in Marzahn. In: Berlinische Monatsschrift (Luisenstädtischer Bildungsverein). Heft 5, 1999, ISSN 0944-5560 (luise-berlin.de). Hans Joachim Rieseberg: Mühlen in Berlin. Katalog zur Ausstellung in der Domäne Dahlem vom 20. Mai bis 28. August 1983. Verein der Freunde der Domäne Dahlem (Hrsg.), Medusa Verlagsgesellschaft, Berlin 1983, ISBN 3-88602-077-0 D. Ogden, G. Bost: Ganzel & Wulff – The Quest for American Milling Secrets. In: TIMS Bibliotheka Molinologica, Volume 20, 2010, ISBN 978-92-9134-025-5. == Quellen == Zur Zehlendorfer Mühle Informationstafel vor Ort, 2005 Diverse Informationsblätter verschiedener Mühlen, 2005 jeweils vor Ort erhältlich Telefonische Auskünfte am 21. Oktober 2005 zur vorgesehenen Mühle in Gatow durch das Bezirksamt Berlin-Spandau, Natur- und Grünflächenamt Telefonische Auskünfte am 1. November 2005 zur vorgesehenen Mühle in Gatow durch Ulrich Reinicke vom Förderverein historisches Gatow. „Der Einspruch der Nachbarn wurde abgewiesen. Baubeginn fand am 24. Oktober 2006 statt. Die Kosten des gesamten Baues werden ca. 180.000 Euro betragen. Die Finanzierung ist bereits gesichert: 150.000 Euro Lottomittel und 30.000 Euro Eigenmittel. Wir gehen davon aus, termingerechte Holzlieferung vorausgesetzt, dass die Mühle 2008 fertig wird.“ == Weblinks == Deutsches Technikmuseum Berlin Mühlenvereinigung Berlin-Brandenburg e. V. == Einzelnachweise ==
https://de.wikipedia.org/wiki/Windm%C3%BChlen_in_Berlin
Wurminfektionen der Katze
= Wurminfektionen der Katze = Wurminfektionen der Katze – die Ansteckung (Infektion) von Katzen (Felidae) mit parasitisch lebenden Würmern – kommen häufig vor. Die meisten Wurmarten treten sowohl bei Haus- als auch den übrigen Katzen weltweit auf, hinsichtlich der Befallshäufigkeit gibt es aber regionale, tierartliche und durch die Lebensweise bedingte Unterschiede. Nach der Einordnung der entsprechenden Parasiten in die zoologische Systematik lassen sich die Infektionen in solche durch Faden- und Plattwürmer – bei letzteren vor allem Band- und Saugwürmer – einteilen, andere Stämme sind tiermedizinisch ohne Bedeutung. Während Fadenwürmer zumeist keinen Zwischenwirt für ihre Vermehrung benötigen, verläuft der Entwicklungszyklus bei Plattwürmern stets über Zwischenwirte. Für die meisten Würmer sind Katzen als Raubtiere der Endwirt. Die Würmer besiedeln als sogenannte Endoparasiten („Innenschmarotzer“) verschiedene innere Organe, rufen aber zumeist keine oder nur geringe Krankheitserscheinungen hervor. Die Infektion muss sich also nicht zwangsläufig auch in einer Wurmerkrankung (Helminthose) äußern. Für die meisten Parasiten lässt sich eine Infektion durch eine Untersuchung des Kots auf Eier oder Larven nachweisen. Einige bei Katzen vorkommende Würmer können auch auf den Menschen übergehen und sind damit Zoonose-Erreger. Von größerer Bedeutung sind hierbei der Katzenspul- und der Fuchsbandwurm. Insbesondere solche Wurminfektionen sollten durch regelmäßige Entwurmung von enger mit dem Menschen in Kontakt lebenden Katzen bekämpft werden. == Infektionen durch Fadenwürmer == Bei Katzen parasitieren verschiedene Vertreter der Fadenwürmer (Nematoda), vor allem Spul-, Haken-, Lungen-, Haar- und Magenwürmer. Koinfektionen durch Kokzidien sind vor allem bei Katzenwelpen häufig. === Spulwurmbefall === → Hauptartikel: Spulwurmbefall der KatzeDer häufigste Spulwurm bei den meisten Katzen ist Toxocara mystax (Syn. Toxocara cati), seltener ist der Befall mit Toxascaris leonina. Lediglich bei Ozelots in Texas war T. leonina bei jedem Tier nachweisbar und damit der häufigste Parasit, bei Rotluchsen in Nebraska wurde er fast genauso oft beobachtet wie T. mystax. Beide Spulwurmarten kommen weltweit vor und der Spulwurmbefall ist eine sehr häufig auftretende Endoparasitose. Die bis zu 10 cm langen adulten Spulwürmer leben im Dünndarm. Die Wurmweibchen produzieren sehr viele Eier, die mit dem Kot in die Umwelt gelangen. In den Eiern entwickeln sich nach etwa vier Wochen die infektiösen Larven. Die Ansteckung erfolgt stets peroral und kann auf drei Wegen erfolgen: über die Aufnahme mit Larven infizierter Transportwirte, von der Katzenmutter auf ihre Welpen über die Muttermilch (nur bei T. mystax) oder als Schmutzinfektion durch Aufnahme larvenhaltiger Eier.Prinzipiell benötigen Spulwürmer keine Zwischenwirte. Dennoch ist die Ansteckung über Transportwirte wie Nagetiere der häufigste Infektionsweg bei erwachsenen Katzen. Die Larven wandern im Transportwirt durch die Darmwand in die Muskulatur oder innere Organe. In der Katze werden sie bei der Verdauung freigesetzt. Bei einer Schmutzinfektion nimmt die Katze selbst larvenhaltige Eier auf. Die Larven werden im Magen freigesetzt, durchbohren die Magen- oder Dünndarmwand und gelangen über den Blutkreislauf in die Lunge. Von hier aus werden sie hochgehustet und gelangen durch Abschlucken des Sputums wieder in den Dünndarm, wo sie sich zu den adulten Würmern häuten. Bei T. mystax können die Larven – wie in den Transportwirten – auch über den Blutweg in andere Organe (unter anderem die Milchdrüse) wandern und dort ein Ruhestadium in abgekapselten Knötchen einnehmen. Die hormonell ausgelöste Mobilisierung dieser ruhenden Larven in der Milchdrüse zum Ende der Trächtigkeit ist die Grundlage des dritten Infektionsweges, welcher der häufigste bei Katzenwelpen ist. Die über die Milch ausgeschiedenen Larven gelangen in den Darm der Kätzchen und verhalten sich im Weiteren wie bei der Infektion über Transportwirte. Im Allgemeinen bleibt der Befall mit Spulwürmern bei Katzen symptomlos. Erst bei stärkerem Befall treten – vor allem bei Jungtieren – unspezifische Symptome wie breiiger Kot sowie infolge eines Nährstoffmangels struppiges Fell, Haarausfall, Abmagerung und Austrocknung auf. Ein massiver Befall kann bei Jungtieren auch zu Wachstumsstörungen des Skeletts mit Verformungen der Knochen und aufgetriebenen Gelenken führen. Sehr selten kommt es zu einem Darmverschluss durch die Anhäufung von Würmern oder zu einer Bauchfellentzündung infolge die Darmwand durchbohrender Würmer. In diesen Fällen treten schwere Allgemeinstörungen („akuter Bauch“) auf. Die Diagnose kann bei Würmern in Erbrochenem bereits ohne Spezialuntersuchungen gestellt werden. Relativ sicher kann ein Spulwurmbefall durch mikroskopischen Nachweis der über das Flotationsverfahren aus dem Kot herausgelösten Eier nachgewiesen werden. === Hakenwurmbefall === Hakenwürmer kommen bei Katzen häufig vor, insbesondere Ancylostoma tubaeforme. Andere Hakenwürmer wie Ancylostoma caninum (Hauptwirt: Hunde) und Uncinaria stenocephala (Hauptwirt: Füchse) werden bei Katzen dagegen deutlich seltener beobachtet. Hakenwürmer sind bis zu 1,5 cm lang und Dünndarmparasiten. Die Larven dieser Hakenwürmer werden entweder durch Fressen von Transportwirten (Nagetiere) aufgenommen oder bohren sich durch die Haut der Katze (perkutane Infektion). Die Infektion mit Hakenwürmern bleibt bei Katzen häufig symptomlos. Bei stärkerem Befall können sie Abmagerung, Blutarmut oder Durchfall auslösen. Der Nachweis der Infektion erfolgt wie bei Spulwürmern über den Nachweis der Eier im Kot mittels Flotationsverfahren. Sie sind oval, kleiner als Spulwurmeier (etwa 60×40 µm groß) und im Inneren sind bereits bei der Eiablage Furchungsstadien erkennbar. === Magenwurmbefall (Ollulanose) === Magenwürmer (vor allem Ollulanus tricuspis) sind bis zu einem Zentimeter lang und besiedeln die Magenschleimhaut, wo sie sich in deren Schleimschicht oder in den Öffnungen der Magendrüsen einnisten. Die gesamte Entwicklung von O. tricuspis findet im Magen der Katze statt, die von den Weibchen abgegebenen Larven entwickeln sich innerhalb desselben Tieres zu den adulten Würmern. Andere Tiere stecken sich durch das Fressen von Erbrochenem befallener Katzen an. O. tricuspis ruft bei Hauskatzen nur selten klinische Erscheinungen hervor. Ein stärkerer Befall zeigt sich in gelegentlichem Erbrechen. Andere Katzen können dagegen schwerere Krankheitsbilder mit Fressunlust, Abmagerung und Austrocknung zeigen. Die Infektion kann durch Nachweis der Würmer in Magenspülproben oder Erbrochenem nachgewiesen werden. Da O. tricuspis lebendgebärend (larvipar) ist, sind im Kot keine Wurmeier und nur ausnahmsweise Larven nachweisbar. === Lungenwurmbefall (Aelurostrongylose) === Der Lungenwurm Aelurostrongylus abstrusus ist bis zu einem Zentimeter lang und besiedelt die Lunge, genauer die kleinen Bronchien und Lungenbläschen. Im Gegensatz zu den zuvor behandelten Fadenwürmern benötigen Lungenwürmer für ihre Entwicklung einen Zwischenwirt. Die Wurmweibchen legen Eier, aus denen noch in den Luftwegen die Larve L1 schlüpft. Diese wird hochgehustet, abgeschluckt und gelangt nach der Passage durch den Magen-Darm-Trakt über den Kot in die Außenwelt. Hier sind die Larven in feuchter Umgebung bis zu einem halben Jahr infektiös. Sie dringen in verschiedene Schnecken ein, die als Zwischenwirt dienen, und entwickeln sich in diesen über die Larve L2 zur Larve L3. Zumeist infizieren sich Katzen aber nicht durch das Fressen von Schnecken, sondern über Transportwirte wie Amphibien, Reptilien, Vögel und Nagetiere, die diese Schnecken zuvor aufgenommen haben. Nach der Aufnahme bohrt sich die Larve durch die Magen- oder Darmwand der Katze und gelangt über den Blutkreislauf in die Lunge. Die Präpatenzzeit – die Zeitspanne von der Infektion bis zur Ausscheidung der ersten Larven – beträgt etwa sechs Wochen. Der Lungenwurmbefall ruft bei Katzen nur selten Krankheitserscheinungen hervor, er gilt als selbstausheilend. Erst bei massivem Befall oder Störungen des Abwehrsystems kann es zu Atemwegsbeschwerden wie Husten, erschwerter Atmung, Niesen, Augen- und Nasenausfluss sowie Fressunlust, Abmagerung und Antriebslosigkeit kommen. Sehr selten treten plötzliche Todesfälle auf, wenn besonders viele Larven in den Luftwegen schlüpfen. Der Lungenwurmbefall wird über den Nachweis der bis zu 400 µm langen Larven im Kot mittels Larvenauswanderungsverfahren gestellt, wobei zu beachten ist, dass sie unregelmäßig über den Kot ausgeschieden werden. Aussagekräftiger ist der Nachweis in Lungenspülproben oder Lungenbiopsien. === Haarwurmbefall === Haarwürmer (Capillaria ssp.) sind sehr dünne, 0,7 bis 8 cm lange Fadenwürmer. Am häufigsten kommen Haarwürmer als Parasiten im Magen-Darm-Trakt bei Katzen vor, beispielsweise Capillaria putorii. Sie gelten als wenig krankheitsauslösend, rufen aber gelegentlich Erbrechen und Durchfall und selten auch Magengeschwüre mit Blutarmut hervor. Die Eier von Magen-Darm-Haarwürmern sind oval, etwa 60–70 × 35–40 µm groß und lassen sich mittels Flotationsverfahren nachweisen.Der Lungenhaarwurm (Capillaria aerophila) ist zwar bei Wildtieren wie Igeln oder Füchsen weit verbreitet, bei Katzen aber sehr selten. Der 25 bis 35 mm lange Wurm besiedelt die Luftwege. Die Eier werden – wie bei Spul- und Lungenwürmern – hochgehustet, abgeschluckt und über den Kot ausgeschieden. Als Zwischenwirt dienen Regenwürmer, der Parasit wird aber zumeist über zwischengeschaltete Transportwirte auf Katzen übertragen. Der Lungenhaarwurm ruft selten Krankheitserscheinungen hervor, nur bei stärkerem Befall kommt es – meist infolge bakterieller Begleitinfektionen – zu einer Bronchitis mit Husten. Der Nachweis kann durch eine Kotuntersuchung auf Eier oder die Untersuchung von Lungenspülproben erfolgen. Die Harnblasenhaarwürmer (Capillaria plica und Capillaria feliscati) besiedeln die Harnblase. Die Ausscheidung der Eier erfolgt über den Urin, der Nachweis einer Infektion ist demzufolge nur aus dem Urinsediment möglich. Harnblasenhaarwürmer können eine Blasenentzündung mit Harnabsatzstörungen, bei stärkerem Befall auch eine Blutarmut auslösen.Der Leberhaarwurm (Capillaria hepatica) parasitiert in der Leber und kann Abgeschlagenheit, Erbrechen, vermehrten Durst und Harnabsatz sowie Gelbsucht verursachen. Der Befall kann nur anhand einer Leberbiopsie mit anschließender feingeweblicher Untersuchung der Gewebsprobe gestellt werden. === Trichinenbefall (Trichinellose) === Der Befall mit Trichinen (vor allem Trichinella spiralis) ist in Mitteleuropa bei Katzen sehr selten. Trichinen kommen weltweit vor und haben keine Entwicklungsphase in der Außenwelt. Die Infektion erfolgt durch Aufnahme larvenhaltigen Fleisches. Die Larven bohren sich in die Dünndarmwand und entwickeln sich dort zu den adulten Würmern. Die von den Weibchen abgegebenen Larven gelangen über Lymphe oder Blut in die Skelettmuskulatur, wo sie als Wartestadium die Infektionsquelle für andere fleisch- und allesfressende Tiere darstellen. Ein geringer Trichinenbefall bleibt bei der Katze ohne Krankheitszeichen. Bei ausgeprägtem Befall können – wie beim Menschen (→ Trichinellose) – in der Phase der Darmbesiedlung zunächst Allgemeinstörungen, Erbrechen und blutiger Durchfall auftreten. Selten kommt es bei Katzen allerdings zu Muskelschwäche, Gangstörungen, Atemproblemen und Fieber durch eine Muskelentzündung infolge der in die Muskulatur eingewanderten Larven. === Herzwurmbefall (Dirofilariose) === Die Infektion mit dem bis zu 30 cm langen Herzwurm (Dirofilaria immitis) ist bei Katzen selten, Hauptwirt für diesen Parasiten ist der Hund. In Mitteleuropa ist die Dirofilariose ohne Bedeutung, da der Parasit nur im Mittelmeerraum und den US-amerikanischen Südstaaten beheimatet ist. Die Erkrankung wird durch Stechinsekten übertragen, die als obligate Zwischenwirte fungieren. Sie nehmen beim Saugakt sogenannte Mikrofilarien aus dem Blut infizierter Tiere auf. In den Insekten findet die Entwicklung zur Larve L3 statt, die bei einem weiteren Saugakt auf ein neues Wirtstier übertragen wird. In der Unterhaut erfolgt die Entwicklung zur Larve L4. Diese wandert über die Blutgefäße in die Herzvorhöfe und die herznahen großen Gefäße und häutet sich zum adulten Herzwurm. Die Präpatenzzeit beträgt 8 Monate. Der Herzwurm hat eine relativ hohe krankmachende Wirkung auf Katzen. Die Erkrankung zeigt sich in schlechtem Allgemeinbefinden, Durchfall und Husten. Sie kann durch Nachweis der 250 µm großen Mikrofilarien im Blutausstrich diagnostiziert werden, was bei Katzen aber schwierig und damit relativ unzuverlässig ist. === Nierenwurmbefall === Die Infektion mit dem Nierenwurm Dioctophyma renale ist nur in Südeuropa, Asien und Nordamerika anzutreffen und auch dort bei Katzen selten, der Hauptwirt sind Nerze. Der Nierenwurm ist mit bis zu einem Meter Länge der größte parasitisch lebende Fadenwurm und zeigt einen zweifachen Wirtswechsel: Erster Zwischenwirt sind Wenigborster, zweiter Süßwasserfische. Er parasitiert im Endwirt vor allem im Nierenbecken oder -fett. Der Befall einer Niere verläuft meist ohne Krankheitszeichen. Sind beide Nieren betroffen, können Nierenfunktionsstörungen infolge einer Hydronephrose oder Pyelonephritis auftreten. Die Infektion lässt sich durch eine Nierenbiopsie oder bildgebende Verfahren nachweisen. Die fassförmigen, gelbbraunen und 71–84 × 45–52 µm² großen Eier treten nur im Urinsediment auf, wenn ein weiblicher und männlicher Nierenwurm in einer Niere aufeinandertreffen. == Infektionen durch Bandwürmer == Bei den Bandwurminfektionen muss zwischen dem Befall mit adulten Bandwürmern und dem Befall mit ihren Entwicklungsstadien unterschieden werden. Ersteres spielt bei Katzen die weitaus größere Rolle; die häufigsten Auslöser sind der Dickhalsige und der Gurkenkernbandwurm. Die Schadwirkung der adulten Bandwürmer ist gering, nur bei stärkerem Befall können aufgrund des Nährstoffentzugs Appetitlosigkeit, Abmagerung und struppiges Fell auftreten. Die aus dem Anus wandernden Glieder können Juckreiz und damit das sogenannte „Schlittenfahren“ (Rutschen auf dem Hinterteil) auslösen. === Befall mit dem Dickhalsigen Bandwurm === Der 15 bis 60 cm lange und etwa 5 mm breite Dickhalsige Bandwurm (Hydatigera oder Taenia taeniaeformis, auch Katzenbandwurm genannt) parasitiert im Dünndarm. Er ist ein bei Katzen häufiger Bandwurm, nur ausnahmsweise tritt er bei anderen Raubtieren auf. Die abgegebenen Bandwurmglieder verlassen mit dem Kot oder durch aktive Wanderung den Anus. Aus den eingetrockneten Gliedern werden in feuchtem Milieu die beschalten Onkosphären (reife Eier mit Larve L1, „Sechshakenlarve“) frei. Diese können durch Fliegen, Käfer und Schnecken verbreitet werden. Die beschalten Onkosphären werden von (obligaten) Zwischenwirten (Nagetiere, Eichhörnchen) aufgenommen und die freiwerdende Sechshakenlarve besiedelt vor allem die Leber des Zwischenwirts. Aus ihr entsteht die bereits bandwurmähnliche, bis zu 30 cm lange Finne (Strobilocercus fasciolaris), die beim Fressen des Zwischenwirts aufgenommen wird. Im Dünndarm angekommen, stülpt sich der Scolex aus und der Bandwurm saugt sich an der Darmschleimhaut fest. Die Präpatenz beträgt im Mittel fünf Wochen. Im selben Tier sind zumeist nur zwei bis zehn Katzenbandwürmer anzutreffen, täglich scheiden sie etwa vier bis fünf Glieder aus. Diese länglich-trapezförmigen Gebilde sind unter Umständen bereits in der Analregion mit bloßem Auge sichtbar. Die etwa 35 µm großen beschalten Onkosphären lassen sich mittels Flotationsverfahren im Kot nachweisen. In einer Studie konnte bei Obduktionen eine Befallsrate von 25,9 % ermittelt werden, von denen nur 10 % im Flotationsverfahren beziehungsweise 27 % nach Zentrifugation erkannt wurden. Zudem können die Eier morphologisch nicht von denen anderer Vertreter der Taeniidae (einschließlich des Fuchsbandwurms) unterschieden werden. === Befall mit dem Gurkenkernbandwurm === Der Gurkenkernbandwurm (Dipylidium caninum) – benannt nach seinen an einen Gurkenkern erinnernden Gliedern – ist bis zu 80 cm lang und parasitiert im vorderen Dünndarm. Als obligater Zwischenwirt fungiert vor allem der Katzenfloh, gelegentlich auch der Katzenhaarling. Die im Darm abgegebenen Bandwurmglieder verlassen mit dem Kot oder durch aktive Wanderung den Anus. Die Eier werden von den Larven der Insekten aufgenommen, durchdringen deren Darmwand und entwickeln sich im Fettkörper zum Finnenstadium (Zystizerkoid). Je nach Außentemperatur ist das Zystizerkoid bereits mit dem Schlüpfen des erwachsenen Flohs oder erst einige Tage später infektiös. Die Infektion erfolgt durch Fressen der Flöhe, worauf die Finne im Dünndarm zum adulten Bandwurm auswächst. Die Präpatenzzeit beträgt etwa drei Wochen. Der Befall mit dem Gurkenkernbandwurm lässt sich durch den Nachweis der Glieder in der Analregion oder den Nachweis der 35–53 µm großen Eier oder von Eipaketen im Kot mittels Flotationsverfahren feststellen. Allerdings sind diese Nachweisverfahren sehr unsicher. In einer Studie konnte bei Obduktionen eine Befallsrate von 34,5 % ermittelt werden, obwohl alle vorherigen Kotuntersuchungen negativ ausfielen. === Befall mit dem Fuchsbandwurm === Der Befall mit dem Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) ist bei Hauskatzen sehr selten (0,4 %), sie stellen einen Nebenwirt dar – als Hauptwirt fungieren Füchse. Da die Infektion mit diesem Parasiten aber für den Menschen lebensbedrohlich ist (siehe unten), ist auch die geringe Befallshäufigkeit von gesundheitspolitischer Bedeutung. Der nur etwa drei Millimeter lange Fuchsbandwurm kommt auf der gesamten Nordhalbkugel vor. Er parasitiert im Dünndarm, zumeist im hinteren Drittel, und pflanzt sich tief zwischen die Darmzotten ein. Etwa alle zwei Wochen wird ein beschalte Onkosphären enthaltendes Bandwurmglied freigesetzt und über den Kot ausgeschieden. Die beschalten Onkosphären sind in der Umwelt sehr stabil, selbst Einfrieren und die meisten Desinfektionsmittel überstehen sie unbeschadet. Nur gegenüber Trockenheit, Temperaturen über 80 °C und Natriumhypochlorit sind sie empfindlich. Sie werden von Zwischenwirten (vor allem Nagetiere) aufgenommen und entwickeln sich in ihnen innerhalb von 40 bis 60 Tagen zu einem großen, schwammartigen Gewebe (Metazestode) mit den infektiösen Protoscolices. Die Infektion der Katze erfolgt über die orale Aufnahme der Zwischenwirte. Die Präpatenzzeit beträgt einen bis vier Monate. Der Befall ruft bei Katzen zumeist keine Symptome hervor. Er kann anhand der beweglichen, etwa einen Millimeter langen Glieder im Kot oder der Analregion sowie bereits im Darm freigesetzter Onkosphären mittels Flotationsverfahren nachgewiesen werden. Letztere sind aber morphologisch nicht von denen der anderen Taeniidae zu unterscheiden. Eine einmalige Kotuntersuchung hat aufgrund der zyklischen Freisetzung nur eine Sicherheit von etwa 30 %. Weitere Möglichkeiten zur Diagnostik sind ein spezifischer ELISA für Kotproben und der DNA-Nachweis mittels PCR. Nach den WHO-Richtlinien zur Bekämpfung dieses Parasiten müssen alle in der Diagnostik eingesetzten Gerätschaften und Materialien autoklaviert oder verbrannt werden. === Selten vorkommende Bandwürmer === Infektionen mit anderen Taeniidae als dem Dickhalsigen Bandwurm sind bei Katzen selten. Der 30 bis 150 cm lange Taenia pisiformis (Hauptwirte: Hunde, Füchse) benötigt als Zwischenwirte Hasenartige und Nagetiere. Katzen sind für diesen Bandwurm ein wenig geeigneter Endwirt, er wird zumeist bereits vor der Bildung eihaltiger (gravider) Glieder von der Katze ausgeschieden. Der Befall mit dem 50 bis 250 cm langen Taenia hydatigena (Hauptwirte: Hunde und Füchse), als dessen Zwischenwirte Schweine, Wiederkäuer und Pferde dienen, sowie mit Taenia crassiceps (Zwischenwirte Hasenartige und Nagetiere) ist ebenfalls selten. Diese Vertreter rufen bei Katzen keine Krankheitserscheinungen hervor. Ihre medizinische Bedeutung liegt eher darin, dass ihre Eier morphologisch nicht von denen des Fuchsbandwurms zu unterscheiden sind, und dass Taenia hydatigena ein – wenn auch seltener – Zoonoseerreger ist. Auch für den Fischbandwurm (Diphyllobothrium latum) sind Katzen ein wenig geeigneter Endwirt. Er wird in Katzen bis zu 1,5 m lang und 2 cm breit. Der Fischbandwurm benötigt zwei Zwischenwirte: Im ersten (Ruderfußkrebse) bildet sich das Procercoid, das für Säugetiere infektiöse Plerozerkoid in der Leibeshöhle und der Muskulatur von Fischen. Spirometra erinacei-europaei, ein weiterer Vertreter der Diphyllobothriidae, ist in Mitteleuropa sehr selten und kommt vor allem im Mittelmeerraum vor. Als erster Zwischenwirt fungieren ebenfalls Ruderfußkrebse, als zweiter Frösche, Schlangen und Vögel. Neben dem Gurkenkernbandwurm können bei Katzen weitere Vertreter der Familie Dipylidiidae vorkommen. Diese sind jedoch vorwiegend im Mittelmeerraum anzutreffen, lediglich Joyeuxiella pasqualei wurde mittlerweile auch in Deutschland beobachtet. Sein Zwischenwirt sind Dungkäfer (Aphodiidae), in die Infektionskette können aber auch Transportwirte wie Reptilien und kleine Säugetiere eingeschaltet sein. Er ist bis zu 50 cm lang. Joyeuxiella echinorhynchoides ist nur etwa halb so lang, seine Infektionskette entspricht der von J. pasquallei. Diplopylidium noelleri und Diplopylidium acanthotretum sind etwa 12 cm lang und benötigen als Zwischenwirt Dungkäfer oder Flöhe. Der Befall mit Vertretern der Gattung Mesocestoides ist – obwohl in Mitteleuropa heimisch – bei Katzen sehr selten. Ihr erster Zwischenwirt sind vermutlich Moosmilben, als zweiter dienen je nach Spezies Reptilien, Vögel und Säugetiere. === Befall mit Finnenstadien === Finnenstadien sind bei Katzen sehr selten anzutreffen. Sie schädigen das Tier durch ihr raumforderndes Wachstum mit Zerstörung befallener Organe. Das reiskornähnliche Finnenstadium (Tetrathyridium) von Mesocestoides leptothylacus kann selten auch bei Katzen auftreten. Der eigentliche zweite Zwischenwirt sind Feldmäuse. Bei starkem Befall kann es zu schweren Krankheitsbildern mit starker Abnahme (Kachexie) und Todesfällen infolge einer Bauchfellentzündung kommen. Durch das Coenurus von Taenia serialis sowie den Cysticercus von Taenia crassiceps wurden infolge einer Schädigung des Gehirns zentralnervöse Störungen (ähnlich der Coenurose der Schafe) beobachtet. Weitere bei Katzen auftretende Finnenstadien sind die Metazestode des Dreigliedrigen Hundebandwurms (Echinococcus granulosus), das Sparganum von Spirometra mansonoides und der Cysticercus des Schweinebandwurms (Taenia solium). Zumeist rufen sie aber keine Krankheitssymptome hervor, sondern werden als Nebenbefund bei Obduktionen entdeckt. == Infektionen durch Saugwürmer == Infektionen durch Saugwürmer (Trematoda) sind in Mitteleuropa selten und verlaufen im Allgemeinen ohne Krankheitszeichen. Sie sind durch den Nachweis der Eier im Kot feststellbar. === Leberegelbefall === Die bei Katzen vorkommenden Leberegel (Opisthorchis felineus, Pseudoamphistomum truncatum und Metorchis bilis) benötigen für ihre Entwicklung einen zweifachen Wirtswechsel. Als erster Zwischenwirt dienen Wasserschnecken, als zweiter Süßwasserfische. Katzen infizieren sich durch die Aufnahme von Fischen. Die eingekapselten (enzystierten) Metazerkarien in Fischen sind sehr widerstandsfähig und werden nur durch Kochen sicher abgetötet. In seltenen Fällen kann der Befall mit Leberegeln eine Darmentzündung mit Durchfall, ein gestörtes Allgemeinbefinden und Leber- und Bauchspeicheldrüsenveränderungen hervorrufen. === Darmegelbefall === Bei Katzen kommen verschiedene Darmegel vor, deren Entwicklung wie bei den Leberegeln über zwei Zwischenwirte erfolgt. Der erste Zwischenwirt ist stets eine Süßwasserschnecke. Der zweite Zwischenwirt – und damit die Infektionsquelle für Katzen – variiert je nach Parasitenart: Bei Alaria alata sind es Kaulquappen, Reptilien, Vögel und Säugetiere, bei Metagonimus yokogawai und Apophallus donicus Fische, bei Isthmiophora melis Fische und Amphibien und bei Echinochasmus perforans Kaulquappen und Fische. Ein Darmegelbefall ruft nur selten Krankheitserscheinungen wie Durchfall hervor. === Lungenegelbefall === Lungenegel (in Asien vor allem Paragonimus westermani, in Amerika vor allem P. kellicotti) spielen in Europa keine Rolle. Erster Zwischenwirt sind Wasserschnecken, der zweite Süßwasserkrabben und Krebse. Die Infektion erfolgt durch Aufnahme roher Schalentiere. Lungenegel wurden in Thailand recht häufig bei Tigern und Leoparden, dagegen nicht bei Bengalkatzen nachgewiesen. In Amerika kommen sie sowohl bei Hauskatzen als auch Wildtieren vor. Die im Darm frei werdenden Metazerkarien wandern in die Lunge, wo sie sich in Zysten zu den adulten Egeln entwickeln. Die Eier werden – wie bei den übrigen Lungenwürmern – hochgehustet und gelangen über den Kot in die Umwelt. Der Befall mit Lungenegeln kann symptomlos bleiben, aber auch Atemprobleme auslösen, die denen des Katzenasthmas gleichen. Durch Platzen der Zysten kann ein Pneumothorax mit akuter Atemnot entstehen. Der Nachweis der Infektion kann durch Kotuntersuchungen auf Eier, mittels Lungenspülproben oder mittels Röntgenbild der Lunge erfolgen. == Befallshäufigkeit und ihre Einflussfaktoren == Die Befallshäufigkeit ist je nach Wurmart sehr unterschiedlich. In einer deutschen Studie an 3167 Hauskatzen wurde mittels Flotationsverfahren bei 24 % der Tiere Endoparasiten nachgewiesen, wobei T. mystax mit 26 % die höchste Befallsrate aufwies. Eine andere Studie an 441 Kotproben wies T. mystax nur bei 3,9 % der Proben nach, aber auch hier war dieser Spulwurm der häufigste Parasit. Auch in Belgien, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, Australien und Nigeria dominiert der Befall mit T. mystax, die Befallsraten liegen hier bei bis zu 60 %. In Katar wurden bei streunenden Katzen dagegen vor allem Bandwürmer (T. taeniaeformis: 76 %, Dipylidiidae: 43 %) beobachtet, T. mystax nur bei 0,4 % der Tiere.Es gibt zahlreiche Einflussfaktoren auf den Befall mit Würmern. Wildtiere sind in der Regel deutlich häufiger betroffen als Katzen in menschlicher Obhut, da letztere häufig regelmäßig entwurmt werden. Auch bei Hauskatzen gibt es deutliche Unterschiede zwischen reinen Wohnungskatzen und solchen mit Freigang oder streunenden, da von letzteren häufiger Nagetiere oder Fische aufgenommen werden, die als Zwischen- oder Transportwirte eine Infektionsquelle darstellen. Darüber hinaus fressen verwilderte Haus- und Wildkatzen aus Hunger gelegentlich Erbrochenes von anderen Katzen, so dass der Magenwurmbefall bei ihnen deutlich häufiger auftritt. Streunende Katzen in Spanien wiesen zu fast 90 % einen Befall mit Magen-Darm-Würmern auf. Katzen in größeren Beständen wie Tierheimen oder Laborhaltungen sind aufgrund des engeren Kontakts mit potentiellen Wurmträgern deutlich häufiger betroffen. Bei Kotuntersuchungen an Groß- und anderen Wildkatzen konnten je nach Spezies bei 66 bis 100 % der Tiere Wurmeier oder -larven nachgewiesen werden.Neben global vorkommenden Parasiten wie T. mystax haben einige ein beschränktes Verbreitungsgebiet. Dies kann in geografischen oder klimatischen Bedingungen und dem Vorkommen geeigneter Zwischenwirte begründet sein. So ist beispielsweise der Katzenleberegel (Opisthorchis felineus) in Asien sowie Süd- und Osteuropa häufiger, in Deutschland vor allem im östlichen Brandenburg verbreitet, wo eine Befallshäufigkeit von 16 % ermittelt wurde. Der Fischbandwurm tritt in Deutschland vor allem entlang der großen Flüsse sowie in den Küstenregionen, in der Schweiz an den großen Seen auf. Die meisten Dipylidiidae sind ausschließlich in Südeuropa anzutreffen. == Diagnostik == Über die tatsächlichen Befallsraten in den Gesamtpopulationen der verschiedenen Katzenarten gibt es kaum zuverlässige Daten. Klinisch lassen sich nur die wenigsten Wurminfektionen – beispielsweise beim Vorkommen von Spulwürmern im Erbrochenen oder von Bandwurmgliedern in der Analregion – nachweisen. Für die meisten Katzenarten gibt es gar keine oder allenfalls Einzelstudien an regional begrenzten Populationen. Die meisten Studien beruhen auf Kotuntersuchungen bei Hauskatzen. Eine Reihe von Wurminfektionen kann aber mit dieser Untersuchungsmethode nicht aufgedeckt werden oder der Nachweis ist infolge einer zyklischen Ausscheidung wie beim Fuchs- und Gurkenkernbandwurm nur unsicher. Gegebenenfalls müssen mikroskopische Verfahren durch aufwendige molekularbiologische ergänzt werden, um beispielsweise Eier der Taeniidae voneinander abzugrenzen. Die wenigen Erhebungen anhand von Obduktionen basieren nicht auf Zufallsstichproben, sondern auf eingesendetem Material von verstorbenen Tieren. Vor allem für den Befall mit Finnenstadien von Bandwürmern ist die Obduktion – wenn man von wenigen aufwendigen bildgebenden Verfahren absieht – das einzig sichere Nachweisverfahren. == Bekämpfung == Eine vollständige Eliminierung der Wurminfektionen bei Katzen ist unmöglich. Die Entwicklungszyklen der Parasiten lassen sich nicht unterbinden, da über freilebende Katzen oder andere Wirte stets neue Parasitengenerationen nachwachsen. Auch die Bekämpfung eventueller Zwischenwirte ist kaum praktikabel und ökologisch nicht vertretbar. Die unschädliche Beseitigung von Katzenkot ist eine hygienische Maßnahme, die zumindest zu einer Erregerverdünnung führt. Kot sollte täglich eingesammelt und über den Hausmüll entsorgt werden, denn Spulwurmeier sind im feuchten Milieu bis zu vier Jahre, Peitschenwurmeier über sechs Jahre und Bandwurmeier sechs Monate infektiös. Die Eier haben eine hohe Tenazität. Fußböden können mit einem Dampfreiniger mit über 60 °C effektiv gereinigt werden, Katzentoiletten mit kochendem Wasser. Auf eine gute anschließende Trocknung sollte geachtet werden. Die meisten Desinfektionsmittel sind nicht gegen Fadenwurmeier wirksam, auch Handdesinfektionsmittel nicht, weshalb beim Umgang mit Kot Handschuhe getragen werden sollten.Die Behandlung von Wurminfektionen beschränkt sich zumeist auf die in menschlicher Obhut gehaltenen Katzen. Die meisten Infektionen sind für Katzen eher harmlos, da sich bei intaktem Immunsystem ein Erreger-Wirt-Gleichgewicht einstellt. Da aber einige von ihnen gesundheitliche Störungen auslösen können und einige auch eine potentielle Gefahr für den Menschen darstellen, sind regelmäßige Wurmkuren bei Katzen im menschlichen Umfeld durchaus sinnvoll. Der European Scientific Counsel Companion Animal Parasites (ESCCAP) – die europäische Vereinigung der Fachleute für Parasiten bei Heimtieren – hat daher Empfehlungen für die Bekämpfung der Wurminfektionen herausgegeben. Diese werden durch nationale tiermedizinische Fachgesellschaften an regionale Besonderheiten angepasst. In den Vereinigten Staaten gibt es ebenfalls solche Leitlinien, die hier vom Companion Animal Parasite Council (CAPC) herausgegeben werden. Die zuletzt im Juli 2014 nach den ESCCAP-Richtlinien für Deutschland angepassten Empfehlungen zielen darauf, Katzen „(…) durch eine fachgerechte Diagnostik, Medikation und Prävention vor Infektionen mit Würmern und deren Folgen zu schützen“. Eine zielgerichtete Bekämpfung wird vor allem für Spul-, Haken- und Bandwürmer empfohlen. Die Herzwurmbekämpfung spielt in Deutschland nur eine Rolle bei den Katzen (und Hunden), die ins endemische Ausland (u. a. süd- und osteuropäische Länder) verbracht werden sollen oder von dort stammen. === Spulwürmer (Toxocara spp.) === Katzenwelpen sollten beginnend im Alter von drei Wochen und anschließend in zweiwöchigem Abstand bis zwei Wochen nach dem Absetzen mit einem geeigneten Wurmmittel (Anthelminthikum) gegen Spulwürmer behandelt werden. Auch die säugende Katzenmutter sollte gleichzeitig mit der ersten Behandlung der Welpen entwurmt werden. Einen sicheren Schutz vor der Weitergabe von Spulwürmern bietet nur eine monatliche Behandlung, die z. B. für Katzen in größeren Haltungen, für Katzen mit regelmäßigem unbeaufsichtigten Auslauf sowie für Katzen mit engem Kontakt in Familien mit Kleinkindern erwogen werden sollte. Generell sollte aber für jedes Tier eine individuelle Risikobewertung durchgeführt werden – ist das Infektionsrisiko unbekannt oder können Infektionen nicht durch diagnostische Untersuchungen ausgeschlossen werden, wird mindestens eine vierteljährliche Entwurmung vorgeschlagen.Für die Behandlung gegen Spulwürmer sind in Deutschland für Hauskatzen Arzneimittel auf der Basis von Emodepsid, Eprinomectin, Fenbendazol, Flubendazol, Mebendazol, Milbemycinoxim, Moxidectin, Pyrantel und Selamectin zugelassen. Emodepsid, Eprinomectin und Selamectin können bei trächtigen und säugenden Katzen angewendet werden. === Andere Nematoden === Die Arzneistoffe sind Breitbandanthelminthika und entfalten eine Wirkung auch gegen die meisten anderen bei Katzen vorkommenden Fadenwürmer, die im Einzelfall aber auch fehlend oder unzureichend sein kann. Zum Schutz vor Herzwürmern (D. immitis) sind von den Stoffen nur Eprinomectin, Moxidectin, Milbemycinoxim und Selamectin wirksam. Magenwürmer (O. tricuspis) werden von keinem dieser Wirkstoffe erfasst, hier sind in Deutschland keine für Katzen zugelassenen Präparate auf dem Markt, sodass andere Tierarzneimittel auf der Basis von Levamisol oder Ivermectin umgewidmet werden müssen. Beim Nierenwurmbefall (D. renale) ist nur die Entfernung der betroffenen Niere möglich. === Bandwürmer === Gegen einen Befall mit dem Gurkenkernbandwum (D. caninum) wird bei Katzen vor allem der Wirkstoff Praziquantel eingesetzt, gegen Spezies der Gattung Taenia zusätzlich noch Fenbendazol. Da der Gurkenkernbandwurm von Flöhen übertragen werden kann, sollte bei einem Flohbefall der Katze stets auch an eine Entwurmung gedacht werden.Für die Bekämpfung des in ganz Mittel- und Osteuropa heimischen Fuchsbandwurms (E. multilocularis) – für dessen Verbreitung Katzen allerdings nur eine geringe Bedeutung haben – wird empfohlen, kein rohes Fleisch oder Schlachtabfälle zu verfüttern. Bei Freigängern beziehungsweise Katzen, die Nagetiere jagen ist eine regelmäßige Kotuntersuchung oder monatliche Behandlung gegen Bandwürmer angezeigt. Wichtig ist, dass jedes Vorkommen morphologisch gleicher Bandwurmeier (Taeniidae) diagnostisch in einem Speziallabor abzuklären ist. Bei einem positiven Nachweis müssen rigide Hygienemaßnahmen wie Baden unter Schutzkleidung und strikte unschädliche Beseitigung des Kots erfolgen. Zur Behandlung des Fuchsbandwurms wird vor allem Praziquantel eingesetzt. Einige europäische Länder wie das Vereinigte Königreich, Irland, Malta, Finnland, Schweden oder Norwegen verlangen eine im EU-Heimtierausweis dokumentierte Behandlung gegen den Fuchsbandwurm als Einreisevoraussetzung. == Gefahren für den Menschen == Einige der bei Katzen auftretenden Würmer sind auf den Menschen übertragbar, also Zoonoseerreger. Die größte Gefährdung für den Menschen stellt der Fuchsbandwurm (E. multilocularis) dar. Er ruft das Krankheitsbild der alveolären Echinokokkose hervor, das durch eine kleinblasige Zerstörung innerer Organe – befällt in >99,9 % die Leber – gekennzeichnet ist und unbehandelt zumeist tödlich endet. Allerdings ist diese Erkrankung sehr selten, und Katzen spielen, da der Bandwurm bei ihnen kaum vorkommt, bei der Verbreitung dieses Parasiten nach Meinung der meisten Autoren keine Rolle. In einer österreichischen Studie an 21 Patienten erwies sich der Besitz von Katzen jedoch als Risikofaktor für diese Erkrankung. Von den Spulwürmern ist Toxocara mystax als Schmierinfektion auf den Menschen übertragbar. Häufigste Ansteckungsquelle sind bei Kleinkindern mit Katzenkot verunreinigte Sandkästen. Die Infektion entspricht der eines Transportwirtes und verläuft – im Gegensatz zur Ansteckung mit dem Hundespulwurm – meist klinisch unauffällig. Die Larven können auch beim Menschen in innere Organe oder die Muskulatur wandern (sogenannte Larva migrans visceralis). Gelegentlich können durch solche Wanderlarven Augenschäden, zentralnervöse Erscheinungen (Kopfschmerz, Verhaltensstörungen), Lebervergrößerung, Bronchitis mit Husten oder bei Kindern auch allergische Reaktionen wie Nesselsucht auftreten. Auch die bei Katzen eher seltenen Fadenwürmer wie A. caninum, C. hepatica und der Nierenwurm können als Wanderlarven innere Organe des Menschen befallen. Für die Verbreitung der Trichinellose spielen Katzen keine Rolle, da Trichinen bei ihnen selten sind und Katzen normalerweise nicht von Menschen gegessen werden. Der Gurkenkernbandwurm kann selten auch Erkrankungen bei Kindern verursachen, wenn diese – zumeist versehentlich – infizierte Flöhe verschlucken (→ Dipylidiasis). Der Mensch fungiert hier wie die Katze als Endwirt, eine direkte Ansteckung von einer Katze ist nicht möglich. Zudem spielt der Haushund bei der Verbreitung dieses Bandwurms die weitaus größere Rolle. Auch die anderen Vertreter der Dipylidiidae sind Zoonoseerreger. Der Katzenleberegel kann in seltenen Fällen auch auf den Menschen übergehen. Die Infektion erfolgt aber nicht durch Katzen, sondern durch Aufnahme metazerkarienhaltiger Fische. Neben Katzen spielen Fischotter und Füchse als Endwirte eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Parasitenpopulation. Auch Darmegel sind für den Menschen pathogen, allerdings spielen Katzen für die Verbreitung dieser Parasiten kaum eine Rolle, die Infektion erfolgt bei Alaria alata zumeist über Schweinefleisch (Schweine fungieren als Transportwirte). Gleiches gilt für die Verbreitung der Lungenegel wie Paragonimus westermani – der Mensch infiziert sich über die Aufnahme roher Schalentiere. Zum Schutz vor zoonotischen Wurminfektionen empfiehlt die ESCCAP: Hygienemaßnahmen wie Händewaschen oder Gartenarbeit mit Handschuhen, kein Verzehr von ungewaschenen Pflanzen (Gemüse, Früchte und Pilze), regelmäßige parasitologische Untersuchungen und/oder Entwurmungen der Katzen, regelmäßiges Beseitigen von Katzenkot (dies ist bei Freigängern und wildlebenden Katzen aber nicht praktikabel) sowie Vermeiden potentiell mit Wurmstadien kontaminierter Umgebungen (Hundewiesen, Gärten oder Spielplätze, Sandkästen), insbesondere für Kinder. == Literatur == Johannes Eckert: Lehrbuch der Parasitologie für die Tiermedizin. 2. Auflage. Enke-Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-1072-0. Theodor Hiepe, Regine Ribbeck: Lehrbuch der Parasitologie. Band 4. Fischer-Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 3-437-20252-9. Regine Ribbek, Steffen Rehbein: Krankheiten der Katze. Hrsg.: Marian C. Horzinek. 4. Auflage. Enke-Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-8304-1049-2, „Helminthosen“, S. 207–226. Thomas Schnieder (Hrsg.): Veterinärmedizinische Parasitologie. 6. Auflage. Parey-Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-8304-4135-9. == Einzelnachweise == == Weblinks == European Scientific Counsel Companion Animal Parasites (ESCCAP)
https://de.wikipedia.org/wiki/Wurminfektionen_der_Katze
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= Average = Average (* Oktober 1988 in Linz; bürgerlich Markus Ebner) ist ein österreichischer Hip-Hop-Musiker. == Leben == Average veröffentlichte 2006 gemeinsam mit DJ Url unter dem Pseudonym „Die AU“ sein erstes Demo-Tape „Ausdruck“. Unterstützt wurde er dabei von Huckey (Texta), Kamp und Wenzel Washington. 2007 war der MC zum ersten Mal als Feature-Gast auf einem Texta-Album vertreten. Mit dem Song „Jugend ohne Kopf“ aus dem Album „Paroli“ entstand eine enge Zusammenarbeit mit der fünfköpfigen Hip-Hop-Formation. 2009 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Texta-Mitglied Huckey die erste EP „Ganz schön hässlich“. Gefeatured wurde er hier unter anderem von Texta-Mitglied Flip. 2011 erschien die erste Solo-EP „aufeinwort“ in diesem Jahr wurden Average und DJ Url auch zur Fm4 Soundpark Band des Jahres gewählt. Im selben Jahr startete Flip von Texta gemeinsam mit Average die Reihe der „Tuesday Classics“, bei der amerikanische Hip-Hop Klassiker ins Deutsche übersetzt wurden. 2013 erschienen das Mixtape „Die Au schlägt nicht zurück“ und „Tuesday Classics II“. Average hat sich in der österreichischen Hip-Hop Szene etabliert, nicht zuletzt wegen seiner Zusammenarbeit mit anderen MCs wie Texta, Soprano, Kamp, Skizzo, Penetrante Sorte, Hinterland, Kayo, Demolux, 3MinutenEi, Roger von Blumentopf oder Aphroe. Average begleitete den französischen MC Soprano 2010 im Vorprogramm auf dessen Tournee durch Österreich, Deutschland und die Schweiz. Er spielte auch solo sowie zusammen mit anderen MCs in Luxemburg und Frankreich sowie als Vorband von Dilated Peoples, Delinquent Habits, Samy Deluxe, Cassandra Steen, Afrob, Cro, Masta Ace, Mac Miller und Blumentopf. Seit 2006 hat Average mehr als 200 Konzerte in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Luxemburg gespielt. 2011 erschien der Song „Grotesk“ aus dem Album „Grotesk“ von Texta. 2012 entstand der Song „Wenns ein Mädchen wird“ – eine Lobeshymne auf die Spielserie „FIFA“ – durch dessen Veröffentlichung Average 2013 von EA Sports zur Premiere nach München eingeladen wurde. Seit 2012 arbeitet der MC auch mit Red Bull zusammen. Der erste Song „Bubble Bubble“ wurde im Zuge des Wakeboard-Events „Wake of Steel“, welches im Linzer Hafen stattfindet, gefertigt. 2013 schrieb Average den Song für die Red Bull Playstreets in Bad Gastein und ein weiteres Mal für das „Wake of Steel“ in Linz. Die Texte des MCs sind überwiegend auf Hochdeutsch und durch einen hohen Grad an Wortverspieltheit gekennzeichnet. == Diskografie == 2006: Ausdruck – EP 2009: Ganz schön hässlich – EP 2011: aufeinwort – EP 2011: Tuesday Classics 2013: Die Au schlägt nicht zurück – Mixtape 2013: Tuesday Classics II == Beiträge == 2006: Fm4 Soundselection vol. 14: Average & Url feat. Wenzel Washington – Message 2006: Def Ill – Der rote Faden: Rap is feat. Average 2007: Texta – Paroli: Jugend ohne Kopf feat. Average 2007: Tonträger Allstars – Vü z‘vü Kerkersessions vol.1: Gang feat. Average 2007: Hinterland – Zwa Seiten: Hillbilly Anthem feat. Average 2008: Fm4 Soundselection vol. 18: Hinterland feat. Average – Hillbilly Anthem 2010: Problem Remix (Flip, Def Ill, Kayo, Big J, Digga Mindz, Thaiman & Gerard MC) 2011: Fm4 Soundselection vol.25: Average & Url – Austrian Flavour 2011: Texta – Grotesk: Grotesk feat. Soprano & Average 2012: 3MinutenEi – Der letzte Sommertag feat. Average 2013: Penetrante Sorte – Penetrant: Schön Reden feat. Average 2017: Extra Large – Atlantis feat. Average == Weblinks == https://www.facebook.com/averagelinz?fref=ts http://flip1.bandcamp.com/album/tuesday-classics Die FM4 Soundpark Band des Jahres 2011. In: fm4.orf.at. Abgerufen am 14. Januar 2019. http://www.hiphop.at/forum/austrian-releases/average-url-au-schl-gt-ck-mixtape-free-27603.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Average