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Bonn | = Bonn =
Die Bundesstadt Bonn (im Latein der Humanisten Bonna) ist eine kreisfreie Großstadt im Regierungsbezirk Köln im Süden des Landes Nordrhein-Westfalen und Zweitregierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Mit 336.465 Einwohnern (31. Dezember 2022) zählt Bonn zu den zwanzig größten Städten Deutschlands. Bonn gehört zu den Metropolregionen Rheinland und Rhein-Ruhr sowie zur Region Köln/Bonn. Die Stadt an beiden Ufern des Rheins war von 1949 bis 1973 provisorischer Regierungssitz und von 1973 bis 1990 Bundeshauptstadt und bis 1999 Regierungssitz Deutschlands, danach wurde sie zweiter Regierungssitz. Die Vereinten Nationen unterhalten seit 1951 hier einen Sitz.
Bonn kann auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken, die auf germanische und römische Siedlungen zurückgeht, und ist damit eine der ältesten Städte Deutschlands. Von 1597 bis 1794 war es Haupt- und Residenzstadt des Kurfürstentums Köln. 1770 kam Ludwig van Beethoven hier zur Welt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die 1818 gegründete Universität Bonn zu einer der bedeutendsten deutschen Hochschulen.
1948/49 tagte in Bonn der Parlamentarische Rat und arbeitete das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland aus, deren erster Parlaments- und Regierungssitz Bonn 1949 wurde. In der Folge erfuhr die Stadt eine umfangreiche Erweiterung und wuchs über das neue Parlaments- und Regierungsviertel mit Bad Godesberg zusammen. Daraus resultierte die Neubildung der Stadt durch Zusammenschluss der Städte Bonn, Bad Godesberg, des rechtsrheinischen Beuel und Gemeinden des vormaligen Landkreises Bonn am 1. August 1969.
Nach der Wiedervereinigung 1990 fasste der Bundestag 1991 den Bonn/Berlin-Beschluss, infolge dessen der Parlaments- und Regierungssitz 1999/2000 in die Bundeshauptstadt Berlin und im Gegenzug zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn verlegt wurden. Seitdem haben in der Bundesstadt der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Bundesrat einen zweiten Dienstsitz, gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz sechs Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz, die anderen acht einen Zweitsitz. Mit dem Namenszusatz Bundesstadt stärkt der Bund den Standort Bonn als Zweitregierungssitz.
Bonn weist als Sitz von 20 Organisationen der Vereinten Nationen (UN) einen hohen Grad internationaler Verflechtung auf, trägt den Titel UN-Stadt und wird häufig als Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz bezeichnet. Zudem sind die beiden DAX-Unternehmen Deutsche Post und Deutsche Telekom gesetzlich hier ansässig.Besonders wegen der Sitze von Organisationen und Unternehmen wird das Stadtbild neben Kirchtürmen durch mehrere Hochhäuser geprägt. Dies unterstreicht auch die Bedeutung als Büro-Immobilienmarkt mit mehr als vier Millionen Quadratmetern Fläche.
== Geographie ==
=== Topografie und Landschaftsräume ===
Am Übergang vom Mittelrheingebiet zur Niederrheinischen Bucht, der durch den Godesberger Rheintaltrichter markiert wird, liegt im Südwesten des Landes Nordrhein-Westfalen die Stadt Bonn. Auf 141,1 Quadratkilometer dehnt sie sich zu beiden Seiten des Rheines aus. Dabei bilden die linksrheinischen Stadtteile etwa drei Viertel der Gesamtfläche.
Im Süden und Westen umschließen die Ausläufer der Eifel mit dem zum Naturpark Rheinland gehörenden Kottenforst und die Voreifel die Stadt. Nördlich von Bonn öffnet sich das Rheintal in die ab dem Ortsteil Duisdorf bergseitig zur Ville hin vom Vorgebirge begleitete Kölner Bucht. Die hier mündende Sieg stellt im Nordosten die natürliche Grenze dar, das Siebengebirge im Südosten, während im Osten noch einige rechtsrheinische Ortsteile im Pleiser Hügelland liegen. Jenseits des Siebengebirges erstreckt sich südöstlich von Bonn der Westerwald, jenseits der Siegniederung nordöstlich das Bergische Land.
Bonn hat seinen geografischen Mittelpunkt am Bundeskanzlerplatz, der sich im Ortsteil Gronau befindet. Die geografische Lage des Platzes ist 50° 43′ 8,8″ N, 7° 7′ 3,3″ O. Die Bonner Innenstadt, die nicht zum Rhein hin ausgerichtet ist, liegt auf einer Höhe von 56 m bis 61 m ü. NHN.
Die größte Ausdehnung des Stadtgebiets in Nord-Süd-Richtung beträgt 15 Kilometer, in West-Ost-Richtung 12,5 Kilometer. Die Stadtgrenzen haben eine Länge von 61 Kilometer.
Auf der rechten Rheinseite liegt der Ennert, der nördliche Ausläufer des Siebengebirges, auf dem Bonner Stadtgebiet. Zu ihm gehört der Paffelsberg, der mit 195,3 m ü. NHN als die höchste Erhebung der Stadt Bonn gilt. Weitere Erhebungen in diesem Höhenzug sind der namensgebende Ennert, Holtorfer Hardt und Röckesberg sowie jeweils mit markanten Steilhängen Rabenlay und Kuckstein, westlich vorgelagert ist der Finkenberg. Auf der linken Flussseite sind die dominierenden Erhebungen Venusberg (171 m) und Kreuzberg (158 m), nach Südwesten steigt das Stadtgebiet zum Kottenforst hin auf bis zu 190 m an. Der tiefste Bodenpunkt befindet sich mit 45,6 m ü. NHN auf der Landzunge Kemper Werth an der Siegmündung.
=== Nachbargemeinden ===
Zehn Städte und Gemeinden grenzen an die Gemarkung Bonns, die alle – bis auf Remagen, das im Landkreis Ahrweiler im Land Rheinland-Pfalz liegt – zum nordrhein-westfälischen Rhein-Sieg-Kreis gehören:
=== Stadtgliederung und -zuordnung ===
Bonn ist eine kreisfreie Stadt mit dem Kraftfahrzeugkennzeichen BN.
Bonn ist nach § 3 der Hauptsatzung in vier Stadtbezirke unterteilt, die aus insgesamt 51 Ortsteilen bestehen. Jeder Stadtbezirk verfügt über eine eigene Bezirksvertretung mit einem Bezirksbürgermeister. Daneben besteht die Stadt aus 65 statistischen Bezirken, die teilweise den Ortsteilen im Namen und der Größe ähnlich sind. Zusätzlich wird Bonn von der städtischen Statistikstelle in neun Stadtteile aufgeteilt: Bonner Zentrumsbereich, Bonn-Südwest, Bonn-Nordwest, Bundesviertel, Godesberger Zentrumsbereich, Godesberger Außenring, Beueler Zentrumsbereich, Beueler Außenring und Hardtberg.Auf dem Gebiet der Stadt Bonn bestehen 21 Gemarkungen in den Grenzen ehemaliger Gemeinden.
Bonn gehört dem Regierungsbezirk Köln an. Die Bezirksregierung mit Sitz in Köln übt als Landesmittelbehörde die Kommunalaufsicht u. a. über den Haushalt der Stadt Bonn aus. Ferner übt die Bezirksregierung die Schulaufsicht über die Schulen Bonns aus.
Weiterhin gehört Bonn dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) mit Sitz ebenfalls in Köln an. Der LVR nimmt als Teil der kommunalen Selbstverwaltung für Bonn u. a. Aufgaben im Bereich sozialer Einrichtungen, zum Beispiel die Trägerschaft von Fach- und insbesondere psychiatrischen Krankenhäusern oder Förderschulen für behinderte Kinder, wahr. Weiterhin werden zum Beispiel die Aufgaben der Denkmalpflege für Bonn durch den LVR wahrgenommen.
=== Siedlungsgeographie und Raumplanung ===
Bonn bildet den südlichen Rand der Metropolregion Rhein-Ruhr, die als ein polyzentrischer Verdichtungsraum in Nordrhein-Westfalen verstanden wird und sich entlang den namensgebenden Flüssen Rhein und Ruhr erstreckt. Die Metropolregion Rhein-Ruhr umfasst ein Gebiet von etwa 7.000 km² mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, zählt zu den fünf größten Metropolregionen Europas und ist unter den elf Metropolregionen in Deutschland die bevölkerungsreichste. Sie liegt zudem mitten im zentralen europäischen Wirtschaftsraum, der sogenannten Blauen Banane. Zum Verdichtungsraum Bonn zählen Teile der rechtsrheinischen Städte Sankt Augustin und Königswinter.
=== Klima ===
Großräumig betrachtet gehört Bonn zum atlantisch-maritimen Klimabereich, d. h. das Klima ist mild sowie allgemein warm und gemäßigt. „Cfb“ lautet die Köppen-Geiger-Klassifikation.
Dies bedeutet schneearme Winter mit durchschnittlich 56 Frosttagen (niedrigste Temperatur unter 0 Grad Celsius) und nur zehn Eistagen (Tageshöchsttemperatur unter 0 Grad) bei einer durchschnittlichen Januartemperatur von 2,0 Grad. Die mittlere Temperatur im Juli liegt bei 17,6 Grad Celsius, die durchschnittliche Jahrestemperatur bei 10,0 Grad. Somit zählt Bonn zu den wärmsten Regionen Deutschlands. Entsprechend früh setzen die Blützeiten im Frühling ein.
Bezüglich der Niederschläge liegt Bonn im Regenschatten der südlich angrenzenden Mittelgebirgslandschaft. Während die Stadt einen mittleren Jahresniederschlag von nur 742 Millimetern aufweist, liegen die jährlichen Niederschläge in der Eifel bei über 800 Millimetern.
Belastend auf die Menschen wirkt sich die stets hohe relative Luftfeuchtigkeit aus. Mit durchschnittlich 35 schwülen Tagen liegt Bonn weit vor anderen deutschen Städten. Im Volksmund wird hierbei vom „Bonner Reizklima“ gesprochen. Bonner wissen, dass dieser Effekt in der tiefsten Stadtlage, in einem ehemaligen Rheinarm, im Gebiet um den Hauptbahnhof, am stärksten wahrgenommen werden kann.
Für die übermäßige Schwüle ist unter anderem die unzureichende Luftbewegung im Talkessel verantwortlich, da die meist aus dem Westen stammende Frischluft durch die nördlichen Ausläufer der Eifelberge abgebremst wird. Der Talkessel ergibt sich aus der Topografie: In Bonn endet das Untere Mittelrheintal, das hier in die Kölner Bucht übergeht. Die geringe Luftbewegung beeinflusst wiederum die innerstädtische Erwärmung, so dass die Temperaturen innerhalb des Stadtgebietes beispielsweise im Juli durchschnittlich 3 bis 5 Grad Celsius höher liegen als im Umland.
In den Wintermonaten und während der Schneeschmelze tritt der Rhein häufig über seine Ufer. Bei Überschwemmungen sind insbesondere Straßen und Häuser in den Stadtteilen Mehlem (linksrheinisch) und Beuel (rechtsrheinisch) gefährdet.
Das regionale Klima mit den Besonderheiten, im Winter schneearm und im Sommer schwül, sorgt auch für typisch lakonische Bonner Redensarten, wie das bekannte: „Entweder es regnet, oder die Schranken sind runter.“
== Name ==
Die erste Erwähnung des römischen Ortes Bonna stammt aus den Historien des Tacitus und bezieht sich auf das Jahr 96 n. Chr. Aus dem römischen Ortsnamen ist der heutige Name der Stadt Bonn direkt abzuleiten. Allerdings war die Entwicklung nicht kontinuierlich. So wurde die Stadt im Mittelalter phasenweise als Bern beziehungsweise latinisiert als Verona bezeichnet, was historische Stadtsiegel belegen. Die erste Erwähnung als oppidum Bonnense, also als „Stadt Bonn“, stammt aus dem Jahr 1211.
== Geschichte ==
=== Chronologie ===
Im Jahr 1989 feierte Bonn seinen 2000. Geburtstag. Die Stadt erinnerte damit an die Errichtung eines ersten befestigten römischen Lagers am Rhein 12 v. Chr., nachdem bereits 38 v. Chr. der römische Statthalter Agrippa an der Stelle Ubier angesiedelt hatte. Doch lebten im Bereich des heutigen Stadtgebietes schon sehr viel früher Menschen. Davon zeugen das 14.000 Jahre alte Doppelgrab von Oberkassel sowie ein Graben und Holzpalisaden, die im Bereich des Venusberges nachgewiesen wurden und aus der Zeit um 4080 v. Chr. stammen.
War in der Zeit vor Christi Geburt die römische Präsenz in Bonna noch bescheiden, so sollte sich das nach der Niederlage der Römer in der Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. ändern. In den folgenden Jahrzehnten wurde hier eine Legion stationiert, die im nördlichen Bereich des heutigen Bonn das Legionslager Bonn errichtete. Um das Lager herum und südlich davon entlang der heutigen Adenauerallee siedelten Händler und Handwerker in einem vicus.
Mit dem Ende des römischen Reiches ging der Niedergang Bonns in der Spätantike und im Frühmittelalter einher. Während der Raubzüge der Wikinger in den Rheinlanden wurde Bonn 882 zweimal gebrandschatzt und 883 die soeben wieder aufgebaute Stadt ein weiteres Mal von den Normannen überfallen, gebrandschatzt und ausgeplündert.
In fränkischer Zeit und endgültig im 9. und 10. Jahrhundert entwickelte sich im Bereich des Bonner Münsters ein geistliches Zentrum, die Villa Basilika, und im Bereich des heutigen Marktes eine Marktsiedlung. 1243 gilt als das Jahr der Verleihung vollständiger Stadtrechte.Große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stadt hatte der Ausgang der Schlacht bei Worringen im Jahr 1288. Die Kölner Kurfürsten machten Bonn – neben Brühl und Poppelsdorf – zu einem ihrer Wohnsitze und schließlich zu ihrer Residenz. Die von den Kurfürsten im 17. und 18. Jahrhundert erbauten prunkvollen Paläste verliehen der Stadt ihren barocken Glanz.
Mit der Besetzung durch französische Truppen am 8. Oktober 1794 endete diese Epoche. Es folgten knapp zwei Jahrzehnte der Besatzung durch die Truppen Napoleons. Die Besatzungsabgaben an Lebensmitteln, Kleidung und Unterkünften sowie der Verlust der kurfürstlichen Landesverwaltung führten zu einer Verarmung der Bevölkerung und einer Abnahme der Einwohnerzahl um rund 20 %. Die Franzosen brachten ein bürgerliches Gesetzbuch (Code civil) und kommunalpolitische Munizipalverfassung nach Bonn. Noch unter französischer Besatzung kam es zur Ansiedlung mittlerer und größerer Industriebetriebe, insbesondere aus der Textilindustrie. Die Franzosen betrieben zudem eine konsequente Säkularisation: Liegenschaften des geistlichen Kurstaates, vor allem die kurfürstlichen Bauten, gelangten in staatlichen Besitz. Rechtsrheinische Gebiete des heutigen Bonn in Vilich kamen in den Besitz des Fürsten von Nassau-Usingen: Oberkassel gehörte zum Herzogtum Berg, einem französischen Satellitenstaat. Durch den Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 1801 wurde auch bei Bonn der Rhein zur französischen Ostgrenze. Bonn wurde Sitz einer Unterpräfektur im neugebildeten Rhein-Mosel-Departement.
Nach den Niederlagen der französischen Armee in Russland (1812) und bei der Völkerschlacht bei Leipzig räumten die Franzosen im Januar 1814 Bonn.
Im Zuge der Beschlüsse des Wiener Kongresses fiel Bonn 1815 an Preußen. Die Stadt wurde in den nächsten Jahrzehnten geprägt von der am 18. Oktober 1818 durch die preußische Regierung neugegründeten Universität. Stifter und Namensgeber war König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Ende des 18. Jahrhunderts hatte es in Bonn eine Universität gegeben, die mit der französischen Besatzung 1794 geschlossen wurde. Die preußische Neugründung schloss nicht an die Hochschule aus kurfürstlicher Zeit an, sondern war Teil eines Gründungsprogramms, zu dem die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau gehörte. Der Zusatz Rheinische im Namen der Bonner Hochschule sollte sie als Schwester der Berliner und Breslauer Universitäten ausweisen. Tatsächlich wurde sie in den folgenden 100 Jahren der bevorzugte Studienort der Hohenzollern-Prinzen. Man nannte sie auch „Prinzenuniversität“, weil sowohl der damalige preußische Prinz Friedrich Wilhelm, sein Sohn Prinz Wilhelm, sowie auch dessen vier Söhne dort studierten. Auch andere Söhne hochadeliger Familien bevorzugten im 19. Jahrhundert ein Studium an jener Universität. Vor der Gründung in Bonn war Köln der Rivale für eine Universitätsgründung gewesen. Den Ausschlag gab wohl, dass die „aufgeklärte Tradition“ Bonns gegenüber dem „heiligen Köln“ für eine konfessionell paritätische Hochschule besser geeignet erschien. Aber auch rein praktische Gründe sprachen für Bonn: Mit dem alten kurfürstlichen Schloss und dem Poppelsdorfer Schloss gab es bereits geeignete Liegenschaften.
Professoren, Studenten, Beamte und Offiziere kamen ab 1815 nach Bonn. Darunter zahlreiche Protestanten aus den preußischen Provinzen, was im „katholischen“ Rheinland eine Besonderheit darstellte. Die Preußen machten Bonn auch zur Garnisonsstadt. Im Zuge dessen wurde Bonn auch als Ruhesitz von Militärs beliebt. Auch der Fremdenverkehr erhielt nach der Reichsgründung 1871 im Zuge der „Rheinromantik“ jener Jahre einen Aufschwung.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt zunächst von Kanadiern, dann von Briten und schließlich bis 1926 von Franzosen besetzt.
Mehr als 1.000 Bonner, zum Großteil Bürger jüdischer Abstammung wurden während der Zeit des Nationalsozialismus ermordet (Holocaust). Etwa 8000 Personen mussten ihre Heimatstadt verlassen, wurden verhaftet oder in Konzentrationslagern eingesperrt. Als am 9. März 1945 mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen für Bonn der Zweite Weltkrieg beendet wurde, lag der Zerstörungsgrad der Gebäude bei 30 Prozent. Von diesen waren 70 Prozent leicht bis schwer beschädigt und 30 Prozent vollkommen zerstörte Wohngebäude. Mehr als 4000 Bonner waren bei Bombenangriffen gestorben. Am 28. Mai 1945 wurde Bonn Teil der britischen Besatzungszone, anschließend bestand von 1949 bis 1955 die Enklave Bonn.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt einen rasanten Auf- und Ausbau, besonders nach der Entscheidung für Bonn als vorläufiger Regierungssitz der neuen Bundesrepublik Deutschland statt Frankfurt am Main am 29. November 1949 (siehe Hauptstadtfrage der Bundesrepublik Deutschland). – Infolge des mit dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Berlin/Bonn-Gesetz) verbundenen Wegzugs von Parlament, Teilen der Regierung, einem großen Teil der diplomatischen Vertretungen und vieler Lobbyisten sowie der Privatisierung der Bundespost hat die Stadt zum Jahrtausendwechsel erneut einen Wandel durchgemacht. Die verbliebenen Ministerien, hinzugezogene Bundesbehörden, Verwaltungszentralen großer deutscher Unternehmen, internationale Organisationen und Institutionen der Wissenschaft und der Wissenschaftsverwaltung sind die Träger dieses Strukturwandels, der bisher als erfolgreich gewertet wird und bis heute andauert.
=== Eingemeindungen ===
Die Stadt Bonn wurde mehrmals durch Eingemeindungen vergrößert. Um 1900 war Bonn stark gewachsen. In der Folge wurden am 1. Juni 1904 die Orte Poppelsdorf, Endenich, Kessenich und Dottendorf eingemeindet, mit denen Bonn baulich zusammengewachsen war.
Durch die mit dem Gesetz zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn („Bonn-Gesetz“) einhergehende Gebietsreform vom 1. August 1969 wurde die Einwohnerzahl der Stadt etwa verdoppelt und der Siegkreis mit dem Landkreis Bonn zum Rhein-Sieg-Kreis zusammengelegt. Die einst selbstständigen Städte Bad Godesberg und Beuel und die Gemeinde Duisdorf wurden eigene Stadtbezirke von Bonn.
Der auf der rechten Rheinseite gelegene Stadtbezirk Beuel erhielt zusätzlich die Ortschaften Holzlar, Hoholz und das Amt Oberkassel zugeschlagen, die bis dahin zum Siegkreis gehörten. Bonn selbst wurde um die Orte Ippendorf, Röttgen, Ückesdorf, Lessenich/Meßdorf und Buschdorf des ehemaligen Landkreises Bonn erweitert, Lengsdorf und Duisdorf bildeten zusammen mit einigen Neubaugebieten den Stadtbezirk Hardtberg.Die Stadt Bad Godesberg hatte zuvor ihrerseits mehrere Orte eingemeindet. Bereits 1899 waren Plittersdorf und Rüngsdorf zu Godesberg gekommen, 1904 kam noch Friesdorf hinzu, womit Bad Godesberg faktisch bereits mit Bonn zusammengewachsen war. Im Jahr 1915 war Bad Godesberg nach Südwesten aus dem Tal hinausgewachsen, so dass Muffendorf eingemeindet wurde. Am 1. Juli 1935 wurden Lannesdorf und Mehlem Stadtteile von Bad Godesberg.
== Bevölkerung ==
=== Einwohnerentwicklung ===
Mit 336.465 (31. Dezember 2022) gehört Bonn zu den mittleren Großstädten und zu den zehn größten Städten in Nordrhein-Westfalen und ist ein Oberzentrum.
Die Einwohnerzahl der Stadt Bonn überschritt 1934 erstmals die 100.000-Grenze, womit sie von einer Mittel- zur Großstadt wurde. Durch Eingemeindungen verdoppelte sich die Einwohnerzahl bis 1969. Im Vorfeld des Regierungswegzuges kam es zwischen 1992 und 1995 zu einem leichten Bevölkerungsrückgang, der zeitnah ausgeglichen wurde.
Heute gehört Bonn zu den Großstädten in Deutschland mit nach wie vor wachsender Einwohnerzahl – laut Bevölkerungsprognose des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen wird Bonn im Jahre 2025 etwa 342.232 Einwohner haben. Die Nachfolgeprognose für 2030 sagt für Bonn eine Einwohnerzahl von 351.801 voraus, womit Bonn zur siebtgrößten Stadt in Nordrhein-Westfalen würde. Da im Bereich des Stadtgebietes nur noch vergleichsweise wenig bebaubare Flächen vorhanden sind, ist nicht sicher, dass ein solcher Anstieg der Einwohnerzahlen tatsächlich realisiert werden kann, so dass die Umlandgemeinden das Wachstum aufnehmen müssten.
Am 1. Januar 2019 zählten 330.244 Einwohner zur wohnberechtigten Bevölkerung Bonns. Der Anteil an Frauen lag am Stichtag bei 51,7 Prozent, jener der Männer bei 48,3 Prozent. Das Durchschnittsalter lag bei 41,9 Jahren. Der prozentuale Ausländeranteil (melderechtlich registrierte Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit) bezifferte sich am 1. Januar 2019 auf 16,9 Prozent (55.704 Personen), während der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 29,3 Prozent (96.919 Personen) lag. Die Zuwanderer stammten aus 177 Ländern. Zu den größten Ausländergruppen zählten Personen aus der Türkei (8.319 Personen bzw. 8,6 Prozent), aus Syrien (7.846 Personen bzw. 8,1 Prozent), Polen (7.218 Personen bzw. 7,4 Prozent) und Marokko (5.742 Personen bzw. 5,9 Prozent). Zum 7. Dezember 2016 lebten 3.017 Asylbewerber und Flüchtlinge aus über 40 Nationen in Bonn; rund ein Drittel der von der Stadt untergebrachten Flüchtlinge stammt aus Syrien.
=== Konfessionsstatistik ===
Am 31. Dezember 2022 waren 29,6 % der Bonner Bevölkerung römisch-katholisch, 16,8 % evangelisch und 11,5 % islamisch. 3,4 % gehörten einer sonstigen sowie 38,7 % keiner Glaubensgemeinschaft an. Drei Jahre vorher bekannten sich 33,2 % der Bonner Bevölkerung katholisch, 18,6 % evangelisch und 10,8 % islamisch. 3,4 % gehören einer sonstigen sowie 33,9 % keiner Glaubensgemeinschaft an.
=== Christentum ===
Bonn ist das Zentrum der Altkatholischen Kirche in Deutschland – Bonn ist ihr Bischofssitz – und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland – Bonn ist Sitz des Metropoliten.
=== Dialekt ===
Der Bonner Dialekt ist das ripuarische Bönnsch, ein mittelfränkischer Dialekt, der sich vom eng verwandten Kölsch neben einigen Vokabeln durch den ausgeprägteren Singsang, Weichheit von Konsonanten (im Gegensatz zum sehr harten Aachener Dialekt zum Beispiel) und die gemächlichere Sprechgeschwindigkeit unterscheidet. Belegt ist dies durch den in Köln geborenen Schriftsteller Ludwig Verbeek, der bis zu seinem Tode im Jahr 2020 in Bonn lebte und zu diesem Thema anmerkte:
Im Gegensatz zum selbstbewussten Köln der Handwerker war es in „vornehmen“ Kreisen der Residenz- und Universitätsstadt Bonn verpönt, Dialekt zu sprechen, daher ist das Bönnsch im Alltagsleben nicht mehr so präsent wie das Kölsch in Köln. Der hohe Anteil Zugezogener (Imis) tat sein Übriges. Bekannt für seine Behandlung des bönnschen Dialekts ist der Kabarettist Konrad Beikircher, der nicht in Bonn, sondern in Südtirol geboren wurde und seit seiner Studienzeit in Bonn lebt.
Charakteristisch für Bönnsch sind die rheinische Schärfung, das Verschlucken von Endungen (Beispiel: „Bonner“ = Bönne), das Transformieren des „g“ zu „j“ (Beispiele: „der liebe Gott“ = de liwe Jott oder gut = joot), Verniedlichung mit der Endung -(s)che(n) (Beispiel: „Schnitte“ = Schnittschen oder Hund = Hündsche oder „Straßenkehrer“ = Kehrmännsche), sowie die Transformation des „ch“ oder „g“ zu „sch“ (Beispiele: „Kirche“ = Kirsche oder „Siegburg“ = Sieschbursch (im Volksmund „die Stadt mit den drei s“) oder „Technik“ = Teschnik). Darüber hinaus gibt es zahlreiche lokale Wortschöpfungen, die Zugereiste vor Probleme stellen können: Ein Käsebrötchen ist ein Halwe Hahn, ein Fass Bier wird Pittermännsche genannt oder ein Roggenbrötchen wird zum Röggelsche. Aus „Zeit“ wird Zigg, „weiter“ heißt hierzulande wigger, „erzählen“ wird zu verzelle oder „ziehen und drücken“ wird zu trecke un deue. Ein Karnevalist ist ein Jeck und wenn jemand sich seltsam oder lustig verhält, dann auch als Attribut wat is der jeck (jeckisch). Touristen werden auf der Speisekarte über ein Himmel und Ärd stolpern, ein Pfannengericht von Blut- und Leberwurst. Ein erfreuter Bonner könnte „Nä, wat is dat schön!“ äußern.
Eine Besonderheit, vorzugsweise in der älteren Bevölkerung, ist oder war die Verwendung von Wörtern französischen Ursprungs: Der Polizist kann auch ein Gendarm sein und der Tunnel wird durch Dehnung zum Tunnell. Der Bürgersteig ist ein Trottowar (von Französisch le trottoir), der Regenschirm ein Parraplü (fr le parapluie), das Plümmo ist ein Federbett (fr la plume = die Feder; le plumeau heute belegt als Federbesen, Staubwedel) und eine Taat (fr une tarte) ist ein Kuchen vom Blech, Beispiel Prummetaat (Pflaumenkuchen) und etwas aus dem Stegreif machen heißt us de Lamäng (fr la main = die Hand).
=== Persönlichkeiten ===
==== Mit Bonn verbundene Personen ====
An der Mauer des Jüdischen Friedhofs im Bonner Norden befindet sich ein Grabrelief des ersten namentlich bekannten Bonners, eines römischen Legionärs, der 35 n. Chr. aus Gallien kam. Die Inschrift lautet, aus dem Lateinischen übersetzt: „Dem Publius Clodius, Sohn des Publius, aus dem Stammbezirk Voltinia (in etwa heutige Provence), geboren in Alba (A. Helviorium, heute Alba-la-Romaine), Soldat der 1. Legion, 48 Jahre alt, mit 25 Dienstjahren [verstorben]. Er liegt hier begraben.“Unangefochten angeführt wird die Bonner Prominentenliste von dem Komponisten Ludwig van Beethoven. Sein Geburtshaus in der Bonngasse besuchen Jahr für Jahr viele tausend Touristen aus der ganzen Welt. Neben Beethoven wurden weitere Musiker in Bonn geboren oder haben dort ihre Heimat gefunden. Dazu zählen Andrea Lucchesi und Johanna Kinkel. Der Komponist Robert Schumann verbrachte seine letzten Lebensjahre in der damaligen Nervenheilanstalt (heute Schumannhaus) im heutigen Bonner Stadtteil Endenich und ist auf dem Alten Friedhof begraben.
Der italienische Dichter und Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello (1867–1936) studierte in Bonn. Von ihm ist die folgende Hommage überliefert:
Bonn als Geburtsort angeben können folgende Maler: Bernhard Gotfried Manskirsch, Peter Joseph Manskirsch und Peter Paul Manskirsch.
Wohnort war und ist Bonn für andere Künstler. Dazu zählte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg August Macke. Heute leben und arbeiten in der Stadt Autoren wie Lars Brandt und Akif Pirinçci.
Seit mehr als 200 Jahren hat die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn dazu beigetragen, dass eine große Zahl von Forschern, Lehrern und Studenten am Rhein ansässig geworden ist. Dazu gehören Ernst Moritz Arndt, August Wilhelm Schlegel, Clemens-August von Droste zu Hülshoff, Carl Schurz, Heinrich Hertz und – in neuerer Zeit – die Nobelpreisträger Wolfgang Paul und Reinhard Selten. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) war von 1959 bis 1963 Professor für Fundamentaltheologie in Bonn.
Neben berühmten Musikern und Wissenschaftlern wurden eine Reihe politischer Prominenter in den vergangenen Jahrzehnten am Rhein geboren oder wurden zu (Wahl-)Bonnern. Gebürtige Bonnerin ist Heide Simonis, Wahlbonner sind unter anderem der langjährige Arbeitsminister Norbert Blüm, der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sowie der ehemalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement.
Zu den namhaften Medienschaffenden mit Geburtsort Bonn gehören Moderator Johannes B. Kerner, Publizist Roger Willemsen, Comedian Luke Mockridge, Sängerin Natalie Horler, Schauspielerin Silke Bodenbender.
==== Ehrenbürger ====
Siehe auch: Liste der Ehrenbürger von Bonn
== Politik ==
Sitz der Stadtverwaltung war jahrelang das im 18. Jahrhundert erbaute Rathaus am Markt, bis er aufgrund der 1969 vollzogenen Eingemeindungen 1978 ins Stadthaus in der Nordstadt verlegt wurde. Die jeweiligen Bonner Oberbürgermeister haben ihren offiziellen Sitz weiterhin im Rathaus am Markt.
=== Stadtoberhäupter ===
An der Spitze der Verwaltung und Gerichtsbarkeit Bonns standen im 12. Jahrhundert der Vogt und die zwölf Schöffen des Landesherrn. Seit 1331 sind zwei burgermeistere, später ein rat bezeugt. In einer Urkunde vom 24. Juli 1550 wurden zum ersten Mal die Zwölfter genannt, als „die zwoelf vann der gemeynden“, die eine Kontrollfunktion innehatten. Sie vertraten nicht nur die Zünfte, sondern die ganze Gemeinde. Die Bürgermeister wurden vom Rat gewählt, der Rat von den Zünften und der Zwölfter von den Gemeinden. Im Salentinischen Vertrag von 1569 wurde verordnet, dass die Stadt von zwei Scheffelbürgermeisteren und zwei Ratsbürgermeisteren verwaltet werden soll, von denen jeweils einer als Regierender Bürgermeister die Geschäfte führte. Der Rat wurde auf 15 Schöffen vergrößert. Zusammensetzung und Kompetenzen des Rates veränderten sich später mehrmals.
In der Zeit der französischen Besetzung ab 1794 wurde für den Bürgermeister die Bezeichnung Maire eingeführt. Nachdem die Franzosen aus der Stadt abgerückt waren, wurde am 25. Februar 1814 die französische Bezeichnung Maire durch den Titel Oberbürgermeister ersetzt. Anton Maria Karl Graf von Belderbusch hatte seit 1804 das Amt des Maire inne und war ab 1814 erster Oberbürgermeister der Stadt.
In preußischer Zeit nach 1815 wurde Bonn Sitz eines Landkreises. An der Spitze der Stadt stand ab 1815 ein Oberbürgermeister, weiterhin gab es einen Rat.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Einige Straßen und Plätze wurden nach dem Gusto der Machthaber umbenannt: So wurde der heutige Konrad-Adenauer-Platz von 1934 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz genannt. Der Reichskanzler Adolf Hitler wurde 1933 Ehrenbürger der Stadt (aberkannt 1945; 1983 bestätigt).
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und führte 1946 die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen von den Bürgern gewählten Rat der Stadt. Der wählte aus seiner Mitte den ehrenamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt und einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1996 wurde in Nordrhein-Westfalen die Doppelspitze in den Stadtverwaltungen aufgegeben. Der Oberbürgermeister wird nun direkt gewählt. Er ist als hauptamtlicher Oberbürgermeister Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt. In der Funktion als Repräsentant wird der Oberbürgermeister in Bonn von vier Bürgermeistern vertreten. Die erste Direktwahl 1999 gewann Bärbel Dieckmann in der Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Helmut Stahl, 2004 wurde sie im ersten Wahlgang im Amt bestätigt. Dieckmann kandidierte bei der Wahl 2009 nicht wieder. Zu ihrem Nachfolger wurde Jürgen Nimptsch (SPD) gewählt, der sich mit 40,9 Prozent gegen den CDU-Kandidaten Christian Dürig durchsetzte. Die Stichwahl war zuvor durch die Landesregierung NRW abgeschafft worden. Im September 2015 gewann bei der anstehenden Neuwahl Ashok-Alexander Sridharan (CDU) vor den Gegenkandidaten Peter Ruhenstroth-Bauer (SPD) und Tom Schmidt (Grüne). Der bisherige Amtsinhaber Nimptsch trat nicht mehr zur Wiederwahl an. Sridharan wurde am 21. Oktober 2015 vereidigt und in sein Amt eingeführt. Zeitgleich mit den Kommunalwahlen am 13. September 2020 fand die Oberbürgermeisterwahl in Bonn statt, bei der keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit erzielte. In der Stichwahl am 27. September 2020 unterlag Amtsinhaber Sridharan gegen die grüne Herausforderin Katja Dörner. Ihre Vereidigung und Amtseinführung als Oberbürgermeisterin fand am 5. November 2020 statt.
=== Stadtrat ===
Der Rat der Stadt Bonn wurde am 13. September 2020 im Rahmen der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen von den stimmberechtigten Bürgern Bonns gewählt und umfasst 66 Mitglieder.
Gegenwärtig regiert in Bonn eine Koalition aus Grüne, SPD, Linke und Volt. Diese sogenannte „Traubenkoalition“ stellte am 17. Januar 2021 ihren Koalitionsvertrag vor, der durch die Mitglieder der jeweiligen Parteien bestätigt wurde und am 30. Januar 2021 in Kraft trat. In der vergangenen Wahlperiode 2014 bis 2020 hatten sich CDU, Grüne und FDP (Schwarz-Grün-Gelb) zu einer Koalition zusammengeschlossen. In der vergangenen Ratsperiode von 2009 bis 2014 bildeten CDU und Grüne eine schwarz-grüne Koalition.
=== Dezernate und Ämter der Stadt Bonn ===
Die Stadtverwaltung gliedert sich in Dezernate, denen die städtischen Ämter nach Ressorts unterstehen:
Dezernat Oberbürgermeister
Dezernat I – Allgemeine Verwaltung und Ordnung
Dezernat II – Finanzen, Recht und Gesundheit
Dezernat III – Planung, Umwelt und Verkehr
Dezernat IV – Sport und Kultur
Dezernat V – Schule, Soziales und Jugend.Die Dezernate I bis V werden von einem Stadtdirektor, der zugleich Vertreter des Oberbürgermeisters ist, einem Stadtkämmerer und drei weiteren Beigeordneten geleitet. Sie sind hauptamtlich tätig und werden vom Bonner Stadtrat gewählt.
=== Wahlen ===
==== Landtagswahlen ====
Fünf Abgeordnete vertreten die Bundesstadt Bonn in dem am 15. Mai 2022 gewählten Landtag von Nordrhein-Westfalen. Direkt gewählte Mitglieder sind Guido Déus im Wahlkreis 29 (Bonn I) und Christos Georg Katzidis (beide CDU) im Wahlkreis 30 (Bonn II). Über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen sind Tim Achtermeyer und Julia Höller in den Landtag eingezogen. Über die Landesliste der FDP ist Joachim Stamp in den Landtag eingezogen, Stamp war vom 30. Juni 2017 bis zum 28. Juni 2022 zudem stellvertretender Ministerpräsident und Familienminister des Landes Nordrhein-Westfalen.
==== Bundestagswahlen ====
Bonn bildet den Bundestagswahlkreis Bonn (96). Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Wahlkreis durch Katrin Uhlig erstmals von den Grünen gewonnen. Über die jeweiligen Landeslisten ihrer Parteien wurden Jessica Rosenthal (SPD) und erneut wie 2017 Alexander Graf Lambsdorff (FDP) in den Deutschen Bundestag gewählt.Der bisherige Wahlkreisabgeordnete Ulrich Kelber (SPD) hatte bereits am 6. Januar 2019 sein Mandat niedergelegt und wurde Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.
=== Haushalt ===
Der Haushalt der Bundesstadt Bonn sieht im Ergebnisplan Erträge (Einnahmen) von 1.347.590.857,81 Euro im Jahr 2020 vor. Dem stehen Aufwendungen (Ausgaben) von 1.393.266.063,48 Euro gegenüber. Das Haushaltssaldo ist mit einem Wert von −45.675.205,67 Euro negativ.
Am 24. Juni 2021 hat der Rat der Bundesstadt Bonn den Doppelhaushalt für die Jahre 2021/2022 beschlossen. Zudem hat der Rat der Bundesstadt Bonn eine mittelfristige Finanzplanung für die Jahre 2020 bis 2025 sowie die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 beschlossen. Die mittelfristige Finanzplanung sieht in den Jahren 2021, 2023 und 2024 jeweils Überschüsse im einstelligen Millionenbereich vor (2021: 4,0 Millionen Euro; 2023: 5,2 Millionen Euro; 2024: 1,2 Millionen Euro). Finanzielle Defizite sind in den Jahren 2022 (−33,9 Millionen Euro) und 2025 (−9,0 Millionen Euro) laut mittelfristiger Finanzplanung vorgesehen. Die Bezirksregierung Köln als Aufsichtsbehörde hat den Doppelhaushalt 2021/2022 der Bundesstadt Bonn und die dritte Fortschreibung des Haushaltssicherungskonzeptes bis 2024 ohne Änderungen genehmigt.Die Verschuldung der Bundesstadt Bonn beträgt im Jahr 2021 2,0 Milliarden Euro. Anfang Januar 2021 war jeder Einwohner Bonns mit einem statistischen Wert von 6050 Euro verschuldet.
=== Hoheitssymbole ===
Die Stadt Bonn führt laut Hauptsatzung ein Wappen, eine Flagge und ein Dienstsiegel. Ferner verwendet die Stadt Bonn für die Öffentlichkeitsarbeit ein Logo.
==== Wappen ====
Am 4. März 1971 beschloss der Rat der Stadt Bonn aufgrund des Gesetzes zur kommunalen Neugliederung des Raumes Bonn (Bonn-Gesetz) die Einführung eines neuen Wappens, das bis heute Bestand hat.
Ein mittelalterliches steinernes Abbild des Wappentiers wurde im Volksmund „Steinernes Wölfchen“ genannt. Die Skulptur zeigt einen Löwen, der einen Eber schlägt. Der Kopf des Löwen ist nicht mehr vorhanden, so dass es unklar bleibt, ob er, wie der Löwe im heutigen Wappen, zum Betrachter schaut. Das Steinerne Wölfchen diente als Gerichtssymbol und befand sich vom Frühmittelalter bis zum Ende der kurfürstlichen Zeit auf der Südseite des Münsterplatzes. Heute befindet sich je ein Abguss der Skulptur am Ende der Vivatsgasse sowie im Vestibül des Alten Rathauses. Das Original ist im Bonner Stadtmuseum zu besichtigen.
==== Flagge ====
Die Beschreibung der Flagge lautet gemäß Hauptsatzung der Stadt Bonn: „Die Flagge ist gold(gelb)-rot. Die breite goldene (gelbe) Mittelbahn wird von zwei schmalen roten Bahnen begleitet. Die Flagge zeigt in der Mittelbahn das Wappen.“
==== Logos ====
Seit 2009 verwendet die Stadt Bonn die Dachmarke „Freude. Joy. Joie. Bonn.“ Bei Themen mit Bezug zur Verwaltung wird der dreisprachige Schriftzug „Stadt. City. Ville. Bonn.“ verwendet. Hierbei finden die deutsche, englische und französische Sprache Berücksichtigung. Laut der Stadt Bonn soll mit der Dreisprachigkeit Bonn als deutsche UNO-Stadt und als internationaler Standort hervorgehoben werden.
=== Beziehungen der Stadt Bonn ===
==== Städtepartnerschaften ====
Die Stadt Bonn unterhält seit 1983 eine Städtefreundschaft mit Tel Aviv-Jaffa in Israel und seit 1988 eine Städtepartnerschaft mit Potsdam. Weitere Stadtteilpartnerschaften und Städtefreundschaften, die teilweise vor der Gebietsreform 1969 entstanden sind, bestehen in den einzelnen Stadtbezirken:
Stadtbezirk Bonn: Partnerschaften mit Oxford im Vereinigten Königreich seit 1947 und mit Budafok-Tétény (deutsch Promontor), dem XXII. Bezirk von Budapest in Ungarn seit 1991, sowie eine Städtefreundschaft mit Oppeln in Polen seit 1997 (Kontakte seit 1954)
Stadtbezirk Bad Godesberg: Städtepartnerschaften mit Saint-Cloud in Frankreich seit 1957, mit Frascati in Italien seit 1960, mit Windsor and Maidenhead im Vereinigten Königreich seit 1960 und mit Kortrijk in Belgien seit 1964, sowie seit 1969 eine Städtefreundschaft mit Yalova in der Türkei
Stadtbezirk Beuel: Seit 1969 Partnerschaft mit Mirecourt in Frankreich
Stadtbezirk Hardtberg: Partnerschaft mit Villemomble in Frankreich seit 1967Neben Städtepartnerschaften pflegt Bonn Themen-Projektpartnerschaften. Neben Jugend- und Kulturaustausch besteht teilweise ein Erfahrungsaustausch in den Bereichen Ökologie, Stadtentwicklung und Katastrophenprävention. Projektpartnerschaften bestehen (Stand 2014) mit den Städten Buchara in Usbekistan, Cape Coast in Ghana, Chengdu in der Volksrepublik China, La Paz in Bolivien, Minsk in Belarus und Ulaanbaatar in der Mongolei.
==== Patenschaften ====
Am 26. Oktober 1955 beschloss der damalige Landkreis Bonn die Übernahme der Patenschaft über die frühere kreisfreie Stadt Stolp und den ehemaligen Landkreis Stolp. Am 1. Juli 1956 begann die Patenschaft während des Stolper Bundestreffens in der Stadthalle Bad Godesberg. Nach der Neuordnung des Bonner Raumes beschloss am 21. Mai 1970 der Rat der Stadt Bonn deren Fortführung.Des Weiteren ist die Stadt Bonn namensgebender Pate für den ICE-2-Triebzug Nummer 208, ein Airbus A350 mit der Registrierung D-AIXD der Lufthansa, ein Containerschiff und den Einsatzgruppenversorger Bonn (A 1413) der Marine.
==== Regionale Kooperation ====
Bonn, der Rhein-Sieg-Kreis und der rheinland-pfälzische Landkreis Ahrweiler kooperieren insbesondere seit dem Bonn/Berlin-Beschluss von 1991 eng miteinander, auf politischer Ebene durch den Regionalen Arbeitskreis Entwicklung, Planung und Verkehr Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler (:rak). Die etwa eine Million Einwohner umfassende Region wird häufig „Bonn/Rhein-Sieg“ oder „Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler“ genannt. Der nördliche Teil des Landkreises Neuwied zählt geographisch zum Raum Bonn, im Speziellen die Verbandsgemeinden Unkel, Linz am Rhein und Asbach. Innerhalb der Region bestehen enge wirtschaftliche Verflechtungen, weshalb sich viele in Bonn und den umgebenden Kreisen gemeinsam tätige Verbände gebildet haben. Bereits seit 1993 kooperiert die Stadt ebenfalls mit der Region Köln/Bonn im Region Köln/Bonn e. V. In diesem interkommunalen Zusammenschluss haben sich die kreisfreien Städte Köln, Bonn und Leverkusen mit den fünf Kreisen Rhein-Sieg-Kreis, Rhein-Erft-Kreis, Rhein-Kreis Neuss, Oberbergischer Kreis und dem Rheinisch-Bergischen Kreis vereinigt, um die strukturpolitische Entwicklung der Region Köln/Bonn gemeinsam zu entwickeln. Aus alter Kooperationstradition ist der Landkreis Ahrweiler ständiger Gast in diesem Gremium.
=== Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz ===
Seit 2006 veröffentlicht der Oberbürgermeister der Stadt Bonn unterstützt durch die Verwaltung in der Regel alle drei Jahre einen Nachhaltigkeitsbericht. Der erste Bericht, welcher als Standortbestimmung zu verstehen ist, wurde im Jahr 2006 veröffentlicht. 2016 unterzeichnete die Stadt die Musterresolution des Deutschen Städtetages und des Rates der Gemeinden und Regionen Europas zur 2030-Agenda. Seit dem 30. Januar 2012 existiert im Beschaffungsamt des BMI (BeschA) die im Bundeskanzleramt angesiedelte Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung (KNB). Die Einrichtung der KNB geht auf einen Beschluss des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung vom 21. Oktober 2011 zurück. Die KNB ist die zentrale Anlaufstelle für alle Bundesressorts, Bundesländer, Kommunen und sonstige öffentliche Beschaffungsstellen, wenn es um nachhaltige öffentliche Beschaffung geht. Wichtigste Instrumente der KNB sind zum einen die webbasierte Informationsplattform nachhaltige-beschaffung.info und die Beratung von Beschaffenden im einzelnen Vergabeverfahren. Ebenso siedelten sich 2016 mit dem zentralen Kampagnenbüro für die weltweiten Entwicklungsziele und der Regionalen Netzstelle für Nachhaltigkeitsstrategien zwei weitere wichtige Institutionen in Bonn an.
Am 8. März 2016 erklärte der damalige Bundesminister des Auswärtigen und spätere Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier: (…) Diese Stadt hat sich zur Welthauptstadt für Nachhaltigkeit und Klimaschutz entwickelt. Für Menschheitsaufgaben, die heute drängender sind denn je.“ Das Regionale Informationszentrum der Vereinten Nationen (UNRIC) ergänzt weiter:Bonn ist in gut zwei Jahrzehnten zu einem Zentrum für globale Zukunftsthemen geworden, zu einem Nachhaltigkeits-Hub, dessen Herz die Vereinten Nationen in der Bundesstadt sind.Ashok Sridharan (CDU) damaliger Oberbürgermeister der Stadt Bonn erklärte im Vorwort zum Nachhaltigkeitsbericht 2016–2018, welcher im Juni 2020 erschien: Bonn wird mit dem Themenfeld der Nachhaltigkeit verbunden wie keine andere Stadt in Deutschland. (…) Die Stadt Bonn hat sich der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) in besonderem Maße verpflichtet.Im Juli 2019 rief der Rat der Stadt Bonn nach einem Bürgerantrag wie viele andere Städte den „Klimanotstand“ aus.Dass Nachhaltigkeit in Bonn einen hohen Stellenwert genießt, zeigt auch die große Anzahl an Initiativen in diesem Bereich, etwa das Zentrallager Sachspenden Bonn (ZeSaBo) oder auch die zahlreichen Reparaturcafés.Am 10. und 11. September 2021 fand veranstaltet vom Verein Bonn im Wandel e. V. im Schauspielhaus in Bad Godesberg das „1. Bonner Klimaforum – Zukunftsbilder für ein lebenswertes und klimaneutrales Bonn 2035“ statt. Das 2. Bonner Klimaforum wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf den 10. und 11. Juni 2022 verschoben.
== Architektur, Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Architektur ===
==== Historische Bauwerke ====
Am Marktplatz liegt das ab 1737 im Stil des Rokoko erbaute Alte Rathaus, eines der Wahrzeichen der Stadt. In direkter Nachbarschaft des Rathauses befindet sich die ehemalige Hauptresidenz der Kölner Kurfürsten, das Kurfürstliche Schloss – heute das Hauptgebäude der Bonner Universität.
Die mit Kastanien bepflanzte Poppelsdorfer Allee verbindet das Kurfürstliche Schloss mit dem Poppelsdorfer Schloss, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erholungsort der Kurfürsten erbaut wurde. Unterbrochen wird diese Achse durch die Bahnstrecke mit dem Hauptbahnhof, dessen 1883/84 errichtetes Empfangsgebäude heute unter Denkmalschutz steht. Auf dem Bahnhofsvorplatz befand sich ab den 1970er-Jahren bis 2019 das umstrittene Bonner Loch, das seitdem durch das Projekt „Urban Soul“ ersetzt wurde.
Zwischen dem Kurfürstlichen Schloss und dem Rhein liegt der Alte Zoll, eine Bastion des ehemaligen Festungsrings. Seine exponierte Lage bietet einen bilderbuchähnlichen Blick auf den Rhein und das Siebengebirge genau am Übergang vom Mittelrhein in die Kölner Bucht.
Das Sterntor, das ursprünglich an der Mündung der Sternstraße auf den Friedensplatz stand, wurde wegen des Baus der Straßenbahn durch die Sternstraße um 1900 abgebaut und in stark abgewandelter Form unter Einbeziehung eines Rests der Stadtmauer einige Meter versetzt am Bottlerplatz wieder aufgebaut.
Oberhalb von Bad Godesberg steht die Ruine der vermutlich in ihrem Ursprung zuerst als Fluchtburg von den Franken erbauten Godesburg. Das Godesberger Rathaus besteht aus sechs verbundenen Gebäuden, die 1790 bis 1792 durch Kurfürst Max Franz als Logierhäuser für Kurgäste erbaut wurden. Das 1790 bis 1830 erbaute ehemalige kurfürstliche Kammertheater Haus an der Redoute ist heute Außenstelle des Kunstmuseums.
==== Bauwerke in Bundes-Bonn ====
===== Ausgewählte Bauwerke =====
Aufgrund der Vielzahl der zeitgeschichtlich bedeutenden Bauwerke wurde für die Besucher Bonns Informationsstationen am Geschichtsrundweg Weg der Demokratie anlegt. Der Weg der Demokratie ist ein Rundweg, der an mehreren historischen Gebäuden des ehemaligen Regierungsviertels vorbei durch das heutige Bundesviertel, insbesondere den Ortsteil Gronau, führt. Der Pfad wurde am 21. Mai 2004 eröffnet und ist ein Projekt des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesstadt Bonn. Das Konzept wurde unter Leitung von Dietmar Preißler, dem Sammlungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte entwickelt.
Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig (ZFMK) ist am Weg der Demokratie die Keimzelle der Demokratie nach 1945. Es ist zwar keine Liegenschaft des Bundes, sondern es ist ein Naturkundemuseum und eine Stiftung des öffentlichen Rechts des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Museumsgebäude befindet sich direkt an der Bundesstraße 9 am Rande des Bundesviertels, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz und ist eine Station des Geschichtsrundwegs Weg der Demokratie, weil am 1. September 1948 in der großen Halle des Museums der Festakt zum Zusammentritt des Parlamentarischen Rates stattfand.
Ein Kernbauwerk der alten Bundeshauptstadt ist das Parlamentsgebäude. Das Bundeshaus war ursprünglich eine pädagogische Akademie, die ab 1948 vom Parlamentarischen Rat und später von Bundestag und Bundesrat genutzt wurde. Ende der 1980er-Jahre wurde der Plenarsaal durch einen Neubau ersetzt. Seit dem Parlamentsumzug wird es als Konferenzzentrum genutzt und heißt seit 2007 World Conference Center Bonn (WCCB). Ein weiterer Teil des WCCB ist das historische Wasserwerk, dessen Pumpenhaus während des Umbaus des Bundeshauses von 1986 bis 1992 als Plenarsaal des Bundestags genutzt wurde.
Der Dienstsitz des Bundespräsidenten ist die ab 1861/1862 erbaute spätklassizistische Villa Hammerschmidt mit großem Landschaftsgarten. Die Villa Hammerschmidt in Bonn dient seit 1950 als Amts- und Wohnsitz des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, bis 1994 als erster und seither nach Schloss Bellevue als Zweitamts- und -wohnsitz.
Das Bundeskanzleramtsgebäude in Bonn war von 1976 bis 1999 Sitz des Bundeskanzleramtes der Bundesrepublik Deutschland und beherbergt seit 2005 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es liegt im Ortsteil Gronau an der Adenauerallee 139 (Bundesstraße 9) im Zentrum des Bundesviertels. Zweitsitz des Bundeskanzleramtes ist seit 2001 das zur Liegenschaft gehörende Palais Schaumburg. Es war das erste Bundeskanzleramt und diente von 1949 bis 1976 als Dienstsitz. Das Areal des ehemaligen Bundeskanzleramts, das noch einige weitere Gebäude umfasst, steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz.
Als Kanzlerbungalow wird das ehemalige Wohn- und Empfangsgebäude des deutschen Bundeskanzlers in Bonn bezeichnet. Es wurde von 1964 bis 1999 zu diesem Zweck genutzt.
Architektonisch reizvoll ist das ehemalige, heute denkmalgeschützte Postministerium I (1954–1988). Es wurde zwischen 1953 und 1954 errichtet. Das Gebäude des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen (offiziell Liegenschaft Adenauerallee-Nord; Adenauerallee 81–83) in Bonn war von 1954 bis 1988 Sitz des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen sowie von 1989 bis 1999 Sitz des Auswärtigen Amtes. Seit 2000 ist es Sitz des Bundesrechnungshofs.
Am Robert-Schuman-Platz im Bundesviertel liegt das ehemalige Postministerium II (ab 1988). Das Gebäude für das damalige Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen wurde nach den Plänen der Architekten Heinle, Wischer und Partner errichtet. Es dient heute als erster Dienstsitz des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). Dieses Gebäude lehnt sich stilistisch an die Form eine Posthorns an, was in Luftaufnahmen erkennbar ist. Unter dem Gebäude befindet sich ein, mittlerweile außer Betrieb genommener, Atombunker.
Die Hauptverwaltung der Deutschen Post befindet sich im Post Tower, dem höchsten Bürogebäude in Nordrhein-Westfalen. Das Gebäude steht in direkter Nachbarschaft zum ehemaligen Abgeordnetenhochhaus und Wahrzeichen der Bundes(haupt)stadt, dem Langen Eugen, der seit 2002 durch die Vereinten Nationen genutzt wird.
Zwischen den beiden Hochhäusern befindet sich der Schürmann-Bau, die heutige Zentrale der Deutschen Welle. Dieses ursprünglich als Abgeordnetenbüro geplante Gebäude wurde während der Bauphase durch das Rheinhochwasser 1993 schwer beschädigt. An der Grenze der Stadtbezirke Bonn und Bad Godesberg befindet sich die Kreuzung A562/B9, die zu besonderen Anlässen mit den 191 Fahnen der UN-Staaten beflaggt ist.
===== Rezeption der Bauwerke =====
Die Bauwerke des Regierungsviertels weisen enorme Altersunterschiede und damit auch der Baustile auf. Während die Villa Hammerschmidt, Palais Schaumburg oder das Museum Koenig aus dem 19. Jahrhundert stammen, das Bundeshaus aus dem frühen 20. Jahrhundert, so kamen zunächst in der jungen Bundesrepublik wenige Gebäude (Baustopp 1955 per Gesetz), ab den 1960er viele neue Gebäude hinzu. Bis zur Wiedervereinigung 1990 erlebte Bundes-Bonn in der Spätphase einen gewissen Bauboom, um den Aufgaben der Verwaltung des Bundes gerecht zu werden und um „Gesicht zu zeigen“. Es gehört wohl zu den Wechselbädern der Geschichte, dass ausgerechnet zum Zeitpunkt des stärksten Ausbaus von „Bundes-Bonn“ die Wiedervereinigung über den Regierungssitz einbrach und die alte Reichshauptstadt Berlin den späteren Anspruch als Bundeshauptstadt anmeldete.
Über die Architektur der Bonner Republik gab und gibt es zahlreiche Kommentierungen, wahrscheinlich, weil es sich um einen architektonischen heterogenen „Flickenteppich“ handelt, der Bundes-Bonn den Beinamen „Provisorium“ einbrachte.
Es gab reichlich Kritik von allen Seiten: Peter M. Bodes urteilte: „Wohl keine Regierung in der ganzen Welt hat so viel architektonisches Chaos produziert wie der Bund in Bonn.“ Die Architekturkritikerin Ingeborg Flagge meinte, dass „mit der Bonner Staatsarchitektur kein Staat zu machen“ sei. Und der Journalist Johannes Gross kommentierte: „In 40 Jahren wachsenden Wohlstandes hat der Staat Bundesrepublik nicht ein einziges Gebäude von architektonischem Rang errichtet.“ Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt aber äußerte so etwas wie Verständnis: Vielleicht sei der lange Weg zur Bundeshauptstadt auch ein Abbild der Gesellschaft, „widersprüchlich in ihren Interessen, bald kleinmütig, bald zu großen Zielen aufgelegt, die sich dann wieder nicht realisieren lassen“.In ihrer Dissertation von 2015 (Buchtitel: „Bauten des Bundes 1949–1989“) befasste sich Elisabeth Plessen mit der Architektur des Regierungssitzes und dokumentierte 154 realisierten und 14 geplanten Bundesbauten. Trotz des Negativimage wagte sie die Analyse, dass der Regierungssitz Bonn Ausdruck der „Stufen der Identitätsbildung einer Gesellschaft durch Architektur“ sei.
==== Revitalisierung von alten Industrieflächen ====
2003 begannen auf dem Gelände der ehemaligen Oberkasseler Zementfabrik die ersten Bauarbeiten für das Städtebauprojekt Bonner Bogen. Bis Ende 2009 entstanden dort unter der Leitung des Bonner Architekten Karl-Heinz Schommer Wohn- und Bürogebäude, Veranstaltungsräume sowie das Hotel Kameha Grand Bonn. Denkmalgeschützte Gebäude der alten Fabrik blieben erhalten und wurden umfassend saniert, darunter die Direktorenvilla, das Verwaltungsgebäude und der Wasserturm.
Eine ungenutzte alte Industrieanlage ist die Auermühle in Graurheindorf.
==== Hohe Bauwerke ====
Die drei höchsten Bauwerke der Stadt sind der weithin sichtbare Funkmast des Westdeutschen Rundfunks Köln (WDR) auf dem Venusberg (180 m), der Post Tower (162,5 m) und das ehemalige Abgeordnetenhochhaus Langer Eugen (114,7 m). Der Vierungsturm des Bonner Münsters liegt mit 81,4 m auf Platz sieben der höchsten Gebäude.
==== Sakralbauten ====
Das Stadtgebiet beherbergt sehr viele Kirchen und Gotteshäuser. Nachstehend eine Auswahl:
Bonner Münster, Stiftskirche (Bonn), Schlosskirche, Namen-Jesu-Kirche (Bonn), St. Remigius (Bonn), St. Cäcilia (Oberkassel), Helenenkapelle (Bonn), Kreuzkirche (Bonn), St. Maria und Clemens (Schwarzrheindorf), St. Marien (Bonn), St. Peter (Vilich), St. Petri in Ketten (Lengsdorf), Rüngsdorfer Kirchturm, Marienkapelle (Rüngsdorf), St. Laurentius (Lessenich), Michaelskapelle (Bad Godesberg), Elisabeth-Kirche (Bonn-Südstadt), Trinitatiskirche (Endenich), St. Servatius (Friesdorf), St. Evergislus (Plittersdorf), St. Severin (Mehlem), Kreuzbergkirche (Endenich), Synagoge Bonn, Kathedrale Agia Trias (griechisch-orthodox), Al-Muhajirin-Moschee (Tannenbusch), Al-Muhsinin-Moschee (Beuel), Al-Ansar-Moschee (Bad Godesberg).
Bonn verfügt über eine Reihe von historisch bedeutenden Kirchenbauten. Ein Wahrzeichen der Stadt ist das im 11. Jahrhundert erbaute Bonner Münster. Es ist die größte aller Kirchen der Stadt und verfügt über einen Kreuzgang. Zu den ältesten Kirchenbauten in Bonn gehört die romanische Doppelkirche St. Maria und Clemens in Schwarzrheindorf. Als eine Besonderheit hat sie ein zweigeschossiges Kirchenschiff.
Die Stiftskirche, eine römisch-katholische Pfarrkirche, die den Namen St. Johann Baptist und Petrus trägt und von 1879 bis 1886 erbaut wurde, liegt am Stiftsplatz an der Kölnstraße im Ortsteil Bonn-Zentrum und prägt das Bonner Stadtbild. Die Gemeinde der Pfarrkirche ist die älteste Bonner Kirchengemeinde.
In der Remigiuskirche in der Brüdergasse, der früheren „Brüderkirche“, befindet sich das Becken, in dem Beethoven getauft wurde. Oberhalb von Poppelsdorf, am Platz einer vorchristlichen Kultstätte und eines christlichen Wallfahrtsorts, erbaute Christoph Wamser 1627/28 die Kreuzbergkirche. Erzbischof und Kurfürst Clemens August ließ die Kirche in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Balthasar Neumann durch den Anbau der Heiligen Stiege erweitern.
Die Kreuzkirche wurde 1871 als evangelische Hauptkirche der Stadt gegründet und ist heute eines der größten evangelischen Gotteshäuser des Rheinlandes.
Die Bonner Synagoge im Bonner Ortsteil Gronau wurde 1958–1959 errichtet. Sie liegt an der Tempelstraße (Hausnummern 2–4) am Nordrand des Bundesviertels, unmittelbar südlich des Auswärtigen Amts. Sie ist die einzige Synagoge der Stadt Bonn und steht als Baudenkmal unter Denkmalschutz. Bis zum Novemberpogrom vom 10. November 1938 standen Synagogen in Bonn-Stadt, Beuel, Bad Godesberg, Mehlem und Poppelsdorf.
Die 1957 wieder geweihte Alt-Katholische Kirche St. Cyprian befindet sich in der Adenauerallee. Kathedralkirche des Bischofssitzes Bonn der Altkatholischen Kirche in Deutschland ist die Namen-Jesu-Kirche in Bonn, die nach einer Renovierung am 2. Juni 2012 zur weiteren Nutzung der alt-katholischen Kirche übergeben wurde. Die Namen-Jesu-Kirche in der Bonngasse wurde im Stil der Jesuiten-Gotik als nachgotischer Kirchenbau zwischen 1686 und 1717 errichtet und befindet sich im Besitz des Landes Nordrhein-Westfalen.
==== Friedhöfe ====
Im Bonner Stadtgebiet liegen 40 städtische Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von rund 120 Hektar. Weitere Friedhöfe werden als Pfarrfriedhöfe von Kirchengemeinden unterhalten.
Bekanntester Friedhof der Stadt ist der an der Grenze zur Nordstadt liegende Alte Friedhof: Zahlreiche Prominentengräber sowie Grab- und Denkmäler bedeutender Bildhauer machen den Alten Friedhof in Bonn zu einem der berühmtesten Friedhöfe in Deutschland. Dort befindet sich zum Beispiel das Grab von Beethovens Mutter und das Denkmal für Robert und Clara Schumann. Im 19. Jahrhundert wurde die Georgskapelle auf den Friedhof transloziert. Sie gehörte seit dem 13. Jahrhundert zu den Gebäuden der Kommende Ramersdorf. Ebenfalls eine Vielzahl an architektonisch interessanten Grabmälern und Prominentengrabstätten findet sich auf dem Poppelsdorfer Friedhof und dem Burgfriedhof in Bad Godesberg.
Muslime werden heute auf dem Nordfriedhof beerdigt. Dort liegt außerdem ein chinesisches Grabfeld. Im Sommer 2018 wurde die Anlage eines weiteren Grabfeldes für Jesiden beschlossen. Zahlreiche – teils sehr groß und aufwändig gestaltete – Gräber von Sinti und Roma befinden sich auf dem städtischen Friedhof am Platanenweg in Beuel.
Der Jüdische Friedhof in Bonn-Castell wird von Juden als Grabstätte genutzt. Auf dem Friedhof Kottenforst betreibt die jüdische Gemeinde ein Grabfeld. Reste jüdischer Friedhöfe, die von den Nationalsozialisten aufgelöst wurden oder aufgegeben wurden, befinden sich auch in der Stadt. Dazu zählen der Jüdische Friedhof in Schwarzrheindorf, der Jüdische Friedhof am Augustusring, der zu Kurkölnischen Zeiten der größte der Stadt war, der Jüdische Friedhof an der Hainstrasse in Endenich und der Jüdische Friedhof am Godesberg, der Teil des Burgfriedhofs ist.
Der älteste evangelische Friedhof weit und breit befindet sich in Bonn-Holzlar mit Gräbern von Leopold Bleibtreu und Johann Hermann Windgassen, dem Gründer der Friedrich-Wilhelms-Hütte; der älteste Grabstein dort ist von 1658.
=== Natur und Parkanlagen ===
Für die Bundesgartenschau 1979 wurden die Rheinwiesen und landwirtschaftlich genutzten Flächen südlich des damaligen Parlaments- und Regierungsviertels in einen 160 Hektar großen Landschaftspark, die Rheinaue, umgestaltet. Für die Bundesgartenschau 1979 wurde auch Flächen rechtsrheinisch von Beuel-Süd bis zur Südbrücke einbezogen. Heute dienen die Parkflächen als Naherholungsgebiet und werden für Großveranstaltungen wie Freiluftkonzerte, Feste und Flohmärkte genutzt.
Zu den historischen Parkanlagen zählen der Hofgarten mit Hofgartenwiese, südlich angrenzend an das Universitätshauptgebäude, unter Einbeziehung der Parkanlagen bis zum Alten Zoll am Rhein nach Osten hin und nach Westen, die Parkachse bis zum Poppelsdorfer Schloss mit dem Botanischen Garten. Weiterhin zählt der kleine Ernst-Moritz-Arndt-Garten zu den beliebten Parkanlagen der Stadt.
An beiden Seiten des Rheins, in Bonn und Beuel, erstrecken sich von Nord nach Süd Promenaden mit Grünflächen, die die Sicht auf die Stadt, den Rhein und das Siebengebirge erlauben.
Daneben gibt es in der Stadt einige kleinere Parkanlagen, deren größte der Kurpark in Bad Godesberg ist. Er wurde ursprünglich für den Kurbetrieb angelegt und beherbergt einige seltene Pflanzenarten. Für Bonn-Oberkassel ist das aus Privatbesitz hervorgegangene Arboretum Park Härle erwähnenswert.
Die Rheinaue, das Arboretum Härle, der Alte Friedhof und die Botanischen Gärten der Universität Bonn wurden als besonders beispielhaft in die Straße der Gartenkunst zwischen Rhein und Maas aufgenommen.
Die größte Freifläche innerhalb Bonns ist das Meßdorfer Feld zwischen Endenich, Dransdorf, Lessenich und Duisdorf. Es hat als Freifläche in Windrichtung Bedeutung für das Klima der Bonner Innenstadt und ist die einzige landwirtschaftlich genutzte Fläche im Stadtgebiet.
Weitere Erholungsgebiete sind
der westlich und südlich von Bonn gelegene Kottenforst, der 40 Quadratkilometer große Ostteil des Naturparks Rheinland, der mit einigen Ausläufern ins Bonner Stadtgebiet reicht, darunter:
der Venusberg und die Waldau und
die diese umgebenden Täler Melbtal und Katzenlochbachtal (Naturschutzgebiet)
das Rheinvorland nördlich und südlich von Beuel
sowie das südöstlich von Bonn gelegene, ebenfalls in einen Naturpark gefasste Siebengebirge mit seinen nördlichen Ausläufern.Eine natürliche Besonderheit in der Stadt ist die Düne Tannenbusch, bei der es sich um eine 11.000 Jahre alte Binnendüne handelt. Sie entstand durch heftige Winde, die am Ende der letzten Eiszeit den Rheinsand an diese Stelle verwehten. Zum Naturschutzgebiet erklärt wurde die Düne Ende der 1980er-Jahre.In beiden Naturparks laden weitläufige Wanderwege mit attraktiven Aussichten auf die Stadt zu Wanderungen ein. Der Fernwanderweg Rheinsteig beginnt in Bonn und durchquert im weiteren Verlauf das Siebengebirge.
Im Norden des rechtsrheinischen Bezirks Beuel grenzt Bonn an die Mündung der Sieg in den Rhein und das umgebende Naturschutzgebiet Siegaue, das als eine der letzten einigermaßen naturbelassenen Rheinmündungen Schutzstatus nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie genießt. Hier finden sich Auenwälder und Altwasser ohne besondere landwirtschaftliche Nutzung, andererseits mit hohem Artenreichtum an Flora und Fauna.
In Bonn gibt es insgesamt 47 Bäche, die meisten davon münden in den Rhein.
=== Kunst, Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten ===
==== Museen und Ausstellungen ====
Bonn verfügt über eine große Zahl bedeutender Museen. Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskunsthalle) (erbaut 1986 bis 1992 vom Wiener Architekten Gustav Peichl) und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören seit ihrer Eröffnung zu den zehn meistbesuchten Museen Deutschlands. Jährlich kommen mehr als 500.000 Besucher, bei einzelnen Wechselausstellungen übertrifft die Bundeskunsthalle diese Zahl sogar deutlich. Beide Museen entstanden Anfang der 1990er-Jahre gemeinsam mit dem städtischen Kunstmuseum Bonn und bilden zusammen mit der 1995 eröffneten und sich auf deutsche Forschung und Technik seit 1945 konzentrierenden Bonner Zweigstelle des Deutschen Museums im Wissenschaftszentrum, der ifa-Galerie und dem traditionsreichen Museum Koenig die Museumsmeile.
Auch das bundespolitische Bonn kann besichtigt werden: Der 1964 entstandene Kanzlerbungalow von Sep Ruf, zwischen der Villa Hammerschmidt und dem Palais Schaumburg unweit des Hauses der Geschichte gelegen, ist nach umfangreicher Renovierung seit 2009 der Öffentlichkeit in Führungen zugänglich. In der Innenstadt haben sich zudem einige Museen zum Verbund der CityMuseen zusammengeschlossen: Das StadtMuseum Bonn (eröffnet 1998) in der Franziskanerstraße 9, die ebenfalls dort untergebrachte Gedenkstätte für Widerstand und Verfolgung, das gegenüberliegende Ägyptische Museum, das Akademische Kunstmuseum, das Beethovenhaus und das Rheinische Landesmuseum.
In Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern bekannter Persönlichkeiten wurden Museen eingerichtet. Das gilt für das Beethoven-Haus, für das August-Macke-Haus, das Ernst-Moritz-Arndt-Haus, das als Teil des StadtMuseum Bonn neben einem Arndt-Gedenkraum vor allem Sonderausstellungen und Veranstaltungen zu kulturhistorischen Themen des 19. Jahrhunderts bietet, und das Schumannhaus in Endenich, wo seit Jahrzehnten die Musikbibliothek der Stadtbibliothek untergebracht ist. In den Boden der Bonngasse, in der sich das Beethoven-Haus befindet, sind seit 2005 die Porträts von Persönlichkeiten eingelassen, deren Lebensläufe eng mit der Stadt verbunden sind. Im Beethoven-Haus befindet sich als Weltdokumentenerbe ein Teil des Autographen der Symphonie Nr. 9, d-Moll, op. 125 von Ludwig van Beethoven.
Die Universität verfügt über zahlreiche Museen und Sammlungen. Bekannt sind vor allem das Ägyptische Museum, eine Sammlung mit circa 3000 Originalobjekten, das Akademische Kunstmuseum, das die archäologische Sammlung der Universität beherbergt, und das Arithmeum, eine umfangreiche Sammlung von Rechenmaschinen. Der Botanische Garten gehört zur Universität. Hier ist unter anderem die größte Blume der Welt, die Titanenwurz zu bestaunen, deren Blüte 2003 als die größte Blume der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen wurde. Sie blüht regelmäßig, seit 2008 jedes Jahr. Weiterhin zu nennen sind das Goldfuß-Museum, eine Schausammlung von Fossilien, das Mineralogische Museum, eine Edelstein- und Meteoritensammlung, und schließlich das Horst-Stoeckel-Museum, das die Geschichte der Anästhesiologie von der Entdeckung der Äthernarkose im Jahre 1846 bis zur Gegenwart darstellt.Mittlerweile über 40 Jahre alt ist das 1981 gegründete Frauenmuseum. Weltweit war es die erste Institution gleichen Namens oder vergleichbarer Zielsetzung. Heute kann das Frauenmuseum auf über 400 Ausstellungen zurückschauen und ist mit seinen umfangreichen Begleitprogrammen zu einer international anerkannten Institution geworden.
Das zwischen 1995 und 2003 komplett umgebaute Rheinische Landesmuseum zeigt bedeutende archäologische Denkmäler zur Kulturgeschichte des Rheinlandes und besitzt eine weniger bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst aus der Region.
In der an der Poppelsdorfer Allee gelegenen Volkssternwarte Bonn werden regelmäßig öffentliche Beobachtungen des Sternhimmels und der Sonne durchgeführt.
Auf Initiative und unter Leitung der Bertolt-Brecht-Gesamtschule wurde mit Hilfe des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und weiteren Sponsoren in zweijähriger Arbeit im September 2002 entlang des Rheins der Bonner Planetenlehrpfad im Maßstab von 1:1 Milliarde eröffnet. Die Sonne (Durchmesser 1,40 Meter) ist Startpunkt des 5946 Meter langen Lehrpfades und steht unterhalb des Wasserwerks. In relativ kurzen Abständen zwischen 50 und 100 Metern stehen Merkur, Venus, Erde und Mars. Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun folgen mit Abständen zwischen 700 Metern und 1,5 Kilometern. Pluto schließt den Weg am nördlichen Ende des Bonner Hafens in Graurheindorf ab. An jedem Planetenstandort sind auf Informationstafeln der Name, eine maßstabsgetreue Halbkugel, das Symbol, Durchmesser sowie alle Informationen in Brailleschrift hinterlegt.
==== NS-Gedenkstätten ====
In der Franziskanerstraße 9 befindet sich die Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus – An der Synagoge e. V. Die informative Dauerausstellung wurde 2005 grundlegend überarbeitet und ergänzt. Sie dokumentiert Verfolgung, Leid und Ermordung der Bonner Opfer des Nationalsozialismus. Zur Gedenkstätte gehören eine Präsenzbibliothek, eine Mediothek mit Zeitzeugengesprächen sowie ein umfangreiches Archiv.
==== Kunst im öffentlichen Raum ====
Im gesamten Bereich der Stadt gibt es eine Fülle von Kunstwerken zeitgenössischer deutscher und internationaler Künstler. Dazu gehören Victor Vasarely mit seiner Fassadengestaltung des Juridicums, Henry Moore mit Large Two Forms vor dem ehemaligen Bundeskanzleramt, dem heutigen Bundesministerium für Entwicklung, und Eduardo Chillida mit De Musica IV vor dem Münster. Die Wolkenschale von Hans Arp wurde 1961 vor der Universitätsbibliothek aufgestellt. Wegen der mehrjährigen Sanierung des Gebäudes war Arps Werk zwischen 2004 und Mai 2009 nicht zu sehen.
Begünstigt wurde diese hohe Anzahl an Kunstobjekten durch die Bautätigkeit der öffentlichen Hand im Zusammenhang mit dem Ausbau Bonns zum Regierungssitz. Arbeiten, die als Kunst am Bau entstanden sind sowie Skulpturen vor öffentlichen Einrichtungen wie der Universität und den Museen und nicht zuletzt Spenden privater Mäzene, machen es möglich, dass ein Besucher beim Gang durch die Stadt einen Gang durch die Geschichte der bildenden Kunst der letzten 50 bis 60 Jahre unternehmen kann.
Zu Ehren Ludwig van Beethovens steht auf dem Münsterplatz ein Beethoven-Denkmal.
Denkmäler zu Ehren einzelner Personen beschreibt die Liste der Personendenkmäler in Bonn.
==== Theater, Musik, Film ====
Das Beethoven Orchester Bonn veranstaltet regelmäßig Konzerte in der Beethovenhalle und kommt in der Oper zum Einsatz. Es wurde 1897 als Philharmonisches Orchester Koblenz gegründet und 1907 von der Stadt Bonn als Städtisches Orchester Bonn übernommen.
Neben dem städtischen Theater Bonn mit der Oper Bonn und dem im Godesberger Schauspielhaus (ehemals Kammerspiele) betriebenen Schauspiel gibt es diverse kleinere Privattheater in Bonn. Dazu gehören das in der Innenstadt gelegene Contra-Kreis-Theater, das Euro Theater Central, das in Beuel gelegene Junge Theater Bonn, das Theater DIE RABEN, das Kleine Theater Bad Godesberg, das Theater Die Pathologie in der Südstadt, die Bonn University Shakespeare Company sowie seit September 2018 Malentes Theater Palast auf der Godesberger Allee.
Bonn beheimatet auch namhafte Chöre wie den Bach-Chor, den Bonner Jazzchor, den Chur Cölnischen Chor, das Immortal Bach Ensemble oder den Philharmonischen Chor sowie Vox Bona.
Kleinkunst und Kabarett werden unter anderem im Haus der Springmaus, im Pantheon-Theater (seit 2016 in der Halle Beuel), in der Endenicher Harmonie und im Theater im Ballsaal dargeboten. Die Figurentheaterkunst pflegen in verschiedenen Bonner Spielstätten die Piccolo Puppenspiele.
Seit einigen Jahren etablierte sich in Bonn eine rege Poetry-Slam-Szene: Seit 2001 findet monatlich der Bonner Rosenkrieg statt und seit 2009 hat Bonn mit Sex, Drugs & Poetry einen zweiten Slam.
Von 1997 bis 2011 fanden im Sommer Konzerte mit deutschen und internationalen Künstlern auf dem Museumsplatz an der Bundeskunsthalle als Freiluftkonzerte unter einem Zeltdach statt. Als Nachfolgeplatz wird seit 2012 der Kunst!rasen in der Gronau am Rande der Rheinaue betrieben. Kleinere Auftritte finden in der Bad Godesberger Klangstation und der Endenicher Harmonie statt. Mit der Freiluftveranstaltung Rheinkultur verfügte das Kulturangebot der Stadt bis 2011 über eines der wichtigsten Festivals Deutschlands, auf dem praktisch alle modernen Stilrichtungen vertreten waren.
Das traditionsreiche Kino Metropol am Marktplatz wurde im März 2006 geschlossen, nachdem das Gebäude Ende 2005 in die Hand eines neuen Besitzers gewechselt ist. Nach einer scharf geführten Auseinandersetzung um Abriss, Umnutzung oder Weiternutzung der denkmalgeschützten Spielstätte wird das Gebäude nun als Buchhandlung genutzt. Die ebenfalls am Markt gelegenen Stern Lichtspiele werden von Cinestar betrieben. In dem 1956 am Bertha-von-Suttner-Platz erbauten Gebäude der Universum-Lichtspiele ist seit 1998 das Woki ansässig. Im Zentrum von Bad Godesberg befindet sich das Multiplex-Kino Kinopolis. In Bonn gibt es drei Programmkinos: das 1952 in Endenich eröffnete denkmalgeschützte Rex Lichtspieltheater, die 1933 in Beuel erbaute Neue Filmbühne und die im Kulturzentrum Brotfabrik Bonn gelegene Bonner Kinemathek.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Das Beethovenfest ist ein jährlich im Herbst stattfindendes fast vierwöchiges Musikfestival mit über 50 Konzerten in Bonn und der Umgebung.
2005 wurde zum ersten Mal der Beethoven Competition durchgeführt, ein Wettbewerb für junge Pianisten aus der ganzen Welt.
Das Bonner Schumannfest dient der Erinnerung an Robert Schumann und findet jährlich seit 1998 statt.
Seit dem Jahr 2000 findet monatlich die Orgel- und Kammermusikreihe am 7. um 7 in der Bonner Kreuzkirche statt. Weitere Orgelfeste sind das Bonner Orgelfest, das seit 2009 alle 2 Jahre an verschiedenen Orgeln im Bonner Stadtgebiet stattfindet sowie die Internationalen Orgelkonzerte Bonn-Beuel, die seit der Einweihung der neuen Oberlinger-Orgel im Jahr 1981 in St. Josef Bonn-Beuel dort jährlich mit international renommierten Organisten stattfinden.Seit 2010 findet jährlich im Mai das Jazzfest Bonn an verschiedenen Spielstätten in Bonn statt.
Im Arkadenhof der Universität werden jedes Jahr im Sommer während der Internationalen Stummfilmtage restaurierte Stummfilme gezeigt.
Auf dem Münsterplatz fand zwischen 2005 und 2013 jährlich im Herbst die Wasserorgel-Veranstaltung Klangwelle Bonn statt. Seither findet die Veranstaltung unter dem Namen Klangwelle in der rheinland-pfälzischen Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler statt.
In der Rheinaue findet an jedem dritten Samstag im Monat von März bis Oktober der Große Rheinauen-Flohmarkt statt. Jährliche Veranstaltungen in der Rheinaue sind das Großfeuerwerk Rhein in Flammen am ersten Mai-Wochenende, eine Bierbörse am letzten Wochenende im Juli sowie das Internationale Begegnungsfest im Herbst. Das seit 1983 etablierte Freiluftmusikfestival Rheinkultur findet seit 2012 nicht mehr statt. Von 2015 bis 2018 war die Rheinaue Austragungsort des Rockaue Open Air. Seit 2015 findet dort einmal im Jahr das Festival Panama Open Air statt.
Seit 2008 findet in Neu-Vilich das Green Juice Festival statt.
Der größte jährliche Jahrmarkt in Bonn, Pützchens Markt, findet am zweiten Wochenende im September in Beuel-Pützchen auf einer Festwiese im Osten der Stadt statt. Seine Ursprünge reichen bis ins Jahr 1367. Mit rund 1,2 bis 1,4 Millionen Besuchern zählt Pützchens Markt zu den großen Jahrmärkten im Rheinland. Das Volksfest wird als „umsatzstärkster 5-Tage-Markt in Deutschland“ bezeichnet.
Die AnimagiC, eine der größten deutschsprachigen Anime-Conventions (Veranstaltung für Manga- und Anime-Fans), wurde bis 2016 jährlich in der Beethovenhalle veranstaltet. Mit Beginn der dortigen Sanierungsarbeiten wanderte die Convention nach Mannheim ab. Weitere regelmäßige Veranstaltungen wie die FeenCon finden in Bonn-Beuel statt.
Die Kirschblüte in der Bonner Altstadt zieht im April und Mai Touristen aus aller Welt an. Waren es früher vorwiegend asiatische Touristen, aus deren Heimat die Bäume stammen, kommen mit wachsendem Bekanntheitsgrad auch Besucher aus anderen Ländern.
Vom vorletzten Wochenende im November (pausierend am Totensonntag) bis zum 23. Dezember findet in der Innenstadt ein Weihnachtsmarkt statt. Er erstreckt sich vom Münsterplatz über die Vivatsgasse, den Mülheimer Platz, den Bottlerplatz bis zum Friedensplatz.
Von 1970 bis 2011 fand in Bonn ein internationales vielfältiges Kulturprogramm, verteilt über mehrere Sommer-Wochenenden, unter dem Namen Bonner Sommer statt. Für Musiker, Künstler und die freie Kulturszene eine gute Gelegenheit an die Öffentlichkeit zu treten. Im Jahre 2011 stimmten im Rahmen einer Bürgerbefragung 690 Bonner gegen die Kultur-Ausgabe (ca. 300.000 Euro jährlich), 629 dafür. Für 2020 beschloss der Stadtrat im Jahr 2019 das seinerzeit beliebte Fest wiederzubeleben und mit den Stadtgartenkonzerten zu verbinden.
=== Brauchtum ===
==== Karneval ====
Bonn zählt zu den rheinischen Karnevalshochburgen, wenngleich es immer etwas im Schatten des größeren Kölner Karnevals steht.
Im Beueler Rathaus übernimmt an Weiberfastnacht die Wäscherprinzessin die Regentschaft. Das Alte Rathaus in Bonn wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts am Karnevalssonntag von den Bonner Stadtsoldaten in historischen Uniformen im französischen Stil belagert und erobert. Die größte Karnevalssitzung ist die Alternative Karnevalssitzung Pink Punk Pantheon mit alljährlich über 10.000 Besuchern.
Einheimische definieren die Karnevalszeit zwischen dem 11. November um 11:11 Uhr und dem Aschermittwoch als „fünfte Jahreszeit“.
=== Sportwesen ===
==== Sportvereine ====
Der bekannteste Sportverein Bonns ist der Basketballverein Telekom Baskets Bonn, dessen erste Herren-Mannschaft seit Jahren erfolgreich in der Basketball-Bundesliga spielt und seit 2008 die Heimspiele im 6.000 Zuschauer fassenden Telekom Dome im Ortsteil Duisdorf austrägt.
Bonn ist die größte deutsche Stadt, aus der noch nie ein Verein in der Fußball-Bundesliga spielte. Bekanntester Fußballverein ist der Bonner SC, der seine Spiele im Sportpark Nord austrägt und aktuell in der fünftklassigen Mittelrheinliga spielt. In der Saison 1976/77 spielte er einmalig in der 2. Bundesliga.
Weitere Sportvereine sind der 1. Badminton Club Beuel (Deutscher Badminton-Meister 1981, 1982 und 2005), der ehemalige Damen-Basketball-Bundesligist BG Rentrop Bonn (heute BG Bonn 92), der Baseball-Bundesligist Bonn Capitals (Deutscher Meister der Baseball-Bundesliga 2018 und 2022 und mehrfacher deutscher Meister in den Jugendklassen), der Bonner Tennis- und Hockey-Verein (Hallenhockey-Bundesligist bei den Damen), der Hockey- und Tennis Club Schwarz-Weiß Bonn, der Verein für American Football Bonn Gamecocks (ehemals zweite Bundesliga), der Rugby Club Bonn-Rhein-Sieg (2. Bundesliga West), sowie Bonns größter Sportverein, die Schwimm- und Sportfreunde Bonn 1905 (SSF Bonn), mehrfacher Deutscher Volleyball-Meister und Pokalsieger sowie Heimatverein der Olympiasiegerin im Modernen Fünfkampf 2008, Lena Schöneborn. Ebenso ist die Triathlon-Abteilung des SSF Bonn mit Damen- und Herrenteams in der Triathlon-Bundesliga vertreten.
Bester Bonner Handballverein ist die TSV Bonn rrh., die bei den Frauen und Männern 2022/23 in der Handball-Regionalliga Nordrhein spielte. In der Nähe des Sportparks Nord hat der Deutsche Fechter-Bund seine Zentrale mit angeschlossenem Internat für die Nachwuchs-Elite, die zum Teil für den Olympischen Fecht-Club Bonn an den Start geht. Hier trainierten bereits Fechtstars wie Peter Joppich und Benjamin Kleibrink. In Bonn befindet sich seit mehr als 100 Jahren der Turn- und Kraftsportverein 1906 e. V. Duisdorf. Die 1. Ringer-Mannschaft des TKSV Duisdorf trat mehrere Jahre in der ersten Bundesliga an. Der größte Tanzsportverein ist der TSC Blau-Gold Rondo im Stadtteil Beuel, der regelmäßig im Frühjahr das Traditionsturnier Goldene Rebe ausrichtet.
Die direkte Nähe des Rheins zeigt sich in mehreren Rudervereinen und vier Ruder-Arbeitsgemeinschaften (AG) der Bonner Schulen, welche sich in der AG-Bonner-Schülerrudervereine (AGBS) organisieren. Mit der Eurega hat Bonn eine weit über die Bonner Grenzen hinaus bekannte Ruderregatta, die jährlich am ersten Wochenende im Mai durch den Bonner Ruder Verein ausgerichtet wird.
==== Schwimmbäder ====
Bonn verfügt über acht Schwimmbäder: Zwei Schwimmhallen, fünf Freibäder und ein kombiniertes Hallen-/Freibad mit angegliedertem Kletterwald wie folgt:
Schwimmhallen: Beueler Bütt Beuel und Frankenbad Nordstadt
Hallen-/Freibad: Hardtbergbad Hardtberg
Freibad mit Traglufthalle: Schwimmbad Friesdorf
Freibäder: Ennertbad Pützchen, Melbbad Poppelsdorf, Panoramabad Rüngsdorf und Römerbad Castell.Außerdem wurde den Schwimmern des SSF ein schwimmsportliches Trainingszentrum im Sportpark Nord mit einem 50-Meter-Sportbecken und einem Lehrbecken überlassen. Erste Schwimmzüge für Kleinkinder sowie Erwachsene gehören ebenso zum städtischen Kursangebot wie Stilkurse in Kraultechnik oder Aqua-Fitness-Stunden.
==== Sportplätze, Turn- und Sporthallen ====
Über das Stadtgebiet verteilt sind über 100 städtische Turn- und Sporthallen. Davon sind 81 Einfach-Turnhallen, neun Großturnhallen, neun Dreifachhallen und eine Vierfach-Halle. Des Weiteren gibt es 24 Gymnastikräume und 46 Freiluftsportplätze, darunter 13 Rasenplätze. Außerhalb der städtischen Verfügung stehen 25 privat geführte Sport- und Turnhallen.
==== Sportveranstaltungen ====
Zu den jährlichen Sportereignissen zählen die German Open im Synchronschwimmen im März, der Bonn-Marathon im April, der Bonn-Triathlon im Juni, eine Station der Beachvolleyball-Meisterschaften in Deutschland im August, sowie das Herrenflorett-Weltcupturnier „Löwe von Bonn“.
=== Gastronomie und Nachtleben ===
Bonn wurde wiederholt als „Bundesstadt ohne nennenswertes Nachtleben“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist insoweit irreführend, als die Stadt gastronomisch gut entwickelt ist und über eine Anzahl hervorragender Restaurants verfügt. Sie wurde daher 2005 vom Gault-Millau zur „Schlemmerhauptstadt Deutschlands“ gewählt. Mit Rainer-Maria Halbedels Halbedel’s Gasthaus in Bad Godesberg hat die Stadt ein Sterne-Restaurant aufzuweisen. Die Restaurants Yunico (im Kameha Grand Hotel), EQUU (in Gronau) und Kaspars (in Castell) werden ebenfalls mit einem Stern ausgezeichnet.In typischen Gasthäusern wird die rheinische Küche als eine Regionalküche Deutschlands angeboten, oft unter dem Etikett „gutbürgerliche Küche“. Dazu zählen Klassiker wie u. a. Rheinischer Sauerbraten (Soorbrode), Rollbraten, Flönz, Muscheln rheinische Art, Himmel un Ääd und Rievkoche (Reibekuchen).Die „studentischen“ Kneipen, Bars und Diskotheken sind in Bonn dezentral verteilt und finden sich überwiegend in der als „Altstadt“ bezeichneten Nordstadt, in der Südstadt und in Poppelsdorf. Erfahrene Nachtschwärmer wechseln in den frühen Morgenstunden von diesen Standorten zu den Gastronomiebetrieben rund um den Bonner Markt, die zu früher Stunde für die Marktleute ihre Türen öffnen.
=== Verbindungen und Vereinigungen ===
==== Freimaurer ====
Seit 1775 gibt es in Bonn Freimaurerlogen. Ihnen gehörte unter anderem lokale Prominenz an, wie Karl Otto Freiherr von Gymnich, Anton von Belderbusch oder Nikolaus Simrock. Zweimal wurden die Bonner Logen zwangsweise aufgelöst, von 1814 bis 1840 durch den preußischen Kreisdirektor und Freimaurer-Gegner Rehfues und 1935 bis 1945 durch die NSDAP. Die Loge Beethoven zur ewigen Harmonie ist eine der wenigen deutschen Logen, die sich der Zwangsauflösung widersetzte und heimlich in einem Privathaus weiter arbeitete. Zurzeit gibt es in Bonn sechs Freimaurerlogen aus den verschiedenen regulären Großlogen. Es existiert außerdem eine Loge für Frauen und Männer namens Licht und Wahrheit unter dem Grand Orient de Luxembourg.
==== Korporationen und Verbindungen ====
Die Schlaraffen sind mit dem Reych Schlaraffia Castrum Bonnense vertreten.Daneben gibt es zahlreiche Studentenverbindungen in Bonn (schlagende, nicht-schlagende oder fakultativ schlagende Korporationen) mit eigenen Häusern und unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung.
== Infrastruktur ==
=== Verkehr ===
==== Luftverkehr ====
Der nach Konrad Adenauer benannte Flughafen Köln/Bonn liegt circa 15 Kilometer nordöstlich der Stadt und ist über die A 59, eine Schnellbuslinie und die rechtsrheinische Bahnstrecke mit Bonn verbunden. Eine weitere Anbindung an den Luftverkehr existiert durch den Flugplatz Bonn-Hangelar, der in Sankt Augustin unmittelbar an der Grenze zum Stadtbezirk Beuel liegt. Der Flugplatz wird vorwiegend von Geschäftsreisenden und Sportfliegern genutzt. Ein nicht ziviler Flugplatz besteht am Hauptsitz des Bundesministeriums der Verteidigung mit dem Heliport Bonn-Hardthöhe, der jedoch nicht mehr regulär genutzt wird. Einen zivilen Hubschrauberlandeplatz hatte von 1953 bis 1961 an der Römerstraße die belgische Fluggesellschaft Sabena mit Linienflügen über Köln nach Brüssel betrieben.
==== Schienen- und Busverkehr ====
===== Hauptknotenpunkte des Schienenverkehrs =====
Der Bonner Hauptbahnhof ist Fernverkehrshalt der Deutschen Bahn an der linken Rheinstrecke Köln–Bonn–Koblenz; der Bahnhof Siegburg/Bonn an der ICE-Strecke Köln–Rhein/Main ist von der Bonner Innenstadt mit der Stadtbahnlinie 66 in 25 Minuten über die Siegburger Bahn zu erreichen. Bei störungsbedingter Umleitung über die rechte Rheinstrecke wird ersatzweise in Bonn-Beuel gehalten. Als Nahverkehrsstrecke zweigt in Bonn die Voreifelbahn in Richtung Euskirchen von der linken Rheinstrecke ab. Im Bonner Stadtgebiet sind insgesamt 13 niveaugleiche Bahnübergänge vorhanden.
===== Bahnhöfe =====
Auf Bonner Stadtgebiet gibt es neun Bahnhöfe und Haltepunkte des Schienenverkehrs. Es bestehen im Schienenpersonennahverkehr sechs Linienverbindungen zu den umliegenden Städten im Stundentakt, die sich gegenseitig auf einen 20- bis 30-Minuten-Takt verdichten. Die Voreifelbahn verkehrt werktags im 15- bis 30-Minuten-Takt, abends und sonntags im 30- bis 60-Minuten-Takt.
===== Schienengüterverkehr =====
Vom lokalen Schienengüterverkehr ist Bonn nahezu abgeschnitten, Transitschienengüterverkehr durch das Bonner Stadtgebiet findet jedoch links- wie rechtsrheinisch in erheblichen Maße statt. Ehemals existierten über zehn Güterbahnhöfe bzw. Hafenbahnhöfe auf Bonner Stadtgebiet, betrieben von drei verschiedenen Eisenbahnen (DB, KBE (Köln-Bonner-Eisenbahn) und die „alte“ RSE (eine Schmalspurbahn auch Bröltalbahn genannt)) und zusätzlich zahlreiche Anschlussgleise von Bonner Unternehmen. Übrig geblieben ist alleine der Güterbahnhof in Bonn-Beuel, der seit einigen Jahren wieder regelmäßigen und umfangreichen Frachtumschlag aufweist und in ganz Bonn und Umgebung die letzte Schnittstelle zwischen Schiene und Straße ist. Einsatzbereite Anschlussgleise für die Industrie existieren in Bonn nicht mehr, alleine ein Oldtimerersatzteil-Großhandel hat noch über ein Gleis des Bonn-Beueler Güterbahnhofs direkten Zugang zum Schienennetz und wird regelmäßig über die Schiene mit Containern beliefert.
===== Ausbau des Schienenverkehrs =====
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist ein umfangreicher Ausbau des Schienennetzes in Bonn und der Region geplant. Dazu gehört der Bau der S-Bahn-Linie 13, die bisher Köln und Troisdorf über die 2004 eröffnete Flughafenschleife in dichtem Takt an den Köln/Bonner Flughafen anbindet. Mit der Verlängerung durch das rechtsrheinische Bonn bis Oberkassel sollte sie für Bonn diese Funktion übernehmen. Inzwischen verbindet die Regionalbahn 27 Bonn-Beuel und Bonn-Oberkassel umsteigefrei mit dem Köln/Bonner Flughafen (60-Minuten-Takt). Die S13 soll im 20-Minuten-Takt verkehren und ginge mit dem Neubau von zwei S-Bahnhöfen einher. Die veranschlagten Kosten des 14-Kilometer-Projekts sind von anfänglich 225 auf 434 Millionen Euro gestiegen, daher ist die Verlängerung der S13 nach Oberkassel nicht unumstritten. Nachdem die DB den avisierten Fertigstellungstermin immer wieder nach hinten korrigierte, wurde seit dem Jahr 2011 von Seiten der DB kein verbindlicher Fertigstellungstermin genannt. Im September 2014 begannen vorbereitende Arbeiten im Ortsteil Vilich-Müldorf, die die Verlegung eines Wirtschaftswegs anstelle des geplanten neuen Gleises beinhalten. Im Dezember 2014 wurde ein Finanzierungs- und Realisierungsvertrag für die S13 unterzeichnet, nunmehr ist der Baubeginn für Anfang 2017 vorgesehen. Hauptsächlicher Kritikpunkt an der Verlängerung der S13 ist neben den immensen Kosten die Tatsache, dass das Bonner Zentrum mit dem Hauptbahnhof und dem Bundesviertel mit der S13 nicht zu erreichen sein wird.Eine Direktanbindung des Flughafens über die Südbrücke an die Bonner Innenstadt und den Hauptbahnhof ist gutachterlich in verschiedenen Versionen untersucht und mit sehr schlechten Nutzen-Kosten-Quotienten bewertet worden. Ferner kann die Südbrücke heutige S-Bahnwagen statisch nicht tragen. Eine solche Verbindung muss daher als unrealistisch angesehen werden. Eine Direktanbindung des Flughafens über die Kennedybrücke wäre nach Abschluss der Sanierung der Kennedybrücke (2011) mit Zweisystemwagen (Karlsruher Modell) technisch möglich, wird von der Bonner Ratsmehrheit aber abgelehnt (Stand: 2013) und ist daher bis jetzt (2013) nicht gutachterlich auf einen Nutzen-Kosten-Quotienten untersucht worden.
Von 2013 bis 2014 wurde die Voreifelbahn auf durchgängig zwei Gleise, verbunden mit dem Neubau von zwei Haltepunkten auf Bonner Stadtgebiet (Bonn-Endenich Nord und Bonn Helmholtzstraße), ausgebaut. Ziel ist neben der besseren Erschließung durch den Neubau der Bahnhöfe ein dichterer Takt auf der stark nachgefragten Linie. In Folge ihrer mit Abschluss des Ausbaus zunehmend innerstädtischen Erschließungsfunktion verkehrt die Voreifelbahn zwischen Euskirchen und Bonn ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2014 als S23, womit Bonn erstmals Anschluss an das Netz der S-Bahn Köln erhält. Seit März 2016 entstand der Haltepunkt Bonn UN Campus an der linken Rheinstrecke in Höhe der Museumsmeile im Bundesviertel, um diesen Arbeitsplatzschwerpunkt besser zu erschließen. Dieser wurde am 1. November 2017 in Betrieb genommen.
Langfristig ist vorgesehen, nach dem Bau des Kölner S-Bahn-Westrings eine linksrheinische S-Bahn zwischen Köln und Bonn einzurichten, die als S 17 die Rhein-Wupper-Bahn (RB 48) zwischen Köln und Bonn-Mehlem teilweise ersetzt. Eine vom Nahverkehr Rheinland in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie schlägt vor, die Linke Rheinstrecke im Bonner Abschnitt zwischen Bonn-Bad Godesberg und Bonn-Mehlem viergleisig, in den anderen Abschnitten dreigleisig auszubauen, um einen 20-Minuten-Takt realisieren zu können. Die Voreifelbahn S23 soll nach der erfolgten Elektrifizierung bis Bonn-Mehlem durchgebunden und in der Hauptverkehrszeit zu einem 10-Minuten-Takt verdichtet werden. Gleichzeitig ist geplant, den Lärmschutz deutlich auszuweiten sowie die technische Ausrüstung der Strecke zu modernisieren. Zudem sollen im Rahmen des 250-Millionen-Euro-Projekts sämtliche schienengleiche Bahnübergänge im Bonner Stadtgebiet durch Über- und Unterführungen oder Auflassungen ersetzt bzw. entfernt werden. Damit werden die derzeit sehr langen Schrankenschließzeiten von teils bis zu 20 Minuten aufgelöst und der Verkehrsfluss nachhaltig optimiert.
===== Straßenpersonennahverkehr =====
Im Straßenpersonennahverkehr besitzt Bonn heute ein Stadtbahn-/Straßenbahnnetz mit etwa sechs Linien (je nach Zählweise). In den 1950er-Jahren schrumpfte das Bonner Straßenbahnnetz durch zahlreiche Stilllegungen stark ein. Die Stammstrecke zwischen Bonn und Bad Godesberg ersetzt seit dem Frühjahr 1975 hauptsächlich die Straßenbahnlinie auf der Kaiserstraße und der B 9, sie fährt tagsüber im 10-Minuten-Takt, die abendlichen Taktzeiten wurden 2002 stark ausgedünnt. Neben innerstädtischen Verbindungen bedient die Stadtbahn Bonn Siegburg, Sankt Augustin, Königswinter und Bad Honnef mit der Linie 66. Zwei Linien verkehren auf Eisenbahnstrecken der ehemaligen Köln-Bonner Eisenbahnen nach Köln über Brühl, Hürth, Bornheim und Wesseling im 20-Minuten-Takt.
===== Busnetz =====
Bonn verfügt ebenfalls über ein sehr dichtes Stadtbusnetz mit 48 Linien (davon 6 Gemeinschaftslinien 537, 541, 550, 551, 640 und SB55), das weitestgehend im 20-Minuten-Takt bedient wird. Teilweise entstehen durch Linienbündelung Taktzeiten von fünf Minuten, zu Stoßzeiten und im Schulverkehr wird das Busnetz durch mit E gekennzeichneten „Ergänzungslinien“ unterstützt. Der Spätverkehr wurde 2002 auf Beschluss der Ratsmehrheit stark ausgedünnt. Im Zuge des neuen Busnetzes wurde der Spätverkehr Ende 2008 bis zum Beginn des Nachtverkehrs wieder gestärkt. Daneben existiert ein Nachtbusnetz mit zehn Linien, die stündlich untereinander Anschlüsse herstellen. Das Nachtbus-Netz wird zum Teil durch Sponsoring finanziert, d. h. jede Sponsorlinie trägt den Namen eines Sponsors, der Bus (tagsüber im normalen Linienverkehr) trägt passende Ganzreklame. Von 1951 bis 1971 verkehrte außerdem der Oberleitungsbus Bonn in der Stadt, der einen Teil des Straßenbahnnetzes ersetzte und seinerseits von Omnibuslinien abgelöst wurde.
===== Verkehrsverbund (VRS) =====
Bonn gehört zum Tarifgebiet des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg (VRS).
==== Straßennetz ====
Bonn ist über die Bundesautobahnen 59, 555, 562, und 565 sowie die Bundesstraßen 9, 42 und 56 an das Fernstraßennetz angebunden.
Da das Stadtgebiet vom Rhein durchtrennt wird, haben die drei Rheinbrücken der A 562 (Südbrücke, Konrad Adenauer-Brücke), A 565 (Nordbrücke, Friedrich Ebert-Brücke) und B 56 (Kennedybrücke) sowie die Rheinfähren Mehlem–Königswinter, Bad Godesberg–Niederdollendorf und Graurheindorf–Mondorf besondere Bedeutung für den innerstädtischen Verkehr. Dasselbe gilt für die Bahnunterführungen und die Viktoriabrücke, die Norden und Süden des linksrheinischen Stadtgebietes verbinden.
In Bonn sind 184.582 Kraftfahrzeuge zugelassen, darunter 156.398 Personenkraftwagen.Das Radwegenetz der Stadt Bonn wurde zwischen 1994 und 1999 stark ausgebaut. Einige Radwege wurden jedoch inzwischen wieder zurückgebaut und teilweise durch Radfahrstreifen oder Schutzstreifen ersetzt. Bonn ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen und hat die Zielsetzung, künftig zur Fahrrad-Hauptstadt zu werden (in Anlehnung an die Radlhauptstadt in München). Dafür ist unter anderem ein stadtweites Netz von Fahrradstraßen konzipiert worden.
==== Wasserstraßen und Häfen ====
Im Norden, im Ortsteil Graurheindorf, liegt der Binnenhafen der Stadt Bonn (Hafen Bonn). Vorher war er am Alten Zoll beheimatet, in der Nähe der Kennedybrücke. Als dieser Platz für die Umschlagskapazitäten nicht mehr ausreichte, wurde er in den 1920er Jahren an einen damals noch siedlungsfreien Standort verlegt. Vorgesehen war damit die Schaffung einer größeren Industrieansiedlung sowie eines Hafenbeckens. Beides wurde nicht umgesetzt. Bis 1974 war der Hafen über eine in Buschdorf abzweigende Stichstrecke der Rheinuferbahn an das Schienennetz der KBE angebunden. Mittlerweile ist der Hafen Bonn vom Ortsteil Graurheindorf landseitig komplett umschlossen. An diesem Stromhafen werden heute überwiegend Container für den Überseetransport umgeschlagen. Die Jahresumschlagsleistung liegt über alle Güter bei circa 0,5 Mio. t.
Personenschifffahrt wird von Bonn aus von den Flotten der Köln-Düsseldorfer und der Bonner Personen Schiffahrt betrieben, zu Letzterer gehört das auffällige, einem Wal nachempfundene Schiff Moby Dick.
==== Belastungen durch den Verkehr ====
Das Zusammentreffen von mehreren großen Verkehrsadern bringt es mit sich, dass nach einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik aus dem Jahr 2011 Bonn die lauteste Stadt in Nordrhein-Westfalen ist und die viertlauteste in Deutschland.
=== Versorgungsnetze ===
Die Bonner Stadtwerke versorgen mit Ausnahme der Ortsteile Holzlar, Hoholz und Ungarten das Stadtgebiet mit Wasser aus der Wahnbachtalsperre. Das Gasnetz ist seit einigen Jahren im Besitz der Stadtwerke, seit 2011 wird das Stromnetz wieder vollkommen kommunal betrieben, der Stadtrat hat die Konzession des RWE für die Stadtbezirke Beuel und Bad Godesberg nicht verlängert.
Nachdem Bonn Regierungssitz geworden war, wurde das Stromversorgungsnetz zum Ring- und Maschennetz umgebaut. Die gewachsenen Strukturen dieser Netze gewährleisten eine höhere Ausfallsicherheit als vergleichbare in anderen Städten.
==== Trinkwasserversorgung ====
Die Trinkwasserversorgung wird von den Stadtwerken Bonn übernommen. Jährlich werden 22 Mio. m³ Trinkwasser abgegeben. Die Stadtwerke beziehen ihr Wasser vom Wahnbachtalsperrenverband, welcher es zu 65 % aus der Wahnbachtalsperre und aus den Grundwassergewinnungsanlagen Meindorf (27 %) und Hennefer Siegbogen (8 %) gewinnt. Das Talsperrenwasser wird in der Aufbereitungsanlage Siegelsknippen folgenden Verfahrensschritten unterzogen:
Flockung zur Vorbereitung des Ausfilterns von Mikroorganismen und Störstoffen. Verwendet werden weniger als 1 g Eisen- oder Aluminiumsalze je m³.Filtration in Zweischichtfiltern aus Anthrazit und Quarzsand
Restentsäuerung mit Kalkwasser zur Entfernung von Kohlensäure
Desinfektion mit ChlordioxidDas Wasser aus dem Hennefer Siegbogen wird ebenfalls in Siegelsknippen aufbereitet, in Meindorf steht eine eigene Aufbereitung zur Verfügung. Im Anschluss wird das Trinkwasser aus den drei Quellen vermischt und an das Versorgungsgebiet (insgesamt 800.000 Einwohner) abgegeben. Mit einer Gesamthärte von 4,3 bis 7,1 °dH fällt das Bonner Trinkwasser in den Härtebereich „weich“.Der Brutto-Verbrauchspreis liegt bei 1,79 Euro je Kubikmeter.
==== Abwasserentsorgung ====
Die Ableitung und Reinigung des anfallenden Abwassers fällt in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Bonn. Das 967 Kilometer lange Mischkanalsystem mit 80 Pumpwerken befördert das Abwasser zu vier Klärwerken:
Die gereinigten Abwässer werden anschließend in den Rhein abgegeben.
Die zentrale Klärschlammbehandlung findet auf der Kläranlage Salierweg statt. Die Schlämme der Anlagen Salierweg, Bad Godesberg und Beuel werden hier in Faultürme gegeben, nach 30 Tagen entwässert und der werkseigenen Verbrennungsanlage zugeführt. Auch der bereits ausgefaulte und entwässerte Schlamm aus der Kläranlage Duisdorf wird hier verbrannt. Reststoffe und Asche werden mit LKW abgefahren und dienen der Stabilisierung von Bergwerksstollen. Das bei der Faulung entstehende Klärgas wird zur Stromerzeugung verwendet.
== Wirtschaft ==
=== Wirtschaftsstandort ===
Von Mitte 1991, dem Zeitpunkt des Bonn/Berlin-Beschlusses des Bundestages, bis Mitte 2002 ist die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer in der Stadt Bonn um annähernd 11.400 Personen und somit 8,5 Prozent auf 145.558 angestiegen. Für 2003 gibt die Stadt noch einmal einen Zuwachs um 3118 Arbeitsplätze auf 149.016 an. Umzugsbedingte Arbeitsplatzverluste konnten ähnlich wie im benachbarten Rhein-Sieg-Kreis ausgeglichen und neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
2013 nannte die Stadt Bonn einen Kaufkraftindex von 109,6 Prozent (Bundesdurchschnitt: 100 Prozent). Somit verfügten die Einwohner Bonns zusammen über eine allgemeine Kaufkraft in Höhe von 7,3 Milliarden Euro bzw. 22.746 Euro pro Einwohner. Der überdurchschnittliche Kaufkraftindex ist auf einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil hoch qualifizierter Arbeitnehmer und einkommensstarke Arbeitsplätze zurückzuführen. Der benachbarte Rhein-Sieg-Kreis kam auf eine marginal niedrigere Kaufkraft in Höhe von 21.367 Euro pro Einwohner.
Im Jahre 2016 erbrachte Bonn, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 22,824 Milliarden € und belegte damit Platz 12 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 71.222 Euro pro Kopf (Nordrhein-Westfalen: 37.416 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit weit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt waren 2016 etwa 243.200 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,1 Prozent und damit unter dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 Prozent.In den meisten Städteplatzierungen zur zukünftigen Entwicklung belegen Bonn und die Region Plätze mindestens im oberen Drittel. Dass die Region ein prosperierender Wirtschaftsstandort ist, zeigt sich daran, dass die Einwohnerentwicklung seit Jahren positiv ist.Ermöglicht wurde die positive Entwicklung unter anderem durch die Ausgleichszahlungen des Bundes an die Region, die sich insgesamt auf etwa 1,4 Milliarden Euro belaufen. Gefördert wurden im Speziellen Wissenschaftsprojekte und Baumaßnahmen. Zudem zogen zahlreiche Bundesbehörden nach Bonn um, außerdem siedelten sich in der Bundesstadt viele internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen an, unter anderem zwölf der Vereinten Nationen. Auch die Konzentration der Deutschen Post und Deutschen Telekom in Bonn trug dazu bei.
Die Dienstleistungen (ohne öffentliche Verwaltung) erreichten einen Zuwachs von 27,1 Prozent, also circa 22.400 Beschäftigten, von Juni 1991 bis Juni 2002. Mit 105.171 Beschäftigten und einem Anteil von 72,3 Prozent an allen Beschäftigten hat dieser Bereich seine dominierende Stellung in Bonn ausgebaut. Dagegen hat die öffentliche Verwaltung in diesem Zeitraum fast ein Drittel ihrer Beschäftigten verloren.
Wirtschaftsforschungsinstitute gehen davon aus, dass in Bonn in den nächsten Jahren die Zahl der Arbeitsplätze weiter steigt. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Bonn Platz 37 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2019 lag sie auf Platz 28 von 401.
=== Tourismus ===
Der Tourismus in Bonn wurde während der Zeit als Regierungssitz überwiegend durch Polittourismus geprägt. Seit den 1990er-Jahren weist dieser Wirtschaftszweig hohe Wachstumsraten auf, vor allem ist die Zahl der Übernachtungen seit 1993 um 40 Prozent und sind die Ankünfte von Besuchern um 58 Prozent gestiegen. Entscheidend für den Zuwachs ist unter anderem, dass sich der Fremdenverkehr und die dort tätigen Betriebe an die neuen Gegebenheiten – im Speziellen den Regierungsumzug – angepasst haben. Der Erfolg des Bonner Tourismus wird heute neben der landschaftlich günstigen Lage an Rhein und Siebengebirge wesentlich durch den Anstieg des Passagieraufkommens am Flughafen und das Kongresswesen begründet. So entfielen von den 1,16 Millionen Hotelübernachtungen im Jahr 2005 mit 300.000 über ein Viertel auf Kongressbesucher.
Die Anzahl der Tagestouristen liegt mit neun Millionen noch wesentlich höher. Insgesamt werden durch die Touristen 176 Millionen Euro jährlich in Bonn ausgegeben. In Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis sind – mit steigender Tendenz – 10.475 Personen im Tourismus beschäftigt.
=== Arbeitsmarkt ===
Bonn hat seit Jahren eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Nordrhein-Westfalen, im Oktober 2010 betrug sie 6,9 Prozent. Ein großer Teil der in Bonn Beschäftigten kommt als Pendler aus dem Umland, hauptsächlich aus dem Rhein-Sieg-Kreis, dem Kreis Euskirchen und dem rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler, darüber hinaus aus dem Rhein-Erft-Kreis und aus Köln. Täglich fahren 80.000 Menschen nach Bonn zur Arbeit, während 30.000 Bonner außerhalb der Stadtgrenze ihrer Beschäftigung nachgehen. Damit hat Bonn nach Köln und der Landeshauptstadt Düsseldorf den dritthöchsten Pendlerüberschuss in Nordrhein-Westfalen.
Geprägt wird der Arbeitsmarkt der Region unter anderem von den zahlreichen Bundesministerien und -behörden verbunden mit mehreren Bundesverbänden und -organisationen – der Bund ist der größte Arbeitgeber in der Region – sowie den Schwergewichten Deutsche Post AG, Deutsche Telekom und Deutsche Bank mit ihrer Niederlassung Postbank. Neben den Arbeitsplätzen im Bereich der Funktionen Bundesstadt und UN-Stadt mit den internationalen Organisationen gibt es in Bonn vergleichsweise viele im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Wissenschaft mit mehreren Forschungseinrichtungen.
=== Strukturwandel im Einzelhandel ===
Wie in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik gab es ab den 1990er-Jahren im stationären Einzelhandel einen Strukturwandel. Zahlreiche ehemals inhabergeführte, alteingesessene Einzelhandelsgeschäfte verschwanden und machten Filialen von Handelsketten Platz. Auch verschwanden einige Spezialgeschäfte mit hochspezialisierten Sortimenten. Nicht zuletzt auch der zunehmende Internethandel führten zu dieser Entwicklung.
=== Bekannte Bonner Unternehmen ===
Die bedeutenden Unternehmen in Bonn sind privatisierte Staatsunternehmen: Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG, Postbank und Autobahn Tank & Rast GmbH.
Drittgrößter Arbeitgeber der Stadt Bonn ist die Universität Bonn (einschließlich der Universitätskliniken) und als bedeutender Arbeitgeber folgen ebenfalls die Stadtwerke Bonn.Zum anderen sitzen in Bonn einige traditionsreiche, überregional bekannte Privatunternehmen wie die Genussmittelproduzenten Verpoorten und Kessko, die Orgelmanufaktur Klais.
Der größte Süßwarenhersteller Europas, Haribo, hat seinen Gründungssitz (gegründet 1922) und einen Produktionsstandort in Bonn. Der Firmensitz befindet sich heute in der rheinland-pfälzischen Gemeinde Grafschaft.
Weitere Unternehmen von überregionaler Bedeutung sind die Weck Glaswerke (Produktionsstandort), Fairtrade, Eaton Industries (ehemals Klöckner & Moeller), die IVG Immobilien AG, Kautex Textron, SolarWorld, der Smoothie Hersteller True Fruits, Vapiano und die SER Group.
=== Medien ===
==== Hörfunk und Fernsehen ====
Der mit Abstand größte Medienbetrieb in Bonn ist die Deutsche Welle. Sie hat ihre Zentrale im Schürmann-Bau und produziert dort Hörfunksendungen, die in die ganze Welt ausgestrahlt werden, sowie ein Online-Angebot in derzeit (April 2012) 30 Sprachen. Zudem hat der Fernsehsender Phoenix seine Zentrale in der Bundesstadt, im ehemaligen Hauptstadtstudio des ZDF.
Der WDR unterhält in Bonn ein Bundesstudio und ein Regionalbüro. Am 1. Februar 2007 startete die lokale Berichterstattung in Bonn/Rhein-Sieg mit einer eigenen Lokalzeit aus Bonn.
In Bonn senden außerdem der Lokalradiosender Radio Bonn/Rhein-Sieg mit Rahmenprogramm von Radio NRW und das Hochschulradio BonnFM als Kooperationsprojekt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
==== Druckmedien ====
Mit Abstand größte Tageszeitung in Bonn ist der General-Anzeiger. Er gehört zur Rheinischen Post Mediengruppe. Lokale Berichterstattung findet der Leser außerdem in der Bonner Rundschau, im Rhein-Sieg-Anzeiger und in dem Boulevardblatt Express. Diese drei Zeitungen gehören alle zu der Kölner Mediengruppe Gruppe M. DuMont Schauberg. 2004 untersagte das Bundeskartellamt der Mediengruppe, am Bonner General-Anzeiger einen Aktienanteil zu erwerben. Nach Ansicht der Kartellbehörde hätte das Geschäft zu einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung auf den Leser- und Anzeigenmärkten geführt. Am 6. Juli 2005 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf das Veto des Bundeskartellamts auf, so dass DuMont 18 Prozent Anteile erwerben konnte. Im Gegenzug erwarb die Neusser GmbH, der Verlag des General-Anzeigers, im Rahmen einer Überkreuzbeteiligung Anteile in Höhe von 9,02 Prozent an der DuMont-Gruppe. Diese Beteiligung wurde inzwischen wieder aufgelöst. Seit dem 1. Juni 2018 ist der General-Anzeiger Teil der Rheinischen Post Mediengruppe.Eine starke Stellung im Bereich Druckerzeugnis haben die Verlagsgruppe Rentrop (unter anderem mit dem Verlag für die Deutsche Wirtschaft) und der Stollfuß-Verlag in den Bereichen Steuer, Wirtschaft und Recht. Beide gehören zu den 100 größten deutschen Verlagen. Mit der Herausgabe von musikalischer Fachliteratur, Noten und Lehrbüchern zu Musikinstrumenten gehört der Voggenreiter Verlag zu den bekanntesten Unternehmen dieser Sparte.
Monatlich erscheinen in Bonn die Stadtmagazine Schnüss (rheinisch für „Schnauze“) und Szene Köln-Bonn. Die überregionale Wochenzeitung Rheinischer Merkur stammte ebenfalls aus Bonn und wurde 2010 auf Initiative der Deutschen Bischofskonferenz als Mitgesellschafter in eine Beilage der Wochenzeitung Die Zeit umgewandelt.
==== Internetangebote ====
Online-Angebote mit lokalen Nachrichten produzieren die Bonner Tageszeitungen, der WDR und Radio Bonn/Rhein-Sieg.
==== Nachrichtenagenturen ====
Die Bundespressekonferenz hat ihre einzige Außenstelle im Tulpenfeld. Hier befindet sich eine Niederlassung der Deutschen Presse-Agentur (DPA). Außerdem arbeiten in der UN-Stadt eine Reihe von Nachrichtenagenturen im Umfeld der hier angesiedelten internationalen Organisationen, wie zum Beispiel die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA).
==== Übertragungstechnik ====
Die Rundfunkversorgung erfolgt unter anderem über die Sendemasten auf dem Venusberg und dem Großen Ölberg. Über den Sender Bonn-Venusberg auf dem Venusberg wird die Region Bonn seit 2004 mit dem digitalen Antennenfernsehen DVB-T versorgt, das die analoge Ausstrahlung ersetzte.
== Öffentliche Einrichtungen ==
=== UN- und Bundesstadt ===
==== UN-Stadt (Standort von UN-Behörden) ====
Der 20. Juni 1996 gilt als Geburtsstunde der Bezeichnung UN-Stadt Bonn. An diesem Tag wurde vor dem Haus Carstanjen zur Einweihung als UN-Niederlassung die UN-Flagge gehisst. Bonn selbst bezeichnet sich als „die UN-Stadt am Rhein“. Für 19 Organisationen, Büros und Programme der Vereinten Nationen arbeiten hier inzwischen rund 1.000 Mitarbeiter. Bonn ist auch Sitz des UN-Klimasekretariates (UNFCCC). Die meisten Organisationen verbindet der Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung der Erde. Sie waren zunächst hauptsächlich im Bad Godesberger Haus Carstanjen ansässig, das den wachsenden Sekretariaten auf Dauer zu wenig Platz bot. Deshalb hat die Bundesregierung 2003 entschieden, den „Langen Eugen“ und das Bundeshaus als ehemalige Parlamentsgebäude den Vereinten Nationen zur dauerhaften Nutzung zu überlassen und dort einen UN-Campus zu bilden. Der Campus hat den Status eines exterritorialen Gebietes. Seit der offiziellen Eröffnung des UN-Campus im Juli 2006 sind – bis auf eine – alle anderen (18) Organisationen in den „Langen Eugen“ eingezogen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel übergab am 11. Juli 2006 offiziell an damaligen UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Im Oktober 2013 konnte das Klimasekretariat den umgebauten Südflügel des Bundeshauses – das alte Abgeordnetenhochhaus – beziehen. Jüngste UN-Organisation in Bonn ist das am 3. März 2016 eingeweihte Wissenszentrum für nachhaltige Entwicklung der Fortbildungsakademie des Systems der Vereinten Nationen (UNSSC), welches wahrscheinlich im „kurzen Eugen“ untergebracht ist. Der 17 geschossige Neubau gilt als energetischer Vorzeigebau und kostete etwa 75 Millionen Euro. Lars Heyltjes regte daher in Kölner Stadtanzeiger den Spitznamen „Teurer Eugen“ an.Die Ansiedlungen der Vereinten Nationen führten zu einem Anstieg der in Bonn tätigen internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, von denen sich in Bonn inzwischen ungefähr 170 niedergelassen haben. Darunter befinden sich unter anderem der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), bedeutende Institute der Entwicklungshilfe, die in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit Hauptsitz in Bonn unterstützt werden.
Am UN-Standort Bonn sind rund 150 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Interessensvertretungen angesiedelt.
==== Bundesstadt (Standort von Bundesbehörden) ====
Seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin, geregelt durch das Berlin/Bonn-Gesetz vom 26. April 1994, haben sechs Bundesministerien weiterhin ihren ersten Dienstsitz in Bonn. Weil sich hier die Bundesrepublik Deutschland 1949 konstituierte, die Stadt für mehrere Jahrzehnte Parlaments- und Regierungssitz wurde (somit bis 1990 vorläufig die Funktion einer Bundeshauptstadt wahrnahm) und Bonn das Verwaltungszentrum, d. h. Zentrum der Ministerialverwaltung des Bundes bleiben sollte, trägt die Stadt fortan den bundesweit einmaligen Titel Bundesstadt. Zudem dürfen in den Berliner Ministerien nicht mehr Mitarbeiter beschäftigt werden als in den Bonner Ministerien, in denen etwa 10.000 Personen arbeiten. Ebenfalls durch das Gesetz geregelt wurde der Umzug von 22 Bundesbehörden aus Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet in die Bundesstadt. Außerdem legte der Bund die Ansiedlung der Deutschen Telekom, der Deutschen Post und der Postbank per Gesetz fest.
Ihren ersten Dienstsitz in Bonn haben folgende sechs Bundesministerien: das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg); die Bundesministerien für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL); für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ); für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB); für Gesundheit (BMG) und für Bildung und Forschung (BMBF). Die acht Bundesministerien mit erstem Dienstsitz in Berlin haben in Bonn einen Zweitsitz.
Viele weitere Bundesbehörden wie beispielsweise das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW), das Bundeskartellamt (BKartA), der Bundesrechnungshof (BRH), die Bundesnetzagentur (BNetzA), die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) sind ebenfalls in Bonn angesiedelt.
Mit dem Bundesrat und dem Bundespräsidenten haben zudem zwei Verfassungsorgane ihren zweiten Dienstsitz in der Bundesstadt.
Zu Zeiten als Bundeshauptstadt entstanden im Süden der Stadt, zwischen Bonn und Bad Godesberg, zahlreiche Bauten für Bundesangelegenheiten und wichtige Institutionen, wie der Deutsche Bundestag und die Dienstsitze von Bundeskanzler und Bundespräsident und nicht zuletzt auch einige Botschaften lagen ab 1949 im Gebiet der Rheinaue. Im Volksmund sprachen daher die Bonner von Bonn, wenn sie die Stadt meinten und von Bundes-Bonn, wenn es um die Liegenschaften des Bundes ging. Diese räumliche Abgrenzung war allerdings schon deswegen schwierig, weil zahlreiche Ministerien und Dienststellen aus Raumnot über die ganze Stadt verteilt waren.
=== Wissenschaft, Bildung und Forschung ===
Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurde 1777 als Akademie gegründet und 1798 geschlossen. 1818 wurde sie neu gegründet und gehört seitdem zu den größten Universitäten Deutschlands. Zusammen mit ihrer Universitätsklinik gehört sie zu den größten Arbeitgebern in Bonn. Im Mai 2019 waren über 38.000 Studierende immatrikuliert und liegt nach der Anzahl der Studierenden auf Platz 13 (von 426) der deutschen Universitäten.Die frühere Sternwarte der Universität beherbergt heute das Institut für Kommunikationswissenschaften sowie die Volkssternwarte Bonn.
Die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde 1995 gegründet. Obwohl sie Bonn in ihrem Namen trägt, befindet sich innerhalb der Stadt kein Studienstandort. Sitz der Hochschule ist Sankt Augustin, weitere Standorte befinden sich in Rheinbach und Hennef (Sieg).
Außerdem befinden sich in Bonn die Max-Planck-Institute für Mathematik, Radioastronomie und zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Seit 2012 ist die Stadt Bonn „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Des Weiteren ist Bonn seit 2009 Verwaltungssitz des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
Als Ausgleichsmaßnahme für den Umzug nach Berlin wurde 1998 das Forschungszentrum caesar gegründet. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik, das 1964 in Berlin gegründet worden war, zog 2000 nach Bonn um. Auf dem UN-Campus ist ein Institut der Universität der Vereinten Nationen (UNU) – das Institute for Environment and Human Security (UNU-EHS) – angesiedelt. Die Fernuniversität in Hagen, die DIPLOMA – FH Nordhessen sowie die FOM Hochschule für Oekonomie & Management unterhalten Außenstellen in Bonn.
Bis 2004 beherbergte Bonn die Fachhochschule für das öffentliche Bibliothekswesen Bonn. Diese Fachhochschule war 1921 vom Borromäusverein gegründet und 1947 vom Land Nordrhein-Westfalen staatlich anerkannt worden. Seit 1982 trug sie ihren zuletzt bekannten Namen. Im Jahre 2004 wurde die Fachhochschule jedoch aufgelöst.
Die Bibliothek für Hugenottengeschichte wurde 2008 gegründet.
Die Fortbildungsakademie des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen ist eine landesweite Fortbildungsstelle für die Beschäftigten der Kommunen sowie der Landesverwaltung. Ihren Sitz hat sie in Herne. In Bad Godesberg befindet sich die hiervon unabhängige Bildungseinrichtung der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie trägt den Namen Fortbildungsakademie der Finanzverwaltung NRW (FortAFin). Nach der Verlagerung der FortAFin zum 1. Oktober 2018 wird am bisherigen Standort in Bonn-Bad Godesberg eine Dependance der Landesfinanzschule Wuppertal entstehen.Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Studienstiftung des deutschen Volkes, das Cusanuswerk, die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute (AsKI) haben ihre Geschäftsstellen in Bonn.
Des Weiteren haben im politischen Bereich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Sekretariat der Kultusministerkonferenz (KMK), die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK), das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ihren Sitz in Bonn.
=== Brandschutz ===
Die Feuerwehr Bonn besteht aus der 1941 gegründeten Berufsfeuerwehr, der 1863 gegründeten Freiwilligen Feuerwehr und der Jugendfeuerwehr, die sich jeweils aus verschiedenen Einheiten mit verschiedenen Wachen zusammensetzen.
=== Gesundheitswesen ===
Die über 15 Krankenhäuser sind über die ganze Stadt verteilt. Den bedeutendsten Betrieb stellt das Universitätsklinikum Bonn dar, das über 30 Kliniken in 12 Abteilungen betreibt. Fast alle sind auf dem Venusberg untergebracht, im restlichen Stadtgebiet bestehen drei weitere Standorte. Eine weitere Großklinik ist die LVR-Klinik Bonn (bis 2009 Rheinische Kliniken Bonn, bis 1997 Rheinische Landesklinik Bonn) des Landschaftsverbandes Rheinland in Bonn-Castell. Seit 2013 besteht mit den GFO Kliniken Bonn ein weiteres Gemeinschaftskrankenhaus.
=== Justizbehörden ===
Bonn ist Sitz des Landgerichtes Bonn, dem sechs Amtsgerichte unterstehen, darunter das Amtsgericht Bonn. Daneben sind in der Stadt ein Arbeitsgericht und die Staatsanwaltschaft Bonn ansässig. Das in Bonn beheimatete Bundeszentralregister ist zum 1. Januar 2007 mit der Außenstelle des Bundesjustizministeriums im neugebildeten Bundesamt für Justiz mit Sitz in Bonn aufgegangen. Dort wird unter anderem das Bundesgesetzblatt herausgegeben. Gemäß dem Berlin/Bonn-Gesetz behält das Bundesjustizministerium weiterhin eine Außenstelle mit etwa 30 Mitarbeitern in Bonn.
=== Arbeitsmarktbehörden ===
Bonn ist außerdem Standort der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Im Stadtteil Duisdorf befindet sich der Hauptsitz der ZAV mit ihren bundesweit 18 Standorten.
== Siehe auch ==
== Literatur ==
=== Bildbände ===
Monika Hörig, Michael Sondermann: Bonn. Die Pracht am Rhein. 2. Auflage. Verlag Beleke, 2004, ISBN 3-922785-83-2.
Dieter Höroldt: Bonn ehemals, gestern und heute. Stuttgart 1983
Josef Niesen: Historisches Bonn. Ein fotografischer Rundgang mit Bildern aus zwei Jahrhunderten. BonnBuchVerlag, Bonn 2017, ISBN 978-3-9818821-0-0.
Beatrice Treydel, Christian Mack: Gesichter Bonns: 100 Gründe Bonn zu lieben. Edition Lempertz, 2015, ISBN 978-3-945152-16-4.
=== Historische und politische Sachbücher ===
Bonn – Jahre des Aufbruchs. Erinnerungen an die Zeit nach dem Krieg. General-Anzeiger, Bonn 1986.
Sebastian Bruns, Nina Hürter (Hrsg.): Nachhaltig ins 21. Jahrhundert. 15 Jahre UNO-Stadt Bonn. 15 Years UN City of Bonn. 1. Auflage. Bouvier-Verlag, 2011, ISBN 978-3-416-03347-3.
Bonner Heimat- und Geschichtsverein (Hrsg.): Die älteste Geschichte der Stadt Bonn aus dem Jahre 1656. Textausgabe – Übersetzung und Kommentar. Bonn 2011, ISBN 978-3-922832-49-2. (Ausgabe der Historia universalis de Ubiorum ara seu Bonna von Adolph Sigismund Burman; transkribiert, übersetzt und kommentiert von Manfred Peter Koch)
Beate Czapla, Marc Laureys und Karl August Neuhausen (Hrsg.): Bonna solum felix. Bonn in der lateinischen Literatur der Neuzeit. Rheinland-Verlag, Köln 2003, ISBN 3-7927-1881-2.
Edith Ennen, Dietrich Höroldt: Kleine Geschichte der Stadt Bonn (= Bonner Geschichtsblätter. Bd. 20, ISSN 0068-0052). Bonner Heimat- und Geschichtsverein, Wilhelm Stollfuss Verlag, Bonn 1966 (Später als: Vom Römerkastell zur Bundeshauptstadt. Kleine Geschichte der Stadt Bonn. 4., durchgesehene Auflage. Stollfuss, Bonn 1985, ISBN 3-08-614094-1).
Manfred van Rey: Bonner Stadtgeschichte – kurz gefasst. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Bouvier, Bonn 2006, ISBN 3-416-03073-7.
Manfred van Rey: Bonn in bitteren Zeiten 1933–1945, Kid Verlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-947759-69-9.
Andreas Salz: Bonn-Berlin. Die Debatte um Parlaments- und Regierungssitz im Deutschen Bundestag und die Folgen. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2006, ISBN 3-86582-342-4.
Detlef Bluhm, Rainer Nitsche (Hrsg.): Bonn. Viel größer als ich dachte. Briefe, Reisebilder, Tagebuchnotizen, Anekdoten bekannter Persönlichkeiten aus zwei Jahrhunderten. Transit Buchverlag, 1998, ISBN 3-88747-135-0.
Stephan Eisel: Konrad Adenauer als Bonner Bundestagsabgeordneter. In: Stephan Eisel, Johannes Laitenberger (Hrsg.): Für Bonn, für Deutschland, für Europa – Festschrift 50 Jahre Bonner CDU. Bonn 1995, ISBN 3-416-02570-9.
Dorothea F. Voigtländer (Hrsg.): Mein Bonn. Zeitzeugen-Erinnerungen aus Bonn und Umgebung 1914–1998. Zeitgut Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-86614-131-9.
Winand Kerkhoff: Bonn neu entdecken – Menschen / Kultur / Geschichte. Edition Lempertz, Königswinter, 2006, ISBN 3-933070-57-0.
Rudolf Zewell: Kleine Bonner Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2007, ISBN 978-3-7917-2053-1.
J.P.N.M. Vogel: Chorographia Bonnensis oder kurze Beschreibung alles dessen, was von Anbeginn … (1766–1773). hrsg. von Norbert Flörken, BonnBuchVerlag, Bonn 2020, ISBN 978-3-948568-04-7.
Jüdische Schicksale in Bonn und Umgebung – Eine Quellensammlung hrg. von Norbert Flörken, BonnBuchVerlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-948568-09-2.
=== Architektur, Kunst und Kultur ===
Dittmar Dahlmann, Norbert Schloßmacher, Joachim Scholtyseck (Hrsg.): Bonn in Bewegung. Eine Sportgeschichte. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0265-7.
Andreas Denk, Ingeborg Flagge: Architekturführer Bonn. Raimer, Berlin 1997, ISBN 3-496-01150-5.
Fried Mühlberg: Bonn (Deutsche Lande Deutsche Kunst). München/Berlin 1951
Josef Niesen: Bonner Denkmäler und ihre Erbauer, Edition Lempertz, Königswinter 2013, ISBN 978-3-943883-52-7.
Elisabeth Plessen: Bauten des Bundes 1949–1989: Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung. 1. Auflage. DOM publishers, Berlin 2019, ISBN 978-3-86922-518-0.
Hermann Josef Roth: Bonn. Von der römischen Garnison zur Bundeshauptstadt – Kunst und Kultur zwischen Voreifel und Siebengebirge (DuMont Kunst-Reüseführer). Köln 1988
Hans Weingartz: Von der Liegenden mit Kind bis Mother Earth – Kunstwerke im öffentlichen Raum von Bonn – 1950 bis heute, Bonn 2022, ISBN 978-3-947759-54-5.
Margot Wetzstein (Hrsg.): Familie Beethoven im kurfürstlichen Bonn. Carus, 2006, ISBN 3-88188-098-4.
Benedikt Wintgens: Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans. Düsseldorf 2019, ISBN 978-3-7700-5347-6.
Gabriele Zabel-Zottmann: Skulpturen und Objekte im öffentlichen Raum der Bundeshauptstadt Bonn – Aufgestellt von 1970 bis 1991. Mit Betrachtung einer Auswahl vorher sowie anschließend aufgestellter Werke. Teil 2: Katalog. Bonn 2012, DNB 1029692912, urn:nbn:de:hbz:5-30255.
=== Lexika ===
Hans-Dieter Weber: Bonn Lexikon. 1. Auflage. Bouvier Verlag / General-Anzeiger, 2008, ISBN 978-3-416-03200-1.
Josef Niesen: Bonner Personenlexikon. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. Bouvier, Bonn 2011, ISBN 978-3-416-03352-7.
Ansgar Sebastian Klein (Bearb.): Bonner Straßennamen. Herkunft und Bedeutung. Bonn 2011, ISBN 978-3-922832-48-5.
=== Reiseliteratur ===
Karl Baedeker: Baedekers Bonn (Baedeker-Stadtführer) 6. Auflage, Ostfildern-Kemnat 2002
Horst-Pierre Bothien, Harald Ott: Bonn in de Täsch: Der persönliche Stadtführer. Klartext-Verlagsgesellschaft, 2008, ISBN 978-3-89861-938-7.
Matthias Hannemann, Dietmar Preißler: Bonn – Orte der Demokratie. Der historische Reiseführer. Hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeszentrale für politische Bildung. Ch. Links Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-86153-519-5. (2. überarbeitete und ergänzte Auflage 2014 ebenda, ISBN 978-3-86153-780-9)
Eckard Heck: 111 Orte in Bonn, die man gesehen haben muss. 2. Auflage. Emons Verlag GmbH, 2014, ISBN 978-3-95451-212-6.Klaus Polak, Nadine Martin: Bonn, CityGuide. 3. Auflage. Reise Know-How Verlag, 2012, ISBN 978-3-8317-2259-4.
== Weblinks ==
Webpräsenz der Bundesstadt Bonn
Bonn auf stadtpanoramen.de
Literatur zu Bonn im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Linkkatalog zum Thema Bonn bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Einträge über Bonn in historischen Lexika bei Zeno.org.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Bonn |
Virginia Woolf | = Virginia Woolf =
Virginia Woolf [vəˈdʒɪnjə wʊlf] (* 25. Januar 1882 in London; † 28. März 1941 bei Rodmell nahe Lewes, Sussex; gebürtig Adeline Virginia Stephen) war eine britische Schriftstellerin und Verlegerin. Sie entstammte einer wohlhabenden Intellektuellen-Familie, die zahlreiche Kontakte zu Literaten hatte. Als Jugendliche erlebte sie die viktorianischen Beschränkungen für Mädchen und Frauen. Sie war früh als Literaturkritikerin und Essayistin tätig; ihre Karriere als Romanautorin begann im Jahr 1915 mit dem Roman The Voyage Out (Die Fahrt hinaus). Ende der 1920er Jahre war sie eine erfolgreiche und international bekannte Schriftstellerin. Woolf wurde in den 1970er Jahren wiederentdeckt, als ihr Essay A Room of One’s Own (Ein Zimmer für sich allein) aus dem Jahr 1929 zu einem der meistzitierten Texte der neuen Frauenbewegung wurde. Mit ihrem avantgardistischen Werk zählt sie neben Gertrude Stein zu den bedeutendsten Autorinnen der klassischen Moderne.
== Leben ==
=== Kindheit und Jugend ===
Virginia Woolf war die Tochter des Schriftstellers, Historikers, Essayisten, Biographen und Bergsteigers Leslie Stephen (1832–1904) und dessen zweiter Ehefrau Julia Stephen (1846–1895). Sie hatte drei Geschwister: Vanessa Stephen (1879–1961), Thoby Stephen (1880–1906) und Adrian Stephen (1883–1948). Hinzu kamen die Halbschwester Laura Makepeace Stephen (1870–1945) aus der ersten Ehe ihres Vaters mit Harriet Marion Thackeray (1840–1875) sowie die Halbgeschwister George Herbert Duckworth (1868–1934), Stella Duckworth (1869–1897) und Gerald Duckworth (1870–1937) aus der ersten Ehe ihrer Mutter mit Herbert Duckworth (1833–1870). Der Familienwohnsitz lag im Londoner Stadtteil Kensington, 22 Hyde Park Gate. Die intellektuelle und künstlerische Elite der Zeit, wie beispielsweise Alfred Tennyson, Thomas Hardy, Henry James und Edward Burne-Jones, besuchte Leslie Stephens Salon.
Psychoanalytiker und Biographen beschreiben, dass ihre Halbgeschwister Gerald und George Duckworth Virginia missbraucht oder zumindest öfter unsittlich berührt hätten und damit einen der Auslöser ihrer manisch-depressiven Erkrankung gesetzt haben könnten, die heute als Bipolare Störung bezeichnet wird. Virginia selbst hat entsprechende Erlebnisse in ihrem autobiographischen Text A Sketch of the Past (Skizzierte Erinnerungen) der rigiden viktorianischen Zeit gemäß nur angedeutet. Hermione Lee schreibt in ihrer Biographie über Virginia Woolf: „Das Beweismaterial ist stark genug, aber auch vieldeutig genug, um widersprüchlichen psychobiographischen Deutungen den Weg zu ebnen, die ganz unterschiedliche Darstellungen von Virginia Woolfs Innenleben zeichnen.“ Andere, eher unter einem psychiatrischen Blickwinkel arbeitende Wissenschaftler, weisen auf die genetische Prädisposition ihrer Familie hin. So war von Virginias Vater bekannt, dass er vor allem nach dem Tod seiner Ehefrau unter Anfällen von Selbstzweifeln und Überlastungssymptomen litt, die sich in hartnäckigen Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und Angstzuständen äußerten; über ähnliche Beschwerden klagte später auch die Tochter.Virginia Stephen besuchte keine Schule, sondern erhielt von Hauslehrern und ihrem Vater Privatunterricht. Sie war beeindruckt von der schriftstellerischen Arbeit ihres Vaters und seiner Tätigkeit als Herausgeber des monumentalen Werks Dictionary of National Biography sowie von seiner umfangreichen Privatbibliothek; daher äußerte sie schon früh den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Als am 5. Mai 1895 ihre Mutter starb, erlitt die dreizehnjährige Virginia ihren ersten psychischen Zusammenbruch. Ihre Halbschwester Stella, die nach dem Tod von Julia Stephen zunächst den Haushalt führte, heiratete zwei Jahre später Jack Hills und verließ das Elternhaus. Stella starb wenig später auf ihrer Hochzeitsreise an einer Bauchfellentzündung.
Von 1882 bis 1894 verbrachte die Familie die Sommerferien im Talland House, ihrem Sommerhaus mit Blick auf Porthminster Beach und den Leuchtturm von Godrevy Point. Es lag in dem kleinen Küstenort St Ives in Cornwall, der 1928 zur Künstlerkolonie wurde. Virginia beschreibt die Lage in Skizzierte Erinnerungen:
„Unser Haus lag […] auf dem Hügel. […] Es hatte eine ideale Aussicht […] über die ganze Bucht hin, bis zum Godrevyer Leuchtturm hinüber. Am Hang des Hügels gab es kleine Rasenflächen, die von dichten blühenden Büschen eingerahmt waren […]. Man betrat Talland House durch ein großes hölzernes Tor – […] und kam dann rechter Hand zum „Lugaus.“ […] Vom Lugausplatz hatte man damals einen ganz freien Ausblick über die Bucht.“Im Jahr 1895 wurde das Haus an den schottischen Maler Thomas Millie Dow verkauft. Virginia kehrte oft nach St Ives zurück. Später beschrieb sie den Ort und den nah gelegenen Leuchtturm von Godrevy Point in Jacob’s Room (Jacobs Zimmer) und in To the Lighthouse (Zum Leuchtturm). London und St Ives werden oft die Schauplätze ihrer Werke bilden.
Am 26. Juni 1902 wurde Virginias Vater zum Knight Commander of the Bath ernannt. Während dieser Zeit schrieb Virginia an verschiedenen Essays und bereitete sie zur Veröffentlichung vor. Im Januar 1904 wurde Virginias erster Artikel für eine Frauenbeilage im Guardian gedruckt. Am 22. Februar 1904 starb der Vater an Krebs. Damit ging für Virginia ein Zeitabschnitt zu Ende, der geprägt war vom kräftezehrenden Umgang mit der schwierigen Persönlichkeit Leslies. Begonnen hatten die Strapazen für Virginia und Vanessa bereits 1897 mit dem Tod von Virginias Halbschwester Stella, die für Leslie gewissermaßen die Rolle der umsorgenden Ehefrau angenommen hatte. Zehn Wochen nach dem Tod des Vaters erlitt Virginia ihre zweite psychische Krankheitsepisode, von der sie sich erst Ende des Jahres erholen konnte.
1899 hatte Virginias älterer Bruder Thoby ein Studium am Trinity College in Cambridge begonnen. Bei einem Abendessen am 17. November 1904 lernte Virginia seinen Freund, ihren späteren Ehemann Leonard Woolf, kennen, der Jura studierte und gerade im Begriff war, in Ceylon eine Stellung im Kolonialdienst anzunehmen.
=== Bloomsbury Group ===
Die Stephen-Geschwister zogen im Jahr 1905 von Kensington in den Stadtteil Bloomsbury in das Haus am Gordon Square 46. Hier begann Thoby, den Donnerstag als Jour fixe für eine Zusammenkunft mit seinen Freunden zu etablieren. Mit diesem Brauch war der Grundstein der Bloomsbury Group gelegt, der zum Teil aus Mitgliedern der Cambridge Apostles bestand. Zu diesem Zirkel gehörten neben Virginia Literaten wie Saxon Sydney-Turner, David Herbert Lawrence, Lytton Strachey, Leonard Woolf, Maler wie Mark Gertler, Duncan Grant, Roger Fry und Virginias Schwester Vanessa, Kritiker wie Clive Bell und Desmond MacCarthy sowie Wissenschaftler wie John Maynard Keynes und Bertrand Russell.
Virginia war dankbar, in diesem intellektuellen Kreis – Vanessa und sie waren neben Mary MacCarthy die einzigen Frauen – in Diskussionen mitwirken und sich aus den moralischen Fesseln ihrer Erziehung befreien zu können. Im selben Jahr begann Virginia für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben; ihre Mitarbeit am Times Literary Supplement dauerte bis an ihr Lebensende. Ab Ende des Jahres bis 1907 unterrichtete sie englische Literatur und Geschichte am Morley College, einer Bildungsstätte für berufstätige Erwachsene.
Am 20. November 1906 erkrankte Thoby Stephen, der ältere Bruder Virginias, während einer Reise durch Griechenland an Typhus und starb bald nach der Rückkehr im Alter von 26 Jahren – ein Verlust, an dem Virginia schwer zu tragen hatte. Kurz darauf verlobte sich Vanessa mit Clive Bell; sie heirateten am 7. Februar 1907 und blieben im Haus am Gordon Square, während Virginia und Adrian Stephen in das Haus am Fitzroy Square 29 umzogen, das ebenfalls im Stadtteil Bloomsbury gelegen war.
Der Jour fixe der „Bloomsberries“ hatte dadurch zwei Stützpunkte; Vanessa Bells Salon war anfangs der progressivere. Der Umgangston wurde lockerer, die Teilnehmer sprachen sich mit Vornamen an, die Gespräche hatten nicht nur intellektuellen Charakter, sondern waren von menschlicher Wärme getragen. Das englische Spießertum war der Gegner, den sie gemeinsam bekämpfen wollten, in der Literatur, der Kunst und in der Sexualität.
Im darauf folgenden Jahr unternahm Virginia eine Reise nach Siena und Perugia und kehrte nach einem Aufenthalt in Paris wieder nach Großbritannien zurück. Im Februar 1909 machte Lytton Strachey ihr trotz seiner Homosexualität einen Heiratsantrag, den Virginia annahm. Strachey überlegte es sich jedoch anders und beide einigten sich darauf, den Antrag zu vergessen.
Im Sommer 1909 machte Virginia die Bekanntschaft von Lady Ottoline Morrell, einer Aristokratin und Kunstmäzenin. Diese schloss sich dem Bloomsbury-Kreis an und faszinierte durch ihre extravagante Erscheinung. Ihr exotischer Lebensstil beeinflusste die Gruppe, sodass die Mitglieder gerne der Einladung folgten, donnerstags um zehn Uhr in ihr Haus am Bedford Square zu kommen, wo sich Besucher wie D. H. Lawrence und Winston Churchill im Salon einfanden. 1915 wurde auch ihr Haus Garsington Manor bei Oxford zum Treffpunkt der „Bloomsberries“. Virginia setzte Ottoline Morrell in ihrem Roman Mrs Dalloway, den sie als „Garsington novel“ bezeichnete, ein literarisches Denkmal.Ebenfalls im Jahr 1909 erbte Virginia Stephen 2500 Pfund von ihrer Tante Caroline Emelia Stephen (1834–1909); die Erbschaft erleichterte ihr die Fortsetzung ihrer Schriftstellerkarriere.
=== Der Dreadnought-Streich ===
Am 10. Februar 1910 veranstaltete Virginia zusammen mit Duncan Grant, ihrem Bruder Adrian Stephen und drei weiteren „Bloomsberries“ den Dreadnought-Streich, der zu einer offiziellen Anfrage im Oberhaus führte. Die Truppe reiste nach der Anmeldung mit einem erfolgreich gefälschten Telegramm an das Kriegsschiff HMS Dreadnought in einem abenteuerlichen Aufzug nach Weymouth. Virginia, Duncan und zwei ihrer Freunde trugen orientalische Phantasiekleidung, angeklebte Bärte und waren bis zur Unkenntlichkeit schwarz geschminkt. Sie besichtigten auf Einladung des Oberbefehlshabers des Kriegsschiffes als Delegation von vier fürstlichen Diplomaten aus Abessinien, einem Mitglied des British Foreign Office und einem Dolmetscher die HMS Dreadnought. Der Spaß gelang: Eine Abordnung führte die Delegation durch das höchst geheime Schiff, die Flaggen wurden gehisst, und die Kapelle spielte zu ihren Ehren. Allerdings spielte sie die Nationalhymne von Sansibar, da die abessinische nicht aufzutreiben war. Die fürstliche Gruppe unterhielt sich mit einigen Brocken Swahili, und der Dolmetscher sprach ein Kauderwelsch einiger Zeilen von Vergil. Zu ihrem Glück war das einzige Besatzungsmitglied, dessen Muttersprache Swahili war, an diesem Tag nicht an Bord.
Ein Foto des Empfangs schickte der zur Gruppe gehörende Horace Cole dem Daily Mirror zu, der es veröffentlichte. Außerdem ging er persönlich zum Foreign Office, um den Streich zu melden. Die „Bloomsberries“ wollten mit ihrem Coup die Bürokratie und das „Empire“ verspotten, was ihnen in Hinblick auf den Namen des Schiffes, „Dreadnought“ (Fürchte nichts), das außerdem Prototyp einer ganzen Reihe neuer Kampfschifftypen gleichen Namens war, auch im wortspielerischen Sinne gelang; insofern war es eine doppelte Blamage für die Militärführung. Die Royal Navy verlangte, dass der Anstifter Horace Cole in Haft genommen werden müsse, jedoch ohne Erfolg, da die Gruppe kein Gesetz gebrochen hatte. Cole bot an, sich sechs Stockschläge versetzen zu lassen unter der Bedingung, zurückschlagen zu dürfen. Duncan Grant wurde von drei Männern entführt, erhielt auf einem Feld zwei Hiebe und fuhr in Pantoffeln mit der U-Bahn wieder nach Hause.
=== Heirat und Romandebüt ===
Im Jahr 1911 mietete Virginia ein Haus in dem Dorf Firle bei Lewes in Sussex und taufte es in Erinnerung an glückliche Kindertage in Cornwall Little Talland House. Es war jedoch nur eine Notlösung, wenig später pachteten Virginia und Vanessa das in der Nähe gelegene Haus Asheham, das Virginia sehr liebte und in dem sie zwischen 1912 und 1919 viel Zeit verbrachte. Aus der Londoner Wohnung am Fitzroy Square, deren Mietvertrag auslief, zogen Virginia und Adrian Stephen in das Haus am Brunswick Square 38. John Maynard Keynes, sein Freund Duncan Grant und Leonard Woolf belegten dort als Untermieter ebenfalls Räume, sehr zum Missfallen der Verwandtschaft: „Eine junge unverheiratete Frau, umgeben von einer Horde junger Männer!“Im Januar 1912 machte Leonard Woolf auf Anraten Lytton Stracheys Virginia einen Heiratsantrag. Er hatte sich vom Kolonialdienst beurlauben lassen und war im Juni 1911 nach England zurückgekehrt. Sie zögerte und erlitt erneut einen depressiven Krankheitsschub, der die Aufnahme in das Krankenhaus von Twickenham erforderlich machte. Leonard durfte sie nicht besuchen. Vier Monate später willigte sie ein, obgleich, wie sie an Leonard schrieb, er auf sie keine körperliche Anziehungskraft ausübe. Sie liebe ihn nach bestem Vermögen. Seine Liebe zu ihr gab den Ausschlag für ihre Einwilligung. Der Freundin Violet Dickinson schrieb Virginia am 5. Juni 1912: „Ich werde Leonard Woolf heiraten. Er ist Jude und hat keinen Pfennig. Ich bin glücklicher, als je jemand für möglich gehalten hat – […]“, und am Tag darauf schickten sie und Leonard eine gemeinsame Postkarte an Lytton Strachey mit den Worten: „Ha! Ha!“, gefolgt von ihren Unterschriften.
Die Trauung fand am 10. August 1912 im Standesamt St Pancras statt. Leonard schied aus dem Kolonialdienst aus und ging verschiedenen Gelegenheitsarbeiten nach; beispielsweise war er Sekretär seines Bloomsbury-Freundes, des Malers Roger Fry, und organisierte für ihn die zweite Post-Impressionisten-Ausstellung in den „Grafton Galleries“. Anschließend fand er eine Tätigkeit bei der „Charity Organisation Society“ und arbeitete als Rezensent politischer Bücher beim „New Statesman“. 1913 veröffentlichte er seinen ersten Roman, The Village and the Jungle, in dem er seine Erfahrungen im Kolonialdienst verarbeitete.
Ein Arzt riet den jungen Eheleuten von Kindern ab – die Gesundheit Virginias sei zu schwach. Ihre Depressionen wurden stärker, und am 9. September 1913 unternahm Virginia ihren ersten Suizidversuch mit Schlaftabletten. Dennoch bezeichnete sie ihre Ehe als glücklich – in Leonard hatte sie einen verständnisvollen und gebildeten Ehemann gefunden, der ihre zärtlichen Beziehungen zu anderen Frauen mit Gelassenheit sah und ihre Frigidität ihm gegenüber ertragen konnte.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 brachte außer einer Verknappung der Lebensmittel keine Belastung für das junge Ehepaar, das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen. Virginia fühlte sich in ihren Zweifeln an der Männerwelt bestätigt, da Leonard den Krieg zwar „sinn- und nutzlos“ fand, sich einer Einberufung jedoch nicht widersetzt hätte; aufgrund eines angeborenen Gliederzitterns wurde er nicht zum Militärdienst eingezogen.1915 zogen Virginia und Leonard ins Hogarth House in Richmond bei London. Im selben Jahr debütierte Virginia mit ihrem Roman The Voyage Out (Die Fahrt hinaus), der bei Duckworth & Co. veröffentlicht wurde, dem Verlag ihres Halbbruders Gerald. The Voyage Out weist deutliche autobiographische Spuren auf.
=== Gründung der Hogarth Press ===
Nach dem Vorbild der 1913 von Roger Fry gegründeten Künstlerwerkstatt Omega Workshops gründeten die Eheleute Woolf 1917 den Verlag The Hogarth Press. Sie spezialisierten sich auf moderne Literatur aus Großbritannien, den USA und Russland. Im Juli 1917 begann die Produktion mit der Auslieferung von Two Stories, die je eine Geschichte der Ehepartner enthielt, The Mark on the Wall (Das Mal an der Wand) von Virginia, Three Jews von Leonard Woolf. Das Ehepaar setzte eigenhändig die 34-seitige Broschüre. Da die Woolfs nicht genügend Lettern besaßen, setzten sie zwei Seiten, druckten sie auf einer gebraucht erstandenen Minerva-Tiegeldruckpresse, lösten den Satz wieder auf und setzten dann die nächsten beiden Seiten. Auf diese Weise brauchten sie gut zwei Monate, um die Auflage von 150 Exemplaren zu drucken. Anschließend erfolgte die ebenfalls eigenhändige Bindung.
Das mit vier Holzschnitten von Dora Carrington, einer Freundin Lytton Stracheys, ausgestattete kleine Erstlingswerk des Verlags war schon von 100 Freunden und Bekannten vorbestellt worden, die letzten Exemplare wurden innerhalb von zwei Jahren verkauft. Zu den ersten handgesetzten Werken gehörte auch Prelude der Schriftstellerin Katherine Mansfield; ihre Freundschaft war jedoch zwiespältiger Natur. Mansfield betrieb ein doppeltes Spiel: Virginia gegenüber lobte sie The Mark on the Wall, hinter ihrem Rücken nannte sie das Werk banal. Bis zum Jahr 1932 entstanden insgesamt 34 Bücher in eigenhändiger Arbeit. Hogarth Press wurde zwar zunehmend professionalisiert, doch erst Virginias dritter Roman, Jacobs Zimmer (Jacob’s Room), konnte im eigenen Verlag veröffentlicht werden. In seinen 1967 bei Hogarth Press veröffentlichten Memoiren erinnert sich Leonard Woolf: „Wir druckten in der Speisekammer, banden die Bücher im Eßzimmer und interviewten Autoren, Buchbinder und Drucker in einem Wohnzimmer.“
Virginias Funktion in der Hogarth Press war es, neue Autoren zu gewinnen und ihre Manuskripte zu lektorieren. So notierte sie am 8. Dezember 1929 in ihrem Tagebuch: „Ich las & las & habe bestimmt einen Manuskriptstapel von 3 Fuß beendet, sorgfältig gelesen dazu; vieles davon an der Grenze, was daher Nachdenken erforderte.“ Leonard oblag die Geschäftsführung, doch auch er gewann viele Autoren, hauptsächlich aus dem politischen und wirtschaftlichen Themenbereich. Vanessa Bell entwarf Illustrationen für Virginias Bücher und war für die Einbandgestaltung ihrer Werke zuständig. Das 1927 neu herausgegebene Kew Gardens war die attraktivste Veröffentlichung in der Zusammenarbeit der Schwestern.
Eine Fehlentscheidung trafen die Woolfs, als sie den Roman Ulysses von James Joyce ablehnten, der ihnen im April 1918 zur Veröffentlichung angeboten wurde. Es lagen zu dem Zeitpunkt nur die ersten Kapitel vor, doch auch diese waren schon zu umfangreich, um per Hand gesetzt und gedruckt zu werden. Wegen des obszönen Inhalts fanden sie auch keinen anderen Drucker, der die Verantwortung für den Text übernommen hätte. Überdies war Virginia vom Inhalt nicht überzeugt und schrieb am 23. April an Lytton Strachey: „Zuerst ist da ein Hund, der p--t, – dann ist da ein Mann, der furzt, und man kann sogar bei diesem Thema monoton sein – außerdem glaube ich nicht, daß seine Methode, die hoch entwickelt ist, sehr viel mehr bedeutet als das Auslassen der Erklärungen und das Einfügen von Gedanken in Gedankenstrichen: Deshalb glaube ich nicht, daß wir es machen werden.“
=== Erwerb von Monk’s House ===
Im Juli 1919 kaufte sich das Ehepaar Woolf ein einfaches Cottage in Rodmell (Sussex), Monk’s House genannt; sie hatten es für 700 Pfund ersteigert, da Asheham ihnen gekündigt worden war. Im Garten standen zwei riesige Ulmen, die von allen Besuchern und Freunden des Hauses Virginia & Leonard genannt wurden. Die Woolfs erweiterten Monk’s House durch Anbauten, und im Lauf der Jahre statteten sie es mit Teppichen, Tapeten, Stoffen, Spiegeln, Fliesen und Wandschirmen von Vanessa Bell und Duncan Grant phantasievoll aus. Ein Vorbild für die Dekoration war das von Vanessa und Duncan gemeinsam geplante Interieur von Charleston Farmhouse nahe Firle, sechs Meilen entfernt von Monk’s House, das sie 1916 gemietet hatten. In beiden Häusern fanden regelmäßig Treffen der „Bloomsberries“ statt.
Im selben Jahr wurden Virginia Woolfs Erzählungen Kew Gardens (Im Botanischen Garten) im eigenen Verlag und ihr zweiter Roman Night and Day (Tag und Nacht) bei Duckworth veröffentlicht.
1922 erschien fast zeitgleich mit dem Ulysses von James Joyce ihr Roman Jacob’s Room (Jacobs Zimmer). In diesem Roman arbeitete sie, ähnlich wie Joyce, mit der Technik des inneren Monologs und brach mit diesem Konzept die konventionelle Erzähltechnik. Der Protagonist Jacob ähnelt stark ihrem verstorbenen Bruder Thoby. Das Buch wurde ein Verkaufserfolg, brachte der Autorin Anerkennung in der literarischen Avantgardeszene und Einladungen von bedeutenden Persönlichkeiten. Leonard Woolf wurde Feuilletonredakteur bei der Wochenzeitschrift Nation und konnte auf diese Weise zum gemeinsamen Einkommen beitragen.
=== Vita Sackville-West ===
Im Dezember 1922 lernte sie die Schriftstellerin Vita Sackville-West kennen, die Frau des Diplomaten Harold Nicolson. Aus der freundschaftlichen Beziehung entwickelte sich eine dreijährige enge Liebesbeziehung (1925–1928), die in Freundschaft überging und bis zu Virginias Tod Bestand hatte. Es entstand gleichzeitig eine geschäftliche Beziehung: In der Hogarth Press verlegte sie Vitas Werke, beispielsweise im Jahr 1926 die Novelle Passenger to Teheran, sowie Werke ihres Mannes Harold Nicolson, obgleich Virginia Vitas Arbeit nicht besonders schätzte und sie als mit einer „Blechfeder“ produziert beschrieb. Ihre Anziehungskraft lag vielmehr in ihrer männlichen Schönheit, ihren noblen Verbindungen und der Abenteuerliebe.
Virginias Neffe und Biograph, Quentin Bell, beschrieb die Beziehung: „Virginia empfand, wie eine Liebende empfindet: Sie war verzagt, wenn sie sich vernachlässigt fühlte, verzweifelt, wenn Vita nicht da war, wartete ungeduldig auf Briefe, brauchte Vitas Gesellschaft und lebte in der seltsamen Mischung von Hochstimmung und Verzweiflung, die für Liebende – und man sollte meinen, nur für Liebende – bezeichnend ist.“Vita Sackville-Wests Sohn, Nigel Nicolson, veröffentlichte in seinem Buch Portrait einer Ehe aus dem Briefwechsel seiner Eltern den Brief seiner Mutter an ihren Mann: „Ich liebe Virginia – wer täte das nicht? Aber […] die Liebe zu Virginia ist etwas ganz anderes: etwas Seelisches, etwas Geistiges, wenn man so will, eine Sache des Intellekts […] Ich habe tödliche Angst, körperliche Gefühle in ihr hervorzurufen, wegen des Wahnsinns […] Ich habe mit ihr geschlafen (zweimal), aber das ist alles.“
=== Mrs Dalloway, Zum Leuchtturm ===
1924 zog das Ehepaar Woolf wieder nach Bloomsbury zurück und mietete Verlagshaus und Wohnung am Tavistock Square 52. Im selben Jahr veröffentlichte Virginia ihren vielbeachteten Essay Mr Bennett and Mrs Brown, der zur kritischen Abrechnung mit der tradierten Erzählkunst geriet und konzeptionell ihren wohl bedeutendsten Roman Mrs Dalloway einleitete, der 1925 herauskam. Ursprünglich sollte der Roman The Hours heißen wie der spätere Film von Stephen Daldry. Innovativ war daran die Erzähltechnik des Stream-of-consciousness (Bewusstseinsstrom), mit der sie das Geschehen durch die Gedankenwelt, die Stimmungen und Eindrücke der verschiedenen Romanfiguren darstellte. Diese Methode hatte sie im Ansatz bereits in Jacob’s Room erprobt, hier jedoch perfektioniert. Ebenfalls 1925 erschien ihre Essaysammlung The Common Reader, in der bereits publizierte Essays und Rezensionen gemeinsam mit neuen Arbeiten veröffentlicht wurden, wie beispielsweise der Essay über den zeitgenössischen amerikanischen Roman.
Nach dem Erscheinen von Mrs Dalloway begann Virginia am 6. August 1925 mit der Niederschrift des Romans To the Lighthouse (Zum Leuchtturm), den sie, unterbrochen von depressiven Schüben, im Januar 1927 vollenden konnte. Sie wollte das Werk ursprünglich als „Elegie“ und nicht als „Roman“ bezeichnen. Leonard nannte ihn ein Meisterwerk, und auch sie war mit ihrer Arbeit zufrieden: „Du liebe Zeit, wie schön manche Stellen von The Lighthouse sind! Weich & geschmeidig, & tief, meine ich, & kein einziges falsches Wort, seitenlang manchmal.“ Zum Leuchtturm ist ein autobiographischer Roman, der sich mit der Geschichte der Stephen-Familie befasst. Die Niederschrift kam einer Psychoanalyse nahe, die Therapie bestand im Erzählen und bannte die Herrschaft der Eltern über sie. Es ist eine Art Geistergeschichte, die Geschichte eines verwunschenen Hauses, des Talland House in St Ives, obwohl der Roman auf der Isle of Skye angesiedelt ist. Die dunklen Gefühle der Protagonistin Mrs Ramsay über Einsamkeit und Tod waren auch Virginias Gefühle.
=== Orlando ===
Im Frühjahr und Sommer 1928 unternahmen Virginia und Vita eine längere Reise durch Frankreich. Im Oktober desselben Jahres erschien Orlando. Die Hauptfigur Orlando lebt vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, wechselt im Erwachsenenalter ihr Geschlecht vom Mann zur Frau und ist am Ende der Zeitreise eine Dichterin. Dieser humorvolle Roman gilt als Virginias Liebeserklärung an Vita Sackville-West, deren Persönlichkeit sich in Orlando spiegelt. Historische Details entnahm Virginia aus Vitas 1922 veröffentlichtem Buch Knole and the Sackvilles, in dem Vitas Geburtshaus, das Knole House in Kent und die Geschichte der Sackvilles geschildert wird. Virginia selbst beschreibt das Buch als heiter und schnell lesbar; es zu verfassen war Urlaub für sie als Schriftstellerin und bereitete ihr nicht die Mühen anderer Werke. In Nigel Nicolsons Biographie seiner Eltern umschreibt er Orlando als „den längsten und charmantesten Liebesbrief in der Literatur“. Die Besucher von Knole House, seit 1946 zum großen Teil im Besitz des National Trust, können gegenwärtig das Originalmanuskript von Orlando bewundern, das in der Great Hall ausgestellt ist.
=== Der Essay Ein Zimmer für sich allein ===
Der Essay A Room of One’s Own (Ein Zimmer für sich allein bzw. Ein eigenes Zimmer) wurde 1928 geschrieben und im Oktober 1929 veröffentlicht. Die gescheite und witzige Abhandlung über die bedrückenden Bedingungen, unter denen Frauen in der Vergangenheit Literatur produzieren mussten, und in der Woolf William Shakespeares fiktive dichtende Schwester Judith Shakespeare beschreibt, wurde zu einem der meistzitierten Texte der Frauenbewegung:
„[…] Und wenn jede von uns fünfhundert [Pfund] im Jahr hat und ein Zimmer für sich allein; wenn wir an die Freiheit gewöhnt sind und an den Mut, genau das zu schreiben, was wir denken; […] dann wird diese Gelegenheit kommen und die tote Dichterin, die Shakespeares Schwester war, wird den Körper annehmen, den sie so oft abgelegt hat.“ Das seien die materiellen Grundvoraussetzungen, unter denen Frauen genau so erfolgreich Literatur produzieren könnten wie Männer. Außerdem formulierte sie darin einige Ansichten über künstlerische Kreativität, die ihr eigenes Schreiben leiteten. Das Buch wurde ein Erfolg; innerhalb eines halben Jahres wurden in England und Amerika 22.000 Exemplare verkauft.Die Komponistin und Suffragette Ethel Smyth bat im Januar 1930 anlässlich der Veröffentlichung von A Room of One’s Own um Virginias Mitwirkung bei einer BBC-Sendung mit dem Titel Point of Views und erklärte ihre Bewunderung für den Essay als wichtigen Beitrag zur Emanzipationsbewegung. Es kam zu einer persönlichen Beziehung und ausgedehntem Briefwechsel mit der um 24 Jahre älteren Ethel Smyth. Zu diesem Zeitpunkt zog Vita Sackville-West nach Sissinghurst und widmete sich mit ihrem Mann Harold Nicolson der Ausgestaltung ihres später weltberühmten Gartens.
=== Die Wellen und Flush ===
1931 erschien The Waves (Die Wellen), das nach Mrs Dalloway und To the Lighthouse den dritten und letzten ihrer sogenannten experimentellen Romane bildet. Virginia hatte Die Wellen gleichzeitig mit dem Roman Zum Leuchtturm konzipiert und parallel daran geschrieben, unterbrochen durch die Niederschrift von Orlando. Die Arbeit daran geriet zu einer fast unerträglichen Anstrengung, die sie gesundheitlich sehr belastete.
Das Buch spannt in einer Montagetechnik den Bogen über sechs Menschenleben, von der Kindheit bis zum Alter, eingefügt in den Ablauf eines schönen Sommertages. Das Lesepublikum akzeptierte im Gegensatz zu den Kritikern Die Wellen vorbehaltlos, und nach einem Monat konnte bereits die zweite Auflage gedruckt werden.
Die Romanbiographie Flush aus dem Jahr 1932, die von den Abenteuern des Cockerspaniels der Schriftstellerin Elizabeth Barrett Browning in London und Florenz berichtet, ist eine Mischung aus einigen Fakten und viel Phantasie. Flush hatte die höchste Erstauflage aller ihrer Werke und erreichte nach wenigen Monaten eine Auflage von je 50.000 Exemplaren in England und den Vereinigten Staaten.
=== Freshwater, Die Jahre und Drei Guineen ===
Im Jahr 1935 wurde Virginias einziges Theaterstück Freshwater in Vanessa Bells Londoner Studio aufgeführt. Darin thematisierte sie die Lebensgeschichte ihrer Großtante, der viktorianischen Fotografin Julia Margaret Cameron. Die Aufführung fand vor Freunden statt: Vanessa Bell spielte die Mrs Cameron, Leonard Woolf Mr Cameron, und Duncan Grant übernahm die Rolle des George Frederic Watts. Vanessas Kinder Julian und Angelica Bell waren Lord Tennyson beziehungsweise Ellen Terry.
Der Ort Freshwater liegt auf der Isle of Wight, in dem die Camerons einen Wohnsitz hatten. Bereits 1926 hatte Virginia mit Roger Fry im Verlag Harcourt, Brace, New York, eine Sammlung von Camerons Fotografien herausgegeben unter dem Titel: Julia Margaret Cameron. Victorian Photographs of Famous Men & Fair Women. Den Rest des Jahres verbrachte das Ehepaar Woolf auf einer Europareise, die Virginia von ihrer erneuten psychischen Erkrankung heilen sollte.
Virginias nächster Roman – ihr umfangreichstes Werk – The Years (Die Jahre), die Geschichte der Offiziersfamilie Pargiter und die Lebensläufe ihrer vier Töchter, erschien im Jahr 1937; die Arbeit daran hatte sie bereits im Oktober 1932 unter dem Arbeitstitel The Pargiters begonnen. Sie kehrte in der unkomplizierten Erzählweise in die Tradition englischer Romane zurück, derer sie sich seit Nacht und Tag nicht mehr bedient hatte. Das Schreiben fiel ihr schwer, und die Veröffentlichung setzte sie unter Druck. Die Jahre wurde jedoch ein Verkaufserfolg; die englische Ausgabe erschien in einer Auflage von 18.000 Exemplaren, in Amerika wurde er ein Bestseller mit 50.000 verkauften Exemplaren im ersten Jahr.
Das von Virginia gesammelte analytische Material über Frauenfeindlichkeit der Gesellschaft floss nicht nur in The Years ein, sondern fand sich auch in dem feministischen Essay Three Guineas (Drei Guineen) wieder, der im Juni 1938 erschien. In diesem Essay bringt sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg die patriarchalische Gesellschaftsform mit Militarismus, Faschismus und Krieg in Verbindung. Der Arbeitstitel für den bereits 1935 geplanten Essay lautete On Being Despised (Wenn man verachtet wird). Virginia wollte keine Integration der Frau, sondern eine Gleichstellung der Geschlechter: „Wir stehen ein für die Rechte aller – aller Männer und Frauen – auf Respektierung der großen Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit in ihrer Person“. Ihre Freunde hielten den Essay für unnötig polemisch, da es ihm an Humor mangele, doch er sollte einen weiteren Meilenstein in der Bekämpfung des Sexismus setzen. Den Ehrendoktortitel der Universität Liverpool lehnte sie 1939 ab, da sie zeitlebens kritisch gegenüber der „academic machine“ eingestellt war.
Der Schriftsteller John Lehmann, Lektor der Hogarth Press von 1931 bis September 1932, kaufte sich im März 1938 in den Verlag ein und übernahm Virginias Anteile. Sie wirkte jedoch weiterhin an der Programmgestaltung des Verlags mit. Lehmann arbeitete mit Leonard Woolf gemeinsam als Geschäftsführer bis zum Jahr 1946 in der Hogarth Press. Anschließend gründete er seinen eigenen Verlag, „John Lehmann Limited“, zusammen mit seiner Schwester Rosamond.
=== Zweiter Weltkrieg und Tod ===
Nach der Kriegserklärung des Vereinigten Königreichs an Deutschland am 3. September 1939 beschlossen die Woolfs, künftig im Monk’s House zu leben und nur noch zweimal monatlich zum Verlag nach London zu fahren. Im September 1940 wurde das Haus am Mecklenburgh Square 37, in dem sich seit 1939 ihre Londoner Wohnung befand und ebenfalls die Hogarth Press ihren Sitz hatte, bei einem Luftangriff der deutschen Luftwaffe durch Bomben schwer beschädigt. Die Hogarth Press musste nach Letchworth Garden City ausgelagert werden.
Im Mai 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf die Niederlande und Belgien, fassten die Woolfs den Vorsatz, gemeinsam aus dem Leben zu gehen, falls es zu einer deutschen Invasion Großbritanniens kommen sollte, da Leonard Woolf Jude und Sozialist war. Sie besorgten sich vorsorglich Gift und horteten Benzin in der Garage.
Am 25. Juli 1940 erschien Virginia Woolfs Biographie über den bereits 1934 verstorbenen Maler und Galeristen Roger Fry, den Freund aus der Bloomsbury-Zeit. Nachdem sie 1941 ihren letzten Roman Between the acts (Zwischen den Akten) abgeschlossen hatte, fiel sie erneut in eine tiefe Depression. Sie fürchtete, die psychotischen Episoden der Vergangenheit würden sich wiederholen, in denen sie Stimmen hörte und unfähig war, zu arbeiten und zu lesen. Am 27. März 1941 brachte Leonard Woolf seine Frau zu einer befreundeten Ärztin nach Brighton, um die Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen. Einen Tag darauf, am 28. März, beging Virginia im Fluss Ouse bei Rodmell nahe Lewes ihren Suizid. Da sie sehr gut schwimmen konnte, packte sie einen großen Stein in ihren Mantel, um eine eventuelle Selbstrettung zu verhindern. Ihre Leiche wurde erst nach drei Wochen, am 18. April, gefunden. Virginia Woolf hinterließ zwei Abschiedsbriefe, einen an ihre Schwester Vanessa und einen an ihren Ehemann. Dieser Brief begann mit dem Satz:
„Liebster, ich spüre mit Sicherheit, dass ich wieder verrückt werde.“Der Schluss lautete:
„Alles, außer der Gewissheit Deiner Güte, hat mich verlassen. Ich kann Dein Leben nicht länger ruinieren. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind.“Leonard Woolf begrub ihre Asche unter den zwei großen Ulmen im Garten, deren Äste verschlungen waren und von ihnen Leonard und Virginia genannt wurden. Er ließ auch eine Tafel anbringen mit einem Zitat aus Die Wellen:
„Dir will ich mich entgegenwerfen, unbesiegt und ungebeugt, O Tod!“Leonard Woolf starb im Jahr 1969 im Alter von 88 Jahren. Er wurde wie seine Ehefrau unter den Ulmen bei Monk’s House begraben.
Im Garten von Monk’s House, das seit 1980 vom National Trust verwaltet wird, erinnern Büsten von Virginia Woolf und Leonard Woolf sowie Gedenktafeln an das außergewöhnliche Schriftsteller- und Verlegerehepaar.
== Zum Werk ==
Virginia Woolf zählt neben Joseph Conrad, James Joyce und D. H. Lawrence zu den wichtigsten Autoren der modernen englischen Erzählliteratur. Ihr Prosawerk sucht vor allem die Hintergründe und Realitäten im Bewusstsein ihrer Romangestalten mit neuen literarischen Gestaltungsmitteln einzufangen. Neben ihren zahlreichen Essays stellt der experimentelle und psychologische Roman das Hauptwerk der Schriftstellerin dar. Woolf wendet dabei eine Montagetechnik an: Sie lässt im ständigen Wechsel von äußerer und innerer Zeit, Umwelt und Natur, vergangene und gegenwärtige Geschehnisse in einem Strom von Empfindungen in ihre Texte einfließen.
=== Der experimentelle Roman ===
Mit Jacobs Zimmer, der von Woolf-Interpreten als der erste „eigentliche“ experimentelle Roman der Autorin gesehen wird, beginnt sie, die Komplexität des Lebens in einer rhythmischen Abfolge von flüchtigen Sinneseindrücken, Gedankenfetzen und Gesten zu schildern. Ebenso wie ihren Zeitgenossen Joyce und Dorothy Richardson, die ähnliche Ansätze verfolgten, gelingt es ihr mit Hilfe des inneren Monologs, diese Impressionen so darzustellen, wie sie im Bewusstseinsstrom der Gestalten des Romans auftauchen. Eine Entwicklung findet indes nicht statt: Die Figuren bleiben auf der Suche nach Identität zwischen Realität und Traumwelt gefangen. So wird die Vereinsamung des Menschen in der modernen Massengesellschaft zu einer wesentlichen Thematik des woolfschen Romans.
Angeregt von Joyce erzielt Woolf einen Spannungsbogen (Suspense), indem sie ihre eigene Sichtweise den Assoziationen ihrer Figuren als eine Art „Kontrapunkt“ gegenüberstellt. Das zeigt sich vor allem in der expressionistischen Bildhaftigkeit, die sie für Landschaftsbeschreibungen aufwendet und die im Gegensatz zu den pointierten Charakterstudien der kühlen, oft seelenlos gezeichneten Großstadtmenschen stehen. Woolf bedient sich dabei schriftstellerisch ähnlicher Stilmittel, die in der bildenden Kunst von den Nachimpressionisten verwendet wurden und sich vor allem in den Werken Vincent van Goghs zeigen, dem ihre besondere Bewunderung galt.In Mrs Dalloway verfeinerte sie die Erzähltechnik, die sie sich in Jacobs Zimmer erarbeitet hatte. Der Roman gilt als Meisterwerk moderner Erzählkunst und wird oft mit Joyce’ Ulysses und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verglichen. In diesem Werk bedient sich Woolf vorrangig neuester Erkenntnisse der Psychoanalyse und verweist ironisch auf Freuds Bewusstseinsebenen. Im Vorfeld des Romans hatte sie in ihrem 1924 verfassten Essay Mr Bennett and Mrs Brown verkündet, es sei nicht die Aufgabe eines Romanciers, „Lehren zu predigen, Lieder zu singen oder das Britische Weltreich zu verherrlichen“, sondern „die Psyche des Menschen zu ergründen“. Der von Kritikern vielbeachtete Essay richtete sich provokant gegen die in ihren Augen überkommenen „edwardianischen Techniken“ von Bennett, Galsworthy und Wells.Die in Jacobs Zimmer eingeführte Technik des Bewusstseinsstroms erweiterte sie in Mrs Dalloway um die Komponente der „Willkürlichkeit“: Die Hauptfigur ist somit nicht mehr wie im traditionellen Roman objektiv beschreibbar, sondern definiert sich nur noch über die Reflexion der (wechselnden) Nebenfiguren und deren Wahrnehmung. Die Handlung erfährt der Leser lediglich über das Bewusstsein der Akteure. Die Wahrnehmung beschränkt Woolf dabei ähnlich wie Joyce auf einen bestimmten Zeitraum, im Falle der Mrs Dalloway auf einen Tag, womit Woolf ein weiteres, für ihr Werk charakteristisches Stilmittel einführt: das kontinuierliche Motiv der verrinnenden Zeit, die in einem wellenförmigen Verlauf des Bewusstseinsstroms – zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselnd – erlebt wird. Stilistisch entsprechend verfährt Woolf mit den Erzählweisen und wechselt fließend zwischen direkter Rede mit beschreibender Handlung und der erlebten Rede im inneren Monolog. In Mrs Dalloway setzt Woolf mit tempus fugit-Motiven (abgebrannte Kerzen oder schlagende Uhren) eine signifikante Symbolik ein, die sich in ihrem Spätwerk verstärkt wiederholen soll. To the Lighthouse (Zum Leuchtturm) führt diese psychologische Erzähltechnik in sprachlicher Perfektion konsequent fort: Sie bedient sich einer Reihe von syntaktisch komplexen (Un-)Möglichkeiten, die den Eindruck einer objektiven Wirklichkeit verschwinden lassen und Ausdruck für das „Schweifen und Spielen des Bewusstseins“ der Autorin bzw. wechselnder, teils namenloser Subjekte sind, deren Bewusstsein tendenziell zusammenfließt. Die Hauptfigur spiegelt sich so im Bewusstseinsstrom der anderen Figuren wider. Auf eine traditionelle Handlung wird verzichtet, das Zeitkontinuum dreigeteilt („Zeitschichtung“). Der Leuchtturm selbst wird zum mehrdeutigen Symbol, das als angleichendes „männliches“ Über-Ich mit wegweisender Beständigkeit oder als Platz fester Normen und Wertevorstellungen interpretiert werden kann und im Kontrast zum sich ständig wandelnden, „weiblichen“ Meer steht, das als ausgleichende Urkraft sowohl für den unterbewussten Fluss der Dinge wie auch für Harmonie, Rückzug und Neuanfang stehen kann. Woolf stellt diese beiden Zeichen im Verlauf des Werks kontinuierlich gegenüber und führt sie in der Schlusssequenz des Romans, in dem Gemälde der Malerin Lily Briscoe, zusammen. Der Roman gilt als eine der „kompositorisch und sprachlich geglücktesten Leistungen Virginia Woolfs.“Den radikalsten Bruch mit jeglicher traditionellen Erzähltechnik vollzieht Woolf schließlich in The Waves (Die Wellen): Die Schriftstellerin verzichtet sowohl auf einen berichtenden Erzähler wie auf eine greifbare Handlung oder einen bestimmten Schauplatz und unterwirft den Verlauf einem genau festgelegten symbolbehafteten Zyklus aus Tages- und Jahreszeiten. Das Werk besteht ausschließlich aus den inneren Monologen der sechs Protagonisten, die wiederum von bestimmten Eigenschaften beherrschte Stellvertreter eines Lebensabschnittes sind oder diesen reflektieren. Von Kritikern wurde das Buch als „gekünsteltes und unbefriedigendes Form- und Stilexperiment“ bewertet und fand erst spät Anerkennung als konsequenter Abschluss des Woolfschen Erzählexperiments. Der Roman Die Wellen ist in vielerlei Hinsicht philosophischer, als er vom Leserpublikum wahrgenommen worden ist, und Virginia Woolf äußerte sich oft verzweifelt darüber.
In ihrem letzten Roman Between the acts (Zwischen den Akten), der vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entstand, stellt Woolf eine komische wie kritische Analogie zum Tierreich her: Indem sie die Akteure einer Dorftheateraufführung mit karnevalesk-animalischen Wesenszügen versieht, wirft sie die Frage nach der Abstammung, den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden zwischen Mensch und Tier auf und sucht die Antwort in der Kreativität und Sprachbegabung. Sie hält dem Leser mit der zentralen Frage nach Menschlichkeit einen Spiegel vor und lässt damit die Antwort offen. Damit wendet sie erneut den Kunstgriff der Reflexion an: Die eigentliche Handlung vollzieht sich „zwischen den Akten“, respektive „zwischen den Zeilen“. Wieder vollzieht sich die Handlung an einem Tag, und erneut bedient sie sich der Symbolik: diesmal bevorzugt des Vogelmotivs. Der Vogel symbolisiert dabei sowohl Schönheit wie Zerstörung. Das postum veröffentlichte Werk kombiniert Prosa mit Lyrik und Dialogen und zeigt Woolfs fortgesetztes Bestreben, den Anwendungsbereich des Romans zu erweitern.
=== Die Essays ===
In ihren ironischen, oft kritisch gehaltenen Essays setzte sich Virginia Woolf bevorzugt mit Schriftstellerinnen wie Jane Austen, George Eliot und Dorothy Wordsworth auseinander. Besonders Jane Austen, mit deren Werk ihr eigenes oft verglichen wurde, faszinierte Woolf, da Austens Biographie, unter zunächst unbeschwerteren Vorzeichen, Ähnlichkeiten zu ihrer eigenen aufweist. Beider Werk entstand am Ende einer literarischen Epoche und sollte eine neue markieren. Austen starb früh, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens: Für die an sich selbst zweifelnde Woolf verkörperte somit das kurze abgeschlossene Lebenswerk Austens in seiner formalen Perfektion eine selbstbestimmte Unschuld, die ihr eigenes Werk (und Leben) nicht besaß. 1925 widmete sie Jane Austen in ihrer Essaysammlung The Common Reader ein Kapitel und würdigte sie mit sentimentalen Worten als „The most perfect artist among women, the writer whose books are immortal, died just as she was beginning to feel confidence in her own success.“ („Die perfekte Künstlerin unter den Frauen, die Schriftstellerin, deren Bücher unsterblich sind, starb, als sie gerade begann, Vertrauen in ihren eigenen Erfolg zu fassen.“)Unter Woolf-Kritikern zählt der 1924 verfasste Essay Mr Bennett and Mrs Brown zu den aufschlussreichsten Aufsätzen der Schriftstellerin, da er nicht nur mit den Traditionalisten der englischen Literatur bricht – allen voran Arnold Bennett gerät in das Kreuzfeuer ihrer Kritik –, sondern auch Einblicke in die Charaktergestaltung und in den Umgang der Autorin mit Identitäten gewährt: Die fiktive Mrs Brown vertritt als Woolfs Alter Ego zwar den Standpunkt ihrer Schöpferin, bleibt als nur reflexiv wahrnehmbare Person dennoch rätselhaft. Woolf verleiht ihrer Mrs Brown keinen bestimmten Wesenszug: sie bleibt „beliebig“ wie viele andere Figuren in ihrem Werk. Damit verneint Woolf die „real characters“ der Edwardianer. Martin Walser nennt diese Figuren „Woolfsche Alltags-Lebens-Hüllen, derer man nicht habhaft werden kann, bestenfalls kann man sich ihnen annähern“ und verweist auf die multiple Gestaltung des Orlando.Mr Bennett and Mrs Brown reflektiert auf die imposante erste Nachimpressionisten-Ausstellung Manet and the Post-Impressionists von Roger Fry in den Londoner „Grafton Galleries“ Ende 1910, die zum kulturellen Ereignis wurde. Woolf datierte mit diesem Geschehnis einen kulturellen Paradigmenwechsel: „On or about december 1910 human character changed,“ schrieb sie in dem Essay und übertrug den Aufbruch der Malerei in die Moderne auf die Literatur: die epochale Ablösung der Edwardianer durch die Bloomsberries und die avantgardistischen Vortizisten um Ezra Pound.Der meistzitierte Text der neuen Frauenbewegung, Woolfs Essay A Room of One’s Own aus dem Jahr 1929 wurde erst 1978 ins Deutsche übertragen. Woolf nahm darin bereits die These der 68er-Bewegung vom politischen Charakter des Privaten vorweg.
=== Tagebücher und Briefe ===
Virginia Woolf hatte seit ihren Kindertagen und ab 1915 systematisch Tagebuch geführt. 1953 wurden Teile daraus erstmals publiziert. 1977 bis 1984 erfolgte die Herausgabe der gesamten Aufzeichnungen in fünf Bänden. Auch ihre umfangreiche Korrespondenz wurde veröffentlicht, zwischen 1975 und 1980 erschienen sechs Bände. Tagebücher und Briefe liegen inzwischen in deutscher Übersetzung vor. Dieser Nachlass gilt vielen Leserinnen und Lesern als mindestens ebenso wichtig wie die zu Lebzeiten publizierten Werke. Aus ihnen geht hervor, dass Virginia beim Schreiben ihrer Texte unter Depressionen litt, beispielsweise während der Arbeit an Mrs Dalloway: „[…] Und dann habe ich wieder, je weiter das Manuskript anwächst, die alte Angst davor. Ich werde es lesen & blaß finden. […] Doch wenn dieses Buch etwas beweist, dann dass ich nur auf diese Art schreiben kann & und immer dabei bleiben werde, jedoch immer weiter erkunde & mich Gottlob keinen Augenblick langweilen werde. Aber diese leichte Depression – woher kommt sie?“ Ein ähnlich schwaches Selbstvertrauen zeigte sie anlässlich des Erscheinens ihrer Bücher. Oft löste die Furcht vor negativer Kritik und Unsicherheit über ihr eigenes Werk Krankheitsschübe aus.
== Rezeption ==
Virginia Woolfs Werk wurde zu ihren Lebzeiten über den Kreis von Schriftstellern des englischsprachigen Kulturraums hinaus kaum bekannt. Seit den 1970er Jahren inspirierte es zunehmend verschiedene soziale und emanzipatorische Bewegungen in Europa und in den USA; infolgedessen fanden das literarische Werk und seine Autorin zunehmend das Interesse der Öffentlichkeit.
=== Wirkungen zu Lebzeiten ===
In ihrem Geburtsland rückte Virginia Woolf als Tochter eines bekannten Klerikers und Literaten durch den skandalösen Dreadnought-Streich früh in den Fokus der englischen Presse; spätestens ab ihrem Romandebüt, den eigenen essayhaften Rezensionen und durch Hogarth Press-Publikationen von Schriftstellerfreunden, wie beispielsweise T. S. Eliots Poems (1919), wurde sie als Autorin und Verlegerin von einem größeren Leserkreis wahrgenommen.Außerhalb des englischsprachigen Kulturkreises blieb Virginia Woolfs Werk hingegen weitgehend unbekannt oder zumindest schwer zugänglich. Klaus Mann besprach 1929 die unter dem Titel „Eine Frau von fünfzig Jahren“ erschienene deutsche Ausgabe der Mrs Dalloway und rezensierte den Roman als „lebenswahres Werk“ und „radikalstes 20. Jahrhundert“.Der Schriftsteller Elio Vittorini, ein literarischer Vertreter des italienischen Neorealismus, rezipierte Woolfs Mrs Dalloway in seiner 1931 veröffentlichten Erzählsammlung Piccola borghesia und übertrug ihre Beschreibungen der englischen upper middle class auf das neapolitanische Kleinbürgertum, der sogenannten „kleinen Bourgeoisie“.
=== Wahrnehmung durch emanzipatorische Bewegungen ===
Auf der Suche nach einer literarischen Rechtfertigung für ihr naturverbundenes Streben nach (zumeist sexueller) Befreiung bemühten Nischenkulturen und Freidenker wie Anhänger des Neopaganismus oder Hippies im angloamerikanischen Raum oft beliebige Versatzstücke aus Woolfs Schriften. Unter anderem verwiesen sie auf Woolfs Bekanntschaft zu Rupert Brooke oder reflektierten auf die allgemeine Ungezwungenheit der Bloomsbury Group, welche die offene Sexualität der in den 1960er Jahren proklamierten „Polyamory“ vorweggenommen hatte.Von der Lesben- und Schwulenbewegung und den späteren LGBT-Aktivisten wurde Virginia Woolf aufgrund ihrer sorgfältig gestalteten androgynen Frauencharaktere mit ihrer facettenreichen Psychologie, des spielerischen Wandels der (Geschlechts-)Identitäten in Mrs Dalloway, Orlando und The Waves sowie der distanzierten Sexualität der Autorin zu einer literarischen Leitfigur und zur Autorität „weiblichen Schreibens“ stilisiert, obgleich sich Woolf in keine generelle geschlechtsspezifische Position einordnen lässt.
Als weibliche Hauptfigur von „Bloomsbury“ und deren Protest der „Viktorianer gegen den Viktorianismus“ prägte sie das Bild der Emanzipation.Im Kanon des modernen angloamerikanischen Universitätsromans nach 1945 entwickelte sich ein verstärktes Interesse an der avantgardistischen psychologischen Erzählhaltung des Woolfschen Werks sowie dessen gesellschaftskritischen und sprachwissenschaftlichen Gehalts. Dieses Interesse pflanzte sich ab den 1970er Jahren über vereinzelte intellektuelle Abhandlungen, Seminare und wissenschaftliche Symposien fort und manifestierte sich in der Gegenwart mit Gründung der International Virginia Woolf Society in Toronto, als koordinierendes englischsprachiges Netzwerk. Gestützt durch die Modern Language Association werden dabei aktuelle Forschungsergebnisse zum vielschichtigen Leben und Werk der Schriftstellerin und zu ihrem Einfluss auf die moderne Sprache zusammengetragen und untersucht.
=== Wirkungen im deutschsprachigen Raum ===
Im deutschsprachigen Raum der Nachkriegszeit war Virginia Woolfs Werk zunächst nur einer „literarischen Elite“ bekannt und wurde erst in den 1970er und 1980er Jahren von Teilen der Frauenbewegung wahrgenommen, worauf die „Identifikation mit Schwäche […] als Leitthema der Woolf-Rezeption“ durch Teile der Frauenbewegung, „die Frauen aufs Opfer-Sein reduzieren“, zum Motto erklärt werde, wie Ingrid Strobl in der Emma 1980 kritisierte. In demselben Essay stellte sie einen bewusst überspitzten Vergleich mit der jüngeren amerikanischen Schriftstellerkollegin Sylvia Plath an, die ebenfalls Suizid verübte und an der Rolle des „weiblichen Genius“ habe scheitern müssen: „[…] unter der fluchbeladenen Bürde, genial zu sein, musste das zarte Weib zusammenbrechen, schon der lieben, armen Schwester Plath ward es so ergangen, wie konnte es auch anders sein – es ist nicht die Natur der Frau, aus der Reihe zu tanzen, Großes zu leisten – wie männlich!“
=== Kritik ===
Nigel Nicolson veröffentlichte von 1975 bis 1980 Briefe von Virginia Woolf bei Hogarth Press, die in ihrer subjektiven Auswahl einem biographisch authentischen Kontext gegenüberstehen, wobei Nicolson in seiner 2000 erschienenen Biographie Virginia Woolf neben ihrer Werkbeschreibung und wichtigen Rolle in der Frauenbewegung ihren latent auftretenden Antisemitismus und Fremdenhass nicht aussparte.
In ihren Tagebüchern pflegte Virginia die ungeliebte Familie ihres Ehemannes gelegentlich als „the Jews“ zu titulieren, bei Tisch forderte sie zuweilen auf: „Give the Jew his food“ und meinte damit ihren Ehemann Leonard. Die englische Professorin Hermione Lee berichtet in ihrer profunden, 1996 erschienenen Biographie, dass der Antisemitismus in der englischen Oberschicht bis in die 1930er Jahre recht verbreitet war, und sie zitiert Virginia Woolfs Bedauern über ihr Verhalten gegenüber Leonard und seiner Familie in einem Brief an ihre Freundin Ethel Smyth vom 2. August 1930: „Wie es mir zuwider war, einen Juden zu heiraten […] – ich war ein solcher Snob!“E. M. Forster, zeitweilig selbst Bloomsbury-Mitglied, betrachtete den Einfluss der Frauenbewegung auf Virginia Woolfs Werk ambivalent. In einem Vortrag, der Rede Lecture von 1941 an der University of Cambridge, lobte er zwar die von der Frauenbewegung inspirierte „hinreißende Brillanz“ von A Room of One’s Own, kritisierte aber, „dass die Frauenbewegung auch schuld am miserabelsten ihrer Bücher ist – den streitsüchtigen ‚Three Guineas‘ – und Ursache für eine Reihe weniger guter Passagen in ‚Orlando‘.“ Darüber hinaus unterstellte Forster der Schriftstellerin eine stereotype Sichtweise: „Sie war überzeugt davon, dass die Gesellschaft für die Männer gemacht sei, dass die Hauptbeschäftigung der Männer darin bestehe, Blut zu vergießen, Geld zu verdienen, Befehle auszuteilen und Uniformen zu tragen und dass keine dieser Beschäftigungen bewunderungswürdig sei.“
=== Würdigungen ===
Woolf fand Eingang in die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts. Die feministische Künstlerin Judy Chicago widmete ihr in ihrer Arbeit The Dinner Party eines der 39 Gedecke am Tisch. Siehe dazu auch den Artikel Liste der 999 Frauen des Heritage Floor.
Die indische Autorin und Übersetzerin Ruth Vanita stellt Virginia Woolf in ihrer Studie Sappho and the Virgin Mary: Same – Sex Love and the English Literary Imagination (Between Men – Between Women – Lesbian and Gay Studies) als „sapphische Autorin im Dialog mit ihren Zeitgenossinnen und Vorfahren“ dar.Zu Virginia Woolfs 125. Geburtstag veröffentlichte der Fischer Verlag eine umfassende Auswahl ihrer Briefe, die, wie Eva Menasse in der Zeit rezensierte, eine „Virginia Woolf ohne Fesseln“ widerspiegelt, in deren Briefen „[…] nichts zu spüren ist von ihren Qualen beim Schreiben der Romane, die oft Reisen an die Grenzen ihrer geistigen Gesundheit waren.“ Überdies vermerkte Die Zeit ihre pointierten Briefe als „satirische Miniaturen“, die sowohl die unterhaltsame, humorvolle Seite der Virginia Woolf als Gegensatz zu ihren „intellektuellen Diskursen“ zeigen, als auch ihre Neigung, mit Klatsch und Tratsch gefallen, beziehungsweise amüsieren zu wollen.In New York führt der „Library Way“ seit den späten 1990er Jahren auf der East 41st Street zwischen Fifth Avenue and Park Avenue zum Stephen A. Schwarzman Building, dem größten Gebäude der New York Public Library (NYPL). In die Pflasterung des Fußgängerwegs sind 96 rechteckige Bronzeplaketten eingebettet, die bedeutenden Schriftstellern gewidmet sind und Zitate aus ihren Werken zum Inhalt haben. Virginia Woolf ist mit einer Plakette und einem Zitat aus dem Essay The Leaning Tower vertreten: „If you do not tell the truth about yourself you cannot tell it about other people.“Am 2. Mai 2013 kündigte das King’s College London an, dass im Herbst ein Neubau des College den Namen Virginia Woolf Building tragen werde.Eine Ausstellung mit Exponaten zu Woolfs Leben und Wirken lief in der Londoner National Portrait Gallery vom 10. Juli bis zum 26. Oktober 2014 unter dem Titel „Virginia Woolf: Art, Life and Vision.“2015 wählten 82 internationale Literaturkritiker und -wissenschaftler vier ihrer Romane zu den 100 bedeutendsten britischen Romanen. To the Lighthouse (Die Fahrt zum Leuchtturm) belegt Platz 2, Mrs Dalloway Platz 3, The Waves (Die Wellen) Platz 16 und Orlando Platz 65. George Eliots Middlemarch führt die Liste an.Seit 2022 steht eine lebensgroße Bronzeplastik, die von der britischen Bildhauerin Laury Dizengremel angefertigt wurde, an der Themse in Richmond. Das Werk zeigt eine auf eine Parkbank sitzende Virginia Woolf, auf deren Schoß ein Buch liegt. Die Durchführung des Projektes hat die Organisation Aurora Metro übernommen.
=== Theaterstück und Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ===
Edward Albees Theaterstück Who’s Afraid of Virginia Woolf? (Wer hat Angst vor Virginia Woolf?) wurde am 13. Oktober 1962 am Billy Rose Theater in New York uraufgeführt. Die Idee hierzu kam Albee um 1953 oder 1954 nach eigener Aussage angesichts einer Reihe von Graffiti im Waschraum einer Bar: „Eines Nachts war ich dort auf ein Bier, und ich sah „Who’s Afraid of Virginia Woolf?“ auf einen Spiegel geschmiert, vermutlich mit Seife. Als ich das Stück zu schreiben begann, ging mir diese Zeile nicht aus dem Sinn. Und natürlich meint „Who’s afraid of Virginia Woolf“ das (Kinderlied) „Who’s afraid of the big bad Wolf“ … Wer fürchtet sich vor einem Leben ohne falsche Illusionen. Und ich hielt es für einen ziemlich universitätstypischen intellektuellen Witz.“Im Jahr 1966 folgte eine US-amerikanische Verfilmung unter der Regie von Mike Nichols. Die Hauptdarsteller waren Elizabeth Taylor und Richard Burton.
== Erzählerisches Werk (Auswahl) ==
1915: The Voyage Out. Duckworth, London – Die Fahrt hinaus. Roman. Aus dem Englischen von Karin Kersten. Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10694-X.
1917: The Mark on the Wall. Hogarth Press, Richmond – Das Mal an der Wand. In: Erzählungen. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Fischer, Frankfurt am Main 1983
1919: Kew Gardens. Hogarth Press, Richmond – Im Botanischen Garten. In: Erzählungen. Fischer, Frankfurt am Main 1965
1919: Night and Day. Duckworth, London – Nacht und Tag. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-10-092510-6.
1921: Monday or Tuesday. Hogarth Press, Richmond – Montag oder Dienstag. In: Erzählungen. Fischer, Frankfurt am Main 1965
1922: Jacob’s Room. Hogarth Press, Richmond – Jacobs Zimmer. Roman. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Fischer, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-14578-3.
1925: Mrs Dalloway. Hogarth Press, London – Mrs Dalloway. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-14002-1.
1925: The Common Reader (1). Hogarth Press, London – Der gewöhnliche Leser (1). Essays. Fischer, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-10-092570-X.
1926: (Herausgeber zusammen mit Roger Fry) Julia Margaret Cameron. Victorian Photographs of Famous Men & Fair Women. New York: Harcourt, Brace
1927: To the Lighthouse. Hogarth Press, London – Zum Leuchtturm. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-12019-5.
1928: Orlando. Hogarth Press, London – Orlando – eine Biographie. Fischer, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-596-11331-8.
1929: A Room of One’s Own. Hogarth Press, London – Ein eigenes Zimmer. Essay. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-14939-8.
1929: Beau Brummel. Kurzgeschichte für BBC Radio.- Aus dem Englischen von Tanja Handels. L.S.D. Göttingen 2015, ISBN 978-3-86930-844-9.
1931: The Waves. Hogarth Press, London – Die Wellen. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-12184-1.
1932 The Common Reader (2) – Der gewöhnliche Leser (2). Essays. Fischer, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-596-13649-0.
1933: Flush. A Biography. Hogarth Press, London – Flush – Die Geschichte eines berühmten Hundes. Fischer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-12416-6.
1937: The Years. Hogarth Press, London – Die Jahre. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-15521-5.
1938: Three Guineas. Hogarth Press London – Drei Guineen. In: Ein eigenes Zimmer / Drei Guineen. Zwei Essays. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-092573-4.
1940: Roger Fry. A Biography. Hogarth Press, London; Harcourt Publishers Ltd College Publishers 1976, ISBN 0-15-678520-X.
1941: Between the Acts. Hogarth Press, London (postum veröffentlicht im Juli 1941) – Zwischen den Akten. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14341-1.
The Essays of Virginia Woolf. 6 Bände. Hrsg. von Andrew McNeillie. Hogarth Press, London 1986–2011
== Briefe, Tagebücher ==
Moments of Being. Unpublished Autobiographical Writings. Edited by Jeanne Schulkind, Brighton 1976; dt. Augenblicke. (Skizzen der Vergangenheit) Skizzierte Erinnerungen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1981 und Fischer Verlag, Frankfurt, ISBN 3-596-25789-1.
A Passionate Apprentice: The Early Journals 1897–1909. Hrsg. von Mitchell A. Leaska. Hogarth Press, London 1990
The Diary of Virginia Woolf. 5 Bände. Hrsg. von Anne Olivier Bell. Hogarth Press, London 1977–1984
The Letters of Virginia Woolf. 6 Bände. Hrsg. von Nigel Nicolson und Joanna Trautmann. Hogarth Press, London 1975–1980
Briefe 1. 1888–1927. Hrsg. von Klaus Reichert und Brigitte Walitzek. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-10-092556-5.
Briefe 2. 1928–1941. Hrsg. von Klaus Reichert und Brigitte Walitzek. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-10-092564-0.
Tagebücher, Band 1. 1915–1919. Hrsg. von Klaus Reichert. Fischer, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-10-092552-1.
Tagebücher, Band 2. 1920–1924. Hrsg. von Klaus Reichert. Fischer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-10-092555-6.
Tagebücher, Band 3. 1925–1930. Hrsg. von Klaus Reichert. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-10-092559-9.
Tagebücher, Band 4. 1931–1935. Hrsg. von Klaus Reichert. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-092562-9.
Tagebücher, Band 5. 1936–1941. Hrsg. von Klaus Reichert, Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-10-092566-4.
Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen. Übersetzt von Brigitte Walitzek, hrsg. von Klaus Reichert, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-10-092522-0.
Brief an einen jungen Dichter. Übersetzt von Tanja Handels. Steidl Verlag (L.S.D.), Göttingen 2019, ISBN 978-3-86930-947-7.Virginia Woolf schrieb etwa 500 weitere Essays, Rezensionen und Prosaskizzen.
Bei der Auswahl der deutschen Lektüre ist zu beachten, dass die Werke Virginia Woolfs seit 1989 in neuen Übersetzungen angeboten werden. Sie wurden herausgegeben und (neu) kommentiert von Klaus Reichert.
== Sekundärliteratur ==
Deutsche Literatur und Übersetzungen aus dem Englischen:
Susanne Amrain: So geheim und vertraut. Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-39311-1.
Ingeborg Badenhausen: Die Sprache Virginia Woolfs: Ein Beitrag zur Stilistik des modernen englischen Romans. Dissertation, Marburg 1932
Quentin Bell: Virginia Woolf. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-37253-X.
Luise Berg-Ehlers: Die Gärten der Virginia Woolf. Nicolai Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-87584-378-9.
Louise DeSalvo: Virginia Woolf. Die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs auf ihr Leben und Werk. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-10566-8.
Alexandra Harris: Virginia Woolf. aus dem Englischen von Tanja Handels und Ursula Wulfekamp. L.S.D. im Steidl Verlag, Göttingen 2015, ISBN 978-3-86930-835-7.
Jürgen Klein: Virginia Woolf: Genie – Tragik – Emanzipation, Heyne Verlag, München 1984, 2. Aufl. 1992, ISBN 3-453-55115-X.
Hermione Lee: Virginia Woolf. Ein Leben. Deutsch von Holger Fliessbach. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. Als Taschenbuch 2006: ISBN 3-596-17374-4.
Nigel Nicolson: Portrait einer Ehe. Harold Nicolson und Vita Sackville-West. Ullstein Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-548-30387-0.
Nigel Nicolson: Virginia Woolf. Claassen Verlag, München 2001, ISBN 3-546-00293-8.
Frances Spalding: Virginia Woolf. Leben, Kunst & Visionen; Originaltitel: Virginia Woolf: Art, Life and Vision. Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp unter Mitarbeit von Matthias Wolf. Sieveking, München 2016, ISBN 978-3-944874-46-3.
George Spater & Ian Parsons. Porträt einer ungewöhnlichen Ehe. Virginia & Leonard Woolf [= A marriage of true minds]. Aus dem Englischen von Barbara Scriba-Sethe. Vorwort von Quentin Bell. Überarbeitete Neuausgabe. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-13445-5. Die englische Originalausgabe erschien 1977 bei Jonathan Cape Ltd./The Hogarth Press, London. George Spater katalogisierte das Woolf-Archiv. Ian Parsons war Freund und Geschäftspartner Leonard Woolfs nach der Fusion der Hogarth Press mit Chatto & Windus
Ursula Voss: Bertrand Russell und Lady Ottoline Morrell. Eine Liebe wider die Philosophie. Rowohlt • Berlin Verlag, Reinbek 1999, ISBN 3-87134-310-2.
Werner Waldmann: Virginia Woolf: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1. Auflage 1983, 12. Auflage 2006, ISBN 3-499-50323-9.
Helmut Winter: Virginia und Leonard Woolf. Rowohlt • Berlin Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-87134-352-8.
Leonard Woolf: Mein Leben mit Virginia. Erinnerungen. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-25686-0.
Caroline Zoob: Der Garten der Virginia Woolf: Inspirationsquelle einer engagierten Schriftstellerin [= Virginia Woolf’s Garden. Country Planting at a Writer's Retreat]. Fotografien von Caroline Arber, Vorwort von Cecil Woolf, übersetzt von Claudia Arlinghaus. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, ISBN 978-3-421-03937-8.Belletristik:
Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, ISBN 978-3-462-04921-3.Englische Literatur:
Thomas C. Caramagno: The Flight of the Mind: Virginia Woolf’s Art and Manic-depressive Illness. University of California Press; New Ed edition, Ewing, NJ 1996, ISBN 0-520-20504-9.
Anthony Curtis: Virginia Woolf: Bloomsbury and beyond. London: Haus Books, 2006, ISBN 1-904950-23-X.
Ralph Freedman (Hrsg.): Virginia Woolf: Revaluation and Continuity. University of California Press, Berkeley 2020, ISBN 978-0-520-30282-2.
Gillian Gill: Virginia Woolf: And the Women Who Shaped Her World. Boston, New York, Houghton Mifflin Harcourt 2019, ISBN 978-1-328-68395-3.
Jane Goldman: The Feminist Aesthetics of Virginia Woolf: Modernism, Post-Impressionism and the Politics of the Visual. Cambridge University Press, Neuauflage 2001, ISBN 0-521-79458-7.
Stefanie Heine: Visible Words and Chromatic Pulse. Virginia Woolf's Writing, Impressionist Painting, Maurice Blanchot's Image. Turia + Kant, Vienna/Berlin 2014, ISBN 978-3-85132-742-7.
Jean Moorcroft Wilson: Virginia Woolf and Anti-Semitism. Cecil Woolf, London 1995, ISBN 1-897967-40-3.
Kay Redfield Jamison: Touched with Fire: Manic-Depressive Illness and The Artistic Temperament. The Free Press, New York 1993, ISBN 0-02-916030-8.
Susan Sellers: Vanessa and Virginia. [Fiktionale Biografie]. Two Ravens, 2008; Houghton Mifflin Harcourt, Boston 2009, ISBN 978-0-15-101474-3.
N. C. Thakur: The Symbolism of Virginia Woolf. Oxford University Press, London 1965Dieses Buch diente als Vorlage des Films The Hours:
Michael Cunningham: Die Stunden. btb Verlag 2001, ISBN 3-442-72629-8. Drei scheinbar unabhängige Handlungsstränge zeigen Virginia Woolf in den 1920er Jahren, Laura Brown im Kalifornien der 1950er Jahre und Clarissa Vaughan im New York der 1990er Jahre. Sie sind verknüpft über die von Virginia Woolf geschaffene Gestalt der Mrs Dalloway.
== Verfilmungen ==
Freak Orlando ist ein deutscher Spielfilm von Ulrike Ottinger aus dem Jahr 1981, angelehnt an Virginia Woolfs Roman Orlando.
To the Lighthouse: Film von 1983 mit Rosemary Harris, Michael Gough, Suzanne Berti und Kenneth Branagh.
Orlando nach dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf. Buch und Regie: Sally Potter. Mit Tilda Swinton (Orlando), Billy Zane (Shelmerdine), Lothaire Bluteau (Khan), Quentin Crisp (Königin Elizabeth I), Heathcote Williams (Nick Greene), Charlotte Valandrey (Sasha). Land: Großbritannien, Russland, Frankreich, Italien, Niederlande. Jahr: 1992.
Mrs. Dalloway. Nach dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf. Regie: Marleen Gorris. Buch: Eileen Atkings. Kamera: Sue Gibson. Musik: Ilona Sekacz. Mit Vanessa Redgrave (Mrs. Dalloway), Natascha McElhone (junge Mrs. Dalloway), Rupert Graves (Septimus Warren Smith), Michael Kitchen (Peter Walsh), Alan Cox (junger Peter Walsh), Lena Headey (junge Sally), Sarah Bade (ältere Sally – Lady Rosseter). Land: GB/NL. Jahr: 1997.
The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nach dem gleichnamigen Roman von Michael Cunningham. Buch: David Hare. Mit Nicole Kidman (Virginia Woolf), Julianne Moore (Laura Brown), Meryl Streep (Clarissa Vaughan), Stephen Dillane (Leonard Woolf), Miranda Richardson (Vanessa Bell), George Loftus (Quentin Bell), Charley Ramm (Julian Bell), Sophie Wyburd (Angelica Bell), Lyndsey Marshal (Lottie Hope), Linda Bassett (Nelly Boxall), Christian Coulson (Ralph Partridge), Michael Culkin (Arzt), John C. Reilly (Dan Brown), Jack Rovello (Richie Brown), Toni Collette (Kitty Barlowe), Margo Martindale (Mrs. Latch), Colin Stinton (Hotelangestellter), Ed Harris (Richard Brown), Allison Janney (Sally Lester), Claire Danes (Julia Vaughan), Jeff Daniels (Louis Waters), Eileen Atkins (Barbara), Carmen De Lavallade (Clarissas Nachbarin), Daniel Brocklebank (Rodney). Land: USA. Jahr: 2002.
In Vita & Virginia (Spielfilm 2018) wurde die Beziehung von Vita Sackville-West und Virginia Woolf filmisch verarbeitet. Vita Sackville-West wurde gespielt von Gemma Arterton und Virginia Woolf von Elizabeth Debicki.
== Lesungen / Hörbücher ==
Orlando. Eine vollständige Lesung des Romans. Sprecherin: Sissy Höfferer. 8 CDs, Gesamtlaufzeit 525 Minuten. Der hörverlag / Sender Freies Berlin 2002, ISBN 978-3-89584-591-8.
Die Wellen. Lesung mit Gert Westphal, Gustl Haneke und anderen. 2 CDs, Gesamtlaufzeit 102 Minuten. Der Audio Verlag / SWR, 2005, ISBN 978-3-89813-288-6.
Mrs Dalloway. Gekürzte Lesung des Romans. Sprecherin: Angela Winkler. 5 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 358 Minuten. Der hörverlag / Sender Freies Berlin, 2001, ISBN 978-3-89584-547-5.
Skizze der Vergangenheit. gelesen von Sophie Rois. 3 CDs, Gesamtlaufzeit 204 Minuten. Argon Verlag/Hessischer Rundfunk, 2013, ISBN 978-3-8398-1237-2.
Zum Leuchtturm. Gesprochen von Rosel Zech. 5 CDs. Verlag L & M, 2002, ISBN 978-3-89849-646-9.
Ein eigenes Zimmer. Vollständige Lesung von Erika Pluhar. 4 CDs. RH Audio Editionen, 2007, ISBN 978-3-86604-520-0.
== Hörspielbearbeitungen ==
Jacobs Zimmer. Hörspiel in vier Teilen. Mit Friedhelm Ptok, Britta Hammelstein, Wiebke Puls, Sylvana Krappatsch, Annette Paulmann, Benedikt Lückenhaus, Alexander Lückenhaus, Andrea Wenzl, Caroline Ebner, Sabine Kastius, Hans Kremer, Johannes Zirner, Stefan Merki, Georgia Stahl. Übersetzung und Bearbeitung: Gaby Hartel, Komposition: Jakob Diehl, Regie: Katja Langenbach. BR-Hörspiel und Medienkunst 2012. Als Podcast/Download im BR Hörspiel Pool. Hörbuchedition (4 CDs): Der Hörverlag. ISBN 978-3-8445-1119-2.
Orlando. Eine Biografie. Hörspiel in sechs Teilen. Mit Gabriel Raab, Vera Weisbrod, Wiebke Puls, Paul Herwig, Brigitte Hobmeier, Hans Kremer, Georgia Stahl u. a. Übersetzung und Bearbeitung: Gaby Hartel, Komposition: Ulrike Haage, Regie: Katja Langenbach. BR – Hörspiel und Medienkunst 2013. Als Podcast/Download im BR Hörspiel Pool. Hörbuchedition (6 CDs): Der Hörverlag. ISBN 978-3-8445-1380-6.
Das Orlando-Projekt | Das Hörspiel. Mit Claudia Gahrke, Frauke Poolman, Herbert Mitschke, Mark Weigel u. a. Bearbeitung: Claudia Gahrke, Kompositionen: Suzan Köcher, Julian Müller, Regie: Andreas Schäfer. Valve Records. ISBN 978-3-00-072037-6
Zum Leuchtturm. Hörspiel in drei Teilen. Mit Zoe Hutmacher, Wiebke Puls, Irina Wanka (Erzählerinnen), Krista Posch (Mrs Ramsay), Walter Hess (Mr Ramsay), Caroline Ebner (Lily Briscoe), Shenja Lacher (Charles Tansley), Julia Loibl (Prue), Christian Löber (Andrew), Peter Brombacher (Mr. Banks), Moritz Zehner. Bearbeitung: Gaby Hartel, Komposition: Ulrike Haage, Regie: Katja Langenbach. BR Hörspiel und Medienkunst 2016. Als Podcast/Download im BR Hörspiel Pool. Hörbuchedition (3 CDs): Hörspiel. Der Hörverlag. München 2017, ISBN 978-3-8445-2553-3.
== Weblinks ==
Literatur von und über Virginia Woolf im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Virginia Woolf in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Claudia Prinz: Virginia Woolf. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG)
Virginia Woolf. In: FemBio. Frauen-Biographieforschung (mit Literaturangaben und Zitaten).
Virginia Woolf in der Internet Movie Database (englisch)
Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Virginia Woolf bei Perlentaucher
Homepage der Virginia-Woolf-Gesellschaft Großbritanniens (englisch)
Homepage der Internationalen Virginia-Woolf-Gesellschaft (Toronto) (englisch)
Verzeichnis der von Hand gedruckten Werke der Hogarth Press mit Abbildungen des Bucheinbands (englisch)
Wieland Freund: Die elf Elchhunde der Virginia Woolf. In: Die Welt. 20. Januar 2007
Elsemarie Maletzke: Durch Sussex und Kent – auf den Spuren von Virginia Woolf und ihrem Freundeskreis. In: Die Zeit, Nr. 17, 1998
Werke von Virginia Woolf im Projekt Gutenberg-DE
Andrea Klasen: Virginia Woolf, britische Schriftstellerin (Todestag, 28.03.1941) In: ZeitZeichen auf WDR 5 vom 28. März 2021, ARD Audiothek, abgerufen am 11. Juli 2021.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Virginia_Woolf |
Krypton | = Krypton =
Krypton (altgriechisch κρυπτός kryptós „verborgen“) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Kr und der Ordnungszahl 36. Im Periodensystem steht es in der 8. Hauptgruppe, also der 18. IUPAC-Gruppe und zählt daher zu den Edelgasen. Wie die anderen Edelgase ist es ein farbloses, äußerst reaktionsträges, einatomiges Gas. In vielen Eigenschaften wie Schmelz- und Siedepunkt oder Dichte steht es zwischen dem leichteren Argon und dem schwereren Xenon.
Krypton zählt zu den seltensten Elementen auf der Erde und kommt nur in geringen Mengen in der Atmosphäre vor.
Das Edelgas wurde 1898 von William Ramsay und Morris William Travers durch fraktionierte Destillation flüssiger Luft entdeckt. Krypton wird auf Grund seiner Seltenheit nur in geringen Mengen, vor allem als Füllgas von Glühlampen, verwendet. Eine geringe Anzahl an Kryptonverbindungen ist bekannt, von denen Kryptondifluorid eines der stärksten Oxidationsmittel ist, das bekannt ist.
== Geschichte ==
1894 war Argon als erstes Edelgas von John William Strutt, 3. Baron Rayleigh und William Ramsay entdeckt worden, ein Jahr darauf wurde das bislang nur aus dem Sonnenspektrum bekannte Helium von Ramsay aus Uranerzen isoliert. Aus den Gesetzen des Periodensystems erkannte Ramsay, dass es noch weitere derartige Elemente geben müsste. Er untersuchte daher ab 1896 zunächst verschiedene Minerale und Meteoriten und die von ihnen beim Erhitzen oder Lösen abgegebenen Gase. Er und sein Mitarbeiter Morris William Travers waren dabei jedoch nicht erfolgreich, es wurden nur Helium und seltener Argon gefunden. Auch die Untersuchung heißer Gase aus Cauterets in Frankreich und aus Island brachten keine Ergebnisse.Schließlich untersuchten sie 15 Liter verflüssigtes Rohargon und trennten es mittels fraktionierter Destillation. In dem Rückstand fanden sie bislang unbekannte gelbe und grüne Spektrallinien, also ein neues Element. Nach dem altgriechischen κρυπτός kryptós („verborgen“) wurde es Krypton genannt. Nach Reinigung durch weitere Destillation konnten Ramsay und Travers auch die molare Masse von etwa 80 g/mol bestimmen. Nach dieser Entdeckung fanden sie in einer anderen, niedriger siedenden Fraktion das Element Neon, und schließlich, durch Trennung des Rohkryptons, das Element Xenon.1924 behauptete Andreas von Antropoff, eine erste Kryptonverbindung in Form eines roten stabilen Feststoffes aus Krypton und Chlor synthetisiert zu haben. Später stellte sich jedoch heraus, dass diese Verbindung kein Krypton enthielt, sondern Stickstoffmonoxid und Chlorwasserstoff. Größere Anstrengungen in der Synthese von Kryptonverbindungen wurden nach der Entdeckung der ersten Xenonverbindungen 1962 unternommen. Als erster stellte Aristid von Grosse eine Kryptonverbindung dar. Er hielt sie zunächst für Kryptontetrafluorid; sie wurde nach weiteren Versuchen aber als Kryptondifluorid identifiziert.Die Wellenlänge einer elektromagnetischen Strahlung, die vom Kryptonisotop 86Kr ausgestrahlt wird, wurde 1960 als Grundlage für die Definition des Meters gewählt. Sie löste damit die zu ungenaue Definition über das Urmeter aus einer Platin-Iridium-Legierung ab. Ein Meter wurde als das 1.650.763,73-fache der Wellenlänge der vom Nuklid 86Kr beim Übergang vom 5d5 in den 2pl0-Zustand ausgesandten und sich im Vakuum ausbreitenden Strahlung definiert. 1983 wurde diese Festlegung schließlich ersetzt durch eine Definition, die auf der Strecke beruht, die Licht im Vakuum in einem bestimmten Bruchteil einer Sekunde zurücklegt.
== Vorkommen ==
Krypton zählt zu den seltensten Elementen auf der Erde. Seltener sind lediglich Xenon sowie radioaktive Elemente, die entweder wie Plutonium zum größten Teil schon zerfallen sind oder nur als kurzlebiges Zwischenprodukt von Zerfallsreihen vorkommen. Der Anteil des Kryptons an der Erdhülle beträgt 1,9 · 10−5 ppm, der größte Teil des Gases befindet sich dabei in der Atmosphäre, die zu 1,14 ppm aus Krypton besteht.Im übrigen Universum kommt Krypton in höherem Anteil vor, vergleichbar mit dem von Lithium, Gallium und Scandium. Das Verhältnis von Krypton und Wasserstoff ist im Universum weitgehend konstant. Daraus lässt sich schließen, dass die interstellare Materie reich an Krypton ist. Krypton konnte auch in einem Weißen Zwerg nachgewiesen werden. Dabei wurde im Vergleich zur Sonne die 450-fache Menge gemessen, der Grund für diesen hohen Krypton-Gehalt ist jedoch noch unbekannt.
== Gewinnung ==
Die Gewinnung von Krypton erfolgt ausschließlich im Rahmen des Linde-Verfahrens aus der Luft. Bei der Stickstoff-Sauerstoff-Trennung reichert es sich auf Grund der hohen Dichte zusammen mit Xenon im flüssigen Sauerstoff an, der sich im Sumpf der Kolonne befindet. Dieses Gemisch wird in eine Kolonne überführt, in der es auf etwa 0,3 % Krypton und Xenon angereichert wird. Dazu enthält das flüssige Krypton-Xenon-Konzentrat neben Sauerstoff noch eine größere Menge Kohlenwasserstoffe wie Methan, fluorierte Verbindungen wie Schwefelhexafluorid oder Tetrafluormethan sowie Spuren an Kohlenstoffdioxid und Distickstoffmonoxid. Methan und Distickstoffmonoxid können über Verbrennung an Platin- oder Palladiumkatalysatoren bei 500 °C zu Kohlenstoffdioxid, Wasser und Stickstoff umgesetzt werden, die durch Adsorption an Molekularsieben entfernt werden können. Fluorverbindungen können dagegen nicht auf diese Weise aus dem Gemisch entfernt werden. Um diese zu zerlegen und aus dem Gemisch zu entfernen, kann das Gas mit Mikrowellen bestrahlt werden, wobei die Element-Fluor-Bindungen aufbrechen und die entstehenden Fluoratome in Natronkalk aufgefangen werden können oder über einen Titandioxid-Zirconiumdioxid-Katalysator bei 750 °C geleitet werden. Dabei reagieren die Fluorverbindungen zu Kohlenstoffdioxid und Fluorwasserstoff und anderen Verbindungen, die abgetrennt werden können.Anschließend werden Krypton und Xenon in einer weiteren Kolonne, die unten beheizt und oben gekühlt wird, getrennt. Während sich Xenon am Boden sammelt, bildet sich oben ein Gasstrom, in dem zunächst Sauerstoff, nach einiger Zeit auch Krypton aus der Kolonne entweicht. Letzteres wird durch Oxidation von noch vorhandenen Sauerstoffspuren befreit und in Gasflaschen gesammelt.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Krypton ist ein bei Normalbedingungen einatomiges, farbloses und geruchloses Gas, das bei 121,2 K (−152 °C) kondensiert und bei 115,79 K (−157,36 °C) erstarrt. Wie die anderen Edelgase außer dem Helium kristallisiert Krypton in einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit dem Gitterparameter a = 572 pm.Wie alle Edelgase besitzt Krypton nur abgeschlossene Schalen (Edelgaskonfiguration). Dadurch lässt sich erklären, dass das Gas stets einatomig vorliegt und die Reaktivität gering ist.
Mit einer Dichte von 3,749 kg/m³ bei 0 °C und 1013 hPa ist Krypton schwerer als Luft, es sinkt also ab. Im Phasendiagramm liegt der Tripelpunkt bei 115,76 K und 0,7315 bar, der kritische Punkt bei −63,75 °C, 5,5 MPa sowie einer kritischen Dichte von 0,909 g/cm³.In Wasser ist Krypton etwas löslich, in einem Liter Wasser können sich bei 0 °C maximal 110 ml Krypton lösen.
=== Chemische Eigenschaften ===
Wie alle Edelgase ist Krypton sehr reaktionsträge. Es kann lediglich mit dem elektronegativsten Element, dem Fluor, unter speziellen Bedingungen reagieren und bildet dabei Kryptondifluorid. Im Gegensatz zu den Xenonfluoriden ist Kryptondifluorid thermodynamisch instabil, die Bildung ist daher endotherm und muss bei niedrigen Temperaturen stattfinden. Die für eine Reaktion nötigen Fluorradikale können über Bestrahlung mit UV-Strahlung, Beschießen mit Protonen oder elektrische Entladungen dargestellt werden.Mit verschiedenen Verbindungen bildet Krypton Clathrate, bei denen das Gas physikalisch in einen Hohlraum eingeschlossen und so gebunden ist. So bilden Wasser und Wasser-Chloroform-Mischungen bei −78 °C ein Clathrat, ein Clathrat mit Hydrochinon ist so stabil, dass Krypton sich über längere Zeit darin hält. Auch eine Einschlussverbindung des Kryptons im Oligosaccharid α-Cyclodextrin ist bekannt.
== Isotope ==
Insgesamt sind 32 Isotope sowie 10 weitere Kernisomere des Kryptons bekannt. Fünf Isotope sind stabil: 80Kr, 82Kr, 83Kr, 84Kr und 86Kr. Sie kommen zusammen mit dem extrem langlebigen 78Kr (Halbwertszeit 2 · 1021 Jahre) in der Natur vor. Den größten Anteil am natürlichen Isotopengemisch hat dabei 84Kr mit 57 %, gefolgt von 86Kr mit 17,3 %; 82Kr kommt zu 11,58 % und 83Kr zu 11,49 % vor. Dagegen sind die Isotope 80Kr mit 2,28 % und 78Kr mit 0,35 % Anteil selten. Das nach 78Kr langlebigste der instabilen Isotope ist mit einer Halbwertszeit von 229.000 Jahren 81Kr. Es entsteht in Spuren in der oberen Atmosphäre durch Reaktionen stabiler Krypton-Isotope mit kosmischer Strahlung und kommt somit ebenfalls natürlich in der Luft vor. Aufgrund seiner Entstehung in der Atmosphäre und seiner Langlebigkeit wird 81Kr für die Datierung fossilen Grundwassers verwendet.Auch das radioaktive Isotop 85Kr mit 10,756 Jahren Halbwertszeit (Betastrahler, max. 687 keV) kommt in Spuren in der Atmosphäre vor. Es entsteht zusammen mit anderen (kurzlebigen) Isotopen bei der Kernspaltung von Uran und Plutonium. Durch Kernexplosionen oder während der Wiederaufarbeitung von Brennelementen gelangt es in die Umgebungsluft und ist durch die unterschiedliche Verteilung der Emissionsquellen auf der Nordhalbkugel häufiger als auf der Südhalbkugel. Nachdem die Belastung der Atmosphäre mit 85Kr nach dem Ende der atmosphärischen Kernwaffentests in den 1960ern abnahm, stieg sie in einer Messstation in Gent zwischen 1979 und 1999 – verursacht durch die Wiederaufarbeitungsanlage La Hague – deutlich an.Als einziges stabiles Krypton-Isotop ist 83Kr NMR-aktiv. Hyperpolarisiertes 83Kr wurde im Tierversuch an Ratten in der Magnetresonanztomographie zur Untersuchung der Lunge eingesetzt.
== Verwendung ==
=== Schutz- und Füllgas ===
Der größte Teil des Kryptons wird als Füllgas für Glühlampen verwendet. Durch das Gas ist die Abdampfrate des Glühfadens aus Wolfram geringer, das ermöglicht eine höhere Glühtemperatur. Diese bewirkt wiederum eine höhere Lichtausbeute der Lampe. Auch Halogen- und Leuchtstofflampen können Krypton enthalten. Weiterhin dient es in Geigerzählern, Szintillationszählern und elektronischen Geräten als Füllgas. Auch in Isolierglasscheiben wird es trotz des hohen Preises statt des normalerweise benutzten Argons als Füllgas eingesetzt, wenn man bei gleicher Scheibendicke eine deutlich bessere Isolierung erreichen will.
=== Laser ===
Zusammen mit Fluor wird Krypton im Krypton-Fluorid-Laser eingesetzt. Dieser zählt zu den Excimerlasern und hat eine Wellenlänge von 248 nm im ultravioletten Spektralbereich. Auch Edelgas-Ionen-Laser mit Krypton, bei denen das aktive Medium ein- oder mehrfach geladene Kryptonionen sind, sind bekannt.
=== Medizin ===
Wie Xenon absorbiert Krypton – allerdings in geringerem Maß – Röntgenstrahlung. Deshalb wird untersucht, ob Xenon-Krypton-Mischungen in der Computertomographie als Kontrastmittel eingesetzt werden können. Sie könnten einen besseren Kontrast als reines Xenon erreichen, da dessen Anteil am Kontrastmittel auf Grund der narkotisierenden Wirkung beim Einsatz am Menschen auf maximal 35 Prozent beschränkt ist.
=== Forschung ===
Flüssiges Krypton wird als Material für Kalorimeter in der Teilchenphysik verwendet. Es ermöglicht eine besonders genaue Bestimmung von Ort und Energie. Ein Beispiel für einen Teilchendetektor, der ein Flüssig-Krypton-Kalorimeter nutzt, ist das NA48-Experiment am CERN.
=== Raumfahrt ===
In der Raumfahrt wird Krypton als Stützmasse in Ionenantrieben genutzt.
=== Radioaktive Anwendungen ===
Das betastrahlende 85Krypton wird zur Vorionisation in Leuchtstofflampen-Glimmstartern verwendet. Auch Ionisationsrauchmelder enthielten früher dieses Gas. Auch zum Aufspüren feinster Lecks und Haarrisse wird es verwendet. 85Kr ist als Spaltprodukt verhältnismäßig leicht zugänglich, entweicht aber bei gewissen Formen der Wiederaufarbeitung ungenutzt. Durch Gammaspektroskopie kann das entweichende 85Kr nachgewiesen werden und so etwaige geheime Plutonium-Gewinnung aufgedeckt werden. Forschung, die die selektive Adsorption von Krypton aus Abgasen des PUREX-Prozesses ermöglicht, wird unter anderem am MIT betrieben.
== Biologische Bedeutung ==
Wie die anderen Edelgase hat Krypton auf Grund der Reaktionsträgheit keine biologische Bedeutung und ist auch nicht toxisch. In höheren Konzentrationen wirkt es durch Verdrängung des Sauerstoffs erstickend. Bei einem Druck von mehr als 3,9 bar wirkt es narkotisierend.
== Verbindungen ==
Nur eine kleine Anzahl an Kryptonverbindungen ist bekannt. Die wichtigste und stabilste davon ist Kryptondifluorid. Es zählt zu den stärksten bekannten Oxidations- und Fluorierungsmitteln und ist beispielsweise in der Lage, Xenon zu Xenonhexafluorid oder Iod zu Iodpentafluorid zu oxidieren. Reagiert Kryptondifluorid mit Fluoridakzeptoren wie Antimonpentafluorid, bilden sich die Kationen KrF+ und Kr2F3+, die die stärksten bekannten Oxidationsmittel sind.
Auch Verbindungen mit anderen Liganden als Fluor sind bekannt. Dazu zählen unter anderem Kryptonbis(pentafluororthotellurat) Kr(OTeF5)2, die einzig bekannte Sauerstoff-Krypton-Verbindung, RCNKrF+AsF6− (R=H, CF3, C2F5 oder n-C3F7) mit einer Krypton-Stickstoff-Bindung und HKrCCH, bei der ein Ethin-Ligand am Krypton gebunden ist.
== Literatur ==
P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006, doi:10.1002/14356007.a17_485.
Eintrag zu Krypton. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 19. Juni 2014.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 417–429.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Krypton |
Seneca | = Seneca =
Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere (* etwa im Jahre 1 in Corduba; † 65 n. Chr. in der Nähe Roms), war ein römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker und als Stoiker einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Seine Reden, die ihn bekannt gemacht hatten, sind verloren gegangen.
Wenngleich er in seinen philosophischen Schriften Verzicht und Zurückhaltung empfahl, gehörte Seneca zu den reichsten und mächtigsten Männern seiner Zeit. Vom Jahr 49 an war er der maßgebliche Erzieher bzw. Berater des späteren Kaisers Nero. Wohl um diesen auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten, verfasste er eine Denkschrift darüber, warum es weise sei, als Herrscher Milde walten zu lassen (De clementia). Im Jahre 55 bekleidete Seneca ein Suffektkonsulat. Sein Agieren als Politiker stand teils im schroffen Widerspruch zu den von ihm in seinen philosophischen Schriften vertretenen ethischen Grundsätzen, was ihm bereits bei Zeitgenossen Kritik eintrug, da er als raffgieriger Opportunist galt.
Senecas Bemühen, Nero in seinem Sinne zu beeinflussen, war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Zuletzt beschuldigte ihn der Kaiser der Beteiligung an der Pisonischen Verschwörung und befahl ihm die Selbsttötung. Diesem Befehl kam Seneca notgedrungen nach.
== Leben und Werk ==
Ausdrückliche Bezüge Senecas auf die eigene Biographie sind in seinen Werken äußerst selten, obwohl er von der Bedeutung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft für die Nachwelt überzeugt war.
Senecas autobiographisches Schweigen hat erhebliche Probleme vor allem bezüglich der Datierung seiner Werke zur Folge, sodass insbesondere für die Abfolge seiner Tragödiendichtung kaum Anhaltspunkte gegeben sind. Dennoch legen die neueren einschlägigen Seneca-Biographien eine mehr oder minder enge Verbindung seiner Schriften mit seiner jeweiligen Lebenssituation nahe. Sein Philosophieren bestand nicht in der Schaffung eines neuen gedanklichen Systems, sondern wesentlich in der Anwendung der stoischen Lehre „nach Maßgabe der jeweiligen besonderen Lebenslage und Lebensnotwendigkeit“. In seinen Werken, auch in den Spätschriften, betonte er seine Verwurzelung in der stoischen Philosophie. Dabei lehnte er dogmatische Festlegungen ab.Senecas wechselvoller Lebenslauf hat ihm mehrfach abverlangt, sich auf Schicksalswenden einzustellen; und er konnte sie in stoischer Manier gutheißen:
Die Vielfalt der Erfahrungen im politischen Leben und die unterschiedlichen Rollen, die er dabei übernahm, sind in Senecas philosophischen Schriften verarbeitet. Aus ihnen resultieren – und dies war Seneca durchaus bewusst – je nach besonderer persönlicher und politischer Lage unterschiedliche Optionen sittlich verantwortbaren Handelns.
Die Annahme, dass Senecas Leben und Werk eine Einheit bildeten, dass sich also Seneca als Politiker und Geschäftsmann nach seinen eigenen philosophischen Lehren richtete, wird seit längerem in der Forschung angezweifelt. So urteilte u. a. der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1931 angesichts der tiefen Verstrickung des Philosophen in das Regime Neros: „Solange er am höfischen und politischen Leben teilnahm, hatte er auch die Moral, nicht nur die stoische, an den Nagel gehängt oder doch nur mit den Lippen bekannt, und auf dem Totenbett posiert er, wie er es in seinen Schriften immer getan hat.“Tacitus bezeugt, dass Seneca bereits von seinen Zeitgenossen wegen des Widerspruchs zwischen seinen Lehren und seinem Handeln attackiert wurde. So warf ihm der Senator Publius Suillius Rufus öffentlich vor, seine Machtposition am Hof auszunutzen, um verbrecherisch zu Reichtum zu gelangen:
Andere Forscher vertreten allerdings eine Gegenposition und verteidigen die Einheit von Leben und Lehre Senecas. Die Altertumswissenschaftlerin Hildegard Cancik-Lindemaier vertrat 1967 die These, Seneca habe gerade als Philosoph weniger durch seine Dialoge und Traktate wirken wollen als durch die in ihnen dargestellten positiven und negativen Seiten der eigenen Person: „Das Selbstzeugnis als Exemplum gehört in die Mitte des senecanischen Philosophierens; in ihm wird die Einheit von Leben und Lehre unmittelbar bezeugt.“ Der Latinist Niklas Holzberg erklärte 2016 die Existenz der bösartigen Apocolocyntosis, die schlecht mit der stoischen Ethik Senecas vereinbar sei, damit, dass es sich um eine spätere Fälschung handle.
=== Ungewisse Anfänge ===
Senecas Geburtsjahr ist nicht überliefert und auch nicht sicher bestimmbar. Neuere Rekonstruktionsversuche sprechen für das Jahr 1, doch wird auch weiterhin das Jahr 1. v. Chr. genannt. Im spanischen Corduba geboren, gelangte er noch als Kleinkind in der Obhut seiner Tante nach Rom; anscheinend wollte sein Vater Seneca der Ältere als eques seinen Sohn schon von klein auf im Herzen der Weltmacht heranwachsen sehen und den feinen römischen Zungenschlag annehmen lassen. Mit seiner Frau Helvia hatte er noch zwei weitere Söhne. Senecas älterer Bruder Novatus wurde unter seinem Adoptivnamen Gallio 51/52 n. Chr. Prokonsul in der Provinz Achaia und wies u. a. eine Klage der Juden gegen den Apostel Paulus ab; später übernahm er das Amt eines Konsuls. Seneca widmete ihm drei seiner Schriften, darunter De ira (Über den Zorn) und De vita beata (Vom glücklichen Leben). Sein jüngerer Bruder Mela übernahm die Verwaltung des Familienbesitzes in Corduba.Seneca der Ältere betrieb intensiv rhetorische Studien und verfasste darüber ein Werk, in dem er sich sehr kritisch zur gekünstelten zeitgenössischen Rhetorik äußerte. Auf diesem Felde war der gleichnamige Sohn also frühzeitig orientiert. In Verbindung damit dürfte er einen vorzüglichen rechtskundlichen Unterricht erhalten haben, der ihn auf eine anwaltliche Tätigkeit vorbereitete, für die es unerlässlich war, das rhetorische Instrumentarium zu beherrschen.
Die rhetorischen Stilübungen waren ihm allerdings weit weniger wichtig als die philosophischen Grundsätze, die ihm seine Lehrer Sotion und Attalos vermittelten. Sotion, der neben stoischen auch pythagoreische Lehren vertrat, beeinflusste Seneca stark und nachhaltig. Er veranlasste ihn zeitweise dazu, gemäß der pythagoreischen Tradition nur fleischfreie Kost zu sich zu nehmen. Die empfohlene harte Matratze für seine Bettstatt behielt Seneca bis ins Alter bei. Vor der Nachtruhe nahm er, wie er es bei Sotion gelernt hatte, täglich eine Rekapitulation des Tages als Selbstprüfung und Gewissensforschung vor:
Gesundheitlich war Seneca von Kindesbeinen an und während seines ganzen Lebens durch Asthma-Anfälle und chronische Bronchitis stark eingeschränkt. Atemnöte und Fieberschübe setzten ihm in jungen Jahren derartig zu, dass er davor stand, sich das Leben zu nehmen. Eine gewisse Stabilisierung trat erst ein, als er im Alter von etwa 30 Jahren das ihm bekömmlichere Klima im ägyptischen Alexandria aufsuchte, wo er bei seiner Tante unterkam, die mit dem römischen Präfekten von Ägypten verheiratet war. Sie setzte sich für ihn ein, als er nach seiner Rückkehr nach Rom, wo er sich als Anwalt bei den Gerichten bereits einen Namen gemacht hatte, erfolgreich um die Quästur als Einstieg in die römische Ämterlaufbahn bewarb.In diese Zeit fielen auch die ersten seiner überlieferten philosophischen Schriften in Briefform. In der Trostschrift an Marcia, die Tochter des Historikers Cremutius Cordus, deren Kind verstorben war, betrachtete er die Entwicklung ihrer Trauer und gab Anregungen, ihr über den Verlust des Sohnes hinwegzuhelfen.
Noch akzentuierter griff er klassisches stoisches Gedankengut in seinem dreiteiligen Werk De ira auf. Diese Arbeit stammt aus den vierziger Jahren und ist seinem Bruder gewidmet. Das Problem der Affektkontrolle wird hier auf vielfältige Weise lebenspraktisch, historisch-exemplarisch und politisch abgehandelt.
Da es sich nach Seneca beim Zorn um eine beherrschbare Regung handelt, hielt er entsprechendes erzieherisches Einwirken für nötig. Dabei kam es ihm besonders auf die genaue Beobachtung der individuellen Entwicklung an, weil z. B. mit dem Mittel des Lobes einerseits das Selbstbewusstsein des Schützlings gestärkt, andererseits aber Überheblichkeit und Jähzorn gefördert werden könnten. Mal müsse eben gebremst, mal angefeuert werden. Sein die Menschenwürde achtender pädagogischer Ansatz zeigt sich, wenn er fortfährt:
=== Trostschriften aus der korsischen Verbannung ===
Hineingeboren in die Ära des Augustus, eben Jugendlicher bei Herrschaftsantritt des Tiberius, arrivierter Anwalt und Senatsmitglied, als Caligula Princeps wurde: So lassen sich Senecas vier erste Lebensjahrzehnte mit der Geschichte des frühen Prinzipats in Beziehung setzen. Ausschlaggebend für seinen weiteren Lebenslauf wurde das julisch-claudische Herrscherhaus allerdings erst im Jahre 41, als Seneca nach der Beseitigung des despotischen Caligula von dessen Nachfolger Claudius in die Verbannung nach Korsika geschickt wurde.
Dies geschah auf Betreiben Messalinas, mit der Claudius in dritter Ehe verheiratet war und die Julia Livilla als potentielle Rivalin ausschalten wollte. Deshalb denunzierte sie diese wegen angeblichen Ehebruchs mit Seneca. Nur der Fürsprache Kaiser Claudius’ im Senat war es zu verdanken, dass Seneca statt zum Tode zur Verbannung nach Korsika verurteilt wurde. Weil dies in Form einer Relegatio (nicht der Deportatio) geschah, blieben ihm Eigentum und staatsbürgerliche Rechte erhalten.Acht Jahre währte die Verbannung auf Korsika insgesamt. Erhalten sind aus dieser Zeit vor allem zwei Trostschriften, in denen Seneca einerseits stoischen Schicksalsgehorsam, andererseits aber auch den dringenden Wunsch nach Beendigung des Exils zum Ausdruck brachte. Er zeigte sich, indem er Trost spendete, zugleich als Trost Suchender in auf die Dauer quälender Abgeschiedenheit.
In dem Trostschreiben an seine Mutter Helvia, die von seiner Verbannung hart getroffen worden war, versicherte Seneca, er sei nicht unglücklich auf Korsika und könne es auch gar nicht werden. Warum sollte er nicht mit einem Ortswechsel seinen Frieden machen können, wo doch von den Himmelsgestirnen bis zu den Menschenvölkern so vieles ständig in Bewegung sei. Im Schlussabschnitt schrieb er:
Eine deutlich weniger optimistische Beschreibung seiner Lage enthält dagegen die Trostschrift für den Freigelassenen Polybius, der bei Hofe das Referat für Bittschriften leitete (a libellis) und dem er sich wohl vor allem mit dem Ziel andiente, er möge bei Kaiser Claudius die Lösung seiner Verbannung erwirken. Dieses Schreiben schloss Seneca, nachdem er seine eigene kraftlose und abgestumpfte geistige Verfassung beklagt hatte, entschuldigend mit den Worten:
Der mühsam verbrämte Eigennutz dieser obendrein erfolglosen Trostschrift und das am Ende hervorbrechende Selbstmitleid haben Seneca mancherlei Spott und Kritik eingetragen. Manfred Fuhrmann stellte 1997 dazu fest: „Die Nachwelt hat Seneca diesen Kotau, das Erzeugnis einer Depression, ziemlich übel genommen. Sein Tun habe aufs schärfste seinen philosophischen Lehren widersprochen, schreibt Cassius Dio …“. Ludwig Friedländer attestierte Seneca 1900 eine Überhäufung des Polybios mit unwürdigen Schmeicheleien und wies darauf hin, dass Seneca später aus Scham erfolglos die Vernichtung dieser Schrift betrieben haben soll.
=== Erzieher des Thronfolgers ===
Das Ende der Verbannung kam für Seneca schließlich ohne eigenes Zutun, als Kaiserin Messalina, die Initiatorin des Verfahrens gegen Julia Livilla und Seneca, ihr sexuell und machtpolitisch motiviertes Spiel überzog und eine Abwesenheit des Claudius von Rom dazu nutzte, den designierten Konsul Gaius Silius zu ehelichen, was beide bald danach das Leben kostete. Nun sah Agrippina die Jüngere, die neben Julia Livilla vormals ebenfalls verbannte Nichte des Claudius, gute Chancen, ihrem Sohn Lucius aus erster Ehe, dem späteren Nero, Thronchancen zu verschaffen, indem sie Kaiser Claudius ehelichte. Als Erziehungsbeistand ihres Sohnes aber hatte sie Seneca ausersehen.Diesem Ruf konnte Seneca, den es zunächst nach Athen gezogen haben soll, sich schwerlich versagen. Der machtpolitischen Dynamik im Kaiserhaus entsprechend, konnte Gunst schnell und massiv in Ungunst umschlagen. Im Jahre 50 bekleidete Seneca – zweifellos mit maßgeblicher Unterstützung des Kaiserhauses – die Prätur. Sobald Agrippina Kaiserin geworden war, veranlasste sie Claudius, der mit Britannicus schon einen von Messalina geborenen Thronfolger hatte, ihren Sohn unter dem Namen Nero Claudius Caesar zu adoptieren. Nero konnte als der um drei Jahre Ältere von beiden nun die erste Anwartschaft beanspruchen. Zwar gab es keine verbindlichen Regelungen in der Nachfolgefrage, doch war in der Vergangenheit die Adoption gewohnheitsmäßig zum Mittel der dynastischen Legitimation in der Nachfolge des Prinzipats geworden. Dies war die Konstellation, in der Seneca an Neros Seite trat.
Nach acht Jahren Exil wieder in Rom zu sein war für Seneca zweifellos ein scharfer und tief erlebter Kontrast. In diese Zeit fiel seine Schrift „Von der Kürze des Lebens“, in der Seneca die zeitgenössischen städtischen Lebensformen einer exemplarischen Kritik unterzog:
Sein spezielles Augenmerk hatte der widersprüchliche Umgang der Menschen mit Besitz und Eigentum einerseits und mit ihrer begrenzten Lebenszeit andererseits:
Raubbau an der gegebenen Lebensspanne treibe auch, wer lohnende Vorhaben in ein Alter verschiebe, von dem er gar nicht wissen könne, ob er es überhaupt erreichen werde. Zu leben verstehe hingegen, wer die alltägliche Betriebsamkeit hinter sich lasse und sich der Philosophie zuwende. Damit erschließe sich dem Menschen eine reiche Vergangenheit. Seneca plädiert hier für das Studium unterschiedlicher philosophischer Wege:
Es liegt nahe, dass Seneca seine philosophischen Leitvorstellungen auch dem heranwachsenden Nero vermittelt hat, der gemäß Agrippinas Ambitionen aber hauptsächlich auf seine Rolle als künftiger Kaiser vorbereitet werden sollte. Nero selbst neigte eher den schönen Künsten zu, hatte darin auch einiges Talent und einen starken Hang zur Selbstinszenierung. Wenn Seneca möglicherweise zu dieser Zeit begann, Tragödien zu schreiben, könnte er damit seinen Einfluss auf den Thronanwärter, der ihm in der Dichtkunst nacheiferte, noch verstärkt haben.In allen seinen Tragödien griff Seneca den klassischen Stoff der griechischen Mythen im Anschluss an Aischylos, Sophokles und Euripides auf. Sie waren dazu geeignet, seine philosophischen Überzeugungen teils drastisch-grauenvoll ausgemalt, teils spielerisch-unaufdringlich an den Zögling weiterzugeben. Ein Beispiel aus dem Thyestes:
Etwa fünf Jahre war Seneca als Erzieher des Prinzen tätig, bis Claudius im Jahr 54 starb – angeblich von seiner Frau vergiftet, die damit Nero zum Kaiser machen und selbst noch mehr Macht erhalten wollte.
=== Mitgestalter von Neros Herrschaftsbeginn ===
Einer von Neros Nachfolgern, der von 98 bis 117 regierende Kaiser Trajan, soll die ersten Regierungsjahre Neros von 54 bis 59 als das glückliche Jahrfünft (Quinquennium) des Römischen Reiches bezeichnet haben. Als erst Sechzehnjähriger gelangte Nero im Herbst 54 zur Herrschaft; und das positive Urteil über die ersten Jahre seines Prinzipats ist vor allem den beiden vorzüglich harmonierenden politischen Vordenkern und Begleitern Neros, dem Gardepräfekten Sextus Afranius Burrus und dem von Nero auch als Gegengewicht gegen die eigene Mutter weiterhin hoch geschätzten und mit umfänglichen Schenkungen bedachten Seneca geschuldet. Über Senecas Einflussnahme auf politische Entscheidungen im Einzelnen schweigen die Quellen. Weder zu seinem kurzen Konsulat 55 noch zu seinem Verhalten im Senat ist Konkretes bekannt.Zu Neros ersten Amtshandlungen gehörte die Leichenrede auf den Adoptivvater Claudius, die Seneca für ihn vorbereitet hatte und die Nero in würdiger Manier vortrug. Als aber an einer Stelle von Claudius’ vorausschauenden Fähigkeiten und von seiner Weisheit die Rede war, verbreitete sich anlasswidrig allgemeine Heiterkeit, denn Claudius galt bei den Senatoren als beschränkt.
Seneca verfasste noch im selben Jahr den Ludus de morte Claudii Neronis, das „Spiel über den Tod von Claudius Nero“, das mit einem von Cassius Dio überlieferten Titel zumeist als „Apocolocyntosis“ („Verkürbissung“ im Sinne von Veräppelung) zitiert wird. Es ist die einzige menippeische, das heißt teils in Prosa, teils Hexametern verfasste Satire, die von Seneca überliefert ist. Er macht sich ausgiebig über die angeblichen geistigen, moralischen und körperlichen Unzulänglichkeiten des verstorbenen Kaisers lustig. So legt er dem sterbenden Claudius als letzte Worte in den Mund: „Vae me, puto, concacavi me!“ (auf Deutsch etwa: „O je, ich fürchte, ich habe mich beschissen“) und schildert dann seinen Weg durch das Jenseits, wo Kaiser Claudius, statt als Gott verehrt zu werden, schließlich als Sklave eines Freigelassenen als Gerichtsdiener zu arbeiten hatte. Gregor Maurach mutmaßte, Seneca habe sich später für diese zornige Polemik geschämt, die dem eigenen Ideal philosophischer Gelassenheit so offenkundig widersprach, und habe versucht, ihre weitere Verbreitung zu verhindern.Ganz auf der Linie seiner philosophischen Werke lag dagegen Senecas programmatische Mahnschrift Ad Neronem Caesarem de clementia („An Kaiser Nero über die Milde“), mit der er seinen Schüler zu Beginn von dessen Prinzipat zu Milde gegenüber den ihm untergebenen Mitbürgern und zu einer verantwortungsvollen Amtsführung anhalten wollte. Nach Marion Giebels Auffassung legte Seneca mit dieser primär für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift das „längst nötige Fundament für die traditionslose römische Monarchie“. Er bezog sich dabei auf das Wort des Zenon-Schülers und makedonischen Königs Antigonos II. Gonatas, dem zufolge die Herrschaft für den König „eine ehren- und ruhmvolle Knechtschaft“ sei.Die Rolle eines milden Kaisers hat Nero wohl zeitweise angenommen und die Würde des Senats wieder stärker hervorgekehrt; in irgendeiner dienenden Funktion hat er sich allerdings wohl kaum gesehen. Bei Manfred Fuhrmann heißt es dazu: „Die Monarchie ist unkontrollierbar, die hieraus sich ergebenden Defizite können allein durch den Menschen selbst ausgeglichen werden: Diese wohldurchdachte Doktrin Senecas vermochte nur jemanden zu beeindrucken, der zur Selbstreflexion fähig und von der Erfahrung der eigenen, eingeschränkten Subjektivität durchdrungen war.“Bei der Absicherung seiner Macht verließ sich Nero nicht auf die ihm gegenüber beschworene Milde. Schon im Jahre 55 traten zwischen Agrippina, die ihren Willen mitzuherrschen auch bei offiziellen Anlässen zu erkennen gab, und Nero Spannungen auf, die auch Seneca nur notdürftig zu überspielen vermochte. Als die Mutter dem Sohn mit den nicht erledigten Thronansprüchen seines Stiefbruders Britannicus drohte, arrangierte Nero laut Quellenzeugnissen dessen Vergiftung bei einem Essen in Anwesenheit Agrippinas und ließ dazu verbreiten, Britannicus sei an einem epileptischen Anfall gestorben.
=== Schattenseiten der Machtteilhabe ===
Seneca hatte an dem Essen, das für Britannicus tödlich endete, nicht teilgenommen. Wie er auf den Mord reagierte, ist nicht überliefert. Ausrichten konnte er ohnehin wenig, wenn er seinen Einfluss auf Nero nicht verlieren wollte.Ob und ab wann Seneca den Platz an Neros Seite möglicherweise als problematisch empfunden hat, bleibt offen. Zwar schreibt er in einem der Briefe an Lucilius, er habe den rechten Weg erst spät erkannt, doch führte er andererseits – wie fast immer ohne expliziten Bezug zum eigenen Tun – philosophische Gründe für sein anhaltendes Mitwirken im Zentrum der römischen Macht an. Mit dem Beispiel des Sokrates, der unter der Gewaltherrschaft der Dreißig in Athen 404/403 v. Chr., seinen Mitbürgern ein unangepasst-freies Auftreten vorgelebt habe, unterlegte Seneca die These, dass ein Weiser sich gerade in einer für das Gemeinwesen schwierigen Lage verdient machen könne und dass es den Umständen entsprechend abzuwägen gelte, wann politisches Engagement chancenreich und wann aussichtslos sei.Schon innerhalb des später äußerst positiv gewürdigten Quinquenniums erschwerte Neros Impulsivität und sein Hang zu Ausschweifungen Seneca und Burrus das Geschäft, zumal Poppaea Sabina, die Mätresse und ab 59 Ehefrau des Kaisers, immer mehr Einfluss über ihn gewann. Seneca harrte dennoch, vielleicht um Schlimmeres zu verhüten, auf seinem Posten am Hofe aus. Nach Ansicht anderer Forscher wie Ulrich Gotter, die den Philosophen nicht in Schutz nehmen wollen und seine philosophische Selbstdarstellung für Fassade halten, ging es Seneca dabei allerdings vor allem um seine eigene Machtstellung:
Auch durch Zuwendungen Neros war Seneca zu einem der reichsten Männer des Imperium Romanum geworden – laut Tacitus wuchs sein Vermögen allein in den vier Jahren zwischen 54 und 58 um 300 Millionen Sesterzen. In der Provinz Britannien trieb er 40 Millionen Sesterzen aus gekündigten Krediten, die er den Schuldigern vorher aufgedrängt hatte, rücksichtslos ein. Als der frühere Konsul Publius Suillius Rufus, der sich unter Claudius als Ankläger in Majestätsprozessen verhasst gemacht hatte, im Jahr 58 selbst vor Gericht gestellt wurde, griff er Seneca laut Tacitus vor dem Senat als Jugend- und Frauenverführer sowie als Müßiggänger und Geldsack an, der die Provinzen skrupellos ausplündere, kinderlose Römer zwinge, ihn als Erben einzusetzen und „seiner Raffgier auch noch ein philosophisches Mäntelchen der Bedürfnislosigkeit umhänge.“ Seneca, zu diesem Zeitpunkt noch in Neros Gunst stehend, gewann den Prozess, und Suillius wurde in die Verbannung geschickt.
Senecas Schrift Vom glücklichen Leben wird häufig als Antwort auf diese Angriffe gedeutet. Darin bestritt er nachdrücklich, dass es einen Widerspruch zwischen der stoischen Lehre und seinem persönlichen Reichtum gäbe. Der Weise müsse allerdings fähig sein, materielle Güter aufzugeben und dürfe sich nicht zu ihrem Sklaven machen. Wie eine Replik auf die im Suillius-Prozess erhobenen Vorwürfe klingt folgende Passage:
Seneca-Experten bemängeln, große Teile dieser Arbeit dienten der Rechtfertigung des eigenen Reichtums mithilfe zweckhaft ausgewählter Philosopheme. Richard Mellein spricht in diesem Zusammenhang von Senecas „scheinheiligem Opportunismus“.Ob Seneca zu dieser Zeit noch mit seinen Tragödien befasst war, ist unklar; bekannt ist aber, dass er eine der ihm ursprünglich zugeschriebenen Tragödien, die sich als einzige direkt auf das zeitgenössische Geschehen am Hofe Neros bezog, nicht selbst geschrieben hat. Titelheldin war Neros erste Frau Octavia (wie Britannicus ein Kind des Claudius), die zu ehelichen Neros Thronansprüche untermauert hatte. War Octavia bis dahin schon den Zurücksetzungen durch ihre Schwiegermutter Agrippina ausgesetzt, so wurde sie nun von Poppaea mehr und mehr aus ihrer Stellung gedrängt und musste später, als Seneca sich bereits weitgehend aus dem politischen Leben zurückgezogen hatte, Rom verlassen. Nach erprobtem Muster war sie des Ehebruchs bezichtigt worden, doch wurde das allgemein nicht für bare Münze genommen. Da sie auch als Verbannte im Volk weiterhin sehr beliebt war und Nero wie auch Poppaea, die unterdessen geheiratet hatten, als Bedrohung erschien, wurde sie schließlich 65 umgebracht.Tacitus zufolge war Seneca im Jahr 59 in den vollendeten Muttermord Neros unmittelbar einbezogen. Ein erster Anschlag auf Agrippina, die sich von einem für den Untergang präparierten Schiff noch hatte retten können, war fehlgeschlagen. Daraufhin soll sich Nero Rat bei Seneca und Burrus geholt haben. Die Vollendung des Mordaktes habe dann Neros enger Vertrauter, der griechische Freigelassene Anicetus, besorgt. In einer wie üblich von Seneca verfassten Mitteilung an den Senat hieß es, ein Bote der Agrippina habe Nero ermorden sollen; sie selbst habe sich nach Vereitelung der Untat den Tod gegeben.
=== Rückzug aus der Politik und Spätwerk in Muße ===
Nero hatte nach dem Mord an Agrippina allein die Macht inne und bedurfte Senecas als eines vermittelnden Wahrers seiner Ansprüche gegenüber der Mutter nicht mehr. Dennoch änderte sich an der äußeren Stellung Senecas, des neben Burrus wichtigsten politischen Beraters des Princeps, zunächst nichts. Beide dienten Nero, indem sie politisch Regie führten, während der Kaiser zunehmend seinen Leidenschaften bei Wagenrennen nachging und seine künstlerischen Neigungen als Musiker und Tragödienmime sowie als Stifter und Zentralfigur musischer Festspiele und Wettbewerbe wie der Juvenalia und der Neronia verwirklichte.
Nach dem Bericht des Tacitus bat Seneca, als Burrus 62 starb – von dessen Nachfolger Tigellinus eher angefeindet –, um Entlassung aus dem Staatsdienst. Gleichzeitig äußerte er den Wunsch, Nero möge den Großteil seines durch kaiserliche Protektion erworbenen gewaltigen Vermögens zurück in die eigene Verwaltung nehmen. Der Kaiser erwiderte ablehnend, er könne die Vermögensabtretung nicht ohne Schaden für den eigenen Ruf annehmen, immerhin seien unter seinem Vorgänger Claudius sogar freigelassene Sklaven reicher beschenkt worden; jenseits der rhetorischen Anerkennungsfloskeln war Senecas Abschied aus dem Machtzentrum aber dennoch besiegelt. Er entließ das Gefolge, das ihn seiner politischen Bedeutung entsprechend umgeben hatte, und zog sich mehr und mehr ins Privatleben zurück, meist nach Nomentum auf ein Weingut nordöstlich von Rom.Sein Ausscheiden aus dem politischen Leben und aus der Mitverantwortung für das Gemeinwesen der antiken Weltmacht hat Seneca in seiner Schrift Über die Muße philosophisch reflektiert. Er lässt einen unbekannten Gesprächspartner fragen:
Die Antwort auf diesen rhetorischen Einwand lautet:
Ohnehin sah sich Seneca als Stoiker nicht nur dem staatlichen Gemeinwesen des Römischen Reiches verpflichtet, sondern auch jenem umfassenden „Staatswesen“, als welches er Natur und Kosmos mitsamt allen Menschen und Göttern betrachtete. Diesem mit der Sonne auszumessenden Staatswesen sei aber auch in der Muße mit vielerlei Untersuchungen zu dienen:
Er folgerte:
In der ihm verbleibenden Zeit nach seinem politisch aktiven Leben hat Seneca von 62 bis 65 neben weiteren themenbezogenen philosophischen Werken wie Über Wohltaten (De beneficiis) noch zwei weitere Großprojekte realisiert: die auf Naturerscheinungen und kosmische Zusammenhänge gerichtete Schrift Naturwissenschaftliche Untersuchungen (Quaestiones naturales), die er schon auf Korsika begonnen hatte, sowie die als praktische philosophisch-ethische Handreichung konzipierte Sammlung der Briefe an Lucilius, von denen 124 überliefert sind. Diese umfangreiche Arbeit stellt sein philosophisches Hauptwerk dar. Otto Apelt wies 1924 darauf hin, dass nach Zitaten aus den Noctes Atticae des Gellius ursprünglich noch weitere Briefe existierten.
=== Todeserwartung auf stoische Weise ===
Senecas Leben endete mit der von Nero befohlenen Selbsttötung. Der politische Hintergrund war die Pisonische Verschwörung gegen Neros zunehmend despotisches Regiment. Fuhrmann sieht Seneca dabei zwar nicht unmittelbar beteiligt, aber doch in der Rolle des geistigen Wegbereiters.
Der verbreiteten politischen Unzufriedenheit mit Kaiser Nero, auch im Senatorenstand, gab Seneca in seinem Werk Über Wohltaten Ausdruck. Dort heißt es in Anspielung auf Nero:
Der lange geplante und mehrfach verschobene Mordanschlag auf Nero wurde kurz vor seiner Ausführung verraten. Durch Zusicherung von Straflosigkeit für die Kooperationsbereiten gelang es dem Kaiser, eine breite Denunziationswelle auszulösen, zu deren zahlreichen Opfern auch Seneca gehörte. Die Lage, in die er dadurch geriet, traf ihn jedoch nicht unvorbereitet, da die Vorbereitung auf den eigenen Tod ein zentrales Thema der stoischen Lebenskunst darstellt:
Senecas fragiler Gesundheitszustand hatte ihn schon in jungen Jahren dem Tod nahe gebracht. Über seine Atemnot äußerte er: „Der Anfall […] aber ist ein Ringen mit dem Tode. Daher nennen die Ärzte das Leiden ‚eine Vorübung auf das Sterben‘.“ Seine stoische philosophische Ausrichtung hatte ihm den Weg damit umzugehen gewiesen: „Lass Dir von mir sagen: ich werde vor dem letzten Augenblick nicht zittern, ich bin schon bereit, ich rechne nie mit einem ganzen Tag, den ich etwa noch zu leben hätte.“Der Tod und die Bekämpfung der Todesfurcht waren zuletzt zu einem besonders wichtigen und stets wiederkehrenden Thema in den Briefen an Lucilius geworden. Es war wohl die ganz bewusst ins Zentrum gerückte letzte lebenspraktische Bewährung für Seneca: „Vor dem Eintritt ins Greisenalter war es mein Bestreben, in Ehren zu leben, nun, da es da ist, in Ehren zu sterben.“Schon im 4. Brief an Lucilius hatte Seneca einen rigorosen Standpunkt eingenommen: Nicht das Leben betrachtete er als Gut, sondern nur das sittlich reine Leben. Über den Weisen, der unter anhaltenden schweren Störungen der Gemütsruhe litt, schrieb er:
Eingehend setzte Seneca sich im 70. Brief an Lucilius mit diesem Problem auseinander, indem er u. a. jene Philosophen kritisierte, die Suizid zur Sünde erklärten: „Wer so spricht, sieht nicht, dass er der Freiheit den Weg versperrt. Wie hätte das ewige Gesetz besser verfahren können, als uns nur einen Eingang ins Leben zu geben, aber viele Ausgänge?“ Man könne keine allgemein gültige Antwort darauf geben, ob im Einzelfall der Tod erwartet oder selbst herbeigeführt werden sollte: „Denn es gibt viele Gründe, die uns zu einer von beiden möglichen Entscheidungen bewegen können. Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum sollte ich mich nicht an die letztere halten?“Senecas aus häufiger intensiver Befassung mit Sterben und Tod gewonnene Schlussfolgerung in diesem 70. Brief an Lucilius lautete:
Nero inszenierte die Abrechnung mit seinem Mentor als zweistufigen Prozess. Nachdem Seneca denunziert worden war, schickte der Kaiser einen höheren Offizier zu ihm, damit er sich über seine Beziehung zu Piso äußere. Seneca bestätigte den ausgesprochenen Verdacht nicht, bekam aber dennoch wenig später durch einen anderen Boten die Aufforderung zur Selbsttötung zugestellt. Er wollte sich Tafeln bringen lassen, um sein Testament zu verfassen. Dies wurde ihm jedoch verwehrt. Daraufhin vermachte er seinen Freunden als Einziges, aber zugleich Schönstes – wie er es ausdrückte – das „Bild seines Lebens“ (imago vitae).
Der Philosoph war sich dessen bewusst, dass der Tod jederzeit und an jedem Ort gegenwärtig ist.
Tacitus schildert in seinen Annalen das Sterben Senecas als Tod eines Weisen nach dem Vorbild des Sokrates, dessen Tod in Platons Phaidon ausgemalt wird. Demnach soll Seneca die Selbsttötung erst beim dritten Versuch gelungen sein: Zunächst habe er sich die Pulsadern und weitere Arterien an den Beinen geöffnet, dann soll er wie Sokrates einen Schierlingsbecher getrunken haben und sei schließlich in einem Dampfbad erstickt. Seine Frau Pompeia Paulina, die sich im Fortgang des quälerischen Prozesses auf Senecas Bitte in einen anderen Raum hatte bringen lassen, machte ebenfalls einen Versuch der Selbsttötung. Doch ließ Nero angeblich die bereits geöffneten Pulsadern wieder verbinden, sodass sie ihren Gatten noch einige Jahre überlebte.
== Der Philosoph ==
Seneca verstand sich als Philosoph, der die Lehren der Stoa weiterführte, auf diesem Boden eigene philosophische Erkenntnisse zeitgemäß formulierte und für lebenslanges Lernen plädierte. Er hatte bei der Niederschrift seiner Werke zumeist konkrete Personen als Empfänger vor Augen, auf deren Verhalten und Leben er einwirken wollte, so z. B. seinen Freund Annaeus Serenus, der unter Lebenszweifeln litt.
Aus neuzeitlicher Perspektive ist manchmal in Zweifel gezogen worden, dass Seneca überhaupt als Philosoph anzusehen sei. Aufgrund seiner leichten Lesbarkeit und seiner Konzentration auf alltagsbezogene Fragen der Ethik – die Probleme der Logik behandelte er gar nicht, die Naturphilosophie lediglich in den Naturales quaestiones, ohne dabei an die philosophischen Traditionen anzuknüpfen – wird er häufig als Popularphilosoph bezeichnet.Seneca selbst hat zu seinen Intentionen eine Vielzahl klärender Hinweise in seinem Schrifttum hinterlassen, so z. B. im 64. Brief der Epistulae morales an Lucilius:
Bedeutung und Nutzen seines Philosophierens beschrieb Seneca im 90. Brief so:
„Die Philosophie“, heißt es im 16. Brief, „ist unsere Pflicht und muss uns schützen, gleich ob das Schicksal uns durch sein unerbittliches Gesetz determiniert, ob ein Gott aus seinem Willen das Weltganze angeordnet hat oder ob der Zufall die Handlungen der Menschen chaotisch in ständige Bewegung setzt.“Die Betonung liegt bei Seneca häufig auf der praktischen tugendhaften Lebensführung, die nicht jedermann erreichen kann. Vielfach stellt er das Philosophieren in diesem Sinne dem Trachten und Treiben der Masse des Volkes gegenüber und unterstreicht den Wert der eigenen Argumente gerade durch diese Abgrenzung. Dafür ist seine Schrift Von der Kürze des Lebens ein Beispiel. Nicht wohl gesetzte Worte, sondern Taten sind demnach entscheidend:
Auch kurz vor seinem Lebensende macht er diese Auffassung noch einmal deutlich:
Von ihm stammt auch der Ausspruch Non vitae sed scholae discimus („Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“), der später besonders in seiner Umkehrung berühmt wurde und in Wirklichkeit eine Kritik an der aus seiner Sicht zu wenig lebenspraktischen Orientierung der seinerzeit gelehrten Philosophie vermitteln sollte.
=== Stoiker eigener Art ===
Neben Mark Aurel und Epiktet zählt Seneca zu den wichtigsten Vertretern der jüngeren Stoa. Als Seneca geboren wurde, existierten die Lehren dieser Athener Philosophenschule bereits 300 Jahre. Vom 2. Jahrhundert v. Chr. an hatten sie verstärkt Einzug in führende Kreise der Römischen Republik gehalten, da sie sich als gut verträglich mit deren elitärer Bindung an das Gemeinwohl erwiesen. Daneben hatten aber auch andere philosophische Schulen und die Volksfrömmigkeit ihre Anhänger.
Für Einflüsse anderer philosophischer Schulen war Seneca offen und übernahm manches davon in sein Denken, ohne an seiner Grundeinstellung Zweifel zuzulassen. In ausdrücklicher Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen, denen er Weichlichkeit nachsagte, betonte er, den Stoikern komme es nicht darauf an, dass der Weg reizvoll-angenehm sei, „sondern dass er uns möglichst bald befreie und zu einem hohen Gipfel führe, der weit genug aus der Reichweite von Speeren liegt, um dem Schicksal entronnen zu sein.“Auf dem von Seneca gemeinten Gipfel erlangt der in zäher Entschlossenheit Aufgestiegene den unerschütterlichen Seelenfrieden, der zugleich ein Frieden mit Natur und kosmischer Ordnung ist. „Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele.“ Zur Seelenruhe führen kann nur die Vernunft, die von Seneca als „Teil des göttlichen Geistes, versenkt in den menschlichen Körper“ bezeichnet wird.Nur die Vernunft kann die Affekte kontrollieren, deren Beherrschung der stoischen Lehre gemäß den Weg zum höchsten Gut ebnet. Nur sie kann den Philosophen zu der Erkenntnis führen, dass die Lebenszeit begrenzt ist, dass alle Menschen vor dem Tod gleich sind und dass der Weise seine kurze Zeit in Gelassenheit und Frieden mit der Mehrung des Gemeinwohls und des philosophischen Wissens zubringen soll.
Senecas frühe philosophische Auseinandersetzung mit dem als größte emotionale Herausforderung angesehenen Zorn zielt auf diesen Zusammenhang:
Ebenso müssen andere Affekte und Leidenschaften wie Lust, Unlust, Begierde und Furcht überwunden werden. Vernunftbedingte Gelassenheit ist folglich die oberste Tugend des Stoikers. Wiederholt bekennt sich Seneca zu der philosophischen Tradition, in der er steht. Deren Lehren an veränderte Umstände anzupassen, begreift er als wichtige Aufgabe.
=== Lehrer individueller Tugend, gemeinnützigen Engagements und weltbürgerlicher Orientierung ===
Wie die späte Stoa überhaupt, befasste sich Seneca vornehmlich mit Fragen der rechten Lebensführung, insbesondere mit der Ethik. Als höchstes Gut galt auch ihm die Tugend, unabdingbare Grundlage und Begleiterscheinung der heiteren Gelassenheit und der Seelenruhe, der stoischen Inbegriffe menschlichen Glücks.
Das Glück habe nichts mit Reichtum oder dem Urteil der Menschen zu tun, sondern sei geistiger Natur. Der Glückliche verachte, was allgemein bewundert wird, „kennt keinen, mit dem er tauschen möchte“ und „beurteilt einen Menschen nur nach seinem menschlichen Wert“. Die Menschen sollen ein Leben nach den Gesetzen der Natur führen und dabei unterscheiden zwischen dem, was unabwendbar ist, und den Dingen, auf die der Mensch Einfluss nehmen kann. Außerdem forderte Seneca dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen, selbstlos soziale Aufgaben zu übernehmen und Freundschaften zu pflegen:
Andererseits betonte er aber auch die Doppelgleisigkeit der menschlichen Anlagen: „Man muß dennoch beides miteinander verbinden und abwechseln – Einsamkeit und Geselligkeit. Jene verursacht in uns Sehnsucht nach Menschen, diese nach uns selber, und es dürfte die eine der anderen Heilmittel sein: den Haß auf die Masse heilt die Einsamkeit, den Verdruß gegenüber der Einsamkeit die Masse.“Den gesellschaftlichen Statusunterschieden setzte Seneca eine ursprüngliche menschenrechtliche Gleichheitsvorstellung an die Seite:
Sich auf Platon berufend, betonte er den Zufall der gesellschaftlichen Position und die Bedeutung der eigenen geistigen Bemühungen.
Ein glückliches Leben, meinte Seneca, könne nur derjenige führen, der nicht nur an sich selbst denke und alles seinem Vorteil unterordne. Glück spende die Fähigkeit zur Freundschaft mit sich selbst und anderen. Allerdings tadelte Seneca Freunde wegen Fehlverhaltens und Uneinsichtigkeit auch. So äußerte er in einem Brief an Lucilius über den gemeinsamen Freund Marcellinus: „Er besucht uns nur selten und zwar deshalb, weil er die Wahrheit nicht hören möchte. Diese Gefahr besteht für ihn allerdings nicht mehr. Denn davon reden sollte man nur mit jenen, die auch zuzuhören bereit sind.“ Im selben Brief fährt er fort: „Ich gebe unseren gemeinsamen Freund Marcellinus noch nicht völlig verloren. Er kann noch immer gerettet werden, allerdings nur, wenn man ihm schnell die Hand reicht. Dabei könnte es jedoch passieren, dass er denjenigen, der ihm die Hand reicht, mit sich fortreißt. Er besitzt große Geistesgaben, leider mit einem Hang zum Schlechten verbunden….“Seneca hebt die Bedeutung der Freigiebigkeit hervor: „Geben wir so, wie wir selbst empfangen möchten: vor allem gern, rasch und ohne jedes Zögern.“ Zwar könne man als Wohltäter bei seinen Mitmenschen an die Falschen geraten, doch treffe es ein andermal die Richtigen:
Dabei redete er aber nicht einer Mitleidsethik das Wort, wie sie etwa gleichzeitig die frühen Christen verbreiteten. Mitleid lehnte er als „benachbart dem Leiden“ explizit ab, da es das Ziel seines Philosophierens, die abgeklärte Seelenruhe, nur störe:
Der stoische Weise kann nach Seneca durch das Verhalten anderer in seiner souveränen Seelenruhe nicht behindert werden, wird in dieser Hinsicht also gewissermaßen unverletzlich:
Im 90. Brief an Lucilius unterscheidet Seneca zwischen einer Art Naturzustand und dem vorgefundenen entwicklungsgeschichtlichen Zustand der Gesellschaft: „Die Verbundenheit unter den Menschen blieb eine Zeit lang unverletzt, bis die Habgier den Bund zerriss und auch denen, die sie bereicherte, zur Ursache ihrer Armut wurde. Denn Menschen besitzen nicht mehr das Ganze, solange sie Teile davon als ihr Eigentum betrachten. Die ersten Menschen und ihre Nachkommen folgten dagegen unverdorben der Natur.“ Die Führungsfunktionen fielen demnach ebenso natürlich den aufgrund ihrer geistigen Bedeutung dafür Geeignetsten zu. Denn unangreifbare Autorität besitze nur der, „welcher seine Macht ganz in den Dienst der Pflicht stellt“.In geschichtlicher Zeit lenkt Seneca den Blick auf das Individuum, indem er bezüglich der vier Kardinaltugenden unterstreicht: „Bei den Menschen der Vorzeit gab es noch nicht Gerechtigkeit, Einsicht, Mäßigung oder Tapferkeit. Ihr noch bildungsloses Leben zeigte gewisse Ähnlichkeiten zu all diesen Tugenden; doch die Tugend selbst wird nur einem unterwiesenen und gelehrten Verstand zuteil, der durch beständige Übung zur höchsten Einsicht gelangt ist.“ Jenes Goldene Zeitalter der Menschheit unter der unangefochtenen Herrschaft der Weisen, das Seneca im 90. Brief teilweise den Vorstellungen des Poseidonios nachgezeichnet hat, mündete dieser Vorstellung nach schließlich in den historischen Prozess der Antike, der Seneca bis zu den Anfängen des Prinzipats geläufig war: „Aber als sich die Laster langsam einschlichen und sich so die Monarchie zur Tyrannis wandelte, wurden erstmals Gesetze notwendig, welche anfänglich noch von den Weisen gegeben wurden.“ In diesem Zusammenhang erwähnt er Athens Gesetzgeber Solon und für Sparta Lykurg.Das Verhältnis des Philosophen zu den politisch Herrschenden betrachtete Seneca als jemand, der dieses Feld sowohl in gestaltender als auch in leidender Rolle kennen gelernt hatte:
Die Wohltat des Friedens durch die politische Führung des Herrschers erstreckt sich Seneca zufolge zwar auf alle Menschen, „wird aber tiefer von denen empfunden, die einen lobwürdigen Gebrauch davon machen.“
Die Bürger sollen am politischen Leben teilnehmen, auch wenn sie nur geringen Einfluss auf die Ergebnisse nehmen können. „Der Einsatz eines engagierten Bürgers ist niemals nutzlos: Er ist allein schon nützlich, wenn man ihm zuhört oder ihn auch nur sieht, durch seinen Gesichtsausdruck, seine Gestik, seine stumme Anteilnahme, ja allein durch seinen Auftritt.“ Dabei bezog er sich nicht nur auf das eigene Staatswesen, sondern bezeichnete sich im Sinne der Stoa als Weltbürger mit der Aufgabe, die Tugend weltweit zu verbreiten.
=== Haltung zu Frauen und Sklaven in der römischen Gesellschaft ===
Manches in Senecas philosophischen Schriften passt nach Villy Sørensen zum Horizont der städtischen westlichen Gegenwartszivilisation. Andererseits lassen seine Äußerungen öfters die spezifischen Prägungen der antiken Kultur erkennen, der er angehörte: „Missgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und missgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern.“Die Haltung Senecas gegenüber dem anderen Geschlecht war ambivalent. Der geistigen Hauptströmung seiner Zeit entsprechend bezeichnete Seneca Frauen als minderwertig. Dabei ging er so weit, sie – wenn sie ohne Bildung waren – mit Tieren auf eine Stufe zu stellen. „Manche sind von solchem Irrsinn befallen, dass sie glauben, sie könnten durch eine Frau Herabsetzung erfahren. Was spielt es schon für eine Rolle, wie schön sie ist, wie viele Sänftenträger sie hat, welcher Art ihr Ohrschmuck oder wie bequem ihr Tragsessel ist? Sie ist ein immer gleich unvernünftiges Geschöpf, und wenn sie nicht über Kenntnisse und Bildung verfügt, nichts als ein wildes Tier, seiner Begierden nicht mächtig.“ Von diesem Ansatz her wird auch der Zorn als eine „weibische und kindische Schwäche“ klassifiziert, die aber auch Männer befalle: „Denn auch Männern wohnt kindische und weibische Veranlagung inne.“Während an dieser Stelle die abwertende Tendenz gegenüber Frauen klar überwiegt, geht Seneca in seinen Trostschriften an ihm vertraute Frauen von gemeinsamen Anlagen beider Geschlechter aus. In diesen Trostschriften, die er für Marcia und für seine Mutter verfasst hat, zeigt er sich deutlich weniger misogyn. So schrieb er an Marcia:
Und in der Trostschrift für seine Mutter Helvia nahm er explizit gegen das von seinem Vater vertretene und innerfamiliär durchgesetzte herkömmliche Frauenbild Stellung:
Damit erkennt Seneca zwar die Macht seines Vaters als pater familias an, über seine Mutter Entscheidungen zu treffen, bemängelt aber, dass er ihr den Zugang zu Bildung erschwerte und ihr wissenschaftliche Arbeit untersagte. Indirekt unterstützt er damit die Forderung nach Frauenbildung und erweist sich wiederum als Philosoph, der überkommene Denkschablonen verlässt.
Wie die nachrangige Stellung der Frauen gehörten auch Sklaverei und Sklavenhaltung zu den charakteristischen Merkmalen der antiken Gesellschaftsordnung. Rechtlich waren Sklaven dem Sachbesitz gleichgestellt, über den der Besitzer nach Gutdünken verfügen konnte. Senecas Einstellung zu diesen auch zu seiner Zeit noch nahezu Rechtlosen war von humaner Zuwendung bestimmt.
Mit dieser Auffassung gehörte Seneca zu den wenigen Denkern der Antike, die sich kritisch mit der Sklaverei auseinandergesetzt haben. Diese Einstellung wurde von der römischen Elite wohl nicht geteilt.
=== Vordenker von Weisheit ===
Die ausdrückliche Bejahung der Schicksalsvorgaben und der individuelle Freiheitsanspruch gehen in Senecas Denken auf eigentümliche Weise zusammen. Als ein Übel sieht er jede Art von Abhängigkeit an, die die innere Freiheit bedroht: „Die Freiheit geht zugrunde, wenn wir nicht alles verachten, was uns unter ein Joch beugen will.“ Das Lebensglück ergibt sich hingegen aus einer scheinbar einfachen Formel:
Dass die Formel in der Lebenspraxis selten ganz aufgeht und dass der Mensch eine diesbezüglich problematische Konstitution hat, wird an anderen Stellen verdeutlicht:
Seneca ringt mit der eigenen Unvollkommenheit: „Bleiben wir also bei der Stange und lassen uns durch nichts von unserem Vorhaben abbringen! Was uns noch zu tun bleibt, ist mehr, als was wir bereits hinter uns haben; doch ein Großteil des Fortschritts beruht darauf, den Willen zum Fortschritt zu haben. Dessen aber bin ich mir gewiss: dass ich will, und zwar mit ganzer Seele.“Solches Bemühen umfasst auch die Unabhängigkeit des Denkens von der Meinung des Volkes. Er zitiert an dieser Stelle Epikur: „Niemals habe ich dem Volk gefallen wollen. Denn was ich weiß, gilt dem Volk nichts, und was dem Volk etwas gilt, das interessiert mich nicht.“ Darin, betont Seneca, seien sich alle bedeutenden philosophischen Schulen einig, ob Epikureer, Peripatetiker, Anhänger der Akademie, Stoiker oder Kyniker; und er vollzieht eine scharfe Abgrenzung gegenüber jedwedem Populismus:
Worauf es Seneca im Verlauf des Lebens schließlich ankommt, ist die Annäherung an das Ziel, die Unschuld des Neugeborenen mit den Mitteln der Vernunft und Einsicht zurückzugewinnen:
=== Gottesbegriff und Todesanschauung ===
Senecas Gottesbegriff ist komplex. Je nach Kontext spricht er von „Göttern“, dem „Göttlichen“ oder dem „Gott“. Hinsichtlich der Entwicklung des Individuums schreibt er:
Der Weise schließlich steht für Seneca mit dem Göttlichen in engster Beziehung:
Zum Tod, der letztlich doch einen markanten Unterschied setzt zwischen dem Weisen im Sinne Senecas und dem Göttlichen, hat Seneca nach Maßgabe der ihm geläufigen philosophischen Überlieferung Spekulationen angestellt bzw. Raum dafür gelassen: „Der Tod, was ist er? Das Ende oder ein Übergang. Ich fürchte beides nicht.“ Und im 70. Brief an Lucilius betont er wiederum das individuelle Selbstverfügungsrecht in Bezug auf das eigene Leben bis hin zu dessen Beendigung:
== Der Dramatiker ==
Die Seneca zugeschriebenen Dramen sind die einzigen erhaltenen Tragödien der lateinischen Antike. Dabei handelt es sich im Unterschied zu den klassischen griechischen Tragödien nicht um Handlungsdramen, sondern um psychologische Dramen. Das Bindeglied zu den philosophischen Schriften stellt nach Maurach Senecas übergeordnetes Ziel der „Seelenleitung“ dar, das ihn in den Tragödien zum „Verfolger“ von Lastern, des Wahns und der Selbstüberhebung mit theatralischen Mitteln werden lässt: „Als ein solcher gestaltet er das Grauenvolle, Allvernichtende, will erschüttern und erschrecken vor dem, was der Mensch dem Menschen anzutun fähig ist“. Änne Bäumer schreibt dazu: „Dem Dichterphilosophen eröffnet sich durch das Theater eine Möglichkeit zur Breitenwirkung; der Zuschauer wird durch gut formulierte Sentenzen und durch geschickte Bühnenpsychologie beeinflusst, seine eigenen Affekte zu bekämpfen.“ Der Schwerpunkt lag auf der Bekämpfung des Zorns als seelischer Disposition, die durch Aggressivität in der Natur des Menschen liegt. Als weiteres Hauptthema der Tragödien Senecas wird die Verurteilung des destruktiven Tyrannen angeführt. Relativ sicher zugeschrieben werden ihm die Tragödien Medea, Agamemnon, Phoenissae, Oedipus, Troades, Hercules furens, Phaedra und Thyestes. Bei einzelnen Personen dieser Tragödien – am eindrucksvollsten an Clytaemnestra, der Hauptperson im Agamemnon – lässt sich deutlich beobachten, wie genau Seneca in Entsprechung zu den psychologischen Anschauungen der Stoa die Genese des furor, des durch keine Rationalität mehr beeinflussbaren Entschlusses zum Verbrechen, darstellt.Die meisten Forscher glauben heute, dass Seneca nicht als Autor der Octavia in Frage kommt, die ihm traditionell zugeschrieben wird. Es handelt sich dabei um die einzige vollständig erhaltene Praetexta, eine Variation der griechischen Tragödie in römischem zeitgenössischen Kontext. Die Handlung dreht sich um die Verstoßung von Neros Frau Octavia zugunsten von Poppaea. Es erscheint unmöglich, dass dieser unverkennbar Nero-kritische Text zu Senecas Lebzeiten veröffentlicht werden konnte. Seneca tritt selbst als Rollenfigur auf und wird aus der Perspektive seiner späteren Opposition zu Nero dargestellt. Neben der Octavia wird auch der Hercules Oetaeus als unecht angesehen.Mehrheitlich wird vermutet, dass auch die mythologischen Tragödien auf Ereignisse und besonders auf Intrigen am Kaiserhof, vermutlich zur Nerozeit, anspielen, etwa auf den Muttermord. Ein Zusammenhang zur Philosophie Senecas ist auch darin erkennbar, dass die Einordnung des Todes in die indifferentia (die gleichgültigen Dinge, auf die es nach stoischer Lesart nicht ankommt) ein hervorstechendes Motiv darstellt. Dem gewidmet waren auch zeitgenössische Schriften senatorischer Kreise über heroische Todesdarstellungen. In den Tragödien wird gelehrt, dass die Ablehnung des Freitodes schlimmer zu ertragen sein kann als dieser selbst. So verweigert der Held der Tragödie Hercules Furens nach Raserei und grausamem Verwandtenmord den anschließenden Freitod als eine das Verbrechen nicht hinreichend sühnende Strafe. Da die in der Weltliteratur nahezu beispiellos drastische Darstellung extremer Gewalt teilweise der Beschreibung von Herrschergewalt in Senecas Schrift Über den Zorn ähnelt, ist von einigen Experten eine Datierung in die Verbannungszeit unter Claudius vorgeschlagen worden.Ob die Stücke tatsächlich aufgeführt wurden – der Altphilologe Manfred Fuhrmann hält es für möglich, dass Nero und Seneca vor geladenen Gästen selbst als Darsteller auftraten – oder ob es sich um bloße Lese- und Rezitationsdramen handelte, ist in der Forschung umstritten. Maßgeblichen Einfluss hatten Senecas Schauspiele auf die tragischen Dramen der Renaissance, insbesondere im elisabethanischen England des 16. Jahrhunderts.
In der Gegenwart werden Seneca-Tragödien kaum auf der Bühne inszeniert. Die Thyestes-Tragödie, die durch ihre besondere Grausamkeit hervorsticht – in ihrem Mittelpunkt steht Thyestes’ Verspeisen der eigenen Kinder – hat allerdings in jüngster Zeit als Beispiel ästhetischer Tabudurchbrechung verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. 1994 produzierte das Londoner Royal Court Theatre unter der Regie von James Macdonald eine Bühnenfassung in der Übersetzung von Caryl Churchill. Das Stuttgarter Schauspielhaus inszenierte 2002 die Tragödie. In demselben Jahr legte Durs Grünbein eine Nachdichtung vor.
== Der Schriftsteller als Stilbildner ==
Nicht nur als Erneuerer einer auf die Lebenspraxis gerichteten stoischen Ethik, sondern auch als Sprachstilist hat Seneca Epoche gemacht. Das auffälligste Merkmal des von ihm geprägten neuen Stils, der so genannten Silbernen Latinität, war nach Fuhrmann die auf den Effekt gerichtete Pointe:
Kaiser Caligula hat Senecas Redeweise als „Sand ohne Kalk“ kritisiert, weil es ihr an dem für Cicero charakteristischen Periodenbau gefehlt habe. Quintilian nennt seinen Stil „überwiegend schlecht und besonders dadurch höchst bedenklich, dass er von Schwülstigkeit aufgeblasen ist“, attestiert aber deutlich Senecas Bekanntheit und würdigt dessen Gelehrsamkeit. Tacitus wiederum hat Seneca bescheinigt, den Geschmack der Jugend getroffen zu haben.Die Sentenz ist nach Maurach die „stilistische Urzelle“ Senecas und eben nicht wie bei Cicero die Satzperiode. Dies deutet auf ein verändertes Wert- und Lebensgefühl: „Konzentration auf sich selbst, Vereinzelung, Verlust an weitgespannter Einordnung.“ Seneca wende sich sowohl an den Intellekt mit den Mitteln der Darlegung, Klärung und Bewusstmachung als auch an die Emotion, wobei er hier u. a. das Antreiben, Beschämen, Bestätigen oder Korrigieren bis hin zum Begeistern und Hinaufreißen anwende.Seneca selbst hat sich aber zu Cicero keineswegs in scharfem Gegensatz gesehen, sondern ihm ausdrücklich Wertschätzung bekundet: „Lies den Cicero“, empfahl er Lucilius, „sein Stil ist einheitlich und elegant im Satzrhythmus.“ Inhaltsleere Effekthascherei und Manipulation der Massen lehnte er ab:
An anderer Stelle kritisiert er die überladene Ausdrucksweise derer, die sich modischer Ausschweifung hingeben, und hebt die Notwendigkeit klarer und einfacher Rede als Ausdruck eines einfachen würdevollen Lebens hervor. Er zitiert ein griechisches Sprichwort, wonach des Menschen Redeweise seinem Leben gleicht, und bezieht es auf den sittlichen Verfall des Gemeinwesens:
Senecas stilbildende Wirkung hielt nicht lange vor, obwohl es zu einer bahnbrechenden Neuerung in der Folge gar nicht mehr kam. Vielmehr setzte in der Generation nach Seneca eine Rückbesinnung auf die Klassik nach dem Vorbild Ciceros ein und weitere Jahrzehnte darauf sogar die Wiederbelebung der Vorklassik zwischen 240 und 80 v. Chr. Aulus Gellius, dessen Auseinandersetzung mit Senecas Stil im 2. Jahrhundert n. Chr. die letzte für die Antike überlieferte darstellt, bezeichnete ihn als „albernen und läppischen Menschen“ (Noctes Atticae 12, 2). „Dies sind die letzten Worte“, so Fuhrmann, „die das alte Rom über einen seiner Größten an die Nachwelt hat gelangen lassen.“
== Rezeption ==
Im 4. Jahrhundert tauchte ein, wie heute bekannt ist, gefälschter Briefwechsel mit dem Apostel Paulus auf, was Hieronymus dazu brachte, Seneca als einzigen heidnischen Römer in seine Biographiensammlung De viris illustribus aufzunehmen. Auch seine Philosophie wurde in die Nähe des Christentums gerückt, da sie z. B. hinsichtlich Schicksalsgehorsam bzw. Ergebung in den göttlichen Willen als individuelle Prüfung und Bewährung Parallelen aufwies, wie auch bezüglich der Gewissensforschung und der mitmenschlichen Verbundenheit. Nicht erst Hieronymus, sondern bereits die altkirchlichen Schriftsteller Tertullian und Laktanz haben Seneca große Wertschätzung entgegengebracht.
Zu Senecas Nachwirken seit der Antike gibt es bisher nur auf spezielle Aspekte oder einzelne Epochen gerichtete Untersuchungen, Zusammenstellungen der verstreuten Literatur oder diesbezügliche summarische Betrachtungen. Im Mittelalter kam er wegen seiner Nähe zu manchen christlichen Lehrsätzen als Moralphilosoph zur Geltung. Dante nannte ihn in der Göttlichen Komödie Seneca morale, da im Mittelalter die Werke Senecas zwei Autoren zugeschrieben wurden, dem Moralphilosophen Seneca und einem Tragödiendichter gleichen Namens. Auch seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen (Quaestiones naturales) wurden studiert, so etwa von Roger Bacon. Außerdem existiert eine mittelalterliche Büste im Chorgestühl des Ulmer Münsters.
In der Renaissance waren es vor allem niederländische Humanisten, die sich Seneca intensiv zuwendeten. Erasmus von Rotterdam brachte die erste textkritische Ausgabe von Senecas philosophischen Schriften heraus; Justus Lipsius wurde mit der an Seneca ausgerichteten Schrift De constantia zum Mittelpunkt eines Neustoizismus. Sein Freund Peter Paul Rubens würdigte Seneca u. a. mit dem Bild Der sterbende Seneca. Auch den Schweizer Reformatoren Zwingli und Calvin war Seneca eine Autorität. Montaignes Essais sind von Senecas Briefen an Lucilius wesentlich inspiriert. Auch die Begründer des modernen Völker- und Naturrechts, Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf, bezogen sich auf Senecas Schriften.Besondere Wertschätzung wurde Seneca von jeher in Frankreich entgegengebracht. Aus seinen Tragödien übernahm Corneille das rhetorische Gepräge der Sprache und die Dialektik des Dialogs, Racine fügte aus ihnen gar ganze Szenen in einige seiner Stücke ein. Auch Diderot wurde in seinen späten Jahren zum Lobredner Senecas und meinte, dass er sich selbst viel Kummer hätte ersparen können, wenn er Senecas Grundsätze früher angenommen hätte.Die Vertreter der neuhumanistischen deutschen Klassik mit ihrer Hochschätzung der Griechen auf Kosten der Römer bewerteten zumeist auch Senecas Philosophie als eine bloß abgeleitete. Hegel schließlich fand bei Seneca „mehr Brast und Bombast moralischer Reflexion als wahrhafte Gediegenheit“, während andererseits Schopenhauer Seneca sehr nahestand. Friedrich Nietzsche verachtete Seneca, dem er unterstellte, der philosophische Inhalt sei bei ihm sekundär gegenüber der pointierten Formulierung, weshalb er seine Schriften in der Fröhlichen Wissenschaft als „unausstehlich weises Larifari“ abtat.Nach seiner kritischen Auseinandersetzung mit der neueren Seneca-Rezeption gelangt Sørensen zu dem Schluss, dass Seneca „sich als einer der ersten zum Fürsprecher eines zweckbestimmten humanen Rechts machte, das nicht nur die Untat, sondern die gesamte Situation betrachtet. Das setzt gerade die Erkenntnis voraus, dass der Mensch nicht von Natur aus verderbt ist, und es setzt ebenfalls voraus, dass man selbst souverän ist: kurz, der Affekt kann die Handlungen anderer entschuldigen, man kann sie jedoch nicht entschuldigen, wenn man sich selbst im Affekt befindet. Man kann die Handlungen anderer nur von deren Voraussetzungen her verstehen, versteht man jedoch seine eigenen Handlungen nur von den Verhältnissen her, dann hat man sich aufgegeben.“Sørensen verweist auf eine Vielzahl von Aspekten in Senecas philosophischen Schriften, die dem Erfahrungs- und Vorstellungshorizont insbesondere eines Stadtbewohners der westlichen Gegenwartszivilisation nahestehen.
Im März 2023 kam der deutsche Spielfilm Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben des Regisseurs Robert Schwentke mit John Malkovich in der Titelrolle in die Kinos.
== Schriften (Auswahl) ==
Apocolocyntosis (andere Titel: Divi Claudii apotheosis oder Iudus de morte Claudii) – die „Verkürbissung“ (Veräppelung) von Kaiser Claudius, Seneca zugeschrieben
Naturales quaestiones („Naturwissenschaftliche Untersuchungen“)
Dialoge (Zählung traditionell nach der Überlieferung im Codex Ambrosianus C 90, nicht chronologisch)
1: De Providentia („Die Vorsehung“)
2: De Constantia Sapientis („Die Unerschütterlichkeit des Weisen“)
3–5: De Ira (drei Bücher) („Der Zorn“)
6: De Consolatione ad Marciam (auch: Ad Marciam de consolatione) („Trostschrift für Marcia“)
7: De Vita Beata („Vom glücklichen Leben“ / „Das glückliche Leben“)
8: De otio („Die Zurückgezogenheit“)
9: De Tranquillitate Animi („Über die Ausgeglichenheit der Seele“ / „Die Ruhe der Seele“)
10: De Brevitate Vitae („Von der Kürze des Lebens“ / „Die Kürze des Lebens“) – Essay, der ausführt, dass man im Heute und nicht im Morgen leben soll, und dass das Ziel des Lebens mehr Muße, nicht mehr Arbeit ist
11: De Consolatione ad Polybium („Trostschrift für Polybius“)
12: De Consolatione ad Helviam matrem („Trostschrift für Mutter Helvia“)
De Clementia („Über die Güte“, an Nero)
De Beneficiis („Über Wohltaten“)
Epistulae morales ad Lucilium – Sammlung von 124 Briefen an Lucilius über die (spätstoische) Ethik
Acht Tragödien
Hercules Furens (Der rasende Herkules)
Troades (Die Troerinnen)
Medea
Phoenissae (Die Phönizischen Frauen)
Phaedra
Agamemnon
Thyestes
Oedipus
Zwei (fälschlich) ihm zugeschriebene Tragödien
Hercules Oetaeus (Hercules auf dem Oeta, wahrscheinlich unecht)
Octavia (sicher unecht)
(Fälschlich) ihm zugeschriebene Epigramme
== Textausgaben und Übersetzungen ==
L. Annaei Senecae Philosophi Opera Omnia. Ad optimorum librorum fidem accurate edita. Ed. stereotyp. C. Tauchnitiana. 4 Bände. Lipsiae Holtze 1911.
Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Dialoge I-VI. Lateinischer Text von A. Bourgery und R. Waltz. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Erster Band. Sonderausgabe nach der 5. Aufl. von 1995. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, ISBN 3-534-14165-2.
Philosophische Schriften. Hrsg. von Manfred Rosenbach. Zweiter Band. 4. Aufl. Darmstadt 1993
Philosophische Schriften. Erster Band. Dialoge. Dialoge I–VI. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7.
Philosophische Schriften. Zweiter Band. Dialoge. Dialoge VII–XII. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7.
Philosophische Schriften. Dritter Band. Dialoge. Briefe an Lucilius. Erster Teil: Brief 1–81. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1129-7.
Seneca-Brevier. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister. Reclam, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-040032-5.
Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 1: Hercules furens, Trojanerinnen, Medea, Phaedra, Octavia. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u. a., 1978 (2.A.)
Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch. Band 2: Ödipus, Thyestes, Agamemnon, Herkules auf dem Öta, Phönissen. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Zürich u. a., 1969
Schriften zur Ethik: die kleinen Dialoge; Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Gerhard Fink. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2008 (Sammlung Tusculum), ISBN 978-3-538-03509-6.
Handbuch des glücklichen Lebens. Übers. und hrsg. von Heinz Berthold, Anaconda, Köln 2005, ISBN 3-938484-44-6.
De vita beata. Vom glücklichen Leben. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Fritz-Heiner Mutschler, Reclam, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-001849-8.
De tranquillitate animi. Über die Ausgeglichenheit der Seele. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Heinz Gunermann, Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-001846-3.
Moralische Briefe. Ins Deutsche übersetzt und ausgewählt von Hermann Martin Endres, Goldmann, München 1960 (Goldmanns gelbe Taschenbücher 614).
Das glückliche Leben – De vita beata, Lateinisch Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Gerhard Fink, Albatros Verlagsgruppe Mannheim 2010, ISBN 978-3-538-07606-8.
Seneca Vom glücklichen Leben. Aus dem Lateinischen von Otto Apelt, Anaconda Verlag GmbH, Köln, 2016, ISBN 978-3-7306-0415-1.
Seneca, Glück und Schicksal. Hrsg. von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart, 2017, ISBN 978-3-15-011105-5. (Jubiläumsausgabe)
L. Annaeus Seneca: Naturales quaestiones – Naturwissenschaftliche Untersuchungen, Lateinisch / Deutsch, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009644-8.
== Literatur ==
Übersichtsdarstellungen:
Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Band 2. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-026525-5, S. 979–1021.
Mireille Armisen-Marchetti, Jörn Lang: Seneca (Lucius Annaeus). In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 6, CNRS Éditions, Paris 2016, ISBN 978-2-271-08989-2, S. 177–202.
Gregor Maurach: Lucius Annaeus Seneca. In: Maurach: Geschichte der römischen Philosophie. 3. Auflage, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19129-3, S. 105–129.Einführungen und Gesamtdarstellungen:
Michael von Albrecht: Seneca. Eine Einführung. Reclam, Ditzingen 2018. Ergänzte Ausgabe der Originalausgabe: Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst (= Mnemosyne Supplementum, 252). Brill, Leiden u. a. 2004.
Gregor Damschen, Andreas Heil (Hrsg.): Brill’s Companion to Seneca. Philosopher and Dramatist. Brill, Leiden u. a. 2014, ISBN 978-90-04-15461-2.
Manfred Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Fest, Berlin 1997, ISBN 3-8286-0012-3.
Marion Giebel: Seneca. Rowohlt, Reinbek 1997, ISBN 3-499-50575-4.
Gregor Maurach: Seneca. Leben und Werk. 4. Auflage, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-15000-7 (sehr detailliert, bespricht Werk und Leben getrennt).
James Romm: Dying Every Day. Seneca at the Court of Nero. Knopf, New York 2014, ISBN 978-0-307-59687-1.
Marc Rozelaar: Seneca. Eine Gesamtdarstellung. Hakkert, Amsterdam 1976, ISBN 90-256-0780-2.
Villy Sørensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof. Beck, München 1984 (dänische Originalausgabe: Kopenhagen 1977).
Shadi Bartsch, Alessandro Schiesaro (Hrsg.): The Cambridge Companion to Seneca. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2015, ISBN 978-1-107-69421-7.Tragödien:
Eckard Lefèvre: Senecas Tragödien. Darmstadt 1972.Philosophie:
Gregor Maurach (Hrsg.): Seneca als Philosoph. 2. Auflage, Darmstadt 1987 (Sammlung von Aufsätzen).
Paul Veyne: Weisheit und Altruismus. Eine Einführung in die Philosophie Senecas, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11473-X.
Stefan Röttig: Affekt und Wille. Senecas Ethik und ihre handlungspsychologische Fundierung. Heidelberg 2022, ISBN 978-3825349325.Rezeption:
Eckard Lefèvre (Hrsg.): Der Einfluss Senecas auf das europäische Drama. Darmstadt 1978.
Dieter Marcos: Seneca. In: RDK Labor (2019).
Pascale Paré-Rey: Histoire culturelle des éditions latines des tragédies de Sénèque (1478-1878). Classiques Garnier, Paris 2023.
Christine Schmitz: Seneca. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02468-8, Sp. 893–910.
Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike. Darstellung und Sammlung der Zeugnisse. 2 Bände. Hakkert, Amsterdam 1971, ISBN 90-256-0535-4.
== Weblinks ==
Literatur von und über Seneca im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Seneca in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Claudius Strube: Artikel „Seneca“ im UTB-Online-Wörterbuch Philosophie
Senecas Werke in der Latin Library (lat.)
Texte in der Bibliotheca Augustana (lat.)
digitale Ausgabe von Senecas Opera omnia von 1503 (Venedig) auf E-rara.ch
private Seite Lucius Annaeus Seneca – Leben und Werk
Seneca-Hörbücher bei LibriVox
Robert Wagoner: Lucius Annaeus Seneca (c. 4 B.C.E.—65 C.E.). In: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Katja Vogt: Seneca. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
private Seite Biographischer Steckbrief (Leben, Werk, Literatur)
Druckschriften von und über Seneca im VD 16.
Druckschriften von und über Seneca im VD 17.
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Seneca |
Wiesbaden | = Wiesbaden =
Wiesbaden ist die Landeshauptstadt des Landes Hessen und mit ihren 15 Thermal- und Mineralquellen eines der ältesten Kurbäder Europas.
Mit 283.083 Einwohnern (31. Dezember 2022) ist Wiesbaden nach Frankfurt am Main die zweitgrößte Stadt Hessens. Die kreisfreie Stadt ist eines der zehn Oberzentren des Landes Hessen und bildet mit der angrenzenden rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz ein länderübergreifendes Doppelzentrum mit rund 500.000 Einwohnern auf etwa 300 Quadratkilometern. Mainz und Wiesbaden sind die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Flächenländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze. Die Großstadt zählt, neben Frankfurt am Main, Mainz und Darmstadt, zu den Kernstädten der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main.
Die Stadt Wiesbaden zählt zu den wohlhabendsten Deutschlands und zu jenen mit einer überdurchschnittlichen Kaufkraft (siehe Abschnitt Wirtschaft und Infrastruktur).
== Name der Stadt ==
In römischer Zeit gab es in der heutigen Innenstadt eine Siedlung, die 121 unter dem Namen Aquae Mattiacorum erstmals Erwähnung findet (lateinisch Die Wasser der Mattiaker, daher die Aufschrift auf dem Wiesbadener Kurhaus „Aquis Mattiacis“, den Wassern der Mattiaker geweiht). Der Name bezieht sich auf den hier ansässigen chattischen Stamm der Mattiaker. Aquae Mattiacorum war Hauptort der Civitas Mattiacorum. Einhard, der Biograf Karls des Großen, erwähnte um 828/830 Wisibada, die früheste Überlieferung des Namens Wiesbaden.
== Geographie ==
=== Geografische Lage ===
Wiesbaden liegt mit seinen südlichen Stadtteilen am rechten Ufer des Rheins gegenüber der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz an einer Stelle, an der der Rhein seine Hauptrichtung von Süden kommend nach Westen ändert. Im Norden der Stadt erstreckt sich das Mittelgebirge Taunus mit seinem in nordöstlicher Richtung verlaufenden Hauptkamm und den vorgelagerten Erhebungen Neroberg und Geisberg.
Die Innenstadt liegt, fünf Kilometer vom Rhein entfernt, in einer weiten Talmulde zwischen den Taunushöhen im Norden, der Bierstadter Höhe und dem Hainerberg im Osten, dem Mosbacher Berg im Süden und dem Schiersteiner Berg im Westen, einem Taunusausläufer aus Richtung Kohlheck. Nur eine schmale Senke an der Ostflanke des Mosbacher Bergs öffnet sich zum Rhein hin, in denen die Gleisanlagen des Hauptbahnhofs und die Mainzer Straße liegen. Durch diese Senke entwässert der Salzbach zusammen mit dem Wellritzbach, dem Kesselbach, dem Schwarzbach, dem Dambach und dem Rambach den Talkessel der Innenstadt und damit auch, wie der Name schon besagt, den Abfluss der vielen Thermal- und Mineralquellen des Quellenviertels. Von der Mainzer Straße im Salzbachtal abgesehen, führen alle Wege aus der Innenstadt nach Osten, Süden und Westen zunächst deutlich bergauf. Nach Norden führen alle Wege ohnehin in kilometerlangen Steigungen über den Taunushauptkamm. Der höchste Punkt des Stadtgebietes liegt 608 m ü. NN hoch am Südosthang der Hohen Wurzel auf dem Rheinhöhenweg, der höchste Gipfel im Stadtgebiet ist die 539 m ü. NN hohe Rassel. Tiefster Punkt ist die Hafeneinfahrt von Schierstein mit 83 m ü. NN. Die Innenstadt (Schlossplatz) liegt auf 115 m ü. NN.
Das Stadtgebiet hat eine Größe von 204 Quadratkilometern, misst von Nord nach Süd 17,6 Kilometer und von West nach Ost 19,7 Kilometer. Von der 79 Kilometer langen Stadtgrenze bildet der Rhein 10,3 Kilometer. Im Norden wird es von ausgedehnten Waldgebieten (27,7 % des Stadtgebietes), im Westen und am Main von Weinbergen und im Osten von landwirtschaftlich genutzten Flächen (29,8 %) umgeben. Die übrige Stadtfläche entfällt auf Siedlungsflächen (21,2 %), Verkehrsflächen (11,1 %) und Erholungsflächen (6,1 %).
=== Geologie ===
Eine geologische Besonderheit Wiesbadens ist der Aufschluss von Thermal- und Mineralwasser, das aus großen Tiefen im Quellenviertel an mehreren Stellen zu Tage tritt. Auch sonst ist in der Innenstadt mit einem hohen Grundwasserstand zu rechnen, der Baumaßnahmen wiederholt erschwert hat. Namentlich der Bau von Tiefgaragen wie unter dem Dern’schen Gelände und unter dem Bowling Green musste gegen Grundwasser gesichert werden.
Eine Geothermie-Probebohrung auf dem neben dem Hessischen Ministerium der Finanzen gelegenen Parkplatz in der Friedrich-Ebert-Allee hatte im November 2009 in 130 Metern Tiefe ein unter hohem Druck stehendes Grundwasser-Stockwerk (Arteser) angebohrt. Es traten dabei bis zu 8000 Liter Wasser pro Minute zu Tage und setzten die Umgebung unter Wasser. Versuche, das Bohrloch mit Beton zu verschließen, scheiterten zunächst.
Das eigentliche Bohrloch konnte schließlich verschlossen werden, allerdings fand das Wasser mehrfach andere Wege an die Oberfläche, bevor der Verschluss in größerer Tiefe schließlich gelang.
Weitere Schäden sind bisher ausgeblieben.Außerdem gibt es im Ortsteil Naurod die Schwarze Steinkaut, einen Krater eines erloschenen Vulkans, der später als Steinbruch genutzt wurde.
=== Klima ===
Seine Lage in der Gebirgsmulde am Südfuß des Taunus, im Norden und Westen durch den Höhenzug geschützt, verleiht Wiesbaden ein mildes Klima: Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 9,8 Grad Celsius, die jährliche Niederschlagsmenge 638 Liter pro Quadratmeter, und die durchschnittliche Sonnenscheindauer im Jahr liegt bei 1565 Stunden. Wiesbaden zählt damit zu den wärmsten deutschen Städten. Durch die Lage in einer Talmulde ist der Luftaustausch in der Innenstadt jedoch eingeschränkt.
=== Natur ===
Am nördlichen Stadtrand von Wiesbaden beginnt der Naturpark Rhein-Taunus. Dazu gehören die etwa 5800 ha umfassenden stadtnahen Wälder und Waldrandgebiete. Der Naturpark beherbergt die größten autochthonen Vorkommen der europäischen Wildkatze und der Äskulapnatter in Hessen. Weiterhin bietet der Wald eine der besten Lebensgrundlagen für den Hirschkäfer und ist daher ein Natura-2000-Schutzgebiet.
Darüber hinaus leben schätzungsweise 7000 Tierarten, überwiegend Insekten, im Wald oder den Waldrandgebieten. Der Wald selbst besteht hauptsächlich aus Buchen (ca. 55 %), Eichen (ca. 25 %), Fichten (13 %) und Kiefern (7 %). Er wird von den vier städtischen Revierförstereien nach den Grundsätzen nachhaltiger Forstwirtschaft des Forest Stewardship Council bewirtschaftet.
Weitere Natura-2000-Gebiete befinden sich am Rhein. Der Fluss ist ein Schutzgebiet für Langdistanzwanderfische wie Flussneunauge und Lachs. Die Rheininseln bilden ein Rast- und Überwinterungsgebiet für wassergebundene Vögel wie Schwarz- und Rotmilane, Stock- und Tauchenten, Möwen, Graugänse, Graureiher, Störche und Kormorane. Der Großteil der unbebauten Fläche der Stadt gehört zum Landschaftsschutzgebiet Stadt Wiesbaden. Die Liste der Naturschutzgebiete in Wiesbaden zählt sieben Einträge, dazu kommen die FFH-Gebiete Buchenwälder nördlich von Wiesbaden, Goldsteintal, Rabengrund, Rettbergsaue und Theißtal.
Innerhalb der Stadt befinden sich ausgedehnte Grüngebiete oft in Form von Parks. Diese werden von einer Vielzahl Tierarten wie Tauben, Nilgänsen, Eichhörnchen und Kaninchen bewohnt. Im Bereich des Biebricher Schlossparks haben sich Halsbandsittiche und Alexandersittiche angesiedelt. Insgesamt befinden sich in der Stadt über 40.000 Bäume. Im landwirtschaftlich genutzten Umland bilden insbesondere die Streuobstwiesen geschützte Biotope mit einer hohen Artenvielfalt.Es existieren mehrere Informationszentren zum Themenbereich „Fauna und Flora in Wiesbaden“. So beherbergt die Fasanerie ca. 50 verschiedene heimische Tier- und zahlreiche Pflanzenarten. Im Apothekergarten am Aukamm wachsen über 250 Pflanzen, die bei der Arzneimittelproduktion Verwendung finden. Der „Schlangenpfad“ im Naturschutzgebiet Sommerberg bei Frauenstein informiert über die Äskulapnatter – zwischen Frauenstein und Schierstein befindet sich auch der „Wein- und Naturlehrpfad Wiesbaden“ – und auf dem Neroberg gibt es einen Waldlehrpfad.
Auf der rund 100 Hektar messenden eingezäunten Grünlandfläche mit Feuchtbiotopen des Wasserwerks Schierstein in den Rheinauen, auf denen bis 1945 der Weißstorch beheimatet war, gab es auf Betreiben von Schiersteiner Bürgern seit 1972 Wiederansiedlungsversuche, die 1975 zu einem ersten Bruterfolg führten. Nach stetiger Zunahme der Population wurden in den Jahren 2005 bis 2014 zwischen 22 und 24 Brutpaare gezählt.
Etwa 20 Altvögel finden hier auch in der kalten Jahreszeit eine genügende Lebensgrundlage und überwintern in Schierstein. Besonders spektakulär sind die Storchennester auf den Armen der Hochspannungsmasten im Wasserwerksgelände, weil hier eine Hochspannungsleitung den Fluss überquert.
=== Nachbargemeinden ===
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an die Landeshauptstadt Wiesbaden oder werden nur durch den Rhein oder den Main von ihr getrennt; sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Norden genannt:
=== Stadtgliederung ===
Das Stadtgebiet von Wiesbaden ist in 26 Ortsbezirke aufgeteilt. Jeder Ortsbezirk hat einen Ortsbeirat unter dem Vorsitz eines Ortsvorstehers. Von den 26 Bezirken zählen sechs zur Kernstadt Wiesbaden-Alt, die übrigen 20 wurden für die seit 1926 eingegliederten Gemeinden gebildet. Zu den einzelnen Ortsbezirken gehören teilweise noch Siedlungen und Wohnplätze mit eigenem Namen. Die Grenzen von Ortsbezirken und Gemarkungen sind in Wiesbaden oft, aber nicht immer, identisch.Die rechtsrheinischen, ehemals Mainz zugehörigen Stadtteile Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim (kurz: AKK) bilden eine geographische und politische Besonderheit. Die Vorsilbe „Mainz-“ ist heute noch immer offizieller Bestandteil der drei Wiesbadener Ortsbezirke (d. h. „Mainz-Kastel“ anstatt „Wiesbaden-Kastel“). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden – aufgrund der Grenzziehung zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone – diese ehemaligen Mainzer Stadtteile, rechtsseitig des Rheins gelegen, nach Wiesbaden umgemeindet. Dabei folgte die US-amerikanische Besatzungsmacht einem Vorschlag aus dem Wiesbadener Regierungspräsidium.
== Stadtbild ==
=== Innenstadt ===
Das Bild der Innenstadt von Wiesbaden wird maßgeblich durch vier Faktoren geprägt:
Die Mehrzahl der Gebäude der Innenstadt ist in einer Zeitspanne von nur etwa 60 Jahren entstanden (ungefähr zwischen 1850 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914).Wiesbaden zog in dieser Zeit neben dem kaiserlichen Hofstaat zahlreiche einkommensstarke Gäste an, die ihrem Wunsch nach Repräsentation in der Stadt Rechnung trugen.Die Wiesbadener Innenstadt ist während des Zweiten Weltkrieges weit weniger zerstört worden als die anderer Städte, wenn auch viele markante Gebäude erheblich beschädigt wurden. Der Zerstörungsgrad lag bei rund 30 Prozent, die wichtigsten, das Stadtbild prägenden Gebäude und Straßenzüge blieben erhalten.Weit weniger als in anderen deutschen Großstädten der 1950er und 1960er Jahre wurde in Wiesbaden die Charta von Athen mit ihren neuen Grundsätzen des Städtebaus wie z. B. Trennung von Wohnen und Arbeit umgesetzt. In der Folge blieb der Wiesbadener Innenstadtbereich von neugezogenen Durchgangsstraßen und Flächensanierungen weitgehend verschont. Die dazu bereits entwickelte Planung „Das neue Wiesbaden“ von Ernst May wurde nie umgesetzt.Diese vier Faktoren führten dazu, dass die Wiesbadener Innenstadt heute ein sehr einheitliches Erscheinungsbild bietet, dessen Gebäude fast alle dem Klassizismus, Historismus und Jugendstil zuzurechnen sind (siehe auch Kurarchitektur). Ende des 19. Jahrhunderts wurden großzügige Wohngebiete mit aufwendigen Fassaden und Alleen angelegt (wie zum Beispiel das Rheingauviertel und das Feldherrenviertel, das Dichterviertel und das Gebiet um die Wiesbadener Ringstraße). Durch ihren Ruf als Weltkurstadt entstanden in der Innenstadt zudem viele repräsentative öffentliche Gebäude wie das Kurhaus (1907), das Hessische Staatstheater (1894), die Marktkirche (1853 bis 1862) und die Ringkirche (1894), sowie ausgedehnte Parkanlagen wie der Kurpark, der Warme Damm, die Reisinger-Anlagen und das Bowling Green.
In der Nachkriegszeit wurde diese Architektur nur gering geschätzt und in der Politik wurde diskutiert, große Teile der alten Bebauung durch Neubauten zu ersetzen. In den 1970er Jahren wandelte sich diese Einstellung gegenüber den historistischen Baudenkmälern und die Epoche wurde kunsthistorisch gewürdigt, sodass Wiesbaden deshalb heute als Musterbeispiel des Historismus gilt. Gottfried Kiesow, der damalige Vorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, regte daher 2005 eine Bewerbung Wiesbadens als „Stadt des Historismus“ für den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes an. 2012 schließlich bewarb sich Wiesbaden um den UNESCO-Welterbe-Titel als „Weltkurstadt“. Nach dem Scheitern dieser Bewerbung bemüht sich seit 2018 der gemeinnützige Förderverein Deutsches Forschungszentrum Historismus, Wiesbaden zum bundesweiten Zentrum der wissenschaftlichen Erforschung des Historismus zu machen.
Das Stadtbild lässt sich in mehrere Bereiche gliedern: Die geschlossene Bebauung breitet sich weitgehend auf dem Grund der Talmulde am südlichen Fuß der Taunushänge aus. Sie lässt sich wiederum folgendermaßen einteilen:
Im Bereich des Historischen Fünfecks ist das alte Zentrum der Stadt zu finden. Hier lässt sich noch der unregelmäßige Grundriss der Straßen erkennen. Mittelpunkte sind hier der Schlossplatz (siehe Sehenswürdigkeiten) sowie der Mauritiusplatz. (Mauritius war seit dem Mittelalter Patron der Kirche in der Mitte der Stadt, bis sie 1855 bis auf die Grundmauern abbrannte und der leere Mauritiusplatz übrigblieb.) Das enge Bergkirchenviertel im Nordwesten des Historischen Fünfecks liegt auf einer Anhöhe. Von 1969 bis 1974 wurde die Wiesbadener Fußgängerzone auf den bisherigen Hauptverkehrsachsen der Altstadt geschaffen: Langgasse und Kirchgasse in Nord-Süd-Richtung und Michelsberg-Marktstraße-Schlossplatz mit Ellenbogengasse in West-Ost-Richtung. Das erste Teilstück wurde an der Faulbrunnenstraße angelegt, mit der Fertigstellung wurde am 14. September 1974 zum ersten Mal das „Schloßplatzfest“ gefeiert. Spätere Erweiterungen bezogen die Goldgasse, das hinter dem Landtag gelegene Schiffchen, das aus Wagemannstraße und Grabenstraße gebildet wird, sowie Neugasse, Schulgasse und Mauergasse mit ein.Der Bereich um das Historische Fünfeck wurde von Stadtbaumeister Christian Zais geplant. Dies betrifft neben dem Westend und der südlichen Innenstadt auch den Kurbezirk im Nordosten. Herausragende städtebauliche Elemente sind hier neben dem Ensemble um das Bowling Green die Wilhelmstraße, die Rheinstraße, die Adolfsallee und der Luisenplatz.Die Ringstraße und Bereiche außerhalb dieser sind als geschwungene Straßenzüge vorwiegend als Alleen angelegt und lassen die Handschrift des Stadtbaumeisters Felix Genzmer erkennen. Hier finden sich Beispiele prachtvoller Bürgerhäuser des Historismus (siehe auch Rheingauviertel, Feldherrenviertel, Dichterviertel, sowie Ringstraße). Hervorzuheben sind hier der Sedanplatz, der Blücherplatz mit der Blücherschule, der Gutenbergplatz mit der Gutenbergschule sowie die Ringkirche, die Lutherkirche und die Dreifaltigkeitskirche.Außerhalb dieser geschlossenen Bebauung schließen sich an den Hängen der Talmulde ausgedehnte Villengebiete an, die ebenfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden. Dies betrifft das Nerotal und seine Umgebung, den Philippsberg nördlich der Emser Straße, den Stadtteil Sonnenberg und das sogenannte Villengebiet Ost, östlich von Wilhelmstraße und Friedrich-Ebert-Allee. Dort befindet sich auch ein ehemaliger Luftschutzbunker.
=== Außenbezirke ===
Weiter weg von der Innenstadt wird das Bild der Altbauten mehr und mehr durch Häuser der Nachkriegszeit verdrängt, die im Rahmen der Stadterweiterung entstanden sind.
Im Südosten der Innenstadt (um Gustav-Stresemann-Ring und Berliner Straße) entstanden seit den 1950er Jahren moderne Verwaltungsgebäude, so mit dem Zircon Tower (1973) das zweithöchste Gebäude der Stadt. Bemerkenswert ist, dass sich in der Kernstadt Wiesbaden so gut wie keine Industrie- oder ausgedehnte Gewerbegebiete befinden. Eine Ausnahme bildet lediglich der Bereich um die Mainzer Straße, der mit dem Hochhaus „Mainzer 75“, diversen Autohäusern, ehemaligen Fabriken und Restaurants von Fast-Food-Ketten eines der wenigen Gewerbegebiete in der Nähe der Wiesbadener Innenstadt darstellt.
Die Bebauung dieses Gebietes war in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Aufgabe von Betriebsstätten, deren Abbruch und eine anschließende Neubebauung durch andere Nutzer einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Abgerissen wurden etwa die Gebäude der Entsorgungsbetriebe, die am Dyckerhoff-Steinbruch einen Neubau-Komplex bezogen haben, und die Gebäude der ehemaligen Gartenbauzentrale (hier wurde 2010 ein Justizzentrum aus Amts- und Landgericht eröffnet).
Auch das Schlachthof-Gelände wurde nahezu vollständig dem Erdboden gleichgemacht, nachdem der Schlachthof Ende 1990 geschlossen und die letzten Betriebe des Fleischgroßmarktes 1994 umgesiedelt worden waren. Es befinden sich dort neben dem Kongress-Parkplatz für die Rhein-Main-Hallen nur noch zwei Gebäude, die als Kulturzentrum genutzt werden.Außerhalb der Innenstadt finden sich ehemals selbstständige Städte und Gemeinden, die zum Teil mittlerweile mit der Kernstadt verwachsen sind (Dotzheim, Schierstein, Biebrich, Bierstadt, Sonnenberg und Rambach). Die Stadtteile Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim haben dabei kleinstadtähnlichen Charakter. Die Vororte im Osten (Naurod, Auringen, Breckenheim, Medenbach, Kloppenheim, Heßloch, Igstadt, Nordenstadt, Erbenheim und Delkenheim) besitzen einen dörflichen Charakter. Frauenstein ist neben Dotzheim der einzige Vorort im Westen.
Infolge der Bautätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur die Bebauung der Kernstadt und der Stadtteile erweitert worden, sondern es sind auch einige Baugebiete in räumlicher Trennung von den vorhandenen Ortskernen entstanden. Darunter fallen beispielsweise die Siedlungen der in Wiesbaden stationierten US-Armee (Siedlung Hainerberg im Südosten der Kernstadt sowie Crestview im Westen und Aukamm im Nordwesten von Bierstadt).
Der Städteplaner Ernst May wurde ab den 1960er Jahren mit dem Bau neuer Siedlungen beauftragt, von denen die ab 1964 entstandene Trabantensiedlung Klarenthal sogar ein eigener Ortsbezirk eingerichtet wurde und die damit den Rang eines Stadtteils einnimmt. Weitere solche einzeln gelegene und im amtlichen Stadtplan als Siedlung bezeichnete Wohnviertel sind: Eigenheim im Westen und Heidestock im Osten von Sonnenberg, An den Fichten und Wolfsfeld nördlich von Bierstadt, der Erbsenacker südlich von Naurod, Am Roten Berg bei Auringen, Hochfeld bei Erbenheim, Gräselberg im Südwesten und Parkfeld sowie Selbsthilfe und Rosenfeld im Westen von Biebrich. Zu Dotzheim gehören die Viertel Talheim und Sauerland im Südosten, Freudenberg im Süden, Märchenland und Schelmengraben im Westen und Kohlheck im Norden. Nicht zuletzt ist auch die Bebauung am Flugplatz Erbenheim neben der Domäne Mechtildshausen auf freiem Feld zwischen Erbenheim und Delkenheim entstanden.
Die Haupt-Industriegebiete befinden sich in den südlichen Stadtteilen am Rhein, wie in den ehemaligen Rheinufer- und Hafenorten Schierstein und Biebrich sowie den AKK-Vororten. Neu entstanden sind Gewerbegebiete an der Äppelallee zwischen Schierstein und Biebrich, am Unteren Zwerchweg in der Nähe des Deponiegeländes des Dyckerhoffbruchs sowie am Petersweg in Mainz-Kastel. Auch in den östlichen Stadtteilen Erbenheim, Nordenstadt und Delkenheim haben sich wegen der Nähe zur Bundesautobahn 66 einige Gewerbegebiete entwickelt.
== Geschichte ==
Die Geschichte von Wiesbaden beginnt in der Antike. Schon den Römern waren die heißen Quellen der Stadt bekannt, in deren Nähe sie um 6 bis 15 n. Chr. eine Befestigung errichteten.
Die Quellen wurden erstmals um 77 n. Chr. im Werk Naturalis historia von Plinius dem Älteren beschrieben. Es entstand eine römische Siedlung mit dem Namen Aquae Mattiacorum. Die Siedlung war der Hauptort des römischen Verwaltungsbezirks Civitas Mattiacorum in der Provinz Germania superior.
Im Jahre 828/830 erwähnte Einhard, der Biograf Karls des Großen, erstmals den Namen Wisibada („heilendes Bad“). Zu dieser Zeit war hier ein Hauptort des Königssondergaues.
Um 1170 erwarben Nassauer Grafen Reichsbesitz in und um das heutige Wiesbadener Stadtgebiet. 1296 stiftete König Adolf von Nassau das Kloster Klarenthal. Die Stadt gehörte bis in die frühe Neuzeit zur Linie Nassau-Wiesbaden-Idstein.
Mit der Ernennung von Wolf Denthener zum evangelisch-lutherischen Pfarrer wurde 1543 die Reformation in Wiesbaden eingeführt.
Von 1609 bis 1610 wurde das Alte Rathaus erbaut, das älteste noch heute existierende Gebäude in Wiesbaden. 1744 wurde das Schloss Biebrich Hauptresidenz des Hauses Nassau, 1806 wurde Wiesbaden Regierungssitz und Hauptstadt des Herzogtums Nassau. Als herzogliche Residenz erlebte Wiesbaden in den folgenden Jahrzehnten eine ungeahnte städtebauliche Entwicklung (Historisches Fünfeck, altes Kurhaus, Stadtschloss).
Nach dem Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich wurde Nassau 1866 von Preußen annektiert. Aus dem Herzogtum bildete man 1867 den Regierungsbezirk Wiesbaden und Wiesbaden war Sitz des Mainkreises, später nach dessen Teilung Sitz des Landkreises Wiesbaden, blieb es selbst eine kreisfreie Stadt. Wenngleich Wiesbaden den Status als Residenzstadt verloren hatte, wurde die Stadt als Kurbad, Kongressstadt und Verwaltungssitz weiter ausgebaut und erlebte einen großen Aufschwung. Das „Nizza des Nordens“ wurde regelmäßig von Kaiser Wilhelm II. zur Sommerfrische besucht und bald als „Kaiserstadt“ bezeichnet.
Im Gefolge des kaiserlichen Hofstaats kamen zahlreiche Adlige, Künstler und wohlhabende Unternehmer in die Stadt und ließen sich dort nieder. Viele repräsentative Bauten entstanden, darunter das Kurhaus Wiesbaden mit seiner Spielbank und das Hessische Staatstheater an der Wilhelmstraße.
Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf über 100.000 Einwohner wurden umfangreiche Stadterweiterungen notwendig. Es entstanden zahlreiche neue Stadtgebiete mit repräsentativen Gebäuden im Stil des Klassizismus, Historismus und Jugendstils. Wiesbaden wurde in dieser Zeit durch Millionärsfamilien und Großfirmen, die sich ansiedelten, zur Stadt mit den meisten Millionären Deutschlands.
Mit Ende des Ersten Weltkriegs endete Wiesbadens Zeit als populäre Kurstadt. 1918 wurde sie von der französischen Armee besetzt, und 1921 wurde das Wiesbadener Abkommen über die deutschen Reparationszahlungen an Frankreich geschlossen.
In dieser Zeit wurde Wiesbaden Patenstadt für den Wiederaufbau von Eydtkuhnen (Ostpreußen). 1925 wurde Wiesbaden Hauptquartier der britischen Rheinarmee und blieb es bis zum Abzug der Besatzungsmächte aus dem Rheinland 1930.
Seit 1933 wurden in der Stadt mehrere Dienststellen des NS-Regimes angesiedelt, darunter im Oktober 1936 das Generalkommando des XII. Armeekorps. Die Organisation Lebensborn unterhielt in den Jahren 1939 bis 1945 das Kinderheim Taunus. In der Reichspogromnacht, am Morgen des 10. November 1938, wurde die 1869 von Philipp Hoffmann im maurischen Stil erbaute große Synagoge am Michelsberg zerstört.
Während des „Dritten Reiches“ wurden insgesamt etwa 1200 Wiesbadener Juden deportiert und ermordet. Dabei wurden einige Wohnhäuser in der Innenstadt als sogenannte „Judenhäuser“ genutzt, in denen Juden zwangseinquartiert wurden, bevor sie zum Gelände des damaligen Schlachthofs transportiert wurden. Dieser, in unmittelbarer Nähe zum Wiesbadener Hauptbahnhof gelegen, war die letzte Station vor der Deportation.
Der Wiesbadener Ludwig August Theodor Beck war am 20. Juli 1944 am Attentat auf Hitler beteiligt und bezahlte dies mit seinem Leben. Ihm zu Ehren verleiht die Stadt jährlich den Ludwig-Beck-Preis für Zivilcourage. Martin Niemöller, Widerstandskämpfer, Mitgründer des Pfarrernotbundes und Ehrenbürger von Wiesbaden, hielt in der Marktkirche die letzte Predigt vor seiner Verhaftung.
Im Zweiten Weltkrieg erlebte Wiesbaden zunächst eine Reihe leichterer alliierter Bombenangriffe. Der schwerste Bombenangriff in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1945 wurde von der Royal Air Force geflogen und verfehlte aufgrund der schlechten Wetterlage das geplante Zielgebiet und damit die volle Wirkung. Gleichwohl starben dabei 1000 Menschen und 28.000 wurden obdachlos. 550 Gebäude wurden zerstört und 450 weitere schwer beschädigt.Am 28. März 1945 wurde Wiesbaden von Truppen der 3. US Army kampflos besetzt.
In der Folge wurde in Wiesbaden ein großes DP-Lager eingerichtet, in dem zeitweilig 7500 Displaced Persons untergebracht waren, darunter etwa 4000 Polen sowie Litauer, Esten, Letten, Italiener und Jugoslawen.
Nach dem DP-Camp-Verzeichnis der Arolsen Archives existierte in der Zeit zwischen August 1946 und Oktober 1947 auch ein jüdisches DP-Lager. Nach einer anderen Quelle befand sich dies im DP-Camp Nr. 712 in der Goltz-Kaserne in Mainz-Kastel. „Viele der dort untergebrachten rund 400 jüdischen DPs konnten das Camp im Laufe des Jahres 1945 verlassen, da man ihnen ein Zimmer oder eine Wohnung in Wiesbaden zugewiesen hatte.“ Eine weitere Unterkunft für jüdische DPs befand sich im ehemaligen jüdischen Altersheim in der Geisbergstraße 24, die von 1945 bis Februar 1951 bestand.Neben den zuvor genannten Standorten befand sich laut den Arolsen Archives ein weiteres DP-Lager in der Gersdorff-Kaserne.
Die rechtsrheinischen Mainzer Stadtteile Amöneburg, Kastel und Kostheim wurden durch Anordnung der Militärregierung dem Stadtkreis Wiesbaden zugeordnet, was eine Ursache der heutigen Rivalität zwischen Mainz und Wiesbaden wurde.
General Dwight D. Eisenhower gründete das Land Groß-Hessen und Wiesbaden wurde am 12. Oktober 1945 durch die Organisationsverfügung Nr. 1 der Militärregierung von Groß-Hessen dessen Hauptstadt. Dabei blieb es auch nach der Gründung des Landes Hessen am 1. Dezember 1946, dem Tag der Volksabstimmung über die Verfassung des Landes Hessen, denn in der Verfassung wird keine Hauptstadt bestimmt.
Ab 1948 gehörte die US-Air-Base bei Wiesbaden-Erbenheim zu den acht Versorgungsflughäfen, die über eine Luftbrücke nach West-Berlin in der Zeit der sowjetischen Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 mit Lebensmitteln versorgten.
Im Dezember 1952 verlieh der Hessische Minister des Innern der Stadt Wiesbaden die Bezeichnung „Landeshauptstadt“.1957 wurden die Rhein-Main-Hallen als Messezentrum eröffnet und in den 1960er Jahren entstanden erste Hochhaussiedlungen am Gräselberg, in Klarenthal und am Schelmengraben. Nachdem sich das ZDF 1961 für Mainz als Hauptsitz entschieden hatte, dort aber noch Räumlichkeiten fehlten, wurde Wiesbaden provisorischer Verwaltungssitz des neuen Fernsehsenders.
Durch den Niedergang des Großbürgertums in den Nachkriegsjahrzehnten verlor Wiesbaden sein mondänes Flair und unterscheidet sich heute gesellschaftlich kaum mehr von anderen Städten.
=== Territoriale Zugehörigkeit Wiesbadens ===
12. Jahrhundert bis 1629: Grafschaft Nassau
1629–1688: Grafschaft Nassau-Idstein
1688–1721: Fürstentum Nassau-Idstein
1721–1728: Grafschaft Nassau-Saarbrücken
1728–1806: Fürstentum Nassau-Usingen
1806–1866: Herzogtum Nassau
1866–1944: Provinz Hessen-Nassau (Preußen)
1944–1945: Provinz Kurhessen (Preußen)
seit 1945: Land Hessen
=== Einwohnerentwicklung ===
Der Verlauf der Einwohnerentwicklung von Wiesbaden zeigt, dass sich die Einwohnerzahl im 19. Jahrhundert, eingeleitet durch die Erhebung zur herzoglich-nassauischen Residenzstadt, etwa alle 20 Jahre verdoppelte. Von 1800 bis 1905 wuchs die Bevölkerung von 2239 Einwohnern auf 100.953 Einwohner. Damit erreichte Wiesbaden 1905 erstmals den Status einer Großstadt, den die Stadt zwischen 1917 und 1919 kurzzeitig wieder verlor. Die um diese Zeit zu verzeichnende Stagnation des Wachstums wurde durch eine erste Welle von Eingemeindungen 1926 und 1928 beendet.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wuchs die Stadt auf 170.354 Einwohner. Dies war durch die wirtschaftlich günstige Lage am Rhein und der Nähe zum Ruhrgebiet begünstigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten viele Menschen in die relativ wenig zerstörte Stadt. Auch die Eingliederung der AKK-Stadtteile (siehe oben) erhöhte die Bevölkerungszahl erheblich. Seit Ende 1947 hat Wiesbaden ununterbrochen mehr als 200.000 Einwohner, 1956 wurden schon 244.994 Einwohner gezählt.
In den nächsten 20 Jahren wuchs die Einwohnerzahl nur noch geringfügig auf 250.592. Sie erhielt nur noch einen Schub durch die Eingemeindungen von 1977 und erreichte 1980 die Zahl von 274.464. Entgegen dem in deutschen Großstädten zu beobachtenden Trend zum Schrumpfen der Einwohnerzahl konnte Wiesbaden seine Einwohnerzahl halten mit 274.865 Einwohnern im Jahr 2005. Dazu beigetragen hat der Bau immer neuer Wohnviertel in den Stadtteilen.
=== Eingemeindungen ===
Die ersten Eingemeindungen waren die von Biebrich, Schierstein und Sonnenberg am 1. Oktober 1926. Dadurch wurde Wiesbaden zu einer Stadt am Rhein. Schon am 1. April 1928 wurden neun weitere Gemeinden aus dem Landkreis Wiesbaden eingemeindet, der gleichzeitig aufgelöst wurde. Die restlichen Städte und Gemeinden des Landkreises wurden Bestandteil des neu gegründeten Main-Taunus-Kreises. Als Kriegsfolge verlief die Grenze zwischen der Französischen und der Amerikanischen Besatzungszone in der Region in der Mitte das Rheins; als Folge wurden am 10. August 1945 Mainz-Kastel, Mainz-Amöneburg und Mainz-Kostheim nach Wiesbaden eingemeindet. Eine „treuhänderische Verwaltung“ gab es nicht.
Von diesen drei Orten war Wiesbaden seit dem Wiener Kongress durch eine Landesgrenze getrennt gewesen, die Landesgrenze zwischen Nassau (Preußen) einerseits und Hessen (Großherzogtum Hessen-Darmstadt, später Volksstaat Hessen) andererseits. Es handelt sich um keine der üblichen Eingemeindungen, da die Stadt Wiesbaden in diesen Stadtteilen nicht einfach die Rechtsnachfolge der Stadt Mainz angetreten hat. Auch eine Vermögensauseinandersetzung fand nicht statt. Die Wasserrechte zur Trinkwassergewinnung etwa sind bei Mainz geblieben und auch an den Eigentumsverhältnissen von städtischen Grundstücken hat sich nichts geändert.
Die letzten Eingemeindungen fanden im Zuge der Gebietsreform in Hessen am 1. Januar 1977 statt und betrafen sechs Gemeinden des Main-Taunus-Kreises.
== Religion ==
=== Konfessionsstatistik ===
Gemäß dem Zensus 2011 waren 28,3 % der Einwohner evangelisch, 22,9 % römisch-katholisch und 48,8 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende des Jahres 2022 waren von den 296.127 Einwohnern Wiesbadens 19,1 % (56.483) evangelisch, 17,6 % (52.155) katholisch und 63,3 % (187.489) sonstiger oder keiner Religionszugehörigkeit, darunter ca. 13,4 % (39.810) Muslime. Die Zahl der Katholiken und vor allem die der Protestanten ist demnach im beobachteten Zeitraum gesunken, während der Anteil der Konfessionslosen zunahm.
=== Geschichte der Christen in Wiesbaden ===
Das Gebiet der heutigen Stadt Wiesbaden gehörte ursprünglich zum Bistum Mainz. 1543 wurde durch das damalige nassauische Herrscherhaus die Reformation eingeführt. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis, doch gab es seit dem 18. Jahrhundert auch reformierte Gemeindeglieder.
1817 wurde im Herzogtum Nassau die Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden durchgeführt, wodurch die Evangelische Landeskirche in Nassau entstand. 1934 beziehungsweise 1945/46 schlossen sich die drei Landeskirchen in Nassau, Hessen und Frankfurt zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) zusammen. Innerhalb der EKHN bilden die 44 evangelischen Gemeinden mit rund 78.000 Gemeindegliedern das Dekanat Wiesbaden. Das Dekanat gehört zur Propstei Rhein-Main, Propst Oliver Albrecht hat seinen Dienstsitz in Wiesbaden.
Als Reaktion auf die Union 1817 entstanden in Wiesbaden, wie auch an anderen Orten, evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirchengemeinden, die ihren lutherischen Glauben im Gottesdienst und Lehre leben wollten. Die Evangelisch-Lutherische Christuskirchengemeinde Wiesbaden gehört heute zum Kirchenbezirk Hessen-Süd der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
Seit dem 18. Jahrhundert gab es auch vereinzelt wieder römisch-katholische Gemeindeglieder in Wiesbaden, die anfangs der Kirche in Frauenstein eingepfarrt waren. Seit 1791 konnten sie auch in Wiesbaden wieder öffentlich Gottesdienst feiern und 1801 erhielten sie ihr eigenes Bethaus. Später bauten sie sich wieder eigene Kirchen. Sie gehören zur Diözese Limburg, die 1827 für das damalige Herzogtum Nassau neu gegründet wurde. Innerhalb des Bistums Limburg gehören die Pfarrgemeinden der Stadt Wiesbaden (mit Ausnahme der ehemals zur Stadt Mainz gehörigen Gemeinden, die zum Bistum Mainz gehören) zur gleichnamigen Region Wiesbaden.
=== Geschichte der Juden in Wiesbaden ===
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wiesbaden reicht bis in die Römerzeit zurück. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden Wiesbadener Juden auf dem jüdischen Friedhof in Wehen beigesetzt. Seit 1750 gab es auch in Wiesbaden einen jüdischen Friedhof.
Mit dem Wachstum der Stadt wuchs auch die Zahl der jüdischen Einwohner. Im Jahre 1869 konnte die jüdische Gemeinde eine große neue Synagoge, die im maurischen Stil von Philipp Hoffmann entworfen worden war, auf dem Michelsberg einweihen. Im Jahre 1878 wurde die orthodoxe Altisraelitische Gemeinde begründet. Auch sie errichtete in der Friedrichstraße eine Synagoge; drei weitere Synagogen gab es in den Vororten.
In der Nacht der Novemberpogrome 1938 wurden alle Synagogen geschändet und beschädigt. Die Ruine am Michelsberg wurde 1939 völlig abgetragen. Heute erinnert an sie die Gedenkstätte für die ermordeten Wiesbadener Juden mit namentlichen Gedenktafeln und dem Grundriss der Alten Synagoge auf der Straße. Von über 3000 Juden vor 1933 konnte etwa die Hälfte fliehen und den Holocaust überleben. Von den übrigen wurden fast alle aus der Stadt vertrieben oder in die Vernichtungslager deportiert. An sie erinnern 651 Stolpersteine vor den Häusern, wo die Menschen gewohnt oder gearbeitet haben (siehe Liste der Stolpersteine in Wiesbaden). An die Deportationen erinnert das Mahnmal Schlachthoframpe und die Gedenkstätte Nordenstadt.
Schon im Dezember 1946 wurde eine neue Gemeinde gegründet, die das Grundstück der Altisraelitischen Gemeinde nutzen konnte. Das neue Gotteshaus der jüdischen Gemeinde befindet sich in einem stark gesicherten Hinterhof an der Friedrichstraße. Durch den Zuwachs aus Osteuropa hat die Gemeinde heute über 800 Mitglieder. Insgesamt gibt es sieben jüdische Friedhöfe im Stadtgebiet; genutzt wird heute nur der jüdische Friedhof an der Platter Straße.
=== Geschichte der Religionen ===
Am 31. Dezember 2009 gehörten 78.007 (28 %) Wiesbadener der evangelischen Kirche und 65.495 (24 %) der römisch-katholischen Kirche an, während 29.370 (11 %) Wiesbadener Muslime waren, die übrigen 37 % gehörten sonstigen Religionen oder keiner Religion an. 1987 lebten noch 9795 Muslime (vier Prozent) in Wiesbaden. Damit sind die Muslime die am stärksten wachsende Religionsgemeinschaft.
Der Anteil der Katholiken und Protestanten ging in den letzten Jahrzehnten allmählich zurück, von 84 % im Jahr 1970, über 75 %, 55 % und 52 % in den Jahren 1987, 2005 und 2009, auf 47,5 % im Jahr 2014, eine große Minderheit. Zugleich hat sich, auch innerhalb der christlichen Konfessionen, eine große religiöse Vielfalt entwickelt: 10.700 potentielle Mitglieder haben die russisch-orthodoxen und griechisch-orthodoxen Gemeinden sowie syrisch-orthodoxen Gemeinden. Alleine die Suryoye (auch bekannt als Assyrer, Aramäer oder Chaldäer) sind mit 7.450 Mitgliedern in Wiesbaden und Umgebung vertreten. Davon gehören 7.000 Suryoye der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien an, die restlichen 450 sind Anhänger der Assyrischen Kirche des Ostens. Die Wiesbadener Suryoye sprechen bis heute Neu-Ostaramäisch, die meisten in Wiesbaden lebenden Suryoye benutzen dabei den Surayt-Dialekt (auch bekannt als Turoyo). Eine kleine Wiesbadener Suryoye-Minderheit benützt hingegen den Neu-Ostaramäischen Suret-Dialekt.
Von den muslimischen Gemeinden ist insbesondere die Ahmadiyya Muslim Jamaat KdöR in Wiesbaden aktiv vertreten. Sie gilt sich selbst als islamische Reformgemeinde und verfügt seit 2019 in Wiesbaden über eine Moschee mit Kuppel und Minarett. In Wiesbaden ist sie vor allem durch ihre interreligiösen Dialog-Veranstaltungen und dem Benefizlauf „Charity Walk and Run“ bekannt.
=== Galerie religiöser Bauwerke ===
== Kommunalpolitik ==
=== Stadtverwaltung ===
Der Verwaltungsaufbau der Landeshauptstadt Wiesbaden richtet sich nach der Hessischen Gemeindeordnung und der Hauptsatzung vom 24. März 1969, zuletzt geändert am 12. Juli 2006.
Danach besteht die Stadtverordnetenversammlung als oberstes Organ der kommunalen Selbstverwaltung aus 81 von den Bürgern der Stadt gewählten Stadtverordneten. Der Magistrat als ausführendes Organ besorgt die laufende Verwaltung der Stadt und besteht aus dreizehn ehrenamtlichen und bis zu sechs hauptamtlichen Stadträten sowie dem Oberbürgermeister als dem Vorsitzenden und dem Bürgermeister als seinem Vertreter. Die Hauptsatzung regelt die Einteilung der Stadt in 26 Ortsbezirke und auch die Grenzen der fünf in Wiesbaden-Alt gebildeten Ortsbezirke sowie die Größe der von den Bürgern zu wählenden Ortsbeiräte. Zudem wird ein Ausländerbeirat mit 31 Mitgliedern eingerichtet. Neben der Stadt Frankfurt am Main unterliegt auch Wiesbaden bei der Kommunalaufsicht nach der Hessischen Gemeindeordnung unmittelbar dem Hessischen Innenministerium, die sonst vom Regierungspräsidium wahrgenommen wird.
An der Spitze der Stadt Wiesbaden standen über viele Jahrhunderte der Schultheiß und die Schöffen des Stadtgerichts. Ihnen standen zwei Bürgermeister zur Seite, die das eigentliche Organ der Selbstverwaltung darstellten.
Seit dem 15. Jahrhundert traten die Bürgermeister oftmals als eigentliche Stadtvorstände in Erscheinung, wurden dann aber wieder vom Schultheiß abgelöst. 1775 erhielt das Stadtgericht durch Fürst Karl Wilhelm von Nassau den Ehrentitel Stadtrat. Dieser stellte später jedoch die staatliche Polizeidirektion dar.
Neben dem Gericht gab es seit dem 15. Jahrhundert auch einen Rat. Die Bürgermeister erhielten in preußischer Zeit den Titel Oberbürgermeister. Heute wird der Oberbürgermeister direkt vom Volk gewählt. Die ebenfalls vom Volk zu wählende Stadtverordnetenversammlung umfasst 81 Sitze, die sich wie folgt verteilen:
=== Stadtverordnetenversammlung ===
Die Stadtverordnetenversammlung ist die kommunale Volksvertretung der Stadt Wiesbaden. Über die Vergabe der 81 Sitze entscheiden die Bürger alle fünf Jahre.
Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen:
=== Oberbürgermeister ===
Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden ist Gert-Uwe Mende (SPD). Er setzte sich am 16. Juni 2019 in einer Stichwahl mit 62 Prozent der Stimmen gegen Eberhard Seidensticker (CDU) durch.
Der bisherige Amtsinhaber Sven Gerich (SPD) war nach Korruptionsvorwürfen nicht mehr zur Wiederwahl angetreten.
Die Amtsübergabe fand am 29. Juni 2019 statt. Seine Amtsvorgänger sind in nachfolgender Liste aufgeführt. Derzeitiger Stadtverordnetenvorsteher ist Gerhard Obermayr (CDU).
Bundesweite Beachtung erfuhr die Wiesbadener Wahl des Oberbürgermeisters im Jahr 2007 durch den Umstand, dass die SPD ihren Kandidaten Ernst-Ewald Roth wegen eines Fristversäumnisses nicht aufstellen konnte. Dies wurde in der folgenden Karnevalskampagne in vielen Vorträgen und Motivwagen aufgegriffen.
=== Magistrat ===
Zum Magistrat der Stadt Wiesbaden zählen folgende hauptamtliche Dezernenten und ehrenamtliche Magistratsmitglieder:
=== Finanzen ===
Die Stadt Wiesbaden hatte am 31. Dezember 2012 eine Verschuldung in Höhe von 1,46 Milliarden Euro (entspricht 5374 Euro pro Einwohner). Wiesbaden war damit gemessen am Schuldenstand pro Einwohner die am wenigsten verschuldete kreisfreie Stadt in Hessen.
=== Hoheitssymbole ===
Die Landeshauptstadt Wiesbaden führt ein Dienstsiegel, ein Wappen sowie eine Hiss- und eine Bannerflagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo.
Wappen
Flagge
Die Stadtflagge zeigt entsprechend drei goldene (gelbe) Lilien auf blauem Tuch und wurde 1907 verliehen.
=== Partnerschaften ===
Wiesbaden unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften:
Weiterhin ist Wiesbaden seit 1953 Patenstadt der heimatvertriebenen Karlsbader.
=== Jugendparlament ===
Seit Dezember 2009 gibt es in Wiesbaden ein Jugendparlament, in welchem Wiesbadener Jugendliche die Möglichkeit haben, die Stadtpolitik mitzugestalten. Es vertritt die Interessen der Wiesbadener Jugendlichen gegenüber der Stadtverordnetenversammlung und deren Ausschüssen, dem Magistrat und den Ortsbeiräten und wird auf die Dauer von jeweils zwei Jahren direkt gewählt. Wahlberechtigt sind die Wiesbadener Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren.
Das Wahlamt schickt diesem Personenkreis Briefwahlunterlagen zu. Gewählt werden können 31 Personen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Das Jugendparlament verfügt über kein Stimmrecht in kommunalen Ausschüssen oder in der Stadtverordnetenversammlung. Vorsitzender ist seit 2016 Silas Gottwald.Das Jugendparlament Wiesbaden führt unter anderem das Projekt Hessische Union zur Stärkung von Kinder- und Jugendinteressen durch. Ziel dieser Initiative ist es, die Hessischen Kinder- und Jugendvertretungen in einem Bündnis zu vereinen und somit eine repräsentative Stimme für die Jugendlichen Hessens zu bilden.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
Insgesamt haben etwa 12.000 Unternehmen vom Handwerksbetrieb bis zu größeren Konzernen ihren Sitz in Wiesbaden. Die Industrie- und Handelskammer Wiesbaden ist für die Unternehmen im benachbarten Rheingau-Taunus-Kreis und in der Stadt Hochheim am Main zuständig. 2016 erwirtschaftete Wiesbaden, innerhalb seiner Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt von 17,144 Milliarden Euro und belegte damit Rang 21 in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung.
Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 61.913 Euro pro Kopf (Hessen: 43.496 Euro, Deutschland 38.180 Euro). Das BIP je Erwerbsperson beträgt 93.022 Euro.
Im Vergleich mit der Kaufkraft von Deutschland ausgedrückt erreichte Wiesbaden 2012 einen Index von 114 (Deutschland: 100), was einer Kaufkraft von ca. 23.400 Euro pro Einwohner entspricht und ist damit die zehntwohlhabendste Großstadt Deutschlands sowie die zweitwohlhabendste Großstadt in Hessen nach Frankfurt (24.310 Euro), zum Vergleich den höchsten Wert unter den deutschen Großstädten hat München mit etwa 28.247 Euro pro Einwohner. Die höchste Kaufkraft unter den Stadtteilen besitzt Sonnenberg mit ca. 32.300 Euro pro Einwohner.Im Jahre 2015 rangierte die Landeshauptstadt Wiesbaden auf dem sechsten Platz der wohlhabendsten Städte Deutschlands über 200.000 Einwohner.
Die Stadt wies 2018 mit 110,3 Prozent des Bundesdurchschnitts bzw. mit rund 25.961 Euro pro Erwerbstätigem einen überdurchschnittlichen Kaufkraftindex auf und rangiert damit auf Platz sieben der 56 größten deutschen Städte.
Im sogenannten „Zukunftsatlas“ 2019 belegte die kreisfreie Stadt Wiesbaden Platz 46 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“.Ungefähr 184.300 Erwerbstätige hatten 2016 ihren Beschäftigungsort in der Stadt. Hiervon waren ca. 125.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer. Wiesbaden ist Ziel von Berufspendlern. Der Einpendlerüberschuss betrug 2011 fast 28.000 Arbeitnehmer. Die meisten Pendler stammen aus dem Rheingau-Taunus-Kreis, Mainz und dem Kreis Mainz-Bingen und somit aus dem direkten Umland der Stadt Wiesbaden.
Der überwiegende Teil der Arbeitnehmer der Landeshauptstadt sind im Dienstleistungsbereich beschäftigt, lediglich 16 Prozent sind im produzierenden Gewerbe beschäftigt. Die Land und Forstwirtschaft ist fast bedeutungslos. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,5 Prozent und damit über dem Durchschnitt von Hessen von 4,3 Prozent.
=== Thermalquellen, Kurbetrieb und Gesundheitswesen ===
Wiesbaden ist unter anderem berühmt für seine vielen kochsalzhaltigen Thermalquellen, die für vielfältige Kuren genutzt werden. In erster Linie werden sie bei rheumatischen Erkrankungen und Katarrhen der Atmungsorgane eingesetzt. Die Anwendung erfolgt in erster Linie durch Badekuren und Bewegungstherapie sowie durch Trinkkuren und Schwimmen im Thermalwasser.
In der Innenstadt gibt es heute noch 14 heiße Quellen mit Temperaturen zwischen 46 und 66 Grad Celsius. Mit einer Ergiebigkeit von etwa 2 Millionen Litern täglich ist Wiesbaden das zweitergiebigste deutsche Heilbad (zum Vergleich: an erster Stelle steht Aachen mit 3,5 Millionen Litern täglich)
Schon seit der Zeit der Römer sind in der Stadt Bäder in Betrieb, und bis heute sind einige Quellen öffentlich zugänglich, wie zum Beispiel der Kochbrunnen (66 Grad Celsius), der mit alleine fast 500.000 Litern täglich die ergiebigste Quelle ist. Die römisch-irische Kaiser-Friedrich-Therme mit Saunalandschaft wird durch die Adlerquelle (64,4 Grad Celsius, 167 Liter pro Minute) versorgt, ebenfalls das Thermalbad Aukammtal.
Daneben gibt es private Badehäuser, heute in der Regel Hotels, die Thermalbäder betreiben (Schwarzer Bock, Nassauer Hof und Goldenes Ross, die ehemaligen Hotels Rose und Bären). Neben dem Kochbrunnen gibt es noch einige weitere öffentliche Trinkstellen wie den Bäckerbrunnen (49 Grad Celsius, 65 Liter pro Minute) und Wiesbadens 15. Quelle, den Faulbrunnen (14 bis 17 Grad Celsius, 27 Liter pro Minute), der seinen Namen Schwefelverbindungen mit ihrem typischen Geruch verdankt, aber wegen seiner geringen Temperatur nicht als Therme bezeichnet wird.
Besucher wie Johann Wolfgang von Goethe, Fjodor Dostojewski, Richard Wagner, Johannes Brahms oder Alexej von Jawlensky haben wegen der Quellen und der Spielbank in Wiesbaden Station gemacht. Emil Minlos zog gesundheitsbedingt aus Berlin hierher um.
Nach dem Ersten Weltkrieg, als Wiesbaden seinen Ruf als Weltkurstadt verlor, wurde der bis dahin vorherrschende Kurbetrieb als Amüsementbetrieb auf die klinifizierte Kur umgestellt. 1937 wurde eine neue Kochbrunnenwasser-Ausschankstelle in der Kurhauskolonnade am Bowling Green eingerichtet. Diese wurde nach der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg 1952 wiedereröffnet, existiert aber heute nicht mehr.
Mit seinen Mineralquellen ist Wiesbaden Mitglied in der European Historic Thermal Towns Association (EHTTA), welche wiederum Träger eines internationalen Netzwerks ist, das sich Europäische Route historischer Thermalstädte nennt und seit 2010 als Kulturroute vom Europarat zertifiziert ist.
Heute gibt es zahlreiche Reha- und Spezialkliniken. Von allgemeinmedizinischen Krankenhäusern bis zu kosmetischen Privatkliniken sind es insgesamt 18 an der Zahl.
Die bekannteste ist sicher die Deutsche Klinik für Diagnostik. Am 2. April 1970 eröffnete sie in der Nähe des neuen Kurviertels. Dieses neue Kurviertel gruppiert sich um das städtische großzügige Thermalbad mit Außenbecken im Aukammtal, das über eine Fernleitung aus dem Quellenviertel mit Thermalwasser versorgt wird. Dort liegen große Rehakliniken und zahlreiche Spezial- und Privatkliniken. Allerdings ist die größte Klinik seit mehr als 10 Jahren geschlossen.
Die großen allgemeinmedizinischen Krankenhäuser sind die Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden (HSK) in der Nähe der Dotzheimer Großwohnsiedlung Schelmengraben, das St. Josefs-Hospital im Osten und die Asklepios Paulinen Klinik im Südwesten der Innenstadt. Letztere wurde 1856 als Nassauische Diakonissen-Mutterhaus Paulinenstiftung auf Anregung der Herzogin von Nassau, Pauline von Württemberg, gegründet und 1896 in das Krankenhaus Paulinenstift umgewandelt.
=== Trinkwasserversorgung ===
Der Reichtum Wiesbadens an Thermal- und Mineralquellen bedingte zugleich einen Mangel an gutem Trinkwasser innerhalb der Mauern der mittelalterlichen Stadt. Deren Quellen gaben nur warmes und salziges Wasser. Trinkwasser musste von Brunnen aus der Feldgemarkung in die Stadt geholt werden. Der Marktbrunnen auf dem Schlossplatz wurde 1564/66 errichtet, als man eine Wasserleitung aus ausgehöhlten Baumstämmen (sog. Deichel) von einem der Feldbrunnen in die Stadt gelegt hatte.
Der Erhaltungsaufwand für die fäulnisanfällige Leitung überstieg jedoch die finanziellen Möglichkeiten der Bürger, so dass die Wasserqualität dieses ersten Laufbrunnens innerhalb der Stadtmauern meistens zu wünschen übrig ließ, wenn er nicht ohnehin versiegte. Nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges dauerte es noch Jahrzehnte, bis der Marktbrunnen wieder floss. 1753 wurde der Marktbrunnen in der heute bekannten Form von den Bürgern neu errichtet, allerdings noch immer mit einer hölzernen und damit reparaturanfälligen Zuleitung von 3060 Schuh Länge (872,1 Meter).
1810 endlich wurden gusseiserne Röhren der Michelbacher Hütte verlegt. An den Kosten hierfür hatte die Stadtkasse 15 Jahre lang abzuzahlen. 1821 wurde dem steigenden Wasserbedarf der wachsenden Stadt mit einer Leitung vom Kisselborn Rechnung getragen, um weitere neun Laufbrunnen zu speisen. Die Leitung führte rund sechs Kilometer weit von dem Walddistrikt Kisselborn, der in 420 Meter Höhe direkt unterhalb des wenige Jahre später errichteten Jagdschlosses Platte liegt, in die Innenstadt. Weitere Brunnen wurden gefasst und in die Stadt geleitet, jedoch konnte dies den Wasserbedarf der aufstrebenden Stadt, besonders in Trockenjahren, nicht zufriedenstellend decken.
Schließlich wurden in den Jahren 1875 bis 1910 mit vier bergmännischen Tiefstollen von 11,5 Kilometern Gesamtlänge die wasserführenden Quarzitadern des Taunuskamms erbohrt (Münzbergstollen, Schläferskopfstollen, Kreuzstollen und Kellerskopfstollen). Als Druckstollen boten sie endlich eine krisensichere Wasserversorgung bei bester Trinkwasserqualität. Sie können zusammen maximal 22.000 Kubikmeter täglich liefern.
Parallel dazu wurden schon weitere Bezugsquellen gesucht und in den Rheinauen bei Schierstein auch gefunden. In mehreren Ausbaustufen entstand hier seit 1901 das Wasserwerk Schierstein. Dort wird Grundwasser gefördert sowie zwischen 1924 und 2017 Oberflächenwasser aus dem Rhein mittels Schluckbrunnen in das Grundwasser eingespeist, um es anschließend wieder zu fördern. Seit 2016 ist es mit einer Leitung mit dem Wasserwerk auf der Petersaue verbunden.
Als drittes Standbein der Wasserversorgung besteht seit 1969 ein Anschluss an das Hessische Ried über eine Fernleitung von 55 Kilometer Länge zum Wasserwerk Jägersburger Wald bei Einhausen. Von hier werden bis zu 20.000 Kubikmeter täglich geliefert.
Die Wasserversorgung Wiesbadens obliegt heute der Hessenwasser GmbH & Co. KG.
=== Verkehr ===
==== Straßenverkehr ====
Durch das südliche Stadtgebiet von Wiesbaden führt in West-Ost-Richtung die Bundesautobahn A 66 aus dem Rheingau in Richtung Frankfurt am Main. Von ihr zweigen am Schiersteiner Kreuz die A 643 nach Mainz und an der Anschlussstelle Mainzer Straße die A 671 nach Hochheim am Main ab.
Im Osten berührt die A 3 das Stadtgebiet. Auf dieser Autobahn sind über das Wiesbadener Kreuz Köln und der Flughafen Frankfurt Main erreichbar. Folgende Bundesstraßen führen durch das Stadtgebiet: B 40, B 43, B 54, B 262, B 263, B 417 und B 455.
Seit dem 1. Februar 2013 existiert, zusammen mit der Nachbarstadt Mainz, eine Umweltzone. Es ist damit die erste länderübergreifende Umweltzone sowie, nach Frankfurt, die zweite in Hessen.
Um einem Dieselfahrverbot zu entkommen sollte bis Ende 2020, in Zusammenarbeit mit Siemens Mobility, eine neue digitale Lichtsignalanlage in Betrieb genommen werden. Am 3. Juli 2022 wurde erstmals ein autofreier Sonntag auf einigen Quartierstrassen durchgeführt.
==== Fahrradverkehr ====
Der innerstädtische Fahrradverkehr ist spärlich, Fahrradwege und Radstreifen sind selten. Im Städtevergleich der Großstädte des sogenannten „Fahrradklimatests“ 2016 und 2018 nimmt die Stadt den letzten Platz ein.Wiesbaden ist an zahlreiche Radwanderwege angeschlossen, unter anderem an den Rheinradweg (verläuft als europäische EuroVelo-Route von der Quelle des Rheins bis zur Nordsee).
==== Schienenverkehr ====
Der Wiesbadener Hauptbahnhof wurde 1906 südlich des Zentrums eröffnet und ersetzte den Ludwigsbahnhof, den Rheinbahnhof und den Taunusbahnhof.
In den Stadtteilen sind weitere zehn Bahnhöfe in Betrieb. Wiesbaden ist an das S-Bahn-Netz Rhein-Main angeschlossen. Der Hauptbahnhof ist Endhaltestelle der S-Bahn-Linien S1, S8 und S9 aus Richtung Frankfurt/Offenbach/Hanau. Außerdem führt von Wiesbaden aus die rechte Rheinstrecke über Rüdesheim bis nach Koblenz sowie die Ländchesbahn über die Vororte Erbenheim, Igstadt und Auringen/Medenbach nach Niedernhausen mit Anschluss nach Limburg an der Lahn.
Seit Fertigstellung der Schnellfahrstrecke Köln–Rhein/Main 2002 ist Wiesbaden an das ICE-Netz angeschlossen.
Abgesehen vom Hauptbahnhof bestehen noch die Personenbahnhöfe und -haltepunkte Auringen-Medenbach, Biebrich, Erbenheim, Igstadt, Kastel, Ost und Schierstein.
==== Öffentlicher Personennahverkehr ====
Den öffentlichen Personennahverkehr bedient die ESWE Verkehrsgesellschaft mbH, zudem über Verbundverknüpfungen teilweise auch die Mainzer Mobilität (und Subunternehmen) sowie im Regionalverkehr weitere Anbieter. Die Busspur ist eine Wiesbadener Erfindung.
Von hier aus verbreitete sie sich ab 1968 über die ganze Welt. Wiesbaden war die erste deutsche Stadt und erste Großstadt der Welt, die 1929 den innerstädtischen Verkehrsbetrieb von Straßenbahnen auf Busse umstellte. 1955 wurde der Straßenbahnbetrieb endgültig eingestellt (siehe Straßenbahn Wiesbaden). Wiesbaden ist damit heute die zweitgrößte deutsche Stadt (nach Münster), die weder eine Straßenbahn noch eine U-Bahn hat.
1998 wurde eine Wiesbadener Stadtbahn als Ergänzung zum Busliniennetz und Verbindung nach Bad Schwalbach als Idee eingebracht und fand sowohl Befürworter als auch Gegner. Das Projekt wurde 2001 eingefroren und stand von 2011 bis 2013 wieder in der Diskussion, da das Bussystem mit 50 Millionen Fahrgästen jährlich seine Höchstgrenzen erreicht habe und wegen des Bewohnerzuwachses auch die Pendlerströme sich in Zukunft noch stark erhöhen würden. Der Plan wurde allerdings von der schwarz-gelben Landesregierung nicht unterstützt.
Ab 2016 gab es intensive Planungen für eine länderübergreifende, meterspurige Straßenbahnstrecke von Mainz über Wiesbaden nach Bad Schwalbach („Citybahn Wiesbaden“), die eine breite politische Unterstützung hatte und für die eine eigene Planungsgesellschaft gegründet worden war.
Am 1. November 2020 wurde das Vorhaben jedoch durch einen Bürgerentscheid mit einer Mehrheit von 62,1 % abgelehnt.Seit Dezember 2019 verkehren die ersten von 56 bestellten Batteriebussen des Herstellers EvoBus (Daimler-Benz). Die Lieferung von vier Brennstoffzellenbussen, die mit Wasserstoff betrieben werden, wurde im Januar 2020 annulliert, weil der polnische Hersteller Autosan nicht liefern konnte.
In Wiesbaden befindet sich außerdem die Nerobergbahn, eine mit Wasserballast betriebene Standseilbahn.
Wiesbaden, Mainz und die Gemeinden Walluf, Hochheim, Ginsheim-Gustavsburg und Zornheim bilden innerhalb des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV) ein Tarifgebiet. Für Verbindungen aus dem und in das Gebiet des Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbunds (RNN) können auch diese Tarife bis Wiesbaden angewendet werden.
==== Flugverkehr ====
Wiesbaden liegt etwa 25 Kilometer vom Luftverkehrsdrehkreuz Flughafen Frankfurt Main entfernt. Im Stadtteil Erbenheim befindet sich der Flugplatz Erbenheim, ein Militärflugplatz der US Army. In der Nähe der Stadt gelegen ist das Funkfeuer WBD einer internationalen Luftstraße.
==== Binnenschifffahrt ====
Wiesbaden liegt an den Bundeswasserstraßen Rhein und Main. Im Ortsbezirk Schierstein befindet sich der Schiersteiner Hafen, während in Biebrich nur an der Kaimauer angelegt werden kann.
Im Sommerhalbjahr verkehren Schiffe verschiedener Personenschifffahrtsgesellschaften. Gegenüber von Gustavsburg liegt im Main die Kostheimer Schleuse, die Schleuse mit dem höchsten Fahrzeugaufkommen in Europa. Der ehemalige Floßhafen in einem Nebenarm der Mainmündung, der die Maaraue vom Festland trennt, wurde noch bis in die 1960er für die Flößerei genutzt und leidet stark unter Verschlammung. Heute liegen hier eine schwimmende Halle für die Patrouillenboote der Wasserschutzpolizeistation auf der Maaraue sowie diverse kleinere private Boote.
=== Tourismus ===
Der Tourismus, verbunden mit der Funktion als Kur-, Kongress- und Landeshauptstadt, bietet einen nicht unerheblichen Wirtschaftsfaktor, auch wenn er kein bestimmendes Element darstellt. Die Übernachtungszahlen lagen 2016 bei 1,25 Millionen Übernachtungen.
Die Zahl der Tagestouristen liegt bei etwa 11,5 Millionen.
Zum Vergleich: Berlin: ca. 20 Millionen; Frankfurt am Main: 6 Millionen; Bremen: 1,8 Millionen; Heidelberg: 1,02 Millionen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Gäste in Wiesbaden betrug zweieinhalb Tage.
Es stehen in 77 Hotels und Pensionen etwa 7133 Betten zur Verfügung. Die Jugendherberge am Elsässer Platz ist eine der größten in Deutschland und hat 220 Betten. Hinzu kommen drei Campingplätze mit 6400 Gästen beziehungsweise 11.800 Übernachtungen jährlich.
=== Touristikrouten ===
Die Rheingauer Riesling-Route führt von Flörsheim-Wicker über Hochheim kommend durch das südliche Stadtgebiet in den Rheingau bis Lorchhausen. Der 2005 eröffnete Rheinsteig von Wiesbaden-Biebrich nach Bonn berührt alle Burgen auf der rechten Seite des Mittelrheins. In Wiesbaden beginnt die Bäderstraße. Sie führt über Bad Schwalbach und Schlangenbad nach Bad Ems an der Lahn.
Radfernwege: Die Uferwege von Rhein und Main sind durch den Hessischen Radfernweg R3 (Rüdesheim am Rhein–Tann (Rhön)), den Main-Radweg und den rechtsrheinischen Rheinradweg erschlossen. Der Rheinradweg macht noch einen Abstecher von Wiesbaden-Biebrich zur Innenstadt, ist aber unvollständig ausgeschildert. Der Hessische Radfernweg R6 (Bad Arolsen (Diemelstadt)–Rosengarten (Lampertheim)) tangiert die östlichen Stadtteile und überquert in Mainz-Kostheim den Main.
Über das Sommerhalbjahr, immer an Sonn- und Feiertagen, erschloss die Nassauische Touristik-Bahn auf der 1983 stillgelegten Aartalbahn nach Bad Schwalbach und Hohenstein mit musealen Fahrzeugen den Taunus für Ausflügler und Wanderer. Erreichbar waren vom Bahnhof Wiesbaden-Dotzheim aus die Stationen Chausseehaus, Eiserne Hand, Hahn-Wehen, Bleidenstadt, Bad Schwalbach, Breithardt und Hohenstein. Wegen defekter Anlagen ist der Zugverkehr seit 2009 bis auf Weiteres ausgesetzt.
Die Route der Industriekultur Rhein-Main umfasst die Talsohle (Industriegeschichte zwischen Neroberg und Salzbachtal) und die Flussroute (Industriegeschichte zwischen Schierstein und Mainz-Kostheim).
Die Deutsche Fachwerkstraße verläuft durch das westliche Stadtgebiet: von Hochheim über Eltville nach Idstein und Limburg an der Lahn.
=== Film und Medien ===
Das Buch Hollywood am Kochbrunnen (1995) befasst sich mit Wiesbadens Film- und Fernsehgeschichte. Demnach gilt der in Wiesbaden-Biebrich entstandene Stummfilm Das Schloss des Schreckens (1919) vom deutschen Filmpionier Georg Dengel als Ursprung von Wiesbadens Geschichte als Filmstadt.
Zahlreiche Medienunternehmen haben oder hatten in Wiesbaden ihren Sitz. Beispielhaft sei hier der Standort Unter den Eichen genannt: Nach dem Zweiten Weltkrieg war dort die Produktionsstätte der AFIFA (einer Tochtergesellschaft der UFA). In den Filmstudios wurde eine Vielzahl von deutschen Nachkriegsfilmen produziert. 1964 nahm das ZDF dort seinen Sendebetrieb auf und blieb bis 1984.
Die Taunusfilm GmbH betrieb das Gelände bis 2010, führte dort zahlreiche Fernsehproduktionen durch und ist dort immer noch in Form der ABC & TaunusFilm Kopierwerk GmbH vertreten. Heute beherbergt das Gelände neben diversen Medienfirmen auch den „Mediencampus“ der Hochschule RheinMain mit dem Fachbereich Design Informatik Medien und den Studiengängen Kommunikationsdesign, Innenarchitektur, Medienwirtschaft und Medieninformatik, sowie seit 2002 auch den nichtkommerziellen Lokalsender Radio Rheinwelle.
Wiesbaden ist aber als Sitz von Filmverbänden und -institutionen von überregionaler Bedeutung.
So befindet sich die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) ebenso in der hessischen Landeshauptstadt wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) oder die Filmbewertungsstelle (FBW). Ebenso die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, die einen Großteil des deutschen Filmerbes verwaltet, pflegt und erhält sowie das Archiv des Deutschen Filminstitutes.
In der Stadt findet jährlich das goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films statt. Hauptorte der Vorführungen sind das Festivalkino Caligari und die Villa Clementine. Dieses wurde 2001 vom Deutschen Filminstitut gegründet und gehört zu den FIAPF-akkreditierten Filmfestivals.
Direkt im Wiesbadener Landtag unterhält der Hessische Rundfunk ein Fernseh- und Hörfunkstudio. In der Nähe ist die Redaktion des Fernsehmagazins „defacto“ untergebracht. Nicht weit vom Landtag entfernt betreibt der private Radiosender Hit Radio FFH ein Regionalstudio.
Seit dem 20. Februar 2007 sendet der Stadtsender TV-Wiesbaden ein Regionalprogramm in Wiesbaden.Daneben sind zahlreiche Verlage in der Stadt ansässig (unter anderem Deutscher Genossenschafts-Verlag, Verlag Dr. Th. Gabler, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Breitkopf & Härtel und Springer Vieweg), ebenso das Verlagshaus Römerweg.
In Wiesbaden erscheinen die Tageszeitungen Wiesbadener Kurier und Wiesbadener Tagblatt.
=== Bildung ===
In Wiesbaden ist eine Hochschule für Angewandte Wissenschaften, die Hochschule RheinMain, beheimatet. Sie wurde 1971 durch Zusammenschluss von Ingenieurschulen in Geisenheim, Idstein und Rüsselsheim am Main sowie der Werkkunstschule Wiesbaden gegründet und ist eine staatliche Hochschule des Landes Hessen. Von den insgesamt etwa 12.900 Studenten der Hochschule fallen etwa 9.950 dem Standort Wiesbaden zu.Die ehemals am Hauptcampus der Hochschule angesiedelte Verwaltungsfachhochschule heißt seit 1. Januar 2011 Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV) und hat ihren Hauptsitz in der Schönbergstraße 100 in Wiesbaden.
Als die European Business School (EBS), beheimatet in Oestrich-Winkel und Wiesbaden, im Juni 2010 eine zweite Fakultät (die EBS Law School) eröffnete, benannte sie sich in EBS Universität für Wirtschaft und Recht um. An der EBS sind ungefähr 1800 Studenten eingeschrieben. Mit Aufnahme des Lehrbetriebs der Law School im September 2011 wurde der EBS Universität für Wirtschaft und Recht die staatliche Anerkennung als Universität durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst verliehen.
Die Landeshauptstadt Wiesbaden wurde somit Universitätsstadt. Die EBS Universität für Wirtschaft und Recht hat die Institutionelle Akkreditierung durch den Wissenschaftsrat erhalten. Dieses akademische Qualitätssiegel wird nicht-staatlichen Hochschulen verliehen, deren Leistungen in Lehre und Forschung anerkannten wissenschaftlichen Maßstäben entsprechen.
Die Geschäftsräume der privaten Hochschule befanden sich bis 2010 im Stadtteil Schierstein. Die juristische Fakultät (Law School) und die Hochschulleitung sollen künftig einen Neubau in der Gerichtsstraße 2 im Stadtbezirk Wiesbaden-Mitte beziehen. Es ist nicht bekannt, bis wann und in welcher Form das Bauvorhaben realisiert wird.
Bis dahin sind sie nahe dem Wiesbadener Hauptbahnhof im sogenannten Atriumhaus untergebracht, das mehr als zehn Jahre leer stand und eigens dafür von der Landeshauptstadt Wiesbaden für 8,5 Millionen Euro erworben und saniert wurde. Die wirtschaftliche Fakultät (Business School) bleibt weiterhin in Oestrich-Winkel.
Die Hochschule Fresenius zog 1995 von Wiesbaden nach Idstein um. Im März 2019 kehrte sie mit einem neuen Campus in der Moritzstraße wieder nach Wiesbaden zurück. Die Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden sind als städtisches Krankenhaus ein Akademisches Lehrkrankenhaus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Die Größe des Bildungsangebotes zeigt sich in den über hundert staatlichen und privaten Schulen. Neben 40 Grundschulen gibt es 23 berufsbildende Schulen, zwölf Gymnasien, sieben Realschulen, sieben Hauptschulen, neun Sonderschulen und sieben Gesamtschulen.
Eine Besonderheit ist das Hessenkolleg Wiesbaden, das in der Erwachsenenbildung die allgemeine Hochschulreife (Abitur) eröffnet.
Der Erwachsenenbildung dienen ferner die Kursangebote der Volkshochschule Wiesbaden und der Katholischen Erwachsenenbildung mit den Bildungswerken Wiesbaden, Rheingau und Untertaunus mit Sitz im Roncalli-Haus. Wiesbaden ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft.
=== Dienstleistungsunternehmen ===
Wiesbaden als Teil des Rhein-Main-Gebietes ist in erster Linie eine Dienstleistungsstadt, auch aufgrund des hohen Verwaltungsanteils als Landeshauptstadt. Daneben finden sich hier Unternehmen wie die IT-Dienstleister CSC Deutschland oder SVA, Ferrari Deutschland (Schierstein), der Logistiker Frankenbach oder Norwegian Cruise Line (Erbenheim).
==== Finanzdienstleistungen ====
Zu den traditionell wichtigen Branchen gehören in Wiesbaden die Finanzdienstleistungen, insbesondere das Versicherungswesen. Etwa 10 Prozent aller Beschäftigen arbeiten in diesem Bereich. Neben privaten Finanzinstituten haben auch mehrere Spitzenorganisationen der Sparkassen und Genossenschaftsbanken ihren Sitz in Wiesbaden.
Die Stadt ist Hauptsitz des Immobilienfinanzierer Aareal Bank, einem im MDAX notierten Kreditinstitut, sowie der Bürgschaftsbank Hessen. Weiterhin ist hier der deutsche Hauptsitz der Ikano Bank. In der Stadt unterhält die Förderbank WIBank einen Standort. Die mittlerweile zur Axa-Gruppe gehörenden DBV-Winterthur Versicherungen haben wie die zur Vienna Insurance Group gehörenden InterRisk Versicherungen ihren Sitz in der Stadt. Darüber hinaus befinden sich mehrere gewerbliche Zusatzversorgungskassen vor Ort.
Mit der Nassauischen Sparkasse (Naspa) hat seit 1840 eine der größten und traditionsreichsten deutschen Sparkassen mit über 2000 Mitarbeitern ihren Stammsitz in Wiesbaden. Die aus der Nassauischen Brandversicherungsanstalt von 1767 und den Hessen-Nassauischen Versicherungsanstalten hervorgegangene Zweigniederlassung Wiesbaden der SV SparkassenVersicherung ist mit 800 Mitarbeitern der zweitgrößte Standort des neuen Unternehmens neben der Zentrale in Stuttgart. Weiterhin ist der Online-Broker der Sparkassen-Finanzgruppe S Broker hier ansässig.
Die Wiesbadener Volksbank mit über 500 Mitarbeitern ist in der Stadt ansässig. Größter privater Arbeitgeber der Stadt ist mit rund 3900 Mitarbeitern die R+V Versicherung, die neben anderen Adressen für ihre Konzernzentrale in Wiesbaden am Kureck ein Hochhaus gebaut hatte. 2008 legte das Unternehmen den Grundstein für ein neues Bürogebäude mit 1300 Arbeitsplätzen in der John-F.-Kennedy-Straße (2011 umbenannt in Raiffeisenplatz). Nach dessen Fertigstellung sind die Mitarbeiter vom Kureck 2010 hierher umgezogen. Weiterhin befindet sich der Deutsche Genossenschafts-Verlag in der Stadt.
==== Karitative und gemeinnützige Strukturen ====
In Wiesbaden betreiben der Evangelische Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM) ebenso wie die Caritas mehrere Einrichtungen zur stationären Betreuung und Pflege älterer Menschen. Das Johannesstift betreibt ein Jugendhilfezentrum. Neben dem Deutschen Roten Kreuz, das ein Krankenhaus betreibt, ist namentlich der Arbeiter-Samariter-Bund mit einer Rettungswache aktiv. Die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft betreibt Stationen am Rheinufer.
Es wurde eine Wiesbadener Tafel eingerichtet. Die Heilsarmee betreibt ein Männerwohnheim für Obdachlose in der Stadt. Der Nassauische Feuerwehrverband hat seit seiner Gründung am 27. Juli 1872 seinen Sitz in Wiesbaden.
==== Organisationen ====
Des Weiteren ist Wiesbaden Sitz zahlreicher anderer Organisationen, wie der Gesellschaft für deutsche Sprache oder der Schufa. Von den im Landtag vertretenen Parteien haben die CDU, die SPD, die FDP und Grüne ihre Landesgeschäftsstellen in Wiesbaden eingerichtet.
=== Verarbeitendes Gewerbe ===
Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen, er macht mittlerweile etwas weniger als ein Drittel der Wiesbadener Wirtschaftsleistung aus.
Zu erwähnen sind Abbott und AbbVie (Delkenheim), Kion Group (Mainz-Kostheim), die Henkell & Co. Sektkellerei oder Federal Mogul (Schierstein). Der schwedische SCA-Konzern produziert an dem 1885 von Hubert Anton Disch als Holz-Cellulose-Fabrik gegründeten und später von der Zellstoff Waldhof (Markenname Zewa) übernommenen Standort in Mainz-Kostheim weiterhin Hygiene-Papiere. Erbenheim und Nordenstadt sind Standorte der Smiths Heimann GmbH, einem international führenden Unternehmen für Röntgenprüfsysteme, die auf Flughäfen eingesetzt werden. Ein Tochterunternehmen des Bilfinger-Konzerns, die Bilfinger Construction GmbH, hatte ihre Hauptverwaltung in Wiesbaden, ebenso der Entwicklungspartner der Automobil- und Luftfahrtindustrie EDAG. Wiesbaden war auch Standort eines der Vorläuferunternehmen des Konzerns, der Julius Berger Tiefbau AG.
Am Rhein liegen traditionsreiche Industriestandorte wie das Dyckerhoff-Betriebsgelände mit dem Kalksteinbruch Dyckerhoffbruch, der nach und nach als Mülldeponie verfüllt wird (Mainz-Amöneburg). Des Weiteren der etwa einen Quadratkilometer große von der InfraServ Wiesbaden betriebene Industriepark Kalle-Albert (Biebrich und Mainz-Amöneburg), in dem sich neben dem Stammwerk der Kalle-Gruppe die SE Tylose Deutschland und etwa 80 weitere Unternehmen niedergelassen haben. Unweit dieses Industrieparks ist die Hauptverwaltung der SGL Carbon angesiedelt, einem der führenden Graphit-Hersteller.
=== Landwirtschaft, Wein und Sekt ===
Der größte landwirtschaftliche Betrieb ist die Domäne Mechtildshausen bei Erbenheim.Weinrechtlich ist das Stadtgebiet Teil des Rheingaus, des größten hessischen Weinanbaugebietes, dessen Kerngebiet als Landschaft Rheingau westlich der Stadt liegt, aber auch östlich von Wiesbaden wächst noch Rheingauer Wein. Wein wird auf etwa 222 Hektar Rebfläche angebaut in den Stadtteilen Frauenstein (75 Hektar), Dotzheim (10 Hektar), Schierstein (60 Hektar) und Kostheim (73 Hektar) sowie auf der zur Innenstadt gehörenden Einzellage Neroberg (4 Hektar).
Frauenstein grenzt mit der Weinlage Herrnberg direkt an den Rheingau. Der Dotzheimer Wein wächst in der Lage Judenkirch (mitunter findet sich auf den Flaschenetiketten die Schreibweise Judenkirsch). In Schierstein liegt die Lage Hölle.
In Kostheim heißen die Lagen St. Kiliansberg, Steig und Weiß Erd. Die Rebflächen werden von vielen mittelständischen Winzern bewirtschaftet. Der Neroberg, der vom Weingut der Landeshauptstadt Wiesbaden bewirtschaftet wurde, ist seit 2005 an die Hessische Staatsweingüter Kloster Eberbach verpachtet.
Während der Rheingauer Weinwoche wird der Schlossplatz am alten Rathaus und das Dern’sche Gelände für zehn Tage nach Selbstdarstellung des Veranstalters zur „größten Weintheke der Welt“, wenn Weingüter aus allen Weinbaugemeinden des Rheingaus ihre Weine und Sekte dem Publikum ausschenken.
Mit der Henkell & Co. Sektkellerei KG hat ein namhafter Erzeuger von deutschem Sekt seinen Hauptsitz und Produktionsstandort in Wiesbaden.
Das kulturelle und vor allem das gastronomische Leben in Wiesbaden wird von Wein und Sekt stärker geprägt als in anderen deutschen Großstädten.
=== Öffentliche Einrichtungen ===
Seit 1945 ist Wiesbaden Landeshauptstadt von Hessen; hier sind alle Verfassungsorgane des Landes Hessen mit Ausnahme des Hessischen Rechnungshofes angesiedelt. Dazu gehören der Hessische Landtag und die Hessische Landesregierung mit der Hessischen Staatskanzlei als Sitz des Hessischen Ministerpräsidenten und die acht Landesministerien. Nicht zuletzt haben hier der Staatsgerichtshof des Landes Hessen als Verfassungsgericht und der Hessische Datenschutzbeauftragte ihren Sitz.
Wiesbaden ist der Standort mehrerer Bundesbehörden: 1951 zog das Bundeskriminalamt (BKA) als erste Bundesbehörde nach Wiesbaden. 1956 wurde das Hochhausgebäude für das Statistische Bundesamt (Destatis) in der Nähe des Wiesbadener Hauptbahnhofes fertiggestellt. 1973 wurde das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gegründet. 2003 entbrannte ein Streit zwischen Politikern und Bürgerinitiativen um den damals geplanten Umzug des Bundeskriminalamtes nach Berlin, der jedoch nicht verwirklicht wurde. Nach dem Aufbau der Bundeswehr wurde Wiesbaden zudem Standort einer Wehrbereichsverwaltung sowie eines Kreiswehrersatzamtes, die im Rahmen der Bundeswehrreform jedoch aufgelöst wurden. Heute hat neben dem Landeskommando Hessen eine Außenstelle des Bundesamtes für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr seinen Sitz in der Stadt.
Ferner haben auch das Landespolizeipräsidium, das Hessische Landeskriminalamt, das Polizeipräsidium Westhessen, die Hessische Polizeiakademie (bis Dezember 2009: Hessische Polizeischule), das Präsidium für Technik, Logistik und Verwaltung, das Hessische Bereitschaftspolizeipräsidium, die Wasserschutzpolizei in Mainz-Kastel ihren Sitz in der Stadt.
Da sich neben diesen Dienststellen der Landespolizei in der Stadt auch das Bundeskriminalamt, ein Revier der Bundespolizei, die Stadtpolizei, die kommunale Verkehrspolizei, das Zollamt Wiesbaden und eine Dienststelle der amerikanischen Militärpolizei in der Clay-Kaserne befinden, dürfte Wiesbaden die einzige Stadt in Deutschland sein, in der sieben verschiedene Polizeien ständig vertreten sind (falls man LKA, Wasserschutz- und Bereitschaftspolizei als eigene Einheiten betrachtet, sogar zehn Polizeien).
Auch das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, das Hessische Amt für Versorgung und Soziales, das Hessische Statistische Landesamt, das Hessische Landesamt für Bodenmanagement und Geoinformation, der Hauptsitz von Hessen Mobil, das Hessische Landesarchiv das Hessische Hauptstaatsarchiv, das Landesamt für Denkmalpflege Hessen, das Hessische Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie und einige Außenstellen des Regierungspräsidiums Darmstadt ihren Sitz in der Stadt.
Eine Zusammenstellung von Landes- und Bundesbehörden findet sich auf der Website von Wiesbaden.In Wiesbaden nutzen Amtsgericht, Landgericht, eine Staatsanwaltschaft, Verwaltungsgericht, Arbeitsgericht sowie Sozialgericht gemeinsam das Justizzentrum. In der Holzstraße ist eine Justizvollzugsanstalt für den Jugendstrafvollzug.
Zwei Kommunale Spitzenverbände haben ihren Sitz in Wiesbaden: der Hessische Städtetag und der Hessische Landkreistag.An Selbstverwaltungskörperschaften der Berufsstände finden sich hier die Ingenieurkammer Hessen, die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen, die Handwerkskammer Wiesbaden, deren Bezirk vom Main-Kinzig-Kreis im Osten bis zum Rheingau-Taunus-Kreis im Westen reicht und die Industrie- und Handelskammer Wiesbaden für den Bereich Wiesbaden, Hochheim und Rheingau-Taunus-Kreis. Als eine der gesetzlichen Unfallversicherungen hat die Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung ihre Hauptverwaltung in Wiesbaden.
Die Feuerwehr der Stadt Wiesbaden ist eine Berufsfeuerwehr und als solche für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr in der Stadt zuständig. Sie beschäftigt 302 Beamte, die sich in 49 Mann starke Schichten auf drei Feuerwachen im Stadtgebiet verteilen, hinzu kommen 600 ehrenamtliche Kräfte in den 20 Freiwilligen Feuerwehren und über 360 Nachwuchskräfte in den Jugendfeuerwehren. Daneben existieren sechs Werkfeuerwehren mit insgesamt 107 Beschäftigten, die jedoch nicht zur Feuerwehr Wiesbaden gehören.
=== US-Militäreinrichtungen ===
Mehrere Gebiete der innenstadtnahen Außenbezirke werden oder wurden als US-Militärstützpunkt genutzt. Auf dem Gelände des Militärflugplatzes Erbenheim befindet sich das 58. Heeresfliegerregiment und die 66. Brigade des militärischen Geheimdienstes. Außer auf dem Airfield gibt es derzeit in Wiesbaden noch Militärdienststellen im Amelia Earhart Complex. Dort residiert das U.S. Army Corps of Engineers – Europe. Ferner gibt es im Stadtgebiet noch die Mainz-Kastel Storage Station und den American Arms Office Tower.
Nachdem die Zentrale des American Forces Network im Mai 2004 aus Frankfurt am Main nach Mannheim in die Coleman Barracks umgezogen ist, hat man auf dem Airfield ein regionales Studio eingerichtet (AFN-Hessen), um die in Wiesbaden und Umgebung stationierten Soldaten mit Rundfunk und Nachrichten zu versorgen.
Als Wohngebiete für die amerikanischen Streitkräfte des Militärflugplatzes Erbenheim dienen auch heute noch die nordöstlich gelegenen US-amerikanischen Housings Aukamm, Crestview und Hainerberg Village.
Im Wiesbadener Camp Lindsey war bis 1973 das Europa-Hauptquartier der US Air Force beheimatet. Aus dem Camp Lindsey, dem Camp Pieri in Dotzheim, und dem US-Militärhospital in der südwestlichen Innenstadt sind die US-Amerikaner 1993 abgezogen.
Die Stadtplanung unterzog diese ehemaligen Kasernen einer Konversion mit dem Ziel einer künftigen zivilen Nutzung. Nach dem Abzug der Amerikaner aus Camp Lindsey, dem heutigen Europaviertel, finden sich dort heute einer der drei Wiesbadener Standorte des Bundeskriminalamts, die Volkshochschule sowie mehrere städtische Behörden, sowie Gewerbeflächen und eine Vielzahl neu gebauter moderner Eigentumswohnungen. In den Gebäuden des Camp Pieri befindet sich heute eines der Studierendenwohnheime der Fachhochschule. Das US-Hospital wurde zu einem Behördenzentrum für Behörden mit bestimmten Anforderungen an die äußere Sicherheit wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz.
Die Bundesregierung der Vereinigten Staaten gab 2004/05 bekannt, dass ihre Streitkräfte im Zuge des Transformationsprozesses in Europa neu aufgestellt werden sollen. Im Laufe der Jahre und der Planungen wurde bekanntgegeben, dass das Hauptquartier der US-Army Europe von Heidelberg nach Wiesbaden verlegt werden soll. Es wurde beschlossen, die Fläche am Airfield um 41 Hektar zu erweitern. Die Stadt Wiesbaden hat sich bereit erklärt, diese Flächen den US-Streitkräften zur Verfügung zu stellen. Aufgrund dieser Entscheidung wurde ab 2009 damit begonnen, die Infrastruktur der militärischen Einrichtungen zu modernisieren. Ende 2009 wurde mit dem Bau einer neuen Housing-Area im südlichen Bereich des Airfields begonnen. Im Frühjahr 2010 wurde mit dem Baubeginn des neuen Kommando- und Führungszentrums auf dem Paradeplatz des Airfields begonnen. Durch diese Umstrukturierung wird die Zahl der in Wiesbaden stationierten Soldaten zunehmen.
Am 6. September 2013 wurde der Umzug der USAREUR aus Heidelberg in das neue Hauptquartier in Wiesbaden-Erbenheim abgeschlossen.In Wiesbaden wird zurzeit ein neues Consolidated Intelligence Center der US-Armee errichtet, das auch die NSA benutzen soll.
== Sehenswürdigkeiten ==
=== Schlossplatz ===
Als Mittelpunkt der historischen Altstadt innerhalb des Historischen Fünfecks bildet der Schlossplatz die Keimzelle des mittelalterlichen Wiesbadens und ein Ensemble von historischen Gebäuden. Hier stehen das älteste erhaltene Gebäude der Innenstadt, das Alte Rathaus, erbaut 1608 bis 1610, das heute als Standesamt dient, sowie das von Georg von Hauberrisser 1884 bis 1887 errichtete Neue Rathaus.
Die Nordseite des Platzes dominiert das ehemalige Stadtschloss der Nassauischen Herzöge aus den Jahren 1837 bis 1842, dessen erhaltene historischen Innenräume im Kontrast zu seinem schlichten Äußeren stehen. Während Wiesbadens Zeit als Weltkurstadt nutzte Kaiser Wilhelm II. das Stadtschloss bei seinen zahlreichen Aufenthalten als Wohnsitz. Heute ist hier der Hessische Landtag untergebracht. Der zugehörige Plenarsaal befindet sich im Innenhof.
Die 1853 bis 1862 von Carl Boos erbaute evangelische Marktkirche mit ihren fünf Türmen, von denen der 98 m hohe Hauptturm bis heute das höchste Gebäude der Stadt ist, wurde als „Nassauer Landesdom“ nach dem Vorbild von Schinkels Friedrichswerderscher Kirche in Berlin als größter Backsteinbau Nassaus erbaut.
Den östlichen rechtwinkligen Abschluss des Schlossplatzes bildete die 1898 bis 1901 von Felix Genzmer erbaute Höhere Töchterschule. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ebenso wie das Dach und die frontseitigen Ecken des Neuen Rathauses.
Auf der Rückseite des Neuen Rathaus und der Marktkirche befindet sich der historische Marktkeller, der von der Marktsäule gekrönt wird. Im Marktkeller befindet sich seit September 2016 das Stadtmuseum. Davor liegt das neu gestaltete Dern’sche Gelände, auf dem mittwochs und samstags der Wiesbadener Wochenmarkt stattfindet. Außerdem wird das Dern’sche Gelände häufig für Freiluft- und Zirkusveranstaltungen genutzt.
=== Wilhelmstraße und Kureck ===
Am östlichen Rand des Historischen Fünfecks verläuft die elegante Wilhelmstraße. Neben noblen Geschäften und Cafés stehen hier das Landesmuseum, der Nassauische Kunstverein, der sich auf junge zeitgenössische Kunst spezialisiert, das 1813 bis 1817 erbaute Erbprinzenpalais (heute Industrie- und Handelskammer) und die Villa Clementine, die 1888 Schauplatz des Wiesbadener Prinzenraubs wurde und später Kulisse für die TV-Verfilmung von Thomas Manns „Buddenbrooks“ war. Das jährlich Anfang Juni ausgerichtete Wilhelmstraßenfest (offiziell: „Theatrium“) gilt als größtes Straßenfest Deutschlands.
An der Ostseite der Wilhelmstraße wurde 1860 der Landschaftspark Warmer Damm angelegt. An der östlich von ihm verlaufenden Paulinenstraße steht die Söhnlein-Villa, die wegen ihres Washingtoner Vorbilds auch „Weißes Haus“ genannt wird.
Am nördlichen Ende der Wilhelmstraße befindet sich das so genannte Kureck. Mittelpunkt ist das Bowling Green, eine rechteckige Grünfläche mit zwei imposanten Kaskadenbrunnen, die von einem hufeisenförmigen Gebäudeensemble umschlossen wird: Den Blickfang im Osten bildet das 1905 bis 1907 von Friedrich von Thiersch erbaute Kurhaus, in dem unter anderem die Spielbank untergebracht ist. Hinter dem Kurhaus erstreckt sich der etwa 6,5 Hektar große, nach Vorbild englischer Gärten angelegte Kurpark.
Im Norden des Bowling Greens stehen die Kurhauskolonnaden, mit 129 m Länge die längste Säulenhalle Europas. Ihr gegenüber die Theaterkolonnaden mit dem 1894 eröffneten Hessischen Staatstheater. Auf der anderen Seite der Wilhelmstraße, gegenüber dem Bowling Green, befindet sich ein Denkmal für Kaiser Friedrich III. sowie das Nobelhotel Nassauer Hof.
Ganz in der Nähe des Bowling Greens liegt der Kranzplatz direkt neben dem Kochbrunnenplatz mit dem Kochbrunnentempel. Der Kochbrunnen ist mit einer Förderleistung von etwa 500.000 Liter pro Tag und einer Temperatur von 67 °C die ergiebigste Wiesbadener Thermalquelle. In der ehemaligen Trinkhalle am Westrand des Platzes befindet sich heute ein Restaurant. Um den Platz gruppierten sich einige der Wiesbadener Grandhotels: so das älteste Hotel Deutschlands, der bereits 1486 gegründete „Schwarze Bock“, das ehemalige „Palasthotel“ – es war das erste überhaupt mit Zimmertelefon – sowie das „Hotel Rose“, in dem seit September 2004 die Hessische Staatskanzlei residiert.
=== Sonstige Innenstadt ===
Unweit des Kranzplatzes steht das historische Kaiser-Friedrich-Bad von 1913, ein römisch-irisches Bad, das von den Thermalquellen mit Wasser beliefert wird, sowie das Römertor, an dem Reste der römischen Heidenmauer erhalten sind.
Die Adolfsallee sowie deren Verlängerung, die Adolfstraße, führt von Süden auf den klassizistischen Luisenplatz mit dem Waterloo-Obelisk als Denkmal für die nassauischen Gefallenen der Schlacht bei Waterloo im Jahre 1815. In der Sichtachse des Platzes steht an seinem Kopfende die katholische Kirche St. Bonifatius in neogotischem Stil mit ihren beiden 68 m hohen Türmen. Sie wurde von 1844 bis 1849 erbaut. Am Luisenplatz, unter dem 1984 eine Tiefgarage gebaut und der dann nach historischem Vorbild wieder angelegt wurde, ist auch der Sitz des Hessischen Kultusministeriums.
Am Südrand des Luisenplatzes verläuft die Rheinstraße nach Westen auf die 1892 bis 1894 von Johannes Otzen erbaute Ringkirche mit ihrem 65 m hohen Zwillingsturm zu. In diesem Bau wurde erstmals das revolutionäre „Wiesbadener Programm“ umgesetzt, das für den evangelischen Kirchenbau in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg richtungsweisend war. An der Rheinstraße stehen auch die Hessische Landesbibliothek mit 600.000 Bänden und historischem Lesesaal, das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie die Hauptverwaltung der Nassauischen Sparkasse.
Die Bahnhofstraße verbindet das Neue Rathaus und die Marktkirche am Schlossplatz mit dem Hauptbahnhof. Der Kopfbahnhof mit zehn Gleisen und seinem 40 m hohen Uhrturm in rotem Sandstein entstand 1904 bis 1906 im Stil des Neobarock. Am Bahnhof beginnt auch die um 1900 angelegte, baumbestandene und mit prächtigen Fassaden versehene Ringstraße.
An deren Ecke zur Moritzstraße steht das Landeshaus, das heute das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung beherbergt. Am Gutenbergplatz, im Rücken des Landeshauses befindet sich die Lutherkirche, die in den Formen des Jugendstils und ebenfalls nach den Grundsätzen des Wiesbadener Programms errichtet wurde.
=== Außerhalb der Innenstadt ===
(Reihenfolge im Uhrzeigersinn)
Vom nördlich der Innenstadt gelegenen Nerotal aus erreicht man mit der 1888 erbauten Nerobergbahn – einer durch Wasserballast betriebenen Standseilbahn – den 245 m hohen Hausberg der Stadt Wiesbaden, den Neroberg. Hier erhebt sich neben dem Städtischen Weingut die Russische Kirche (im Volksmund auch „Griechische Kapelle“ genannt) mit ihren vergoldeten Kuppeln. Daneben befindet sich der Russische Friedhof mit den Gräbern des Malers Alexej von Jawlensky und des Pädagogen und Schriftstellers August Theodor von Grimm. Vom Neroberg mit seinem Monopteros und dem Opelbad bietet sich eine schöne Aussicht auf die Innenstadt bis hin zum Rhein.
Auf der Taunus-Anhöhe Platte liegt das ehemalige klassizistische Jagdschloss Platte, das Herzog Wilhelm I. Anfang des 19. Jahrhunderts errichten ließ. 1945 wurde es bei einem Luftangriff zerstört. Als gesicherte Ruine und mit einem gläsernen Wetterschutzdach versehen, wird es heute als Veranstaltungsort für Feste genutzt.
Die Burg Sonnenberg im Stadtteil Sonnenberg stammt aus dem 13. Jahrhundert und erhebt sich auf einem Felsen inmitten eines engen Tals. Von ihrem Turm aus kann man gut die größtenteils noch erhaltene Stadtmauer von Sonnenberg erkennen.
Aus dem frühen 18. Jahrhundert stammt die als achteckiger Zentralbau ausgeführte barocke Dorfkirche von Naurod am nordöstlichen Rand des Wiesbadener Stadtgebietes.
Die Nikolauskirche im Stadtteil Bierstadt, eine romanische Saalkirche mit Turm aus dem 12. Jahrhundert, ist die älteste Kirche Wiesbadens.
Im Stadtteil Mainz-Kastel ist im Museum Römischer Ehrenbogen das Fundament des „Germanicus-Bogens“ zu sehen. Dieser Ehrenbogen war im Jahr 19 n. Chr. zum Gedenken an den Feldherrn Germanicus Julius Caesar, Sohn des Drusus, erbaut worden und war über 20 m hoch und mehr als 12 m breit. Am Kasteler Rheinufer steht die 1832 bis 1833 als Festung des Deutschen Bundes erbaute Reduit.
Sie beherbergt das Museum Castellum mit Exponaten aus mehreren Epochen der Lokalgeschichte, unter anderem aus der Römerzeit (Castellum Mattiacorum). Im Norden Kastels liegt der 1497 als Teil der Kasteler Landwehr errichtete Rundturm der Erbenheimer Warte und das Fort Biehler.
Die Mosbacher Sande, nach dem ehemaligen Dorf Mosbach zwischen Wiesbaden und Biebrich benannt, sind Fundstätte etwa 600.000 Jahre alter Eiszeittiere. Ein Teil der Fundstätte liegt im gesperrten Gelände des Dyckerhoffbruchs im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Amöneburg. Der Mosbacher Löwe (Panthera leo fossilis) gilt als größter Löwe Europas.
Das barocke Biebricher Schloss entstand 1700 bis 1750 direkt am Rheinufer in Biebrich. Das Residenzschloss der Nassauischen Herzöge liegt am Südende des 50 ha großen Schlossparks, der im Stil englischer Landschaftsgärten mit einem Teich und der Mosburg als künstlicher Ruine angelegt wurde. Hier findet jedes Jahr zu Pfingsten das traditionelle Internationale Pfingstturnier (Dressur- und Springreiten sowie Voltigieren) statt.
Der Schiersteiner Hafen in Wiesbaden-Schierstein mit seiner Regattastrecke bietet eine schöne Hafenpromenade mit mediterranem Flair. Beim alljährlich im Juli stattfindenden Hafenfest mit abschließendem Feuerwerk wird auch ein Drachenboot-Rennen ausgerichtet. Unweit des Hafens steht in den engen Gassen des alten Ortskerns die barocke Christophoruskirche.
Die Nassauische Touristik-Bahn unterhielt bis 2009 auf einem Teilabschnitt der zwischen dem Bahnhof Wiesbaden Ost und Diez stillgelegten Strecke der Aartalbahn einen Museumsbahnbetrieb ausgehend vom Heimatbahnhof Dotzheim, an dem sich ein Eisenbahnmuseum befindet. Die Strecke ist in Hessen als Kulturdenkmal eingestuft und steht unter Denkmalschutz. Sie gilt vom Bahnhof Wiesbaden Ost bis zur Landesgrenze bei Aarbergen-Rückershausen mit 40 Bahn-Kilometern als längstes (technisches) Baudenkmal Hessens.
In Frauenstein steht die gleichnamige Burgruine seit 800 Jahren auf einem Felsen in der Ortsmitte mit einem erhaltenen Bergfried. Rund um das Dorf liegen die ehemaligen nassauischen Wehrhöfe Sommerberg, Armada, Nürnberg und der Grorother Hof.
Am nordwestlichen Stadtrand von Wiesbaden, schon im Waldgebiet des Taunus, ist der Tier- und Pflanzenpark Fasanerie ein beliebtes Ausflugsziel. Von hier aus sind auch Wanderungen zum Chausseehaus und auf den Schläferskopf mit seinem Aussichtsturm möglich.
=== Denkmäler in Wiesbaden ===
== Kultur und Sport ==
=== Theater und sonstige Veranstaltungsorte ===
Das am 16. Oktober 1894 von Kaiser Wilhelm II. feierlich eröffnete heutige Hessische Staatstheater ist das bedeutendste Theater der Stadt. Mit 600 Mitarbeitern bietet es auf insgesamt fünf Bühnen 20 Neuinszenierungen im Jahr. Alljährlich finden hier bereits seit 1896 die Internationalen Maifestspiele statt.
2004 fanden sich zu 886 Aufführungen über 300.000 Besucher ein. Dies bedeutete im Großen Haus eine Auslastung von rund 75 Prozent.
Die Rhein-Main-Hallen an der Ecke Wilhelmstraße/Rheinstraße wurden 1957 eröffnet. Sie bildeten häufig den Rahmen für Messen (zum Beispiel die jährlich stattfindende Verbrauchermesse „HAFA“), Konzerte, Kongresse und sonstige Veranstaltungen. Hier fand auch schon der bekannte von der Deutschen Sporthilfe ausgerichtete Ball des Sports statt.
Insgesamt waren es etwa 110 Veranstaltungen mit 400.000 Besuchern im Jahr. Die Rhein-Main-Hallen wurden seit August 2014 abgerissen und durch den Neubau RheinMain CongressCenter Wiesbaden ersetzt, der 2018 in Betrieb gegangen ist.Das Kurhaus, in dem auch die Spielbank untergebracht ist, beherbergt zwei Festsäle, in denen vor allem im größeren Friedrich-von-Thiersch-Saal ein breit gefächertes Kulturangebot dargeboten wird.
Weitere bekannte Veranstaltungsorte sind der Tattersall, die Kammerspiele Wiesbaden, das Thalhaus und das Kulturzentrum Schlachthof sowie das Velvets Theater, das einzige Schwarzlichttheater Deutschlands.
Außerdem befindet sich in Wiesbaden eine der ältesten Tanzschulen in Deutschland, die Tanzschule Bier, die 1897 gegründet wurde und somit die älteste Tanzschule im Rhein-Main-Gebiet ist.
=== Museen ===
Größtes Museum der Stadt, zugleich Hessisches Landesmuseum, ist das Museum Wiesbaden.
Zu den bedeutendsten Exponaten des Museums zählen die Jugendstil- und Symbolismus-Sammlung von Ferdinand Wolfgang Neess mit vielen Hauptwerken dieser Epoche, die zahlreichen Werke des deutsch-russischen Künstlers Alexej von Jawlensky und eine der ältesten Insektensammlungen mit Schmetterlingen von Maria Sibylla Merian sowie Vögel aus der Sammlung Maximilian zu Wied.
Sehenswert sind darüber hinaus das Stadtmuseum am Markt (sam), das Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne im Schloss und Schlosspark Freudenberg, das Frauen Museum (Wiesbaden), das Deutsch-Jüdische Museum (Aktives Museum Spiegelgasse), das Museum der Burg Sonnenberg, das Harlekinäum, die Ausstellungsräume des Künstlervereins Walkmühle, die Freilichtmuseen mit römischen Ausgrabungsstücken am Römertor sowie einige Heimatmuseen in den Ortsteilen.Seit August 2019 befindet sich das museum reinhard ernst, ein Museum für abstrakte Kunst, im Bau.
=== Bibliotheken und Archive ===
Die Stadt beherbergt mehrere große Bibliotheken. Dazu zählen die Bibliothek des Statistischen Bundesamtes, die größte Spezialbibliothek für Statistik in Deutschland, die Landesbibliothek mit etwa 820.000 Bänden, das Hessische Hauptstaatsarchiv, das unter anderem historisch bedeutende Akten der hessischen Landesministerien aufbewahrt und das Stadtarchiv, das selbst eine Buchreihe herausgibt, die historische und aktuelle Themen Wiesbadens beleuchtet.
Außerdem verfügt Wiesbaden über eine zentrale Stadtbibliothek mit acht Stadtteilbibliotheken, zwei Fahrbibliotheken („Bücherbus“) und einer Musikbibliothek mit insgesamt rund 468.000 Büchern und elektronischen Medien.
2014 bezog die Stadtbibliothek die ehemalige Mauritiusgalerie und wurde räumlich mit Musikbibliothek und Medienzentrum als Mauritius-Mediathek zusammengelegt.Die Villa Clementine an der Wilhelmstraße wird als Literaturhaus genutzt. Hier hat der Presseclub Wiesbaden seinen Sitz und es werden Lesungen und andere Literarische Veranstaltungen angeboten.
=== Sport ===
Im Fußballsport gibt es eine ganze Reihe an Vereinen, die in höheren Ligen spielen oder spielten. An erster Stelle steht dabei aktuell der SV Wehen Wiesbaden, der seit der Saison 2023/24 wieder in der 2. Fußball-Bundesliga spielt.
Seit seinem Umzug zu Saisonbeginn 2007/08 aus dem rund zehn Kilometer von Wiesbaden entfernt liegenden Taunusstein trägt der Verein seine Spiele in der neugebauten Brita-Arena aus. Direkt daneben liegt der Helmut-Schön-Sportpark, in dem der frühere Oberligist SV Wiesbaden seine Heimspielstätte hat, der zurzeit in der siebtklassigen Gruppenliga Wiesbaden spielt. Die FVgg. Kastel 06 spielte in den Jahren 1963/64, 1974/75 und von 1979 bis 1983 in der drittklassigen Amateurliga bzw. Amateur-Oberliga Hessen. Weitere wichtige Fußballvereine Wiesbadens sind bzw. waren die SG Germania Wiesbaden, der FV Biebrich 02 und die SpVgg Nassau Wiesbaden.
Die Frauenmannschaft des 1. VC Wiesbaden spielt derzeit in der Bundesliga, die Männer des TuS Eintracht Wiesbaden spielen in der Regionalliga Volleyball.
Der Wiesbadener Golf-Club wurde 1893 als erster deutsche Golf-Club gegründet. Insgesamt gibt es drei Golfplätze in Wiesbaden, zwei nahe dem Chausseehaus, einer in Delkenheim.Mit der ersten Herren-Mannschaft der Judoka vom Judo Club Wiesbaden 1922 e. V. ist Wiesbaden seit mehreren Jahrzehnten in der ersten Bundesliga vertreten. Der Verein gehört zu den drei ersten Judovereinen in Deutschland. Weitere Abteilungen wie Ju-Jutsu sind international und national sehr erfolgreich.
Mit den Wiesbaden Phantoms verfügt Wiesbaden über ein Footballteam, das von 2010 bis 2013 in der ersten Bundesliga Süd (GFL Süd) gespielt hat.
Die erste Herrenmannschaft der HSG VfR/Eintracht Wiesbaden spielt derzeit in der Handball-Oberliga Hessen, der vierthöchsten Spielklasse Deutschlands. Die Heimspiele der HSG werden am Elsäßer Platz ausgetragen.
Das wahrscheinlich wichtigste sportliche Ereignis ist das alljährlich stattfindende Pfingst-Reitturnier im Biebricher Schlosspark.
Seit 2007 wird in Wiesbaden jährlich im August der Ironman 70.3 Germany ausgetragen – ein Triathlon, dessen Laufstrecke am Kurhaus endet.
Aus dem Schützenverein Biebrich 1864 stammen einige Olympiateilnehmer und -sieger.
Zeitweilig trug auch der nahegelegene, ehemalige Deutsche Meister im Hallenhandball, die SG Wallau/Massenheim ihre Heimspiele in der Halle Elsässer Platz aus.
Sportler des Turnerbundes Wiesbaden nehmen in verschiedenen Sportarten an deutschen Meisterschaften teil. Der 1864 gegründete Verein gehört zu den ältesten Sportvereinen der Stadt.
Zudem gibt es auf dem Neroberg einen Hochseilgarten, den Kletterwald Neroberg. Er bietet drei Parcours sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene.
Eishockey wird in der hessischen Landeshauptstadt unter freiem Himmel auf der Henkell-Kunsteisbahn gespielt. Der EV Wiesbaden 1984 e. V. ICETIGERS spielt dort in der Regionalliga Hessen und konnte in der Saison 2009/10 den Pokalsieg erringen.
Die damalige Schlittenbahn zwischen Hoher Wurzel und Schläferskopf war 1931 Austragungsort der Deutschen Meisterschaft im Rennrodeln.
Mit der Lateinformation des TC Blau-Orange e. V., Aufsteiger in die 2. Bundesliga, beheimatet Wiesbaden die derzeit beste hessische Tanzformation in den lateinamerikanischen Tänzen. Ebenso beheimatet der TC Blau-Orange die Tanzsportgruppe Rollstuhltanz. Im Oktober 2011 fand das 1. Internationale Rollstuhltanzturnier in Wiesbaden („Schloss Biebrich Trophy“) im Schloss Biebrich statt, organisiert vom Tanz-Club Blau-Orange e. V. Wiesbaden und dem Fachbereich Rollstuhltanzen im Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS).
Der Wiesbadener Schachverein 1885 schaffte 2012 den Aufstieg in die Schachbundesliga.
In Wiesbaden wird mit dem ITF Wiesbaden ein internationales Tennisturnier ausgetragen.
Die Sektion Wiesbaden des Deutschen Alpenvereins ist mit rund 5640 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021) der größte Sportverein in Wiesbaden. Er wurde am 23. März 1882 gegründet und ist damit einer der ältesten Vereine Wiesbadens. Die Sektion betreibt die Wiesbadener Hütte im Silvretta.
Im Jahr 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Indonesien ausgewählt.
Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Nachfolgend eine Auswahl der regelmäßigen Wiesbadener Veranstaltungen:
==== Frühjahr ====
Die Wiesbadener Veranstaltungssaison beginnt Ende März/Anfang April mit goEast, einem Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Dieses wurde 2001 vom Deutschen Filminstitut gegründet, um Filme unserer östlichen Nachbarn dem deutschen Zuschauer näher zu bringen. Hauptorte der Vorführungen sind das Festivalkino Caligari und die Villa Clementine.
Im Mai trägt das Hessische Staatstheater die Internationalen Maifestspiele aus, die bereits 1896 das erste Mal stattfanden. Vorbild waren damals die Richard-Wagner-Festspiele von Bayreuth.
Ebenfalls im Mai beginnt mit dem Äppelblütefest im Stadtteil Naurod die Freiluftsaison. Hierbei handelt es sich um ein traditionelles Apfelblütenfest, bei dem in Höfen entlang der Hauptstraße hauptsächlich Apfelwein ausgeschenkt wird. Begleitet wird dies von mehreren Festzelten und Fahrgeschäften.
Der sportlich-gesellschaftliche Höhepunkt findet dann an Pfingsten im Schlosspark zu Biebrich statt: das Internationale Reit- und Springturnier, bei dem regelmäßig alle Größen des internationalen Reitsports vertreten sind. Parallel wird auf dem Kranzplatz in der Innenstadt in direkter Nachbarschaft zur Hessischen Staatskanzlei das Kranzplatzfest ausgerichtet.
==== Sommer ====
Der Sommer beginnt mit einer Großveranstaltung: am zweiten Juniwochenende wird die Wilhelmstraße Schauplatz des Theatriums, das im Volksmund nur Wilhelmstraßenfest genannt wird. Der offizielle Name leitet sich ab aus „Theater“ und lateinisch „atrium“ = „im Freien“. Es handelt sich hierbei um das größte Straßenfest Deutschlands mit rund 400.000 Besuchern am Samstag und Sonntag. Neben kulinarischen Spezialitäten gibt es Musik auf fünf Bühnen. Das Wilhelmstraßenfest gibt es seit 1977.
Im Juli wird die Uferpromenade in Schierstein zur Aussichtsplattform für das Drachenbootrennen im Rahmen des Schiersteiner Hafenfests. Im Juli/August werden zusammen mit der Stadt Mainz zum Teil mit gemeinsamen Touren die Skate Nights ausgetragen.
Ein weiterer Höhepunkt ist dann im August die Rheingauer Weinwoche (umgangssprachlich nur als Weinfest bezeichnet) auf dem Schlossplatz und Dernschen Gelände. Auf der nach Eigenangaben „längsten Weintheke der Welt“ wird an über 100 Ständen ausschließlich Rheingauer Wein ausgeschenkt.
Ende August veranstaltet der Schlachthof das alternative Folklore-Festival in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptbahnhofes. Es löste das Festival Folklore im Garten im Park von Schloss Freudenberg ab, das mit Musik und einem Markt für Kunsthandwerk aufwarten konnte.
==== Herbst ====
Regelmäßig finden in Wiesbadener Galerien und der Wiesbadener Freien Kunstschule die Wiesbadener Fototage statt.
Am ersten Freitag im September findet seit 2001 jährlich die Nacht der Kirchen statt.
Am ersten Wochenende im September wird im Hessischen Staatstheater mit einem Theaterfest ab 14 Uhr die neue Spielzeit eröffnet. Bei freiem Eintritt darf hinter den Kulissen aufregende Theaterluft geschnuppert werden.
Das Taunusstraßenfest findet am ersten Wochenende im September statt. Zwei Tage lang werden die historische Straße und ihre Gebäude als Bühne für faszinierende Kulturspektakel genutzt.
Im Herbst findet jedes Jahr ein Benefizlauf, der sogenannte Charity Walk and Run Wiesbaden im Kurpark statt. Gelaufen wird zugunsten der Bärenherz Stiftung, Humanity First und dem Kinderhospiz Zwergnase.Wiesbaden tanzt! – unter diesem Motto können Mitte September alle Tanzinteressierten zwei Tage lang die Arbeit von Tanzeinrichtungen, Künstlern, Institutionen und Schulen, die im Bereich Tanz in Wiesbaden aktiv sind, kennenlernen.
Beim Stadtfest kann Ende September vier Tage lang an verschiedenen Orten in der Innenstadt gefeiert werden. Auf dem Dern’schen Gelände finden kostenlose Open-Air-Konzerte statt. Neben dem Herbstmarkt rund um den Mauritiusplatz ist das Erntedankfest am Samstag und Sonntag auf dem Warmen Damm besonders beliebt.
Im November findet das exground filmfest in den Kinos der Stadt statt. Ebenfalls im November zeigt die Verbrauchermesse HAFA (= Hessens aktuelle Familien-Ausstellung) in den Rhein-Main-Hallen Neues für den Verbraucher.
==== Winter ====
Ab dem vierten Donnerstag im Oktober bilden die Bleichwiesen in Biebrich die Bühne für den Andreasmarkt. Dieses älteste Wiesbadener Volksfest lässt sich bis in das Jahr 1350 zurückverfolgen.
Der Weihnachtsmarkt, Sternschnuppenmarkt genannt, ist seit einigen Jahren wieder auf dem Schlossplatz und Dernschen Gelände angesiedelt.
An Silvester gibt es schließlich eine große Feier mit Feuerwerk und Musikuntermalung auf dem Bowling Green vor dem Kurhaus.
Ende Februar findet im Kulturforum das „JUST MUSIC – Beyond Jazz Festival“ statt.
==== Fastnacht (Fünfte Jahreszeit) ====
Am Fastnachtssamstag findet in den Vororten Kastel und Kostheim ein Fastnachtsumzug statt, am Fastnachtssonntag folgt dann der große Umzug durch die Wiesbadener Innenstadt, der regelmäßig eine sechsstellige Besucherzahl anzieht. Am Rosenmontag gibt es dann im Vorort Frauenstein noch einen Umzug. Neben den Umzügen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer karnevalistischer Veranstaltungen.
== Persönlichkeiten ==
=== Ehrenbürger ===
Die Stadt Wiesbaden hat seit 1892 27 Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Zu den bekanntesten zählen Wilhelm von Opel, Sohn von Adam Opel, dem Gründer des gleichnamigen Automobilherstellers (Verleihung 1933), Georg-August Zinn, hessischer Ministerpräsident von 1951 bis 1969 (Verleihung 1966), Martin Niemöller, Theologe und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus (Verleihung 1975) und der Chemiker Wilhelm Nils Fresenius (Verleihung 1985). Daneben wurden auch einige ehemalige Oberbürgermeister mit dem Titel geehrt, darunter Georg Krücke (1955), Georg Buch (1968) und Rudi Schmitt (1995).
=== Wiesbadener Maler und Bildhauer ===
== Postleitzahlen und Telefonvorwahlen ==
Während in der Stadt die Zustellpostleitzahlen von 65183 bis 65207 gelten, haben Kastel mit der 55252 und Kostheim mit der 55246 besondere Postleitzahlen der Leitregion 55 (Mainz).
Die Stadt hat die Telefonvorwahl 0611. Hier gibt es mehrere Ausnahmen:
Die Vorwahl 06122 gilt in Breckenheim, Delkenheim, Medenbach und Nordenstadt.
Die Vorwahl 06127 gilt in Auringen und Naurod.
Die Vorwahl 06134 gilt in Kastel und Kostheim.
== Trivia ==
Der Asteroid (717) Wisibada wurde nach der aus dem Mittelalter überlieferten Form des Namens Wiesbaden benannt. Namensgeber war der Astronom Franz Kaiser, der hier geboren wurde.
Nach der Stadt benannt ist auch die in die Berliner Sammlung Kalligraphie aufgenommene Schriftart Wiesbaden Swing, eine Schreibschrift der Biebricher Kalligraphin Rosemarie Kloos-Rau.Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski verspielte während seiner Deutschlandreise 1865 in Wiesbaden seine Reisekasse und wählte die Kurstadt offenbar als Vorlage des fiktiven Schauplatzes Roulettenburg seines 1866 verfassten Romans Der Spieler.
== Literatur ==
Dirk M. Becker: Wiesbaden – Der literarische Stadtführer. 2., aktualisierte Auflage. Universum Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-89869-250-2.
Dirk M. Becker: vivat Wiesbaden. Spaziergänge zwischen Tradition und Moderne. Universum Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89869-141-1.
Bernd Blisch: Kleine Wiesbadener Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7917-2327-3.
Thomas Weichel: Die Bürger von Wiesbaden. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-56126-X.
Fritz Mielert: Wiesbaden. (= Berühmte Städte, Bäder, Landschaften. Band 1). Verlag Wilhelm Ruhfus, Dortmund 1926.
Tanja Köhler, Norbert Wank: Wiesbaden. Dumont-Reiseverlag, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7701-6533-9 (aus der Reihe DUMONT direkt).
Geschichtswerkstatt Wiesbaden e. V. (Hrsg.): Wiesbaden und Rheingau zu Fuß. 22 Rundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Edition 6065, Wiesbaden 2002, ISBN 3-9804715-8-6.
Klaus Kopp: Wasser von Taunus, Rhein und Ried: aus 2 Jahrtausenden Wiesbadener Wasserversorgung. Stadtwerke Wiesbaden AG, Wiesbaden 1986, ISBN 3-9801288-0-6.
Bildung für alle! Kulturleben und Bildungsstreben in Wiesbaden seit 1800. EDITION 6065. Wiesbaden 2000, ISBN 3-9804715-7-8.
Oswald Burger, Hansjörg Straub: Die Levingers. Eine Familie in Überlingen. Edition Isele, Eggingen 2002, ISBN 3-86142-117-8 (Geschildert wird neben der Überlinger Zeit auch die Zeit in Wiesbaden während der NS-Zeit und als Mitglied der Wiesbadener Casino-Gesellschaft.)
Manfred Gerber: Das Kurhaus Wiesbaden. Kaleidoskop eines Jahrhunderts. Monumente-Publikationen der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Bonn 2007, ISBN 978-3-936942-84-2.
Gerhard Honekamp, Wolfgang Jung, Hartmann Wunderer (Hrsg.): Alltag zwischen Mächtigen und Müßiggängern – Historische Erkundungen in Wiesbaden und Umgebung M. Breuer, Wiesbaden 1995, ISBN 3-9804701-0-5.
Gerhard Honekamp (Hrsg.): Wiesbaden – Hinterhof und Kurkonzert. Eine illustrierte Alltagsgeschichte von 1800 bis heute. Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 1996, ISBN 3-86134-350-9.
Gerhard Honekamp: Literatur zur Wiesbadener Stadtgeschichte – eine Zusammenstellung wenig bekannter Titel. In: Alltag, Kultur und große Politik – Wiesbadener Stadtgeschichte in Quellen und Kommentaren. Heft 2: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 127–129.
Till Lachmann: Im Fokus: die kreisfreie Stadt Wiesbaden. In: Hessisches Statistisches Landesamt (Hrsg.): Staat und Wirtschaft in Hessen. Nr. 1/2, 2013, S. 21–27. @1@2Vorlage:Toter Link/www.statistik-hessen.destatistik-hessen.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven.)
Helmut Müller (Hrsg.): Wunderland. Die Amerikaner in Wiesbaden. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-95542-055-0.#
Marion Mink: Kleine Geschichte der Stadt Wiesbaden, Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe 2016, ISBN 978-3-7650-2201-2.
Cornelia Röhlke (Hrsg.): Wiesbaden. Das Stadtlexikon. Theiss, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-8062-2584-6.
Literatur über Wiesbaden nach Register nach GND In: Hessische Bibliographie
Bärbel Klein: Glücksorte in Wiesbaden. Droste-Verlag, ISBN 978-3-7700-2144-4 (Erscheinungsdatum 1. Auflage: August 2019, 2. Auflage April 2022)
== Filme ==
Bilderbuch Deutschland: Wiesbaden: Nizza des Nordens. Produktion: hr, Erstsendung: 19. November 2006 (Inhaltsangabe (Memento vom 1. Oktober 2007 im Internet Archive))
== Siehe auch ==
== Weblinks ==
Wiesbaden, Stadt Wiesbaden. Historisches Ortslexikon für Hessen. In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Offizielle Webpräsenz der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden
Linkkatalog zum Thema Wiesbaden bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Wiesbaden (Memento vom 12. Januar 2012 im Internet Archive) in der Fotokollektion von Schloss Doorn
Wiesbaden im Bild
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Wiesbaden |
Gallium | = Gallium =
Gallium ist ein selten vorkommendes chemisches Element mit dem Elementsymbol Ga und der Ordnungszahl 31. Im Periodensystem steht es in der 4. Periode und ist das dritte Element der 3. Hauptgruppe, 13. IUPAC-Gruppe, oder Borgruppe. Es ist ein silberweißes, leicht zu verflüssigendes Metall. Gallium kristallisiert nicht in einer der sonst häufig bei Metallen anzutreffenden Kristallstrukturen, sondern in seiner stabilsten Modifikation in einer orthorhombischen Struktur mit Gallium-Dimeren. Daneben sind noch sechs weitere Modifikationen bekannt, die sich bei speziellen Kristallisationsbedingungen oder unter hohem Druck bilden. In seinen chemischen Eigenschaften ähnelt das Metall stark dem Aluminium.
In der Natur kommt Gallium nur in geringem Umfang und meist als Beimischung in Aluminium-, Zink- oder Germaniumerzen vor; Galliumminerale sind sehr selten. Gallium wird auch als Nebenprodukt bei der Produktion von Aluminium oder Zink gewonnen. Der größte Teil des Galliums wird zum III-V-Verbindungshalbleiter Galliumarsenid weiterverarbeitet, der vor allem in der Hochfrequenztechnik, beispielsweise für HF-Transistoren, und in der Optoelektronik, beispielsweise für Leuchtdioden, verwendet wird.
== Geschichte ==
Erstmals wurde ein dem später Gallium genanntem entsprechendes Element 1871 von Dmitri Mendelejew vorausgesagt. Er prognostizierte mit Hilfe des von ihm entwickelten Periodensystems ein neues, Eka-Aluminium genanntes Element und sagte auch einige Eigenschaften dieses Elementes (Atommasse, spezifisches Gewicht, Schmelzpunktlage und Art der Salze) voraus.Der französische Chemiker Paul Émile Lecoq de Boisbaudran, der Mendelejews Voraussagen nicht kannte, hatte herausgefunden, dass in der Linienabfolge im Linienspektrum von Elementfamilien bestimmte Gesetze herrschen, und versuchte, diese für die Aluminiumfamilie zu bestätigen. Dabei erkannte er, dass zwischen Aluminium und Indium ein weiteres, noch unbekanntes Element stehen müsse. 1875 gelang es ihm schließlich, im Emissionsspektrum von Zinkblende-Erz, das er in Säure gelöst und mit metallischem Zink versetzt hatte, zwei violette Spektrallinien nachzuweisen, die er dem unbekannten Element zuordnete.Anschließend konnte Lecoq de Boisbaudran aus einigen hundert Kilogramm Zinkblende eine größere Menge Galliumhydroxid gewinnen. Daraus stellte er durch Lösen in einer Kaliumcarbonatlösung und Elektrolyse erstmals elementares Gallium dar.Lecoq de Boisbaudran benannte das Element nach Gallien, der lateinischen Bezeichnung seines Heimatlandes Frankreich.Nachdem die Eigenschaften des neuen Elementes bestimmt waren, erkannte Mendelejew schnell, dass es sich dabei um das von ihm vorausberechnete Eka-Aluminium handeln müsse. Viele Eigenschaften stimmten sehr genau mit den vorausberechneten Werten überein. So wich der theoretisch ermittelte Wert der Dichte von 5,9 nur sehr wenig vom experimentellen von 5,904 ab.
== Vorkommen ==
Gallium ist auf der Erde ein seltenes Element. Mit einem Gehalt von 19 ppm in der kontinentalen Erdkruste ist seine Häufigkeit vergleichbar mit derjenigen von Lithium und Blei. Es kommt nicht elementar, sondern nur gebunden vor, vorwiegend in Aluminium-, Zink- oder Germaniumerzen. Zu den galliumreichsten Erzen zählen Bauxite, Zinkblende-Erze und Germanit.
Die Galliumgehalte sind meist gering; so enthält der in Surinam gefundene Bauxit mit dem höchsten bekannten Gehalt nur 0,008 % Gallium. Die weltweit in Bauxit befindlichen Galliumreserven werden auf 1,6 · 106 Tonnen geschätzt. Höhere Gehalte mit bis zu 1 % Gallium kommen in Germanit vor. Lediglich in der Apex-Mine im US-Bundesstaat Utah kommen so hohe Gehalte in den Erzen vor, dass ein Abbau zur Galliumgewinnung versucht wurde. Dies scheiterte jedoch nach kurzer Zeit aus Rentabilitätsgründen.Nur wenige Galliumminerale sind bekannt; zu diesen zählen die vorwiegend in Tsumeb in Namibia gefundenen Gallit (CuGaS2), Söhngeit (Ga(OH)3) und Tsumgallit (GaO(OH)).
== Gewinnung und Darstellung ==
Gallium wird als Nebenprodukt bei der Aluminiumherstellung aus Bauxit im Bayer-Verfahren gewonnen. Als Ausgangsprodukt dient das dabei in Natronlauge gelöste Gemisch von Natriumaluminat und Natriumgallat. Durch verschiedene Verfahren kann hieraus Gallium vom Aluminium getrennt werden. Eine Möglichkeit ist die fraktionierte Kristallisation mit Hilfe von Kohlenstoffdioxid, wobei zunächst bevorzugt Aluminiumhydroxid ausfällt, während sich das leichter lösliche Natriumgallat in der Natronlauge anreichert. Erst nach weiteren Prozessschritten wird Galliumhydroxid gefällt, vermischt mit Aluminiumhydroxid. Anschließend wird das Gemisch in Natronlauge gelöst und Gallium durch Elektrolyse gewonnen. Da dieses Verfahren energie- und arbeitsaufwendig ist, wird es nur in Ländern mit geringen Kosten dafür, etwa der Volksrepublik China, angewendet.Gallium kann auch direkt durch Elektrolyse aus der Natronlauge gewonnen werden. Dazu werden Quecksilberkathoden eingesetzt, wobei sich bei der Elektrolyse ein Galliumamalgam bildet. Auch das Versetzen der Lösung mit Natriumamalgam ist möglich.
Mit Hilfe spezieller Hydroxychinoline als Chelatliganden ist es möglich, Gallium aus der Natronlauge mit Kerosin zu extrahieren und so vom Aluminium zu trennen. Weitere Elemente, die dabei ebenfalls extrahiert werden, können mit verdünnten Säuren abgetrennt werden. Anschließend wird die verbliebene Galliumverbindung in konzentrierter Salz- oder Schwefelsäure gelöst und elektrolytisch zum Metall reduziert. Im Labormaßstab lässt sich Gallium durch Elektrolyse einer Lösung von Galliumhydroxid in Natronlauge an Platin- oder Wolfram-Elektroden darstellen.Für viele technische Anwendungen wird sehr reines Gallium benötigt; für Halbleiter beispielsweise darf es mitunter nur ein Hundertmillionstel an Fremdstoffen enthalten. Mögliche Reinigungsverfahren sind Vakuumdestillation, fraktionierte Kristallisation oder Zonenschmelzen.Die Menge an produziertem Gallium ist gering, aber aufgrund der zunehmenden Verwendung in der Halbleiterindustrie stark steigend. 2008 betrug die Weltprimärproduktion 95 Tonnen, im Jahr 2021 schon geschätzt 430 Tonnen, davon 225 t hochreines Gallium. Hauptproduktionsland von primärem Gallium mit fast 97 % Weltmarktanteil im Jahr 2020 war China. Da es nach 2012 zu einem Überschuss an Gallium und damit Preisverfall kam, stellten damals viele Länder die Primärproduktion von Gallium ein. Kasachstan z. B. 2013, Ungarn 2015, Deutschland 2016, Großbritannien 2018 und die Ukraine 2019. Wegen steigender Preise 2020 und 2021 kündigte Deutschland eine Wiederaufnahme der Primärproduktion von Gallium für Ende 2021 an. Eine weitere wichtige Quelle ist das Wiederaufbereiten von galliumhaltigen Abfällen, daraus wurden 2008 weitere 135 Tonnen Gallium gewonnen. Galliumrecycling findet in den Vereinigten Staaten, Japan, der Slowakei, Deutschland, der Volksrepublik China und Kanada statt. Die weltweiten Reserven an Gallium sind unbekannt, durchschnittlich enthalten jedoch Bauxit und manche Zinkerze ca. 50 ppm Gallium. Somit ergibt sich aus den weltweit bekannten Bauxitreserven eine rechnerische Menge von ca. 1 Mio. Tonnen Gallium, wovon aber nur 10 % als gewinnbar gelten.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Gallium ist ein silberweißes, weiches (Mohs-Härte: 1,5) Metall. Es hat einen für Metalle ungewöhnlich niedrigen Schmelzpunkt, der bei 29,76 °C liegt. Es ist damit nach Quecksilber und Caesium das Metall mit dem niedrigsten Schmelzpunkt, der auch deutlich unter denjenigen der benachbarten Elemente Aluminium und Indium liegt. Verantwortlich hierfür ist wahrscheinlich die ungewöhnliche Kristallstruktur, die im Gegensatz zu den Strukturen anderer Metalle keine hohe Symmetrie aufweist und daher nicht sehr stabil ist. Da der Siedepunkt mit 2400 °C vergleichsweise hoch liegt, besitzt Gallium einen ungewöhnlich großen Bereich, in dem es flüssig ist. Auf Grund der schwierigen Kristallisation lässt sich flüssiges Gallium leicht unter den Schmelzpunkt abkühlen (Unterkühlung) und kristallisiert bei der Bildung von Kristallisationskeimen schlagartig. Typische Werte der Unterkühlung liegen bei Temperaturunterschieden von 40 bis 70 °C. Schmelzpunkt und Gefrierpunkt werden durch Verminderung der Größe verringert, so weist ein 35 nm großer Partikel Gallium eine Schmelztemperatur von ca. −14,7 °C und eine Gefriertemperatur von ca. −128,3 °C auf. Die physikalischen Eigenschaften verändern sich durch den fest-flüssigen Phasenübergang. So sinkt die elektrische Leitfähigkeit am Phasenübergang von ca. 0,71 · 105 S/cm (Feststoff) auf 0,38· 105 S/cm (Flüssigkeit). Weiterhin besitzt Gallium – wie Silicium, einige andere Elemente und Wasser – eine Dichteanomalie; seine Dichte ist im flüssigen Zustand um etwa 3,2 % höher als in fester Form und liegt bei ca. 6,09 g/cm³. Dies ist typisch für Stoffe, die im festen Zustand molekulare Bindungen besitzen. Weitere wichtige Parameter für Flüssigkeiten sind die Oberflächenspannung und die Viskosität. Die Oberflächenspannung wurde von vielen Wissenschaftlern gemessen und man hat sich auf einen Wert von ca. 711 mN/m geeinigt (zum Vergleich liegt die Oberflächenspannung von Wasser bei ca. 72,7 mN/m). Die Oberflächenspannung sinkt durch Oxidation (Gallium oxidiert an der Luft spontan und schnell) auf etwa die Hälfte des ursprünglichen Wertes (ca. 360 mN/m), ist jedoch schwer zu messen, da sich die Oxidschicht wie ein Feststoff verhält und somit eine Fließgrenze entsteht. Die Viskosität von flüssigem Gallium liegt bei ca. 2,0 mPa·s.Gallium ist im festen Zustand diamagnetisch, wird jedoch im flüssigen Zustand paramagnetisch (χm = 2,4 · 10−6 bei 40 °C).Charakteristisch für seine Strukturen ist das Ausbilden von Gallium-Gallium-Bindungen. Es sind verschiedene Modifikationen bekannt, die sich bei unterschiedlichen Kristallisationsbedingungen (vier bekannte Modifikationen, α- bis δ-Gallium, unter Normaldruck) und unter Druck bilden (insgesamt drei weitere Hochdruckmodifikationen, Ga-II, Ga-III, Ga-IV). Die bei Raumtemperatur stabilste Modifikation ist das α-Gallium, das in einer orthorhombischen Schichtstruktur kristallisiert. Dabei bilden jeweils zwei über eine kovalente Bindung aneinander gebundene Atome ein Dimer. Jedes Galliumatom grenzt zusätzlich an sechs weitere Atome anderer Dimere. Zwischen den einzelnen Dimeren herrschen metallische Bindungen. Die Galliumdimere sind so stabil, dass sie auch beim Schmelzen zunächst erhalten bleiben und auch in der Gasphase nachweisbar sind.Weitere Modifikationen bilden sich bei der Kristallisation von unterkühltem, flüssigem Gallium. Bei −16,3 °C bildet sich β-Gallium, das eine monokline Kristallstruktur besitzt. In der Struktur liegen parallel angeordnete Zickzackketten aus Galliumatomen vor. Tritt die Kristallisation bei einer Temperatur von −19,4 °C ein, bildet sich trigonales δ-Gallium, in dem vergleichbar mit α-Bor verzerrte Ikosaeder aus zwölf Galliumatomen vorliegen. Diese sind über einzelne Galliumatome miteinander verbunden. Bei −35,6 °C entsteht schließlich γ-Gallium. In dieser orthorhombischen Modifikation bilden sich Röhren aus miteinander verbundenen Ga7-Ringen aus, in deren Mitte eine lineare Kette aus weiteren Galliumatomen liegt.Wird Gallium bei Raumtemperatur unter hohen Druck gesetzt, so bilden sich bei Druckerhöhung nacheinander verschiedene Hochdruckmodifikationen. Ab 30 kbar ist die kubische Gallium-II-Modifikation stabil, bei der jedes Atom von jeweils acht weiteren umgeben ist. Wird der Druck auf 140 kbar erhöht, kristallisiert das Metall nun als tetragonales Gallium-III in einer Struktur, die derjenigen des Indiums entspricht. Wird der Druck weiter auf etwa 1200 kbar erhöht, bildet sich schließlich die kubisch-flächenzentrierte Struktur des Gallium-IV.
=== Chemische Eigenschaften ===
Die chemischen Eigenschaften von Gallium ähneln denen des Aluminiums. Wie dieses ist Gallium durch die Bildung einer dichten Oxidschicht an der Luft passiviert und reagiert nicht. Erst in reinem Sauerstoff bei hohem Druck verbrennt das Metall mit heller Flamme unter Bildung des Oxides. Ähnlich reagiert es auch nicht mit Wasser, da sich hierbei das unlösliche Galliumhydroxid bildet. Ist dagegen Gallium mit Aluminium legiert und das Eutektikum bei Raumtemperatur flüssig, so reagiert es sehr heftig mit Wasser. Auch mit Halogenen reagiert Gallium schnell unter Bildung der entsprechenden Salze GaX3.
Gallium ist amphoter und sowohl in Säuren als auch in Basen unter Wasserstoffentwicklung löslich. In Säuren bilden sich analog zu Aluminium Salze mit Ga3+-Ionen, in Basen Gallate der Form [Ga(OH)4]−. In verdünnten Säuren löst es sich dabei langsam, in Königswasser und konzentrierter Natronlauge schnell. Durch Salpetersäure wird Gallium passiviert.
2
NaOH
+
2
Ga
+
6
H
2
O
⟶
2
Na
[
Ga
(
OH
)
4
]
+
3
H
2
↑
{\displaystyle {\ce {2NaOH + 2Ga + 6H2O -> 2Na[Ga(OH)4] + 3H2 ^}}}
Reaktion von Gallium mit NatronlaugeDie meisten Metalle werden von flüssigem Gallium angegriffen. Es wird meist in Kunststoffbehältern, z. B. aus Polystyrol, aufbewahrt. Als Reaktionsgefäße kommen Behälter aus Glas, Quarz, Graphit, Aluminiumoxid, Wolfram bis 800 °C und Tantal bis 450 °C zum Einsatz.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 31 Galliumisotope zwischen 56Ga und 87Ga und weitere elf Kernisomere bekannt. Von diesen sind zwei, 69Ga und 71Ga stabil und kommen auch in der Natur vor. In der natürlichen Isotopenzusammensetzung überwiegt 69Ga mit 60,12 %, 39,88 % sind 71Ga. Von den instabilen Isotopen besitzt 67Ga mit 3,26 Tagen die längste Halbwertszeit, die übrigen Halbwertszeiten reichen von Sekunden bis maximal 14,1 Stunden bei 72Ga.Zwei Galliumisotope, 67Ga und das mit 67,71 Minuten Halbwertszeit kurzlebige 68Ga werden in der Nuklearmedizin als Tracer für die Positronen-Emissions-Tomographie genutzt. 67Ga wird dabei in einem Cyclotron erzeugt, während bei der Erzeugung von 68Ga kein Cyclotron nötig ist. Stattdessen wird das längerlebige Germaniumisotop 68Ge durch Bestrahlung von 69Ga mit Protonen erzeugt. Dieses zerfällt zu 68Ga, wobei das entstandene 68Ga in einem Gallium-68-Generator extrahiert werden kann. Für Untersuchungen wird das Gallium in der Regel in einem Komplex mit einem stark chelatisierenden Liganden wie 1,4,7,10-Tetraazacyclododecan-1,4,7,10-tetraessigsäure (DOTA) gebunden.→ Liste der Gallium-Isotope
== Verwendung ==
Auf Grund der Seltenheit des Elementes wird Gallium nur in geringem Umfang verwendet. Aus dem größten Teil des produzierten Galliums werden verschiedene Galliumverbindungen hergestellt. Die mit Abstand ökonomisch wichtigsten sind die mit Elementen der 5. Hauptgruppe, vor allem Galliumarsenid, das unter anderem für Solarzellen und Leuchtdioden benötigt wird. Im Jahre 2003 wurden 95 % des produzierten Galliums hierzu verarbeitet. Daneben dient es auch als Material zur Dotierung von Silicium (p-Dotierung).Der große Temperaturbereich, in dem das Element flüssig ist, und der gleichzeitig niedrige Dampfdruck werden für den Bau von Thermometern (als Bestandteil von Galinstan) ausgenutzt. Galliumthermometer lassen sich bis zu Temperaturen von 1200 °C einsetzen. Flüssiges Gallium kann als Sperrflüssigkeit zur Volumenmessung von Gasen bei höheren Temperaturen sowie als flüssiges Elektrodenmaterial bei der Gewinnung von Reinstmetallen wie Indium verwendet werden.Gallium besitzt eine hohe Benetzbarkeit und ein gutes Reflexionsvermögen und wird darum als Beschichtung für Spiegel eingesetzt. Zudem wird es in Schmelzlegierungen, für Wärmetauscher in Kernreaktoren und als Ersatz für Quecksilber in Lampen eingesetzt.Legierungen von Gallium mit anderen Metallen haben verschiedene Einsatzgebiete. Magnetische Werkstoffe entstehen durch Legieren mit Gadolinium, Eisen, Yttrium, Lithium und Magnesium. Die Legierung mit Vanadium in der Zusammensetzung V3Ga ist ein Supraleiter mit der vergleichsweise hohen Sprungtemperatur von 16,8 K. In Kernwaffen wird es mit Plutonium legiert, um Phasenumwandlungen zu verhindern. Viele Galliumlegierungen wie Galinstan sind bei Raumtemperatur flüssig und können das giftige Quecksilber oder die sehr reaktiven Natrium-Kalium-Legierungen ersetzen. Legierungen von Indium oder Gallium mit Gold können eine blaue Farbe aufweisen.Aufgrund seines niedrigen Schwellenwerts für den Neutrinoeinfang von nur 233,2 keV eignet sich Gallium als Detektormaterial zum Nachweis solarer Neutrinos (vgl. Sonnenneutrinoexperiment GALLEX).
Außerdem spielt Gallium eine Rolle in der medizinischen Diagnostik: Bei der Gallium-68-Dotatate-PET-CT-Ganzkörperuntersuchung wird das Element genutzt, um neuroendokrine Tumoren zu diagnostizieren.
== Nachweis ==
Gallium lässt sich mit verschiedenen typischen Farbreaktionen qualitativ nachweisen. Dazu zählen die Reaktion mit Rhodamin B in Benzol, das bei Zusatz von Gallium orangegelb bis rotviolett fluoresziert, Morin, das wie bei der Reaktion mit Aluminium eine grüne Fluoreszenz zeigt, und Kaliumhexacyanidoferrat(III), mit dem Gallium einen weißen Niederschlag aus Galliumhexacyanidoferrat(III) bildet. Zudem ist ein spektroskopischer Nachweis über die charakteristischen violetten Spektrallinien bei 417,1 und 403,1 nm möglich.Quantitative Nachweise können über komplexometrische Titrationen, beispielsweise mit Ethylendiamintetraessigsäure oder über die Atomabsorptionsspektrometrie, erfolgen.
== Toxikologie und biologische Bedeutung ==
Für Galliummetall existieren keine toxikologischen Daten; es wirkt jedoch reizend auf Haut, Augen und Atemwege. Die Verbindungen Gallium(III)-nitrat Ga(NO3)3 und Gallium(III)-oxid Ga2O3 besitzen orale LD50-Werte im Grammbereich: 4,360 g/kg für das Nitrat und 10 g/kg für das Oxid. Gallium wird daher als gering toxisch angesehen und spielt, soweit bekannt, als Spurenelement keine Rolle für den Menschen.
== Verbindungen ==
Gallium kommt in Verbindungen fast ausschließlich in der Oxidationsstufe +3 vor. Daneben sind seltene und meist sehr instabile Gallium(I)-Verbindungen bekannt sowie solche, die sowohl ein- als auch dreiwertiges Gallium enthalten (formal Gallium(II)-Verbindungen).
=== Verbindungen mit Elementen der Stickstoffgruppe ===
Die technisch wichtigsten Verbindungen des Galliums sind diejenigen mit den Elementen der Stickstoffgruppe. Galliumnitrid, Galliumphosphid, Galliumarsenid und Galliumantimonid sind typische Halbleiter (III-V-Halbleiter) und werden für Transistoren, Dioden und andere Bauteile der Elektronik verwendet. Insbesondere Leuchtdioden verschiedener Farben werden aus Gallium-Stickstoffgruppen-Verbindungen hergestellt. Die von der Bandlücke abhängige Farbe kann dabei durch das unterschiedliche Verhältnis der Anionen oder auch durch das Ersetzen von Gallium durch Aluminium oder Indium eingestellt werden. Galliumarsenid wird darüber hinaus für Solarzellen verwendet. Insbesondere bei Satelliten werden diese eingesetzt, da Galliumarsenid widerstandsfähiger gegen ionisierende Strahlung als Silicium ist.
=== Halogenide ===
Galliumhalogenide der Form GaX3 ähneln in vielen Eigenschaften den entsprechenden Aluminiumverbindungen. Mit Ausnahme des Gallium(III)-fluorides kommen sie als Dimer in einer Aluminiumbromidstruktur vor. Als einziges Halogenid hat Gallium(III)-chlorid eine geringe wirtschaftliche Bedeutung. Es wird als Lewis-Säure in Friedel-Crafts-Reaktionen eingesetzt.
=== Weitere Verbindungen ===
Gallium(III)-oxid ist wie Aluminiumoxid ein farbloser, hochschmelzender Feststoff. Es kommt in fünf verschiedenen Modifikationen vor, von denen die kubische β-Modifikation am stabilsten ist.
Organische Galliumverbindungen existieren als Gallane GaR3, Gallylene GaR und als höhere Gallane, die Gallium-Gallium-Bindungen enthalten. Sie sind wie viele andere metallorganische Verbindungen instabil gegen Luft und Hydrolyse. Eine der wenigen galliumorganischen Verbindungen mit wirtschaftlicher Bedeutung ist Trimethylgallium, das als Dotierungsreagenz und für die Erzeugung dünner Schichten an Galliumarsenid und Galliumnitrid in der metallorganischen Gasphasenepitaxie eingesetzt wird.Einen Überblick über Galliumverbindungen gibt die Kategorie:Galliumverbindung.
== Literatur ==
J. F. Greber: Gallium and Gallium Compounds. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. 7. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2005, doi:10.1002/14356007.a12_163.
Eintrag zu Gallium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 20. Juni 2014.
== Weblinks ==
Video: Schmelzendes Gallium
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Herbert Hoover | = Herbert Hoover =
Herbert Clark Hoover (* 10. August 1874 in West Branch, Iowa; † 20. Oktober 1964 in New York City, New York) war ein amerikanischer Politiker der Republikanischen Partei und von 1929 bis 1933 der 31. Präsident der Vereinigten Staaten.
Als Bergbauingenieur und Unternehmer wohlhabend geworden, gründete er zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Kommission für das Belgische Hilfswerk und wurde bald darauf von Woodrow Wilson zum Leiter der United States Food Administration berufen, womit erhebliche exekutive Vollmachten verbunden waren. Nach dem Krieg unterstützte er mit der American Relief Administration den Wiederaufbau und die Lebensmittelversorgung in Europa. Im Jahr 1921 wurde er Handelsminister unter Warren G. Harding und später Calvin Coolidge.
Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl 1928 waren mit seinem Amtsantritt optimistische Erwartungen verbunden. Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise, die in Amerika zur Great Depression und Massenverelendung führte, und seinen als mitleidlos wahrgenommenen politischen Gegenmaßnahmen sank seine Popularität rapide, so dass er bei der Präsidentschaftswahl 1932 gegen Franklin D. Roosevelt keine Chance hatte. Er schied als einer der unbeliebtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte aus dem Amt.
Nach seiner Präsidentschaft engagierte er sich wieder in der Lebensmittelhilfe und war unter anderem maßgeblich an der Einführung der Hoover-Speisung und Gründung der UNICEF beteiligt.
== Leben ==
=== Elternhaus und Bildung ===
Herbert Hoover kam in West Branch, Iowa zur Welt. Seine Vorfahren waren seit sechs Generationen Quäker und hatten überwiegend britische und zu einem Teil Schweizer Wurzeln. In der Mitte des 18. Jahrhunderts waren sie aus unterschiedlichen Gründen in die Dreizehn Kolonien ausgewandert. Der Vater Jessie Clark Hoover (1846–1880) stammte aus dem Miami County, Ohio und hatte schweizerische Vorfahren, die den ursprünglichen Namen Huber getragen hatten. Die Mutter, geborene Huldah Randall Minthorn (1848–1884) kam aus einer Quäker-Siedlung in der Provinz Kanada und hatte englische Vorfahren. Herbert Hoover hatte einen älteren Bruder, Theodor, und eine jüngere Schwester, Mary. Als der Vater seine Schmiede verkaufte und einen Laden für landwirtschaftlichen Bedarf eröffnete, hatte er damit geschäftlichen Erfolg, bezog mit seiner Familie ein größeres Haus und wurde in den Stadtrat gewählt. Als Hoover sechs Jahre alt war, starb sein Vater an Typhus. 1884 erlag seine Mutter Huldah einer Lungenentzündung, in der Folge wurde er von unterschiedlichen Verwandten aufgenommen. 1885 kam er schließlich zu seinem Onkel John Minthorn nach Newberg, Oregon. Dort besuchte Hoover die Friends Pacific Academy, die heutige George Fox University, deren Leiter und Begründer sein Onkel war. 1888 verließ Hoover die Schule, um Minthorn zu unterstützen, der nun als Grundstücksmakler in Salem arbeitete und den Geschäftssinn seines Neffen früh erkannte. Abends besuchte er ein Business College, wo er Mathematik lernte.Durch eine zufällige Begegnung mit einem Bergbauingenieur erwachte Hoovers Interesse an einem derartigen Studium an der neu gegründeten Leland Stanford University. Obwohl er die Highschool nicht abgeschlossen hatte und durch die Aufnahmeprüfung fiel, wurde er vorbehaltlich einer erfolgreichen Testwiederholung als jüngster Student für den ersten Jahrgang der Universität zugelassen. Hoover finanzierte seine akademische Ausbildung mit Gelegenheitsarbeiten. Noch als Freshman lernte er den Leiter des Geologischen Instituts John Casper Branner kennen, für den er in der Folge arbeitete. Unter anderem kartierte Hoover geologische Aufschlüsse und unterstützte Branner beim Erstellen einer Reliefkarte von Arkansas für die Chicago World’s Fair, die mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Mit Waldemar Lindgren war er für das United States Geological Survey in der Wüste von Nevada und der Sierra Nevada tätig. In den späteren Semestern wurde er zur Führungsperson der barbarians, die Außenseiter wie ihn als Mitglied hatten, und trat mit ihnen bei den Campuswahlen gegen die elitären griechischen Fraternities und Sororities an. Außerdem wurde Hoover Hauptverantwortlicher für die Finanzen der Baseball- und American Footballmannschaft der Universität sowie zum Kassenwart seines Semesters gewählt. Im vierten und letzten Jahr seines Studiums lernte er in Stanford seine spätere Gattin, die Bankierstochter Lou Henry kennen, die dort ihr Geologiestudium begann. Da er immer noch weitgehend mittellos war, stellte er ihr keinen Heiratsantrag.
=== Ingenieurstätigkeit ===
Nach dem Studium im Jahr 1895 arbeitete er erst als einfacher Arbeiter in einer Goldmine, später als Kopist und dann in der leitenden Verwaltung und Inspektion neuer Minen und Abbaugebiete im New-Mexico-Territorium und Colorado. Um für das renommierte Londoner Unternehmen Bewick, Moreing & Co, welches einen mindestens 35-jährigen Ingenieur für Minenerkundung in Australien suchte, arbeiten zu können, ließ sich Hoover einen Bart wachsen, um älter auszusehen, bauschte seine Qualifikationen auf und stellte sich in London erfolgreich Charles Algernon Moreing vor.Trotz der harten klimatischen Bedingungen und strapaziösen Wüstentouren zu entlegenen Minen ging Hoover in dieser neuen Tätigkeit auf. Als die ergiebigste Mine, welche Hoover empfahl, stellte sich die Sons of Gwalia heraus. Hoover wurde zum Manager dieser und sieben weiterer Bergwerke. Als Vorgesetzter ordnete er alles der Wirtschaftlichkeit unter, lehnte Mindestlohn ab und entließ bei besonderen Gehaltsforderungen zum Beispiel für Sonntagsarbeit die entsprechenden Mitarbeiter. Im Herbst 1898 erhielt Hoover, der bereits zum Juniorpartner bei Bewick, Moreing & Co aufgestiegen war, das lukrative Angebot, in China ausgedehnte Erkundungs- und Minenarbeiten zu beaufsichtigen. Finanziell nun abgesichert, heiratete er am 10. Februar 1899 in Monterey Lou Henry nach römischem Ritus, weil es kein Meeting House in der Nähe gab. Aus der Ehe gingen die zwei Söhne Herbert Jr. und Allan hervor.
Während des Boxeraufstands im Jahr 1900 erlebten die Hoovers in Tianjin die Belagerung ihrer ausländischen Enklave. Hoover hielt sich im Hintergrund und organisierte die Nahrungsmittelversorgung und Instandhaltung der Barrikaden, was ihm später von politischen Gegnern als Feigheit vorgeworfen wurde. Nach der Befreiung durch die Allianz der Vereinigten acht Staaten gelang es Hoover mit einem belgischen Geschäftspartner, den einheimischen Vorstand der Chinese Engineering Company, der größten chinesischen Firma, zu entmachten, was ihm 200.000 US-Dollar einbrachte. 1901 erwarb er für seine Firma nach strittigen Verhandlungen die Minen von Kaiping, welches der bis dahin größte Eigentumserwerb durch Ausländer in der chinesischen Geschichte war. Noch im gleichen Jahr stieg Hoover zu einem der vier Seniorpartner bei Bewick, Moreing & Co auf und residierte fortan bis 1917 in London.Bis 1908 erhöhte er die Effizienz des Unternehmens, erkundete, gründete und reorganisierte in 16 Ländern Minen, welche 25.000 Arbeiter beschäftigten. Schon zu dieser Zeit hatte sich Hoover weltweit einen hervorragenden Ruf in der Bergbauindustrie erworben. Außerdem investierte Hoover mit seinem Privatvermögen in Bergwerke. 1908 beendete er die Partnerschaft mit Bewick, Moreing & Co und verkaufte seine Teilhaberschaft, womit er annähernd Millionär wurde. Vor diesem Hintergrund ist das folgende bekannte Zitat Hoovers zu sehen: “If a man has not made a million dollars by the time he is forty, he is not worth much” (William E. Leuchtenburg: Herbert Hoover., deutsch: „Wenn ein Mann mit vierzig noch nicht Millionär geworden ist, ist er nicht viel wert“)
Hoovers eigene Consultingfirma unterstützte wirtschaftlich ums Überleben kämpfende Bergwerke gegen spätere Gewinnbeteiligung. Als besonders lukrativ erwiesen sich Blei-, Silber- und Zinkminen in Myanmar, dem damaligen Britisch-Indien. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs zog er sich als mehrfacher Millionär aus dem Geschäft zurück.1909 veröffentlichte Hoover eine Zusammenfassung seiner Vorlesungen an der Columbia University und in Stanford als Buch unter dem Titel Principles of Mining, das zu einem Standardwerk der Montanwissenschaften wurde. Mit Lou Henry brachte er 1912 eine kommentierte Übersetzung von Georgius Agricolas De re metallica heraus. In beiden Werken äußerte Hoover liberalere soziale Ansichten und akzeptierte Arbeitsschutz- und Gewerkschaftsrechte. Politisch identifizierte sich Hoover mit dem progressiven Flügel der Republikaner und unterstützte 1912 die Abspaltung der Progressive Party unter Theodore Roosevelt. Im gleichen Jahr wurde Hoover zum Trustee der Stanford University gewählt, wo er mit eigenen Mitteln Bauprojekte in Auftrag gab und das Gehalt des Lehrpersonals deutlich erhöhte. Im Jahr 1919 stiftete Hoover das Dokumentenarchiv Hoover Library on War, Revolution, and Peace, aus dem die Hoover Institution hervorging.
=== Kommission für das Belgische Hilfswerk ===
Am 6. August 1914 gründete er mit Geschäftsleuten im Savoy das Commitee of American Residents in London for Assistance of American Travellers. Diese Gruppe brachte 400.000 US-Dollar auf, um aus Europa fliehenden Amerikanern, die knapp an Geldmitteln waren, mit kleinen Krediten auszuhelfen. Mitte Oktober erreichte Hoover ein dringender Ruf vom amerikanischen Botschafter Walter Hines Page, gegen eine drohende Hungerkatastrophe in Belgien zu helfen, wo Kriegszerstörungen und Seeblockade zu einer dramatischen Versorgungslage geführt hatten. Mit wohlhabenden Freunden gründete Hoover die Kommission für das Belgische Hilfswerk (Commission for Relief in Belgium; CRB) zur Organisation der Lebensmittelhilfe. Hoover brachte einen Großteil seines Vermögens ein und kaufte direkt nach dem Treffen mit dem Botschafter eine erste Schiffsladung für den Import über Rotterdam. Die Kommission arbeitete effektiv in der Katastrophenhilfe und wuchs zu einer mächtigen Organisation an, der viele Fabriken, Warenhäuser und eine Kanalflotte für die Binnenschifffahrt gehörten. In Verhandlungen mit David Lloyd George, Raymond Poincaré und Theobald von Bethmann Hollweg konnte Hoover häufig Vereinbarungen erreichen. Während die Briten durch die Hilfsmaßnahmen ihre Blockade beeinträchtigt sahen, stand das Deutsche Kaiserreich der CRB nachgiebiger gegenüber. Die Kommission für das Belgische Hilfswerk versorgte bis zu neun Millionen Menschen in Belgien und Frankreich und sammelte insgesamt über 900 Millionen US-Dollar ein, wovon knapp 700 Millionen Staatsgelder waren. Wichtig für den Erfolg der Operation war in Belgien die Zusammenarbeit mit der nationalen Hilfsorganisation unter Lucien Emile Francqui. Da die Führung der über 130.000 freiwilligen Helfer durch 60 meist unbezahlt in Vollzeit arbeitende Amerikaner erfolgte, waren die Verwaltungskosten äußerst niedrig. Hoover folgerte aus dem Wirken der Kommission, dass in Notlagen staatliche Unterstützung weitaus weniger verlässlich ist als freiwilliges Engagement der Bürger.
=== United States Food Administration und American Relief Administration ===
Kurz nach dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg ernannte Präsident Woodrow Wilson am 19. Mai 1917 Hoover zum Food Administrator. Sofort darauf initiierte er die unter seiner exklusiven Kontrolle befindliche United States Food Administration als eine Freiwilligenorganisation mit dem Ziel, die heimatlichen Lebensmittelpreise stabil zu halten und die Alliierten mit Nahrung zu versorgen. Die landwirtschaftliche Produktion wurde gefördert und die Binnennachfrage gebremst, um höhere Überschüsse für den Export zu erzielen. So wurde unter dem Leitmotto Food Will Win the War ein sparsamer Umgang mit Lebensmitteln propagiert und beispielsweise zu fleischlosen Dienstagen und brotfreien Mittwochen aufgerufen, während hohe Produktionszahlen prämiert wurden. Zu dieser Zeit wurde der Ausdruck to Hooverize bekannt, der die freiwillige, aber auch erzwungene Rationierung von Lebensmitteln bezeichnete. Die United States Food Administration hatte über 700.000 Mitglieder, die vor allem Angehörige der lokalen Eliten waren. Hoover forcierte im August 1917 die Verabschiedung des Lever Act, der Rationierungsmaßnahmen in Restaurants vorschrieb und die Alkoholproduktion zugunsten der Nahrungsmittelerzeugung einschränkte. Er nutzte gesetzliche Zwangsmaßnahmen wie Konfiszierung und staatliche Wirtschaftskartelle, die eine Verletzung der festgelegten Abnehmerpreise empfindlich bestraften. Seine außergewöhnlichen exekutiven Vollmachten, die den Kongress außen vor ließen, stießen auf Kritik. International genoss Hoover hohes Ansehen für seine Arbeit. Im Sommer 1918 empfingen ihn unter anderem die Könige Georg V. und Albert I., um ihm ihren Dank auszusprechen. In den 12 Monaten zuvor hatte die United States Food Administration Nahrungsmittel im Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar nach Europa geliefert.Nach dem Waffenstillstand von Compiègne reiste Hoover im Auftrag des Präsidenten nach Europa. Er transformierte die United States Food Administration in die American Relief Administration (ARA), die neben der Lebensmittelversorgung den Wiederaufbau unterstützte. Die ARA koordinierte den Schiffs- und Zugverkehr, initiierte die Bekämpfung von Typhus und stellte die Lebensmittelversorgung von knapp 400 Millionen Menschen in Europa sicher. Als die staatlichen Gelder im Sommer 1919 ausliefen, wandelte Hoover die ARA in eine private Spendenorganisation um. Die hohen amerikanischen Lebensmittelüberschüsse nutzte Hoover teilweise als politisches Druckmittel, so bei der Entmachtung von Joseph August von Österreich als Reichsverweser in Ungarn.Als Hoover als möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1920 gehandelt wurde, nahm er dazu widersprüchlich Stellung. Als Gegner des aufkommenden Sozialdarwinismus und der grassierenden Roten Angst, der mit dem Gewerkschaftsführer Samuel Gompers freundschaftlichen Umgang pflegte, erhielt er besonders Sympathien von Seiten des progressiven Parteiflügels der Republikaner und der liberalen Presse wie The New Republic und The Nation. Trotz seiner republikanischen Prägung sahen viele Demokraten in Hoover einen möglichen Kandidaten für ihre Partei, darunter Edward Mandell House und Franklin D. Roosevelt. Am 30. März 1920 bekannte er sich zu den Republikanern und äußerte seine Bereitschaft für eine Präsidentschaftskandidatur gegen die absehbar chancenlosen Demokraten. Die programmatischen Forderungen Hoovers an die Partei, sein schwerer Stand als ehemaliger Food Administrator bei den Farmern sowie sein langer Auslandsaufenthalt und die Zusammenarbeit mit dem Internationalisten Wilson erwiesen sich als hinderlich. Bei den Primaries in Kalifornien trat er gegen Senator Hiram Johnson an, der nahezu doppelt so viel Stimmen erhielt wie Hoover. Am Ende wurde mit Warren G. Harding ein Vertreter der Konservativen Präsidentschaftskandidat der Republikaner.
=== Handelsminister ===
Noch vor dem Sieg der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl von 1920, die eine klare Mehrheit gegen eine Fortsetzung der Politik Wilsons und des internationalen Engagements erbrachte, bot Harding trotz innerparteilicher Kritik Hoover den Posten des Handels- oder Innenministers an. Nach anfänglichem Zögern entschied sich Hoover knapp zwei Wochen vor Amtseinführung des Präsidenten für das Handelsministerium und forderte, es mit mehr Vollmachten auszustatten. Dieses Ministerium sollte er unter der nachfolgenden Präsidentschaft von Calvin Coolidge bis zum 21. August 1928 behalten.
Hoover erweiterte die Zuständigkeiten und somit die Bedeutung des Ministeriums auch auf Kosten anderer Ressorts erheblich, so entstanden drei neue Abteilungen für Bau, Radio und Luftfahrt. Eine Schlüsselstellung nahm das Bureau of Foreign and Domestic Commerce unter Julius Klein ein, dessen Haushalt Hoover um das sechsfache erhöhte. Mitarbeiter dieser Abteilung wurden weltweit in bedeutende Städte entsandt, um im Ausland energisch bestehende amerikanische Handels- und Geschäftsmöglichkeiten voranzutreiben, und das Marktgeschehen wurde in regelmäßigen öffentlichen Berichten wie dem Survey of Current Business statistisch so genau erfasst, wie es in Europa erst drei Jahrzehnte später erfolgte. Besonders förderte er die Luftfahrt, führte Fluglizenzen und regelmäßige Sicherheitsinspektionen ein und schrieb für alle Landebahnen Beleuchtung und Funkleitstrahl vor. Dieses Engagement führte dazu, dass der erste Flugplatz der Hauptstadt 1926 den Namen Hoover Field erhielt. Der Flut an Radiosendern, die binnen eines Jahres von 2 auf über 300 angewachsen war, begegnete er mit Lizenzierung, dem Ausschluss von Amateuren und Zuweisung von Sendefrequenzen, beließ es aber bei einem reinen Privatsendermarkt. Neben staatlicher Regulierung neuer Industrien wie Luftfahrt und Radio führte Hoover über das Bureau of Standards die Normung von Bauteilen, Geräten und Werkzeugen über mehr als hundert unterschiedliche Branchen hinweg ein. Um bessere Standards im Bau zu entwickeln, aber auch um bestehende Vorschriften zu deregulieren, gründete Hoover das American Construction Council unter dem Vorsitz von Franklin D. Roosevelt. Als dieser von Hoover forderte, mehr Druck auf die Industrie auszuüben, um Vereinbarungen zu erreichen, weigerte sich der Handelsminister und das Gremium scheiterte. Mehrfach warnte er als Handelsminister vor dem Entstehen einer Spekulationsblase, bat Coolidge darum, etwas gegen Insiderhandel zu unternehmen, und sprach sich für eine Erhöhung des Zinssatzes des Federal Reserve Systems aus, damit ein Absturz des Bullenmarkts verhindert werde. Trotzdem wurde er später allgemein für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht und von den Demokraten jahrzehntelang als Schreckgespenst präsentiert, das die Nation im Falle eines republikanischen Präsidenten erwarte.Als Handelsminister positionierte er sich politisch auch in Konkurrenz zu Außenminister Charles Evans Hughes und Finanzminister Andrew W. Mellon und mitunter zum Präsidenten. Er kritisierte die Militärintervention in Nicaragua und die Währungspolitik gegenüber Mexiko und befürwortete, auch aus ethnischen Vorurteilen heraus, strikte Zuwanderungsregeln für Japaner und Lateinamerikaner. In der grundsätzlichen Frage, ob amerikanische Investitionen weltweit notfalls militärisch zu schützen sind, stand er in Opposition zu Hughes, Mellon und Harding. Anstatt zu intervenieren, sah er die Lösung darin, derartige wirtschaftliche Risiken überhaupt zu vermeiden, weshalb er auch ein Gegner von Rüstungskrediten ins Ausland war. Obwohl Hoover eigene Schutzzölle wie den von Fordney-McCumber aus dem Jahr 1922 auf europäische Importe nicht ablehnte, bekämpfte er Schutzzölle und Subventionen anderer Staaten, wobei er auch einen Preiskrieg mit dem Colonial Office unter Winston Churchill um den Weltmarktpreis von Gummi führte. Er setzte Hungerhilfe für die Sowjetunion von 1921 bis 1923 durch, obwohl er ihre staatliche Anerkennung sein Leben lang bekämpfte. Die American Relief Administration, der Hoover vorstand, versorgte dort mit wenigen freiwilligen amerikanischen Helfern 15 Millionen Menschen.Obwohl eigentlich in Zuständigkeit des Innenministeriums entwickelte Hoover im Naturschutz Initiativen, unter anderem zur Bewahrung der Niagarafälle und der Chesapeake Bay. Besonders erbitterte Auseinandersetzungen führte er mit Landwirtschaftsminister Henry Cantwell Wallace, der kein Verständnis für die wirtschaftliche Bedrängnis der Farmer bei Hoover erkennen konnte, trotz dessen Unterstützung für den Agricultural Credits Act, der die Kreditvergabe an landwirtschaftliche Banken und Genossenschaften förderte. Vor allem aus Gründen der Effizienz sah Hoover neben Modernisierung und Technisierung die Gründung von landwirtschaftlichen Kooperativen als einen Weg aus der Krise der Farmer. Die Förderung solcher Genossenschaften zur Produktion und Vermarktung wurde 1925 Grundlage des Cooperative Marketing Act. Den Gesetzesvorschlag des Repräsentanten Gilbert N. Haugen und des Senators Charles L. McNary, welcher die staatliche Festlegung von Mindestpreisen für einheimische landwirtschaftliche Produkte vorsah und von Wallace besonders forciert wurde, bekämpfte Hoover energisch. Eine Verabschiedung des McNary–Haugen Bill scheiterte später an zwei Vetos des Präsidenten Calvin Coolidge.Gleichfalls sehr intensiv agierte Hoover im Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministers James J. Davis. Als es 1922 zu einem Streik im Kohlenbergbau kam, ernannte ihn Harding zum Streitschlichter. Bei den Gewerkschaften genoss Hoover anfangs Sympathien, weil er zur Stärkung des Binnenkonsums für eine angemessene Lohnhöhe und Repräsentation der Arbeiter in Gremien eintrat sowie ein Gegner des Union Busting war. Allerdings differenzierte er nicht zwischen freien Gewerkschaften und abhängigen Betriebsgewerkschaften, so dass er nicht opponierte, als mit deren Gründung die Unternehmer zusehends das Closed-Shop-Prinzip aushebelten. Als im August 1921 die Arbeitslosenzahl auf über 4 Millionen angewachsen war, bewegte er Harding dazu, eine Konferenz unter seinem Vorsitz einzuberufen. Obwohl letztendlich nur die Hürden für öffentliche Bauprojekte auf kommunaler Ebene gesenkt wurden und ohne Beweis schrieb Hoover später das Ende der Rezession von 1921 bis 1923 vor allem dieser Konferenz zu. In den Stahlwerken konnte Hoover mit Unterstützung des Präsidenten den Widerstand von US Steel und anderen Unternehmen brechen und ein Ende der 84-Stunden-Woche durchsetzen. In der Kohleindustrie erzwang er 1924 in Kooperation mit dem Gewerkschafter John L. Lewis eine Einigung, ohne jedoch später auf die Verletzung der Bedingungen durch die Unternehmer zu reagieren. Er geriet zeitweilig in Konflikt mit Justizminister Harry M. Daugherty, der die Förderung von Handelsverbänden durch Hoover nach dem Antitrust Act untersuchen wollte. Sein außergewöhnliches Engagement jenseits seines Ressorts führte öffentlich zu der Stichelei, Hoover sei nicht nur Handelsminister, sondern auch Staatssekretär in allen anderen Ministerien.1922 veröffentlichte Hoover die Monographie American Individualism, in der er seine wesentliche Überzeugung vom Individualismus als dem überlegenen Wertesystem im Vergleich zu anderen, wie zum Beispiel dem europäischen Kapitalismus und Kommunismus, aus philosophischen Werken und seinen eigenen Auslandserfahrungen analytisch ableitete. Im privaten Unternehmertum Amerikas lag demnach die beste Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit für den Einzelnen zu erreichen. Hoover war kein Anhänger einer Politik des Laissez-faire, sondern sah in einer Abstimmung von staatlichem Handeln mit privatwirtschaftlichen Interessen, wie sie zum Beispiel in Wirtschaftsverbänden und Aufsichtsbehörden erfolgt, ein Mittel zum Allgemeinwohl. American Individualism wurde überwiegend positiv rezensiert und als bedeutsamer Beitrag zur Sozialtheorie bewertet. Obwohl Hoover in diesem Werk den Sozialismus am schärfsten kritisierte, weil dieser den Menschen als rein altruistisch motiviert ansehe, hob er sich mit den darin geäußerten progressiven Ansichten von der damals vorherrschenden reaktionären Grundstimmung ab und vergrößerte sein Ansehen.Als Minister aus dem progressiven Parteiflügel der Republikaner galt Hoover als ein möglicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft an der Seite von Coolidge bei der Präsidentschaftswahl 1924. Für diese Position wurde von den Delegierten der Republican National Convention aber Charles Gates Dawes ausgewählt. Coolidge hatte Hoover zuvor damit betraut, für ihn den Vorwahlkampf in Kalifornien gegen seinen Herausforderer, Senator Hiram Johnson, zu leiten. Im Kabinett behielt Hoover nach der Wahl von Coolidge seinen Ministerposten.Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Hoover, als Präsident Coolidge ihn zum Krisenmanager bei der Mississippiflut 1927 ernannte. Hoover schlug für die nächsten Monate sein Hauptquartier in Memphis auf und bereiste unablässig den Mississippi zwischen Cairo und New Orleans, um die Bevölkerung vor Ort zur Unterstützung der obdachlos gewordenen Mitbürger aufzurufen. Es gelang ihm 17 Millionen US-Dollar Spenden einzusammeln sowie 600 Schiffe und 150 Zeltstädte zur Nothilfe zu organisieren. Wie es für ihn typisch war, betonte Hoover, der zu dieser Zeit prominenter war als der Präsident, auch hier allein den Erfolg der durch ihn initiierten lokalen Improvisation und unterschlug, dass ein gutes Drittel der finanziellen und anderen Mittel von Behörden wie dem Public Health Service, dem Landwirtschaftsministerium und der Nationalgarde stammte.
=== Präsidentschaftswahl 1928 ===
Als Präsident Coolidge 1927 überraschend verkündete, nicht zur Wiederwahl anzutreten, galt Hoover als aussichtsreichster Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahl 1928. Die Kandidatur verlief nicht problemlos, denn zum einen kamen Zweifel auf, ob er, wie im Wahlrecht gefordert, seit 14 Jahren Einwohner der Vereinigten Staaten sei, zum anderen trug ihm der wirtschaftskonservative Parteiflügel noch seine direktive Politik als Food Administrator nach. Am Ende gewann er bei den Vorwahlen alle Bundesstaaten bis auf West Virginia, Ohio und Indiana. Hoover wurde bereits im ersten Wahlgang auf der Republican National Convention in Kansas City, Missouri im Juni 1928 nominiert und entschied sich als Running Mate für den unterlegenen Gegenkandidaten Senator Charles Curtis aus Kansas, der später der erste und bisher einzige Vizepräsident mit indianischem Elternteil wurde. Wenige Tage nach der Convention trat Hoover als Minister zurück, um sich voll auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Die Rede zur formalen Annahme der Nominierung, welche der Kandidat bis dahin traditionell von der Frontseite seines Privathauses gehalten hatte, hielt Hoover dank des Einsatzes von Ray Lyman Wilbur im Stanford Stadium vor 70.000 Zuschauern. Bei diesem Auftritt, der seinen Präsidentschaftswahlkampf eröffnete, identifizierte sich Hoover mit Harding und Coolidge, versprach ihre Politik fortzuführen und prognostizierte, dass der Tag, an dem das Ende der Armut in Amerika in Sicht sei, bald kommen werde. Das Wahlprogramm umfasste niedrigere Steuern, Schutzzölle, die Ablehnung landwirtschaftlicher Subventionen und Aufrechterhaltung der Prohibition. Sein Wahlslogan A chicken in every pot and a car in every garage entsprach der Konsumorientierung der fordistischen Gesellschaft.Hoover profitierte von seiner Biographie und dem Ruf, ein effizienter Technokrat und weltweit gerühmter Wohltäter zu sein. Hinzu kam, dass der wirtschaftliche Erfolg der Roaring Twenties den Republikanern Harding und Coolidge zugerechnet wurde, denen er als Minister gedient hatte. Hoover galt als schwacher Redner und scheute die Präsenz im Wahlkampf, die sich am Ende auf sechs Auftritte unter anderem in seinem Geburtsort, in Boston und New York City beschränkte. Außerdem hielt er sieben Radioansprachen an die Nation, in denen er seinen demokratischen Konkurrenten, den Gouverneur von New York, Al Smith, kein einziges Mal erwähnte. Hoover organisierte und administrierte vor allem den Wahlkampf und bereitete sich tagelang akribisch auf seine wenigen Reden vor. Die Republikaner drehten den Film Master of Emergencies, welcher Hoovers Stärken als effizienten Verwalter und Krisenmanager akzentuierte. Die politische Indifferenz und Zurückhaltung des technokratischen Hoover wurde im Wahlkampf als eine Tugend dargestellt, die ein neues Zeitalter ankündige, in dem technische Experten den Staat verwalten und keine Berufspolitiker mehr. Um die kühle und starre Wirkung seiner Persönlichkeit sympathischer zu gestalten, die als seine wesentliche Schwäche identifiziert wurde, versendeten die Wahlkampfmanager mehrere tausend von Hoover unterschriebene Fotos, die ihn lächelnd mit seinem Lieblingshund King Tut, einem belgischen Schäferhund, zeigten.Es gab vor allem im ländlichen Amerika teilweise heftige Ressentiments gegen den Demokraten Smith, da dieser Katholik und Gegner der Prohibition war. Der Ku-Klux-Klan gab Pamphlete gegen Smith heraus und organisierte Kundgebungen gegen ihn. Auch dass Smith zur Seilschaft Tammany Hall gehörte, gereichte ihm zum Nachteil. Um die Stimmen der weißen Wähler in den Südstaaten zu erhalten, verneinte Hoover seine Gegnerschaft zu den Jim-Crow-Gesetzen und vermied eine Verurteilung des Ku-Klux-Klans. Mit einem Popular Vote von mehr als 58 Prozent entschied Hoover die Wahl für sich, wobei er seinem Konkurrenten mit New York den eigenen Bundesstaat und fünf weitere im demokratischen Solid South abnahm.
=== Präsidentschaft ===
Hoover wurde am Nachmittag des 4. März 1929 als 31. Präsident der Vereinigten Staaten von Chief Justice William Howard Taft vereidigt. Dies ist bis heute die letzte Amtseinführung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, bei der ein früherer Präsident einen seiner Nachfolger vereidigte. Mit seiner Antrittsrede, die von annähernd 100.000 Zuschauern vor dem Kapitol und 63 Millionen Zuhörern am Radio verfolgt wurde, entsprach Hoover den optimistischen Erwartungen, die mit ihm als erfolgreichem Technokraten verbunden waren und dem Zeitgeist der Roaring Twenties entsprachen. Hoovers extreme Zuversicht und seine Überzeugung von der Überlegenheit des American Individualism mündete in dem während der Weltwirtschaftskrise oft kritisiertem Satz “In no Nation are the fruits of accomplishment more secure” (Herbert Hoover, Inaugural Adress (1929), deutsch: „In keiner Nation sind die Früchte des Fortschrittes sicherer“) Als Problem sprach er die Zunahme der Kriminalität rund um den 18. Zusatzartikel zur Alkoholprohibition an, für die er nicht individuelles oder staatliches Versagen verantwortlich machte, sondern eine ineffiziente Organisation des Rechtssystems.
In sein Kabinett berief er mit Andrew W. Mellon (Finanzen) und James J. Davis (Arbeit) zwei Minister, mit denen er bereits im Kabinett Coolidge amtiert hatte. Vor allem die Ernennung von Mellon sollte die alte Parteigarde zufriedenstellen. Als Geste an den Parteiflügel, der sich für den Schutz der Einkommen der Farmer einsetzte, bot Hoover Senator Charles L. McNary den Posten als Landwirtschaftsminister an. Dieser lehnte jedoch ab. An seiner Stelle übernahm Arthur M. Hyde dieses Amt, in dessen Ressortbereich vor allem der Präsident selbst politisch initiativ wurde.Als leistungsstarke Minister erwiesen sich in den folgenden Jahren Außenminister Henry Stimson, Innenminister Ray Lyman Wilbur, der ein enger Freund Hoovers war, Marineminister Charles Francis Adams und Justizminister William D. Mitchell. Als Berater in wirtschaftlichen Fragen griff Hoover meist auf den Unterstaatssekretär im Finanzministerium, Ogden L. Mills, zurück und umging somit Mellon. Sein Mitarbeiterstab im Weißen Haus war für die damalige Zeit von geringem Umfang und stand Hoover sehr loyal gegenüber. Einige Mitarbeiter, zum Beispiel Lawrence Richey, George Akerson und French Strother, hatten ihm bereits bei den Vorwahlen 1928 zugearbeitet. Als Hoovers Privatsekretär fungierte Walter Newton.Die beginnende Regierungszeit des Präsidenten gestaltete sich positiv. Bei seiner Amtseinführung stiegen die Börsenkurse, er hatte Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus und die Presse war ihm seit seiner Zeit als Minister sehr gewogen, als er regelmäßig Reporter zu offenen Gesprächen in sein Büro eingeladen hatte. Eine seiner ersten Handlungen als Präsident war die Lockerung der Pressegesetze zur wörtlichen Wiedergabe durch Journalisten, welche unter Coolidge verschärft worden waren. Anfängliche Initiativen Hoovers im Kongress, bei denen er auf die Unterstützung durch den Sprecher Nicholas Longworth zählen konnte, betrafen die Zollpolitik und Krisenhilfe für die Landwirtschaft. Zudem unterstützte er die Gründung der National Institutes of Health, die 1930 mittels des Ransdell Act erfolgte, sowie die Schaffung der Veterans Administration im gleichen Jahr. Gesetzesprogramme versuchte Hoover vor allem durch 64 Konferenzen und Kommissionen zu initiieren, welche häufig privat finanziert wurden.Am Abend des 24. Dezember 1929 beschädigte ein Brand den West Wing des Weißen Hauses erheblich. Hoover nutzte seitdem Arbeitszimmer im Hauptgebäude oder nahegelegenen Ministerien.
==== Innenpolitik ====
===== Smoot-Hawley Tariff Act =====
Die Frage, ob Freihandel oder Protektionismus in der amerikanischen Außenhandelspolitik dominieren sollte, wurde schon seit langem diskutiert. Hoover war kein Anhänger hoher Schutzzölle, glaubte aber, vor allem die heimische Landwirtschaft müsse vor billigen Produkten und Niedriglöhnen des Auslands geschützt werden, zumal sein ökonomisches Leitbild der prosperity hohe Löhne einschloss („high-wage economy“). Er schlug dem Kongress im April 1929 mit Unterstützung des progressiven Flügels der Republikaner unter William Borah ein Zollgesetz vor, das am 28. Mai 1929 vom Repräsentantenhaus als Smoot-Hawley Tariff Act angenommen wurde. Über das Gesetz entspann sich eine kontroverse Debatte in der amerikanischen Öffentlichkeit; die Mehrheitsfindung im Senat gestaltete sich schwierig, zumal Hoover passiv blieb und keinen Versuch unternahm, einen Kompromiss auszuhandeln oder im Rahmen des politischen Klientelismus Druck auf den Kongress auszuüben. Am Ende des Gesetzgebungsprozesses im Kongress enthielt der Smoot-Hawley Tariff Act keinen einzigen der Vorschläge mehr, die Hoover im April 1929 mit Unterstützung der progressiven Republikaner im Repräsentantenhaus eingebracht hatte. Im Juni 1930 unterschrieb Hoover schließlich trotz seiner Opposition den vom Senat im Sinne des Protektionismus erheblich verschärften Smoot-Hawley Tariff Act, was sein bis dahin gutes Verhältnis zum progressiven Parteiflügel stark belastete und als größte politische Niederlage der ersten beiden Amtsjahre gilt.Daneben hatten über 1.000 neoklassische Wirtschaftswissenschaftler von 179 Universitäten den Präsidenten in einem Aufruf aufgefordert, sein Veto einzulegen. Stattdessen wurde aber das Gesetzespaket sogar erweitert und erhöhte die Zölle über den landwirtschaftlichen Sektor hinaus für industrielle Produkte auf ein historisches Rekordniveau, während landwirtschaftliche Exportsubventionen verworfen wurden. Die von Hoover gewünschte unabhängige Expertenkommission, die Einfluss auf die Zolltarife nehmen sollte, fand zwar Eingang in das Gesetz, kam aber in der Praxis nicht zum Tragen. In der Folge reagierten 25 Handelspartner der Vereinigten Staaten mit Gegenmaßnahmen und erhöhten die Einfuhrzölle auf amerikanische Produkte. In diesem Zusammenhang verstärkten einige Staaten die Kontrolle der Wechselkurse und werteten die eigene Währung ab, um Handelsüberschüsse zu erzielen. Innerhalb von zwei Jahren nach Verabschiedung des Smoot-Hawley Tariff Act sanken die amerikanischen Exporte um annähernd zwei Drittel.
===== Agrarpolitik =====
Die amerikanischen Farmer befanden sich in den 1920er Jahren in einer schlechten wirtschaftlichen Lage. Durch neue Technologien konnten die Erträge zwar gesteigert werden, wegen Überproduktion und der starken ausländischen Konkurrenz sanken die Preise. Der republikanische Senator Charles L. McNary und der Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses des Repräsentantenhauses, Gilbert N. Haugen, hatten Gesetzesvorschläge zur Subventionierung der Landwirtschaft vorgelegt, doch die McNary–Haugen Farm Relief Bill war bis 1928 viermal an der Ablehnung Coolidges gescheitert. Dieser hatte sich stattdessen für die Ideen seiner damaligen Minister Hoover und William Marion Jardine entschieden, die Elektrifizierung, besseres Saatgut und effizientere Anbau- und Verkaufsmethoden, auch mittels wirtschaftlicher Kooperativen, vorsahen. Als Präsident legte Hoover nun dem Kongress ein im Wesentlichen auf Jardine beruhendes Gesetz zur Schaffung eines Federal Farm Board vor, das mit 500 Millionen Dollar die Bildung landwirtschaftlicher Kooperativen fördern sollte, um so eine Preisstabilisierung zu erreichen. Widerstände im Kongress führten zu einer Kompromisslösung, dem Agricultural Marketing Act, der am 15. Juni von Hoover unterzeichnet wurde. Landwirtschaftliche Produkte konnten nun über nationale Agenturen wie die Farmers National Grain Corporation vermarktet werden. Diese Organisationen sollten zudem große Überproduktion aufkaufen, um die Preise stabil zu halten. Des Weiteren waren Kredite für die Gründung und Stabilisierung landwirtschaftlicher Kooperativen vorgesehen. Das Federal Farm Board besetzte Hoover mit Industriellen, wie zum Beispiel dem Konzernchef von International Harvester, die von vielen Farmern als ihre Ausbeuter wahrgenommen wurden. Er gab zudem die Weisung, den finanziellen Spielraum für Hilfsleistungen möglichst eng auszulegen. Als die Agenturen im Oktober 1929 ihre Arbeit begannen, nahm kurze Zeit später die Weltwirtschaftskrise ihren Anfang. Das Federal Farm Board war schließlich nur noch mit vergeblicher Marktstabilisierung beschäftigt und wurde im Juni 1931, nach dem Verlust von 345 Millionen US-Dollar und der Weigerung Hoovers, Produktionskontrollen durchzusetzen, eingestellt.
===== Nationalparks =====
Zum Vorsitzenden des National Park Service ernannte Hoover den bekannten Naturschützer Horace M. Albright. Während seiner Präsidentschaft nahmen die Schutzflächen um 3 Millionen Acres und somit 40 Prozent zu. Mit den Great Smoky Mountains und den Everglades wurden die ersten Nationalparks im Osten Amerikas geschaffen. Die von Hoover im Oktober 1929 geschaffene Commission on the Conservation and Administration of the Public Domain beabsichtigte, nicht reservierte öffentliche Ländereien und Landgewinnung in die Verantwortung der Bundesstaaten zu geben und so den Naturschutz potenziell anderen Interessen auf lokaler Ebene unterzuordnen. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der westlichen Bundesstaaten, die sich weigerten, die Verwaltung der großen Weideflächen auf ihren Gebieten zu übernehmen, und weiterhin Washington in dieser Pflicht sahen.
===== Minderheitenpolitik =====
Im Alter von sechs Jahren hatte Hoover ein halbes Jahr lang bei einem Onkel in der Indianerreservation Osage County in Oklahoma gelebt. Er erwähnt in seinen Memoiren, dass er in dieser Zeit Schule und Sonntagsschule im Reservat besuchte. Der Onkel und verschiedene andere Verwandte arbeiteten beim Bureau of Indian Affairs. Hoover ist der einzige US-Präsident, der in einer Reservation gelebt hat.
Hoover ernannte die Quäker Charles Rhoads und Henry Scattergood, die als Bürgerrechtler in der Indian Rights Association engagiert waren, zu Leitern des Bureau of Indian Affairs. Dabei gab nach seinen Memoiren der Einsatz der Quäker für die Indianerbevölkerung den Ausschlag. Beide definierten eine neue Indianerpolitik. Bis dahin war der Umgang mit den Indianern durch Segregation in Reservate einerseits, das Streben nach völliger Assimilation in die amerikanische Gesellschaft andererseits gekennzeichnet, wie Hoover in seinen Memoiren schrieb. Hoover kritisierte die Absicht der bisherigen Politik, die Indianer auch gegen ihren Willen zu „zivilisieren“. Auch die Aufteilung des Reservatslands in Parzellen durch den Dawes Act lehnte er ab. Sein Plan, der sich auf den 1928 veröffentlichten Meriam Report über die Lage in den Indianerreservationen stützte, sah vor, den Indianern zu ökonomischer Selbständigkeit und Stolz und Respekt für ihre eigenständige Kultur zu verhelfen. Sie schlugen zu diesem Zweck ein Indian Arts and Crafts Board innerhalb des Innenministeriums vor, das eine bessere Vermarktung indianischer Kunsthandwerksprodukte und ihren urheberrechtlichen Schutz garantieren sollte. Weil Hoover stattdessen eine privatwirtschaftliche Finanzierung und Besetzung des Indian Cooperative Marketing Board of Directors vorzog, wurde es erst 1934 unter Hoovers Nachfolger Franklin D. Roosevelt eingerichtet. Auch durch Investitionen in Bildung und Gesundheit sollte die Möglichkeit für Indianer, ein Leben als integrierte amerikanische Staatsbürger zu führen, verbessert werden. Die Lebensmittelhilfe wurde verdreifacht und moderne Krankenhäuser mit besser ausgebildetem Personal konnten gebaut werden. Obwohl Hoovers Ziel die Assimilation der Indianer blieb, legte seine Regierung die Grundlage für eine neue Indianerpolitik, die in den nächsten vierzig Jahren verfolgt wurde.
1931 legte Hoover sein Veto gegen ein Entschädigungsgesetz ein, das den Choctaw, Cheyenne, Chickasaw und Arapaho finanziellen Ausgleich für ihre durch den amerikanischen Staat beschlagnahmten Ländereien in Aussicht stellte. Das Veto begründete er mit der Wertsteigerung des Bodens in den letzten fünfzig Jahren und der Notwendigkeit, Verträge einzuhalten. Er setzte sich aber für eine Erhöhung der Ausgaben für Indianerreservate um 3 Millionen Dollar ein.Hinsichtlich der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung unterstützte er privat die Urban League mit Spenden. Als Präsident förderte er die Howard University und gewann die Stiftung von Julius Rosenwald dafür, die Conference on the Economic Status of the Negro zu finanzieren. Besondere Beachtung und rassistische Proteste durch Politiker aus den Südstaaten löste Lou Hoover aus, als sie die Frau des afroamerikanischen Repräsentanten Oscar Stanton De Priest zum Tee im Weißen Haus empfing. Hoovers Politik in den Südstaaten insgesamt war für die Afroamerikaner enttäuschend und führte dazu, dass sich ihre traditionelle Wählerbindung an die Republikaner als der Partei Abraham Lincolns zu lösen begann. So weigerte er sich, Lynchmorde an Afroamerikanern zu verurteilen und beharrte darauf, dass diese ihr Wohl weiterhin den lokalen weißen Eliten anvertrauen sollten.
===== Justiz =====
Auf der White House Conference on Health and the Protection of Children im Jahr 1930 wurde eine 19 Artikel umfassende (gesetzlich nicht bindende) und von Hoover entworfene Charta zu Kinderrechten, die Child’s Bill of Rights, beschlossen. Die Ergebnisse der vielen Untersuchungen, welche die aus mehreren tausend Delegierten bestehende Konferenz zusammenführte und in 35 Bänden veröffentlichte, prägten die Sozialarbeit im Bereich der Kindererziehung und des Gesundheitsschutzes in den nächsten Jahrzehnten. Die Konferenz empfahl unter anderem ein Verbot der Kinderarbeit und die Schaffung staatlicher Wohlfahrt in diesem Bereich. Den Hinweis der Kommission, dass 10 Millionen Kinder in Armut lebten oder körperlich behindert seien, beschönigte Hoover mit der Feststellung, dass mit 35 Millionen die Mehrheit der Kinder unter gesunden Bedingungen aufwachse.Als Reaktion auf das Valentinstag-Massaker gründete Hoover die elfköpfige National Commission on Law Observance and Enforcement unter Vorsitz von George W. Wickersham. Diese untersuchte das Rechtssystem und konzentrierte sich dabei auf die Auswirkungen der Prohibition und adäquate Reformen. Besondere nationale Beachtung fanden dabei die Ergebnisse der Kommission zur Verbreitung von Polizeigewalt und Bestechlichkeit. Ihre Empfehlung im Abschlussbericht vom Januar 1931 jedoch, die Prohibition beizubehalten, obwohl nur zwei der elf Mitglieder an ihre Wirksamkeit glaubten, wurde allgemein als Lachnummer wahrgenommen. Diese in den Augen der Öffentlichkeit absichtlich falsche Ergebnisdarstellung durch den Präsidenten, der seit seinem Wahlkampf von 1928 der Abstinenzbewegung verpflichtet war, ließ Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen. Hoover betraute William Fielding Ogburn mit der Leitung des Committee on Recent Social Trends, dem Sozialwissenschaftler wie Charles Edward Merriam, Wesley Clair Mitchell und Howard Washington Odum angehörten. Mehrere Variablen der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Bevölkerungszusammensetzung und Ernährung, wurden statistisch erfasst und der 1600 Seiten umfassende Bericht im Jahr 1933 abschließend veröffentlicht. Alle Studien und Konferenzen hatten gemeinsam, dass sie keine aktive Rolle des Staats bei der Lösung der Probleme vorsahen, weshalb der Report kaum politische Auswirkungen hatte. Zum Ende seiner Amtszeit setzte Hoover mit seiner Unterschrift den Norris-LaGuardia Act in Kraft. Dieser schränkte Yellow-dog contracts (Arbeitsverträge, die eine Mitgliedschaft in Gewerkschaften verbieten) und die Möglichkeit ein, Streiks per gerichtlicher Verfügung zu beenden.Am 14. und 27. Mai 1930 bestätigte Hoover zwei Gesetze, auf deren Grundlage das System der Bundesgefängnisse stark ausgebaut werden sollte, um die überfüllten Haftanstalten der Kommunen und Bundesstaaten zu entlasten. Dazu stellte er im Justizministerium mit dem Federal Bureau of Prisons eine eigene Behörde auf. Zu deren erstem Leiter ernannte Hoover Sanford Bates. Der Bau notwendiger neuer Gefängnisse sowie die Verbesserung der Versorgung der Häftlinge und Ausbildung der Wärter wurde mit 5 Milliarden US-Dollar budgetiert.Nach dem Tod von Edward Sanford, einem Angehörigen des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, stand Hoover in der Pflicht, einen Nachfolger zu benennen. Trotz der bereits einsetzenden Great Depression band diese Personalentscheidung sehr viel Aufmerksamkeit des Präsidenten in der ersten Hälfte des Jahres 1930. Hoover entschied sich am 21. März 1930 für John Johnston Parker, der jedoch wegen seiner positiven Urteile im Appellationsgericht zu Yellow-dog contracts auf erheblichen Widerstand der American Federation of Labor stieß. Zudem wurde Parker eine Äußerung aus seinem Gouverneurswahlkampf von 1920 in North Carolina vorgeworfen, in welcher er sich gegen eine aktive Beteiligung der Afroamerikaner an der Politik ausgesprochen hatte. Die National Association for the Advancement of Colored People (NACCP) hielt ihm deswegen Voreingenommenheit gegenüber Schwarzen vor. Die progressiven Republikaner unter der Führung von William Borah verhinderten am 7. Mai im Senat mit einer knappen Mehrheit von 41 zu 39 seine Ernennung. Dies war das erste Mal seit über 30 Jahren, dass ein Präsident bei einer derartigen Nominierung mit seinem Kandidaten scheiterte. Zur Freude des progressiven Parteiflügels konnte Hoover im Jahr 1932 Benjamin N. Cardozo als Nachfolger von Oliver Wendell Holmes, Jr. am Obersten Gerichtshof durchsetzen. Neben antisemitischen Stimmen hatte es regionale Bedenken gegen diese Personalie gegeben, da somit drei der Obersten Richter aus dem Bundesstaat New York stammten. Mit Charles Evans Hughes und Owen Roberts nominierte Hoover während seiner Amtszeit zwei weitere Richter erfolgreich für den Obersten Gerichtshof.
===== Hoover Dam und andere Bauprojekte =====
1922 hatte Hoover als Minister die Colorado River Commission geleitet, bei der es um die Verteilung der Wasserrechte zwischen den anliegenden Bundesstaaten ging, um einen Stausee zu bauen. Am 24. November 1922 hatte er eine Einigung von sieben der acht beteiligten Staaten erreichen können. Im Juni 1929 erreichte Hoover im Kongress den Boulder Canyon Project Act, der neben der Wasserversorgung in Südkalifornien die Flutkontrolle im Imperial Valley sowie die Stromgewinnung von 3 Millionen Kilowattstunden zum Ziel hatte. Trotz der in diesem Gesetz vorgesehenen Bevorzugung von Gemeinden und anderen öffentlichen Körperschaften bei der Aufteilung des gewonnenen Stroms wurden unter Hoovers Präsidentschaft tatsächlich die Privatunternehmen bevorzugt. Als Präsident stellte er am 3. Juli 1930 die Mittel zum Bau des Boulder Dam zur Verfügung. Der mit einer Firma aus San Francisco vereinbarte Staatsauftrag zur Konstruktion war mit knapp 49 Millionen Dollar der bis dahin teuerste in der amerikanischen Geschichte. Als Innenminister Wilbur am 17. September 1930 bei der Eröffnungsfeier einer Bahnverbindung zwischen Las Vegas und der im Bau befindlichen Talsperre diese Hoover Dam nannte, wurde dies kritisch aufgenommen. Zum einen war eine solche Benennung bei noch amtierenden Präsidenten unüblich, zum anderen war Hoover mit Einbruch der Weltwirtschaftskrise in Teilen der Presse äußerst unbeliebt geworden. Unter Hoovers Amtsnachfolger Roosevelt verfügte Innenminister Harold L. Ickes am 8. Mai 1933 die Streichung dieser Ehrung und Einführung von Boulder Dam als offizieller Bezeichnung für das Bauwerk. Erst im Jahr 1947 beschloss der Kongress die Rückbenennung in Hoover Dam.Am 1. Mai 1931 eröffnete Hoover das Empire State Building in New York, das damals höchste Gebäude der Welt. Dazu schaltete er von Washington aus die Beleuchtung des Wolkenkratzers ein. Als nationales Ereignis erfuhr es eine breite Berichterstattung im Radio.Der bereits durch den Kongress gebilligte Muscle Shoals Bill, welcher von Senator George W. Norris eingebracht worden war und die staatliche Inbetriebnahme einer Talsperre nahe Muscle Shoals vorsah, wurde 1931 von Hoover mit einem Veto verhindert. Aus ideologischen Gründen lehnte er es ab, mit einem Staatsunternehmen in Konkurrenz zur Privatwirtschaft zu treten. Unter seinem Nachfolger wurde das Projekt wieder aufgenommen und bildete die Grundlage der Tennessee Valley Authority.
===== Bonus Army =====
Während der Senat am 17. Juni 1932 über einen auf Wright Patman zurückgehenden und im Repräsentantenhaus bereits verabschiedeten Gesetzesvorschlag, der eine sofortige Auszahlung erworbener Boni an Veteranen des Ersten Weltkriegs vorsah, debattierte und am Abend mit deutlicher Mehrheit ablehnte, wurde das Kapitol von 6000 Angehörigen der Bonus Army belagert. Im Laufe des Tages strömten weitere 13.000 Mitglieder der Bonus Army auf den Capitol Hill. Insgesamt 43.000 Veteranen und ihre Familien aus einem nahegelegenen Elendsviertel – den während der Weltwirtschaftskrise überall aufwachsenden sogenannten Hoovervilles – harrten in den folgenden Wochen dort, in leerstehenden Gebäuden auf der Pennsylvania Avenue oder behelfsmäßigen Lagern aus und warteten auf eine Entscheidung Hoovers. Als es am 28. Juli zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und den Demonstranten kam, bei der zwei Veteranen den Tod fanden, befahl Hoover dem Militär das Gelände zu räumen. Der kommandierende General Douglas MacArthur setzte sich über die anderslautende Weisung des Präsidenten hinweg und ließ mit sechs Panzern sowie Kavallerie- und Infanterieeinheiten mit aufgepflanzten Bajonetten die Bonus Army gegen Mitternacht zusätzlich aus ihren Elendsquartieren am Anacostia River vertreiben, die dabei aus ungeklärter Ursache abbrannten. Kein anderes Ereignis während seiner Präsidentschaft schädigte Hoovers Reputation derart wie dieser Vorgang und festigte die öffentliche Überzeugung, er sei ein kalter und herzloser Mensch.
==== Außenpolitik ====
===== Good Neighbor Policy =====
Kurz nach der Präsidentschaftswahl bereiste Hoover zehn Staaten in Lateinamerika und kündigte politische und militärische Zurückhaltung der Vereinigten Staaten in dieser Region sowie ein Bemühen um gute Nachbarschaft an. Hoover ließ 1930 das Clark Memorandum veröffentlichen, das die Unvereinbarkeit von Roosevelt-Corollary und Monroe-Doktrin feststellte, wodurch die Legalität interventionistischer Maßnahmen in Frage gestellt wurde. Bis auf eine Interventionsdrohung gegenüber der Dominikanischen Republik enthielt sich Hoover jeder Einmischung, auch als während der 20 Umstürze in Lateinamerika in seiner Amtsperiode antiamerikanische Regime an die Macht kamen. Er beendete nach der Wahl von Juan Bautista Sacasa die US-Militärintervention in Nicaragua. In einem Vertrag sicherte er Haiti das Ende der amerikanischen Besatzung zum 1. Januar 1935 zu. Hoover legte somit die Grundlagen für die spätere Good Neighbor Policy seines Nachfolgers gegenüber Lateinamerika.Auf einer Konferenz in Washington vermittelte Hoover im Januar 1929 einen Kompromiss zwischen Chile und Peru hinsichtlich der offenen Fragen des Vertrages von Ancón. Des Weiteren wurden dort Verhandlungsprotokolle für den Ablauf von Schiedsverfahren sowie ein allgemeines Abkommen zur Schlichtung beschlossen. Diese Vereinbarungen wurden zu den zentralen Grundlagen für zwischenstaatliche Konflikte auf dem amerikanischen Kontinent, erwiesen sich aber in den nächsten Jahren als wenig wirkungsvoll.
===== Hoover-Moratorium =====
Seit dem Herbst 1930 machte Hoover die internationale wirtschaftliche Lage, vor allem in Europa, für die Depression in Amerika verantwortlich. Aus der deutschen Botschaft in Washington wurde das Gerücht nach Berlin gemeldet, er wolle durch eine spektakuläre Initiative die Weltwirtschaftskrise beenden, um als „great president“ in die Geschichte einzugehen. Der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning regte daraufhin bei Botschafter Frederic M. Sackett an, Amerika solle eine Weltwirtschaftskonferenz einberufen, auf der Abrüstung, die politische Verschuldung und eine internationale Wirtschaftsförderung beraten werden könne. Finanzminister Mellon besprach bereits mit dem ehemaligen deutschen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs sowohl für die deutschen Reparationsverpflichtungen als auch für die interalliierten Kriegsschulden, die die europäischen Siegermächte an Amerika zurückzahlen mussten. Doch Hoover lehnte ab: Er hatte sich stets gegen die europäische Haltung gewehrt, die einen direkten Zusammenhang zwischen den deutschen Reparationsverpflichtungen und den interalliierten Kriegsschulden sah.Diese Haltung begann sich im Frühjahr 1931 zu ändern, als nach dem Zusammenbruch des renommierten österreichischen Creditanstalt-Bankvereins immer mehr kurzfristige Privatkredite aus Deutschland abgezogen wurden und Brüning im Juni im Rahmen einer Notverordnung, die harte Sparmaßnahmen vorsah, eine baldige Einstellung der Zahlung seiner Reparationsverpflichtungen andeutete. Wenn Deutschland ein Zahlungsmoratorium erklärte, wozu es nach den Bestimmungen des Young-Plans berechtigt war, drohte es eine internationale Debatte auch über die interalliierten Kriegsschulden auszulösen. Dies wollte Washington unbedingt verhindern. In der Regierung Hoover sprach sich insbesondere Ogden Mills dafür aus, ein Zahlungsmoratorium für Reparationen und Kriegsschulden vorzuschlagen. Auch von den Banken der Wall Street wurde der Präsident in diese Richtung gedrängt, denn eine deutsche Moratoriumserklärung für seine politischen Schulden drohte einen Schaltersturm auf Privatbanken auszulösen, der in einer allgemeinen Zahlungsunfähigkeit des Landes hätte enden können. Die amerikanischen Banken, die Kredite im Wert von über drei Milliarden Reichsmark an deutschen Firmen geliehen hatten, hofften, dass ein zeitweiliger Verzicht auf die Rückzahlung der politischen Schulden Deutschlands ihre Kredite sichern würde. Auch die britische Regierung unter Premierminister Ramsay MacDonald drängte. Hoover hatte lange gezögert, denn ein einjähriger Verzicht auf die Kriegsschuldenrückzahlung minderte die Staatseinnahmen um etwa 250 Millionen Dollar. Zudem fürchtete er den Widerstand des isolationistischen Vorsitzenden des United States Senate Committee on Foreign Relations William Borah. Als am 18. Juni 1931 ein deutsches Moratorium unmittelbar bevorzustehen schien, entschloss sich Hoover zu handeln. Statt der ursprünglich vorgesehenen zwei Jahre sollte das Moratorium aber nur ein Jahr dauern. Er informierte die britische Regierung und wies Botschafter Sackett an, in Berlin um ein Telegramm des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zu bitten, in dem dieser wiederum um amerikanische Hilfe bat. Auf Grund von Presseindiskretionen konnte Hoover diesen Hilferuf nicht abwarten und veröffentlichte seinen Vorschlag am 20. Juni 1931.Diese Erklärung kam wie ein Paukenschlag. In Deutschland wurde sie allgemein bejubelt, nur die Nationalsozialisten waren verärgert: „Das Hoover-Angebot [...] wird unseren Sieg um etwa 4 Monate verschieben. Es ist zum Kotzen!“, notierte Joseph Goebbels am 24. Juni 1931 in sein Tagebuch. Umso empörter reagierten öffentliche Meinung und Regierung in Frankreich, da diese als größter Reparationsgläubiger nicht konsultiert worden waren. Das empfand Paris als klaren Affront. Angesichts der weltweiten Zustimmung zu Hoovers Plan erschien er aber nicht ablehnbar. Die Regierung des liberalkonservativen französischen Ministerpräsidenten Pierre Laval knüpfte ihre Zustimmung daher daran, dass das Hoover-Moratorium mit den rechtlichen Bestimmungen des Young-Plans kompatibel gemacht würde. Dies wurde in komplizierten Verhandlungen erreicht, die sich bis zum 8. Juli 1931 hinzogen. Durch diesen Zeitverlust verlor Hoovers Vorschlag viel von seiner psychologischen Wirkung. Die Kreditabzüge aus Deutschland wuchsen sich zu einer verheerenden Bankenkrise aus, am 13. Juli 1931 erklärte Deutschland seine Zahlungsunfähigkeit für sämtliche Auslandsschulden. Damit war das eingetreten, was Hoover mit seiner Initiative hatte vermeiden wollen.
===== Abrüstungskonferenzen =====
Hoover, der als Quäker eine pazifistischere Gesinnung hatte als die meisten anderen Präsidenten in der amerikanischen Geschichte, bemühte sich beharrlich um internationale Abkommen zur Abrüstung, wobei er vom britischen Premier Ramsay MacDonald unterstützt wurde. Für ihn war Moral das Mittel der Wahl, um Frieden zu schaffen; nicht Militär. Innenpolitisch hatte er bereits im Sommer 1929 eine Kommission zum Personalabbau in der Armee geschaffen und Rüstungsprojekte der US Navy auf Eis gelegt. Im Jahr 1930 nahm Außenminister Stimson mit einer Delegation angesehener Republikaner und Demokraten an der Londoner Flottenkonferenz teil, die über Maßnahmen zur Rüstungskontrolle im Bereich der Marine verhandelte. Dort konnte Stimson mit dem Vereinigten Königreich und Japan, jedoch nicht mit Frankreich und Italien, Beschränkungen bei Anzahl und Größe von Kriegsschiffen vereinbaren. Der Senat stimmte diesem Abkommen im Juli 1930 zu.Auf der Genfer Abrüstungskonferenz im Jahr 1932 hatte die Delegation des Präsidenten mit der Abschaffung aller U-Boote, Kampfflugzeuge und Panzer sowie einer deutlichen Kürzung aller anderen Rüstungsausgaben wirklichkeitsfremde Forderungen. Ohne Einfühlungsvermögen für dessen Geschichte und Bedrohungslage schalt Hoover Frankreich für sein hohes Verteidigungsbudget. Bis zum Ende seiner Amtszeit hatte die Konferenz keine Ergebnisse vorzuweisen.
===== Hoover-Stimson-Doktrin =====
Während der Mandschurei-Krise im September 1931 reagierte Hoover zurückhaltend, zumal er als Ingenieur in Tianjin Vorurteile gegenüber China entwickelt hatte, eher mit der Industrienation Japan sympathisierte und innenpolitisch mit der Weltwirtschaftskrise vollauf beschäftigt war. Um nicht in diesen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, sprach sich Hoover gegen einen Boykott Japans aus und wehrte Versuche des Völkerbunds ab, Washington gegen Tokio in Stellung zu bringen. Im Januar 1932 kam es zur offiziellen Erklärung der Hoover-Stimson-Doktrin durch den Außenminister. Demnach erkannte Amerika keine territorialen Veränderungen in diesem Konflikt an, die den Bestimmungen des von Japan 1928 unterzeichneten Briand-Kellogg-Pakt zuwiderliefen.
==== Weltwirtschaftskrise ====
Die Erwartungen an Hoover, den ersten Präsidenten, der westlich des Mississippi geboren wurde, waren sehr groß. Von der Öffentlichkeit wurde er als erfolgreicher Technokrat angesehen, der die Wirtschaft effizient handhaben und dem gesamten Land zu weiterem Wohlstand verhelfen sollte. Prosperity („Wohlstand“) war daher auch der Kernbegriff seiner Rede zum Amtsantritt gewesen. Die im Oktober 1929 mit dem Schwarzen Donnerstag beginnende Weltwirtschaftskrise bestimmte Hoovers restliche Präsidentschaft und seine anfänglich große Popularität kehrte sich in ihr Gegenteil. Er hatte die Krise nicht kommen sehen und optimistisch kurz vor dem Crash gesagt “We in America today are nearer to the final triumph over poverty than ever before in the history of any land” (Howard Zinn: A People’s History of the United States., deutsch: „Wir in Amerika sind dem endgültigen Triumph über Armut näher als jedes andere Land in der Geschichte“). Im weiteren Ereignisverlauf mied Hoover die Bezeichnung Krise und sprach stets von einer Depression, was seine Reputation nachhaltig schädigte.Diese Aussage wurden von den Auswirkungen der Great Depression, die sich ab Oktober 1929 rasch zuspitzte, widerlegt. In den ersten öffentlichen Reaktionen äußerte sich Hoover zwar weiterhin optimistisch zur wirtschaftlichen Lage, sorgte sich aber, es könnte sich um eine beginnende Rezession handeln, und arbeitete mit seiner Regierung an Gegenmaßnahmen. Die Vorschläge seiner Berater sahen Steuersenkungen, eine Lockerung der Zinspolitik der Federal Reserve und einen Ausbau öffentlicher Arbeiten vor, wozu der Präsident die Bundesstaaten und Kommunen gleichfalls aufforderte. Seinem Stil entsprechend setzte Hoover auf Kooperation, freiwillige Verpflichtungen, wissenschaftliche Expertise und statistische Datenerfassung sowie begrenzte staatliche Maßnahmen. So ließ er das Handels- und das Arbeitsministerium beauftragen, die Entwicklung der wirtschaftlichen Kennwerte statistisch genau zu erfassen und zu dokumentieren. Im November 1929 hielt er mehrere Konferenzen mit Gewerkschaften, Unternehmen und Regierungsvertretern ab und erreichte Zusagen, es würde weder Streiks für Lohnerhöhungen noch Entlassungen von Arbeitnehmern mehr geben. Henry Ford versprach nach einer dieser Konferenzen im gleichen Monat Lohnerhöhungen und weitere Investitionen. Für mehr als ein Jahr sollte ein beachtlicher Anteil der Zusagen, die auch Preisstabilisierung durch das Federal Farm Board, eine Zinssenkung der Federal Reserve und öffentliche Investitionen von 150 Millionen US-Dollar durch den Kongress umfassten, von den beteiligten Organisationen eingehalten werden, was am rapiden Rückgang der Investitionen aber nichts änderte. Viele Unternehmen senkten zwar nicht die Löhne, fuhren aber die Produktion zurück und schmälerten so die Gehälter. Der so entstehende Einbruch in der privaten Nachfrage führte in einem Teufelskreis dazu, dass wiederum die Wirtschaft Produktion und Lohnkosten weiter absenkte. Eine Depression setzte ein und vertiefte sich, was unter anderem dazu führte, dass trotz der Vereinbarungen und Zusagen der Konferenz die Arbeitslosenzahl allein in den zehn Tagen vor Weihnachten 1929 um eine Million stieg. Zu dieser Zeit lud auf Vorschlag Hoovers die Chamber of Commerce unter Vorsitz von Julius H. Barnes Wirtschaftsverbände zur National Business Survey Conference ein, welche zentrale Geschäftshindernisse entdecken und beheben sollte. Sie beruhte auf freiwilliger Mitarbeit und konnte auf das Fachwissen von 170 teilnehmenden Organisationen zurückgreifen. Die National Business Survey Conference leistete laut dem Historiker Robert S. McElvaine nichts weiter als Optimismus zu verbreiten und stellte sich als ein solcher Fehler heraus, dass sie bereits 1931 aufgelöst und von Hoover, der sie anfangs mit Enthusiasmus begleitet hatte, in seinen späteren, ausführlichen Memoiren nicht erwähnt wurde.
Im März 1930 teilten das Arbeits- und das Handelsministerium entgegen der weit verbreiteten Ansicht dem Präsidenten mit, dass der Tiefpunkt der Krise durchschritten sei. Hoover lehnte auf dieser Grundlage weitergehende staatsfinanzierte Programme ab, korrigierte die durch das United States Census Bureau gemeldete Arbeitslosenzahl von über drei auf unter zwei Millionen und verkündete am 1. Mai 1930 öffentlich, dass bei Fortführen der Anstrengungen eine rasche Erholung in Sicht sei. Im gleichen Monat wendete sich die wirtschaftliche Lage wieder zum Schlechteren. Auch, um mit dieser Initiative die zunehmenden Forderungen nach einem staatlichen Arbeitslosengeld hinzuhalten, gründete Hoover im Herbst 1930 das President’s Emergency Committee on Employment (PECE), zu dessen Vorsitzenden er seinen Freund Colonel Arthur Woods ernannte. Die PECE koordinierte die Arbeitslosenhilfe privater Wohltätigkeitsorganisationen. Der Historiker Robert S. McElvaine bewertet die optimistische Namensgebung als typisch für Hoovers Präsidentenkommissionen: Die lückenhafte Auswahl und Betonung der Ideen und Informationen sowie das fehlende Bemühen, verlässliche Arbeitslosigkeitsstatistiken zu erheben, geschweige denn lokale Unterstützung zu finanzieren, schufen ein positives Bild der Lage, dessen Wert mehr anekdotisch als exakt gewesen sei. Für Hoovers Grundüberzeugung bezeichnenderweise setzte das PECE gleichfalls auf freiwillige Mitarbeit und Kooperation mit dem Staat, wozu Hoover sich später wie folgt äußerte: “Personal responsibility of men to their neighbors is the soul of genuine good will; it is the essential foundation of modern society” (, deutsch: „Die persönliche Verantwortung der Menschen für ihre Nachbarn ist die Seele natürlichen guten Willens; sie ist die wesentliche Grundlage der modernen Gesellschaft“)
Die Depression vertiefte sich im Jahresverlauf 1930 weiter; so sanken die Bruttoinvestitionen um 35 Prozent. und die Bauwirtschaft schrumpfte um 26 Prozent. Insgesamt gingen 1930 mehr als 1300 Banken in den Konkurs, allein in den letzten beiden Monaten waren es mehr als 600. Es kam zu Bankanstürmen. Im Dezember verkündete die private Bank of United States ihre Insolvenz, was in der Geschichte den bis dahin größten Bankenausfall darstellte. Da die Federal Reserve eine Rettung ablehnte, versuchten verunsicherte Anleger ihre Wertpapiere zu verkaufen, was die Preise weiter destabilisierte. Anders als bei der Panik von 1907 versorgten die großen Privatbanken den Markt nicht mit Kapital, weil sie sich auf die Federal Reserve als Kreditgeber verließen.
1931 appellierte Hoover an die Öffentlichkeit, den Optimismus nicht zu verlieren. Anfang des Jahres äußerte er: “What this country needs is a good big laugh. There seems to be a condition of hysteria. If someone could get off a good joke every ten days, I think our troubles would be over” (Hoover (1931) nach: Robert S. McElvaine The Great Depression: America 1929–1941., deutsch: „Was dieses Land braucht ist ein guter, großer Lacher. Es scheint Hysterie vorzuherrschen. Wenn jemand alle zehn Tage einen guten Witz herauslässt, wären unsere Sorgen, denke ich, vorüber.“) Im Februar 1931, wenige Monate nach den großen Verlusten seiner Partei bei den Wahlen zum Kongress von 1930, der somit erstmals seit 1919 wieder eine Mehrheit der Demokraten hatte, unterzeichnete Hoover einen Gesetzesvorschlag des demokratischen Senators Robert F. Wagner. Der Wagner-Graham Stabilization Act sah die Planung öffentlicher Beschäftigungsprogramme in Phasen wirtschaftlicher Rezession vor. Das somit geschaffene Federal Employment Stabilization Board blieb aber nach dem Willen der präsidialen Verwaltung eine unbedeutende, mit statistischer Analyse befasste Behörde, die bis zu ihrer Auflösung im Juni 1933 so gut wie nichts erreicht hatte. Ein weiteres Gesetz zur Stärkung der weitgehend wirkungslosen staatlichen Arbeitsagentur United States Employment Service blockierte Hoover Anfang 1931 mit einem Pocket Veto. Im August 1931 transformierte Hoover die PECE in die President’s Organization for Unemployment Relief (POUR), zu deren Leiter er Walter S. Gifford ernannte, den Chef von AT&T. Die auf öffentliche Spendenwerbung und ähnliches Marketing setzende POUR erwies sich als genauso kraftlos wie die PECE. Die im Oktober 1931 gegründete National Credit Corporation (NCC) war Hoovers letzter Versuch, auf freiwillige Mitarbeit und Vereinbarungen zu setzen. Die NCC hatte zum Ziel, dass sich die Banken regional anhand der Federal Reserve Districts in Verbänden zusammenschließen, und verfügte über eine Milliarde US-Dollar Kreditsumme, um diese Organisationen zu beleihen. Nach zwei Monaten war dieses Projekt gescheitert, da die Banken nicht bereit waren, sich gemeinsam in Verbänden zu organisieren und untereinander Kredite zu gewähren. Des Weiteren waren die Darlehen der NCC beschränkt und betrugen in den zwei Monaten ihrer Existenz nicht mehr als zehn Millionen US-Dollar. Im Herbst 1931 begannen große Industriebetriebe wie Ford und General Motors sich von ihren im November 1929 getroffenen Zusagen, die Löhne nicht zu senken, zu distanzieren. Grund für diese Entscheidung war Hoovers Weigerung, den Unternehmen angesichts Deflation und gleichbleibenden Nominallöhnen Mindestprofite zu garantieren.In der State of the Union Address am 8. Dezember 1931 kündigte Hoover neben Austerität und Haushaltskonsolidierung die Wiederbelebung der im Ersten Weltkrieg gegründeten War Finance Corporation an. Diese ab Januar 1932 in Reconstruction Finance Corporation (RFC) umbenannte unabhängige Behörde wurde mit 500 Millionen US-Dollar ausgestattet und versorgte vor allem Banken, Bahngesellschaften und Versicherungsunternehmen gegen ausreichende Sicherheiten mit Krediten. Noch während Hoovers Amtszeit wurde das Kapital der RFC auf 2 Milliarden erhöht. Die RFC stellte die wichtigste von Hoover gegründete Initiative zur Bekämpfung der Great Depression dar und wurde unter seinem Amtsnachfolger mit höheren Kreditsummen fortgeführt. Die RFC wurde ein Symbol für die negative öffentliche Wahrnehmung des Präsidenten, da sie kaum Direkthilfen für Arbeitslose oder das Kleingewerbe vorsah. Bezüglich der Bank Runs blieb die RFC erfolglos, noch 1933 fielen über 4.000 Banken aus. Als Schritt in Richtung der späteren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des New Deal erwiesen sich die 700 Millionen US-Dollar, die Hoover 1931 zur Schaffung von Jobs in den öffentlichen Sektor investierte.Die Great Depression vertiefte sich 1931 weiter; bei steigenden Arbeitslosenzahlen sanken im Jahresverlauf die Bruttoinvestitionen um 35 Prozent und die Bauwirtschaft schrumpfte um weitere 29 Prozent, während über 2000 Banken Konkurs anmeldeten. Die Verelendung wurde nun im öffentlichen Raum sichtbar. Mehr als eine Million obdachlos gewordene Bürger lebten in leeren Güterwaggons, die als Hoover-Schlafwagen bekannt wurden, oder in Slums, den sogenannten Hoovervilles. Der Präsident selbst war immer mehr als Ebenezer Scrooge verrufen.Mit 60 Prozent war das Haushaltsdefizit für das Jahr 1932 das größte zu Friedenszeiten der amerikanischen Geschichte, während die Arbeitslosigkeit auf 12 Millionen anstieg und seit 1929 jeder vierte Farmer sein Land an Gläubiger verloren hatte. Republikaner und Demokraten verständigten sich daraufhin auf den Revenue Act von 1932, der Steuererhöhungen und Zusatzabgaben vorsah, um den Haushalt auszugleichen. Hoover, der persönlich wahrscheinlich bereit dazu war, in Phasen der Depression Defizite hinzunehmen, erkannte, dass seine Position politisch nicht haltbar war, und stimmte zu. Gegen die im Gesetz vorgesehene Verkaufssteuer, welche die gesamte Bevölkerung getroffen hätte, erreichte den Kongress eine nie gesehene Flut von Protestschreiben, die Wirkung zeigten. Bei den Abstimmungen schlossen sich progressive Republikaner und Demokraten gegen ihre Parteiführer zusammen, so dass am Ende der Revenue Act Immobilien-, Zusatz- und Einkommensteuererhöhungen für gut Verdienende enthielt, aber keine Verkaufssteuer. Obwohl er nur 15 Prozent aller amerikanischen Haushalte betraf, stellte er die größte Steuererhöhung in der amerikanischen Geschichte zu Friedenszeiten dar. Im gleichen Jahr verabschiedete der Kongress auf Vorschlag Hoovers den Federal Home Loan Bank Act. Die durch ihn geschaffenen Federal Home Loan Banks (FHL-Banken) sollten Hausbesitzer bei Hypotheken unterstützen. Dazu verliehen die FHL-Banken Kapital vor allem an die saving and loan associations (S&Ls) und auch an Versicherungsunternehmen. Die FHL-Banken vergaben keine direkten Hypothekendarlehen, sondern finanzierten den Markt über Rediskontierung. Die Maßnahme kam jedoch zu spät und die Kredite waren mit zu hohen Auflagen verbunden, so dass das FHL-System nicht mehr effektiv wirken konnte, worunter insbesondere die S&Ls zu leiden hatten. Das Momentum des erfolgreichen öffentlichen Protests gegen die Einführung von Umsatzsteuern machte es für Republikaner und Demokraten unvermeidlich, sich für direkte Armen- und Arbeitslosenunterstützung einzusetzen. Gegen einen ersten Gesetzesvorschlag dieser Richtung, der mit breiter Mehrheit im Kongress verabschiedet wurde, legte Hoover sein Veto ein, das er wie folgt begründete: “Never before has so dangerous a suggestion been seriously made to our Country” (Hoover (1932) nach: Robert S. McElvaine The Great Depression: America 1929–1941., deutsch: „Niemals zuvor ist unserem Land ein so gefährlicher Vorschlag unterbreitet worden“) Einen geänderten Entwurf des Emergency Relief and Construction Act, der den prinzipiellen Überzeugungen Hoovers immer noch widersprach, unterzeichnete der Präsident im Juli 1932. Da die Hoover-Anhänger in den entscheidenden Positionen dieses Hilfsprogramms staatlicher Wohlfahrt genauso ablehnend gegenüberstanden, erfolgte die Kreditvergabe sehr sparsam und nach kleinlichen, teilweise erniedrigenden Prozeduren, denen sich sowohl die anfragenden Bürger als auch Bundesstaaten respektive deren Gouverneure zu unterziehen hatten. So wurden von den 322 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellten Mitteln bis Januar 1933 lediglich sechs Millionen bewilligt. Dass die im Dezember zuvor von Hoover geschaffene RFC sich bei der finanziellen Unterstützung von Banken im Gegensatz dazu als freigiebiger erwies, wurde von den Demokraten im Präsidentschaftswahl 1932 dankbar als Thema aufgenommen. Im Fiskaljahr 1932 bewilligte Hoover weitere 750 Millionen US-Dollar Investitionen im öffentlichen Sektor, vor allem für Bauprojekte wie unter anderem Häfen, Docks, Hochwasserschutz, Schifffahrtswege, militärische Einrichtung und die Fortführung des Hoover-Damms. Im Jahresverlauf verschärfte sich die Situation nichtsdestoweniger immer stärker. So verkündete Hoover im Oktober 1932, kurz vor der Präsidentschaftswahl, für Nevada ein Banken-Moratorium, dem im Februar 1933 der Zusammenbruch des Finanzsystems in Michigan folgte. Am stärksten getroffen von Bank Runs wurden die Städte Chicago, Detroit und Cleveland.
=== Präsidentschaftswahl 1932 ===
Da es Hoover nicht gelang, die Vereinigten Staaten aus der größten Staatskrise seit dem Bürgerkrieg zu führen, und er keine öffentliche Geste des Mitgefühls für die zunehmende Verelendung fand, wurden ihm Mitleidlosigkeit und Härte und durch die linksliberale Zeitschrift The Nation sogar „kaltblütiger Mord“ vorgeworfen. Hoover hatte bei der Präsidentschaftswahl 1932 keine Chance gegen den Kandidaten der Demokraten, Franklin D. Roosevelt, der mit dem New Deal neue Hoffnung für die Bevölkerung versprach. Die anfangs mit Hoover sympathisierende Presse hatte sich seit Ende 1929 immer mehr von ihm abgewendet, nicht zuletzt, da er die meisten ihrer Anfragen für Interviews unbeantwortet ließ und darauf bestand, diese vor dem Druck zu lesen und erst dann freizugeben. Bis 1932 entwickelte sich daraus in weiten Teilen ein Verhältnis gegenseitiger nahezu feindseliger Ablehnung. Am Ende verlor Hoover mit einem Popular Vote von knapp 40 Prozent gegenüber Roosevelts 57 Prozent und gewann nur sechs Bundesstaaten in Neuengland. Er schied als der unbeliebteste Präsident seit Rutherford B. Hayes 52 Jahre zuvor aus dem Amt.Bei einem Treffen mit seinem gewählten Nachfolger Roosevelt am 22. November 1932 im Weißen Haus drängte Hoover ihn dazu, den Goldstandard beizubehalten und durch entsprechende Konzessionen das Vereinigte Königreich zu einer Rückkehr in diese Währungsordnung zu bewegen. Zudem mahnte er Roosevelt, eine klare Position hinsichtlich der Kriegsschuldenfrage zu beziehen, obwohl seine Administration selbst hinsichtlich der Ergebnisse der Konferenz von Lausanne dies versäumt hatte. Hoover erreichte von Roosevelt jedoch keine verbindlichen Zusagen, auch nicht in den folgenden Wochen, in denen sie ihre Verhandlungen fortführten. Hoovers Amtszeit endete turnusgemäß am 4. März 1933.
=== Zeit nach der Präsidentschaft ===
Nach seiner Wahlniederlage und dem Amtsantritt seines Nachfolgers zog sich Hoover verbittert aus der Öffentlichkeit zurück. Zu Unrecht von der Allgemeinheit für das Einsetzen der Weltwirtschaftskrise verantwortlich und als Lakai der Wall Street verächtlich gemacht, hielt selbst die eigene Partei zu ihm Distanz. Hoover wehrte sich gegen die Vorwürfe, indem er in den nächsten Jahren mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlichte. Er attackierte darin die Politik des New Deal scharf und bezeichnete sie unter anderem als faschistisch und sozialistisch. Roosevelt warf er vor, eine Zentralverwaltungswirtschaft anzustreben, und verdächtigte ihn, totalitäre Ziele zu verfolgen. Obwohl er sich weiterhin für einen strikten Libertarismus aussprach, stellte er sich andererseits als geistiger Vater der Maßnahmen des New Deal dar, die Erfolge zeigten. Bei der Präsidentschaftswahl von 1936 unterstützte er den Republikaner Alf Landon, nachdem seine eigenen Hoffnungen auf eine Nominierung klar scheiterten.Im Jahr 1938 bereiste Hoover Europa, wo er, anders als in der Heimat, sehr populär war. In Belgien feierten ihn die Massen auf seiner Reise durch das Land; König Leopold III. zeichnete ihn aus, und die Université Lille Nord de France verlieh Hoover seine erste Ehrendoktorwürde, der noch ein Dutzend weitere folgten. Im Deutschen Reich gab Hoover erst auf Druck des amerikanischen Botschafters Hugh Robert Wilson hin nach und folgte am 8. März einer Einladung Adolf Hitlers. An einer Stelle ihrer Unterredung bat er laut einem Bericht Hitler zu schweigen und sich wieder hinzusetzen, als dieser im Stehen eine mehrminütige Tirade über Juden hielt. Später besuchte Hoover Hermann Göring in Carinhall. Seine Haltung gegenüber Juden war ambivalent; zum einen war Hoover von der Judenverfolgung im Dritten Reich erschüttert, zum anderen hatten sie seiner Ansicht nach zu viel Einfluss auf die Außenpolitik Amerikas. Dass Berlin Kriegspläne habe, schloss Hoover noch im Juli 1939 aus, und selbst nach dem Überfall auf Polen hielt er einen deutschen Angriff gegen Frankreich für eine absurde Annahme. Einen Eintritt Amerikas in die Kampfhandlungen lehnte Hoover ab.Auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner zur Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1940 brachte sich Hoover als Kandidat ins Spiel, obwohl ihm seine Anhänger angesichts von parteiinternen Zustimmungsraten von zwei Prozent laut Gallup-Umfrage davon abrieten. Er konnte kaum Delegierte für sich gewinnen und am Ende wurde der politische Quereinsteiger Wendell Willkie, ein liberaler Republikaner, Herausforderer des späteren Wahlsiegers Roosevelt. Selbst seine Wahlkampfunterstützung für Willkie war in einigen Bundesstaaten unerwünscht und wurde zum Beispiel in Connecticut grob zurückgewiesen. Hoover blieb ein unerbittlicher Gegner des wiedergewählten Roosevelt und verwarf die Four Freedoms als nutzlos ohne eine fünfte Freiheit, die freies Unternehmertum und das Recht auf Anhäufung von Eigentum betreffen sollte. Obwohl Roosevelt nach dem Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg dazu geraten wurde, Hoover aufgrund seiner Verdienste als Leiter der United States Food Administration um Unterstützung zu bitten, entschied er sich angesichts Hoovers unversöhnlicher Haltung dagegen. Im Januar 1944 starb Hoovers Gattin Lou, was ihn dazu bewog, ihr Haus in Kalifornien zu verlassen und fortan im Waldorf Astoria in New York City zu residieren. In der Partei blieb Hoover isoliert und wurde auf der Beerdigung Willkies im Oktober 1944 durch Thomas E. Dewey, den republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1944, ignoriert. Während des Kriegs engagierte er sich in der Lebensmittelhilfe und sammelte in großem Umfang Spenden, die der Bevölkerung von Finnland und Polen zugutekamen.Nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Hoover einen viel beachteten Vorschlag, der zur Gründung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) führte. Am 1. März 1946 kontaktierte Roosevelts Nachfolger, Harry S. Truman, Hoover und betraute ihn mit einer Auslandsmission in den vom Krieg betroffenen Nationen in Europa und Asien. In den kommenden knapp drei Monaten besuchte er 38 Staaten, um die Hungersnöte vor Ort einzuschätzen, und traf 36 Premierminister sowie Papst Pius XII. und Mahatma Gandhi. Zurück in Amerika schilderte er in einer Radioansprache, die als seine beste Rede gilt, seine Eindrücke. In seinem im März 1947 veröffentlichten Bericht zu Nachkriegsdeutschland empfahl Hoover dem Präsidenten die Demontage der Industrieanlagen zu beenden und konstatierte, dass die militärische Schwächung Deutschlands erreicht werden könne, ohne die Versorgung seiner Bevölkerung zu behindern. Der Report Hoovers wurde kontrovers diskutiert und fand insbesondere bei John R. Steelman, dem Stabschef des Weißen Hauses, positive Resonanz. 1947 ernannte ihn der republikanisch kontrollierte 80. Kongress zum Vorsitzenden der Commission on Organization of the Executive Branch of the Government, der sogenannten Hoover Commission, die Maßnahmen vorschlug, um bürokratische und administrative Hürden zu senken und die exekutive Gewalt zu stärken. Hoover setzte sich für die Einführung der Schulspeisung, die sogenannte Hoover-Speisung, in der Bizone ein. Diese kam über sechs Millionen Deutschen zugute, die so eine warme Mahlzeit am Tag erhielten. Abseits dieser Zusammenarbeit mit Truman vertrat er außenpolitisch entgegengesetzte Positionen. Hoover war ein Gegner von Amerikas Intervention in den Koreakrieg und lehnte das Bretton-Woods-System und die NATO ab, deren Gründung er für einen großen Fehler hielt. Seiner Meinung nach sollten außerdem alle kommunistischen Staaten aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen werden. Trotz dieser Differenzen war Hoovers Verhältnis zu Truman wesentlich besser als zu dessen Nachfolger Dwight D. Eisenhower. Dieser richtete im Jahr 1953 eine zweite, konservativer ausgerichtete Hoover Commission ein, der erneut Hoover vorstand.
Mit Verblassen der Erinnerung an die Great Depression stieg das Ansehen von Hoover als Staatsmann. So hielt bei einem Bankett zu Ehren Hoovers im Jahr 1957 John F. Kennedy die Laudatio; sein Buch The Ordeal of Woodrow Wilson wurde im folgenden Jahr zu einem Bestseller. Er arbeitete bis zuletzt an einer Biographie über Franklin D. Roosevelt und den New Deal, die jedoch so einseitig war, dass sie nie veröffentlicht wurde, um seinem Ruf nicht zu schaden. An Hoovers 90. Geburtstag erklärten 16 Bundesstaaten diesen Tag zum Herbert Hoover Day. Hoover starb am 20. Oktober 1964 in New York City an Blutungen im oberen Gastrointestinaltrakt und wurde am 25. Oktober in seinem Geburtsort West Branch beerdigt. Der Trauerzug von Cedar Rapids zum Ort seiner Bestattung wurde von knapp 80.000 Menschen begleitet, auf Wunsch der Familie wurde auf ein Ehrensalut verzichtet.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung und Persönlichkeit ===
Das Urteil über Hoover war in den über 30 Lebensjahren nach seiner Präsidentschaft trotz weltweiter Popularität als Wohltäter von den abwertenden und düsteren Stereotypen geprägt, die während der Great Depression über ihn entstanden waren. Sinnbildlich stehen dafür die nach ihm benannten Hoovervilles. Erst nach Eröffnung der Präsidentenbibliothek im Jahr 1966 untersuchte die Geschichtswissenschaft seine Persönlichkeit und Handlungsmotive detaillierter und tiefergehend. Hoover gilt bis heute als ein eher schwacher Präsident, obwohl die Ursachen für die Great Depression auf seine Amtsvorgänger zurückgingen. Allgemein haftet ihm das Stereotyp an, ein Präsident des Laissez-faire gewesen zu sein, was die historischen Fakten nicht bestätigen. Während der Weltwirtschaftskrise verfolgte er eine aktivere Politik als alle anderen amerikanischen Präsidenten, die bis dahin mit einer Depression konfrontiert gewesen waren. Laut Jürgen Heideking hat die jüngere Forschung verdeutlicht, dass Hoover nicht der schwache Präsident war, als der er lange Zeit überzeichnet wurde, sondern zum Teil innovative Impulse setzen konnte. Während die Geschichtswissenschaft früher starr eine Grenze zwischen der informellen Wirtschaftsregulierung Hoovers und der obligatorischen unter Roosevelt zog, wird heute diese Unterscheidung weniger strikt betrachtet.Obwohl Herbert Hoover als Erwachsener kaum Gottesdienste besuchte, nach römischem Ritus heiratete und nicht alkoholabstinent lebte, prägte ihn sein Leben lang die in der Familie vor allem durch die fromme Mutter vermittelte Quäkertheologie und ihre Wertschätzung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums, der Bedeutung von Freiheit, Wohltätigkeit sowie pflichtbewusster Arbeit. Sein Vertrauen in die nachbarschaftliche Gemeinschaft als bestes Mittel, um Bedürftigen Unterstützung zukommen zu lassen, entstand gleichfalls aus dieser Erfahrung. Schon in jungen Jahren spendete er daher einen Großteil seines Vermögens an Freunde, Verwandte und an mittellose Studenten oder Dozenten, später initiierte er auf eigene Kosten sehr erfolgreich karitative Freiwilligenorganisationen. Da er einen Großteil der Spenden, darunter sein gesamtes Gehalt als Präsident, anonym tätigte, ist der Umfang seiner Wohltätigkeit bis heute unbekannt. Sein Biograph George H. Nash vertrat die Ansicht, es sei in der Geschichte bisher niemandem gelungen, mehr Menschen vor dem Tod zu retten als Hoover. Hoovers philosophische Überzeugung von der Bedeutung des Individuums spiegelt sich in der Monographie American Individualism von 1922 wider.Als von allen Präsidenten bisher größter Anhänger von Efficiency Movement und Taylorismus, der bereits als Student mit entsprechender Programmatik Wahlkampf geführt hatte, glaubte Hoover daran, mit einer besser organisierten Wirtschaft Krisen vermeiden und größere Wachstumsraten erzielen zu können. Selbst mitten in der Weltwirtschaftskrise während des Wahlkampfes von 1932 warb Hoover auf der Republican National Convention vor allem für Scientific Management als einen Weg zu neuem Fortschritt. Als weitere inhaltliche Elemente dieser Bewegung gehörten zu seinem politischen Ansatz eine höhere Effizienz, das Beseitigen von Verschwendung sowie die Kooperation von Wirtschaftsführern, Staatsvertretern und Sozialwissenschaftlern, um sich bei der Planung abzustimmen. Um letzteren Aspekt zu fördern, unterstützte Hoover die Gründung von Wirtschaftsverbänden. Die Lehre einer freien Marktwirtschaft ohne staatliche Regulierung lehnte er ab. Seine sozialen Ideen orientierten sich an Thorstein Veblen. Wie er sah Hoover im Erfindungsreichtum der immer zahlreicher werdenden Ingenieure den Hauptträger des industriellen Fortschritts. Obwohl ihn seine Erfahrung eines Besseren belehrte, hielt er Freiwilligenorganisation und Eigeninitiative für besser geeignete Mittel zur Krisenbewältigung als staatliches Eingreifen, welches die Hilfeempfänger korrumpiere. John Mark Dempdey und Eric Gruver (2009) machen hingegen geltend, dass sich Hoover in dieser Einstellung durch die Erfolge der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat im Zuge der United States Food Administration und American Relief Administration bestätigt sah. Dieser als Associationalism bezeichnete, in Zügen fromme Glaube an die Effektivität von Verbänden, Genossenschaften und Komitees im Vergleich zur Direkthilfe wurde später vielfach kritisiert, auch von Joan Hoff Wilson, einem Biographen, der sich für die Rehabilitierung von Hoover einsetzte. Laut dem Biographen Jeansonne zeigte Hoover mit vorsichtigen Erweiterungen staatlicher Kompetenzen ein moderates Verhalten in dieser Frage, so dass er von beiden Seiten angegriffen wurde. Obwohl Hoover für Konferenzen als Mittel zur Vermeidung reiner Top-down-Prozesse warb, nutzte er sie oft einfach nur dazu, seinen eigenen Willen durchzusetzen, indem er die Teilnehmer festlegte, den Vorsitz führte und die Abschlussberichte und Handlungsempfehlungen alleine verfasste. Direkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft lehnte er grundsätzlich als bürokratisch ab, obwohl gerade er selbst in seiner politischen Laufbahn sehr viele Behörden schaffen sollte “Even if govermental conduct of business could give us more efficiency instead of less efficiency, the fundamental objection to it would remain unaltered and unabated” (Herbert Hoover (1928), deutsch: „Selbst wenn uns staatliche Geschäftsführung mehr anstatt weniger Effizienz geben sollte, bliebe die fundamentale Opposition dazu unverändert und unvermindert“).
Hoover reagierte auf Widerspruch sowie auf Smalltalk und unbedeutende politische Detailfragen ungeduldig. Im menschlichen Umgang agierte er wortkarg, rechthaberisch, herrisch sowie aufbrausend und wirkte auf seine Umwelt daher gefühlskalt, überheblich und einzelgängerisch. Bis auf sehr wenige Freunde, die Hoover sein Leben lang stets nur unter Gleichgestellten fand, standen ihm seine Mitmenschen meist misstrauisch gegenüber. Schon vor seiner Präsidentschaft fiel es ihm schwer, sich zu vernetzen und politische Unterstützung abzusichern. Als Handelsminister hatte er sich im Kabinett durch übereifrigen ressortübergreifenden Aktivismus und Streitsucht isoliert und zu Präsident Coolidge wegen seiner Vermessenheit in Form ständiger unaufgeforderter Ratschläge eine gespannte Beziehung. Bei Widerständen im Kongress suchte er nicht Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern zog sich zurück und ließ die Initiative bei Senat und Repräsentantenhaus. Trotz einer republikanischen Mehrheit in beiden Häusern zu Beginn seiner Präsidentschaft verlor er daher schnell Unterstützung, zumal er den Kongressmitgliedern gegenüber geringschätzig auftrat und sich insgesamt weigerte, klientelpolitisch aktiv zu sein oder Patronage auszuüben, was er als erniedrigend empfand. Die Getreuen in der eigenen Partei verärgerte Hoover, als er öffentlich vorschlug, den Demokraten die Führung des Senats im 72. Kongress Amerikas und somit den Vorsitz in Kongressausschüssen zu überlassen, obwohl die Republikaner dort eine knappe Mehrheit hatten.Verglichen mit seinen Amtsvorgängern in ähnlichen Krisensituationen zeigte Hoover außergewöhnlich viel politische Initiative, vor allem bei der Gründung von Kommissionen, Konferenzen und Untersuchungsausschüssen. Bei der Wahl staatlicher Mittel überschritt er jedoch nicht eine gewisse Grenze. Hoover sah die Rolle der Regierung vor allem als Vermittler von freiwilligen Vereinbarungen in der Privatwirtschaft, womit er als Minister Erfolge erzielt hatte. Hoover selbst sah sich weniger als Politiker, sondern als effizienter Ingenieur und Manager und verfolgte als Präsident diesen Stil weiter, indem er Organisationen wie zum Beispiel das Federal Farm Board oder die National Credit Corporation gründete. Entsprechend wurde er von seinen Zeitgenossen weniger als Führungskraft, sondern mehr als ein beratender Verwalter wahrgenommen, dem es nicht gelang, eigene Ideen zu entwickeln und mutig umzusetzen.Hoover zeigte sich in der Weltwirtschaftskrise trotz seines ausgeprägten Selbstvertrauens nicht in der Lage, in der Bevölkerung mehr Zuversicht zu wecken. Laut dem Historiker Piers Brendon wirkte Hoover gerade zu dieser Zeit, als sei er in erster Linie Ingenieur und erst in zweiter Mensch. Schon bald nach seiner Amtszeit war unter Historikern umstritten, ob Hoover angesichts seiner Erfolge im ersten Amtsjahr beim Ausbleiben der Weltwirtschaftskrise ein guter Präsident geworden wäre. Entgegen dem geschichtswissenschaftlichen Mainstream regte Murray Rothbard in seinem 1963 erschienenen Werk America’s great depression eine Revision des negativen Bilds von Hoovers Politik während der Great Depression an. In seiner umfangreichen ökonomischen Analyse kam er zu dem Fazit, dass Hoover ein Interventionist gewesen sei, und folgert: “Herbert Clark Hoover must be considered the Founder of the New Deal in America” (deutsch: „Herbert Clark Hoover muss als Begründer des New Deal in Amerika angesehen werden.“). Ähnlich argumentieren einige wenige konservative Historiker wie zum Beispiel Amity Shlaes, die den New Deal jedoch negativ als eine Form bürokratischen Sozialismus bewertet und neben Roosevelt auch Hoover dafür kritisiert, der Kraft des freien Marktes misstraut zu haben. Über die Widerstände in seinem Kabinett gegen expansive Fiskalpolitik als Mittel der Krisenintervention, die insbesondere Andrew W. Mellon formulierte, beklagte sich Hoover in seinen späteren Memoiren. Zur damaligen Zeit hatte diese liquidationistische Linie, nach der die Regierung passiv die Krise sich selbst liquidieren lassen sollte, die führenden Ökonomen auf ihrer Seite, darunter Seymour Harris, Friedrich Hayek, Lionel Robbins und Joseph Schumpeter. Zwei maßgebliche Architekten des New Deal, Raymond Moley und Rexford Tugwell, schrieben Jahrzehnte später Hoover das Verdienst zu, die meisten der Methoden erfunden zu haben, die sie unter Roosevelt zur Bekämpfung der Great Depression eingesetzt hatten. Trotzdem fielen historische Vergleiche von Hoover mit anderen Präsidenten zumeist negativ aus. Wenn es um Ähnlichkeiten im Politikstil geht, wurden im Zusammenhang mit Hoover meistens die Amtsvorgänger William McKinley und Calvin Coolidge sowie bei den Nachfolgern Richard Nixon und ab den 1980er Jahren Ronald Reagan genannt. Im Unterschied dazu sieht McElvaine etliche Parallelen zwischen Jimmy Carter und Hoover: Beide präsentierten sich weniger als Politiker denn als Experten, arbeiteten mit hoher Detailtiefe, hatten eine Vorliebe für Statistiken und Effizienz als besondere Begabung. Beide hatten gespannte Beziehungen zu entscheidenden Senatoren der eigenen Partei, waren schwache Redner und präferierten rationale Problemlösungen gegenüber politischen. Nicht zuletzt hatten sowohl Hoover als auch Carter starke humanitäre Motive und scheiterten als Präsidenten daran, die Öffentlichkeit von ihrer Politik überzeugen zu können.Vielfach wurde in den folgenden Jahrzehnten von Ökonomen der Revenue Act von 1932 als eine große Fehlentscheidung Hoovers bezeichnet. Auf eine Depression mit Steuererhöhungen zu reagieren, galt als schlechte Option. Etliche Ökonomen sahen dieses Gesetz als ursächlich für die weitere Verschärfung der Krise in den Jahren 1932–1933 an. Jude Wanniski macht den Revenue Act konkret verantwortlich für die Bankenkrise von Anfang 1933. McElvaine hält diese Argumentation für sehr zweifelhaft, da die Steuermaßnahmen nur 15 Prozent der Haushalte belasteten, das Gesetz 1935 und 1936 unter Franklin D. Roosevelt nur geringfügige Änderungen erfuhr und in seiner Grundstruktur die Steuergesetzgebung bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmte. Er sieht den wesentlichen Fehler Hoovers darin, die Staatsausgaben nicht genügend erhöht zu haben. Der Ökonom Peter Temin sieht im unbeirrten Festhalten von Hoover und der Federal Reserve am Goldstandard den wichtigsten Grund für die Beschleunigung und Vertiefung der Deflation.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Am 10. August 1965, knapp ein Jahr nach seinem Tod und an seinem Geburtsdatum, brachte der United States Postal Service 4c-Briefmarken mit seinem Porträt heraus.
Der Hoover Dam, der den Colorado River zum Lake Mead aufstaut und die Grenze zwischen den Bundesstaaten Arizona und Nevada ist, wurde nach ihm benannt, ebenso die Hooverstrasse im Schweizer Oberkulm, da seine Vorfahren in dieser Gemeinde heimatberechtigt waren. Des Weiteren trägt der Hauptsitz des Handelsministeriums der Vereinigten Staaten, das Herbert C. Hoover Building, seinen Namen.
Sein Geburtshaus in West Branch und mehrere andere Gebäude in dem Ort mit Bezug zu seiner Person – zum Beispiel seine Schule, die Schmiede seines Vaters sowie das Meetinghouse der Quäker –, bilden seit 1965 die Herbert Hoover National Historic Site. Südwestlich des Geburtshauses wurde 1962 das Herbert Hoover Presidential Library and Museum errichtet, in dem sich die Präsidentenbibliothek befindet. Gleichfalls auf dem Gelände der National Historic Site liegen die Gräber von Hoover und seiner Frau.Das Hoover-Minthorn House, in dem Hoover von 1885 bis 1889 lebte, ist seit 2003 im National Register of Historic Places gelistet und wird von der National Society of The Colonial Dames of America als Museum betrieben. In der Geisterstadt Gwalia in West-Australien sind das von Hoover entworfene Büro und Wohngebäude des leitenden Ingenieurs des Bergwerksunternehmens und Untersuchungsräume aus seinem damaligen Arbeitsaufenthalt erhalten. Das von Lou Henry geplante Haus, das die Hoovers ab 1920 bewohnten, ist seit dem 4. Februar 1985 als Lou Henry and Herbert Hoover House ein National Historic Landmark. Nach ihrem Tod im Jahr 1944 hatte es Hoover der Stanford University als Residenz für Professoren vermacht. Das von ihm und seiner Frau erbaute und im Shenandoah-Nationalpark gelegene Camp Hoover, auch als Rapidan Camp bekannt, bestand aus mehreren einfachen Holzhäusern und diente als präsidialer Rückzugsort im Sommer und Erholungsanlage.
=== Filme ===
Im Dokumentarfilm Prohibition (2011) von Ken Burns werden der Wahlkampf 1928 und die antikatholischen Ressentiments gegen Al Smith thematisiert.
Über Hoovers Wahlsiege wurde der Dokumentarfilm Landslide – A Portrait of President Herbert Hoover (2009) von Chip Duncan gedreht.
Life Portrait of Herbert Hoover auf C-SPAN, 4. Oktober 1999, 160 Min. (Dokumentation und Diskussion mit Timothy G. Walch und Richard Norton Smith)
== Schriften ==
Agricola’s De Re Metallica. Übersetzt aus dem Lateinischen und bearbeitet von Herbert Hoover und seiner Frau L. H. Hoover (englisch). The Mining Magazine, London 1912, OCLC 50707761.
American individualism. Garden City 1922 (auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Das Wesen Amerikas – Bekenntnisse eines Staatsmannes, übersetzt von Jonas Simon, Berlin 1928).
The challenge to liberty. Garden City 1934.
American ideals versus the new deal: a series of ten addresses upon pressing national problems. New York 1936.
The problems of lasting peace. Garden City 1942.
Herbert Hoover’s 1946–1947 factfinding mission to Germany. Report No. 1, Report No. 3
The Memoirs Of Herbert Hoover. 3 Bände. New York 1951–1952 (PDF) (auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Memoiren. 3 Bände: 1. Jahre der Abenteuer; 2. Das Kabinett und die Präsidentschaft; 3. Die große Wirtschaftskrise; Mainz 1951–1953).
40 key questions about our foreign policy, answered in important addresses and statements delivered between 1941 and 1952. Scarsdale 1952.
The ordeal of Woodrow Wilson. New York 1958.
An American epic. 4 Bände. Chicago 1959–1964.
George H. Nash (Hrsg.): Freedom Betrayed: Herbert Hoover’s secret history of the Second World War and its aftermath. Stanford 2011.
== Literatur ==
Glen Jeansonne: Herbert Hoover: A Life. New American Library, New York 2016, ISBN 978-1-1019-9100-8.
William E. Leuchtenburg: Herbert Hoover (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 31st President). Times Books, New York City 2009, ISBN 978-0-8050-6958-7.
George H. Nash, Kendrick A. Clements, Biographie in sechs Bänden:
George H. Nash: The Life of Herbert Hoover: The engineer, 1874–1914. Band 1. W.W. Norton, New York 1983, ISBN 0-393-01634-X.
George H. Nash: The Life of Herbert Hoover: The Humanitarian, 1914–1917. Band 2. W.W. Norton, New York 1988, ISBN 0-393-34730-3.
George H. Nash: The Life of Herbert Hoover: Master of Emergencies, 1917–1918. Band 3. W.W. Norton, New York 1996, ISBN 0-393-34595-5.
Kendrick A. Clements: The Life of Herbert Hoover: Imperfect Visionary, 1918–1928. Band 4. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2010, ISBN 978-0-230-10790-8.
Glen Jeansonne: The Life of Herbert Hoover: Fighting Quaker, 1928–1933. Band 5. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2012, ISBN 978-1-137-01682-9.
Gary Dean Best: The Life of Herbert Hoover: Keeper of the Torch, 1933–1964. Band 6. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2013, ISBN 978-0-230-10310-8.
Charles Rappleye: Herbert Hoover in the White House: The Ordeal of the Presidency. Simon & Schuster, New York 2016, ISBN 978-1-45164867-6.
Peter Schäfer: Herbert C. Hoover (1929–1933): Der Administrator in der Krise. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 302–308.
Katherine A. S. Sibley (Hrsg.): A Companion to Warren G. Harding, Calvin Coolidge, and Herbert Hoover. Wiley-Blackwell, Chichester 2014, ISBN 978-1-4443-5003-6, S. 377–542 (= Part IV: Herbert Hoover and His Era).
Richard Norton Smith: An Uncommon Man: The Triumph of Herbert Hoover. Simon & Schuster, New York 1984, LCCN 83-027175
Kenneth Whyte: Hoover: An Extraordinary Life in Extraordinary Times. Knopf, New York City 2017, ISBN 978-0-307-59796-0
== Weblinks ==
Literatur von und über Herbert Hoover im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Herbert Hoover in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Zeitungsartikel über Herbert Hoover in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Biografie auf der archivierten Webpräsenz Weißes Haus (englisch)
Kurzbiographie auf Webpräsenz Hoover Institution (englisch)
The Herbert Hoover Presidential Library (englisch)
American President: Herbert Hoover (1874–1964). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: David E. Hamilton)
The American Presidency Project: Herbert Hoover. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Herbert Hoover in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Hoover |
Wildschwein | = Wildschwein =
Das Wildschwein (Sus scrofa), jägersprachlich Schwarzwild genannt, ist ein Paarhufer in der Familie der Echten Schweine und die Stammform des Hausschweins. Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet reicht von Westeuropa bis Südostasien. Durch Aussetzen in Nord- und Südamerika, Australien sowie auf zahlreichen Inseln ist es heute nahezu weltweit verbreitet.
Wildschweine sind Allesfresser und sehr anpassungsfähig. In Mitteleuropa nimmt die Population vor allem durch den vermehrten Anbau von Mais stark zu und die Tiere wandern verstärkt in besiedelte Bereiche ein.
== Etymologie ==
Der Name Sus scrofa kommt vom Lateinischen sus „Schwein“ und scrofa „das Mutterschwein“.
Im Französischen stammt der Name sanglier vom Lateinischen singularis (porcus), was so viel wie einzeln lebendes (Schweine-)Männchen bedeutet.
== Merkmale ==
=== Körperbau ===
Der Körper des Wildschweins wirkt von der Seite betrachtet gedrungen und massiv. Dieser Eindruck wird durch die im Vergleich zur großen Körpermasse kurzen und nicht sehr kräftig wirkenden Beine verstärkt. Im Verhältnis zum Körper wirkt auch der Kopf fast überdimensioniert. Er läuft nach vorn keilförmig aus. Die Augen liegen weit oben im Kopf und sind nach schräg-vorn gerichtet. Die Ohren sind klein und von einem Rand zottiger Borsten umgeben. Der kurze, gedrungene und wenig bewegliche Hals ist nur erkennbar, wenn Wildschweine ihr Sommerfell tragen. Im Winterfell scheint der Kopf direkt in den Rumpf überzugehen. Von der Stirn bis über den Rücken verläuft ein Kamm langer Borsten, der aufgestellt werden kann.
Die Körperhöhe nimmt zu den Hinterbeinen ab. Der Körper endet in einem bis zu den Fersengelenken hinabreichenden Schwanz, der sehr beweglich ist. Mit ihm signalisiert das Wildschwein durch Pendelbewegungen oder durch Anheben seine Stimmung. Von vorn betrachtet wirkt der Körper schmal.
Das adulte, männliche Tier lässt sich von dem weiblichen – bei seitlicher Betrachtung – an der Form der Schnauze unterscheiden. Während sie beim Weibchen lang und gerade verläuft, wirkt sie beim Männchen kürzer.
=== Gebiss ===
Das Wildschwein hat ein kräftiges Gebiss mit 44 Zähnen, in jeder Kieferhälfte drei Schneidezähne (Incisivi, Abk. „I“), einen Eckzahn (Caninus, Abk. „C“), vier Prämolaren (Abk. „P“) und drei Molaren (Abk. „M“).
Die oberen und unteren Eckzähne des Männchens krümmen sich aufwärts, bei Weibchen tritt dies nur in geringem Umfang bei älteren Tieren auf. Die Eckzähne dienen als Waffen bei Brunftkämpfen, die schwere Wunden verursachen können.
Die unteren Eckzähne des Männchens können in Ausnahmefällen eine Länge von bis zu 30 cm erreichen. Bei normalen ausgewachsenen Männchen haben sie in der Regel eine Länge von 20 cm, von denen aber selten mehr als 10 cm aus dem Kiefer ragen. Die beim Männchen nach oben gekrümmten Eckzähne des Oberkiefers sind wesentlich kürzer. Die Eckzähne haben keine Wurzeln, stecken zu 2/3 im Kiefer und wachsen lebenslang.
=== Fell ===
==== Fell von ausgewachsenen und einjährigen Tieren ====
Das Fell des Wildschweins ist im Winter dunkelgrau bis braun-schwarz mit langen borstigen Deckhaaren und kurzen feinen Wollhaaren. Es dient vor allem der Wärmeregulation, da der zwischen den Haaren eingeschlossene Luftraum eine zu starke Abgabe der Körperwärme verhindert. Die glatten Deckhaare verhindern, dass die Haut beim Durchstreifen von Gestrüpp verletzt wird. Das Wollhaar bedeckt den gesamten Körper mit Ausnahme einiger Kopfpartien und des unteren Teils der Beine. Bei älteren Männchen finden sich beidseitig im Bereich der Schultern verdickte, verfilzte Stellen, genannt der Schild.Im Frühjahr verliert das Wildschwein das lange, dichte Winterfell und hat ein kurzes, wollhaarfreies Sommerfell mit hell gefärbten Haarspitzen. Der Fellwechsel findet in einem Zeitraum von etwa drei Monaten statt und beginnt in Mitteleuropa in den Monaten April bis Mai. Wildschweine wirken im Sommerfell wesentlich schlanker. Vorjährige Wildschweine beginnen bereits ab Ende Juli oder Anfang August mit dem Wechsel zum Winterfell. Bei ausgewachsenen Wildschweinen beginnt der Wechsel zum Winterfell erst im September. Im November ist der Fellwechsel abgeschlossen.
Allerdings bestehen in der Fellfärbung sowohl regional als auch im selben Gebiet große Unterschiede. So sind Wildschweine der Balchaschsee-Region hell sandfarben oder sogar weißlich, in Belarus findet man rötlichbraune, hellere oder sogar tiefschwarze Tiere und am Ussuri trifft man auf hellbraune und schwarze Wildschweine.
==== Gefleckte Wildschweine ====
In freilebenden Wildschweinpopulationen treten immer wieder Individuen auf, die schwarzbraune bis schwarze Flecken unterschiedlicher Größe auf hellerem Grund aufweisen. Gelegentlich werden sogar schwarz-weiß und schwarz-braun-weiß gefleckte Wildschweine beobachtet. Bei Untersuchungen von Heinz Meynhardt in der DDR in den 1970er Jahren traten Fleckungen bei etwa drei von hundert Wildschweinen auf. Die Fleckung wird rezessiv vererbt. Diese Färbungen werden darauf zurückgeführt, dass Hausschweine lange Zeit als Weideschweine gehalten wurden und es dabei zu Kreuzungen zwischen Wild- und Hausschweinen kam.
Polnische Untersuchungen aus demselben Zeitraum haben gezeigt, dass stark schwarzweiß gefärbte Wildschweine im Vergleich zu ihren normal gefärbten Artgenossen eine höhere Sterblichkeitsrate haben, da bei ihnen die Wärmeregulation weniger gut funktioniert.
==== Fell der Jungtiere ====
Neugeborene Wildschweine, in der Jägersprache Frischlinge genannt, haben ein mittelbraunes Fell, das in der Regel vier bis fünf gelbliche, von den Schulterblättern bis zu den Hinterbeinen reichende Längsstreifen aufweist. Die Streifenform ist so individuell, dass Jungtiere eindeutig identifiziert werden können. Ihr Deckhaar ist noch wesentlich weicher und wolliger als bei älteren Tieren und schützt die Tiere gegenüber Feuchtigkeit weniger gut, sodass bei feuchter Witterung eine hohe Sterblichkeit vorkommen kann. Dieses Jungtierfell wird etwa drei bis vier Monate getragen, bevor die Tiere allmählich das einfarbig bräunliche Jugendfell bekommen. Es ist grobhaariger als das Jungtierfell, jedoch immer noch weicher als jenes ausgewachsener Tiere und hat auch weniger gut entwickelte Wollhaare. In Mitteleuropa entwickeln die Jungtiere im Oktober und November ihr erstes Winterkleid, das dann auch vermehrt die graue bis schwarze Färbung ausgewachsener Tiere zeigt.
=== Körpergewicht und Körpergröße ===
Gewicht und Größe sind je nach geographischer Verbreitung sehr unterschiedlich, das Gewicht variiert außerdem je nach Jahreszeit. Als grobe Regel kann gelten, dass Körpermasse und Körpergröße von Südwesten nach Nordosten zunehmen. Vollkommen ausgewachsen sind Wildschweine ab ihrem fünften Lebensjahr; in Mitteleuropa haben Weibchen dann eine Kopf-Rumpf-Länge von 130 bis 170 cm, Männchen erreichen eine Länge von 140 bis 180 cm. Das maximale Lebendgewicht von ausgewachsenen Weibchen in Mitteleuropa liegt bei rund 150 kg und das von ausgewachsenen Männchen bei rund 200 kg. Mindestens fünf Jahre alte Weibchen im Osten Deutschlands wogen ohne innere Organe zwischen 43 und 95 kg, männliche Individuen ohne innere Organe zwischen 54 und 157 kg. Die höchsten Gewichte erreichten Weibchen dort von Oktober bis März, Männchen von August bis Dezember. Ein Schlachtgewicht oder Schlachtalter kann nicht definiert werden, da die Jagd auf wilde Tiere dem Zufallsprinzip unterliegt.
Wildschweine in Astrachan, im Schutzgebiet der Beresina und im Kaukasus werden deutlich größer und schwerer. Männchen können hier eine Körperlänge bis zu 200 cm und ein Gewicht bis zu 200 kg erreichen. In den 1930er Jahren wurden im Wolgadelta und am Syrdarja Wildschweine von bis zu 260 kg erlegt, und einige Jahre vorher sind sogar Tiere von 270 kg und 320 kg Gesamtgewicht belegt. Auch aus dem fernen Osten Russlands sind Männchen mit über 300 kg Körpergewicht bekannt. Im gesamten Verbreitungsgebiet verringerte sich die Körpergröße des Wildschweins durch Bejagung und heute gelten Tiere mit 200 kg Körpergewicht als sehr groß.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Das Wildschwein ist ein in ganz Eurasien sowie in Japan und in Teilen der südasiatischen Inselwelt in etwa 20 Unterarten verbreitetes Wildtier. Das Verbreitungsareal hat sich im Laufe der Jahrtausende mehrmals verändert. Während der Kaltzeiten hat sich das Verbreitungsgebiet mehrfach in östlicher und südlicher Richtung verschoben und während Wärmeperioden wieder in westlicher und nördlicher Richtung ausgedehnt. Die Art kam nach der letzten Eiszeit ursprünglich von den Britischen Inseln, Südskandinavien und Marokko im Westen über ganz Mittel- und Südeuropa, Vorder- und Zentralasien, Nordafrika, Vorder- und Hinterindien bis Ostsibirien, Japan und Vietnam im Osten vor und erreicht über Sumatra und Java sogar die Kleinen Sundainseln Bali, Lombok, Sumbawa und Komodo. Außerdem findet man es auf Ceylon, Hainan und Taiwan, auf Borneo scheint die Art dagegen zu fehlen. Die Vorkommen auf Sardinien, Korsika und den Andamanen sind vermutlich durch den Menschen dort angesiedelt worden.In Nordafrika war es bis vor wenigen Jahrhunderten entlang des Niltals bis südlich von Khartum sowie nördlich der Sahara verbreitet. Mittlerweile gilt das Wildschwein in Nordafrika als selten. Die früher von der Südtürkei bis nach Palästina vorkommende Unterart Sus scrofa libycus sowie die früher in Ägypten und Sudan beheimatete Unterart Sus scrofa barbarus gelten als ausgestorben. Auf der Arabischen Halbinsel kommen Wildschweine nur im äußersten Norden vor.
Die ursprüngliche Nordgrenze der Verbreitung erstreckte sich vom Ladogasee (auf 60° N) im Nordwesten südwärts über Nowgorod bis Moskau und dann in west-östlicher Richtung über die Wolga bis zum südlichen Ural (wo sie 52° N erreichten). Von da aus schob sich die Grenze wieder leicht nach Norden, um beinahe Ischim und weiter östlich den Irtysch auf 56° N zu erreichen. In der östlichen Barabasteppe (westlich Nowosibirsk) bog die Linie scharf nach Süden ab und erreichte beinahe die Ausläufer des Altaigebirges, das sie umkreiste und sich von dort aus über das Tannu-ola-Gebirge bis zum Baikalsee zog. Von hier verlief die Grenze nördlich des Amur bis zu seinem Unterlauf am Chinesischen Meer. Auf Sachalin ist das Wildschwein nur fossil nachgewiesen. In trockenen Wüsten, Hochgebirgen und im Tibetischen Hochland fehlt das Wildschwein naturgemäß auch südlich der beschriebenen Linie. So fehlt es in den Trockengebieten der Mongolei ab 44–46° N südwärts, in der Volksrepublik China westlich von Sichuan und in Indien nördlich des Himalaya. In den hohen Bergen des Pamir und im Tianshan findet man keine Wildschweine, im Tarimbecken und an den unteren Hängen des Tianshan kommen die Tiere dagegen vor.
In den letzten Jahrhunderten hat sich die Verbreitung des Wildschweins vor allem aufgrund menschlicher Eingriffe verändert. Mit der Ausdehnung und Intensivierung der Landwirtschaft nahm auch die Bejagung des Wildschweins zu, so dass beispielsweise die Art in England bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts ausgerottet war. In Dänemark erlegte man die letzten Wildschweine Anfang des 19. Jahrhunderts, bis 1900 gab es auch in Tunesien und dem Sudan keine Wildschweine mehr, und auch in Deutschland sowie in Österreich, Italien und der Schweiz waren weite Teile wildschweinfrei. Zu den deutschen Regionen, in denen bis in die 1940er Jahre Wildschweine nicht mehr vertreten waren, zählen beispielsweise Thüringen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg.
=== Rückgewinnung des Verbreitungsgebiets ===
Seit dem 20. Jahrhundert leben Wildschweine wieder in weiten Teile ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets. So sind beispielsweise in die italienische Toskana, die lange Zeit aufgrund der intensiven landwirtschaftlichen Bewirtschaftung wildschweinfrei war, in den 1990er Jahren wieder Wildschweine eingewandert.
Auch in Russland war das Wildschwein in den 1930er Jahren in weiten Teilen ausgerottet und die Nordgrenze der Verbreitung war besonders im Westen weit nach Süden verschoben. Bis 1950 hatten sich die Tiere jedoch wieder ausgebreitet und an vielen Stellen fast wieder die alte Nordgrenze des Verbreitungsgebietes erreicht. Besonders gut dokumentiert ist die Arealerweiterung in Osteuropa. Um 1930 gab es beispielsweise in den Sumpfwaldgebieten von Belarus, der Ukraine, Litauens und Lettlands noch Wildschweinbestände. Von dort aus verbreitete sich die Art anfangs entlang der Flussniederungen von Daugava (deutsch: Düna), Dnepr und Desna sowie später auch entlang der Oka, Wolga und dem Don. Um 1960 waren Wildschweine bereits von Sankt Petersburg bis Moskau wieder verbreitet; um 1975 erreichten sie Archangelsk bis Astrachan. Auch in Finnland wanderten Wildschweine wieder ein.
Ähnliches vollzog sich auch in westlicher Richtung. In den 1970er Jahren gab es in Dänemark und Schweden wieder Wildschweinvorkommen, wobei diese jedoch auf aus Wildgehegen ausgebrochene Tiere zurückgingen. In Dänemark und Schweden hat sich das Wildschwein mittlerweile wieder fest etabliert, da es von den dortigen Forstbehörden als Wildbestand akzeptiert wird. Von Südschweden aus hat das Wildschwein 2006 auch Norwegen erreicht. Man nimmt an, dass es sich dort wieder dauerhaft ansiedelt, nachdem es seit 500 v. Chr. ausgestorben war. Zur Zeit gilt das Wildschwein in Norwegen allerdings als unerwünschte Art.Die Populationsentwicklung der letzten Jahrzehnte wird auch an den Jagdstrecken deutlich. So wurden in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2003 erstmals jeweils mehr als 500.000 Wildschweine erlegt. In den 1960er Jahren lag die jährliche Jagdstrecke noch bei unter 30.000 Tieren.
=== Vordringen in den städtischen Lebensraum ===
Die Anpassungsfähigkeit der Wildschweine zeigt sich besonders deutlich in Berlin. Wildschweine haben sich dort die stadtnahen Wälder als Lebensraum erobert und dringen heute auch in die Vorstädte ein. Gelegentlich führt sie ihr Weg bis in die Innenstadt. So mussten im Mai 2003 zwei Wildschweine erschossen werden, die auf dem Alexanderplatz auftauchten.Der Bestand an Wildschweinen rund um Berlin wird mittlerweile (Stand 2010) auf 10.000 Tiere geschätzt. Im unmittelbaren Stadtgebiet fühlen sich nach Schätzungen der Berliner Forstverwaltung rund 4.000 Tiere wohl. Sie dringen in die Gärten und Parks ein und richten dort zum Teil beträchtliche Schäden an. Sie durchstöbern auch Mülltonnen nach Essensresten. Die intelligenten Tiere registrieren sehr schnell, dass ihnen in Wohngebieten keine Bejagung droht, und werden gelegentlich sogar tagaktiv. So sind in einigen Berliner Stadtparks am helllichten Tag spielende Jungtiere zu beobachten. Der Berliner Senat hat ein strenges Fütterungsverbot erlassen, um zu verhindern, dass noch mehr Wildschweine in die Stadt gelockt werden.In Wien dringen Wildschweine von der Lobau in Wohngegenden des Bezirks Donaustadt im Osten der Stadt vor. Sie kommen in Privatgärten und suchen Essbares am Komposthaufen, für Katzen und Hunde bereitgestelltes Futter, sonstiges weggeworfenes Essbares. Die Forstbetriebe der Gemeinde Wien (MA 49) stellten im März 2018 Lebendfallen auf, um Tiere zu fangen, die dann insbesondere im Wienerwald westlich der Stadt ausgesetzt werden. Die klugen Tiere merken, dass Artgenossen weggefangen werden und meiden solche Gebiete.
=== Eingebürgerte Wildschweinbestände ===
Zu den verwilderten Schweinen Nordamerikas: siehe Hauptartikel Razorback.
Das Wildschwein wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zu Jagdzwecken in den Vereinigten Staaten eingebürgert, wo es sich zum Teil mit verwilderten Hausschweinen vermischt hat, die seit Anfang des 16. Jahrhunderts im Südwesten der Vereinigten Staaten (vor allem in Texas) lebten. Durch diese Vermischung gibt es in Nordamerika heute keine klare Abgrenzung zwischen Hausschwein und Wildschwein. Dabei scheinen sich aber Tiere, die einen relativ hohen Wildschwein-Anteil haben, gegenüber Schweinen mit hohem Hausschwein-Anteil durchzusetzen, obwohl die Bestände oft scharf bejagt werden. Zu den US-Staaten mit einem hohen Wildschweinbestand zählen Texas, Kalifornien, Florida, South Carolina, Georgia, Alabama, Arkansas, Oklahoma, Arizona und Louisiana.
Auch in Südamerika gibt es eingebürgerte Wildschweinbestände. In Argentinien wurden Wildschweine um 1900 eingebürgert und leben dort zwischen dem 40. und 44. Breitengrad.
Wildschweinbestände, die sich zum Teil ebenfalls mit dem Hausschwein vermischt haben, gibt es außerdem auch auf Neuguinea, Neuseeland und in Australien sowie auf Hawaii, Trinidad und Puerto Rico. Teilweise wurden die Tiere hier bereits vor hunderten von Jahren eingeführt. Nach Hawaii etwa gelangten die ersten Schweine vor rund 1000 Jahren mit polynesischen Seefahrern. In Australien wurden Wildschweine zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt, um dort unter anderem Schlangen zu bekämpfen. Heute gelten sie dort als Plage – sie töten beispielsweise regelmäßig neugeborene Lämmer und gelten daher als landwirtschaftliche Schädlinge. Auch auf zahlreichen südostasiatischen Inseln (Bismarck- und Louisiade-Archipel, Salomon- und Admiralitätsinseln und anderen im dortigen Bereich) wurden Wildschweine ebenfalls durch den Menschen eingeführt.
=== Lebensraum ===
Wildschweine passen sich unterschiedlichsten Lebensräumen an. Dazu trägt bei, dass sie ausgesprochene Allesfresser sind, die sich schnell neue Nahrungsnischen erschließen. Wildschweine haben durch ihre Fähigkeit, den Boden aufzubrechen, Zugang zu Nahrung, die anderen Großsäugern nicht zur Verfügung steht. Ihr kräftiges Gebiss kann sogar hartschalige Früchte wie Kokosnüsse aufbrechen. Sie sind außerdem ausgezeichnete Schwimmer und verfügen über eine gute Wärmeisolation, so dass sie sich auch an Feuchtgebiete anpassen können. Auf Grund dieser Fähigkeiten zählen sowohl borealer Nadelwald, schilfbewachsene Sumpfgebiete als auch immergrüner Regenwald zu den Lebensräumen, die vom Wildschwein besiedelt werden können.
Ihre nördliche Verbreitung wird dadurch begrenzt, dass über längere Zeit gefrorener Boden es ihnen unmöglich macht, an unterirdische Nahrungsreserven zu gelangen. Hoher Schnee behindert außerdem ihre Fortbewegung und damit ihre Nahrungssuche. Daher fehlen Wildschweine auch in Hochgebirgslagen.
Im klimatisch gemäßigten Mitteleuropa entwickeln Wildschweine die höchste Bestandsdichte in Laub- und Mischwäldern, die einen hohen Anteil an Eichen und Buchen haben und in denen es sumpfige Regionen sowie wiesenähnliche Lichtungen gibt.
Den subtropischen und tropischen Klimabedingungen passen sich Wildschweine durch eine Reduktion des Haarkleides an; sie bilden dort außerdem kein Unterhautfett, das ihnen im nördlichen Verbreitungsgebiet als Wärmeisolation dient. In heißen Regionen sind Wildschweine auf Wasserquellen angewiesen, Wüsten werden daher von ihnen nicht besiedelt.
== Ernährung ==
Das Wildschwein durchwühlt bei der Nahrungssuche den Boden nach essbaren Wurzeln, Würmern, Engerlingen, Mäusen, Schnecken und Pilzen. Wildschweine fressen neben Wasserpflanzen wie beispielsweise dem Kalmus auch Blätter, Triebe und Früchte zahlreicher Holzgewächse, Kräuter und Gräser. Als Allesfresser nehmen sie auch Aas und Abfälle an. Es wurde beobachtet, dass Wildschweine Kaninchenbaue aufbrechen, um die Jungkaninchen zu fressen. Gelegentlich fallen ihnen auch Eier und Jungvögel bodenbrütender Vögel zum Opfer. An trockengefallenen Gewässern fressen sie sogar Muscheln.
Eine besondere Rolle im europäischen Verbreitungsgebiet spielen in der Nahrung von Wildschweinen die Früchte von Eichen und Buchen. In Jahren, in denen diese Bäume besonders gut tragen, sogenannte Mastjahre, leben Wildschweine monatelang überwiegend von diesen Früchten. Wenn diese Mast fehlt, wird diese durch landwirtschaftlichen Maisanbau kompensiert. Auch Jäger bringen Mais als Lockmittel ein. Im asiatischen Raum gilt ähnliches für die Samen verschiedener Zirbelkieferarten.
Zur bevorzugten pflanzlichen Nahrung gehören in Mitteleuropa auch die Wurzeln von Adlerfarn und Weidenröschen. Je nach Jahreszeit haben auch die Wurzeln von Buschwindröschen, Schlangen-Knöterich, Wegerich und Sumpfdotterblumen einen größeren Anteil an ihrer Nahrung. Wildschweine weiden außerdem gerne an Klee und fressen die oberirdischen Pflanzenteile von Süßgräsern, Ampfer, Giersch, Adlerfarn und Wiesen-Bärenklau sowie Eichenlaub.
Wildschweine können erhebliche Wildschäden auf landwirtschaftlichen Nutzflächen verursachen. Sie fressen alle Feldfrüchte, die in Mitteleuropa in der Landwirtschaft angebaut werden. Bei Kartoffeln unterscheiden sie dabei sogar zwischen einzelnen Sorten und fressen besonders gerne Frühkartoffeln. Wildschweine durchwühlen auch Getreidefelder und richten mit ihrer Wühlerei regelmäßig einen größeren Schaden als durch das Fressen an. Auch die Schäden, die sie beispielsweise in Landschaftsparks anrichten, sind vor allem Wühlschäden. Sie graben dabei ganze Wiesen und Rabatten auf der Suche nach Blumenzwiebeln um.
Große landwirtschaftliche Schäden treten vor allem dann auf, wenn Eichen und Buchen nicht ausreichend Frucht angesetzt haben und die Wildschweine daher bevorzugt auf den landwirtschaftlichen Feldfluren auf Nahrungssuche gehen. Dies ist der Hauptgrund, warum Wildschweine so stark bejagt wurden, dass sie in Teilen Europas über Jahrhunderte hinweg fehlten. Es wird vermutet, dass die schon in der Bronzezeit nachweisbaren Einzäunungen von Feldern den Versuch darstellten, Wildschweine aus den Feldern fernzuhalten.
Wildschweine fressen allerdings auch Insekten, die einen Teil ihrer Entwicklungszeit im Boden verbringen, und andere Kleintiere. Die starke Wühltätigkeit dabei kann auch unter der Bodenfauna erhebliche Schäden verursachen, so etwa bei Eigelegen und Überwinterungsplätzen von Eidechsen. Das Durchwühlen des Bodens durch die Wildschweine im Rahmen der Nahrungssuche führt zu einer Erhöhung der Artenvielfalt mit Verschiebung des Spektrums zu kurzlebigeren Arten und leistet so einen Beitrag zum botanischen Artenschutz. Dies wird auf eine erhöhte Dichte von keimfähigen Pflanzensamen in von Wildschweinen genutzten Böden zurückgeführt. Wegen der veränderten Eigenschaften der von den Tieren durchwühlten Böden erhöht sich außerdem die Keimfähigkeit der Pflanzen, und die Durchbrechung der Vegetationsruhe führt zu einem verstärkten Wachstum.Für die Verbreitung von Pflanzensamen nach dem Fressen durch Endochorie ist das Wildschwein mit 76 von 123 untersuchten Pflanzenarten für die heimische Flora einer der wichtigsten Vektoren.
== Fortbewegung und Ruheverhalten ==
=== Gangarten, Schwimmen ===
Ruhende Wildschweine belasten in der Regel alle vier Beine gleichermaßen. Im Schritttempo ist die normale Fortbewegungsform der Kreuzgang, bei dem die jeweils diagonal gegenüber befindlichen Vorder- und Hinterläufe nahezu gleichzeitig vorwärts gesetzt werden. Vorder- und Hinterbein verlassen erst dann den Boden, wenn das jeweilige andere Bein bereits aufgesetzt hat. Die Tiere können dabei 3 bis 6 km in der Stunde zurücklegen.
Im Trab verlassen Hinter- oder Vorderbein bereits den Boden, bevor das jeweilige andere Bein aufgesetzt hat: Diese Gangart können Wildschweine über eine sehr lange Zeit halten und legen damit sechs bis zehn Kilometer pro Stunde zurück. Im Galopp flüchten Wildschweine, wenn sie aufgeschreckt werden: ausgewachsene Tiere legen mit jedem Galoppsprung bis zu zwei Meter zurück, sie erreichen dabei Geschwindigkeiten von etwa 40 km/h und können zudem rund 140–150 cm hoch springen. Allerdings halten sie diesen schnellen Lauf nicht lange aufrecht und fallen auch bei einer Flucht schnell in den Trab zurück.
Wildschweine können außerdem sehr gut schwimmen und vermögen dabei längere Strecken zurückzulegen; so durchschwimmen sie zum Beispiel nachgewiesenermaßen (Wildkameras) den Hochrhein zwischen den Landkreisen Lörrach und Waldshut, auch abwärts vom Rheinknie bei Basel. Sie bewegen dabei ihre Beine ähnlich wie beim Trab und nur Teile des Vorder- und Oberkopfes ragen aus dem Wasser.
=== Ruheverhalten ===
Wildschweine verbringen einen großen Teil ihres Tages ruhend. Zu welcher Tageszeit sie dies tun, ist abhängig von den jeweiligen Umweltbedingungen.
Zum Ruhen benutzen sie gerne spezielle Ruheplätze, in der Jägersprache Kessel genannt, die sie sowohl einzeln als auch gemeinsam nutzen. Dösende Wildschweine liegen meist mit gestreckten Beinen, indem sie entweder auf dem Bauch ruhen und die Vorder- und Hinterbeine nach vorne oder hinten ausstrecken. Typisch ist auch die Seitenlage, bei denen die Beine im rechten Winkel abgestreckt sind. Die Kauerlage, bei der die Beine eingeknickt werden, kommt bei Wildschweinen nur für kurze Zeit vor.
Das Suhlen in Schlammlachen gehört zum typischen Verhaltensrepertoire von Wildschweinen. Besonders im Sommer dient es der Wärmeregulation. Durch den Schlamm werden Hautparasiten eingekapselt; die trocknende Schlammschicht erschwert außerdem stechenden Insekten den Zugang zur Haut und wird am Malbaum abgescheuert, der sich in der Nähe der Suhlen befindet. Dazu lehnen sie sich an den Stamm und reiben ihren Körper daran entlang. Als Malbäume werden Bäume mit grober Rinde und/oder harzende Bäume bevorzugt, in Mitteleuropa vor allem Eichen, Kiefern und Fichten. Diese Bäume weisen bei längerer Nutzung deutliche Spuren auf. Durch den abgeriebenen Schlamm ist der Baum an den Scheuerstellen weißgrau, die Rinde ist in Teilbereichen abgetragen. Zum Scheuern ihres Unterkörpers stellen sich Wildschweine über Baumstümpfe und reiben sich daran. Keiler markieren mit ihren großen Eckzähnen an Malbäumen. Das Scheuern des Körpers an Bäumen ist notwendig, da Wildschweine aufgrund ihres kurzen und unbeweglichen Halses nicht in der Lage sind, sich mit Hilfe ihres Gebisses zu putzen und von Insekten zu befreien.
== Fortpflanzung ==
=== Paarungszeit ===
Die Paarungszeit, von Jägern auch Rauschzeit genannt, ist von den jeweiligen klimatischen Bedingungen abhängig; in Mitteleuropa beginnt sie meistens im November und endet im Januar oder Februar – der Höhepunkt ist im Dezember. Der Beginn der Paarungszeit wird dabei von den Weibchen bestimmt. Zu Verpaarungen kann es auch außerhalb dieser Zeit kommen. Männliche Wildschweine sind ganzjährig begattungs- und besamungsfähig. Weibliche Jungtiere können – sofern ihnen ausreichend Nahrung zur Verfügung steht – bereits nach 8 bis 10 Monaten geschlechtsreif werden. Männliche Tiere sind in der Regel erst im zweiten Lebensjahr fortpflanzungsfähig. Ausnahmen von dieser Regel hat man bisher nur in den Vereinigten Staaten beobachtet, wo Wildschweinpopulationen stark mit Hausschweinen durchmischt sind. Weibliche Tiere können das ganze Jahr über empfängnisbereit sein.
Nach Untersuchungen in mehreren deutschen Regionen pflanzen sich 60 Prozent, regional bis 80 Prozent des weiblichen Nachwuchses im ersten Lebensjahr bereits fort, teilweise im Alter von 8 Monaten bei einem Gewicht von 18 Kilogramm, bei anderen Untersuchungen 14,5 Kilogramm. Diese tragen damit regelmäßig etwa dreißig Prozent zur Gesamtfortpflanzung der Population bei. Die hohe Fortpflanzungsrate bereits bei Jungtieren ist bei Huftieren vergleichbarer Größe ungewöhnlich und eher typisch für die Verhältnisse bei Gruppen geringerer Körpermasse wie Nagetieren und Hasenartigen.Wildschweine leben in Familienverbänden aus erwachsenen Weibchen und Jungtieren. Entgegen früherer Vorstellungen können sich auch nicht-verwandte Tiere in erheblichem Ausmaß diesen Rotten anschließen, möglicherweise vor allem bei schärferer Bejagung. Während die Mehrzahl der weiblichen Nachkommen im Sozialverband mit dem Muttertier verbleibt, verlässt ein gewisser Anteil (etwa 20 Prozent bei einer Detailuntersuchung) diesen bereits im ersten Jahr, meist gemeinsam, d. h. entweder alle Nachkommen bleiben oder alle verlassen. Die Trennung gelingt dabei nur früh im Jahr geborenen Jungtieren, die selbst immer ein älteres Muttertier hatten. Da die Jungen von mehr Tieren gewärmt und gegen Feinde verteidigt werden können, steigt die Nachkommensrate im Verband möglicherweise insgesamt an. Sie profitieren vermutlich auch von dem besseren Zugang der Alttiere zu ergiebigen Nahrungsquellen. Innerhalb dieses Sozialverbands synchronisieren die Weibchen ihre Fortpflanzung, so dass alle Tiere zur gleichen Zeit Junge bekommen, diese Koordination wirkt aber nicht über die Gruppe selbst hinaus. Da auch Weibchen, die den Verband verlassen, sich in räumlicher Nähe zu etablieren versuchen, resultiert, zumindest ohne anthropogene Faktoren wie Bejagung, eine räumliche Populationsstruktur aus zahlreichen verwandten Individuen, allerdings nur bei den Weibchen.Insbesondere in der jagdlichen Presse rezipierte, ältere Hypothesen (basierend auf Verhaltensstudien von Heinz Meynhardt), dass die Rotte vor allem durch das älteste, fortpflanzungsfähige Weibchen zusammengehalten werde, und insbesondere, dass diese die Fortpflanzungsrate der anderen Weibchen und den Zuwachs der Population als Ganzes in irgendeiner Weise begrenze, haben keinerlei empirische Basis.
=== Werbung und Paarung ===
Trifft ein Männchen in der Paarungszeit auf Weibchen, beriecht es diese in deren Genitalregion. Ist das Weibchen empfängnisbereit, stößt er es leicht in die Bauchseite, gegen die Flanken oder an die Halsunterseite und umkreist sie. Wenn das Weibchen sich dem entzieht, folgt das Männchen ihm und versucht, den Körperkontakt aufrechtzuerhalten, indem es seinen Schädel auf den Rücken des Weibchens legt oder an ihre Flanken presst. Dieses so genannte Treiben kann sich über längere Zeit hinziehen. Wenn das Weibchen noch nicht paarungsbereit ist, attackiert es das Männchen gelegentlich. Das Männchen versucht dann, das Weibchen durch Nasonasal-Kontakt und Anhauchen zu beruhigen. Will das Weibchen nicht kopulieren, kann es quiekende Abwehrlaute ausstoßen. Wenn es nicht anders möglich ist, entzieht es seine Genitalregion durch Hinsetzen oder -legen.
Zur Paarung spreizt das Weibchen die Hinterläufe steif-schräg nach hinten und dreht den Schwanz seitlich weg. Das Männchen reitet auf, wobei es den Kopf auf ihren Rücken legt. In dieser Stellung verbleiben beide Tiere gewöhnlich fünf Minuten regungslos, bevor sie sich wieder trennen. Ein Weibchen kopuliert während der Paarungszeit etwa sechs- bis siebenmal.
=== Männchenkämpfe ===
Treffen während der Paarungszeit Männchen aufeinander, die um Weibchen konkurrieren, kommt es in der Regel zu Hierarchiekämpfen, die stark ritualisiert ablaufen. Zum Imponiergehabe von aufeinandertreffenden Männchen gehört unter anderem ein Scharren mit den Hinterbeinen, das Verspritzen von Urin sowie das Wetzen der Kiefer. Beim Wetzen wird der Unterkiefer rasch seitlich hin und her geschoben. Die Eckzähne des Ober- und des Unterkiefers schleifen dabei aneinander. Mit zunehmender Erregung geht dies in Kaubewegungen oder Kieferschlagen über, bei denen Ober- und Unterkiefer laut auf- und zugeklappt werden. Häufig bildet sich dabei Speichelschaum am Maul der Männchen. Gleichzeitig sind die langen Borsten des Kamms aufgestellt, der Kopf ist gesenkt. Im Imponierlauf umkreisen sich die beiden Männchen, was häufig in Schulterkämpfe übergeht. Hat bis dahin keines der Tiere die Flucht ergriffen, kommt es zum echten Kampf, bei dem die Tiere ihre Unterkiefereckzähne einsetzen, um mit seitwärts-aufwärts gerichteten Hieben gegen Bauch und Körperseite zu schlagen. Dabei können sich die Tiere heftig blutende Verletzungen zufügen. Zum Ende des Kampfes kommt es erst, wenn eines der Tiere flieht.
=== Geburt ===
Die Tragezeit der Weibchen beträgt etwa 114 bis 118 Tage (Eselsbrücke: „drei Monate, drei Wochen und drei Tage“). Die Jungtiere kommen in Mitteleuropa meist in der Zeit von März bis Mai zur Welt. Die Jungen kommen sehend und behaart (Borsten) zur Welt (Nestflüchter). Ihr Geburtsgewicht beträgt zwischen 740 und 1100 Gramm. Die Säugezeit der meist zahlreichen Jungtiere dauert 2,5 bis 3,5 Monate. Falls das Weibchen zu einer Rotte gehört, trennt es sich von dieser und geht seinen eigenen Weg, bis die Jungen groß genug sind, um mit der Rotte mitzuhalten. Die Bindung zwischen Mutter und Jungen dauert i. d. R. 1,5 Jahre.
Das Weibchen wählt dabei vor der Geburt sorgfältig den Ort für ein Geburtsnest aus. Diese Wurfkessel sind häufig in Richtung Süden exponiert, so dass sie von der Sonne erwärmt werden. In sumpfigen Regionen sucht das Weibchen nach Bodenerhebungen, damit das Nest trocken ist. Sie polstert das Nest mit Gras aus und baut anschließend eine Art Dach. Im Durchschnitt bringen Weibchen etwa sieben Jungtiere zur Welt. Während der Geburt liegt das Weibchen gewöhnlich in der Seitenlage.
Während der ersten Lebenstage der kälte- und nässeempfindlichen Jungtiere bleibt das Weibchen meist im Geburtsnest. Je nach Witterungsbedingungen verlässt das Weibchen das Nest mit seinen Jungtieren nach ein bis drei Wochen. Weibchen verteidigen ihre Jungtiere energisch. Dabei kann es auch zu Angriffen auf Menschen kommen.
== Sozialverhalten ==
Wildschweine leben in Mutterfamilien, im Harem oder in Gruppen vorjähriger Tiere zusammen. Einzelgängerisch leben insbesondere männliche Tiere. Die typischste Form des Zusammenlebens ist die Mutterfamilie, die aus einem Weibchen mit ihrem letzten Nachwuchs besteht. Gelegentlich bleibt der weibliche Nachwuchs des Vorjahres bei der Mutter und führt dann mitunter auch schon eigenen Nachwuchs. Die ursprüngliche Mutter ist in einem solchen Sippenverband das Leittier. Fremde Wildschweine werden in der Regel nicht in eine solche Gruppe aufgenommen. Treffen verschiedene Mutterfamilien aufeinander, wahren sie voneinander Abstand. Diese Gruppen brechen auseinander, wenn das Nahrungsangebot nicht ausreichend ist, oder sie durch sonstige Störungen auseinandergesprengt werden, oder wenn das Leittier stirbt. Aufgrund der hohen Sterblichkeit der Jungtiere schwanken die Gruppenstärken sehr stark. Gruppen von mehr als 20 Tieren sind in Mitteleuropa Ausnahmen.
Die vorjährigen Männchen werden vom Weibchen aus der Gruppe vertrieben und leben dann in der Regel für mindestens ein Jahr in einem eigenen Verband. Auch hier kommt es nicht zu Zusammenschlüssen mit vorjährigen Tieren aus anderen Gruppen. Die Hierarchie zwischen den einzelnen Tieren einer solchen Gruppe ist seit der Jungtierzeit ausgekämpft.
Ab dem zweiten Lebensjahr ziehen Männchen meist als Einzelgänger durchs Revier. Während der Paarungszeit von November bis Januar schließen sie sich einzeln Mutterfamilien an. Der Kontakt zwischen dem Männchen und der Mutterfamilie bleibt jedoch lose – das Männchen ruht nicht im gemeinsamen Lager und das Leitweibchen führt die Gruppe.
Gelegentlich lassen sich auch Gruppen vorjähriger Tiere beobachten, in denen männliche und weibliche Tiere als Überläuferrotte zusammenleben. Diese Rotten haben oft kein Leittier und lösen sich nach der Paarungszeit meist wieder auf. Wenn in einer Muttergruppe das Leittier tot ist, übernimmt eine andere Bache die Leitfunktion oder die Gruppe löst sich auf.
== Sterblichkeit ==
=== Lebenserwartung ===
Physisch ausgewachsen sind Wildschweine im Alter von fünf bis sieben Jahren; allerdings erreichen nur wenige Individuen dieses Lebensalter.
In schwach bejagten Populationen beträgt die Lebenserwartung zwischen 3–6 Jahren, während sie in stärker bejagten Populationen auf 2–3 Jahre sinkt. Die jährliche Sterblichkeitsrate beträgt 50 %. Besonders bei Jungtieren ist dies ein niedriger Wert. Dabei ist Jagd die Haupttodesursache in Europa, Krankheiten spielen nur eine geringe Rolle. Physisch ausgereifte Wildschweine machen nur einen geringen Teil der Wildschweinpopulation aus. Nur wenige Tiere werden noch älter. In Gefangenschaft dagegen erreichen Wildschweine ein wesentlich höheres Lebensalter. Belegt sind Wildschweine, die das 21. Lebensjahr erreicht haben.
=== Fressfeinde ===
Zu den natürlichen Feinden des Wildschweins zählen Tiger, Wolf und Braunbär. Sowohl Luchs, Fuchs, Wildkatze als auch der Uhu schlagen außerdem gelegentlich Jungtiere.
Für Wölfe stellen Wildschweine eine Hauptbeute dar, wobei der Anteil je nach Lebensraum schwankt. Bei einer zu Beginn der 1980er Jahre im nordeuropäischen Russland durchgeführten Untersuchung enthielten 47 % der Wolfsexkremente Wildschweinreste. In anderen Regionen Russlands kamen ähnliche Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass Wildschweine im Frühjahr und Sommer bis zu 80 % und im Herbst 40 % der Beute ausmachen. Bei der Jagd hetzen Wölfe die Wildschweingruppe über eine längere Strecke und versuchen dabei, ein Tier von der Gruppe abzutrennen. Vor allem Jungtiere und vorjährige Tiere fallen ihnen zum Opfer. Ausgewachsene Wildschweine können sich – in die Enge getrieben – gegen Wölfe durchaus verteidigen.
Nach Untersuchungen in Osteuropa jagen Braunbären dann Wildschweine, wenn ihnen andere Nahrungsreserven nicht zur Verfügung stehen oder wenn sie aufgrund unzureichender Fettreserven nicht in den Winterschlaf verfallen. Sie beschleichen dann die nachts im Nest ruhenden Wildschweine oder überfallen sie in ihrer Suhle. Im Winter verfolgen sie aber auch kranke und geschwächte Tiere über weite Strecken.
Luchs, Fuchs, Wildkatze und Uhu haben im Vergleich zu Wolf, Sibirischem Tiger und Braunbär nur eine untergeordnete Rolle als Beutegreifer. Sie jagen vor allem frisch geborene oder geschwächte Jungtiere. Vom Fuchs wird berichtet, dass er Weibchen mit Jungtieren gelegentlich nachfolgt, um eventuell zurückbleibende Jungtiere zu erjagen.
=== Krankheiten ===
Wildschweine gelten als ständiges Erregerreservoir und als Hauptüberträger der Klassischen Schweinepest auf Hausschweinbestände. 2002 wurden noch 451 Fälle bei Wildschweinen in Deutschland gemeldet, was auch zu einem erhöhten Jagddruck führte. In den letzten Jahren ist die Befallssituation jedoch zurückgegangen. Seit 2014 sind Fälle der Afrikanischen Schweinepest im Osten der Europäischen Union bekannt. Anfang 2019 wurde mit dem Bau eines Wildschweinzauns an der deutsch-dänischen Grenze begonnen. Nach Angaben der zuständigen dänischen Naturbehörde soll so einer Übertragung der Afrikanischen Schweinepest vorgebeugt werden.Wildschweine sind Wirte für Trichinen. Aus diesem Grund muss Wildschweinfleisch vor der Verwertung einer Trichinenuntersuchung unterzogen werden. Positive Befunde sind sehr selten; die Untersuchung ist jedoch notwendig, da eine Erkrankung für den Menschen im Extremfall tödlich enden kann.
15 % der in Deutschland erlegten Wildschweine sind Träger des Hepatitis-E-Virus. Inwieweit eine Übertragung auf den Menschen erfolgt, ist noch ungeklärt. Wildschweine auf der Iberischen Halbinsel wurden als Träger des Tuberkulosebakteriums identifiziert. In einem im Jahr 2012 durchgeführten Versuch übertrugen Wildschweine – ohne direkten Kontakt – Ebolaviren an Primaten, ohne dabei selbst tödlich zu erkranken.
=== Sterblichkeit durch Jagd ===
Bei den Wildschweinen Mitteleuropas ist die Jagd der entscheidende Mortalitätsfaktor. Aufgrund der günstigen Umweltbedingungen ist allerdings die derzeitige hohe natürliche Wachstumsrate der Populationen so hoch, dass auch bei der derzeit praktizierten Jagdausübung jahrzehntelang ein rasanter Populationsanstieg zu beobachten war. Bei einer natürlichen Jugendmortalität der Jungen von etwa 20 Prozent müssten nach Modellberechnungen mindestens etwa 65 Prozent der jährlichen Sommerpopulation geschossen werden, damit diese absinkt. Die Mortalität von Wildschweinen, insbesondere ihren Jungen, durch Prädatoren wie den Wolf erreichte auch in Regionen mit stabilen Wolfspopulationen nie mehr als 6 Prozent. Natürliche Sterblichkeit, etwa durch harte, frostreiche Winter, Dürren und andere Perioden mit Nahrungsmangel wurde in Langzeituntersuchungen auf etwa 15 Prozent abgeschätzt. In den Populationen erreichte nur ein geringer Teil 10 Lebensjahre (hier: 22 von 1783, 3 das maximale Alter von 13 Jahren). Wie in solchen Fällen oft zu beobachten, führt hoher Jagddruck zu einer beschleunigten Reproduktion und einem früheren Beginn der Reproduktionsphase.
=== Gefährdung ===
Aus globaler Sicht wird das Wildschwein von der Weltnaturschutzunion IUCN in der Roten Liste gefährdeter Arten als Least Concern (nicht gefährdet) geführt. Lokale Bedrohungen gehen zurück.
== Systematik ==
=== Entwicklungsgeschichte ===
Die Gattung Sus entstand vermutlich bereits im Mittleren Miozän im heutigen Asien, als phylogenetischer Vorläufer kommt Propotamochoerus in Betracht. Im Verlauf des Miozäns erreichte sie weite Teile Eurasiens und wurde im heutigen Europa im Pliozän zum dominanten Vertreter der Schweine. Sus diversifizierte sich in zahlreiche Arten. Im pliozänen Europa traten neben dem kleinen Sus arvernensis auch das deutlich größere Sus strozzi auf. Das heutige Wildschwein ist erstmals im Verlauf des Altpleistozäns fassbar. Die ältesten Funde wurden in Untermaßfeld bei Meiningen in Thüringen entdeckt. Überliefert sind neben fragmentierten Schädeln und Unterkiefern auch isolierte Zähne. Die Fundstelle entstand während eines Hochwasserereignisses der ursprünglichen Werra vor rund 1,07 Millionen Jahren, chronostratigraphisch wird sie dem Epi-Villafranchium zugerechnet. Nur wenig jünger sind Reste aus Silvia in Italien, die auf etwa 900.000 bis 850.000 Jahre datieren. Ebenso enthält die recht umfangreiche stratigraphische Sequenz der Gran Dolina von Atapuerca in Spanien vereinzelt Funde des Wildschweins. Es handelt sich hierbei zumeist um Einzelzähne, gefunden unter anderen in den Abschnitten TD6 und TD8, die zwischen 960.000 und 820.000 Jahre alt sind. Die frühen Formen des Wildschweins werden häufig einer eigenen Unterart, Sus scrofa priscus, zugewiesen, die sich durch eine sehr große Körpergröße und weniger komplexe Backenzähne auszeichnet.Im nachfolgenden Mittelpleistozän bleibt das Wildschwein ein regelmäßiger, wenn auch nicht sehr häufiger Bestandteil lokaler Faunengemeinschaften. Erwähnenswert sind die Fossilreste aus den Mosbacher Sanden in Hessen und von Voigtstedt in Thüringen. Auch die bedeutende frühmenschliche Fundstelle Bilzingsleben erbrachte Gebissfragmente und Einzelzähne sowie Elemente des Bewegungsapparates von Sus scrofa. Das Wildschwein ist vor allem in den Warmzeiten in den Bereichen nördlich der Alpen präsent. Als typische Fundstellen der spätmittelpleistozänen Warmzeiten können unter anderem Ehringsdorf bei Weimar oder Neumark-Nord im Geiseltal bei Halle (Saale) genannt werden. In den Kaltzeiten zieht sich die Art hingegen in das südliche Europa zurück. Im Wechsel zwischen den Warm- und Kaltzeiten in Europa kommt es zu einem oszillierenden Effekt in der Körpergrößenausbildung, der größere Individuen während der wärmeren und kleinere während der kälteren Klimaphasen einschließt. Dies konnte unter anderem an mehreren Fundstellen in Apulien beobachtet werden, wobei der Trend bis in das Holozän anhält.Das nordafrikanische Verbreitungsgebiet erreichte das Wildschwein vermutlich schon im Mittelpleistozän, bestätigt durch Funde aus Ternifine. Die Bereiche südlich der heutigen Sahara konnte die Art jedoch nicht besiedeln. Dort waren andere Vertreter der Schweine präsent, die eine markante Radiation durchliefen und zur Herausbildung der rezenten Formen wie das Buschschwein oder das Warzenschwein beitrugen.Im Jahr 2021 wurden Fossilien aus Zypern beschrieben, die belegen, dass Wildschweine zu Beginn des Holozäns auf dieser Insel vorkamen.
=== Unterarten ===
Neben der Nominatform wurden eine Reihe von Unterarten beschrieben. Diese werden anhand der Basilarlänge des Schädels und der Größenverhältnisse des Tränenbeins differenziert. Die Länge des Tränenbeins nimmt von Westen nach Osten ab und seine Höhe nimmt zu. Der gesamte Schädel wird dabei kürzer und höher. Die nördlicheren und nordwestlicheren Arten haben außerdem eine zunehmend dichtere und längere Behaarung. Auf Inseln lebende Wildschweine sind generell kleiner.
Folgende Unterarten werden unterschieden:
Sus scrofa scrofa – die Nominatform, die in West- und Mitteleuropa bis zu den Pyrenäen und Alpen sowie bis zum Nordwesten der Slowakei verbreitet ist. Die Unterart ist mittelgroß, dunkel mit rostbraunem Fell.
Sus scrofa castillianus – ist die auf der Iberischen Halbinsel verbreitete Unterart.
Sus scrofa meridionalis – war die auf Korsika und Sardinien beheimatete Unterart. Sie gilt mittlerweile als ausgerottet.
Sus scrofa majori – die auf der Italienischen Halbinsel verbreitete Unterart. Sie ist verhältnismäßig klein und dunkel. Im Norden Italiens ist sie mittlerweile von der Unterart scrofa verdrängt.
Sus scrofa reiseri – aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens
Sus scrofa barbarus – die mittlerweile selten gewordene Unterart, die ursprünglich in Marokko, Algerien und Tunesien verbreitet war.
Sus scrofa sennaarensis – war die mittlerweile ausgerottete Wildschweinunterart, die in Ägypten und im Sudan beheimatet war.
Sus scrofa libycus – war die von der Südtürkei bis nach Israel und Palästina verbreitete Unterart. Sie ist gleichfalls durch Bejagung ausgerottet.
Sus scrofa attila – ist die im Kaukasus, in Südosteuropa, Kleinasien, Nordpersien und entlang der Nordküste des Kaspischen Meeres beheimatete Unterart, die größer und schwerer als die mitteleuropäische Unterart wird. Das Fell ist dagegen etwas heller.
Sus scrofa nigripes – ist die mittelasiatische Unterart, die in Kasachstan, Südsibirien, dem östlichen Tianshan, der Westmongolei und möglicherweise in Afghanistan und dem Südiran verbreitet ist. Die Unterart ist im Durchschnitt recht groß, zeigt aber diesbezüglich eine große Variationsbreite. Die helle Fellfarbe kontrastiert mit den schwarzen Beinen.
Sus scrofa sibiricus – die im Baikalgebiet sowie der nördlichen Mongolei lebende Unterart. Sie gilt als eine verhältnismäßig kleine Unterart. Die Fellfärbung ist dunkelbraun, beinahe schwarz.
Sus scrofa ussuricus – das so genannte „Ussurische Wildschwein“, das zu den größten Unterarten zählt. Die Grundfärbung ist variabel, meist aber dunkel, vom Maul zum Ohr zieht sich ein weißes Band. Bewohnt das Amur- und Ussurigebiet.
Sus scrofa leucomystax – ist das in Japan lebende Wildschwein.
Sus scrofa riukiuanus – das als gefährdet eingestufte Wildschwein der Ryukyu-Inseln im Südwesten Japans
Sus scrofa cristatus – das Indische Wildschwein ist die in Indien und Indochina lebende Unterart, die einen verkürzten Gesichtsschädel hat.
Sus scrofa vittatus – urtümliche Unterart, bewohnt den Bogen von der Halbinsel Malakka über die Sunda-Inseln bis Komodo.
Sus scrofa timorensis – auf Timor verbreitet.
Sus scrofa nicobaricus – von den Nicobaren
Sus scrofa andamanensis – von den Andamanen
Sus scrofa chirodontus – aus Südchina und Hainan
Sus scrofa taivanus – aus Taiwan
Sus scrofa moupinensis – aus Zentral-China
Sus scrofa papuensis – aus Neuguinea
=== Genetik ===
Europäische Wildschweine haben meist 2n = 36 Chromosomen. Hausschweine besitzen dagegen 2n = 38 Chromosomen. Das japanische Wildschwein Sus scrofa leucomystax und Populationen im ehemaligen Jugoslawien haben dieselbe Chromosomenzahl wie das Hausschwein. In niederländischen Wildschweinpopulationen sind Tiere mit 2n = 37 Chromosomen relativ häufig und solche mit 2n = 38 ausgesprochen selten. Die Arme eines submetazentrischen (zwischen Mitte und Ende) Chromosoms der Wildschweine entsprechen dabei zwei telozentrischen Chromosomen (Chromosomen mit einem endständig lokalisiertem Centromer) der Hausschweine. Im Laufe der Domestizierung des Wildschweins kam es vermutlich durch Fission zur Erhöhung der Chromosomenzahl. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass die ursprüngliche Chromosomenzahl der Wildschweine bei 2n = 38 lag und durch zentrische Fusion von zwei Paaren telozentrischer Chromosomen sich ein paar submetazentrischer Chromosomen bildete. Die japanischen und jugoslawischen Unterarten würden dann den ursprünglichen Zustand abbilden.Kreuzungen zwischen Wild- und Hausschweinen ergeben fruchtbare Nachkommen, auch wenn die Chromosomenzahl der Elterntiere unterschiedlich sind.
== Mensch und Wildschwein ==
=== Jägersprache ===
Für das Wildschwein und seine Körperteile haben sich in der Jägersprache und im jagdlichen Brauchtum eigene Namen und Bezeichnungen herausgebildet. Die Art wird hier als „Schwarzwild“, „Schwarzkittel“ oder „Sauen“ bezeichnet. Männliche Wildschweine werden demnach als „Keiler“ bezeichnet. Ein starkes, älteres Männchen ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr wird als „Basse“ oder „Hauptschwein“ bezeichnet. Das weibliche Tier heißt jagdlich „Bache“, das Jungtier beiderlei Geschlechtes nennt man von seiner Geburt bis zum zwölften Lebensmonat „Frischling“. Ab dem 13. bis zum 24. Lebensmonat werden junge Wildschweine als „Überläufer“, genauer als „Überläuferbache“ bzw. „Überläuferkeiler“, bezeichnet. Die Eckzähne werden beim Keiler auch als „Gewaff“ bezeichnet und liegen demnach in seinem „Gebrech“. Die Eckzähne im Oberkiefer heißen dort „Haderer“, die im Unterkiefer „Gewehre“. Ein Rudel mit mehreren Wildschweinen heißt Rotte.
=== Wildschwein und Hausschwein ===
In dem großen Verbreitungsgebiet des Wildschweins ist es mehrfach unabhängig voneinander zur Domestikation gekommen. Die Domestikation des Wildschweins ist ähnlich wie bei Schafen und Ziegen mit einer Abnahme der Größe einhergegangen. Archäologische Funde von Schweineknochen, die deutlich unterhalb der Variationsbreite von Wildschweinknochen liegen, werden deshalb als Beleg für eine Wildschweindomestikation betrachtet. Die ältesten gesicherten Belege für eine Domestikation hat man im Südosten der Türkei gefunden. In frühneolithischen Siedlungen aus der ersten Hälfte des 8. Jahrtausends v. Chr. haben Ausgrabungen Schweineknochen an den Tag gebracht, die sich in ihren Größenverhältnissen deutlich vom Wildschwein unterscheiden. Im Irak und für Europa datieren sichere Belege auf 7000 v. Chr. Unabhängig davon fand die Domestikation des Wildschweins in China statt, wo die ältesten Knochenfunde auf eine Haustierhaltung des Wildschweins im 6. Jahrtausend v. Chr. hinweisen. In Thailand lassen archäologische Befunde die Domestikation auf das 4. Jahrtausend v. Chr. datieren.
Die Domestikation hat in Mitteleuropa zu Schweinen geführt, die im Mittelalter häufig nur eine Widerrist-Höhe von 75 cm hatten. In ihrem Erscheinungsbild – dichte Körperbehaarung, langgestreckter Kopf, Stehmähne – glichen sie jedoch noch sehr dem Wildschwein:
Die heutigen Hausschweine, wie etwa das Schwäbisch-Hällische Landschwein oder das Deutsche Edelschwein, sind verhältnismäßig moderne Züchtungen. Sie entstanden, nachdem die Praxis der Eichelmast zunehmend eingestellt wurde. Die erste moderne Schweinerasse entstand um 1770 in England.
=== Das Wildschwein als Jagdwild ===
Das Wildschwein gehörte zum wichtigsten Jagdwild der Menschen des Mesolithikums. Aufgrund archäologischer Befunde ist man der Überzeugung, dass Wildschweine in Mitteleuropa etwa 40 bis 50 % der Jagdbeute ausmachten. Unsere Vorfahren verwendeten Fallgruben und jagten mit Pfeil und Bogen die leicht zu erlegenden Jungtiere und vorjährigen Tiere.
Die Jagd auf ein ausgewachsenes Männchen erforderte Mut und Geschick. Ein verletztes ausgewachsenes Wildschwein greift auch den Menschen an und insbesondere die männlichen Tiere vermögen mit ihren langen Eckzähnen dem Menschen tödliche Verletzungen beizufügen. Es galt daher als königliche Mutprobe, sich nur mit der so genannten Saufeder – einem Jagdspieß – auf Wildschweinjagd zu begeben. Die erfolgreiche Jagd Karls des Großen auf einen Keiler wird dementsprechend auch in der St. Galler Handschrift Carolus Magnus et Papa Leo aus dem Jahre 799 gewürdigt.
Wie zahlreiche Gemälde und kunsthandwerkliche Arbeiten zeigen, war die Wildschweinhatz mit Pferd und Jagdhunden die übliche Jagdweise. Am württembergischen Herzogenhof wurden zu Anfang des 17. Jahrhunderts 900 große Jagdhunde gehalten, mit denen man auf Wildschweinjagd ging. Die wertvolleren dieser Hunde, die man auch als „Sauhunde“ oder „Schweinshunde“ bezeichnete, wurden gegen die Angriffe der Wildschweine mit breiten Halsbändern und mitunter sogar Panzerhemden geschützt. Aufgabe der Hunde war es, das Wildschwein so lange zu hetzen, bis es ermüdete, und es dann an einem Ort festzuhalten, bis der Jäger es aus naher Entfernung tötete. Bei diesen sogenannten Sauhatzen wurden regelmäßig Menschen, Pferde und Hunde durch angreifende Wildschweine schwer und mitunter tödlich verletzt.
Die Entwicklung der Feuerwaffen machte die Jagd auf das Wildschwein einfacher. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, sich einem mit seinen Hauern wild schlagenden Keiler direkt zu stellen. Trotzdem war insbesondere im Barock die Jagd auf das Wildschwein fester Bestandteil des höfischen Zeremoniells. Wildschweinjagden zu Pferd gehörten zwar noch zu den fürstlichen Vergnügungen, häufig wurden die Tiere jedoch auch in Hetz- oder Saugärten vor die Büchsen der höfischen Gesellschaft getrieben. Die erjagten Tiere spielten dabei durchaus auch eine Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch. 1669 verkaufte beispielsweise das „Proviant- und Rauchhaus des Jägerhofes Dresden“ 616 geschossene Tiere an die Bevölkerung; in Preußen waren die Bürger der Städte gezwungen, dem königlichen Hof erjagte Wildschweine abzukaufen. Demgegenüber stand der massive landwirtschaftliche Schaden, den die Wildschweine auf den Feldern anrichteten. Den Bauern war es in der Regel nicht erlaubt, die in ihre Felder einfallenden Wildschweine zu töten – sie durften lediglich mit Knüppeln ihre Anbauflächen schützen.
Dies änderte sich mit dem Verfall des Absolutismus. Jagdbeschränkungen auf Wildschweine wurden aufgehoben und ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden in vielen mitteleuropäischen Ländern Verordnungen erlassen, nach denen Wildschweine nur noch in Tiergärten oder Wildgattern erlaubt waren. Mitte des 19. Jahrhunderts war das Wildschwein deswegen in zahlreichen mitteleuropäischen Regionen nicht mehr vertreten. Dazu trug wesentlich bei, dass infolge der Revolution von 1848 das Jagdrecht an das Grundeigentum gebunden wurde. Der Jagdinhaber hatte den entstehenden Wildschaden zu ersetzen und dies führte zu einer massiven Dezimierung der Wildschweinbestände. Das preußische Wildschadengesetz von 1891 beispielsweise verlangte vom Jagdberechtigten vollen Ausgleich des Wildschweinschadens, wenn ihm Hegeabsichten unterstellt werden konnten. Als Hegeabsicht wurde dabei schon gewertet, wenn der Jagdberechtigte ein Weibchen mit Jungtieren nicht abschoss.
In den 1940er Jahren waren viele Regionen Mitteleuropas von Wildschweinen nicht mehr besiedelt. Zur Ausbreitung des Wildschweins in der Zeit danach hat beigetragen, dass in den ersten Nachkriegsjahren insbesondere in Deutschland die Jagd nur eingeschränkt erlaubt war. Auch der vermehrte Anbau von Mais ließ die Zahl der erlegten Wildschweine steigen. Im Jagdjahr 2007/08 wurden in Deutschland 447.000 Tiere erlegt, 2010/11 waren es 579.000, was einem Anstieg um 30 % innerhalb von drei Jahren entspricht. Die Tendenz ist ungebrochen, 2015/16 lag die Quote bei 610.600. Allerdings schwankt die jährliche Abschussmenge in den Bundesländern zum Teil erheblich. Allein der Vergleich zwischen den Stadtstaaten Berlin mit über 1.500 Abschüssen, Hamburg mit 128 und Bremen mit nur zwei zeigt dies deutlich. Das Wildschwein ist mittlerweile das zweithäufigste jagdbare Haarwild nach dem Reh in Deutschland, in Österreich steht es noch an fünfter, in der Schweiz an sechster Stelle (2015 auch hier bereits an fünfter Stelle).Wildschweine werden, soweit verwertbar, zu Wildbret verarbeitet. Das Fleisch vom Wildschwein ist nach wie vor am begehrtesten. Das Aufkommen 2016/17 in Deutschland lag laut Deutschem Jagdverband bei 13.900 Tonnen. Der errechnete Wert des Wildbrets liegt bei über 92,3 Mio. €. Als Allesfresser unterliegt das Fleisch vom Wildschwein der Pflicht zur amtlichen Untersuchung (Beschau) auf Trichinen. Seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl muss in südlichen Regionen der Bundesrepublik auch auf radioaktive Belastung durch 137Cs untersucht werden, sofern das Fleisch in den Handel gelangt. Laut einem Bericht des Telegraph war 2014 die Strahlenbelastung der Wildschweine in Sachsen immer noch so hoch, dass 297 von 752 erlegten Tieren den Grenzwert von 600 Bq/kg überschritten und vernichtet werden mussten. Auch in bestimmten Gebieten Schwedens (Uppsala län, Gävleborgs län und Västmanlands län) wiesen 69 von 229 erlegten Wildschweinen Werte über 1500 Bq/kg auf, der Höchstwert in der 2017/2018 durchgeführten Analyse lag bei etwa 40 000 Bq/kg. Durch ihr Ernährungsverhalten sind Wildschweine deutlich höher belastet als andere Wildtierarten. Die Kontamination geht jedoch zurück. Während das bundesweite Messprogramm IMIS 2014 bis 2016 noch Werte von bis zu rund 2.500 Becquerel pro Kilogramm für Wildschweine feststellte, lagen die Höchstwerte 2016 bis 2018 bei bis zu rund 1.300 Becquerel pro Kilogramm. Der Großteil der Werte war deutlich niedriger.Im Allgemeinen werden Wildschweinjunge unter 15 kg nur zur Seuchenbekämpfung (zum Beispiel im Fall von Schweinepest) erlegt. Gutes Wildbret liefern Überläufer und nicht zu alte Tiere beiderlei Geschlechtes. Ältere Stücke werden zu Wurst verarbeitet. Männchen in der Paarungszeit sind kaum zu verwerten.
=== Verhalten gegenüber Menschen ===
Wildschweine leben überwiegend in ländlichen Regionen, können aber bei geeigneten Bedingungen auch Siedlungen, bis hin zu Großstädten, dauerhaft besiedeln, sie meiden also nicht generell Regionen mit hoher Bevölkerungskonzentration. Kommt es häufiger zu Kontakt mit Menschen, zeigen sie Verhaltensanpassungen. Häufig nimmt die nächtliche Aktivitätsperiode zu, es kann aber, vor allem aufgrund fehlender Bejagung in Städten, zu Gewöhnungsvorgängen (Habituation) kommen, wobei die Tiere ihre Scheu vor dem Menschen verlieren. Dies gilt vor allem dann, wenn sie zusätzlich gefüttert werden.
Erfahrungen in Berlin zeigen, dass die Bejagung im urbanen Raum von Teilen der Bevölkerung einerseits häufig aus Sympathie für die Tiere und aus Tierschutzgründen abgelehnt wird, andererseits wegen der verursachten Schäden in Gärten und Grünanlagen massiv gefordert wird. Hier steht daher neben der Bejagung vor allem die Beratung der Bürger zum angemessenen Umgang mit Wildschweinen im Wohnumfeld im Vordergrund. Eine Umfrage in Barcelona (Spanien) zeigte aber, dass massiver Abschuss von Wildschweinen in der Stadt sogar von solchen Bürgern überwiegend abgelehnt wurde, die vorher negative Erfahrungen mit ihnen gemacht hatten. In Berlin zeigte rund ein Viertel der Befragten in stark betroffenen Gebieten Sympathie für eine radikale Bekämpfung.Direkte Angriffe von Wildschweinen auf Menschen sind selten, zeigen aber in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Tendenz. Von 412 analysierten Fällen weltweit erfolgte nur ein Viertel während einer Jagd, dann meist durch angeschossene Tiere. Etwa die Hälfte (49 %) der Angriffe abseits von Jagden erfolgte ohne vorherige Provokation durch eigenes Verhalten wie Bedrohung, ebenfalls zur Hälfte (52 %) nachts. In den Fällen, bei denen das Geschlecht festgestellt werden konnte, erfolgten die meisten (82 %) der Angriffe durch männliche Tiere. In 69 % der Fälle kam es zu Verletzungen, tödliche Verletzungen kamen vor, blieben aber wenige Einzelfälle. Nur in wenigen Fällen (etwa 10 %) waren die Menschen von Hunden begleitet. Aufgrund der Körpergröße überwiegen, meistens oberflächliche, Verletzungen an den Beinen und im unteren Rumpfbereich. Häufiger als Angriffe auf Menschen sind Wildunfälle mit Autos, meist auf mäßig befahrenen Straßen nachts. Allein in Berlin kam es 2004/2005 zu 653 Unfällen mit Wildschweinen. Weitere Probleme betrafen Schäden durch Wühltätigkeit in Gärten und Parks und hin und wieder Konflikte mit abfallverwertenden Tieren.Wildschweine haben einen robusten Umgang miteinander und können selbst ohne aggressive Absichten Menschen versehentlich schwer verletzen. Von der Haltung von Wildschweinen als Haustiere wird daher grundsätzlich abgeraten.
=== Abgerichtete Wildschweine ===
Im Périgord (Frankreich) werden speziell zur Trüffelsuche trainierte Wildschweine eingesetzt.
In den 1980er Jahren gelangte ein im Hildesheimer Raum abgerichtetes Wildschwein zu weltweiter Bekanntheit und fand als erstes Schwein im Dienst der Polizei Aufnahme in das Guinness-Buch der Rekorde: Das Spürwildschwein Luise der Polizei Niedersachsen war nach Ausbildung durch einen Diensthundeführer in der Lage, vergrabene Sprengstoffe und Rauschgiftproben ebenso gut wie Suchtmittelspürhunde zu finden. Das Wildschwein stand von 1984 bis zur Pensionierung ihres Ausbilders und Führers 1987 im Dienst der Polizei. Es kam wegen seiner aufwändigen Öffentlichkeitsarbeit nur in vier Fällen zu einem Polizeieinsatz, wobei es zweimal fündig wurde.
=== Wildschweine in der Literatur ===
Die Jagd auf das wehrhafte Wildschwein ist immer wieder Thema der Literatur gewesen. Das reicht von den Taten des Herakles, der den Erymanthischen Eber einzufangen hat, über das Nibelungenlied und die griechische Überlieferung der Wildschweinjagd der Atalante und des Meleager (von Peter Paul Rubens auch in Gemälden festgehalten) bis zur Darstellung in der Comic-Serie Asterix.
Schon in den Erzählungen des Homer wird davon berichtet, wie die griechische Göttin der Jagd Artemis aus Rache ein Wildschwein auf die Erde schickt, das die Felder und Weingärten verwüstet. Der römische Dichter Ovid hat beschrieben, welche Schäden wühlende Wildschweine auf den Feldern der Bauern verursachen. In der germanischen Edda jagen die Helden jeden Tag den Keiler Sährimnir, der am nächsten Morgen aufersteht, um erneut gejagt zu werden. Auch in Märchen kommt der Wildschweinkampf als Mutprobe vor. Im Märchen vom Tapferen Schneiderlein fängt das schmächtige Schneiderlein durch einen schlauen Trick den wilden Eber, vor dem sich sogar die Jäger fürchteten (siehe auch Der singende Knochen).
In der Comic-Serie Asterix, deren Handlung im Gallien der Römerzeit um das Jahr 50 v. Chr. unter Julius Caesar spielt, gelten Wildschweine als Leibspeise nicht nur der Hauptfiguren Asterix und Obelix, sondern aller Bewohner des gallischen Dorfes, das den Römern erbittert Widerstand leistet. Fast jedes Heft der Comic-Serie endet damit, dass das gesamte Dorf sich beim gemeinsamen Wildschweinessen versöhnt und feiert.
Im Roman Hannibal von Thomas Harris spielen Wildschweine eine Rolle in den Racheplänen Mason Vergers, eines Opfers von Doktor Lecter. Er lässt eine Wildschweinrasse züchten, die besonders wild und sogar blutrünstig ist, um sie als Mordwaffe gegen Doktor Lecter einzusetzen.
=== Wildschweine in der Kunst ===
=== Wildschwein als Wappentier und Namensgeber für Ortschaften ===
Das Wildschwein wurde häufig als Wappentier verwendet und stand auch Pate für die Namensgebung von Ortschaften. Bekannte Beispiele sind die Kreisstadt Eberswalde nordöstlich von Berlin, die mehrfach auftretenden Ortsnamen Eberbach oder Ebersbach, Everswinkel im Münsterland oder Eversberg im Sauerland. Einen Eber mit Hauern ziert jeweils das Wappen vom Landkreis Ebersberg und der Kreisstadt Ebersberg in Oberbayern; auch der Ort Ebermannstadt in Oberfranken verwendet eine Abbildung des Tieres.
Das Wappen des Wolfsburger Stadtteils Vorsfelde zeigt auf silbernem Grund einen springenden schwarzen Eber über grünem Boden. Es ist ein redendes Wappen, denn das Wildschwein vergegenständlicht den Namensteil Vor im Ortsnamen Vorsfelde. Dat Vor ist ein Begriff aus dem Niederdeutschen und steht für ein mageres Schwein. Das Wappenbild in der heutigen Form tauchte erstmals um 1740 auf. Es entstand aus dem Vorsfelder Ortssiegel, auf dem ein springendes Wildschwein bereits 1483 nachweisbar ist. Die Übernahme als Wappentier beruht vermutlich auch auf der Häufigkeit von Schwarzwild in den nahen Drömlingswäldern. Seit 1952 steht ein Eber als ausgestopftes Wappentier in einem Schaukasten im früheren Vorsfelder Rathaus (heute Verwaltungsstelle der Stadt Wolfsburg), der in Ortsnähe geschossen wurde.
Das in Mecklenburg ansässige alte Adelsgeschlecht Bassewitz mit einem Eber im Wappen leitet seinen Namen von dem Wort „Basse“ ab, einer in der Jägersprache gebräuchlichen Bezeichnung für einen mächtigen Keiler.
Der Keilerkopf ist Markenzeichen der Spirituosenfabrik Hardenberg-Wilthen in Nörten-Hardenberg („Hardenberger“). Sie gab sich dieses Markenzeichen aufgrund des Ebers als Wappentier der Grafen von Hardenberg, die vor Ort ihren Stammsitz haben.
== Literatur ==
Norbert Benecke: Der Mensch und seine Haustiere – Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-88059-995-5, S. 248–260.
Lutz Briedermann: Schwarzwild. 2., bearbeitete Auflage. Deutscher Landwirtschaftsverlag, Berlin 1990, ISBN 3-331-00075-2.
H. Gossow: Wildökologie. (Reprint der letzten Auflage des BLV.) Verlag Kessel, Remagen-Oberwinter 2005, ISBN 3-935638-03-5.
Heinz Gundlach: Brutfürsorge, Brutpflege, Verhaltensontogenese und Tagesperiodik beim Europäischen Wildschwein (Sus scrofa L.). In: Zeitschrift für Tierpsychologie. Band 25, Nr. 8, 1968, S. 955–995 (Zusammenfassung auf onlinelibrary.wiley.com. Abgerufen am 27. August 2017).
Ilse Haseder, Gerhard Stinglwagner: Knaurs Großes Jagdlexikon. Augsburg 2000, ISBN 3-8289-1579-5.
Lutz Heck: Die Wildsauen. Verlag Paul Parey, Hamburg 1980/1985, ISBN 3-490-06612-X.
Rolf Hennig: Schwarzwild. Biologie, Verhalten, Hege und Jagd. 7., überarbeitete Auflage. (Neuausgabe). BLV, München 2007, ISBN 978-3-8354-0155-6.
V. G. Heptner: Mammals of the Sowjetunion Vol. I Ungulates. Leiden/ New York 1989, ISBN 90-04-08874-1.
Heinz Meynhardt: Schwarzwild-Report. Mein Leben unter Wildschweinen. 8., überarbeitete Auflage. Neumann, Leipzig/ Radebeul 1990, ISBN 3-7402-0080-4.
F. Müller, D. G. Müller (Hrsg.): Wildbiologische Informationen für den Jäger. Band 1: Haarwild. (Reprint der früheren Ausgabe aus Jagd+Hege). Verlag Kessel, Remagen-Oberwinter 2004, ISBN 3-935638-51-5.
Julia Numssen: Handbuch Jägersprache. BLV, München 2017, ISBN 978-3-8354-1728-1.
Michael Petrak: Schwarzwild. Biologie, Bestandsreduktion, Sozialstrukturen, Wildschadenseindämmung, Schweinepest. (= Wild und Hund. Exklusiv. 22). Parey, Singhofen 2003, ISBN 3-89715-022-0.
Cord Riechelmann: Wilde Tiere in der Großstadt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2004, ISBN 3-89479-133-0.
Hans Hinrich Sambraus: Farbatlas Nutztierrassen. Ulmer, Stuttgart 2001, ISBN 3-8001-3219-2.
== Filmdokumentationen ==
Schwarzwildreport, TV-Dokumentarfilmreihe von Heinz Meynhardt, 1974 bis 1977
Wildschweingeschichten, zehnteilige Fernsehserie von Heinz Meynhardt
Die Wildschweine im Teutoburger Wald. 45 Min. (Reihe: Expeditionen ins Tierreich), Erstausstrahlung am 26. März 2008 (NDR); Autor: Tierfilmer Günter Goldmann
== Weblinks ==
Literatur von und über Wildschwein im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Deutsche Wildtier Stiftung → Wildschwein | Schwarz und borstig, klug und erfolgreich
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Wildschwein |
Lewis Carroll | = Lewis Carroll =
Lewis Carroll (* 27. Januar 1832 in Daresbury im County Cheshire; † 14. Januar 1898 in Guildford im County Surrey; eigentlich Charles Lutwidge Dodgson) war ein britischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters, Fotograf, Mathematiker und Diakon.
Er ist der Autor der berühmten Kinderbücher Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln (oder Alice im Spiegelland) und The Hunting of the Snark. Mit seiner Befähigung für Wortspiel, Logik und Fantasie schaffte er es, weite Leserkreise zu fesseln. Seine Werke, als sogenannte Nonsense-Literatur bezeichnet, sind bis heute populär geblieben und haben nicht nur die Kinderliteratur, sondern ebenso Schriftsteller wie James Joyce, die Surrealisten wie André Breton und den Maler und Bildhauer Max Ernst oder den Kognitionswissenschaftler Douglas R. Hofstadter sowie den Musiker und Komponisten John Lennon beeinflusst. Bekannt wurde Carroll auch als Fotograf: Wie Julia Margaret Cameron und Oscar Gustave Rejlander betrieb er bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Fotografie als Kunst.
== Biografie ==
=== Herkunft ===
Dodgson alias Carroll stammte aus einer nordenglischen Familie mit irischen Verbindungen – konservativ, anglikanisch, obere Mittelklasse –, deren Mitglieder die für ihre Klasse typischen Berufe in Armee und Kirche wählten. Sein Urgroßvater, der wie sein Großvater und sein Vater ebenfalls Charles hieß, war in der anglikanischen Gemeinschaft bis zum Bischof aufgestiegen. Sein Großvater starb im Dezember 1803 als Hauptmann der britischen Armee (4. Dragoon Guards) im Einsatz, als seine beiden Söhne noch Kleinkinder waren. Er war in Irland stationiert und wurde aus dem Hinterhalt erschossen, als er sich nachts mit einem irischen Rebellen treffen wollte, der behauptet hatte, sich ergeben zu wollen.
Der ältere seiner beiden Söhne, der 1800 geborene Charles Dodgson, der Vater von Lewis Carroll, wandte sich der anderen Familientradition zu und schlug die geistliche Laufbahn ein. Er ging zur Westminster School, danach auf die University of Oxford. Er war hervorragend in Mathematik und in den klassischen Sprachen; er graduierte summa cum laude, wurde Dozent (Lecturer) in Mathematik an der Universität Oxford sowie Fellow seines Colleges und erfuhr die Diakonweihe. Das hätte der Auftakt zu einer herausragenden Karriere sein können; für ein höheres Amt hätte er zölibatär leben müssen. Er heiratete jedoch 1827 seine Cousine Frances Jane Lutwidge (1803–1851), woraufhin er sich in die Unauffälligkeit einer Landpfarrstelle zurückzog.Einer der Lieblingsonkel von Lewis Carroll, Robert Wilfred Skeffington Lutwidge (1802–73), ein Bruder seiner Mutter, war Inspektor der britischen Asyle für Geisteskranke (Lunacy Commissioner) und starb, als ein Patient ihm einen selbst gefertigten Nagel in den Kopf stach.
=== Kindheit und Jugend ===
Charles Lutwidge Dodgson wurde 1832 in dem kleinen Pfarrhaus von Daresbury in Cheshire geboren, er war der älteste Sohn und das dritte Kind. Weitere acht Kinder folgten, und alle (sieben Mädchen und vier Jungen) überlebten bis zum Erwachsenenalter, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Als Charles elf Jahre alt war, bekam sein Vater die Pfarrstelle in Croft-on-Tees in North Yorkshire, und die ganze Familie zog in das geräumige Pfarrhaus ein, das für die nächsten 25 Jahre ihr Zuhause blieb.
Dodgson senior machte unterdessen eine gewisse Karriere innerhalb der Kirche: Er publizierte einige Predigten, übersetzte Tertullian, wurde Erzdiakon der Kathedrale in Ripon und mischte sich, manchmal einflussreich, in die intensiven religiösen Streitigkeiten ein, die die anglikanische Gemeinschaft spalteten. Er gehörte der anglikanischen High Church an, war ein Bewunderer von John Henry Newman und der Oxford-Bewegung und versuchte, diese Ansichten seinen Kindern zu vermitteln.Charles junior ging in den ersten Jahren nicht zur Schule, sondern wurde bis zu seinem elften Lebensjahr zu Hause unterrichtet. Seine Leseliste wurde in der Familie überliefert und ist Beweis für seinen herausragenden Intellekt: Mit sieben Jahren las er beispielsweise The Pilgrim’s Progress von John Bunyan. Sein erster Biograf, der Neffe Stuart Dodgson Collingwood, berichtete, sein Onkel sei schon als Dreikäsehoch mit der Bitte zu seinem Vater gegangen, ihm die Formeln einer Logarithmentafel zu erläutern, und habe nach dem Hinweis, dafür sei er noch zu jung, insistiert: „Aber, bitte erkläre es mir!“ Seine Beziehung zum Vater wurde als nüchtern und sachlich beschrieben, während seine Mutter ihn, der lange Zeit der einzige Sohn war, liebevoll und bevorzugt umsorgt habe.
Charles erfand als Elfjähriger ein „Eisenbahnspiel“, inspiriert durch die neue, revolutionäre technische Erfindung der Eisenbahn, die er in seiner Nachbarschaft in Darlington erlebte. Das Spiel mit seinen Geschwistern vollzog sich nach genau festgelegten Regeln, die er mit sarkastischem Humor aufgeschrieben hat und die schon den späteren Lewis Carroll durchblicken lassen. Außerdem verfasste er Theaterstücke für ein Marionettentheater wie die Tragödie von King John oder die Oper La Guida di Bragia, in denen er für sich und seine Geschwister die weite Welt in die Mauern des Pfarrhauses holte. Hier wird bereits die doppelte Welt sichtbar, die sein Leben bestimmen wird: die Inszenierung, die genauen Regeln unterliegt, und die unbeherrschbare Welt draußen.
Mit zwölf Jahren wurde er im Jahr 1844 auf eine kleine Privatschule im nahegelegenen Richmond geschickt, wo er bereits durch seine mathematische Begabung auffiel. In dieser Zeit verfasste er in lateinischer Sprache Gedichte, denen sich englischsprachige Erzählungen anschlossen. Der Schulleiter, James Tate, bescheinigte ihm ein außergewöhnliches Maß an Genie, gab dem Vater jedoch den Rat, seinen Sohn diese Überlegenheit nicht wissen zu lassen, er solle sie selber nach und nach erfahren. An dieser mangelnden Bestätigung hat Carroll zeit seines Lebens gelitten, und sie könnte eine Ursache für sein Stottern, sein mangelndes Selbstbewusstsein und seine Identitätskrise sein.Ein Jahr später wechselte Charles jedoch zur Rugby School in Rugby, in eine der bekanntesten Privatschulen Englands, wo er offensichtlich weniger glücklich war. Zehn Jahre später, nachdem er die Schule verlassen hatte, schrieb er über seinen Aufenthalt im Tagebuch:
Während der Zeit an der ungeliebten Schule, die bekannt war für ihr auf Disziplinierung bedachtes System, begann Charles, sich intensiv mit Literatur zu beschäftigen, indem er beispielsweise David Copperfield von Charles Dickens las und Geschichtsbücher über die Französische Revolution studierte. Seine mit Zeichnungen versehenen literarischen Versuche veröffentlichte er im Schulmagazin und in verschiedenen Familienmagazinen seiner Familie. Im Dezember 1849 ging er, wiederum mit großem Lob von der Schulleitung versehen, von der Rugby School ab, um sich im Jahr 1850 an der Universität von Oxford zu immatrikulieren.
Der junge Erwachsene Charles Dodgson war etwa 1,80 m groß, schlank, hatte lockiges braunes Haar und blaue Augen. Im Alter von 17 Jahren hatte er an einer schwerwiegenden Infektion mit Keuchhusten gelitten, die Folge war eine Schwerhörigkeit des rechten Ohrs. Die einzige ernsthafte Behinderung jedoch war das, was er als seine „Unsicherheit“ bezeichnete, ein Stottern, das ihn bereits seit früher Kindheit belastete und das ihn sein ganzes restliches Leben plagte. Das Stottern war immer ein bedeutender Teil der Mythen, die sich um Lewis Carroll gebildet haben. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise behauptet, dass er nur in der Gesellschaft von Erwachsenen stotterte, in der Gegenwart von Kindern jedoch frei und flüssig sprach. Es gibt keine Belege für diese Behauptung; viele Kinder aus seinem Bekanntenkreis erinnerten sich an sein Stottern, vielen Erwachsenen ist es nicht aufgefallen. Obwohl ihn das Stottern störte, war es nie so schlimm, dass er seine Fähigkeit zum Umgang mit seinen Mitmenschen verloren hätte.
=== Studium – Tutor für Mathematik in Oxford ===
Dodgson besuchte ab Mai 1850 das College seines Vaters, Christ Church, wo er die Fächer Mathematik, Theologie und klassische Literatur belegte. Er war gerade zwei Tage in Oxford, als er nach Hause zurückgerufen wurde. Seine Mutter war im Alter von 47 Jahren an „Hirnentzündung“ (vermutlich einer Meningitis oder einem Schlaganfall) gestorben.
Als er nach Oxford zurückkehrte, fiel ihm das Lernen leicht; im folgenden Jahr schloss er das Grundstudium mit Bestnote ab, und ein alter Freund seines Vaters, der Kanoniker Edward Pusey, schlug ihn für ein Stipendium vor, das ihm das Hauptstudium ermöglichte.
Dodgsons frühe akademische Laufbahn schwankte zwischen hohen Ambitionen und mangelnder Konzentration. Im Jahr 1854 bereitete er sich außerdem auf die Priesterweihe vor. Ein regionales Blatt, die Whitby Gazette in Yorkshire, veröffentlichte um diese Zeit einige seiner Gedichte. Durch Faulheit verfehlte er ein wichtiges Stipendium, aber aufgrund seiner Brillanz als Mathematiker wurde er nach Abschluss des Studiums 1854 im Jahr 1855 als Tutor für Mathematik im Christ Church eingestellt; diese Position sollte er die nächsten 26 Jahre ausfüllen. Er erzielte als Tutor ein gutes Einkommen, doch die Arbeit langweilte ihn. Viele seiner Schüler waren dumm, älter als er, reicher als er, und vor allem waren sie völlig desinteressiert. Sie wollten von ihm nichts lernen, er wollte sie nichts lehren, beidseitige Apathie bestimmte den täglichen Umgang.
=== Carroll und das neue Medium Fotografie ===
Sein Dichtername Lewis Carroll, der ihn berühmt machen sollte, erschien 1856 erstmals im Zusammenhang mit einem romantischen Gedicht, Solitude, in der Zeitung The Train, in der einige seiner Parodien, einschließlich Upon the Lonely Moor, veröffentlicht wurden. Edmund Yates, der Verleger des Blattes The Train, brachte ihn auf die Idee. Dieses Pseudonym leitet sich von seinem Realnamen her: Lewis ist die anglisierte Form von Ludovicus, der latinisierten Form für Lutwidge, und Carroll ist die anglisierte Form von Carolus, dem lateinischen Namen für Charles.Die Fotografie wurde in den 1830er Jahren erfunden, sie stand aber den Amateurfotografen bis zu den 1850er Jahren nicht zur Verfügung; zu dieser Zeit wurde durch die Entwicklung der Kollodium-Nassplatte das fotografische Verfahren erleichtert. Im März des Jahres 1856 erwarb Carroll in London eine neue Kamera mit den dazugehörigen chemischen Materialien zum Preis von 15 Pfund, damals eine hohe Summe. In den neuen technischen Errungenschaften, für die er stets Interesse zeigte, beeinflussten ihn sein Onkel Skeffington Lutwidge, den er schon in seiner Kindheit besucht hatte, sowie sein Freund aus Oxford, Reginald Southey, mit dem er die ersten fotografischen Versuche unternahm.
Trotz der ausdünstenden chemischen Lösungsmittel entwickelte Carroll die Fotos in einer Ecke seines Zimmers. 1868 bekam er ein größeres Studio im Christ Church und errichtete darüber ein eigenes Atelier, das jedoch erst im Jahr 1871 fertiggestellt wurde. Von diesem Zeitpunkt an hatte er eine fotografische Ausstattung, die gemäß der Zeit professionell war.Carrolls bekanntestes Motiv war Alice Liddell, die Tochter des Dekans von Christ Church, Henry George Liddell. Er hatte sie im Jahr 1856 durch das Fenster seines Arbeitsplatzes erblickt, als sie mit ihren Schwestern im Garten des Dekanats spielte. Im April des Jahres machte er den Versuch, von diesem Garten aus die Kirche zu fotografieren, was wegen der ungünstigen Lichtverhältnisse fehlschlug. Carroll lernte bei dieser Gelegenheit die Geschwister kennen und freundete sich mit ihnen an.
Im Jahr 1857 erwarb er den Magister-Grad (MA) und lernte Alfred Tennyson, John Ruskin und William Makepeace Thackeray kennen, die er später fotografisch porträtieren sollte. Er hatte Verbindungen zu den Präraffaeliten, so knüpfte er Freundschaft mit Dante Gabriel Rossetti und seiner Familie und traf unter anderem William Holman Hunt, John Everett Millais und Arthur Hughes.Als Carroll auf der Isle of Wight Urlaub machte, begegnete er der Fotografin Julia Margaret Cameron, die ebenfalls bekannt war für Porträts bekannter Persönlichkeiten. Ebenso wie Carroll war sie beeinflusst von den Motiven präraffaelitischer Malerei.
1861 wurde er zum Diakon geweiht, das Priesteramt musste er nicht mehr antreten, was ihm recht war, da er befürchtete, beim Predigen ins Stottern zu geraten; so hat er in seinem Leben nur wenige Predigten gehalten.
=== Carroll wird Schriftsteller ===
==== Alice im Wunderland ====
Am 4. Juli 1862 unternahm Carroll mit seinem Freund Robinson Duckworth und den drei Schwestern Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell einen Bootsausflug auf der Themse und erzählte eine Geschichte. Als Alice Liddell den Wunsch äußerte, er möge die Geschichte aufschreiben, entstand die Inspiration zu seinem weltberühmt gewordenen Kinderbuch Alice im Wunderland.
Im Februar 1863 hatte Carroll das Manuskript von Alice im Wunderland abgeschlossen. Es waren 90 Seiten in seiner peniblen kleinen Handschrift geworden, die zahlreiche Leerstellen aufwiesen, in die Carroll persönlich angefertigte Illustrationen einfügen wollte. Es dauerte noch einmal fast zwei Jahre, bis er die handschriftliche Urfassung mit dem Titel Alice’s Adventures Under Ground fertiggestellt hatte und sie mit der Widmung „Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“ im November 1864 Alice Pleasance Liddell übergab. Die eigenen Zeichnungen hatten zwar ihren Reiz, doch die laienhafte Ausführung war nicht für eine gedruckte Ausgabe geeignet, die Carroll inzwischen als Möglichkeit nicht ausschließen wollte.
Alice im Wunderland (Originalmanuskript der Urfassung aus dem Jahr 1864)
Die Freundschaft zwischen der Familie Liddell und Carroll zerbrach im Juni 1863. Über die Ursachen gibt es nur Spekulationen, da die entsprechenden Tagebücher aus dieser Zeit verschollen sind und Carrolls Briefe an Alice von ihrer Mutter vernichtet wurden. Die Spekulationen reichen von seiner angeblichen Verliebtheit in Alice und dem Wunsch, sie zu heiraten, bis hin zu Vermutungen, dass sich eine Liebesbeziehung zu Alice’ ältester Schwester Ina angebahnt habe. Weitere Erklärungen finden sich im Rezeptionsteil zur Geschichte der Tagebücher.
In Hastings lernte er den schottischen Schriftsteller George MacDonald kennen – es war die begeisterte Aufnahme seiner Alice durch die jungen MacDonald-Kinder, die ihn von der Publikation des Werkes endgültig überzeugte.
Der Verlag Macmillan nahm das inzwischen stark erweiterte Manuskript im Jahr 1863 zur Veröffentlichung an. Das Buch erschien im Jahr 1865, erst unter dem Namen Alice’s Adventures Under Ground und dann nach Erweiterungen als Alice’s Adventures in Wonderland mit Illustrationen des namhaften Zeichners John Tenniel. Das Buch fand gleich nach seinem Erscheinen großen Anklang und viele begeisterte Leser. Dazu gehörten unter anderem der junge Schriftsteller Oscar Wilde und Königin Victoria.
Wie bekannt, stotterte Carroll, so dass er sich gelegentlich mit „Do-Do-Dodgson“ vorstellte. Es gibt daher Vermutungen, dass sich Carroll mit der Figur des Vogels Dodo in seinem ersten Werk selbst porträtieren wollte. Der echte Dodo ist ein längst ausgestorbener Vogel, den Alice im Universitätsmuseum von Oxford zum ersten Mal sah und der gegenwärtig dort noch ausgestellt ist.Im Jahr 1886 trat Carroll nach langer Zeit wieder in Kontakt zu Alice Liddell, inzwischen verheiratete Hargreaves, und bat sie um Erlaubnis, von seinem Originalmanuskript eine Faksimile-Ausgabe herstellen zu lassen. Diese erschien Ende des Jahres in einer Auflage von 5000 Exemplaren; in den 1980er Jahren gab es einen erneuten Reprint.
30 Jahre nach dem Tod Carrolls gab Alice Hargreaves im Jahr 1928 das Originalmanuskript mit den eigenhändigen Zeichnungen zum Verkauf frei. Es erzielte hohe Preise und gelangte erst im Jahr 1946 durch eine Initiative der amerikanischen Nationalbibliothek (Library of Congress) und bibliophiler Anhänger wieder nach England. Die Amerikaner sahen die Übergabe „als kleines Zeichen der Anerkennung, dass die Engländer Hitler in Schach gehalten haben, während wir uns erst noch auf den Krieg vorbereiteten“. Es ist im „Manuscript Room“ des Britischen Museums in London ausgestellt.
==== Alice hinter den Spiegeln ====
Von Juni bis September des Jahres 1867 führte ihn eine Reise nach Russland, und er begann, am Manuskript Through the Looking-Glass (Alice hinter den Spiegeln) zu arbeiten, einer Fortsetzung der erfolgreichen Alice im Wunderland. Im selben Jahr wurde Brunos Rache veröffentlicht, später sollte es ein Teil von Sylvie & Bruno werden.
1868 starb Carrolls Vater, die Familie musste daher aus dem Pfarrhaus in Croft ausziehen. Carroll war nun neues Familienoberhaupt und suchte für seine unverheirateten Schwestern eine neue Bleibe. Er fand nach vielen Bemühungen „The Chestnut“, ein Haus in Guildford in der Grafschaft Surrey, das zum neuen Familienwohnsitz werden sollte. Der Tod des Vaters ließ ihn mehrere Jahre in Depressionen verfallen. Es erschien seine erste mathematische Veröffentlichung unter dem Titel The Fifth Book of Euclid. Seine zweite wissenschaftliche Veröffentlichung erschien 1879 als Euclid and his Modern Rivals.
Im Jahr 1869 wurde der Titel Phantasmagoria and Other Poems, in dem mehrere Gedichte zusammengefasst worden waren, in kleiner Auflage veröffentlicht.
Für Alice hinter den Spiegeln aus dem Jahr 1871 schrieb Carroll einzelne Geschichten, Fabeln oder Gedichte im Gegensatz zu seinem ersten Buch, das aus einer fortlaufenden Erzählung bestand. Trotz einiger Schwierigkeiten, die sich bei der ersten Veröffentlichung ergeben hatten, verpflichtete er wiederum John Tenniel als Illustrator. Den Anstoß für das Buch gab erneut ein Mädchen namens Alice. Carroll traf Alice Raikes im August 1868 im Haus ihres Onkels in London und führte sie beim gemeinsamen Spiel vor einen Spiegel. Er gab ihr eine Apfelsine in die rechte Hand und fragte, in welcher Hand Alice’ Spiegelbild die Apfelsine halte. „In der linken“ war die Antwort. Carrolls Frage nach einer Lösung beantwortete das Mädchen wie folgt: „Wenn ich auf der anderen Seite des Spiegels wäre, wäre dann die Apfelsine nicht immer noch in meiner rechten Hand?“ Diese Episode schmückte Carroll weiter aus und formte sie zu der Geschichte von Alice hinter den Spiegeln.
Aus seiner Familienzeitung Mischmasch entnahm er für die Ausgabe das Nonsensgedicht Jabberwocky (in Christian Enzensbergers Übersetzung heißt es Der Zipferlake), das mit dem ersten Vers in Spiegelschrift beginnt; diese Schreibweise war ursprünglich für das gesamte Buch vorgesehen.
Der erste Vers von Jabberwocky:Twas brillig, and the slithy toves / Did gyre and gimble in the wabe; / All mimsy were the borogoves, / And the mome raths outgrabe.
Verdaustig wars, und glasse Wieben / Rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elump war der Pluckerwank, /Und die gabben Schweisel frieben. (Übersetzung Christian Enzensberger)Besonders bekannt in Alice hinter den Spiegeln sind als Figuren ebenfalls das Ei auf der Mauer, genannt Humpty Dumpty, die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum und die darin auftretende Rote Königin, die der neugierigen Alice erklärt: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“
==== The Hunting of the Snark ====
Im Jahr 1876 wurde Carrols drittes großes Werk veröffentlicht, The Hunting of the Snark (Die Jagd nach dem Schnark), eine fantastische Nonsens-Ballade. Die Illustrationen schuf Henry Holiday. Das Gedicht handelt von einer seltsamen Jagdexpedition, die sich mit Sorgfalt, Hoffnung und einer völlig leeren Meereskarte aufmacht, ein mysteriöses Wesen namens Snark zu fangen. Darin wird unter anderem die interessante Ansicht geäußert, etwas stimme, wenn es dreimal gesagt wird. Der Snark vereinigt in sich außergewöhnliche Eigenschaften. So ist er praktisch beim Anzünden von Lichtern, hat die Gewohnheit, erst am Nachmittag aufzustehen, versteht keinen Scherz und liebt Badekarren. Der präraffaelitische Maler Dante Gabriel Rossetti soll geglaubt haben, das Gedicht stehe mit ihm in Verbindung.
Im englischen Sprachraum ist es legendär, in Deutschland ist das Gedicht jedoch weniger bekannt. Dennoch gibt es mehrere deutsche Übersetzungen der „Agonie in acht Krämpfen“, so der Untertitel, darunter Die Jagd nach dem Schnark von Klaus Reichert sowie als Reclam-Ausgabe Die Jagd nach dem Schnatz.
Die Jagd nach dem Schnark wurde außerdem in etlichen Varianten für die Bühne und als Musical adaptiert, beispielsweise von Mike Batt im Jahr 1987. Michael Ende übersetzte das Gedicht für die darauf basierende Oper des Komponisten Wilfried Hiller, die am 16. Januar 1988 im Prinzregententheater in München unter dem Titel Die Jagd nach dem Schlarg uraufgeführt wurde.
=== Die späteren Jahre ===
Carroll gehörte zu den Schriftstellern, die im Gegensatz zu anderen Kollegen bereits zu Lebzeiten sehr bekannt und wohlhabend wurden. 1880 beendete er allerdings abrupt seine erfolgreiche fotografische Arbeit. Die Hintergründe sind nie ganz geklärt worden. Vermutungen beziehen sich jedoch unter anderem auf zunehmende Probleme mit den Eltern der kleinen Mädchen, die er unbekleidet fotografieren wollte. Carroll war fasziniert von jungen Mädchen, die meistens fünf bis sechs Jahre alt waren, wenn er sie fotografierte; sie mussten in ihrer Ausstrahlung Lebendigkeit, Unschuld und Schönheit ausdrücken. Die englische Malerin Gertrude Thomson, die ihm ab 1878/79 gelegentlich junge weibliche Modelle vermittelte und bei seinen Fototerminen anwesend war, beschrieb die Requisiten wie Kostüme, mechanische Bären und Kaninchen in seinem Studio und erinnerte sich an die gemeinsam vergnüglich verbrachten Stunden. Sie erinnerte sich an die Treffen mit Carroll: „Wie sein Lachen klang – wie das eines Kindes!“ Mit ihm gemeinsam hatte sie die Vorliebe für Feen und Nymphen, die auf ihren Bildern ebenfalls nackt erschienen.Seine Tätigkeit als Tutor führte er bis zum Jahr 1881 am Christ Church College fort; eine Tätigkeit als Kurator schloss sich bis zum Jahr 1892 an. Das Studio im College blieb in der folgenden Zeit weiterhin sein Wohnsitz, da der Lehrkörper des College generell ein Wohnrecht auf Lebenszeit hatte.
==== Sylvie und Bruno ====
Carrolls einziger Roman, Sylvie und Bruno, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hatte, wurde in zwei Bänden in den Jahren 1889 und 1893 veröffentlicht. Die Illustrationen stammen von Harry Furniss. Anders als in den Alice-Büchern treffen hier Kinder und Erwachsene aufeinander, und erstmals in seinem Werk taucht eine männliche Hauptfigur auf. Im Gegensatz zu seinen verspielten ersten Erzählungen ist der Roman von strengen moralischen Regeln bestimmt, und die Ebenen von Realität und Fantasie sind im Gegensatz zu seinen früheren Werken klar erkennbar. Eine Gemeinsamkeit stellt die Suche nach der Identität dar. Verschiedene Interpreten haben die Parallelen zu den Konflikten der Romanfiguren und denen des Autors hervorgehoben. Beispielsweise sind neben der Identitätssuche die Bedeutung des Vaters, der sonst in keinem Werk Carrolls eine Rolle gespielt hat, die Überlegenheit der beiden älteren Schwestern, seine Technikgläubigkeit sowie eine gewisse Wissenschaftskritik ein Thema. Diesem Werk blieb der überragende Erfolg seiner Vorgänger versagt, vermutlich wegen der eklatanten Unterschiede zu seinen früheren fantastischen Werken. Der Anglist Klaus Reichert sieht in Sylvie und Bruno den Wunsch Carrolls, „sich als identisch mit sich selbst zu sehen“.
=== Tod Lewis Carrolls ===
In seinen letzten Lebensjahren dachte Carroll schon oft an den Tod. Kurz vor Weihnachten des Jahres 1897 fuhr er wie jedes Jahr zu seinen Schwestern nach Guildford. Er war erkältet, wie so oft, da er in seinen Räumen am Christ Church College an Heizung sparte. Um die Jahreswende verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Am frühen Nachmittag des 14. Januar 1898 starb Lewis Carroll an den Folgen einer Lungenentzündung im Haus der Schwestern, „The Chestnuts“. Unter den Trauergästen war die Malerin Gertrude Thomson, mit der er zeitweilig zusammengearbeitet hatte.
Lewis Carrolls Grabsockel auf dem Mount Cemetery, dem Friedhof von Guildford, trägt neben der Inschrift „Rev. Charles Lutwidge Dodgson“ in Klammern darunter den Zusatz „(Lewis Carroll)“ – ein Zeugnis für sein Doppelleben, das ihn bis in den Tod begleitet hat.
== Doppelleben als Wissenschaftler und Künstler ==
=== Der Mathematiker und Geistliche Charles Lutwidge Dodgson ===
Unter seinem Realnamen begann Carroll im Jahr 1855, im Christ Church College zu unterrichten. Als Tutor für Mathematik hatte er eine Gruppe von Studenten zu betreuen, die es ihm nicht leicht machte. Sein Unterricht wurde von den Studenten nicht geschätzt, offensichtlich fehlte es Carroll dort an dem Humor, der seine literarischen Werke würzt.
In einem Brief beschrieb er, dass ein Tutor würdevoll zu sein habe und Abstand zu seinen Schülern bewahren müsse:
„Sonst ist er nicht demütig genug, wißt Ihr. So sitze ich also in der äußersten Ecke des Zimmers; vor der (geschlossenen) Tür sitzt der Diener; vor der äußeren Tür (ebenfalls geschlossen) sitzt der Unterdiener; eine halbe Treppe tiefer sitzt der Unter-Unter-Diener; und draußen im Hof sitzt der Schüler. Die Fragen werden von einem zum anderen gebrüllt, und die Antworten kommen genauso zurück – es ist ziemlich verwirrend, bis man sich daran gewöhnt hat.“Es folgte ein absurder Dialog zwischen Schüler und Lehrer, der über die Diener vermittelt wurde und viele Missverständnisse hervorrief. In diesem Brief steckt schon die Satire seines späteren Werks als Schriftsteller, indem er Bezug nimmt auf die konservative Ausrichtung des College, das unter dem Einfluss der Kirche stand. Reformvorschläge zielten darauf hin, den universitären Instanzen mehr Macht zu gewähren. Unter dem Titel Notes by an Oxford Chiel veröffentlichte Carroll eine Sammlung kurzer Satiren zu verschiedenen Angelegenheiten der Universitätspolitik in Oxford.
Dem neuen, im Jahr 1855 eingesetzten Dekan Henry George Liddell, Vater der Alice, war der Ruf vorausgeeilt, ein Reformator zu sein, doch in seiner Amtszeit änderte sich nichts Wesentliches. Carroll selbst beteiligte sich an Reformvorschlägen im wissenschaftlichen Sinn, doch war er konservativ in Fragen der theologischen Traditionen.Nachdem er im Jahr 1881 seine Tätigkeit als Tutor aufgegeben hatte, ließ er sich 1882 zum Kurator wählen. Seine Tätigkeit bestand darin, den Gemeinschaftsraum (Common Room) zu beaufsichtigen und Aktivitäten zu organisieren. Dort führte Carroll beispielsweise eine Laterna magica vor und informierte über die neue Welt der technischen Medien. 1892 gab er diese Stellung wieder auf.
Neben seiner unterrichtenden Tätigkeit verfasste Carroll unter seinem Realnamen verschiedene mathematische Abhandlungen und Bücher über Algebra, ebene algebraische Kurven, Trigonometrie, zwei Bücher über Euklid, ein zweibändiges Buch Curiosa Matematica (1888, 1893), dessen zweiter Teil der Unterhaltungsmathematik gewidmet ist, sowie 1896 sein letztes Werk mit dem Titel Symbolic Logic. Nach zeitgenössischen Aussagen war Carroll kein bedeutender Mathematiker, da ihm formale und inhaltliche Fehler nachgewiesen wurden, seit den 1970er Jahren sind aber insbesondere seine Beiträge zur Logik durch die Untersuchung seines Nachlasses neu bewertet worden (siehe Rezeption). Was seine Werke auszeichnete, war die Darstellung, so konzipierte er sein mathematisches Hauptwerk Euclid and his Modern Rivals als Theaterstück, die Auseinandersetzung um mathematische Fragen wurde in Dialogform präsentiert, wobei zu seiner Verteidigung der Geist Euklids auftritt. In dem Buch ging es ihm darum, Euklids altes Lehrbuch in seiner ursprünglichen Form für den Gebrauch im Unterricht zu verteidigen. Er verteidigt Euklids Behandlung des Parallelenpostulats, nimmt aber in seinem ersten Band der Curiosa Mathematica von 1888 einen ganz anderen, eigenen Standpunkt ein.
In der Debatte um neue Perspektiven in der Naturwissenschaft nahm Carroll eine konservative Haltung ein und betonte, die Wissenschaft dürfe nicht alles, was ihr theoretisch möglich sei, in die Tat umsetzen. Beispielsweise lehnte er Tierversuche (damals: Vivisektion) ab, die er in nur wenigen Fällen für gerechtfertigt hielt. In seiner 1875 verfassten Abhandlung Einige verbreitete Irrtümer über die Vivisektion stellte er 13 Thesen auf, um seinen Standpunkt zu begründen.Besonders in den späteren Jahren erfand er Puzzles, Rätsel und Geschichten, die häufig von Zahlen ausgingen, die im Grunde aber die Frage nach der menschlichen Existenz, der Realität und Inszenierung stellten. Eine Serie von Denksportaufgaben wurde ab 1880 in der Londoner Zeitschrift The Monthly Packet abgedruckt. Es erschienen zehn Folgen, von ihm „Knoten“ genannt, wobei jeweils eine oder mehrere mathematisch-logische Aufgaben in eine kleine Geschichte eingekleidet waren. Später wurden diese Geschichten als A Tangled Tale in Buchform veröffentlicht. Zu den von ihm erdachten Rätseln gehören auch die Wortleitern, von ihm Doublets genannt.
Aufgrund seiner Aufnahme im Christ Church College hatte Carroll sich verpflichten müssen, eine Ausbildung zum Priester zu durchlaufen. Auf diese Weise erhielt er ein Stipendium und ein lebenslanges Wohnrecht im College. Im Jahr 1861 wurde er von Samuel Wilberforce, dem Bischof von Oxford, zum Diakon (Deacon) geweiht. Er schlug die von seinem Vater gewünschte Priesterlaufbahn jedoch nicht ein, der diese Familientradition durch den Sohn fortgeführt sehen wollte, da er dazu die von ihm sehr geliebten Theaterbesuche hätte aufgeben müssen und er aufgrund seiner Neigung zum Stottern nicht dazu prädestiniert war, Predigten zu halten. Seine strengen religiösen Überzeugungen prägten jedoch weiterhin sein Leben.Caroll war Mitglied der Society for Psychical Research, einem Verein zur Erforschung parapsychologischer Phänomene.
=== Der Fotograf und die Mädchen – The „Carroll Myth“ ===
Als Carroll mit der Fotografie begann, wollte er seine eigenen Vorstellungen mit den Idealen von Freiheit und Schönheit zu der Unschuld des Paradieses kombinieren, in dem der menschliche Körper und der menschliche Kontakt ohne falsche Scham genossen werden konnten.
Über 24 Jahre hatte er sich mit dem Medium Fotografie beschäftigt und um die 3000 Bilder geschaffen. Weniger als 1000 haben Zeit und Zerstörung überlebt. Ein im Jahr 2002 erschienener Bildband von Roger Taylor und Edward Wakeling zeigt jedes Foto, das die Zeit überdauert hat, und Wakeling schätzt, dass über 50 Prozent junge Mädchen darstellen, während Erwachsene und Familien 30 Prozent einnehmen, Fotografien der eigenen Familie 6 Prozent, topografische Aufnahmen 4 Prozent und andere wie beispielsweise Selbstporträts, Stillleben und Skelette 10 Prozent.Alexandra Kitchin, bekannt als Xie, war sein Lieblingsmodell mit über 50 Aufnahmen ab 1869 bis zum Jahr 1880, als er das Fotografieren beendete. Da stand sie kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Seine Fotos nackter Kinder schienen lange Zeit verloren, doch sind vier erhalten geblieben. Sie waren die Ursache von Vermutungen über Carrolls pädophile Neigungen; in diesem Sinn äußerte sich unter anderen Morton N. Cohen in seiner Biografie über Carroll aus dem Jahr 1995. In Carrolls Briefsammlung Briefe an kleine Mädchen sowie auch in seinen Tagebüchern wird offensichtlich, dass er ein überdurchschnittliches Interesse an kleinen Mädchen hatte. Dass die Basis für dieses Interesse ein pädophiler Hintergrund Carrolls wäre, ist nicht bewiesen.Eine kontroverse Sichtweise hat die englische Schriftstellerin Karoline Leach: Sie will in ihrem 1999 erschienenen Buch In the Shadow of the Dreamchild beweisen, dass Carroll für die damalige Zeit unkonventionelle Beziehungen zu mehreren erwachsenen Frauen geführt habe, beispielsweise zu der Künstlerin Gertrude Thomson und der Schriftstellerin Anne Thackeray Ritchie. Mit „Dreamchild“ ist Alice Liddell gemeint. Der französische Literaturwissenschaftler Hugues Lebailly von der Sorbonne ergänzte, dass die Biografen Carrolls aus früherer Zeit aufgrund der nicht mehr vollständigen Tagebuchaufzeichnungen die falschen Schlüsse gezogen und sozialhistorische Zusammenhänge vernachlässigt hätten. Die viktorianischen Ansichten gegenüber kindlicher Nacktheit seien nicht berücksichtigt worden. In jener Zeit hätten viele Künstler und Fotografen unbekleidete Kinder porträtiert. Solche Bilder drückten Unschuld aus und waren sehr beliebt. Das Motiv erschien auf Weihnachts- und Urlaubskarten, und Carroll hätte die entsprechenden Fotos aus zeitgemäßen künstlerischen und kommerziellen Gründen wie seine Berufskollegen geschaffen. Leachs Schlagwort vom „Carroll Myth“ bestimmt noch in der Gegenwart die literaturkritischen Auseinandersetzungen um Lewis Carrolls Persönlichkeit.
Fotogalerie von Prominenten und Kindern
=== Carrolls fantastische Literatur ===
Die Entstehungsgeschichte der Alice im Wunderland verweist darauf, dass viele Einzelheiten der Fantasie und dem Unbewussten des Autors entstammen. Alice wirkt wie ein Traum, ein Erzählelement reiht sich an das andere; es entsteht daher kein durchgehender Erzählstrang. Carroll hat zu seinem methodischen Vorgehen entsprechende Angaben gemacht, notierte stets beim Schreiben die Assoziationen, die ihm in den Sinn kamen und ergänzte danach den Text:
„Um anzufangen, schickte ich meine Heldin in den Kaninchenbau, ohne die leiseste Ahnung, was danach passieren würde. […] Beim Aufschreiben fügte ich immer neue Ideen hinzu, die aus sich selbst erwuchsen und auf dem ursprünglichen Text aufbauten.“Anders als in den Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts wie die von Dickens, Thackeray und Oscar Wilde treten bei Carroll poetische und ästhetische Konstruktionen gegenüber seinen Assoziationsketten zurück. Wie sein Biograf Thomas Kleinspehn betont, sind Bezüge einzelner Passagen auf Autoren der Weltliteratur wie Cervantes und E. T. A. Hoffmann wenig hilfreich. Obwohl Carroll keinen direkten Bezug auf die zeitgenössischen Texte nimmt, war er ein guter Kenner der viktorianischen Literatur, wie seine umfangreiche Bibliothek beweist, deren darin enthaltene Werke gut dokumentiert sind. Dies ist erkennbar an den Parodien, die in seine Werke eingebaut sind und deren Herkunft gelegentlich in Carrolls Tagebüchern erwähnt wird. Viele sind jedoch so stark verschlüsselt, dass sie erst durch akribische literaturwissenschaftliche Arbeit entdeckt wurden oder noch der Aufdeckung harren. Eine Einordnung von Carrolls ungewöhnlichem Werk ist eher in die Nonsens-Literatur möglich, die mit ihren Gegenwelten auf die viktorianische Enge der Gesellschaft und ihren Rationalismus reagierte. Ihr wichtigster Vertreter war der um zwanzig Jahre ältere Edward Lear, der vor allem bekannt ist durch seine grotesken Limericks in Kinderspielen und Abzählversen, die einen Gegensatz bildeten zu der belehrenden viktorianischen Kinderliteratur. Ob Carroll Lear persönlich gekannt hat, ist umstritten.
Von Charles Dickens war Carroll seit seiner Jugendzeit fasziniert. Dickens Figuren scheinen in seinem Werk in einigen Tieren wieder aufzutauchen. Neben dem Einfluss von Tennyson und Thackeray waren es die Vertreter der Präraffaeliten wie der von Carroll porträtierte Dante Gabriel Rossetti, die in ihren verklärten Bildern eine Gegenwelt zu schaffen versuchten zum viktorianischen konventionellen und rationalen Alltag. Eine Abkehr von der realen Welt bestimmen auch Carrolls Werke und bilden durch ihre satirischen und parodistischen Formen eine Art der Sozialkritik.
== Rezeption ==
=== Wirkung zu Lebzeiten ===
Die Schauspielerin Isa Bowman beschreibt ihre Eindrücke, die der Künstler auf sie machte, in der 1899 herausgegebenen Schrift The Story of Lewis Carroll; sein silbrig graues Haar, das er weit länger trug, als es zu jener Zeit modern war, seine tief blauen Augen, die glatte Rasur und den etwas wackligen Gang, und sie bemerkte, dass er in Oxford eine ziemlich bekannte Persönlichkeit gewesen sei. Seine Kleidung sei ein wenig exzentrisch, da er selbst bei kältestem Wetter niemals einen Mantel anzog, und er habe „die kuriose Angewohnheit, zu jeder Jahreszeit ein Paar graue Wollhandschuhe zu tragen“.Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain erzählt in seiner Autobiografie von einem Treffen mit Carroll, „dem Autor der unsterblichen Alice“, dass dieser einer der stillsten und schüchternsten erwachsenen Männer sei, die er je getroffen habe. Carroll habe die ganze Zeit still dagesessen und nur gelegentlich knapp auf eine Frage geantwortet. „Ich kann mich nicht erinnern, daß er irgendwann weiter ausgeholt hätte.“
Carroll gewidmetes Glasfenster von Geoffrey Webb in der Daniell Chapel, Daresbury, 1934
=== Carrolls Wirkung auf die Surrealisten ===
Die Surrealisten ließen sich durch das Tiefgründige und die Funktion des Traums in Carrolls Werk faszinieren, und besonders das assoziative Schreiben fand als écriture automatique in der surrealistischen Literatur Aufnahme. Der surrealistische Maler und Grafiker Max Ernst schuf ab 1950 Illustrationen zu Carrolls Werken.
Louis Aragon vermerkt in seiner Schrift Le surréalisme au service de la revolution im Jahr 1931, Nr. 3, dass The Hunting of the Snark zur gleichen Zeit erschienen sei wie die Chants de Maldoror von Lautréamont und Arthur Rimbauds Une saison en enfer. Er führt die Massaker in Irland, die Unterdrückung in den Fabriken, den Manchester-Kapitalismus an, der die Menschen bedrängte und resümiert: „Was war aus der Freiheit des Menschen geworden? Sie lag ganz in den zarten Händen Alices, in die dieser seltsame Mann sie gelegt hatte.“
Carrolls Text Hummer-Quadrille wurde in André Bretons Anthologie des Schwarzen Humors aus dem Jahr 1940 aufgenommen. Der Surrealist resümiert, Carrolls Nonsensliteratur erhalte seine Bedeutung einerseits durch die Lösung des Widerspruchs zwischen der Akzeptanz des Glaubens und der Praktik der Vernunft sowie andererseits zwischen dem poetischen Bewusstsein und den beruflichen Pflichten.
„Der Geist kann bei jedweder Schwierigkeit einen Ausweg im Absurden finden. Die Bereitschaft, das Absurde zu bejahen, erschließt dem Menschen wieder das geheimnisvolle Reich, in dem die Kinder leben. […] Es scheint nicht minder maßlos übertrieben, wenn man Lewis Carroll als einen ‚politischen Aufsässigen‘ hinstellt und seinem Werk direkte satirische Absichten unterschiebt. […] Alle jene, die sich den Sinn für Auflehnung bewahren, werden in Lewis Carroll ihren ersten Lehrer im Schuleschwänzen sehen.“
=== Die vielseitige Alice ===
Alice im Wunderland wird als kulturelle Ikone gesehen. Das Buch gilt als Klassiker der Kinderliteratur, wird aber auch assoziiert mit Naturwissenschaften, besonders Mathematik, Astronomie, Physik und Informatik, mit Erotik und der Kanonliteratur. Nicht nur in Kinderbüchern wurden Lewis Carrolls Erzählungen kopiert. Die viktorianische Dichterin Christina Georgina Rossetti (1830–1894) und Modernisten wie T. S. Eliot (1888–1965), Virginia Woolf (1882–1941) und James Joyce (1882–1941) in seinem Roman Finnegans Wake ließen sich von den Alice-Büchern inspirieren. Weitere Schriftsteller und Kritiker, die auf Carrolls Texte Bezug nahmen, waren Sir William Empson (1906–1984), Robert Graves (1895–1985) und Evelyn Waugh (1903–1966), in jüngerer Zeit Julian Barnes, Stephen King und die postmodernen Kritiker Gilles Deleuze und Jean-Jacques Lecercle. Auch der Komponist Paul McCartney wurde bei seinen Textideen durch Carroll beeinflusst.
=== Hofstadters Gödel, Escher, Bach ===
In Douglas R. Hofstadters Buch Gödel, Escher, Bach – ein Endloses Geflochtenes Band beschreibt der Autor unter der Überschrift Bedeutung und Form der Mathematik den Zusammenhang zwischen seinem und Carrolls Werk:
„DIESER Zweistimmigen Invention verdanken meine beiden Protagonisten ihre Existenz. So wie Lewis Carroll sich mit Zenos Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten herausnahm, so habe ich mir mit Lewis Carrolls Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten erlaubt. In Carrolls Dialog finden die gleichen Ereignisse immer und immer wieder statt, nur jedes Mal auf einer höheren Ebene. Er bildet eine wunderbare Analogie zu Bachs endlos redupliziertem Kanon. Wenn man aus dem Dialog Carrolls den Witz herausnimmt, bleibt noch immer ein tiefes philosophisches Problem: Richten sich Wörter und Gedanken nach formalen Regeln oder nicht? Dies ist das zentrale Problem unseres Buches.“
=== Carrolls mathematische Arbeiten aus heutiger Sicht ===
In der Logik behandelte Carroll Sätze der Logik in der Form von Spielen in Diagrammen, die den späteren Venn-Diagrammen ähnelten, und benutzte Wahrheitstabellen, wie die unveröffentlichten Manuskripte der Fortsetzung seiner Symbolic Logic (1896) zeigen. Deren zu Lebzeiten unveröffentlichter zweiter Teil mit dem Titel Advanced wurde 1977 veröffentlicht. Der dritte Teil („Transcendental“) ist nicht erhalten; wahrscheinlich wurde er wie so vieles aus seinem Nachlass verbrannt. Einem dem dritten Teil zugeordneten Inhaltsverzeichnis entsprechend behandelt er darin unter anderem die Regeln logischer Ableitung, „The Theory of Inference“. Mit seiner „Method of Trees“ gab er im Nachlass ein Verfahren an, die Beweisbarkeit von Sätzen des einstelligen Prädikatenkalküls zu zeigen. Damit nahm er teilweise Arbeiten von Leopold Löwenheim vorweg, der 1915 bewies, dass dieses Problem entscheidbar ist (siehe auch Satz von Löwenheim-Skolem). Der veröffentlichte Teil seiner Symbolischen Logik war dagegen als elementares Lehrbuch der klassischen syllogistischen (das heißt elementaren) Logik gedacht, illustriert durch Diagramme. Als solches wird es noch heute von Logikern im Unterricht benutzt. Aufgrund anderer Arbeiten wurde er ab den 1970er Jahren als Mathematiker ebenfalls positiver eingeschätzt als das früher der Fall war, zum Beispiel in seiner Behandlung von Wahlsystemen (1884), in der er Ideen der Spieltheorie vorwegnimmt. Seine Arbeiten über mathematische Rätsel wurden schon immer vom Nestor der US-amerikanischen Unterhaltungsmathematik Martin Gardner geschätzt, der einige Bücher von Carroll kommentiert neu herausgab. Im Jahr 1995 wurden im Nachlass neu entdeckte Caroll-„Puzzles“ veröffentlicht.
=== Die Frage nach dem Drogenkonsum ===
Manche Kritiker haben die irrealen Schilderungen in den Alice-Büchern als Halluzinationen des Autors empfunden. Die Vorstellung, Carroll habe Drogen konsumiert, machte ihn sehr populär in der Untergrundkultur der 1960er Jahre, die sich darauf berief, dass einer der berühmtesten Schriftsteller verbotene Substanzen eingenommen hätte. Innerhalb der LSD-Bewegung wurden Passagen aus Alice im Wunderland als Beschreibung von LSD-Trips oder Trips anderer halluzinogener Drogen (Psilocybin, Meskalin) interpretiert. Es gibt Anspielungen im Buch, die auf Drogenerlebnisse hindeuten. So verändert sich etwa die Größe der Protagonistin Alice durch den Konsum von Pilzen, Keksen oder Flüssigkeiten. Das in den 1960er Jahren konsumierte Rauschmittel LSD gab es zu Carrolls Zeit allerdings noch nicht; dessen halluzinogene Wirkung ist erst 1943 vom Schweizer Chemiker Albert Hofmann entdeckt worden.Es ist niemals belegt worden, dass Carroll Drogen konsumiert hätte.
Zu Carrolls Lebzeiten war als oft benutztes Schmerzmittel Laudanum verfügbar, das als opiumhaltige Tinktur in einer genügend hohen Dosis in der Lage war, einen Rauschzustand herbeizuführen. Carroll könnte es möglicherweise von Zeit zu Zeit gegen seine Migräneanfälle, die 1880 in seinem Tagebuch dokumentiert sind, eingenommen haben. Es gibt auch Vermutungen, dass die fantastischen Abenteuer von Alice durch die gelegentlich auftretende Aura vor Migräneanfällen beeinflusst sein können. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass ein anfallsartiger Zustand, in dem Menschen sich selbst oder ihre Umgebung auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen, als Alice-im-Wunderland-Syndrom bezeichnet wird.
=== Die fehlenden Tagebücher ===
Vier Bände und etwa sieben Seiten fehlen von Carrolls 13 Tagebüchern. Der Verlust der Bände und der Seiten ist letztlich ungeklärt. Viele Carroll-Experten glauben, dass die Tagebücher von Familienmitgliedern entfernt wurden, um den Familiennamen zu schützen, doch ist diese Vermutung nicht durch Belege gestützt. Das fehlende Material, mit Ausnahme einer fehlenden Einzelseite, wird der Periode zwischen den Jahren 1853 (Carroll war damals 22 Jahre alt) und 1862 zugeschrieben.Eine populäre Theorie unter vielen für die fehlende Seite vom 27. Juni 1863 ist die Vermutung, dass die Seite herausgerissen wurde, um den Heiratsantrag Carrolls an die elfjährige Alice an diesem Tag zu verschleiern. Ein Blatt mit Notizen, das 1996 im Dodgson Familienarchiv in Woking auftauchte, behauptet das Gegenteil.
Dieses Papier, bekannt als cut pages in diary document, wurde von Familienmitgliedern nach Carrolls Tod zusammengestellt. Es fasst kurz den Inhalt zweier Tagebuchseiten zusammen, die fehlen, das Blatt vom 27. Juni 1863 eingeschlossen. Die Zusammenfassung ergibt, dass Mrs. Liddell Carroll erklärte, es seien Klatschgeschichten über ihn, die Familie Liddell und über Ina, vermutlich Alice’ ältere Schwester Lorina, im Umlauf; der Bruch mit der Familie ergab sich vermutlich aus diesem Grund. Eine andere Interpretation lautete, Ina sei ebenfalls der verkürzte Name von Alice’ Mutter. Daraus ergibt sich die Interpretation, dass der Bruch Carrolls mit der Familie Liddell in keinem Zusammenhang mit Alice stand.
Die noch vorhandenen Tagebücher Lewis Carrolls wurden im Jahr 1969 aus dem C. L. Dodgson Estate von der British Library in London erworben und werden dort aufbewahrt.
=== Auf den Spuren Carrolls in England ===
==== Christ Church und das Museum of Oxford ====
Reverend Dodgons Arbeitsstätte als Mathematiker und Geistlicher in Christ Church in Oxford, wo er im nordwestlichen Turm ein Studio bewohnte, war auch der Ort, wo er als Lewis Carroll seine Geschichten schrieb. Er lernte die Kinder seines Dekans, Henry George Liddell, kennen, darunter Alice, seine Inspiration für sein berühmtestes Buch Alice im Wunderland. Die „Great Hall“, wo er seine Mahlzeiten zu sich nahm, enthält viele Geheimnisse des Wunderlands, so ist vermutlich das „rabbit hole“, („Kaninchenloch“) die Tür, durch die Dekan Liddell den „senior common room“, den Gemeinschaftsraum, betrat. Liddell selbst könnte das „Weiße Kaninchen“ sein, weil er immer zu spät kam. Für den Besucher gibt es geführte Touren, auf denen er beispielsweise den „Jabberwocky“, die „Cheshire Katze“ und Alice’ Geheimtür zum Wunderland besichtigen kann.
Im Museum of Oxford, das die Stadt und seine Einwohner aus prähistorischer Zeit bis zum heutigen Tag beschreibt, gibt es eine spezielle Ausstellung mit dem Namen „Looking for Alice“, in der unter anderem Alice Liddells Kleidung und persönliche Habseligkeiten gezeigt werden.
==== Surrey History Centre, Guildford Museum ====
Kurz nach Carrolls Tod hatte sein Bruder Wilfred zugestimmt, dass viele gebündelte Papiersäcke aus den Räumen in Christ Church verbrannt wurden; andere Papiere verkauften die Dodgsons auf Auktionen. Im Jahr 1965 übergab die jüngere Familiengeneration viele ihrer noch vorhandenen Erinnerungsstücke an das Surrey History Centre und an das Guildford Museum. Das Surrey History Centre in Woking besitzt daher ein bedeutendes Archiv zu Carrolls Leben, bestehend aus Dokumenten, seine Kindheit betreffend, Briefe sowie Originalfotografien seiner Brüder, Schwestern und Tanten. Unter diesen Papieren sind Erinnerungen an 'child friends', eine Seite mit Anmerkungen zu den cut pages of the diary sowie der dazu passende Brief aus dem Jahr 1932, der sich auf die von Familienmitgliedern geäußerten Vermutungen zu den fehlenden Tagebuchseiten bezieht. Schenkungen aus anderen Quellen aus den 1950er bis zu den 1990er Jahren ergänzen die Sammlung.
In Guildford, dem Familiensitz der Dodgsons nach dem Tod des Vaters, wird im Guildford Museum eine Ausstellung über viktorianische Kindheiten gezeigt. Sie enthält unter anderem Spielzeug von Carroll und seinen Geschwistern, so eine Kuh auf Rädern, ein Puppenhaus und eine Puppe aus Papier mit Kleidung, die von seinen Schwestern hergestellt worden war.
=== Sonstiges ===
Themen aus Carrolls Alice-Büchern sind unter anderem in Literatur, Film, Popmusik und Computerspielen aufgenommen worden. Im Jahr 2007 wurde die Oper Alice in Wonderland an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Eine Auflistung dieser Adaptionen findet sich unter dem Lemma Alice im Wunderland.
Der Lewis Carroll Shelf Award wurde von 1958 bis 1979 an Bücher vergeben, denen die gleiche Qualität wie Carrolls Alice im Wunderland zugeschrieben wird. Beispiele sind im Jahr 1962 Inch by Inch von Leo Lionni, 1964 Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen, 1970 Astrid Lindgrens Weihnachten im Stall und 1973 Schneewittchen und die sieben Zwerge von den Gebrüdern Grimm.
In Alice im Wunderland wurde ein zusammengesetztes Wort mit einem Handkoffer verglichen – und der Begriff „Kofferwort“ entstand. Ein Synonym ist „Portmanteau-Wort“, das englische Wort für Handkoffer ist portmanteau, abgeleitet vom französischen portemanteau. In einem Koffer versammelt man unterschiedliche Gegenstände, in einem Kofferwort dementsprechend Teile von Wörtern – und fügt mit ihnen ihre Bedeutungen zusammen. Etwa 70 Jahre nach Lewis Carroll schuf James Joyce in seinem Spätwerk Finnegans Wake Tausende von Portmanteaus. In dem Titel seines Romans Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch übersteigerte Michael Ende 1989 ein Kofferwort.
Die Cheshire Cat ist eine Katze, die in Alice im Wunderland auftritt; als sie verschwindet, bleibt trotzdem noch ihr Grinsen übrig. Danach wurde ein Konzept der theoretischen Elementarteilchenphysik benannt, das in Bag-Modellen verwendet wird und unter anderem von Holger Bech Nielsen stammt, es heißt „Cheshire Cat Principle“ (CCP). Snarks sind ein Begriff der Graphentheorie (die eine Rolle im Vierfarbenproblem spielen) und von Martin Gardner nach dem Gedicht von Carroll benannt.Die Figur der Roten Königin aus Alice hinter den Spiegeln ist Namensgeberin für die Red-Queen-Hypothese zur Evolution. Die Hypothese wurde 1973 von Leigh Van Valen aufgestellt. Sie besagt, dass eine Art in der Natur ständig leistungsfähiger werden muss, um ihre aktuelle Stellung aufrechtzuerhalten.
In New York führt der „Library Way“ seit den späten 1990er Jahren auf der East 41st Street zwischen Fifth Avenue and Park Avenue zum Stephen A. Schwarzman Building, dem größten Gebäude der New York Public Library (NYPL). In die Pflasterung des Fußgängerwegs sind 96 rechteckige Bronzeplaketten eingebettet, die bedeutenden Schriftstellern gewidmet sind und Zitate aus ihren Werken zum Inhalt haben. Lewis Carroll ist mit einer Plakette und einem Zitat aus Through the Looking Glass: And What Alice Found There vertreten.In der fiktiven Biographie von William S. Baring-Gould über Sherlock Holmes wird erwähnt, dass Lewis Carroll der Dozent von Sherlock Holmes war und bei ihm seine besondere Kombinationsgabe erkannte.
== Werke (Auswahl) ==
Alice’s Adventures in Wonderland. (1865).dt. Alice im Wunderland. In: Die Alice-Romane. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-059746-3.Phantasmagoria and Other Poems. (1869)dt. Phantasmagorie.Through the Looking-Glass, and What Alice Found There. (1871).dt. Alice im Spiegelland. Deutsch von Helene Scheu-Riesz, Ausstattung von Uriel Birnbaum, Wien/Leipzig/New York, Sesam-Verlag 1923
dt. Alice hinter den Spiegeln. In: Die Alice-Romane. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-059746-3.The Hunting of the Snark. (1876)dt. Die Jagd nach dem Schnatz. Eine Agonie in acht Krämpfen. (Englisch–Deutsch). Reclam, Ditzingen 1996, ISBN 3-15-009433-X (in anderen Ausgaben auch Die Jagd nach dem Schnark oder Die Jagd nach dem Schnai)Sylvie and Bruno. (1889).
Sylvie and Bruno Concluded. (1893).dt. Sylvie und Bruno. dtv, München 2006, ISBN 3-423-13289-2.Rhyme? And Reason? (1898)
The Diaries of Lewis Carroll. New first edited and supplemented by Roger Lancelyn Green. Zwei Bände, London 1953, Westport, 1971.
The Letters of Lewis Carroll. Edited by Morton N. Cohen. Zwei Bände. New York 1979.
Das literarische Gesamtwerk. Hrsg. von Jürgen Häusser und Heinz-Juergen Häusser, neu übersetzt von Dieter H. Stündel. Darmstadt.1. Band: Sylvie und Bruno. Die Geschichte einer Liebe. 1994, ISBN 3-89552-000-4.
2. Band: Misch und Masch. Erzählungen und Gedichte. 1996, ISBN 3-89552-014-4.Photographien/Photographs. Edition Stemmle, Schaffhausen 1991, ISBN 3-7231-0407-X. (deutsch/englisch)
Briefe an kleine Mädchen. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Reichert. Mit zahlreichen Fotografien des Autors. Insel Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig. (Erweiterte Neuausgabe: 1. Auflage. 1994, ISBN 3-458-33254-5; Komet, Leipzig 1994, ISBN 3-89836-300-7)
Tagebuch einer Reise nach Russland im Jahre 1867. Herausgegeben von Felix Philipp Ingold. Insel, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-458-34289-3.Illustrationen von Max Ernst für Werke Lewis Carrolls: La chasse au snark (1950, 8 Illustrationen), Logique sans peine (1966), beide Paris. The Hunting of the Snark (Die Jagd nach dem Snark) (Stuttgart 1968, 32 Farblithographien) und Lewis Carrolls Wunderhorn (Stuttgart 1970, eine Anthologie, ausgewählt von Max Ernst und Werner Spies mit 36 Farblithographien)Mathematische Werke
The Fifth Book of Euclid treated algebraically. (1858 und 1868)
A Syllabus of Plane Algebraical Geometry. Oxford 1860.
An Elementary Treatise on Determinants. Macmillan 1867.
Euclid and his Modern Rivals. 1879, 2. Auflage. Macmillan 1885, Reprint Dover 1973, 2004
Herausgeber Euclid. Books I, II. London, MacMillan 1882.
The Game of Logic. Macmillan 1886 (Neuausgabe The Mathematical Recreations of Lewis Carroll: Symbolic Logic and The Game of Logic, Dover 1958)dt. Das Spiel der Logik. herausgegeben von Paul Good, Frommann Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, ISBN 3-7728-1998-2.What the Tortoise Said to Achilles. In: Mind. 4, 1895, S. 278–280.A Tangled Tale. (1885).dt. Geschichten mit Knoten. Insel, Frankfurt 1995, ISBN 3-458-32002-4.Curiosa Mathematica. Band 1: A new theory of parallels. London, Macmillan 1890.
Curiosa Mathematica. Band 2: Pillow Problems. 1893 (Neuausgabe The Mathematical recreations of Lewis Carroll: Pillow problems and A tangled tale. Dover 1958)
Francine Abeles (Hrsg.): The mathematical pamphlets of Charles Dodgson and related pieces. Lewis Carroll Society of North America, New York 1994.
William Warren Bartley (Hrsg.): Lewis Carroll´s Symbolic Logic. Potter, New York 1977, 1986 (Band 1 von 1896 und der unveröffentlichte zweite Teil)
== Werke im Web ==
The Complete Works (PDF 38,19 MB) Reprint in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL (Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser)
Alice’s Adventures in Wonderland. (PDF 11,33 MB) Farbige Ausgabe in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL
Alice’s Abenteuer im Wunderland. Aus dem Englischen von Antonie Zimmermann. (PDF 2,84 MB) Farbige Ausgabe in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL
Stuart Dodgson Collingwood: The Life and Letters of Lewis Carroll beim Project Gutenberg – Die erste Biografie 1899
== Ausstellungen (Auswahl) ==
1977: documenta 6, Kassel
2003: Lewis Carroll Museum of Fine Arts, Houston
2003: Art Institute Chicago
2003: „Dreaming in Pictures“: Lewis Carroll International Center of Photography, New York
2003: Lewis Carroll, Art Institute Chicago
2005/2006: „nützlich – süß – museal. Das fotografierte Tier“, Museum Folkwang, Essen
2011/2012: Alice in Wonderland, Tate Liverpool, anschließend unter dem Titel Alice im Wunderland der Kunst, Hamburger Kunsthalle
== Sekundärliteratur ==
Morton N. Cohen: Lewis Carroll. A Biography. Reprint, Vintage Books, New York 1996, ISBN 0-679-74562-9.
Stuart Dodgson Collingwood: The Life and Letters of Lewis Carroll. T. Fisher Unwin, London 1899.
Robert Douglas-Fairhurst: The story of Alice : Lewis Carroll and the Secret History of Wonderland. London: Vintage, 2015, ISBN 978-1-84655-862-7.
Martin Gardner: Lewis Carroll – Alles über Alice. Europa Verlag, Hamburg / Wien 2002, ISBN 3-203-75950-0 (Originaltitel Annotated Alice. Kommentierte Ausgabe mit den Illustrationen John Tenniels),
Albert Schindehütte: Album für Alice. Eine Huldigung an Lewis Carroll. Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, ISBN 3-455-06499-X.
Phyllis Greenacre: Swift and Carroll. A Psychoanalytic Study of Two Lives. New York 1955.
Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-50478-2.
Karoline Leach: In the Shadow of the Dreamchild. Peter Owen Publishers. London 1999, ISBN 0-7206-1044-3.
Robert Taylor, Edward Wakeling: Lewis Carroll, Photographer. Princeton University Press, 2002, ISBN 0-691-07443-7.
Jenny Woolf: The mystery of Lewis Carroll: Understanding the Author of Alice’s adventures in Wonderland. Haus Books, London 2010, ISBN 978-1-906598-68-6.
Edward Wakeling: Lewis Carroll : The Man and his Circle. London; New York, NY: Tauris, 2015, ISBN 978-1-78076-820-5.MathematischesThe Mathematical Recreations of Lewis Carroll: Pillow Problems and a Tangled Tale. Dover Publications, 1958, Neuauflage, ISBN 0-486-20493-6.
Robin Wilson: Lewis Carroll in Numberland. His Fantastical Mathematical Logical Life. Allan Lane, London 2008, ISBN 978-0-7139-9757-6.
Amirouche Moktefi, Artikel Lewis Carroll in Dictionary of Scientific Biography, 2008, OnlineBelletristikKatie Roiphe: Rätselhafte Alice. Die Geschichte von Lewis Carroll und der kleinen Alice, aus dem Amerikanischen übersetzt von Friedhelm Rathjen; Originaltitel: Still She Haunts Me. Europa, Hamburg, Wien 2002, ISBN 3-203-81561-3.
Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland. Kriminalroman, aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar. Originaltitel: Los crímenes de Alicia. Eichborn, Köln 2020, ISBN 978-3-8479-0046-7.
== Weblinks ==
Literatur von und über Lewis Carroll im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Lewis Carroll in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Lewis Carroll in der Internet Speculative Fiction Database (englisch)
Zeitungsartikel über Lewis Carroll in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Suche nach Lewis Carroll im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Achtung: Die Datenbasis hat sich geändert; bitte Ergebnis überprüfen und SBB=1 setzen)
Lewis Carroll bei photography-now.com
Werke von Lewis Carroll bei Zeno.org.
Lewis Carroll bei Google Arts & Culture
Webseite der Lewis Carroll Society of North America mit Biografie, Texten und Fotoauswahl
Biografie im Victorianweb
Peter Sager: Alice im Marketingland. In: Die Zeit, Nr. 23/1998 (anlässlich des 100. Todestags)
Diplomarbeit über Lewis Carroll 2008 (PDF; 4,29 MB)
John J. O’Connor, Edmund F. Robertson: Lewis Carroll. In: MacTutor History of Mathematics archive.
Surrey County Council über Carroll (Memento vom 18. August 2006 im Internet Archive)
Informationen über Lewis Carroll auf KinderundJugendmedien.deWerke von Lewis Carroll im Projekt Gutenberg-DE
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Lewis_Carroll |
Vanadium | = Vanadium =
Vanadium, veraltet auch Vanadin, ist ein chemisches Element mit dem Symbol V und der Ordnungszahl 23. Es ist ein stahlgraues, bläulich schimmerndes, in reinem Zustand sehr weiches Übergangsmetall. Im Periodensystem bildet das Metall zusammen mit den schwereren Niob, Tantal und Dubnium die 5. IUPAC-Gruppe oder Vanadiumgruppe. Der Großteil des Vanadiums wird als sogenanntes Ferrovanadium in der Stahlherstellung eingesetzt. Der Zusatz von Vanadium in Chrom-Vanadium-Stählen führt zu einer Erhöhung der Zähigkeit und damit zu einer erhöhten Widerstandsfähigkeit des Stahls.
Das Element besitzt verschiedene biologische Bedeutungen und ist für viele Lebewesen essentiell. So spielt es eine Rolle bei der Steuerung von Enzymen der Phosphorylierung und wird von Bakterien zur Stickstofffixierung genutzt. Andererseits steht es oder seine Verbindungen in Verdacht, als mutagenes Klastogen Chromosomenaberrationen hervorzurufen und somit als Gift und Karzinogen zu wirken.Die bekannteste Verbindung des Vanadiums ist Vanadium(V)-oxid, das als Katalysator für die Produktion von Schwefelsäure eingesetzt wird.
== Geschichte ==
Zum ersten Mal wurde das spätere Vanadium 1801 vom spanischen Mineralogen Andrés Manuel del Río in einem mexikanischen Bleierz, dem späteren Vanadinit, entdeckt. Er nannte das neue Element zunächst wegen der Vielfarbigkeit der Verbindungen Panchromium, später Erythronium, da sich die Salze beim Ansäuern rot färbten. Die Entdeckung widerrief del Rio jedoch kurze Zeit später, als zunächst Alexander von Humboldt und später der französische Chemiker H.V. Collett-Desotils auf Grund der Ähnlichkeit zu Chromverbindungen behaupteten, bei dem neuen Element würde es sich um verunreinigtes Chrom handeln.Die Wiederentdeckung des Elementes gelang 1830 dem schwedischen Chemiker Nils Gabriel Sefström. Er untersuchte Eisen aus der schwedischen Eisenerzgrube Taberg, indem er dieses in Salzsäure löste. Dabei entdeckte er neben anderen bekannten Stoffen ein unbekanntes Element, das in manchen Eigenschaften dem Chrom, in anderen dem Uran ähnelte, aber nach weiteren Untersuchungen keines dieser Elemente war. Das neue Element benannte er nach Vanadis, einem Beinamen der nordischen Gottheit Freyja. Kurze Zeit später erbrachte Friedrich Wöhler, der sich bei Berzelius bereits mit der Aufgabe beschäftigt hatte, den Identitätsnachweis von Vanadium mit Erythronium.Metallisches Vanadium wurde erstmals 1867 von Henry Enfield Roscoe durch Reduktion von Vanadium(II)-chlorid mit Wasserstoff hergestellt. 99,7 % reines Vanadium konnten erstmals 1925 John Wesley Marden und Malcolm Rich durch Reduktion von Vanadium(V)-oxid mit Calcium gewinnen.Vanadium wurde erstmals 1903 verwendet, als in England der erste vanadiumhaltige Stahl produziert wurde. Die stärkere Verwendung des Elements in der Stahlindustrie begann ab 1905, als Henry Ford Vanadiumstähle für den Bau von Automobilen einsetzte.
== Vorkommen ==
Vanadium ist auf der Erde ein häufiges Element, sein Anteil an der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 120 ppm. Eine ähnliche Elementhäufigkeit besitzen Zirconium, Chlor und Chrom. Das Element kommt überwiegend gebunden in verschiedenen Mineralen vor. Trotz der Häufigkeit des Vanadiums sind Lagerstätten mit hohen Konzentrationen des Elements selten, viele Vanadiumminerale kommen nicht häufig vor. Im Vergleich zur Erdkruste ist der Gehalt im Meerwasser deutlich geringer, er liegt bei etwa 1,3 μg/l.Zu den wichtigsten Vanadiummineralen zählen vor allem Vanadate wie Vanadinit [Pb5(VO4)3Cl], Descloizit Pb(Zn,Cu) [OH|VO4] und Carnotit [K2(UO2)2(VO4)2·3H2O], sowie das Vanadiumsulfid Patrónit VS4. Der größte Teil des Vanadiums findet sich in Spuren in anderen Mineralen, vor allem Eisenerzen wie Magnetit. Der Vanadiumgehalt von Titan-Magnetit-Erzen beträgt meist zwischen 0,3 und 0,8 %, kann aber in manchen südafrikanischen Erzen bis zu 1,7 % erreichen.
Tiere und Pflanzen enthalten Vanadium, so enthält der Mensch etwa 0,3 mg/kg. Dieses befindet sich zumeist in Zellkernen oder Mitochondrien. Einige Lebewesen, vor allem einige Seescheidenarten und der Fliegenpilz, sind in der Lage, Vanadium anzureichern. In Seescheiden ist der Vanadiumgehalt bis zu 107-mal so groß wie im umgebenden Meerwasser. Auf Grund des Vanadiumgehaltes von Lebewesen sind auch Kohle und Erdöl, die aus diesen entstehen, vanadiumhaltig. Der Gehalt beträgt bis zu 0,1 %. Besonders hohe Vanadiumgehalte findet man in Erdöl aus Venezuela und Kanada.Im Jahr 2020 wurden insgesamt 105.800 Tonnen Vanadiumerz gefördert (gerechnet als Vanadiummetall). Vanadium wird derzeit (2022) nur in 6 Ländern weltweit abgebaut, wobei 99 % des abgebauten Vanadiums in nur 4 Ländern gewonnen wird Südafrika, China, Russland und Brasilien. Wegen dieser hohen Abhängigkeit von wenigen Ländern, wird Vanadium sowohl von der EU, als auch den USA in der Liste kritischer Rohstoffe geführt. Bei bekannten Reserven von insgesamt 24 Millionen Tonnen (Stand 2022) ist ein Lieferengpass bei Vanadium auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
→ Kategorie:Vanadiummineral
== Vanadium als Mineral ==
Seit 2012 ist Vanadium von der International Mineralogical Association (IMA) als Mineral anerkannt. Es konnte erstmals durch Mikhail Ostrooumov als Resublimationsprodukt in Hochtemperatur-Fumarolen des mexikanischen Vulkans Colima entdeckt werden. Als Begleitminerale traten das ebenfalls erstmals dort entdeckte Kalium-Vanadium-Sulfid Colimait (K3VS4) und das Vanadiumoxid Shcherbinait (V5+2O5) auf.
Die Publikation der Erstbeschreibung erfolgte durch Ostrooumov und Yuri Taran 2015 zunächst in der Macla. Revista de la Sociedad Española de Mineralogía und 2016 im Mineralogical Magazine.Neben seiner Typlokalität am Vulkan Colima konnte Vanadium gediegen bisher nur noch an einer nicht näher benannten Hibonit-Fundstätte in der argentinischen Sierra de los Comechingones entdeckt werden. Ein weiterer Fund im Vanadiumerz-Tagebau Rhovan bei Rustenburg in der südafrikanischen Provinz Nordwest wurde bisher nicht bestätigt.Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Vanadium unter der System-Nr. 1.AF.05 (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Eisen-Chrom-Familie – Eisengruppe) eingeordnet.
== Gewinnung und Darstellung ==
Die Darstellung von Vanadium läuft in mehreren Schritten ab. Zunächst muss aus verschiedenen Ausgangsstoffen Vanadium(V)-oxid gewonnen werden. Dieses lässt sich dann zum elementaren Metall reduzieren und gegebenenfalls reinigen.
Mögliche Ausgangsstoffe, aus denen Vanadium gewonnen werden kann, sind Vanadiumerze wie Carnotit oder Patronit, vanadiumhaltige Titan-Magnetit-Erze und Erdöl. Vanadiumerze waren in früherer Zeit für die Produktion wichtig, spielen jedoch keine wichtige Rolle mehr und sind vor allem von den Titan-Magnetit-Erzen abgelöst worden.
Werden vanadiumhaltige Eisenerze im Hochofenprozess zu Eisen reduziert, bleibt das Vanadium zunächst im Roheisen. Um das Roheisen weiter zu Stahl zu verarbeiten, wird während des Frischens Sauerstoff eingeblasen. Dabei geht das Vanadium in die Schlacke über. Diese enthält bis zu 25 % Vanadium(V)-oxid und ist die wichtigste Quelle für die Gewinnung des Metalls. Um das reine Vanadium(V)-oxid zu gewinnen, wird die feingemahlene Schlacke mit Natriumsalzen wie Natriumchlorid oder Natriumcarbonat oxidierend geröstet. Dabei bildet sich wasserlösliches Natriummetavanadat, das von der restlichen Schlacke durch Auslaugen abgetrennt wird. Durch Zugabe von Säure und Ammoniumsalzen fällt das entstandene unlösliche Ammoniumpolyvanadat aus der Lösung aus. Dieses kann durch Rösten zu Vanadium(V)-oxid umgewandelt werden. Auch aus anderen vanadiumhaltigen Erzen kann auf identischem Weg das Oxid gewonnen werden. Aus Erdöl kann das Vanadium durch Bildung einer Emulsion unter Zugabe von Wasser und Magnesiumnitrat extrahiert werden. Die weitere Aufarbeitung geschieht wie bei der Gewinnung aus Eisenerzen.Die eigentliche Vanadiumgewinnung findet durch Reduktion des Vanadium(V)-oxids mit anderen Metallen statt. Als Reduktionsmittel können Aluminium, Calcium, Ferrosilicium oder Kohlenstoff verwendet werden; mit letzterem bilden sich jedoch bei der Reaktion Carbide, die schwer vom Metall abgetrennt werden können.
V
2
O
5
+
5
C
a
⟶
2
V
+
5
C
a
O
{\displaystyle \mathrm {V_{2}O_{5}+5\ Ca\longrightarrow 2\ V+5\ CaO} }
Reduktion mit CalciumUm reines Vanadium zu erhalten, wird teures Calcium oder Aluminium als Reduktionsmittel verwendet, da mit dem billigeren Ferrosilicium keine hohe Reinheit zu erreichen ist. Während mit Calcium direkt reines Vanadium gewonnen wird, bildet sich mit Aluminium zunächst eine Vanadium-Aluminium-Legierung, aus der durch Sublimation im Vakuum reines Vanadium gewonnen wird.
Ein Großteil des Vanadiums wird jedoch nicht als reines Metall, sondern in Form der Eisen-Vanadium-Legierung Ferrovanadium, die mindestens 50 % Vanadium enthält, verwendet. Um diese herzustellen, ist es nicht nötig, vorher das reine Vanadium zu gewinnen. Stattdessen wird die vanadium- und eisenhaltige Schlacke mit Ferrosilicium und Kalk zu Ferrovanadium reduziert. Diese Legierung reicht für die meisten technischen Anwendungen aus.
Reinstes Vanadium kann entweder elektrochemisch oder nach dem Van-Arkel-de-Boer-Verfahren dargestellt werden. Dazu wird das reine Vanadium zusammen mit Iod in eine luftleere Glasampulle eingeschmolzen. Das in der geheizten Ampulle gebildete Vanadium(III)-iodid zersetzt sich an einem heißen Wolframdraht zu hochreinem Vanadium und Iod.
2
V
+
3
I
2
⇌
2
V
I
3
{\displaystyle \mathrm {2\ V+3\ I_{2}\rightleftharpoons 2\ VI_{3}} }
Reaktion im Van-Arkel-de-Boer-Verfahren
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Vanadium ist ein nichtmagnetisches, zähes, schmiedbares und deutlich stahlblaues Schwermetall mit einer Dichte von 6,11 g/cm3. Reines Vanadium ist relativ weich, wird aber durch Beimengungen anderer Elemente härter und besitzt dann eine hohe mechanische Festigkeit. In den meisten Eigenschaften ähnelt es seinem Nachbarn im Periodensystem, dem Titan. Der Schmelzpunkt von reinem Vanadium liegt bei 1910 °C, dieser wird jedoch durch Verunreinigungen wie Kohlenstoff deutlich erhöht. Bei einem Gehalt von 10 % Kohlenstoff liegt er bei etwa 2700 °C. Vanadium kristallisiert wie Chrom oder Niob in einer kubisch-raumzentrierten Kristallstruktur (Wolfram-Typ) mit der Raumgruppe Im3m (Raumgruppen-Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229 und dem Gitterparameter a = 302,4 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle.Unterhalb einer Sprungtemperatur von 5,13 K wird Vanadium zum Supraleiter. Ebenso wie reines Vanadium sind auch Legierungen des Vanadiums mit Gallium, Niob und Zirconium supraleitend. Bei Temperaturen unter 5,13 K zeigt Vanadium, ebenso wie die Vanadiumgruppenmetalle Niob und Tantal, in kleinsten Klümpchen bis 200 Atomen eine bisher nicht erklärte, spontane elektrische Polarisation, wie sie sonst nur nichtmetallische Stoffe aufweisen.
=== Chemische Eigenschaften ===
Vanadium ist ein unedles Metall und in der Lage, mit vielen Nichtmetallen zu reagieren. An der Luft bleibt es wochenlang metallisch glänzend. Bei der Betrachtung über längere Zeiträume wird deutlich sichtbarer grüner Rost wahrgenommen. Soll Vanadium konserviert bleiben, so muss es unter Argon aufbewahrt werden. In der Hitze wird es von Sauerstoff angegriffen und zu Vanadium(V)-oxid oxidiert. Während Kohlenstoff und Stickstoff mit Vanadium erst bei Weißglut reagieren, findet die Reaktion mit Fluor und Chlor schon in der Kälte statt.
Gegenüber Säuren und Basen ist Vanadium bei Raumtemperatur meist stabil auf Grund einer dünnen passivierenden Oxidschicht; angegriffen wird es in diesem Zustand nur von Flusssäure sowie stark oxidierend wirkenden Säuren wie heißer Salpetersäure, konzentrierter Schwefelsäure und Königswasser.
Bis zu einer Temperatur von 500 °C ist Vanadium in der Lage, Wasserstoff zu absorbieren. Dabei wird das Metall spröde und lässt sich leicht pulvern. Entfernen lässt sich der Wasserstoff bei 700 °C im Vakuum.
== Isotope ==
Von Vanadium sind insgesamt 27 Isotope und weitere 6 Kernisomere bekannt. Von diesen kommen zwei natürlich vor. Dies sind die Isotope 50V mit einer natürlichen Häufigkeit von 0,25 % und 51V mit einer Häufigkeit von 99,75 %. 50V ist schwach radioaktiv, es zerfällt mit einer Halbwertszeit von 1,5 · 1017 Jahren zu 83 % unter Elektroneneinfang zu 50Ti, zu 17 % unter β−-Zerfall zu 50Cr. Beide Kerne können für Untersuchungen mit der NMR-Spektroskopie genutzt werden.
Die stabilsten künstlichen Isotope sind 48V mit einer Halbwertszeit von 16 Tagen und 49V mit einer Halbwertszeit von 330 Tagen. Diese finden als Tracer Verwendung. Alle anderen Isotope und Kernisomere sind sehr instabil und zerfallen in Minuten oder Sekunden.
→ Liste der Vanadium-Isotope
== Verwendung ==
Reines Vanadium wird nur zu einem geringen Prozentsatz aufgrund seines geringen Neutroneneinfangquerschnitts als Hüllwerkstoff für Kernbrennstoffe verwendet. Es können aber auch beständigere Vanadiumlegierungen genutzt werden. Über 90 % der Produktion werden in einer Vielzahl von Legierungen, meist mit den Metallen Eisen, Titan, Nickel, Chrom, Aluminium oder Mangan eingesetzt. Nur ein kleiner Teil wird in Verbindungen, meist als Vanadium(V)-oxid genutzt.
Mit 85 % des produzierten Vanadiums wird der weitaus größte Teil in der Stahlindustrie verbraucht. Da hierfür keine hohen Reinheiten nötig sind, wird Ferrovanadium als Rohstoff genutzt. Vanadium steigert schon in kleinen Mengen die Festigkeit und Zähigkeit von Stählen und dadurch deren Verschleißfestigkeit deutlich. Dies wird durch die Bildung von hartem Vanadiumcarbid bewirkt. Je nach Anwendung werden unterschiedliche Mengen Vanadium beigegeben; so enthalten Baustähle und Werkzeugstähle nur geringe Mengen (0,2 bis 0,5 %) Vanadium, Schnellarbeitsstahl bis zu 5 %. Vanadiumhaltige Stähle werden vor allem für mechanisch beanspruchte Werkzeuge und Federn genutzt.
Titanlegierungen, die Vanadium und meist auch Aluminium enthalten, sind besonders stabil und hitzebeständig und werden im Flugzeugbau für tragende Teile und Turbinenblätter von Flugzeugtriebwerken eingesetzt.Vanadiumverbindungen können zur elektrochemischen Energiespeicherung in Redox-Flow-Zellen dienen, siehe Vanadium-Redox-Akkumulator. Dabei werden Vanadiumsalze in sauren wässrigen Lösungen eingesetzt, die in Tanks gespeichert werden.
== Nachweis ==
Eine Vorprobe liefert die Phosphorsalzperle, bei der Vanadium in der Reduktionsflamme charakteristisch grün erscheint. Die Oxidationsflamme ist schwach gelb und damit zu unspezifisch.Ein qualitativer Nachweis für Vanadium beruht auf der Bildung von Peroxovanadiumionen. Dazu wird eine saure Lösung, die Vanadium in der Oxidationsstufe +5 enthält, mit wenig Wasserstoffperoxid versetzt. Es bildet sich das rötlich-braune [V(O2)]3+-kation. Dieses reagiert mit größeren Mengen Wasserstoffperoxid zur schwach gelben Peroxovanadiumsäure H3[VO2(O2)2].Quantitativ kann Vanadium durch Titration bestimmt werden. Dazu wird eine vanadiumhaltige schwefelsaure Lösung mit Kaliumpermanganat zu fünfwertigem Vanadium oxidiert und anschließend mit einer Eisen(II)-sulfatlösung und Diphenylamin als Indikator rücktitriert. Auch eine Reduktion von vorliegenden fünfwertigem Vanadium mit Eisen(II)-sulfat zum vierwertigen Oxidationszustand und anschließender potentiometrischer Titration mit Kaliumpermanganatlösung ist möglich.In der modernen Analytik kann Vanadium mit mehreren Methoden nachgewiesen werden. Dies sind beispielsweise die Atomabsorptionsspektrometrie bei 318,5 nm und die Spektralphotometrie mit N-Benzoyl-N-phenylhydroxylamin als Farbreagenz bei 546 nm.
== Biologische Bedeutung ==
Vanadiumverbindungen besitzen verschiedene biologische Bedeutungen. Charakteristisch für Vanadium ist, dass es sowohl anionisch als Vanadat, als auch kationisch als VO2+, VO2+ oder V3+ vorkommt. Vanadate besitzen große Ähnlichkeit zu Phosphaten und haben dementsprechend ähnliche Wirkungen. Da Vanadat stärker an geeignete Enzyme bindet als Phosphat, ist es in der Lage, Enzyme der Phosphorylierung zu blockieren und so zu steuern. Dies betrifft beispielsweise die Natrium-Kalium-ATPase, die den Transport von Natrium und Kalium in Zellen steuert. Diese Blockierung kann mit Desferrioxamin B, das einen stabilen Komplex mit Vanadat bildet, schnell wieder aufgehoben werden. Weiterhin beeinflusst Vanadium die Glucoseaufnahme. Es ist in der Lage, in der Leber die Glykolyse zu stimulieren und den Konkurrenzprozess der Gluconeogenese zu hemmen. Dadurch kommt es zu einer Senkung des Glucose-Spiegels im Blut. Daher wird untersucht, ob Vanadiumverbindungen für die Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 geeignet sind. Es sind jedoch noch keine eindeutigen Ergebnisse gefunden worden. Daneben stimuliert Vanadium auch die Oxidation von Phospholipiden und unterdrückt die Synthese von Cholesterin durch Hemmung der Squalensynthase, einem mikrosomalen Enzymsystem der Leber. Folgerichtig verursacht ein Mangel erhöhte Konzentrationen von Cholesterin und Triglyceriden im Blutplasma.In Pflanzen spielt Vanadium eine Rolle in der Photosynthese. Es ist in der Lage, die Reaktion zur Bildung von 5-Aminolävulinsäure ohne Enzym zu katalysieren. Diese ist eine wichtige Vorstufe zur Bildung von Chlorophyll.In einigen Organismen kommen vanadiumhaltige Enzyme vor, so besitzen einige Bakterienarten zur Stickstofffixierung vanadiumhaltige Nitrogenasen. Dies sind beispielsweise Arten der Gattung Azotobacter sowie das Cyanobakterium Anabaena variabilis. Diese Nitrogenasen sind jedoch nicht so leistungsfähig wie die häufigeren Molybdän-Nitrogenasen und werden daher nur bei Molybdänmangel aktiviert. Weitere vanadiumhaltige Enzyme finden sich in Braunalgen und Flechten. Diese besitzen vanadiumhaltige Haloperoxidasen, mit denen sie Chlor-, Brom- oder Iod-organische Verbindungen aufbauen.
Die Funktion des in großen Mengen in Seescheiden als Metalloproteine Vanabine vorhandenen Vanadiums ist noch nicht bekannt. Ursprünglich wurde vermutet, dass das Vanadium ähnlich dem Hämoglobin als Sauerstofftransporter dient; dies hat sich jedoch als falsch herausgestellt.
== Gefährdungen ==
Wie andere Metallstäube ist auch Vanadiumstaub entzündlich. Vanadium und seine anorganischen Verbindungen haben sich im Tierversuch als karzinogen erwiesen. Sie werden von der MAK-Kommission als karzinogen, Kategorie 2 und keimzellenmutagen, Kategorie 2 eingestuft. Wird Vanadiumstaub etwa von Arbeitern in der Metallverhüttung über längere Zeit eingeatmet, kann es zum sogenannten Vanadismus kommen. Diese anerkannte Berufskrankheit kann sich in Schleimhautreizung, grünschwarzer Verfärbung der Zunge sowie chronischen Bronchial-, Lungen- und Darmerkrankungen äußern.
== Verbindungen ==
In Verbindungen kann Vanadium in verschiedenen Oxidationsstufen vorliegen. Häufig sind die Stufen +5, +4, +3 und +2, seltener sind +1, 0, −1 und −3. Die wichtigsten und stabilsten Oxidationsstufen sind +5 und +4.
→ Kategorie:Vanadiumverbindung
=== Wässrige Lösung ===
In wässriger Lösung lässt sich Vanadium leicht in verschiedene Oxidationsstufen überführen. Da die verschiedenen Vanadiumionen charakteristische Farben besitzen, kommt es dabei zu Farbänderungen.
In saurer Lösung bildet fünfwertiges Vanadium farblose VO2+-Ionen, die bei der Reduktion zunächst zu blauen vierwertigen VO2+-Ionen werden. Die dreiwertige Stufe mit V3+-Ionen ist von grüner Farbe, die tiefste, in wässriger Lösung erreichbare Stufe, das zweiwertige V2+-Ion ist grauviolett.
=== Sauerstoffverbindungen ===
Die wichtigste und stabilste Vanadium-Sauerstoff-Verbindung ist Vanadium(V)-oxid V2O5. Diese orangefarbene Verbindung wird in größeren Mengen als Katalysator für die Schwefelsäureherstellung verwendet. Sie wirkt dort als Sauerstoffüberträger und wird während der Reaktion zu einem weiteren Vanadiumoxid, dem Vanadium(IV)-oxid VO2 reduziert. Weitere bekannte Vanadiumoxide sind Vanadium(III)-oxid V2O3 und Vanadium(II)-oxid VO.
In alkalischer Lösung bildet Vanadium(V)-oxid Vanadate, Salze mit dem Anion VO43−. Im Gegensatz zu den analogen Phosphaten ist jedoch das Vanadat-Ion die stabilste Form; Hydrogen- und Dihydrogenvanadate sowie die freie Vanadiumsäure sind instabil und nur in verdünnten wässrigen Lösungen bekannt. Werden basische Vanadatlösungen angesäuert, bilden sich anstatt der Hydrogenvanadate die Polyvanadate, in denen sich bis zu zehn Vanadateinheiten zusammenlagern. Vanadate finden sich in verschiedenen Mineralen, Beispiele sind Vanadinit, Descloizit und Carnotit.
=== Halogenverbindungen ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Vanadium eine Vielzahl von Verbindungen. In den Oxidationsstufen +4, +3 und +2 existieren Verbindungen mit allen Halogenen, lediglich mit Iod sind nur Verbindungen in den Stufen +2 und +3 bekannt. Von diesen Halogeniden sind jedoch nur die Chloride Vanadium(IV)-chlorid und Vanadium(III)-chlorid technisch relevant. Sie dienen unter anderem als Katalysator für die Herstellung von Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk.
=== Vanadiumoxidchloride ===
Vanadium bildet auch Mischsalze mit Sauerstoff und Chlor, die sogenannten Vanadiumoxidchloride. Vanadium(III)-oxidchlorid, VOCl, ist ein gelbbraunes, wasserlösliches Pulver. Das in der Photographie und als Textilbeize eingesetzte Vanadium(IV)-oxidchlorid, VOCl2 besteht aus grünen, hygroskopischen Kristalltafeln, die sich in Wasser mit blauer Farbe lösen. Vanadium(V)-oxidchlorid, VOCl3 schließlich ist eine gelbe Flüssigkeit, die durch Wasser sehr leicht hydrolysiert wird. VOCl3 dient als Katalysatorkomponente bei der Niederdruckethenpolymerisation.
=== Weitere Vanadiumverbindungen ===
In organischen Vanadiumverbindungen erreicht Vanadium seine niedrigsten Oxidationsstufen 0, −I und −III. Hier sind vor allem die Metallocene, die sogenannten Vanadocene, wichtig. Diese werden als Katalysator für die Polymerisation von Alkinen verwendet.Vanadiumcarbid VC wird in Pulverform unter anderem zum Plasmaspritzen bzw. Plasma-Pulver-Auftragschweißen eingesetzt. Weiterhin wird Vanadiumcarbid Hartmetallen zugesetzt, um das Kornwachstum zu verringern.
== Literatur ==
Günter Bauer u. a.: Vanadium and Vanadium Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2000, doi:10.1002/14356007.a27_367.
Norman N. Greenwood, Alan Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 1542–1552.
== Weblinks ==
Eintrag zu Vanadium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 25. Dezember 2014.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Vanadium |
Caesium | = Caesium =
Caesium (nach IUPAC) [ˈʦɛːzi̯ʊm] , standardsprachlich Cäsium oder Zäsium (im amerikanischen Englisch Cesium), ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Cs und der Ordnungszahl 55. Im Periodensystem steht es in der 1. Hauptgruppe, bzw. der 1. IUPAC-Gruppe und gehört zu den Alkalimetallen. Caesium ist das schwerste stabile Alkalimetall.
Caesium wurde 1861 von Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff im Dürkheimer Mineralwasser der Maxquelle entdeckt. Aufgrund der zwei blauen Spektrallinien, mit denen das Element nachgewiesen wurde, benannten sie es nach dem lateinischen caesius für himmelblau. Das Reinelement konnte erstmals 1881 von Carl Theodor Setterberg dargestellt werden.
Caesium ist ein extrem reaktives, sehr weiches, goldfarbenes Metall. Da es sofort und sehr heftig mit Luft reagiert, wird es in abgeschmolzenen Glasampullen unter Inertgas aufbewahrt.
Eine biologische Bedeutung des nicht toxischen Elements ist nicht bekannt. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Kalium wird es allerdings im Magen-Darm-Trakt resorbiert und analog zu Kalium vorwiegend im Muskelgewebe gespeichert. Deshalb fand das radioaktive Isotop Caesium-137 (137Cs), ein Produkt der Kernspaltung, in der Öffentlichkeit besondere Beachtung, als es infolge der Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 in größeren Mengen in die Umwelt gelangte. Durch die großflächige Verteilung – und damit vergleichsweise geringe Konzentration – im Falle Tschernobyl ist von akuter Radiotoxizität nicht auszugehen, jedoch können chronische Effekte, insbesondere durch Bioakkumulation, nicht ausgeschlossen werden. Unfälle mit größeren Mengen Caesium-137 aus unsachgemäß entsorgten Abfällen der Nuklearmedizin wie der Goiânia-Unfall haben mehrfach zu Todesfällen durch die Strahlenkrankheit geführt, da hierbei sehr hohe akute Dosen auftraten.
== Geschichte ==
Caesium wurde erstmals 1861 von Gustav Robert Kirchhoff und Robert Wilhelm Bunsen beschrieben. Sie untersuchten Mineralwasser aus Dürkheim und entdeckten nach der Abtrennung von Calcium, Strontium, Magnesium und Lithium zwei bisher unbekannte Linien im blauen Spektralbereich. Sie schlossen aus ihren Beobachtungen, dass es im untersuchten Mineralwasser ein weiteres, bisher unbekanntes Element geben müsse, das sie wegen der blauen Spektrallinien Caesium, nach dem lateinischen caesius für „himmelblau“, nannten.Bunsen versuchte ebenfalls Caesium von den anderen Alkalimetallen zu trennen, um weitere Eigenschaften des Elements zu erforschen. Dazu versetzte er die Lösung mit einer Platinchlorid-Lösung, um Kalium und die neuentdeckten schwereren Alkalimetalle Rubidium und Caesium als unlösliches Hexachloridoplatinat auszufällen. Das Kalium konnte durch mehrmaliges Aufkochen in wenig Wasser entfernt werden. Zur Gewinnung der reinen Chloride wurde das Platin mit Wasserstoff zum Element reduziert, so dass die nun wasserlöslichen Caesium- und Rubidiumchloride ausgelaugt werden konnten. Die Trennung von Caesium und Rubidium erfolgte unter Ausnutzung der unterschiedlichen Löslichkeit der Carbonate in absolutem Ethanol, worin Caesiumcarbonat im Gegensatz zur entsprechenden Rubidiumverbindung löslich ist. Caesiumchlorid diente Bunsen und Kirchhoff auch für eine erste Bestimmung der molaren Masse des neuen Elements, wofür sie den Wert von 123,35 g/mol fanden. Dieser Wert ist nach heutigen Erkenntnissen gut 10 Gramm zu niedrig.
Die beiden Forscher konnten kein elementares Caesium gewinnen, denn bei der Elektrolyse von geschmolzenem Caesiumchlorid entstand anstelle des Metalls eine blaue Verbindung, die sie als Subchlorid bezeichneten, bei der es sich aber wahrscheinlich um eine kolloide Mischung von Caesium und Caesiumchlorid handelte. Bei der Elektrolyse einer wässrigen Lösung mit einer Quecksilberanode bildete sich das leicht zersetzbare Caesiumamalgam.Die Darstellung des elementaren Caesiums gelang schließlich 1881 Carl Theodor Setterberg, der die Probleme mit dem Chlorid vermied, indem er für die Schmelzflusselektrolyse Caesiumcyanid verwendete. Dabei störte zunächst die zum Schmelzen des Caesiumcyanids nötige relativ hohe Temperatur, die er jedoch durch das Eutektikum mit Bariumcyanid herabsetzen konnte.
== Vorkommen ==
Mit einem Gehalt von 3 ppm in der kontinentalen Erdkruste ist Caesium auf der Erde ein seltenes Element. Es ist nach dem instabilen Francium das seltenste Alkalimetall. Auf Grund seiner hohen Reaktivität kommt es nicht elementar, sondern immer nur in Form von Verbindungen vor. Meist ist Caesium ein seltenes Begleitelement in Kalium- oder anderen Alkalimetallsalzen wie Lepidolith, es sind jedoch auch einige Caesiumminerale bekannt. Das häufigste Caesiummineral ist Pollucit, (Cs,Na)2Al2Si4O12 · H2O, das in größeren Vorkommen vor allem am Bernic Lake in der Nähe von Lac du Bonnet in der kanadischen Provinz Manitoba in der Tanco-Mine vorkommt. Weitere größere Vorkommen liegen in Bikita, Simbabwe und in Namibia. Die Vorkommen in der Tanco Mine bei Lac du Bonnet sind die einzigen, in denen Caesium abgebaut wird. Seltenere Caesiumminerale sind beispielsweise Cesstibtantit (Cs,Na)SbTa4O12 und Pautovit CsFe2S3.
Auf Grund der Wasserlöslichkeit der meisten Caesiumverbindungen ist das Element im Meerwasser gelöst; ein Liter enthält dabei durchschnittlich 0,3 bis 4 Mikrogramm Caesium. In vergleichbaren Mengen finden sich dort auch häufigere, aber schlechter lösliche Elemente wie Nickel, Chrom oder Kupfer.
== Gewinnung und Darstellung ==
Caesium wird nur in geringem Umfang hergestellt. Im Jahr 1978 betrug die weltweit produzierte Menge an Caesium und Caesiumverbindungen etwa 20 Tonnen. Ausgangsmaterial für die Gewinnung des elementaren Caesiums und aller Caesiumverbindungen ist Pollucit, der mit Säuren oder Basen aufgeschlossen werden kann. Als Säuren können Salz-, Schwefel- oder Bromwasserstoffsäure genutzt werden. Dabei entsteht jeweils eine caesium- und aluminiumhaltige Lösung, aus der durch Fällung, Ionenaustausch oder Extraktion die reinen Caesiumsalze gewonnen werden. Eine weitere Möglichkeit ist es, Pollucit mit Calcium- oder Natriumcarbonat und den entsprechenden Chloriden zu erhitzen und anschließend mit Wasser auszulaugen. Dabei entsteht eine unreine Caesiumchloridlösung.
Caesiummetall kann chemisch durch Reduktion von Caesiumhalogeniden mit Calcium oder Barium gewonnen werden. Dabei destilliert das im Vakuum flüchtige Caesiummetall ab.
2
C
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C
l
+
C
a
⟶
2
C
s
↑
+
C
a
C
l
2
{\displaystyle \mathrm {2\ CsCl+Ca\longrightarrow 2\ Cs\uparrow +CaCl_{2}} }
Reduktion von Caesiumchlorid mit CalciumWeitere Möglichkeiten der Caesiummetallherstellung sind die Reduktion von Caesiumhydroxid mit Magnesium und die Reduktion von Caesiumdichromat mit Zirconium.
C
s
2
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2
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⟶
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3
{\displaystyle \mathrm {Cs_{2}Cr_{2}O_{7}+2\ Zr\longrightarrow 2\ Cs+2\ ZrO_{2}+Cr_{2}O_{3}} }
Reaktion von Caesiumdichromat und Zirconium zu Caesium, Zirconium(IV)-oxid und Chrom(III)-oxidHochreines Caesium lässt sich über die Zersetzung von Caesiumazid, das aus Caesiumcarbonat gewonnen werden kann, und anschließende Destillation darstellen. Die Reaktion erfolgt bei 380 °C an einem Eisen- oder Kupferkatalysator.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Caesium ist ein Leichtmetall mit einer Dichte von 1,873 g/cm3, das, anders als die leichteren Alkalimetalle, goldfarben ist. Der Grund liegt in der geringeren Bandlücke und damit an der geringeren Anregungsfrequenz, die in den blau-violetten Teil des sichtbaren Lichtspektrums reicht. Der blaue Anteil wird absorbiert, dadurch ist Caesium komplementär dazu gelb beziehungsweise goldfarben. In vielen Eigenschaften steht es zwischen denen des Rubidiums und – soweit bekannt – denen des instabilen Franciums. Es besitzt mit 28,7 °C mit Ausnahme von Francium den niedrigsten Schmelzpunkt aller Alkalimetalle und hat zugleich nach Quecksilber und vergleichbar mit Gallium einen der niedrigsten Schmelzpunkte für Metalle überhaupt. Caesium ist sehr weich (Mohs-Härte: 0,2) und sehr dehnbar.
Wie die anderen Alkalimetalle kristallisiert Caesium bei Standardbedingungen im kubischen Kristallsystem mit einer kubisch-raumzentrierten Elementarzelle in der Raumgruppe Im3m (Raumgruppen-Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229 mit dem Gitterparameter a = 614 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Unter einem Druck von 41 kbar erfolgt eine Phasenumwandlung in eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur mit dem Gitterparameter a = 598 pm.Mit Ausnahme von Lithium lässt sich Caesium mit anderen Alkalimetallen beliebig mischen. Bei einem Verhältnis von 41 % Caesium, 12 % Natrium und 47 % Kalium entsteht eine eutektische Legierung mit dem bisher niedrigsten bekannten Schmelzpunkt für Metallische Materialien von −78 °C.Das Caesiumatom und auch das Ion Cs+ besitzen einen großen Radius, sie sind – wiederum mit Ausnahme von Francium – die größten einzelnen Atome beziehungsweise Ionen. Dies hängt mit der besonders niedrigen effektiven Kernladung zusammen, wodurch vor allem das äußerste s-Elektron nur in geringem Maße an den Kern gebunden ist. Dies bewirkt neben dem großen Atomradius auch die geringe Ionisierungsenergie des Caesiumatoms und damit die hohe Reaktivität des Elements.Gasförmiges Caesium hat einen ungewöhnlichen Brechungsindex kleiner als eins. Das bedeutet, dass die Phasengeschwindigkeit der elektromagnetischen Welle – in diesem Fall Licht – größer als im Vakuum ist, was aber nicht im Widerspruch zur Relativitätstheorie steht.
=== Chemische Eigenschaften ===
Caesium ist das Element mit der niedrigsten Ionisierungsenergie. Für die Abspaltung des äußersten Elektrons weist es die niedrigste Elektronegativität auf. Caesium gibt dieses bei Kontakt mit anderen Elementen sehr leicht ab und bildet einwertige Caesiumsalze. Da durch die Abspaltung dieses einen Elektrons die Edelgaskonfiguration erreicht ist, bildet es keine zwei- oder höherwertigen Ionen.
Reaktionen mit Caesium verlaufen in der Regel sehr heftig, so entzündet es sich beim Kontakt mit Sauerstoff sofort und bildet wie Kalium und Rubidium das entsprechende Hyperoxid.
C
s
+
O
2
⟶
C
s
O
2
{\displaystyle \mathrm {Cs+O_{2}\longrightarrow CsO_{2}} }
Auch mit Wasser reagiert es sehr heftig unter Bildung von Caesiumhydroxid, diese Reaktion findet sogar mit Eis bei Temperaturen von −116 °C statt.
2
C
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⟶
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{\displaystyle \mathrm {2\ Cs+2\ H_{2}O\longrightarrow 2\ CsOH+H_{2}\uparrow } }
Beim Erhitzen mit Gold bildet sich Caesiumaurid (CsAu), eine Verbindung, die – trotz Bildung aus zwei Metallen – keine Legierung ist, sondern ein Halbleiter; in flüssigem CsAu liegen Cs+- und Au−-Ionen vor.
== Isotope ==
Insgesamt sind 41 Isotope und 29 weitere Kernisomere des Caesiums bekannt. In der Natur kommt nur das Isotop 133Cs vor. Caesium ist daher ein Reinelement. Von den künstlichen Isotopen haben 134Cs mit 2,0644 Jahren, 135Cs mit 2,33 Millionen Jahren und 137Cs mit 30,05 Jahren mittlere bis sehr lange Halbwertszeiten, während die der anderen Isotope zwischen 1 µs bei 111Cs und 13,16 Tagen bei 136Cs liegen.
Ein wichtiges künstliches Isotop ist 137Cs, ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 30,08 Jahren. 137Cs zerfällt mit einer Wahrscheinlichkeit von 94,6 % zuerst in das metastabile Zwischenprodukt 137mBa, das mit einer Halbwertszeit von 2,552 Minuten durch Gammazerfall in das stabile Barium-Isotop 137Ba übergeht (vgl. Cäsium-Barium-Generator). Bei den restlichen 5,4 % gibt es einen direkten Übergang zum stabilen Barium-Isotop 137Ba. Zusammen mit weiteren Caesiumisotopen entsteht es entweder direkt bei der Kernspaltung in Kernreaktoren oder durch den Zerfall anderer kurzlebiger Spaltprodukte wie 137I oder 137Xe.
92
235
U
+
0
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n
⟶
92
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⟶
55
137
C
s
+
37
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R
b
+
3
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{235}_{\ 92}U+\ _{0}^{1}n\longrightarrow \ _{\ 92}^{236}U\longrightarrow \ _{\ 55}^{137}Cs+\ _{37}^{96}Rb+3\ _{0}^{1}n} }
Bildung von 137Cs bei der Kernspaltung von 235U137Cs ist neben dem Cobaltisotop 60Co eine wichtige Gammastrahlenquelle und wird in der Strahlentherapie zur Behandlung von Krebserkrankungen, zur Messung der Fließgeschwindigkeit in Röhren und zur Dickenprüfung etwa von Papier, Filmen oder Metall verwendet. Daneben dient es in der Qualitätskontrolle in der Nuklearmedizin als langlebiges Nuklid in Prüfstrahlern.Größere Mengen des Isotops 137Cs gelangten durch oberirdische Kernwaffenversuche und durch die Reaktorunglücke von Tschernobyl und Fukushima in die Umwelt. Die bei allen oberirdischen Kernwaffentests freigesetzte Aktivität an 137Cs betrug 9,48·1017 Bq. Gemäß der spezifischen Aktivität von 137Cs von 3,215 TBq/g entspricht das etwas weniger als 300 Kilogramm. Die Gesamtmenge an 137Cs, das durch die Tschernobyl-Katastrophe freigesetzt wurde, hatte eine Aktivität von etwa 8,5·1016 Bq. Dies entspricht etwa 26 Kilogramm. Hinzu kam eine Aktivität von etwa 4,7·1016 Bq durch 134Cs (entspricht etwa 15 Gramm) und 3,6·1016 Bq durch 136Cs (etwa 200 Milligramm). Die Belastung durch die letzteren beiden Isotope ist noch im Verlaufe des Jahres 1986 (136Cs mit einer Halbwertszeit von 13,16 Tagen) bzw. binnen der folgenden Jahre (134Cs mit einer Halbwertszeit von 2,065 Jahren) auf nicht mehr nennenswerte Mengen abgeklungen. Nach 10 Halbwertszeiten liegt noch 1/2^10=1/1024 der ursprünglichen Menge vor, was sich mit jeder weiteren Halbwertszeit wiederum halbiert. Nach Masse – nicht nach Aktivität – dürfte eine vergleichbare Menge 135Cs wie 137Cs freigesetzt worden sein, da größenordnungsmäßig ähnlich häufig der Isobar mit Massezahl 137 wie jener mit Massezahl 135 bei der Spaltung von 235U entsteht. Dieser Isobar betazerfällt dann über kürzerlebige Zwischenprodukte zu den entsprechenden Caesium-Isotopen.Durch den Fallout wurden viele Gebiete in Europa, auch in Deutschland, vor allem im Bayerischen Wald und südlich der Donau, mit radioaktivem Caesium in messbarem Ausmaß belastet. Besonders reichert sich 137Cs in Pilzen an, die Lignin zersetzen können und dadurch einen leichteren Zugang zu Kalium und damit auch zu dem chemisch sehr ähnlichen Caesium haben als Pflanzen. Insbesondere der Maronen-Röhrling (Boletus badius) und der Flockenstielige Hexen-Röhrling (Boletus erythropus) reichern Caesium an, während beispielsweise der verwandte Gemeine Steinpilz (Boletus edulis) nur eine geringe Caesium-Anreicherung zeigt. Die Ursache für die hohe Caesium-Anreicherung der beiden erstgenannten Pilze ist durch deren Hutfarbstoffe Badion A und Norbadion A begründet, die Caesium komplexieren können.
Im Steinpilz sind diese beiden Derivate der Pulvinsäure nicht vorhanden.
Betroffen sind auch Wildtiere, die Pilze fressen. Die genaue Caesiumbelastung ist abhängig von der Menge an niedergegangenem Fallout und der Bodenbeschaffenheit, da Böden Caesium unterschiedlich stark binden und damit für Pflanzen verfügbar machen können. Auch saisonale Unterschiede sind – insbesondere bei Wildbret – messbar. Im Winter suchen die Tiere in tieferen Bodenschichten nach Nahrung, welche gegebenenfalls mehr Caesium enthalten als der Oberboden. Da die biologische Halbwertszeit von Caesium relativ gering ist, sind diese saisonalen Schwankungen auch bei Untersuchung des Fleisches messbar. Dieser saisonale Effekt ist bei Rehwild stärker als bei Wildschweinen. Auch in Menschen kann 137Cs durch Messungen mit Ganzkörperzählern nachgewiesen werden, wobei die Aktivität im Körper von den Verzehrsgewohnheiten, insbesondere dem Verzehr kontaminierter Wildpilze und von Wildscheinfleisch, abhängt. Typische Körperaktivitäten von 137Cs liegen im Berich weniger Becquerel bis einiger zehn Becquerel, bei Personen, die diese Lebensmittel regelmäßig verzehren, auch bei einigen hundert Becquerel.Der in der EU geltende Grenzwert von 330 Bq/kg für Milch und Säuglingsnahrung und 600 Bq/kg für alle übrigen Lebensmittel ist vergleichsweise niedrig und führt immer wieder dazu, dass Wildbret, welches die Grenzwerte überschreitet, vernichtet werden muss. Werte von 5000 Bq/kg und mehr in Wildschwein kommen durchaus immer wieder vor. In Japan wurde der Grenzwert nach dem Unfall von Fukushima gesenkt und zwar auf den Wert von 100 Bq/kg. Die allermeisten getesteten Lebensmittel aus der Präfektur Fukushima halten diesen im internationalen Vergleich außerordentlich strengen Grenzwert ein, dennoch besteht nach wie vor ein Stigma gegen Produkte aus der Region, welche vor 2011 in Japan einen exzellenten Ruf genossen hatten.Ein Vorfall, bei dem Menschen aufgrund der Strahlenexposition durch 137Cs starben, war der Goiânia-Unfall im Jahr 1987 in Brasilien, bei dem aus einer verlassenen Strahlenklinik zwei Müllsammler einen Metallbehälter entwendeten. Das darin enthaltene 137Cs wurde aufgrund der auffälligen fluoreszierenden Farbe an Freunde und Bekannte verteilt. Die insgesamt involvierte Menge von 93 Gramm Caesiumchlorid enthielt 19 Gramm oder 50,9 Terabecquerel 137Cs von denen über 80 % in die Umwelt gelangten bzw. von den Opfern des Unfalls inkorporiert wurden. Beim Nuklearunfall von Kramatorsk wurde eine 137Cs-Quelle mit rund 5,2*10^10 Bq 137Cs (entspricht etwa 16 Milligramm) versehentlich in die Betonwand eines Wohnhauses eingebaut.Andere Radioisotope des Caesium sind im öffentlichen Bewusstsein weniger präsent, obwohl auch sie in nennenswerter Menge in die Umwelt abgegeben wurden. Hier ist zum einen Caesium-134 zu nennen, welches durch Neutroneneinfang aus stabilem Caesium-133 entsteht, aufgrund seiner relativ kurzen Halbwertszeit um die zwei Jahre allerdings mittelfristig weniger Relevanz hat – während 20 Jahre nach der Freisetzung noch mehr als die Hälfte des ursprünglichen Caesium-137 vorhanden ist, ist die Menge an Caesium-134 auf weniger als ein Tausendstel gesunken. Caesium-135 ist zwar relativ langlebig (Halbwertszeit über eine Million Jahre) jedoch aufgrund seiner geringen Radioaktivität weniger relevant. Das Verhältnis von Caesium-135 zu anderen Caesium-Isotopen kann auch genutzt werden um herauszufinden ob der Ursprung einer radioaktiven Kontamination eine Atombombe oder ein Kernkraftwerk ist. Caesium-135 entsteht bei der Kernspaltung nicht direkt, sondern als Tochternuklid von Xenon-135. Da Xenon-135 ein starkes Neutronengift ist, wird in einem Kernkraftwerk mit (genähert) konstantem Neutronenfluss ein erheblicher Teil des Xenon-135 durch Neutroneneinfang zu Xenon-136 umgewandelt, bevor es zu Caesium-135 zerfallen kann. In Atombomben ist das Xenon-135 noch gar nicht aus seinem „Vorgänger“ Iod-135 entstanden wenn durch die Explosion der Bombe der Neutronenfluss abreißt.
== Verwendung ==
Auf Grund der komplizierten Herstellung und hohen Reaktivität wird elementares Caesium nur in geringem Maße eingesetzt. Es hat seine Einsatzgebiete vorwiegend in der Forschung.
=== Raumfahrt ===
Da Caesium eine kleine Austrittsarbeit hat, kann es als Glühkathode etwa zur Gewinnung freier Elektronen verwendet werden. Auch magnetohydrodynamische Generatoren werden mit Caesium als möglichem Plasmamaterial untersucht. In der Raumfahrt wird Caesium neben Quecksilber und Xenon auf Grund seiner hohen molaren Masse, die einen größeren Rückstoß als leichtere Elemente bewirkt, als Antriebsmittel in Ionenantrieben eingesetzt. Vorteilhaft im Vergleich zu Quecksilber ist die Ungiftigkeit von Caesium und die relative Unbedenklichkeit einer etwaigen Freisetzung (z. B. bei gescheiterten Startversuchen). Im Vergleich zu Xenon ist der niedrigere Preis als Vorteil zu nennen. Obwohl Caesium nur in geringen Mengen elementar gewonnen wird, ist es doch leichter verfügbar als das nur in Spuren in der Atmosphäre vorhandene Edelgas Xenon, welches mittels Luftverflüssigung gewonnen wird.
=== Zeitmessung ===
Die Sekunde als Maßeinheit der Zeit ist seit 1967 über die Frequenz eines bestimmten atomaren Übergangs im Caesium-Isotop 133Cs definiert. Dazu passend ist Caesium das die Frequenz bestimmende Element in den Atomuhren, die die Basis für die koordinierte Weltzeit bilden. Die Wahl fiel auf Caesium, weil dies ein Reinelement ist und in den 1960er Jahren der Übergang zwischen den beiden Grundzuständen mit ca. 9 GHz mit den damaligen elektronischen Mitteln bereits detektierbar war. Die Breite dieses Übergangs und damit die Unsicherheit der Messung ist nicht durch Eigenschaften des Atoms bestimmt. Durch die niedrige Verdampfungstemperatur kann mit wenig Aufwand ein Atomstrahl mit geringer Geschwindigkeitsunsicherheit erzeugt werden.
Eine Wolke von Caesiumatomen kann in magneto-optischen Fallen in der Schwebe gehalten und mit Hilfe von Lasern bis auf wenige Mikrokelvin an den absoluten Nullpunkt abgekühlt werden. Mit dieser Technik war es möglich, die Frequenzstabilität und damit die Genauigkeit der Caesium-Atomuhr deutlich zu verbessern.
=== Als Getter ===
Daneben wird Caesium in Vakuumröhren verwendet, da es mit geringen Restspuren an Gasen reagiert und so für ein besseres Vakuum (Getter) sorgt. Dabei wird das Caesium in situ durch die Reaktion von Caesiumdichromat mit Zirconium erzeugt.
=== Legierungsmetall ===
Caesium ist – legiert mit Antimon und anderen Alkalimetallen – ein Material für Photokathoden, die etwa in Photomultipliern eingesetzt werden.
=== Radioaktive Anwendungen ===
Radioaktive Isotope des Caesium (insbesondere 135Cs und 137Cs) sind leicht als Spaltprodukt zugänglich und finden vielfältige Anwendungen, unter anderem als Quelle für Gammastrahlung in Industrie und Medizin sowie für die Lebensmittelbestrahlung. 137Cs bietet für die meisten Anwendungen den besten Kompromiss zwischen hoher spezifischer Aktivität und Langlebigkeit, jedoch liegt in Caesium aus Kernspaltung immer ein Gemisch verschiedener Isotope vor. Neben Kernspaltung kann 134Cs auch durch Neutroneneinfang in natürlichem 133Cs gewonnen werden. Die ungünstigen chemischen Eigenschaften haben jedoch dazu geführt, dass 137Cs in einigen Anwendungen durch 60Co verdrängt wurde, welches weniger leicht in die Umwelt entweichen kann, wenn radioaktive Quellen unsachgemäß entsorgt oder bedient werden. Ein Einsatz in Atombatterien wäre zwar denkbar, ist jedoch aufgrund der entstehenden Gammastrahlung und der chemischen Eigenschaften des Caesiums selten und erscheint wenig lohnenswert.
== Nachweis ==
Zum Nachweis von Caesium können die Spektrallinien bei 455 und 459 nm im Blau genutzt werden. Quantitativ lässt sich dies in der Flammenphotometrie zur Bestimmung von Caesiumspuren nutzen.
In der Polarographie zeigt Caesium eine reversible kathodische Stufe bei −2,09 V (gegen eine Kalomelelektrode). Dabei müssen als Grundelektrolyt quartäre Ammoniumverbindungen (beispielsweise Tetramethylammoniumhydroxid) verwendet werden, da andere Alkali- oder Erdalkalimetallionen sehr ähnliche Halbstufenpotentiale besitzen.Gravimetrisch lässt sich Caesium wie Kalium über verschiedene schwerlösliche Salze nachweisen. Beispiele hierfür sind das Perchlorat CsClO4 und das Hexachloridoplatinat Cs2[PtCl6].
== Biologische Bedeutung ==
Mit der Nahrung aufgenommenes Caesium wird auf Grund der Ähnlichkeit zu Kalium im Magen-Darm-Trakt resorbiert und analog zu Kalium vorwiegend im Muskelgewebe gespeichert. Die biologische Halbwertszeit, mit der Caesium vom menschlichen Körper wieder ausgeschieden wird, ist abhängig von Alter und Geschlecht und beträgt im Durchschnitt 110 Tage.Caesium ist chemisch nur in sehr geringem Maß giftig. Typische LD50-Werte für Caesiumsalze liegen bei 1000 mg/kg (Ratte, oral). Von Bedeutung ist jedoch die Wirkung der ionisierenden Strahlung aufgenommener radioaktiver Caesiumisotope, die je nach Dosis die Strahlenkrankheit verursachen können. Wegen der guten Wasserlöslichkeit der meisten Caesiumsalze werden diese im Magen-Darm-Trakt vollständig resorbiert und vorwiegend im Muskelgewebe verteilt. Durch die Aufnahme von radioaktivem 137Cs nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 ergab sich in den ersten drei Monaten eine durchschnittliche effektive Dosis von 0,6 μSv für einen Erwachsenen der Bundesrepublik Deutschland.
== Sicherheitshinweise ==
An Luft entzündet sich Caesium spontan, weshalb es in Ampullen unter reinem Argon oder im Vakuum aufbewahrt werden muss. Wegen seiner hohen Reaktionsfähigkeit reagiert es mit Wasser explosiv. Die Explosivität kann durch die Entzündung des dabei entstehenden Wasserstoffs verstärkt werden. Brennendes Caesium muss mit Metallbrandlöschern gelöscht werden. Bei kleinen Mengen (wenige Gramm), kann trockener Sand verwendet werden. Die Entsorgung erfolgt wie bei anderen Alkalimetallen durch vorsichtiges Zutropfen von Alkoholen wie 2-Pentanol, tert-Butanol oder Octanol und anschließende Neutralisation.
== Verbindungen ==
Als typisches Alkalimetall kommt Caesium ausschließlich in ionischen Verbindungen in der Oxidationsstufe +1 vor. Die meisten Caesiumverbindungen sind gut wasserlöslich.
=== Halogenide ===
Caesium bildet mit allen Halogenen gut wasserlösliche Halogenide der Form CsX (X = Halogenid). Caesiumchlorid besitzt eine charakteristische Kristallstruktur, die einen wichtigen Strukturtyp bildet (Caesiumchloridstruktur). So kristallisieren mit Ausnahme von Caesiumfluorid auch die anderen Caesiumhalogenide. Caesiumchlorid ist Ausgangsstoff für die Gewinnung elementarem Caesiums. Da sich bei ausreichend langdauerndem Zentrifugieren automatisch ein Dichtegradient ausbildet, wird es zur Trennung und Reinigung von DNA in der Ultrazentrifuge verwendet. Hochreines Caesiumiodid und Caesiumbromid werden als transparentes Szintillationsmaterial in Szintillationszählern eingesetzt.
=== Sauerstoffverbindungen ===
Caesium bildet eine ungewöhnlich große Zahl an Sauerstoffverbindungen. Dies hängt vor allem mit der niedrigen Reaktivität des Caesiumions zusammen, so dass die Bildung von Sauerstoff-Sauerstoff-Bindungen möglich ist. Bekannt sind mehrere Suboxide wie Cs11O3 und Cs3O, bei denen ein Überschuss an Caesium vorliegt und die dementsprechend elektrische Leitfähigkeit zeigen. Daneben sind mit steigenden Sauerstoffgehalten das Oxid Cs2O, das Peroxid Cs2O2, das Hyperoxid CsO2 und das Ozonid CsO3 bekannt. Alle diese Verbindungen sind im Gegensatz zu den meisten übrigen Caesiumverbindungen farbig, die Suboxide violett oder blaugrün, die übrigen gelb, orange oder rot.
Caesiumhydroxid ist ein stark hygroskopischer, weißer Feststoff, der sich gut in Wasser löst. In wässriger Lösung ist Caesiumhydroxid eine starke Base.
=== Weitere Caesiumverbindungen ===
Caesiumcarbonat ist ein weißer Feststoff und löst sich in vielen organischen Lösungsmitteln. Es wird in verschiedenen organischen Synthesen als Base beispielsweise für Veresterungen oder für die Abspaltung spezieller Schutzgruppen eingesetzt.Caesiumnitrat findet in großem Umfang Verwendung in militärischer Pyrotechnik, und zwar in NIR-Leuchtmunition und Infrarottarnnebeln, Während die Verwendung in NIR-Leuchtsätzen auf den intensiven Emissionslinien des Elements bei 852, 1359 und 1469 nm beruht, basiert der Einsatz in Tarnnebeln auf der leichten Ionisierbarkeit des Elements. Die beim Abbrand der pyrotechnischen Wirkmassen in der Flamme gebildeten Cs-Ionen wirken als Kondensationskeime und verstärken daher die für die Strahlungsabsorption wichtige Aerosolausbeute.
Caesiumchromat kann zusammen mit Zirconium als einfache Quelle für die Gewinnung elementaren Caesiums zur Beseitigung von Wasser- und Sauerstoffspuren in Vakuumröhren eingesetzt werden.Einen Überblick über Caesiumverbindungen gibt die Kategorie:Caesiumverbindung.
== Literatur ==
Manfred Bick, Horst Prinz: Cesium and Cesium Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry, Wiley-VCH, Weinheim 2005 (doi:10.1002/14356007.a06_153).
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1.
Eintrag zu Caesium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 19. Juni 2014.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Caesium |
Xenon | = Xenon =
Xenon () ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Xe und der Ordnungszahl 54. Im Periodensystem steht es in der 8. Hauptgruppe, bzw. der 18. IUPAC-Gruppe und zählt daher zu den Edelgasen. Wie die anderen Edelgase ist es ein farbloses, äußerst reaktionsträges, einatomiges Gas. In vielen Eigenschaften wie Schmelz- und Siedepunkt oder Dichte steht es zwischen dem leichteren Krypton und dem schwereren Radon.
Xenon ist das seltenste nichtradioaktive Element auf der Erde und kommt in geringen Mengen in der Atmosphäre vor. Trotz seiner Seltenheit wird es vielfach eingesetzt, so als Füllgas von hochwertigen Isolierglaseinheiten, sowie Xenon-Gasentladungslampen, die unter anderem in Autoscheinwerfern (Xenonlicht) eingesetzt werden, und als Inhalationsanästhetikum.
Das Edelgas wurde 1898 von William Ramsay und Morris William Travers durch fraktionierte Destillation von flüssiger Luft entdeckt. Xenon ist das Edelgas mit den meisten bekannten chemischen Verbindungen. Die stabilste ist dabei das Xenon(II)-fluorid, das als starkes Oxidations- und Fluorierungsmittel eingesetzt wird.
== Geschichte ==
Nachdem John William Strutt, 3. Baron Rayleigh, und William Ramsay 1894 das erste Edelgas Argon entdeckt und Ramsay 1895 das bislang nur aus dem Sonnenspektrum bekannte Helium aus Uranerzen isoliert hatten, erkannte dieser aus den Gesetzen des Periodensystems, dass es noch weitere derartige Elemente geben müsste. Er untersuchte daher ab 1896 zunächst verschiedene Minerale und Meteoriten und die von ihnen beim Erhitzen oder Auflösen abgegebenen Gase. Ramsay und sein Mitarbeiter Morris William Travers waren dabei jedoch erfolglos. Es wurden Helium und seltener Argon gefunden. Auch die Untersuchung heißer Gase aus Cauterets in Frankreich und aus Island brachten keine Ergebnisse.Schließlich begannen sie, 15 Liter Rohargon zu untersuchen und durch Verflüssigung und fraktionierte Destillation zu trennen. Als sie den Rückstand, der bei fast völligem Verdampfen des Rohargons übrigblieb, untersuchten, entdeckten sie das neue Element Krypton. Nachdem sie Neon entdeckt hatten, begannen Ramsay und Travers im September 1898 Krypton durch fraktionierte Destillation weiter zu untersuchen und entdeckten dabei ein weiteres Element mit einem höheren Siedepunkt als Krypton. Sie nannten es nach dem altgriechischen ξένος xénos „fremd“ Xenon.1939 entdeckte Albert R. Behnke die anästhetische Wirkung des Gases. Er untersuchte die Wirkung verschiedener Gase und Gasmischungen auf Taucher und vermutete aus den Ergebnissen, dass Xenon auch bei Normaldruck eine narkotische Wirkung haben müsse. Er konnte dies jedoch aus Mangel an Gas nicht überprüfen. Erstmals bestätigt wurde diese Wirkung 1946 von J. H. Lawrence an Mäusen, die erste Operation unter Xenon-Narkose gelang 1951 Stuart C. Cullen.Neil Bartlett entdeckte mit Xenonhexafluoroplatinat 1962 erstmals eine Xenonverbindung und damit die erste Edelgasverbindung überhaupt. Nur wenige Monate nach dieser Entdeckung konnten nahezu gleichzeitig im August 1962 Xenon(II)-fluorid von Rudolf Hoppe und Xenon(IV)-fluorid von einer Gruppe um die amerikanischen Chemiker C. L. Chernick und H. H. Claassen synthetisiert werden.
== Vorkommen ==
Während Xenon im Universum nicht selten vorkommt und in seiner Häufigkeit mit der von Barium, Rubidium und Nickel vergleichbar ist, zählt es auf der Erde zu den seltensten Elementen. Es ist das seltenste stabile Element; lediglich radioaktive Elemente, die überwiegend als kurzlebige Zwischenprodukte in Zerfallsreihen auftreten, sind seltener. Dass der Gehalt an Xenon in Gesteinen gering ist, wird möglicherweise dadurch verursacht, dass sich Xenon sehr viel schlechter in Magnesiumsilikat-Gesteinen des Erdmantels löst als die leichteren Edelgase. Eine andere mögliche Erklärung für diese sogenannte Xenon-Lücke ist, dass große Mengen an Xenon im Erdkern chemisch an Nickel und Eisen gebunden sind. Bei Versuchen in einer Diamantstempelzelle konnte nachgewiesen werden, dass Xenon sich bei 150 Gigapascal und 1200 °C mit Nickel zu XeNi3 verbindet. Bei 200 Gigapascal und 1700 °C reagiert es mit Eisen zu XeFe3.Der größte Teil zugänglichen Xenons ist in der Atmosphäre vorhanden, der Anteil beträgt etwa 0,09 ppm. Aber auch die Ozeane, manche Gesteine wie Granit und Erdgas-Quellen enthalten geringe Mengen Xenon. Entstanden ist dies – wie durch die vom atmosphärischen Xenon abweichende Isotopenzusammensetzung nachweisbar – unter anderem durch Spontanzerfall von Uran und Thorium.Xenon wird als Indikator für Atomwaffentests von der CTBTO weltweit kontinuierlich gemessen – über die Anlagerung an Silberzeolithe in Xenonfallen.Meteoriten enthalten Xenon, das entweder seit Entstehung des Sonnensystems in Gesteinen eingeschlossen ist oder durch verschiedene Sekundärprozesse entstanden ist. Zu diesen zählen der Zerfall des radioaktiven Iodisotops 129I, Spallationsreaktionen und die Kernspaltung schwerer Isotope wie 244Pu. Auch auf der Erde lassen sich die Xenon-Produkte dieser Reaktionen nachweisen, was Rückschlüsse auf die Entstehung der Erde ermöglicht. Auf dem Mond wurde Xenon gefunden, das durch den Sonnenwind dorthin transportiert wurde (im Mondstaub) sowie im Mondgestein solches, das durch Spallationen oder Neutroneneinfang aus dem Bariumisotop 130Ba entstanden ist.Xenon konnte auch in einem Weißen Zwerg nachgewiesen werden. Dabei wurde im Vergleich zur Sonne die 3800-fache Konzentration gemessen; die Ursache für diesen hohen Xenon-Gehalt ist noch unbekannt.Da verschiedene Xenon-Isotope zu den häufigeren Spaltprodukten gehören, ist abgebrannter Kernbrennstoff verhältnismäßig reich an Xenon. Eine wie auch immer geartete gezielte Extraktion von Xenon aus dieser Quelle erfolgt jedoch nicht in kommerziellen Maßstab. Forschung in dem Bereich wird jedoch betrieben und teilweise mit dem hohen Preis von Xenon gerechtfertigt.
== Gewinnung ==
Die Gewinnung von Xenon erfolgt ausschließlich durch das Linde-Verfahren aus Luft. Bei der Stickstoff-Sauerstoff-Trennung reichert es sich auf Grund der hohen Dichte zusammen mit Krypton im flüssigen Sauerstoff an, der sich im Sumpf der Kolonne befindet. Dieses Gemisch wird in eine Kolonne überführt, in der es auf etwa 0,3 % Krypton und Xenon angereichert wird. Dazu enthält das flüssige Krypton-Xenon-Konzentrat neben Sauerstoff noch größere Mengen Kohlenwasserstoffe wie Methan, fluorierte Verbindungen wie Schwefelhexafluorid oder Tetrafluormethan sowie Spuren an Kohlenstoffdioxid und Distickstoffmonoxid. Methan und Distickstoffmonoxid können über Verbrennung an Platin- oder Palladiumkatalysatoren bei 500 °C zu Kohlenstoffdioxid, Wasser und Stickstoff umgesetzt werden, die durch Adsorption an Molekularsieben entfernt werden können. Fluorverbindungen können dagegen nicht auf diese Weise aus dem Gemisch entfernt werden. Um diese zu zerlegen und aus dem Gemisch zu entfernen, kann das Gas mit Mikrowellen bestrahlt werden, wobei die Element-Fluor-Bindungen aufbrechen und die entstehenden Fluoratome in Natronkalk aufgefangen werden können oder über einen Titandioxid-Zirconiumdioxid-Katalysator bei 750 °C geleitet werden. Dabei reagieren die Fluorverbindungen zu Kohlenstoffdioxid und Fluorwasserstoff und anderen abtrennbaren Verbindungen.Anschließend werden Krypton und Xenon in einer weiteren Kolonne, die unten beheizt und oben gekühlt wird, getrennt. Während das Krypton und Sauerstoffreste am oberen Ende der Kolonne entweichen, sammelt sich Xenon am Boden und kann abgeschöpft werden. Auf Grund der Seltenheit bei gleichzeitig hoher Nachfrage ist Xenon das teuerste Edelgas. Die Gesamtproduktionsmenge 2017 lag bei 12.200 m3, was etwa 71,5 Tonnen entspricht.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Xenon ist bei Normalbedingungen ein einatomiges, farbloses und geruchloses Gas, das bei 165,1 K (−108 °C) kondensiert und bei 161,7 K (−111,45 °C) erstarrt. Wie die anderen Edelgase außer dem Helium kristallisiert Xenon in einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit dem Gitterparameter a = 620 pm.Wie alle Edelgase besitzt Xenon nur abgeschlossene Schalen (Edelgaskonfiguration). Dadurch lässt sich erklären, dass das Gas stets einatomig vorliegt und die Reaktivität gering ist. Jedoch ist die Ionisierungsenergie der äußersten Elektronen so niedrig, dass sie sich im Gegensatz zu den Valenzelektronen der leichteren Edelgase auch chemisch abspalten lassen und Xenonverbindungen möglich sind.
Mit einer Dichte von 5,8982 kg/m3 bei 0 °C und 1013 hPa ist Xenon deutlich schwerer als Luft. Im Phasendiagramm liegt der Tripelpunkt bei 161,37 K und 0,8165 bar, der kritische Punkt bei 16,6 °C, 5,84 MPa und einer kritischen Dichte von 1,1 g/cm3.Die Wärmeleitfähigkeit ist sehr niedrig und liegt, je nach Temperatur, bei etwa 0,0055 W/mK. Unter hohem Druck von 33 GPa und bei einer Temperatur von 32 K verhält sich Xenon wie ein Metall, es ist elektrisch leitfähig.
=== Chemische und physikalisch-chemische Eigenschaften ===
Wie alle Edelgase ist Xenon reaktionsträge und reagiert kaum mit anderen Elementen. Jedoch ist Xenon zusammen mit Radon das reaktivste Edelgas, es ist eine größere Zahl Xenonverbindungen bekannt. Deren Anzahl übertrifft sogar die des schwereren Radons, da dieses zwar eine geringere Ionisierungsenergie besitzt, jedoch die starke Radioaktivität und kurze Halbwertszeit der Radonisotope bei der Bildung von Verbindungen stört.
Xenon reagiert direkt nur mit Fluor. Je nach Verhältnis von Xenon und Fluor entstehen dabei unter exothermer Reaktion bei erhöhten Temperaturen Xenon(II)-fluorid, Xenon(IV)-fluorid oder Xenon(VI)-fluorid. Verbindungen mit einigen anderen Elementen wie Sauerstoff oder Stickstoff sind ebenfalls bekannt. Sie sind aber instabil und können nur durch Reaktionen von Xenonfluoriden oder wie Xenon(II)-chlorid bei tiefen Temperaturen durch elektrische Entladungen dargestellt werden.Xenon bildet Clathrate, bei denen das Atom nur physikalisch gebunden und in einen Hohlraum des umgebenden Kristalls eingeschlossen ist. Ein Beispiel hierfür ist das Xenon-Hydrat, bei dem das Gas in Eis eingeschlossen ist. Es ist zwischen 195 und 233 K stabil. In der Nähe der Raumtemperatur ist Xenon bis zu einem gewissen Maß in Wasser löslich. Als inertes Teilchen hat Xenon keine Wechselwirkung mit dem Wasser, allerdings stellt sich der sogenannte hydrophobe Effekt ein und so wird die Beweglichkeit der dem Xenon benachbarten Wassermoleküle bei 25 °C um ca. 30 % erniedrigt. Befinden sich in der Xenon-Wasser-Lösung zusätzlich Salze, so lagern sich große Anionen, wie z. B. Bromid (Br−) und Iodid (I−) an das Xenon an und bilden einen Xenon-Anion-Komplex, der beim größeren Anion stärker ist. Auch in Fullerenen können Xenonatome eingeschlossen sein, diese beeinflussen auch die Reaktivität des Fullerens, etwa bei der Reaktion mit 9,10-Dimethylanthracen.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 37 Isotope sowie zwölf weitere Kernisomere des Xenons bekannt. Von diesen sind sieben, die Isotope 126Xe, 128Xe, 129Xe, 130Xe, 131Xe, 132Xe und 134Xe, stabil. Die beiden instabilen Isotope 124Xe und 136Xe haben so lange Halbwertszeiten, dass sie zusammen einen deutlichen Anteil des natürlichen Xenons ausmachen, ohne dass dieses deshalb nennenswert radioaktiv wäre. Alle anderen Isotope und Isomere haben dagegen nur kurze Halbwertszeiten zwischen 0,6 µs bei 110Xe und 36,4 Tagen bei 127Xe. Xenon ist damit nach Zinn das Element mit den meisten stabilen Isotopen. Im natürlichen Isotopengemisch besitzen 132Xe mit 26,9 %, 129Xe mit 26,4 % und 131Xe mit 21,2 % den größten Anteil. Es folgen 134Xe mit 10,4 % und 136Xe mit 8,9 %, die übrigen besitzen nur geringe Anteile.Xenonisotope entstehen bei der Kernspaltung in Kernkraftwerken. Besonders wichtig ist hierbei das kurzlebige 135Xe, das in größeren Mengen direkt als Spaltprodukt oder aus dem bei der Spaltung entstehenden 135Te über 135I gebildet wird. 135Xe besitzt einen sehr großen Einfangquerschnitt für thermische Neutronen von 2,9 · 106 Barn, wobei sich das extrem langlebige 136Xe bildet. Dieser Neutroneneinfangprozess vermindert die Leistung des Reaktors, da die Neutronen nun nicht mehr für Kernspaltungen zur Verfügung stehen. Während des laufenden Betriebes eines Kernkraftwerkes bildet sich ein Gleichgewicht von Bildung und Zerfall von 135Xe. Wird der Reaktor dagegen abgeschaltet, bildet sich aus den schon vorhandenen Spaltprodukten weiterhin 135Xe, während der Abbau durch die fehlenden Neutronen verlangsamt abläuft. Man spricht hierbei von einer Xenonvergiftung, diese verhindert auch das direkte Wiederanfahren eines abgeschalteten Kernreaktors. Der Versuch, dieses Phänomen mit unzulässigen Maßnahmen zu kompensieren, spielte eine Rolle bei der Katastrophe von Tschernobyl.133Xe wird in der Nuklearmedizin eingesetzt und dient dort unter anderem zur Untersuchung der Durchblutung von Gehirn, Muskeln, Haut und anderen Organen. 129Xe wird als Sonde in der Kernspinresonanzspektroskopie zur Untersuchung von Oberflächeneigenschaften verschiedener Materialien und von Biomolekülen eingesetzt.
136Xe ist ein primordiales Radionuklid entstand aber auch bei Prozessen wie dem Naturreaktor Oklo durch Neutroneneinfang im oben erwähnten 135Xe. Da es das seltene Phänomen des Doppelbetazerfalls aufweist, ist es Gegenstand der Forschung, um zu ergründen, wie dieser Prozess genau abläuft, um damit das Verständnis der Physik zu verbessern. Insbesondere geht es darum um die Frage, ob Doppelbetazerfall auch ohne Entstehung von Neutrinos möglich ist. Aufgrund der extremen Langlebigkeit von 136Xe - mehr als eine Milliarde mal größere Halbwertszeit als das Alter des Universums - ist die Radioaktivität selbst vom reinem 136Xe nur mit hochsensiblen und gegen Hintergrundstrahlung gut abgeschirmten Messinstrumenten überhaupt detektierbar und im praktischen Umgang mit Xenon zumeist völlig bedeutungslos.
== Verwendung ==
Xenon wird vor allem als Füllgas von Lampen eingesetzt. Dazu zählt die Xenon-Gasentladungslampe, bei der in Xenon ein Lichtbogen gezündet wird, welcher eine Temperatur von etwa 6000 K erreicht. Dabei gibt das ionisierte Gas eine Strahlung ab, die mit dem Tageslicht vergleichbar ist. Diese Lampen werden beispielsweise in Filmprojektoren, Blitzlichtern und für die Befeuerung von Start- und Landebahnen auf Flughäfen eingesetzt. Auch in Autoscheinwerfern werden Xenon-Gasentladungslampen verwendet; dieses sogenannte Xenonlicht ist etwa 2,5-mal so lichtstark wie eine Halogenlampe gleicher elektrischer Leistung. Glühlampen können mit Xenon oder Xenon-Krypton-Mischungen gefüllt werden, wodurch eine höhere Temperatur des Glühfadens und damit eine bessere Lichtausbeute erzielt wird.Xenon ist ein Lasermedium in Excimerlasern. Dabei bildet sich ein instabiles Xe2-Dimer, das unter Aussendung von Strahlung bei einer typischen Wellenlänge von 172 nm im ultravioletten Spektralbereich zerfällt. Auch Laser, bei denen Xenon mit verschiedenen Halogenen gemischt wird und sich Xe-Halogen-Dimere bilden, sind bekannt. Sie besitzen andere ausgestrahlte Wellenlängen, so strahlt der Xe-F-Laser Licht einer Wellenlänge von 354 nm ab.
Xenon wird in Ionenantrieben oft als Antriebsmittel (Stützmasse) verwendet. Die nur geringe Schubkräfte erzeugenden Ionentriebwerke nutzen den Antriebsmittelvorrat durch ihren hohen spezifischen Impuls wesentlich effizienter als konventionelle chemische Triebwerke und werden deshalb in manchen Satelliten für Korrekturtriebwerke oder als Hauptantrieb einiger Raumsonden verwendet, die so Ziele erreichen können, die für sie sonst nicht erreichbar wären. Xenon wird verwendet, da es als Edelgas leichter handhabbar und umweltfreundlicher ist als das ebenfalls mögliche Caesium oder Quecksilber.Xenon wird – bis zu einer Konzentration von 35 %, um nicht narkotisierend zu wirken – versuchsweise als Kontrastmittel in der Röntgendiagnostik verwendet, eventuell ergänzt durch Krypton, um die Absorption zu erhöhen. Durch Inhalation von hyperpolarisiertem 129Xe kann eine gute Darstellbarkeit der Lunge durch MRT (NMR) erreicht werden.
Die geringe Wärmeleitfähigkeit von Xenon im Vergleich zu Luft, Argon und Krypton eröffnet spezielle Anwendungsmöglichkeiten im Bereich von hochisolierendem Mehrscheiben-Isolierglas. Auf Grund seines hohen Preises wird Xenon als Füllgas bei Isolierglaseinheiten jedoch nur in Sonderfällen verwendet, z. B. wenn es auf besonders hohe Wärmedämmung selbst bei sehr dünnen Isolierglaseinheiten mit Scheibenzwischenräumen unter 8 mm besonders ankommt (Isolierglas in denkmalgeschütztem Rahmen, kleine Fenster unter hoher Klimalast).
== Biologische Bedeutung ==
Wie die anderen Edelgase geht Xenon auf Grund der Reaktionsträgheit keine kovalenten Bindungen mit Biomolekülen ein und wird auch nicht verstoffwechselt. Über induzierte Dipole können Atome des Gases jedoch mit biologischen Systemen wechselwirken. So wirkt es beispielsweise durch einen noch nicht vollständig geklärten Mechanismus unter Beteiligung von Glutamat-Rezeptoren narkotisierend.Neuere Forschungen legen nahe, dass unter dem Einfluss von Xenon auch neuroprotektive und analgetische Wirkungen beobachtet werden können.
=== Narkosemittel ===
Xenon wirkt narkotisierend und kann als Inhalationsanästhetikum verwendet werden. Es ist seit 2005 für den Einsatz bei ASA 1 und 2-Patienten in Deutschland, seit 2007 in elf weiteren Ländern zugelassen. Aufgrund der hohen Kosten (200–300 € anstelle 80–100 € bei einer zweistündigen Operation) konnte es sich bis zum Jahr 2015 noch nicht im täglichen Narkosebetrieb durchsetzen.Um mit dem 15 €/Liter teuren Xenon sparsam umzugehen, wird es mit dem Ausatemgas wie bei einem Kreislauftauchgerät im Kreis geführt, indem das abgeatmete CO2 chemisch entfernt und Sauerstoff hinzugefügt wird.Aufgrund seines sehr niedrigen Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten flutet es sehr schnell an und ab. Beim Abfluten kann wie beim Distickstoffmonoxid eine Diffusionshypoxie entstehen, es muss also mit reinem Sauerstoff ausgewaschen werden. Gegenüber dem häufig verwendeten Distickstoffmonoxid besitzt es einige Vorteile, so ist es ungefährlich im Umgang und kein Treibhausgas. Auch die Hämodynamik ist bei Xenon stabiler als bei anderen volatilen Anästhetika, d. h., es kommt nicht zum Blutdruckabfall, die Herzfrequenz steigt eher etwas an. Nachteilig ist, dass mit Xenon, weil es eine relativ hohe Konzentration in den Lungenbläschen braucht, um narkotisch zu wirken (MAC-Wert im Bereich von 60 bis 70 %), nur noch höchstens 30 oder 40 % Sauerstoff im Atemgasgemisch gegeben werden kann. Der größte Nachteil des Xenons ist sein hoher Preis.
=== Doping ===
Im Umfeld der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi erregte eine Recherche des WDR über den Missbrauch von Xenon als Dopingmittel die öffentliche Aufmerksamkeit. Demnach sollen russische Athleten seit den Sommerspielen 2004 in Athen versuchen, ihre Leistungsfähigkeit zu steigern, indem sie während des Trainings die Hälfte des Luftsauerstoffs durch Xenongas ersetzen. Eine entsprechende Studie der Forschungs- und Entwicklungseinrichtung namens Atom-Med-Zentrum sei vom russischen Staat in Auftrag gegeben worden. Laut dieser Institution regt Xenongas im Körper die Produktion von EPO an. In Tierversuchen sei die EPO-Produktion innerhalb eines Tages auf 160 Prozent angestiegen. Ähnliche Effekte vermutet man beim Menschen. Im Mai 2014 setzte die WADA deshalb Xenon, ebenso wie Argon, auf die Dopingliste. Diese Dopingmethode hinterlässt allerdings keine derzeit im Blut nachweisbare Spuren.
== Verbindungen ==
Obwohl Edelgase generell chemisch inert sind, konnte man bei Xenon einige Verbindungen synthetisieren. Die Entdeckung der Xenonverbindungen verfeinerte das Wissen über diesen Aspekt der Chemie und es wird weiterhin an der Frage geforscht, welche Edelgasverbindungen sich darstellen lassen, und unter welchen Bedingungen sie sich synthetisieren lassen. Xenon weißt die größte Zahl bekannter Edelgasverbindungen auf, da die leichteren Edelgase noch reaktionsträger sind und die kurzlebigen Edelgase Radon und Oganesson sich nur schwer chemisch untersuchen lassen und die Radiolyse chemische Bindungen zerstört.
Man kennt eine größere Zahl von Verbindungen des Xenons in den Oxidationsstufen +2 bis +8. Am stabilsten sind Xenon-Fluor-Verbindungen, es sind aber auch Verbindungen mit Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und manchen Metallen wie Gold bekannt.
=== Fluorverbindungen ===
Drei Verbindungen des Xenons mit Fluor sind bekannt: Xenon(II)-fluorid, Xenon(IV)-fluorid und Xenon(VI)-fluorid. Die stabilste hiervon (und gleichzeitig die stabilste Xenonverbindung überhaupt) ist das linear aufgebaute Xenon(II)-fluorid. Es wird als einzige Xenonverbindung in geringen Mengen auch technisch genutzt. In Laborsynthesen dient es als starkes Oxidations- und Fluorierungsmittel, etwa zur direkten Fluorierung aromatischer Verbindungen.Während Xenon(II)-fluorid sich ohne Zersetzung in Wasser und Säuren löst und nur langsam hydrolysiert, hydrolysieren das quadratisch-planar aufgebaute Xenon(IV)-fluorid und das oktaedrische Xenon(VI)-fluorid schnell. Sie sind sehr reaktiv, so reagiert Xenon(VI)-fluorid mit Siliciumdioxid und kann daher nicht in Glasgefäßen aufbewahrt werden.
=== Sauerstoffverbindungen und Oxidfluoride ===
Mit Sauerstoff erreicht Xenon die höchstmögliche Oxidationsstufe +8 im Xenon(VIII)-oxid und dem Oxyfluorid Xenondifluoridtrioxid XeO3F2 sowie in Perxenaten der Form XeO64−. Weiterhin sind Xenon(VI)-oxid und die Oxyfluoride XeO2F2 und XeOF4 in der Oxidationsstufe +6 sowie Xenon(IV)-oxid und das Oxyfluorid XeOF2 mit vierwertigem Xenon bekannt. Alle Xenonoxide und -oxyfluoride sind instabil und viele explosiv.
=== Weitere Xenonverbindungen ===
Als weitere Xenon-Halogenverbindung ist Xenon(II)-chlorid bekannt; sie ist aber sehr instabil und nur bei tiefen Temperaturen spektroskopisch nachweisbar. Ähnlich konnten auch gemischte Wasserstoff-Halogen-Xenon-Verbindungen und die Wasserstoff-Sauerstoff-Xenonverbindung HXeOXeH durch Photolyse in der Edelgasmatrix hergestellt und spektroskopisch nachgewiesen werden.Organische Xenonverbindungen sind mit verschiedenen Liganden bekannt, etwa mit fluorierten Aromaten oder Alkinen. Ein Beispiel für eine Stickstoff-Fluor-Verbindung ist FXeN(SO2F)2.
Xenon ist unter supersauren Bedingungen in der Lage, mit Metallen wie Gold oder Quecksilber Komplexe zu bilden. Das Gold kommt dabei vorwiegend in der Oxidationsstufe +2 vor, auch Gold(I)- und Gold(III)-Komplexe sind bekannt.Einen Überblick über Xenonverbindungen gibt die Kategorie:Xenonverbindung.
== Literatur ==
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 417–429.
P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006, doi:10.1002/14356007.a17_485.
Eintrag zu Xenon. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 19. Juni 2014.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Xenon |
James Monroe | = James Monroe =
James Monroe (* 28. April 1758 in Monroe Hall im Westmoreland County, Kolonie Virginia; † 4. Juli 1831 in New York) war ein amerikanischer Politiker und von 1817 bis 1825 der fünfte Präsident der Vereinigten Staaten.
Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs diente er nach Abbruch seines Studiums am College of William & Mary als Offizier in der Kontinentalarmee. Danach begann seine politische Laufbahn, die ihn über das Abgeordnetenhaus von Virginia in den Konföderationskongress führte. Zu dieser Zeit erhielt er seine Anwaltszulassung und befreundete sich mit Thomas Jefferson und James Madison, mit denen er später als Virginia-Dynastie maßgeblich die Politik der Demokratisch-Republikanischen Partei bestimmte. Nach der Teilnahme an der Ratifizierungsversammlung von Virginia und mehreren Mandatszeiten im Senat der Vereinigten Staaten wurde er 1794 von George Washington zum Botschafter in Frankreich ernannt. Obwohl er ein überzeugter Anhänger der Französischen Revolution war, gelang es ihm nach dem Jay-Vertrag nicht, die Ängste der Ersten Republik vor einer britisch-amerikanischen Annäherung zu zerstreuen. Nach seiner Abberufung, die zum Bruch mit Präsident Washington führte, wurde er ab 1799 Gouverneur von Virginia. Im Jahr 1803 schickte Präsident Jefferson Monroe auf eine mehrjährige diplomatische Mission nach Europa, wo er den Louisiana Purchase aushandeln konnte, während seine Aufenthalte in London und Madrid enttäuschend verliefen. Er kandidierte erfolglos bei der Präsidentschaftswahl 1808 gegen Madison. Nach einiger Zeit im politischen Abseits wurde er im Frühling 1811 als Außenminister in das Kabinett Madison berufen und übernahm während des Britisch-Amerikanischen Kriegs phasenweise zusätzlich das Amt des Kriegsministers.
1816 wurde Monroe als Letzter aus der Generation der Gründerväter zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Ein Schwerpunkt seiner Präsidentschaft war in enger Abstimmung mit Außenminister John Quincy Adams die Klärung von Grenzdisputen mit Großbritannien, Spanien und dem Russischen Kaiserreich. Trotz der Invasion von Andrew Jackson in die Spanische Kolonie Florida kam es 1819 zum Adams-Onís-Vertrag, in dem Madrid West- und Ostflorida an Amerika abtrat. Ein weiteres zentrales Anliegen Monroes war es, die Streitkräfte und Küstenbefestigungen zu stärken, was ihm insbesondere für die United States Navy gelang. Das bestimmende Thema seiner Amtszeit waren die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege, wobei er wie sein gesamtes Kabinett mit der antikolonialen Freiheitsbewegung sympathisierte. Nach Ratifizierung des Adams-Onís-Vertrags gab Monroe gegenüber den jungen Republiken in Lateinamerika die wohlwollende Neutralität auf und erkannte sie diplomatisch an. Am 2. Dezember 1823 erklärte er öffentlich mit der Monroe-Doktrin, weitere koloniale Bestrebungen europäischer Mächte in der westlichen Hemisphäre als unfreundlichen Akt zu betrachten. Obwohl nie kodifiziert, wurde die Monroe-Doktrin zur wirkungsmächtigsten außenpolitischen Erklärung eines Präsidenten in der amerikanischen Geschichte. Innenpolitisch trieb Monroe die Westexpansion voran und unterstützte den Missouri-Kompromiss, der die Spaltung der Vereinigten Staaten in der Sklavenfrage nicht überbrücken konnte, aber die amerikanische Union bis zum Sezessionskrieg zusammenhielt.
Als Elder statesman saß er nach dem Ende der Präsidentschaft im Board of Visitors der University of Virginia und führte Ende 1829 den Vorsitz der Virginia Convention. Im Ruhestand drückten Monroe erhebliche finanzielle Sorgen, nicht zuletzt, weil ihm seine Ausgaben als Botschafter vom Kongress erst kurz vor seinem Tod erstattet wurden. Zuvor hatte er wegen Geldnot seinen verbliebenen Landbesitz veräußern müssen. Er starb verarmt und in Obhut seiner jüngeren Tochter am Unabhängigkeitstag 1831 in New York City.
== Leben ==
=== Familie und Ausbildung ===
James Monroe wurde in Monroe Hall in der Kolonie Virginia als Sohn des Zimmermanns Spence Monroe (1727–1774) und seiner Frau Elizabeth Jones (1730–1772) geboren. Er hatte eine Schwester und war der älteste von vier Brüdern. Monroes Vater war ein Patriot und an Protesten gegen den Stamp Act beteiligt. Da sein Landbesitz von 200 Hektar gegen die Konkurrenz der großen, von Sklaven bewirtschafteten Plantagen kaum bestehen konnte, arbeitete er als Handwerker und Baumeister, womit er zum unteren Ende der Gentry zählte. Spence Monroes Urgroßvater stammte aus Schottland und war als Royalist nach der Niederlage Karls I. im Englischen Bürgerkrieg in die anglikanische Kolonie Virginia geflohen. Die Mutter war Tochter eines walisischen Zuwanderers, dessen Familie eine der wohlhabendsten im King George County war. Sie erbte mit ihrem Bruder, Joseph Jones, beträchtlichen Besitz. Jones war Richter und einer der einflussreichsten Abgeordneten im House of Burgesses sowie später Delegierter im Kontinentalkongress. Jones war mit George Washington befreundet und ein enger Bekannter von Thomas Jefferson und James Madison.Wie damals in den Dreizehn Kolonien üblich, brachten die Eltern Monroe das Lesen und Schreiben bei. Im Alter von elf Jahren schickte ihn der Vater auf die einzige Schule des Countys, die Campbelltown Academy. Diese galt als die beste der Kolonie Virginia, weshalb Monroe später auf dem College of William & Mary in Latein und Mathematik sofort die Kurse für Fortgeschrittene belegen konnte. Wie seine Mitschüler besuchte er die Academy nur zwölf Wochen pro Jahr, um die restliche Zeit auf der väterlichen Farm zu helfen. Auf der Schule schloss er Freundschaft mit dem späteren Außenminister und obersten Bundesrichter John Marshall. Im Jahr 1772 starb Monroes Mutter nach der Geburt ihres jüngsten Kindes und bald darauf sein Vater, sodass er als ältester Sohn die Verantwortung als Familienoberhaupt innehatte und die Schule verließ. Monroes wohlhabender Onkel Jones kümmerte sich nun um sie und bezahlte die Schulden seines Schwagers. Er übernahm die Patronage von Monroe, prägte seine politische Bildung und meldete ihn am College of William & Mary in Williamsburg an, wo er sein Studium im Juni 1774 begann.
Fast alle von Monroes Kommilitonen stammten aus wohlhabenden Tabakpflanzerfamilien, die die herrschende Klasse der Kolonie Virginia bildeten und im Falle einer Besteuerung durch das Königreich Großbritannien am meisten zu verlieren hatten. In dieser Phase der Amerikanischen Revolution ergriff das Mutterland als Reaktion auf die Boston Tea Party harte Maßnahmen gegenüber den Dreizehn Kolonien. In Williamsburg löste der britische Gouverneur John Murray, 4. Earl of Dunmore, nach Protesten der Abgeordneten die Assembly auf, woraufhin diese beschlossen, eine Delegation zum Ersten Kontinentalkongress nach Philadelphia zu entsenden. Als der Gouverneur die Abwesenheit der nach Richmond ausgewichenen Burgesses ausnutzen wollte und von Soldaten der Royal Navy die Waffenbestände der virginischen Miliz beschlagnahmen ließ, versammelten sich alarmierte Milizionäre und Studenten des College of William & Mary, darunter Monroe. Sie marschierten unter Waffen zum Governor’s Palace und forderten von Dunmore die Rückgabe des konfiszierten Schießpulvers. Als unter Führung von Patrick Henry weitere Milizionäre in Williamsburg eintrafen, erklärte sich Dunmore bereit, eine Entschädigung für die beschlagnahmten Güter zu zahlen. Monroe und seine Kommilitonen waren über das Vorgehen des Gouverneurs so erbost, dass sie danach auf dem Campus täglich militärische Drills durchführten. Bald nach den Gefechten von Lexington und Concord, die den Beginn des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs markieren, floh Dunmore im Juni 1775 aus der Stadt auf eine Fregatte der Royal Navy. Am 24. Juni stürmte Monroe mit 24 Milizionären den Governor’s Palace und erbeutete dort einige hundert Musketen und Schwerter.
=== Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ===
Am 1. Januar 1776 stürmten unter Führung von Dunmore britische Marinesoldaten Norfolk und brannten die Stadt nieder. Als Monroe davon erfuhr, meldete er sich trotz der Trauer um seinen kurz zuvor gestorbenen Bruder Spence gemeinsam mit Marshall und dem Kommilitonen und engen Freund John F. Mercer als Freiwilliger bei der Infanterie Virginias. Aufgrund seines Bildungsstands wurde Monroe im Offiziersrang eingestellt. Der Diensteintritt erfolgte als Second Lieutenant im 3. Virginia Regiment, das kurz danach von Colonel George Weedon kommandiert wurde. Nach einer militärischen Grundausbildung in Williamsburg marschierte das Regiment am 16. August 1776, knapp sechs Wochen nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, nordwärts, um sich am 12. September der Kontinentalarmee unter George Washington in Manhattan anzuschließen. Hier sammelte Monroe bei der Schlacht von Harlem Heights erste Gefechtsfelderfahrung. Knapp sechs Wochen später konnte Monroes Regiment zwei Tage vor der Schlacht von White Plains einen feindlichen Überfall in der Nacht abwehren und dem Gegner einen Verlust von 56 Mann zufügen, ohne einen Gefallenen zu beklagen. Beim Rückzug der Kontinentalarmee am 7. Dezember über den Delaware River, der eine Reaktion auf den Verlust von Fort Washington war, spielte das Regiment Monroes eine zentrale Rolle. Am 26. Dezember gehörte er zu den ersten, die unter dem Kommando von Captain William Washington den Delaware überquerten und die Schlacht von Trenton eröffneten. In Trenton erlitt Monroe eine schwere Verwundung an der Schulter, die die Arterie beschädigte, und überlebte nur dank einer sachgerechten Erstversorgung durch den Arzt John Riker, der sich erst wenige Stunden zuvor der Kompanie Monroes angeschlossen hatte. Noch am gleichen Tag wurde Monroe wegen seiner Tapferkeit von George Washington zum Captain befördert.Nach zweimonatiger Genesung kehrte Monroe nach Virginia zurück, um unter seinem Kommando Truppen für die Kontinentalarmee zu werben. Ohne Erfolg diesbezüglich schloss er sich im August 1777 wieder der Kontinentalarmee an und wurde General William Alexander, Lord Stirling, als Hilfsoffizier zugeteilt. In der Schlacht von Brandywine am 11. September 1777 versorgte er den verwundeten Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette, mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verband. Im folgenden Monat nahm er an der Schlacht von Germantown teil. Bis zum 20. November 1777 wurde er zum Major befördert und diente als Aide-de-camp Lord Stirlings. Während der Schlacht von Monmouth am 28. Juni 1778 wurde er zu Lord Stirlings Adjutant General ernannt und half, eine britische Attacke auf seine Division zurückzuwerfen. Monroe diente bis zum Herbst weiter und kehrte wahrscheinlich aus finanziellen Gründen im Frühjahr 1779 nach Virginia zurück. Dort wurde ihm von der Virginia General Assembly der Dienstgrad eines Lieutenant Colonel übertragen, ohne ihn mit ausreichend Haushaltsmitteln auszustatten, ein eigenes Regiment auszuheben. Stattdessen wurde er als Hilfsoffizier dem Gouverneur von Virginia, Thomas Jefferson, zugeteilt und begann auf den Rat Jeffersons hin am College of William & Mary ein Studium der Rechtswissenschaften. Jefferson, mit dem Monroe bald eine enge und lebenslange Freundschaft verband, riet seinem Protegé zu einer politischen Laufbahn und stellte ihm seine Bibliothek zur Verfügung, wobei vor allem die Werke Epiktets großen Einfluss auf Monroe entfalteten. Im Juni 1780 ernannte ihn Jefferson, der seit dieser Zeit sein lebenslanger Mentor war, zu einem Militärbeauftragten mit der Aufgabe, Verbindung zur südlichen Kontinentalarmee zu halten, die unter dem Kommando von General Johann von Kalb in South Carolina stand. Ende 1780 rückten die Briten in Virginia ein und Monroe, der in der Zwischenzeit Colonel war, bekam erstmals den Befehl über ein Regiment, ohne entscheidend zur Verteidigung beitragen zu können. Weitere Führungsverwendungen blieben ihm trotz umfangreicher Bemühungen verwehrt. Nach der Schlacht bei Yorktown schied Monroe im November 1781 aus dem aktiven Dienst aus.
=== Frühe politische Stationen ===
Im Jahr 1782 wurde Monroe für das King George County in das Abgeordnetenhaus von Virginia gewählt. Kurz darauf kandidierte er in ungewöhnlich jungen Jahren erfolgreich für den achtköpfigen Governor’s Council. Im Juni 1783 folgte die Wahl in den vierten Konföderationskongress. Diesen Sitz konnte er bei den nächsten beiden Wahlen verteidigen. Im Konföderationskongress profilierte er sich an vorderster Front derjenigen Delegierten, die eine nationale Perspektive einnahmen und sich nicht nur als Bürger ihres jeweiligen Bundesstaats betrachteten. Monroe entwickelte ein reges Interesse an der amerikanischen Außenpolitik und erkannte mit militärischem Blick das Grundproblem der Vereinigten Staaten, das später seine Präsidentschaft bestimmte: Die Konflikte, die entstanden, wenn die natürliche Expansion der jungen Nation mit den Gebietsansprüchen europäischer Mächte in Nordamerika kollidierte.
Er unterstützte Washington und die Society of the Cincinnati in ihrem Vorhaben, weniger begüterte Veteranen des Unabhängigkeitskriegs mit Grenzland zu entschädigen. In diesem Zusammenhang bereiste er in den Jahren 1784 und 1785 das Ohio Country und spätere Kentucky. Die Frage der Grenzverschiebung nach Westen, die er als existenziell für die Zukunft der Vereinigten Staaten ansah, beschäftigte Monroe während seiner gesamten politischen Laufbahn. Er setzte sich dafür ein, den rechtlichen Status der Gebiete zu klären, die Amerika im Frieden von Paris zur Nutzung überlassen worden waren. Ein weiteres Ziel Monroes im Konföderationskongress war die freie Schifffahrt auf dem Mississippi. Sein Interesse an der ökonomischen Erschließung des amerikanischen Westens, in dem ihn Jefferson bestärkte, war auch persönlicher Natur, da er wie andere Gründerväter an Landspekulationen beteiligt war und für seinen Dienst in der Kontinentalarmee Landrechte in Höhe von 2000 Hektar in Kentucky erhalten hatte. Anders als Madison und Washington, die diese Territorien in bestehende Bundesstaaten integrieren wollten, befürworteten Monroe und Jefferson die Aufnahme als neue Bundesstaaten in die Vereinigten Staaten. Womöglich mehr als jeder andere politische Führer seiner Generation erkannte er, dass der nationale Drang nach Westexpansion, der zuerst durch die Siedler und später durch europäische Zuwanderer getragen wurde, nicht mehr einzugrenzen war.In dieser Frage geriet er mit Außenminister John Jay in Konflikt. Dieser stammte aus New York City und vertrat die Interessen Neuenglands, dem an guten Handelsbeziehungen zu den Königreichen Frankreich und Großbritannien gelegen war, die durch die Gebietsansprüche Virginias und North Carolinas westlich des Mississippis und im späteren Nordwestterritorium potenziell gefährdet wurden. Zudem sah Jay in der Expansion nach Westen und dem Erschließen der dortigen Wasserwege, insbesondere den Hafen von New Orleans betreffend, eine ernstzunehmende wirtschaftliche Konkurrenz für den Westindienhandel Neuenglands. Im Jahr 1787 setzte Monroe im Konföderationskongress die Northwest Ordinance durch, die die gesetzliche Grundlage für die Schaffung des Nordwestterritoriums war. Von dieser Zeit an wurde Monroe bis in die 1810er-Jahre von der Öffentlichkeit als der einzige Politiker nationaler Bedeutung wahrgenommen, der sich für die Interessen der westlichen Grenzgebiete einsetzte. Während der Zeit im Konföderationskongress begann durch Jeffersons Vermittlung die Freundschaft zu James Madison.
Monroes Privatleben war in dieser Lebensphase von zwei Themen bestimmt, die immer wiederkehrten: gesundheitliche Einschränkungen, die ihn regelmäßig ans Bett fesselten, und Geldnot. Er war nach dem Dienst in der Kontinentalarmee direkt in die Politik gewechselt und hatte noch immer keine Anwaltszulassung, weshalb eine wichtige Einkommensquelle fehlte. Am 16. Februar 1786 heiratete er Elizabeth Kortright, die der feinen Gesellschaft New York Citys entstammte und der Episkopalkirche angehörte, in der Trinity Church in Manhattan. Sie hatten sich kennengelernt, als der Konföderationskongress in der Federal Hall in Manhattan tagte. Monroes Schwiegervater war ein ehemals wohlhabender westindischer Pflanzer, der durch die Amerikanische Revolution verarmt war. Die Bindung zwischen Monroe und seiner Gattin war sehr eng und sie wurden als ein sich gut ergänzendes Paar wahrgenommen. Später als First Lady machte sie auf die Gäste aufgrund ihrer Anmut und natürlichen Schönheit einen bezaubernden Eindruck, allerdings schränkte sie aufgrund schwacher Gesundheit die Gesellschaften im Weißen Haus im Vergleich zu ihrer Vorgängerin Dolley Madison deutlich ein. Aus der Ehe entstanden drei Kinder, von denen die Töchter Eliza (1787–1835) und Maria (1803–1850) das Erwachsenenalter erreichten. Obwohl Monroe im anglikanischen Glauben aufgewachsen war, wurden die Kinder gemäß der Lehren der Episkopalkirche erzogen.Im Herbst 1786 zogen die Monroes in das Haus seines Onkels Jones nach Fredericksburg, wo er erfolgreich die Anwaltsprüfung ablegte. Monroe blieb der Politik treu und wurde bald in den Stadtrat von Fredericksburg gewählt und bald darauf in das Abgeordnetenhaus von Virginia. Im Juni 1788 war er Teilnehmer an der Ratifizierungsversammlung von Virginia, die über die Annahme der Verfassung der Vereinigten Staaten abstimmte. Monroe nahm eine neutrale Position zwischen den Lagern der Befürworter um Madison und Gegner der Constitution ein. Er forderte, in die Verfassung Garantien bezüglich freier Schifffahrt auf dem Mississippi aufzunehmen und der Bundesregierung im Verteidigungsfall direkte Kontrolle über die Milizen zu geben. Damit wollte er die Schaffung eines stehenden Heers verhindern, was sich als ein kritischer Streitpunkt zwischen den Föderalisten und den Anti-Föderalisten erwies, die als Keimzelle der Demokratisch-Republikanischen Partei eine zu starke Zentralregierung ablehnten. Monroe opponierte außerdem gegen das Wahlmännerkollegium, das er als zu bestechlich und anfällig für die Interessen der Einzelstaaten ansah, und sprach sich für eine Direktwahl des Präsidenten aus. Am Ende stimmte Monroe mit den Anti-Föderalisten gegen die Ratifizierung der amerikanischen Verfassung, wobei möglicherweise die Sorge ausschlaggebend war, dass die künftige Bundesregierung die Interessen des Westens denen der Ostküstenstaaten opfern werde. Ein Zugeständnis an die Anti-Föderalisten, die bei der Abstimmung am 27. Juni 1788 mit 79–89 Stimmen unterlagen, war dem Kongress die Aufnahme von 20 Verfassungszusätzen zu empfehlen, von denen zwei auf Monroe zurückgingen. Bei der anschließenden Wahl zum 1. Kongress der Vereinigten Staaten überredete der Anti-Föderalist Henry Monroe dazu, gegen Madison anzutreten. Madison gewann schließlich den Sitz im Repräsentantenhaus, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat.
Nach dieser Niederlage zog Monroe mit seiner Familie aus Fredericksburg in das Albemarle County um, erst nach Charlottesville und später in die unmittelbare Nachbarschaft von Monticello, wo er ein Landgut kaufte und ihm den Namen Highland gab. Einige Historiker sehen in diesem Wohnortwechsel in das waldreiche Landesinnere Virginias einen symbolischen Bruch mit der Pflanzerelite des Ostens, die einen europäischen Lebensstil pflegte, und eine Hinwendung zu den Siedlern am Fuße der Allegheny Mountains.Im Dezember 1790 wurde Monroe für Virginia in den amerikanischen Senat gewählt, der zu dieser Zeit in der Congress Hall der damaligen Hauptstadt Philadelphia tagte. Da der Senat im Unterschied zum Repräsentantenhaus hinter verschlossenen Türen tagte, schenkte ihm die Öffentlichkeit kaum Beachtung und fokussierte sich auf das Unterhaus. Monroe beantragte daher im Februar 1791, die Sitzungen des Senats öffentlich abzuhalten, was jedoch anfangs abgelehnt und erst ab Februar 1794 umgesetzt wurde. In der Bundesregierung, die zu großen Teilen unter dem Einfluss der Föderalisten um den Finanzminister Alexander Hamilton stand, entstanden bald zwei Fraktionen: die Anti-Administration Party oder Republikaner und die Pro-Administration Party oder Föderalisten. Der Konflikt kreiste vor allem um die Frage, ob die Rechte der einzelnen Bundesstaaten oder die der Nation vorrangig seien, äußerte sich aber auch außenpolitisch im Streit darum, inwieweit das revolutionäre Frankreich im Ersten Koalitionskrieg zu unterstützen sei. Dieser Streit dominierte die nächsten zwei Jahrzehnte das politische Geschehen und brach zuerst bei der Diskussion über die Einrichtung der First Bank of the United States offen zutage. Bei der Abstimmung war Monroe einer von fünf Senatoren, die gegen die Einführung dieser Zentralbank votierten. Die Anti-Administration Party begann, sich um Jefferson in der Demokratisch-Republikanischen Partei zu formieren, wobei Madison und Monroe als Organisator und kämpferischer Parteisoldat seine wichtigsten Helfer waren. Die politische Atmosphäre polarisierte sich zusehends: Während die Föderalisten in ihren Gegnern unbändige und provinzielle Primitivlinge sahen, betrachteten die Republikaner um Jefferson die Föderalisten als Monarchisten. Als Monroe sich 1792 an Untersuchungen des Kongresses beteiligte, die illegale Transaktionen Hamiltons an James Reynolds behandelte, führte dies zum Aufdecken des ersten politischen Sex-Skandals der Vereinigten Staaten: Bei den Zahlungen hatte es sich um Schweigegeld gehandelt, um Hamiltons Affäre mit Reynolds Frau geheim zu halten. Diese öffentliche Demütigung, die fast zu einem Duell zwischen beiden geführt hatte, verzieh Hamilton Monroe niemals. Auf Pamphlete Hamiltons, die Jefferson vorwarfen, Washingtons Autorität zu untergraben, antworteten Madison und Monroe in den Jahren 1793/94 mit einer Serie von sechs Essays. Diese scharf formulierten Repliken entstammten zum größten Teil der Feder Monroes.
Die Spaltung zwischen Föderalisten und Anti-Föderalisten hatte nicht nur unterschiedliche Partikularinteressen als Ursache, sondern auch divergierende Lebensphilosophien, Regionalkulturen und historische Erfahrungen. Die Republikaner unter der Führung Virginias waren vom autarken Plantagensystem geprägt, das abhängig war von Landbesitz und skeptisch gegenüber Städten, konzentrierter Finanzwirtschaft und Zentralregierung. Geistig wurden die Pflanzer der Südstaaten von den Autoren der griechischen Antike und der Römischen Republik beeinflusst. Die Föderalisten auf der anderen Seite waren vor allem städtische Ladenbesitzer, Händler und Handwerker, die vom Seehandel abhängig waren und Bankgeschäfte tätigten. Als Führer der Republikaner im Senat war Monroe bald in Angelegenheiten der auswärtigen Beziehungen involviert. Im Jahr 1794 trat er als Gegner von Hamiltons Ernennung zum Botschafter im Vereinigten Königreich und Freund der Ersten Französischen Republik in Erscheinung. Seit 1791 hatte er in mehreren Essays unter dem Pseudonym Aratus Partei für die Französische Revolution ergriffen.
=== Botschafter in Frankreich ===
Selbstbewusst bat Monroe im April 1794 Washington in einem Brief um eine persönliche Audienz, um ihn von der Ernennung Hamiltons zum Botschafter in London abzubringen. Washington, der dieses Vorhaben bereits fallen gelassen hatte, würdigte ihn keiner Antwort. Dennoch ernannte er zur Jahresmitte 1794 Monroe als Nachfolger von Gouverneur Morris zum Botschafter in Frankreich, nachdem Madison und Robert R. Livingston das Angebot abgelehnt hatten. Monroe trat diesen Posten in einer schwierigen Zeit an: Frankreich, Großbritannien und Spanien standen als wichtigste Handelspartner der Vereinigten Staaten im Ersten Koalitionskrieg und hatten sämtlich territoriale Interessen in Nordamerika: Das Königreich Großbritannien war mit Ober- und Niederkanada der nördliche Nachbar, die Erste Französische Republik meldete im Westen Besitzansprüche auf die riesige Kolonie Louisiana an, die sie im Frieden von Paris 1763 an Spanien verloren hatte, das seit dem Frieden von Paris 1783 zudem in Besitz von Ost- und Westflorida war. Insbesondere Louisiana und die Floridas hemmten die weitere Expansion der Vereinigten Staaten. Die Verhandlungsposition Amerikas wurde durch fehlende militärische Stärke erheblich erschwert. Hinzu kam, dass der Konflikt zwischen Paris und London in Amerika die Konfrontation zwischen den anglophilen Föderalisten und den frankophilen Republikanern verschärfte. Während die Föderalisten prinzipiell nur die Unabhängigkeit von Großbritannien als Ziel hatten, wollten die Republikaner eine revolutionäre neuartige Regierungsform, weshalb sie stark mit der Ersten Französischen Republik sympathisierten.Über die zeitgleich in London stattfindende diplomatische Mission seines früheren Kontrahenten und strammen Föderalisten Jay wurde Monroe durch Washington und Außenminister Edmund Randolph, die beide eine neutralere Haltung zum revolutionären Frankreich hatten und bald auf Distanz zu Paris gingen, unaufrichtig informiert: Während sie ihm versicherten, Jays Auftrag in Großbritannien habe nur aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg herrührende Entschädigungsfragen zum Inhalt, hatte dieser tatsächlich ein deutlich weiter reichendes Verhandlungsmandat. Neben der allgemeinen Vorgabe, weiterhin enge Beziehungen zu Frankreich zu sichern, sollte Monroe mit Paris zwei konkrete Fragen klären: zum einen die Ansprüche auf Entschädigung für amerikanische Handelsschiffe, deren britische Waren das revolutionäre Frankreich beschlagnahmt hatte, und zum anderen die freie Schifffahrt auf dem Mississippi. Monroes leidenschaftliche und freundschaftliche Grußbotschaft bei der Einführungszeremonie vor dem Nationalkonvent wurde später von Jay und Randolph wegen ihrer Gefühlsbestimmtheit kritisiert. Washington sah die Rede hinsichtlich des Ortes und angesichts der amerikanischen Neutralität im Ersten Koalitionskrieg als „nicht gut entwickelt“ an.
Von Randolph derart instruiert, ging Monroe davon aus, dass er eine Vertiefung der amerikanisch-französischen Beziehungen erreichen sollte, obwohl Washington lediglich den Status quo halten wollte. Er war zusehends zwischen seiner Rolle als Repräsentant der amerikanischen Regierung und der als kämpferischer Parteipolitiker der frankophilen Republikaner hin- und hergerissen. Monroe konnte in Frankreich gute und nützliche Beziehungen insbesondere zu Merlin de Thionville, Jean Lambert Tallien, Antoine Claire Thibaudeau und Jean François Reubell knüpfen. Vom Wohlfahrtsausschuss erhielt er am 21. November 1794 die Zusage, dass Paris sich wieder an die Bestimmungen des amerikanisch-französischen Bündnisvertrags vom Februar 1778 halten und amerikanischen Schiffen freie Zufahrt in seine Häfen gewähren werde. Die Föderalisten in der heimischen Regierung maßen dieser Vereinbarung jedoch keinen hohen Stellenwert bei und fokussierten sich weiter auf die Beziehungen zu London.Als der im November 1794 abgeschlossene Jay-Vertrag mit dem Königreich Großbritannien bekannt wurde, geriet Monroe in Paris in ein Netz aus internationalen Intrigen und Gerüchten, das sich um die geheim gehaltenen vertraglichen Vereinbarungen spann. Auf Monroes Anfragen hin sagte ihm Jay erst zu, dass die Übereinkunft mit London in keiner Weise dem bestehenden Vertrag mit Frankreich zuwiderliefe, woraufhin Monroe den Franzosen voreilig versprach, sie über die genauen Bestimmungen des Jay-Vertrags in Kenntnis zu setzen. Kurz darauf erhielt Monroe den Vertragstext mit der nun genau gegenteiligen Anweisung, den Inhalt keinesfalls an Frankreich weiterzugeben. Obwohl im August 1795 eine Pariser Zeitung den Wortlaut des Jay-Vertrags veröffentlichte, hatte Monroe weiterhin die Order, Frankreich zu versichern, dass dieses Abkommen nichts an ihrer Freundschaft änderte.Im Februar 1795 erreichte Monroe die Entlassung aller seit der Französischen Revolution inhaftierten amerikanischen Staatsbürger und der Gattin seines Freundes Marquis de La Fayette. Bereits im Juli 1794 hatte er für die Freilassung von Thomas Paine gesorgt und ihn bei sich aufgenommen. Als dieser trotz Monroes Einwänden an einer Schmähschrift gegen Washington arbeitete, trennten sich ihre Wege im Frühjahr 1796 wieder. Monroe überzeugte die Franzosen davon, bei ihren Friedensverhandlungen mit Spanien, die schließlich in den Basler Frieden mündeten, die Schifffahrtsrechte auf dem Mississippi mit in die Vereinbarung aufzunehmen. Da Monroe für Spanien als ein inoffizieller Vermittler zu Frankreich gewirkt hatte, war Madrid zu diesem Zugeständnis bereit, das schließlich im Vertrag von San Lorenzo am 27. Oktober 1795 fixiert wurde, und Amerika neben freier Schifffahrt auf dem Mississippi eingeschränkte Nutzungsrechte für den Hafen New Orleans zugestand.Sofort nachdem Timothy Pickering im Dezember 1795 die Nachfolge von Außenminister Randolph antrat, der das einzige frankophile Mitglied im Kabinett Washington gewesen war, arbeitete er an der Entlassung Monroes. Als Monroe am 25. März 1796 über seine Antworten an das Direktorium berichtete, das sich über den Jay-Vertrag beklagte, versandte er dies als Zusammenfassung und nicht vollständig dokumentiert, da Paris um einen Neuentwurf dieses Schriftwechsels bat. Pickering sah darin ein Zeichen für Monroes mangelnde Eignung und überzeugte gemeinsam mit Hamilton Washington davon, Monroe als Botschafter abzulösen. Das am 29. Juli 1796 verfasste und bewusst verzögert versandte Entlassungsschreiben von Pickering erreichte Monroe erst im November 1796, um so seine Rückkehr vor der Präsidentschaftswahl zu verhindern. Bis zu seiner Abreise musste Monroe noch erleben, wie die von ihm erreichten Fortschritte rückgängig gemacht wurden und Frankreich als Reaktion auf die Verabschiedung des Jay-Vertrags im Kongress die Beschlagnahmungen auf amerikanischen Schiffen wieder aufnahm sowie die diplomatischen Beziehungen zu Amerika beendete. Monroes Biograph Gary Hart sieht diesen Misserfolg letztendlich in seiner Übertragung der polarisierten innenpolitischen Konfliktlage Amerikas auf das viel komplexere europäische Spannungsgeflecht begründet. In dieser Phase zeige sich erstmals Monroes aggressive Herangehensweise bei auswärtigen Beziehungen und das Selbstverständnis einer aktiven, über bloße Absicherung hinausgehenden Rolle Amerikas in der Weltpolitik, die ihn von allen anderen Gründervätern unterschied.
=== Gouverneur von Virginia und Louisiana Purchase ===
Nach seiner Rückkehr aus Paris 1797 war Monroe für einige Zeit in New York, um dort von Pickering Wiedergutmachung für seine als ungerecht erlebte Absetzung zu erreichen. Zuhause in Virginia veröffentlichte er eine Verteidigungsschrift, die darlegte, dass er und die Freundschaft zu Frankreich der Annäherung an London geopfert wurden. Dies forderte John Adams zu einer heftigen Gegenattacke heraus. Mit Unterstützung von Jefferson und Madison verfasste Monroe schließlich noch im Jahr 1797 das über 400 Seiten lange Werk A view of the conduct of the executive in the foreign affairs of the United States, connected with the mission to the French Republic, during the years 1794, 5, & 6., das die Regierung Washingtons scharf attackierte und ihr vorwarf, gegen die Interessen Amerikas zu handeln. Für Washington bedeutete das den endgültigen Bruch mit seinem früheren Offizier und veranlasste ihn, eine vernichtende Kritik Monroes zu veröffentlichen. Monroe war in dieser Phase bereits erheblich verschuldet, da die Entlohnung als Botschafter weit unter den nötigen Ausgaben gelegen hatte und sein Privateinkommen viel zu niedrig war, diese Kosten zu decken.Im Jahr 1799 wurde Monroe zum Gouverneur von Virginia gewählt. Zu dieser Zeit begann der Niedergang der Föderalisten, die sich vor allem über die Frage des Quasi-Kriegs mit Frankreich immer mehr in Lagerkämpfe zwischen Hamilton und Adams verstrickten. Da auf republikanischer Seite Jefferson als Vizepräsident als Oppositionsführer ausfiel und Madison aus der Misere der Föderalisten keinen Vorteil schöpfen wollte, füllte Monroe diese Lücke. Er entwickelte über die beschränkten Machtbefugnisse eines Gouverneurs hinausgehende Initiativen, ohne damit viel erreichen zu können. Wie sein Mentor Jefferson maß er insbesondere dem öffentlichen Bildungssystem zentrale Bedeutung bei. Monroe warb außerdem darum, die Ausbildung und Ausrüstung der Milizen staatlich zu unterstützen. Nachdem Ende August 1800 die Pläne Gabriel Prossers für einen Sklavenaufstand aufgedeckt wurden, berief Monroe die Miliz ein, ließ Waffen und Schießpulver aus allen Geschäften entfernen und das Gefängnis, in dem die Verschwörer inhaftiert waren, mit Palisaden sichern. Als sich die allgemeine Furcht, die von den damaligen Sklavenrebellionen der Haitianischen Revolution genährt wurde, als grundlos erwies und Vergeltungsaktionen nach der Hinrichtung der Verschwörer ausblieben, löste er bis zum 18. Oktober die Miliz bis auf wenige Mann auf. Nach drei Jahren im Amt setzte sich Monroe zur Ruhe. Nicht viel später bat ihn Jefferson, mittlerweile amerikanischer Präsident, darum, sich auf eine weitere diplomatische Mission nach Frankreich zu begeben. Dort sollte er Botschafter Livingston unterstützen und mit Paris über die Nutzungsrechte am Hafen von New Orleans, die freie Schifffahrt auf dem Mississippi und die beiden Floridas verhandeln. Jefferson sah die ersten beiden Punkte als gefährdet an, da die Kolonie Louisiana von Spanien im Dritten Vertrag von San Ildefonso 1800 an die Erste Französische Republik abgetreten worden war. Am 11. Januar 1803 ernannte der Präsident Monroe schließlich zu einem Gesandten mit besonderer Verhandlungsvollmacht und Botschafter in London.
In Paris angekommen, schaltete sich Monroe in die Verhandlungen zum Louisiana Purchase ein, die für Amerika bis dahin der Botschafter Livingston geführt hatte. Obwohl dieser nur über ein Abtreten New Orleans an Amerika verhandelt hatte, bot Napoleon Bonaparte über seinen Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord den Erwerb der gesamten Kolonie Louisiana an, während er West- und Ostflorida als weiterhin zu Spanien gehörig erklärte. Dies widersprach den Vorgaben Jeffersons, der den Erwerb der beiden Floridas und von New Orleans als Ziel ausgegeben hatte. Trotzdem wurde der Handel geschlossen und der Vertrag über den Louisiana Purchase am 30. April 1803 unterzeichnet. Bei einem Dinner am folgenden Tag wurde Monroe Napoleon vorgestellt. In ihrem Gespräch sagte Napoleon einen kommenden Krieg zwischen Amerika und Großbritannien vorher, womit er recht behielt. Kurz darauf wurde Monroe weiter nach London geschickt, um hier über die Zwangsrekrutierungen amerikanischer Seeleute für die Royal Navy und ein mögliches Verteidigungsbündnis zum Schutze des eigenen Seehandels zu verhandeln. Monroe hielt sich von Juli 1803 bis zum späten Herbst 1804 in London auf. Ohne im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland bedeutende Fortschritte erzielt zu haben, wurde Monroe weiter nach Spanien beordert, um über die Floridas zu verhandeln. Als er in Madrid am 2. Januar 1803 eintraf, fand er eine vergiftete Gesprächsatmosphäre vor, für die der amerikanische Botschafter in Spanien, Charles Pinckney, mit plumpen Gewaltdrohungen gesorgt hatte. Bei den Verhandlungen über die offenen, New Orleans, Westflorida und den Rio Grande betreffenden, territorialen Fragen kam Monroe nicht weiter und wurde herablassend behandelt. Frustriert verließ er nach sechs Monaten Spanien und kehrte nach London zurück, wo er die nächsten anderthalb Jahre verbrachte und über Handels- und Wirtschaftsabkommen sowie vor allem über die britische Praxis des Schanghaiens amerikanischer Seeleute verhandelte. In englischen Häfen konnte er mit eigenen Augen amerikanische Prisenschiffe einlaufen sehen.
=== Im politischen Abseits ===
Anfang 1806 forderte ihn John Randolph of Roanoke auf, in zwei Jahren gegen Außenminister Madison zu kandidieren, der von Jefferson als sein Nachfolger aufgebaut wurde. Monroe lehnte diese Bitte vorerst ab. Unterdessen erreichte er in Zusammenarbeit mit dem Gesandten William Pinkney mit London eine Verständigung, die eine Vielzahl offener Finanz- und Wirtschaftsfragen klärte. Jefferson lehnte dieses Abkommen jedoch ab, da es die Zwangsrekrutierungen außen vor ließ. Außerdem war dem Präsidenten daran gelegen, die antibritische Stimmung in Amerika aufrechtzuerhalten, von der Madison profitierte, obgleich er dieses Motiv Monroe gegenüber abstritt. Monroe nahm die Ablehnung seines Verhandlungsergebnisses als Kränkung wahr und fühlte sich in seiner Freundschaft zu Jefferson und Madison tief erschüttert, weshalb sein persönliches Verhältnis zu den beiden für einige Zeit abkühlte. Nach seiner Rückkehr nach Amerika im Dezember 1807 entschied sich der immer noch erboste Monroe doch dafür, bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1808 gegen Madison zu kandidieren, womit er die Stärke seiner politischen Stellung in Virginia demonstrieren wollte. Monroe war der Kandidat der sogenannten „Old Republicans“ (deutsch: „Alte Republikaner“) um Randolph of Roanoke und John Taylor of Caroline, die Jefferson und Madison als Verräter an den republikanischen Idealen betrachteten, da sie die Machtbefugnisse der Bundesregierung gegenüber den Einzelstaaten erweitert hatten.Nach einer klaren Niederlage gegen Madison, bei der er im Electoral College keine einzige Stimme gewinnen konnte, zog sich Monroe, beim Großteil der Republikaner wegen der Kandidatur in Ungnade gefallen, für die nächsten Jahre in das Privatleben zurück. Dies bildete den Tiefpunkt einer schwierigen Phase, die seit dem Louisiana Purchase von Verlusten und Enttäuschungen geprägt war. Der Plan, sein zweites Haus im Loudon County, Oak Hill, zu verkaufen, um mit dem Erlös Highland zu erneuern und auszubauen, scheiterte an den niedrigen Immobilienpreisen. Er experimentierte wie sein Nachbar Jefferson mit neuartigen Gartenbautechniken, um vom Tabak, dessen Wert immer mehr verfiel, auf Weizen umzusteigen. Im September 1808 heiratete seine Tochter Eliza den Richter George Hay, der später einer der wichtigsten politischen Berater von Präsident Monroe wurde. 1810 rehabilitierte er sich wieder in der Partei und wurde im April dieses Jahres in das Abgeordnetenhaus von Virginia gewählt. Am 16. Januar 1811 wurde er erneut Gouverneur Virginias, was nur eine kurze Episode blieb, da ihn knapp zwei Monate später Albert Gallatin im Auftrage Madisons fragte, ob er bereit sei, als Nachfolger von Robert Smith das Amt des Außenministers zu übernehmen.
=== Minister im Kabinett Madison und Britisch-Amerikanischer Krieg ===
Auf die Zusage hin, dass er im Kabinett Madisons als selbständiger Minister gebraucht werde und nicht nur als ein Sprachrohr des Präsidenten, willigte Monroe ein und wurde im März 1811 Außenminister. Aus Monroes und Madisons herzlicher Verbindung war mittlerweile eine komplexe und professionelle Beziehung geworden. Sowohl für den Präsidenten als auch den Außenminister, die eng zusammenarbeiteten und kaum Differenzen hatten, war in den nächsten Jahren der Konflikt mit Großbritannien das beherrschende Thema und in geringerem Umfang der mit Frankreich. Die Weigerung Londons, den amerikanischen Klagen insbesondere über die Zwangsrekrutierungen Gehör zu schenken, trieb beide Staaten immer weiter in Richtung Krieg. Monroe und Madison waren sich einig, dass das Ansehen und das Interesse der Vereinigten Staaten eine derartige Diskriminierung nicht erlaubten. Laut Ammon bedeutete der Eintritt Monroes in das Kabinett, dass eine Lösung der fortdauernden Kontroversen zwischen Amerika und Großbritannien unausweichlich wurde, sei es mittels einer friedlichen Verständigung oder eines bewaffneten Konflikts. Obwohl er als Botschafter in London einige Jahre zuvor ein Abkommen ausgehandelt hatte, das Jefferson abgelehnt hatte, brachte er eine kriegerischere Stimmung in das Kabinett. Bei der State of the Union Address im November 1811 forderte Madison, eine Hilfstruppe aufzustellen und die United States Navy zu vergrößern. Monroe erhielt den Auftrag, diese Vorhaben durch den Kongress zu bringen. Mit Henry Clay und Madison plante Monroe ein neues Embargo gegen Großbritannien, das im März 1812 im Kongress verabschiedet wurde und als Testlauf diente, ob eine politische Mehrheit für einen Krieg vorhanden war. Am 1. Juni 1812 kam es schließlich zur Kriegserklärung durch Madison, der zwei Wochen später der Senat mit knapper Mehrheit zustimmte.Nach Ausbruch des Britisch-Amerikanischen Kriegs strebte Monroe nach einem militärischen Kommando, zumal er dem Außenministerium und der Diplomatie nur noch sekundäre Bedeutung beimaß. Nach der erfolgreichen Belagerung von Detroit durch die British Army im August 1812 wollte er die Rückeroberung von Detroit anführen und schlug Jefferson als seinen Nachfolger im State Department vor, was der Präsident umgehend ablehnte. Stattdessen machte ihn Madison im Januar 1813 als Nachfolger des erfolglosen William Eustis zum kommissarischen Kriegsminister. Monroe übergab die stellvertretende Leitung des Außenministeriums an Richard Rush. Monroe erstellte in kürzester Zeit einen detaillierten Bericht zur benötigten militärischen Personalstärke für die Küstenverteidigung und die geplante Sommeroffensive. Er sah vor, auf einjähriger Basis zusätzlich 20.000 reguläre Soldaten zu rekrutieren. Monroes Ernennung zum offiziellen Minister dieses Ressorts verhinderte der Senat, um die Dominanz von virginischen Politikern auf Schlüsselpositionen nicht noch weiter zu erhöhen. Laut Madisons Biographen Gary Wills hatte Monroe auf Anraten seines Schwiegersohns Hay von Anfang an nur eine kurzfristige Tätigkeit als Kriegsminister beabsichtigt, da er in dieser Position angesichts eines sich abzeichnenden langen und unpopulären Kriegs um seine Aussichten auf eine eigene Präsidentschaft fürchtete. Stattdessen wurde im Februar 1813 mit John Armstrong junior ein erbitterter Rivale Monroes offizieller Kriegsminister. Misstrauisch spionierte Monroe Armstrongs ministerielle Korrespondenz aus, als dieser ein militärisches Frontkommando außerhalb der Hauptstadt wahrnahm. Als im Sommer des gleichen Jahres erstmals britische Kriegsschiffe im Mündungsgebiet des Potomac River erschienen und Monroe darauf drang, Verteidigungsmaßnahmen für Washington, D.C. zu ergreifen und einen militärischen Nachrichtendienst in Form eines Pony-Expresses zur Chesapeake Bay einzurichten, lehnte dies der Kriegsminister als unnötig ab. Da somit eine funktionierende Aufklärung fehlte, stellte Monroe auf eigene Faust eine kleine Kavallerieeinheit zusammen und kundschaftete fortan die Bucht selbst aus, bis die Briten sich aus dieser zurückzogen.
Nach der Niederlage Napoleons im Sechsten Koalitionskrieg im Sommer 1814 konzentrierten sich die Briten auf den amerikanischen Kriegsschauplatz und bereiteten eine Invasion der Hauptstadt vor. Gerüchte davon, die Armstrong warnten, schlug dieser erneut in den Wind. Als sich am 16. August 1814 erneut eine britische Flotte mit 50 Kriegsschiffen und 5000 Soldaten in der Mündung des Potomac massierte, hatte Madison genug gesehen und organisierte mit Monroe die Verteidigung der Washingtons. Monroe kundschaftete mit einem Trupp persönlich die Chesapeake Bay aus und schickte am 21. August dem Präsidenten eine Warnung vor dem bevorstehenden Einmarsch, so dass Madison mit seiner Frau rechtzeitig fliehen und das Staatsvermögen sowie die Einwohner evakuiert werden konnten. Drei Tage später traf Monroe im Washington Navy Yard den Präsidenten und das Kabinett zu einem verzweifelten Versuch, die Verteidigung der Hauptstadt doch noch zu ermöglichen. Anschließend ritt er nach Bladensburg weiter, um General Tobias Stansbury zu unterstützen, ohne die Niederlage in der Schlacht bei Bladensburg verhindern zu können. Danach rückten die Briten in den District of Columbia ein, plünderten die Stadt und brannten die öffentlichen Gebäude nieder. Kurz darauf akzeptierte Madison Armstrongs Rücktritt und ernannte Monroe dieses Mal nicht nur zum kommissarischen, sondern zum ständigen Kriegsminister. Da General William H. Winder in Baltimore stand, war Monroe als Secretary of War in dieser Zeit auch der geschäftsführende General für Washington.Als Kriegsminister brach Monroe mit der republikanischen Doktrin, die Landesverteidigung den Milizen der Bundesstaaten zu überlassen, und plante, eine Wehrpflichtarmee von 100.000 Mann einzuberufen, um die von Kanada aus drohende britische Invasion abzuwehren. Dazu sollten alle Männer zwischen 18 und 45 Jahren in Hundertergruppen aufgeteilt werden und die Verantwortung dafür haben, je vier dienstfähige Soldaten zu stellen. Aufgrund des baldigen Kriegsendes wurde dies nie umgesetzt. Im September 1814 konzentrierte sich Monroe darauf, General Samuel Smith bei der Verteidigung von Baltimore zu unterstützen. Nach dem Sieg bei der Schlacht von Baltimore gelang es schließlich, die Briten aus der Chesapeake Bay zu werfen. Die Kriegsausgaben machten es für den Präsidenten erforderlich, mit einem weiteren orthodoxen republikanischen Glaubenssatz zu brechen und eine neue Zentralbank zu gründen, nachdem die Charta der First Bank of the United States im Jahr 1811 ausgelaufen war. Monroe, der als einer der ersten Parteiführer erkannte, dass die Republikaner sich seit dem Jahr 1800 gewandelt hatten und ihre Anhänger nun insbesondere in Neuengland und den Mittelatlantikstaaten städtischer und bankenfreundlicher geprägt waren, setzte dem keinen Widerstand entgegen. Zudem hatte er sich weiter verschuldet, um aus eigener Tasche für Kriegskosten aufzukommen. Nach dem günstigen Frieden von Gent und Andrew Jacksons Sieg in der Schlacht von New Orleans trat Monroe am 15. März 1815 als Kriegsminister zurück und übernahm wieder die Leitung des State Departments. Monroe, der als Kriegsminister für sich die Siege von New Orleans und in der Schlacht bei Plattsburgh in Anspruch nahm, ging politisch gestärkt und als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg hervor. Bevor er das Kriegsministerium verließ, fertigte er für den Senatsausschuss für militärische Angelegenheiten noch einen Bericht an, der eine reguläre Armee von 20.000 Mann für Friedenszeiten sowie eine Verstärkung der Küstenbefestigung empfahl, was eine Verdoppelung zur Personalstärke vor dem Krieg von 1812 darstellte. Die nächsten sechs Monate schonte er seine Gesundheit, die durch die enorme Arbeitsbelastung in den Jahren zuvor angegriffen worden war.
=== Präsidentschaftswahl 1816 ===
Im Oktober 1815 kehrte er in die Hauptstadt zurück und wurde als Nachfolger Madisons gehandelt, da das Außenministerium als Sprungbrett zur Präsidentschaft zählte. Zwar genoss Monroe nie die große Popularität Jeffersons, aber er wurde weithin respektiert. Wie Jefferson damals bei ihm selbst, verhielt sich Präsident Madison nach außen hin neutral, als Monroe seine Kandidatur für die Wahlen von 1816 vorbereitete. Trotzdem wurde allgemein angenommen, dass Madison Monroe als seinen Nachfolger unterstützte. Da es wegen des Niedergangs der Föderalisten, die wegen ihrer probritischen Haltung und Ablehnung des Kriegs von 1812 als illoyal wahrgenommen wurden, keine ernstzunehmende Oppositionspartei mehr gab, war für Monroes Sieg der demokratisch-republikanische Caucus im Kongress entscheidend. Bei diesem konnte er den parteiinternen Konkurrenten, den Finanzminister William Harris Crawford, mit 65-54 Stimmen schlagen. Zu Monroes Running Mate wurde Daniel D. Tompkins gewählt. Bei der Präsidentschaftswahl im November 1816 siegte er klar gegen den Föderalisten Rufus King und erreichte im Electoral College eine Mehrheit von 183-34 Stimmen. Monroes Amtseinführung als letzter Präsident aus der Generation der Gründerväter fand am 4. März 1817 statt.
=== Präsidentschaft ===
Bei seiner Antrittsrede lobte Monroe den Mut seiner Landsleute im Britisch-Amerikanischen Krieg und Amerika als eine vitale und blühende Nation. Den größten Teil seiner Rede nahm die nationale Sicherheit ein. Monroe rief dazu auf, dem Militär mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die Küstenbefestigungen zu verstärken. Er warnte davor, die geopolitischen Insellage der Vereinigten Staaten als ausreichenden Schutzfaktor anzusehen, zumal die Nation auf sichere Seewege und Fischerei angewiesen sei. In zukünftigen, nicht auszuschließenden Kriegen könnte der Gegner die amerikanische Union zerstören, wenn sie nicht stark genug sei, und sie so ihren Charakter und auch ihre Freiheit verlieren. Ferner seien außenpolitische Ziele leichter aus einer Position der Stärke als aus einer der Schwäche heraus zu erreichen. Da Monroe als erster Präsident das Amt in einer Phase von Frieden und wirtschaftlicher Stabilität antrat, kam dafür bald der Begriff “Era of Good Feelings” („Ära der guten Gefühle“) auf. Diese Periode war durch die unangefochtene Dominanz der Republikaner gekennzeichnet, die zum Ende der Amtszeit Madisons einige Inhalte der Föderalisten, wie zum Beispiel die Schaffung einer Zentralbank und Schutzzölle, übernommen hatten. Zwar war die parteipolitische Lage dadurch erheblich weniger aufgeheizt und polarisiert als noch während der Präsidentschaftswahlen 1800, aber insbesondere zum Ende von Monroes Amtszeit waren die Republikaner unterhalb der Ebene offizieller Politik durch starke Fragmentierung, heftig rivalisierende Fraktionen in Bundesstaaten wie New York und Virginia sowie erbitterte persönliche Rivalitäten geprägt. Monroe sah es als Pflicht des Präsidenten, über diesen Konflikten zu stehen, weshalb er sich dieser Entwicklung gegenüber passiv verhielt, selbst als sie in die Regierungsmannschaft hineinreichte. Der Historiker Hermann Wellenreuther sieht darin ein Defizit Monroes, das zur Polarisierung der politischen Landschaft beigetragen habe.Bei der Erstellung des Kabinetts spielten für Monroe geographische Erwägungen eine wichtige Rolle. Er wollte die Reichweite der Republikaner und die Einheit der Nation dadurch erhöhen, dass er für die wichtigen Ministerposten Personen aus unterschiedlichen Regionen der Vereinigten Staaten auswählte. Von besonderer Bedeutung war hier das State Department. Da von den ersten fünf Präsidenten bis auf John Adams alle Virginier waren, so dass schon von einer Virginia-Dynastie gesprochen wurde, wollte Monroe jeden Verdacht einer Bevorzugung dieses Bundesstaats vermeiden. Nicht nur aus diesen Gründen ernannte Monroe John Quincy Adams, den Sohn des zweiten Präsidenten, zu seinem Außenminister, sondern auch, weil dessen außergewöhnliches diplomatisches Talent unbestritten war und er als Befürworter von Jeffersons Handelsembargo 1807 mit den Föderalisten gebrochen hatte. Sie kannten sich seit den Friedensverhandlungen mit Großbritannien im Jahr 1814, bei denen Adams mit großer Intensivität mitgewirkt hatte. Ihr persönliches Verhältnis wurde für Monroe das wichtigste während seiner Präsidentschaft. An die Errungenschaften ihrer Zusammenarbeit in dieser frühen Phase der Vereinigten Staaten reichte nur die Arbeitsbeziehung von Jefferson und Madison heran. Adams versorgte den Präsidenten bei ihren täglichen Arbeitstreffen mit Positionspapieren, die dieser redigierte oder daraus entstehende Nachfragen an Adams zur Klärung zurückverwies. Das Kabinett rief er weniger zusammen, um sich Rat einzuholen, sondern mehr, um Konsens zwischen den Ministern und ihm selbst herzustellen, da seine Positionen üblicherweise schon vor der Sitzung feststanden.Bis zum Abschluss der Restaurierung des Weißen Hauses im September 1817, das von britischen Truppen nach der Schlacht bei Bladensburg niedergebrannt worden war, lebte Monroe im heutigen Cleveland Abbe House. Dieses Haus war bereits seine Residenz als Außen- und Kriegsminister gewesen. Monroe belebte eine nach Washington aufgegebene Tradition erneut und bereiste während seiner Präsidentschaft das Land, wie zum Beispiel im Mai 1818 als er die Forts in der Chesapeake Bay und um Norfolk besichtigte. Anders als beim ersten Präsidenten war dies weniger als eine symbolische Geste der Einheit gedacht, sondern diente dazu, vor Ort für Unterstützung für das nationale Verteidigungsbudget zu werben. Konkret ging es ihm darum, eine Linie von Forts an der Küste als Verteidigungslinie aufzustellen, die nördliche Grenze besser zu sichern und Depots und Werften für die Marine zu errichten, wie er in seiner ersten Rede zur Lage der Nation am 2. Dezember 1817 wiederholte. Dies wurde ein Schwerpunkt seiner Präsidentschaft, den er in der Rede anlässlich der zweiten Amtseinführung im März 1821 bekräftigte. Im März 1819 unternahm Monroe eine weitere Besuchsreise, die ihn über Norfolk nach Nashville führte, wo er ein einwöchiges Treffen mit Jackson hatte. Daneben besichtigte er Befestigungsanlagen sowie die Bauplätze der Forts Monroe und Calhoun.Bei seiner letzten Rede zur Lage der Nation im Jahr 1824 kündigte Monroe eine Reduzierung der Staatsverschuldung an und appellierte ein letztes Mal, die Landesverteidigung und den Schutz der Seehandelswege mit einer Kette aus Küstenbefestigungen und einer starken Marine zu gewährleisten. Er richtete in dieser Ansprache nicht wie so oft zuvor den Blick nach Europa oder Südamerika, sondern, wie ein großer Teil der Nation insgesamt, in den Wilden Westen. Er bat den Kongress, den Bau eines Forts in der Mündung des Columbia Rivers zu autorisieren und weiterhin ein Marinegeschwader an der Westküste vorzuhalten. Beim umstrittenen und intensiv geführten Präsidentschaftswahlkampf 1824 zwischen den Republikanern Jackson, Adams, Crawford und Clay nahm Monroe keinen Anteil und weigerte sich, seinen Favoriten zu nennen. Als er das Weiße Haus verließ, war die politische Szene in einem bisher kaum gekannten Ausmaße zersplittert und durch persönliche Rivalitäten geprägt.
==== Verteidigungspolitik ====
Bei Amtsantritt sah sich Monroe mit einigen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert. Im pazifischen Nordwesten kollidierten amerikanische Gebietsansprüche mit denen des zaristischen Russlands, während die Schifffahrtsrechte auf den Flüssen im Westen weiterhin strittig waren und die Siedler dort auf Widerstand der Indianer Nordamerikas stießen. Im Süden an der Grenze zu der Spanischen Kolonie Florida herrschte Unruhe durch Aufstände der Seminolen, die schließlich in den Ersten Seminolenkrieg mündete, und Piraterie, gegen die eine schwache spanische Verwaltung nichts unternahm. Nicht zuletzt war die Haltung der Vereinigten Staaten zu den lateinamerikanischen Republiken zu klären, die während der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege entstanden. Zum einen beschäftigten diese Grenzkonflikte und der Schutz vor Einmischung fremder Mächte auf dem nordamerikanischen Kontinent die Regierung Monroes in hohem Maße, zum anderen bot der Frieden in Europa nach dem Wiener Kongress Freiraum, die Beziehungen zu den europäischen Mächten zu normalisieren.Während seiner Zeit als Senator im Kongress hatte Monroe noch Versuche der Regierung Washingtons blockiert, die reguläre Armee zu vergrößern. Als Gouverneur von Virginia hatte er sich für die Stärkung der Milizen des Bundesstaates eingesetzt, was jedoch aus Kostengründen abgelehnt worden war. Ungefähr zu dieser Zeit begann sich seine Einstellung zu einer stehenden Armee zu ändern, die von den klassischen Republikanern schon in der Antike abgelehnt worden war, da sie in Friedenszeiten als ein Mittel der Tyrannei missbraucht werden konnte. Der Britisch-Amerikanische Krieg überzeugte Monroe schließlich davon, dass die nationale Sicherheit des expandierenden Amerikas nicht mehr allein von den Milizen gewährleistet werden konnte.Die Haushaltskürzungen in Folge der Wirtschaftskrise von 1819 überstand die Marine besser als die United States Army. Dies lag vor allem daran, dass sie sich als unverzichtbar erwies, amerikanische Handelsschiffe gegen Piraterie zu schützen. In seinem letzten Amtsjahr brachte Monroe ein achtjähriges Flottenbauprogramm durch den Kongress, das einen Umfang von neun Linienschiffen, zwölf Fregatten und drei schwimmende Batterien hatte. Zwei Jahre zuvor war bereits die dauerhafte Stationierung von Schiffen der United States Navy vor der amerikanischen Westküste etabliert worden. Auf Drängen Adams’ entsandte Monroe eine Fregatte zur Antarktischen Halbinsel, um dort britischen Expeditionen und Gebietsansprüchen zuvorzukommen.Wie auch schon für seine Amtsvorgänger war für Monroe der Seehandel ein wichtiges Thema. Dabei ging es insbesondere um die Verurteilung des maritimen Sklavenhandels, die im Frieden von Gent beschlossen worden war. Monroe und Adams standen zwar zu dieser Vereinbarung, wünschten aber nicht, staatliche Souveränitätsrechte an eine internationale Behörde mit der Erlaubnis abzugeben, amerikanische Schiffe zu durchsuchen. Die öffentliche Meinung, die erst auf Seiten des Präsidenten war, begann sich unter dem Druck von Abolitionisten aus dem Nordosten und der American Colonization Society zu drehen. Diese Gesellschaft drängte auf eine Rückkehr von Freigelassenen nach Afrika, wo sie die Kolonie Liberia gegründet hatte. Als sich die Kongressausschüsse willens zeigten, internationale Inspektionen mit eingeschränkten Rechten zuzulassen, blockierte dies Adams. Monroe strebte danach trotz der Opposition seines Außenministers eine bilaterale Einigung mit Großbritannien an, die Durchsuchungen auf hoher See erlaubte. Er hoffte, mit dieser Einigung andere offene Fragen wie unter anderem Grenzdispute um Maine und das Oregon Country klären zu können. Als der Kongress die Inspektionen auf afrikanische Küstengewässer beschränkte, ließ London die Verhandlungen platzen. Danach war die Tür für ein gemeinsames Vorgehen von Amerika und Großbritannien gegen den Sklavenhandel dauerhaft verschlossen.
==== Adams-Onís-Vertrag ====
Ende Oktober 1817 fanden mehrere längere Kabinettssitzungen statt. Ein Tagungspunkt war zum einen die Unabhängigkeitserklärungen einiger ehemaliger spanischer Kolonien in Südamerika und die Frage, wie darauf zu reagieren sei. Zum anderen ging es um die zunehmende, vor allem von Amelia Island ausgehende Piraterie. Die Seeräuberei an der Südgrenze zu den Floridas wurde durch Schmuggler, Sklavenhändler und Freibeuter verstärkt, die aus den spanischen Kolonien geflohen waren, über die das Mutterland die Kontrolle verloren hatte. Wie üblich hatte Monroe den Ministern zuvor Fragen und Informationsmaterial zukommen lassen, um dann mit dem Kabinett in einer langen Diskussion eine Klärung herbeizuführen. Nach drei Sitzungen kam es noch im gleichen Monat zum Entschluss, die United States Army gegen die Marodeure in Amelia Island und in Galveston einzusetzen. Außerdem sollten die Grenzgebiete Georgias und Alabamas zu den Floridas befriedet werden, wo die Seminolen rebellierten. General Edmund P. Gaines erhielt die Genehmigung, die Seminolen auf dem Territorium der Spanischen Kolonie Florida zu stellen, sollten sie über die Grenze dorthin fliehen. Nur für den Fall, dass sie Zuflucht in spanischen Forts suchten, sollte Gaines von weiterer Verfolgung absehen.Im April 1818 beschloss das Kabinett, Gaines’ Nachfolger Jackson, der die Operationen gegen die Piraterie in Amelia Island geführt hatte, so lange in den Floridas stationiert zu lassen, bis Madrid dort eine funktionierende Verwaltung hergestellt hatte. Die militärischen Aktionen Jacksons stellten für Monroe ein Kommunikationsproblem dar, da die Lageberichte immer erst mit großer zeitlicher Verzögerung in Washington eintrafen. So war während dieser Kabinettssitzung noch nicht bekannt, dass Jackson nach dem Ausschalten der Piraten auf eigene Faust den spanischen Gouverneur von Westflorida samt Besatzung aus dem Fort Barrancas in Pensacola vertrieben hatte, womit er einen Krieg mit Spanien riskierte. Jackson hatte diese Entscheidung getroffen, nachdem er erfahren hatte, dass die Seminolen bei ihren Überfällen auf Siedlungen in Georgia von dieser Garnison unterstützt worden waren. Hinsichtlich der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege wurden die Botschafter in Europa instruiert, in eigener Verantwortung zu erklären, dass die Vereinigten Staaten jede Einmischung in die Angelegenheiten Südamerikas als feindlichen Akt betrachteten. Über die neue Lage in Florida tagte das Kabinett erst wieder am 15. Juli 1818, als Monroe von einer Reise aus North Carolina zurückkehrte.Bei dieser Sitzung verurteilten unter Führung von Kriegsminister John C. Calhoun alle Kabinettsmitglieder bis auf den Außenminister Jacksons Handlungen und forderten eine Untersuchung. Adams befürwortete Jacksons Operationen, sah sie durch seine Befehle gedeckt und sprach sich dafür aus, an den Eroberungen Pensacola und Saint Marks festzuhalten. Monroe fixierte kurz darauf die offizielle Haltung der Regierung in einem Schreiben von Adams an den spanischen Botschafter Luis de Onís, das er entsprechend redigierte, indem er alle Rechtfertigungen für Jacksons Handlungen entfernte. Zusätzlich betonte Monroe, dass Jackson zwar seine Order überschritten habe, aber auf Grundlage von bis dahin unbekannten Informationen am Kriegsort zu einer neuen Lageeinschätzung gekommen sei. Allerdings hatte ihm Jackson in einem vertraulichen Brief bereits sechs Monate zuvor mitgeteilt, dass Ostflorida annektiert werden sollte. Laut dem Historiker Sean Wilentz war Jacksons Bereitschaft, beim geringsten Anlass Florida zu erobern, für Monroe mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund gewesen, ihn mit dieser Mission zu betrauen. Monroe bot Spanien an, die Forts wieder zu räumen, sobald sie entsprechende Garnisonen schickten. Laut Ammon war Monroes Haltung schon vor der Kabinettssitzung gefestigt gewesen, er habe sie aber trotzdem durchgeführt, um sich zwischen den beiden Meinungsfraktionen seiner Minister zu positionieren. So konnte er einerseits jede Bewegung im Kongress unter Kontrolle halten, die einen Tadel Jacksons zum Ziel hatte, und andererseits die Eroberungen Jacksons als taktischen Vorteil behalten, zumal dieser den Status eines Volkshelden errungen hatte. Durch die Feststellung, dass Jackson seine Instruktionen übertreten habe, vermied Monroe verfassungsrechtliche Probleme für seine Regierung und eine Kriegserklärung durch Spanien und seine Verbündeten. In einem Brief an Jackson am 19. Juli legte er dar, wieso er die eigenmächtigen Eroberungen offiziell nicht gutgeheißen hatte. Die fehlende Rückendeckung durch den Präsidenten führte zum lebenslangen Bruch zwischen Monroe und Jackson.Obwohl Jackson damit fortfuhr, in der spanischen Kolonie Florida Militärposten zu erobern, gelang es Adams, mit de Onís in Ruhe über den Erwerb der beiden Floridas und über die Festlegung der westlichen Grenze des Missouri-Territoriums zu verhandeln. Hierbei handelte es sich um das ehemalige Louisiana-Territorium, das umbenannt worden war, um Verwechslungen mit dem neu geschaffenen Bundesstaat Louisiana zu vermeiden. Das Missouri-Territorium stieß im Westen an das Vizekönigreich Neuspanien. Strittig war die neuspanische Provinz Texas, dessen Annexion die öffentliche Meinung in Amerika vehement forderte. Nachdem Adams in den Verhandlungen über die Floridas vorangeschritten war und sich dem Streitpunkt der Westgrenze des Missouri-Territoriums annäherte, erhöhte Monroe geschickt den Druck auf Madrid und kündigte an, sich zum weiteren Vorgehen in dieser Frage mit Jackson zu beraten. Letztendlich konnte Adams den Präsidenten überzeugen, sich mit dem Erwerb der beiden Floridas zufriedenzugeben, auf Texas vorerst zu verzichten und als Grenze zum Vizekönigreich Neuspanien den Flussverlauf von Sabine, Red und Arkansas River zu akzeptieren. Ausschlaggebend hierfür war auch, dass die nordöstlichen Bundesstaaten die Erweiterung nach Süden und Westen skeptisch betrachteten, da sie eine Ausweitung der Sklaverei in diese Regionen befürchteten. Zudem sah Monroe angesichts des Mexikanischen Unabhängigkeitskriegs in naher Zukunft einen neuen Verhandlungspartner für die Texas-Frage vorher.Am 22. Februar 1819 kam es zum Adams-Onís-Vertrag. Er legte den Erwerb der spanischen Kolonie Florida durch die Vereinigten Staaten fest und öffnete das Missouri-Territorium nördlich des 42° Breitengrads nach Westen bis zum Pazifik hin, wodurch das Oregon Country entstand. Washington erhielt dadurch erstmals in völkerrechtlich verbindlicher Form Zugang zum Pazifik. Der Adams-Onís-Vertrag wurde im Jahr 1821 vom Kongress ratifiziert. Damit fanden die Verhandlungen zwischen Spanien und Amerika, die mit Unterbrechungen über 25 Jahre angedauert hatten, ein Ende. Im Oregon Country selbst kollidierten Amerikas Wirtschaftsinteressen und territoriale Ansprüche mit denen Russisch-Amerikas, das Handelsposten bis hinunter in die Bucht von San Francisco hatte, und denen Großbritanniens. Die Lage verschärfte sich im Herbst 1821, als Sankt Petersburg nördlich des 51° Breitengrades das pazifische Küstenmeer Amerikas innerhalb einer 100-Meilen-Zone für fremde Schiffe sperrte und somit seinen Gebietsanspruch um vier Breitengrade nach Süden verschob. Im April 1824 erreichte Monroe mit Russland eine Übereinkunft, die die Gebietsansprüche Russisch-Amerikas auf Territorien nördlich des 54° 40‘ Breitengrades beschränkte.
==== Südamerikanische Unabhängigkeitskriege ====
Die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege waren das politische Thema, das Monroe und Adams während ihrer Amtszeit am meisten beschäftigte. Monroe hatte in dieser Sache weniger politische Kontrolle als gewünscht und wurde ab 1821 ein Stück weit durch Clay getrieben. Dieser forderte als Sprecher des Repräsentantenhauses die diplomatische Anerkennung der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata und die Kaperei umfassende Unterstützung der antikolonialen Befreiungsbewegungen. Clay wollte sich mit diesem Engagement als Nachfolger Monroes aufbauen. Die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten stand mit überwältigender Mehrheit auf Seiten der südamerikanischen Revolutionäre, eine Position, die Monroe als überzeugter Republikaner emotional teilte. Seine ursprüngliche Haltung war es, die Befreiungsbewegungen so weit wie möglich zu begünstigen, ohne einen Krieg mit Spanien zu riskieren, während die Verhandlungen mit Madrid über die Floridas und die Westgrenze des Missouri-Territoriums liefen. Für Monroe und Adams hatte die Klärung der Grenzdispute eine höhere Priorität, womit sich der klassische Fall eines Konflikts zwischen Interessenpolitik und Werteorientierung einstellte. Die südamerikanischen Republiken entsandten nach ihren jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen schnell Emissäre nach Washington, um dort um diplomatische Anerkennung und Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu bitten. Monroe schickte im Gegenzug drei Bevollmächtigte auf einem Marineschiff nach Südamerika, um die Lage vor Ort zu sondieren. Einem Vertreter der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata ließ Monroe im Jahr 1818 über Adams mitteilen, dass seine Haltung in diesem Konflikt die „unvoreingenommener Neutralität“ sei, was die Fraktion um Clay zum Teil beruhigte. Obwohl sie vorerst nicht diplomatisch anerkannt wurden, genossen die jungen Republiken in den Wirtschafts- und Handels- sowie den diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten fast alle Vorteile einer souveränen Nation. Auch den späteren Emissären anderer Republiken sicherten Monroe und Adams freundschaftliche Beziehungen zu.In allen Reden zur Lage der Nation äußerte Monroe Sympathie für den Freiheitskampf der Südamerikaner, so auch im Jahr 1820, obwohl Adams davon abgeraten hatte. Nach Abschluss des Adams-Onís-Vertrags nahm der Druck auf Monroe ab, in dieser Angelegenheit Rücksicht auf Madrid zu nehmen. Nachdem Spanien und Amerika im Februar 1821 den Adams-Onís-Vertrag vollständig ratifiziert hatten und in Madrid eine liberale Regierung an die Macht gekommen war, schlug Monroe am 8. März 1822 dem Senat die diplomatische Anerkennung der Vereinigten Provinzen des Río de la Plata, Mexiko, Chile, Peru und Kolumbien vor. Die besondere Bedeutung der diplomatischen Anerkennung der südamerikanischen Republiken lag in zwei Aspekten: Zum einen brachte es eine politische Diskussion über die Fortsetzung des Kolonialismus in Gang, zum anderen definierte es die Beziehungsgrundlagen zwischen Amerika, Europa und der westlichen Hemisphäre neu. In einem geringeren Umfang führte dieser Schritt zu der Frage, inwieweit die Vereinigten Staaten eine aktive Rolle in den Angelegenheiten Europas spielen sollten.
==== Indianerpolitik ====
Monroe besuchte als erster Präsident den amerikanischen Westen und betraute in seinem Kabinett Kriegsminister Calhoun mit der Ressortverantwortung für diese Region, was die Grenzsicherung und die Indianerpolitik einschloss. Um die mit der stetig fortschreitenden Westexpansion einhergehenden unerbittlichen Angriffe auf die Siedlungsgebiete der Indianer zu verhindern, setzte er sich dafür ein, die Gebiete zwischen den Bundesterritorien und den Rocky Mountains aufzuteilen und verschiedenen Volksstämmen zur Besiedlung zuzuweisen. Die Bezirke sollten jeweils eine Zivilregierung und ein Schulsystem erhalten. In einer Rede vor dem Kongress am 30. März 1824 sprach er sich Monroe dafür aus, die im Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten lebenden Indianer in Ländereien jenseits der westlichen Grenze umzusiedeln, wo sie ihre angestammte Lebensweise fortführen könnten. Insgesamt appellierte er, dass im Umgang mit den Indianern humanitäre Erwägungen und Wohlwollen überwiegen sollten. Trotzdem teilte er prinzipiell die Vorbehalte von Jackson und Calhoun gegen souveräne indianische Nationen, da sie ein Hemmnis für die weitere Erschließung des Westens waren. Wie Washington und Jefferson wollte er die Indianer zu ihrem eigenen Wohle mit den Vorteilen der amerikanischen Kultur und westlichen Zivilisation konfrontieren, auch um sie dadurch vor der Auslöschung zu bewahren. Daher war Monroes Rhetorik von unabhängigen indianischen Nationen, die bis zum Krieg von 1812 das Fundament der amerikanischen Indianerpolitik gewesen war, ein reines Lippenbekenntnis.
==== Missouri-Kompromiss ====
Mit Gründung der Vereinigten Staaten war die Aufnahme neuer Bundesstaaten stets mit der Sklavenfrage verbunden. In der Zeit zwischen 1817 und 1819 waren Mississippi, Alabama und Illinois als neue Bundesstaaten anerkannt worden. Durch die schnelle Expansion zeichnete sich eine verstärkte wirtschaftliche Kluft zwischen den Regionen und eine Machtverschiebung im Kongress zuungunsten der Südstaaten ab, die deshalb ihre von der Sklaverei abhängige Plantagenwirtschaft zunehmend bedroht sahen. Hinzu kam, dass sich zu dieser Zeit in den Nordstaaten wachsender Widerstand gegen die Sklaverei zu formieren begann. Als im Jahr 1819 Missouri um Aufnahme in die amerikanische Union bat, kam es in der Frage der Aufnahmebedingungen zum ersten heftigen Aufeinandertreffen von Gegnern und Befürwortern der Sklaverei und einer Spaltung des gesamten Landes in zwei feindliche Lager.Inwieweit Monroe bei der Erarbeitung des Missouri-Kompromisses seiner präsidialen Führungsrolle gerecht wurde, ist bis heute umstritten, wobei die Mehrheit der Historiker Monroes Passivität betont. Er betrachtete die Frage der Aufnahmebedingungen weniger aus moralischer denn aus politischer Perspektive. Ungewöhnlich war, dass Monroe zu diesem Sachverhalt keine Kabinettssitzung einberief, wie es sonst seine Art bei drängenden Themen war. Wahrscheinlich wollte er eine Konfrontation zwischen dem überzeugten Abolitionisten Adams und den Kabinettsmitgliedern aus den Sklavenstaaten vermeiden. Privat gab Monroe zu erkennen, dass er gegen jedes Gesetz Veto einlegte, welches als Aufnahmebedingung Missouri eine bestimmte Haltung zur Sklavenfrage diktierte. Insgeheim wusste Monroe von virginischen Politiker aus dem Kongress, dass dort vertrauliche Diskussionen darüber stattfanden, westlich von Missouri eine Kompromisslinie auf dem 36° 30′ Breitengrad zu ziehen. Zukünftige Bundesstaaten nördlich dieser Linie sollten sklavenfrei sein, während es den südlich davon gelegenen frei stehen sollte, selbst darüber zu entscheiden. Monroe selbst war Sklavenhalter und fühlte sich wie Jefferson in dieser Frage moralisch hin- und hergerissen. Seine Skrupel gingen aber nicht über die konventionelle Ansicht gebildeter Virginier des ausgehenden 18. Jahrhunderts hinaus, dass Sklaverei ein Übel sei und irgendwann beendet werden sollte.Nachdem dieser Kompromiss im Senat vorgestellt wurde, gab Monroe im Stillen zu verstehen, dass er jedes Gesetz unterzeichnete, das auf dieser Einigung beruhte. Als dies in seiner Heimat Virginia bekannt wurde, reagierte das dortige politische Establishment mit Empörung. In einem Brief an Jefferson zum Jahresanfang 1820 beschrieb Monroe die Missouri-Frage als die am meisten gefährliche für den Zusammenhalt der amerikanischen Union, die ihm bisher begegnet sei. Um die Mehrheit im Kongress zu organisieren, aktivierte Monroe Adams sowie Crawford und Calhoun, die ihren politischen Einfluss in den Neuengland- und Südstaaten ausnutzen sollten. Am 26. Februar 1820 wurde der Missouri-Kompromiss schließlich im Kongress verabschiedet. Im März lagen Monroe die Gesetzesvorschläge vor, die die Kompromisslinie festsetzten und es Missouri freistellten, über die Sklaverei selbst zu entscheiden, während Maine zum Ausgleich als sklavenfreier Bundesstaat in die Union aufgenommen wurde. Das Kabinett war einstimmig der Meinung, dass der Kongress verfassungsrechtlich die Legitimität habe, in Territorien und künftigen Bundesstaaten die Sklaverei zu verbieten. Monroe wurde von Freunden und Schwiegersohn Hay gewarnt, dass bei den kommenden Präsidentschaftswahlen die Stimmung in den Südstaaten zugunsten eines anderen Kandidaten umschlagen könnte.
==== Handelspolitik ====
In der Auseinandersetzung über die Einführung von Schutzzöllen traten regionale Unterschiede auf, die ähnlich denen des Missouri-Kompromisses verliefen. Während die Mittelatlantik- und Neuenglandstaaten für eine deutliche Erhöhung der hauptsächlich gegen England gerichteten, im Jahr 1816 festgesetzten Schutzzölle eintraten, um das heimische Manufakturwesen zu protegieren, sprachen sich die Südstaaten mit Nachdruck dagegen aus. Da England der wichtigste Absatzmarkt für ihre Baumwolle war, fürchteten sie bei einer schweren Beeinträchtigung dieser Handelsbeziehung letztendlich um ihre wirtschaftliche Existenz. In der Rede anlässlich seiner zweiten Inauguration 1821 vermied Monroe jede Festlegung in dieser Frage. Im folgenden Jahr befürwortete er mit gemäßigten Worten einen besseren Schutz der amerikanischen Manufakturen. Im Frühjahr 1824 nahm der Streit an Schärfe zu, wobei der kommende Präsidentschaftswahlkampf eine wichtige Rolle spielte.
==== Wirtschaftskrise von 1819 und Haushaltspolitik ====
Zu Ende seiner ersten Amtszeit brach die Wirtschaftskrise von 1819 aus. Während dieser Wirtschafts- und Finanzkrise brachen die Exporte ein, es kam zu Kredit- und Bankausfällen und einer rapiden Abnahme der Immobilienwerte. Daher mussten in den folgenden Jahren Kürzungen im Staatsbudget vorgenommen werden, die vor allem den Verteidigungsetat betrafen, dessen Anwachsen auf über 35 % des Gesamthaushalts im Jahr 1818 die konservativen Republikaner ohnehin mit Erschrecken beobachtet hatten. Im Kabinett kam es in der Folge zu Friktionen, als Finanzminister Crawford, der sich seit seiner knappen Niederlage im entscheidenden Caucus bei der Präsidentschaftswahl 1816 als natürlichen Nachfolger Monroes betrachtete, die Gelegenheit nutzte, Ressortkürzungen bei seinem Rivalen Calhoun vorzunehmen. Dem Bündnis von Crawford und konservativen Republikanern schloss sich Clay an, dem es vor allem um die Beseitigung des Netzwerks an Militärforts ging, das Monroe und Calhoun im Louisiana-Territorium geschaffen hatten. Clay, der diesem Ziel sehr nahekam, sah durch die Militärposten private Handelsinteressen bedroht. Während Monroes Befestigungsprogramm vorerst unbeschadet die Kürzungen überstand, wurde die Zielgröße des stehenden Heers im Mai 1819 von 12.656 auf 6000 gesenkt. Im nächsten Jahr traf es dann das Lieblingsprojekt des Präsidenten und der Etat für Verstärkung und Ausbau der Forts wurde um über 70 % zusammengestrichen. 1821 schließlich war das Verteidigungsbudget im Vergleich zu 1818 auf 5 Millionen US-Dollar und somit ungefähr die Hälfte abgeschmolzen. Als die Sparmaßnahmen so weit gingen, Jackson den Generalsrang zu entziehen, reagierte Monroe beschämt und ernannte Jackson zum Militärgouverneur des Florida-Territoriums.
==== Verkehrspolitik ====
Die Westexpansion und der steigende Binnenhandel zwischen den Südstaaten, dem Nordosten und den neuen Bundesstaaten brachte den Aufbau nationaler Transportwege auf die Tagesordnung, was den Schwerpunkt der ersten beiden Jahre von Monroes Präsidentschaft bildete. Die politische Diskussion kreiste vor allem um die Frage der Verbindung von Ostküste und des Ohiotals westlich der Alleghenies. Im letzten Amtsjahr hatte Madison noch wegen verfassungsrechtlicher Bedenken Veto gegen ein Gesetz eingelegt, das über die Second Bank of the United States den Bau solcher Verkehrswege mit Bundesmitteln finanzieren sollte, und vorher die Schaffung verfassungsgemäßer Grundlagen durch die Verabschiedung entsprechender Zusatzartikel gefordert. Gegen diese Auffassung wandte sich insbesondere Clay, der der wichtigste Fürsprecher der westlichen Staaten im Kongress war. Trotzdem legte Monroe sein Veto ein, als der Kongress beschloss, Verbesserungen am Eriekanal mit Bundesmitteln zu fördern. Er erkannte zwar die Notwendigkeit für nationale Verkehrsinfrastrukturprojekte, auch hinsichtlich militärischer Mobilmachung, doch wie Madison sah er sie in Zuständigkeit der Einzelstaaten. Zur Mitte der ersten Amtsperiode entwarf Monroe in einer Vetobotschaft gegen die Einführung einer Maut auf der National Road, die den Potomac und den Ohio River verband, erfolgreich eine Kompromissformel. Demnach besaß der Kongress zwar kein Recht, zwischenstaatliche Verkehrswege zu bauen oder sie zu verwalten, aber er konnte Gelder für sie bewilligen. Die Verwendung der Bundesmittel war an die Pflicht gebunden, dass sie der gemeinsamen Verteidigung und dem Wohle der Nation und nicht nur dem eines Einzelstaats dienten. Danach konnte Washington Infrastrukturmaßnahmen finanzieren, ohne zu tief in die Rechte der Einzelstaaten einzugreifen.
==== Präsidentschaftswahl 1820 ====
Monroe gab seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit früh bekannt. Auf dem Caucus der Republikaner am 8. April 1820 beschlossen die 40 Mitglieder einstimmig, keinen Gegenkandidaten zu Monroe aufzustellen. Die Föderalisten stellten keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf. Monroes Wiederwahl ergab daher hinter der einstimmigen Wahl Washingtons zum Präsidenten im Jahr 1789 das klarste Ergebnis im Electoral College in der amerikanischen Geschichte. Nur einer der 232 Wahlmänner, der frühere Gouverneur von New Hampshire William Plumer, stimmte gegen ihn und für Außenminister Adams, der nicht kandidierte. Als Begründung gab Plumer unter anderem an, dass er verhindern wollte, dass Monroe wie der große Washington ohne Gegenstimme Präsident wurde. Selbst Ex-Präsident Adams votierte als Führer der Wahlmänner aus Massachusetts für seinen früheren, erbitterten politischen Gegner Monroe. Neben der fehlenden Opposition lag dieser unangefochtene Sieg Monroes in seinem erfolgreichen Bemühen begründet, orthodoxe republikanische Dogmata zu überwinden und seine Partei so weiter zu öffnen. Dieser breite Konsens überlebte nicht Monroes Präsidentschaft und schon bei der nächsten Präsidentschaftswahl bestimmten persönliche Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen Interessensgruppen das Geschehen. Diese innerparteilichen Spannungen ersetzten die aus unterschiedlichen philosophischen Anschauungen herrührenden Gegensätze zwischen Republikanern und Föderalisten des First Party Systems. Trotz dieser breiten Zustimmung bei der Präsidentschaftswahl hatte Monroe im parallel gewählten 17. Kongress der Vereinigten Staaten nur wenige loyale Anhänger und entsprechend geringen Einfluss.
==== Monroe-Doktrin ====
Im Januar 1821 äußerte Adams in einem Gespräch mit dem britischen Botschafter Stratford Canning, 1. Viscount Stratford de Redcliffe, erstmals den Gedanken, dass der amerikanische Doppelkontinent gegenüber weiterer Kolonisation durch auswärtige Mächte verschlossen werden sollte. Ob Adams der Urheber dieser Idee war oder andere, darunter Monroe, ungefähr zur gleichen Zeit unabhängig voneinander auf sie kamen, ist nicht geklärt. Das aus diesem Leitsatz sprechende, zunehmende Selbstbewusstsein der Vereinigten Staaten wäre laut Hart ohne den Abschluss des Adams-Onís-Vertrags schwer vorstellbar gewesen. Während der Verhandlungen zu den Grenzdisputen im Oregon Country äußerte Adams im Sommer 1823 gegenüber dem britischen und russischen Botschafter den Grundsatz, dass die weitere Besiedelung Amerikas mit Ausnahme Kanadas in den Händen der Amerikaner selbst liegen sollte. Das Prinzip „Amerika den Amerikanern“ wurde in der Administration Monroes schnell zu einer Art theologischem Glaubenssatz. Nachdem Frankreich im Auftrag der Heiligen Allianz mit dem Sieg in der Schlacht von Trocadero im August 1823 die spanische Revolution von 1820 beendet hatte, warnten Kriegsminister Calhoun und der britische Außenminister George Canning, ein Cousin von Stratford Canning, Monroe, dass europäische Mächte möglicherweise in Südamerika zu intervenieren beabsichtigten. Dies erhöhte den Druck auf ihn, sich zur Zukunft der westlichen Hemisphäre zu äußern.Im August 1823 kam es zu einer Korrespondenz zwischen dem britischen Außenminister, dem amerikanischen Botschafter in London, Richard Rush, und Adams, die an seine Äußerungen über die Dekolonisation Südamerikas im Januar 1821 gegenüber Stratford Canning anknüpften. Es ging darum, eine gemeinsame Position hinsichtlich einer möglichen französischen Intervention in Südamerika auszuloten, durch die Großbritannien seine Handelsinteressen in dieser Region gefährdet sah. Canning hatte signalisiert, dass sein Land gewillt sei, sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Rekolonialisierung auszusprechen und mit der Royal Navy mögliche Versuche der Heiligen Allianz zu vereiteln, die verlorenen Kolonien Spaniens in Südamerika zurückzugewinnen. Als Monroe dieser Schriftwechsel, der zu keinem konkreten Ergebnis geführt hatte, Mitte Oktober 1823 vorgelegt wurde, war sein erster Impuls, das britische Angebot anzunehmen. Da er das Diktum George Washingtons, sich nicht in auswärtige Allianzen verwickeln zu lassen, nicht ohne weiteres übergehen wollte, sandte er die Korrespondenz mit der Bitte um Rat an Jefferson und Madison. Dabei schlug er seinen beiden Amtsvorgängern vor, zukünftig jede europäische Einmischung in die Angelegenheiten Südamerikas als feindlichen Akt gegenüber den Vereinigten Staaten zu betrachten. Jefferson antwortete, dass er ein gemeinsames Vorgehen mit Großbritannien gegen europäische Einmischungen in Südamerika begrüßte, und er fasste im Wesentlichen zusammen, was später als Monroe-Doktrin bekannt wurde. Auch Madison riet Monroe, das Angebot Londons anzunehmen. Am 23. Oktober 1823 verschickte Rush eine Botschaft an Adams, die ihn über den Rückzug Cannings aus dem Abstimmungsprozess zu einer gemeinsamen Südamerikapolitik informierte.Unabhängig von der Absage einer gemeinsamen Südamerika-Erklärung durch London, die Monroe wahrscheinlich erst Mitte November erreichte, wurde die Angelegenheit im Kabinett ab dem 7. November intensiv und umfangreich diskutiert, wobei neben dem Präsidenten vor allem Adams und Calhoun eine aktive Rolle spielten. Anlass war die bevorstehende State of the Union Address, bei der Monroe neben innenpolitischen Themen über den Stand der auswärtigen Beziehungen zu informieren hatte. Als Monroe in Vorbereitung der Rede Adams nach einer Zusammenfassung der amerikanischen Außenpolitik bat, schlug dieser einen prinzipiellen Absatz vor. Der Wortlaut war, dass der unabhängig gewordene amerikanische Doppelkontinent zukünftig, mit Ausnahme weiterhin bestehender Kolonien, nicht mehr als ein Kolonisationsgebiet europäischer Mächte betrachtet werden sollte. Bis Mitte November diskutierte das Kabinett vor allem die Frage, ob die Positionierung zu Südamerika unilateral oder gemeinsam mit Großbritannien erfolgen sollte. Nachdem Monroe Rushs Botschaft vom 23. Oktober erhalten hatte, wurde ihm klar, dass London eine militärische Intervention der Heiligen Allianz in Südamerika nicht mehr für wahrscheinlich hielt. Am 21. November informierte er das Kabinett, dass er in der State of the Union Address eine Südamerika betreffende Doktrin zu präsentieren beabsichtigte. Monroe sah diese Angelegenheit als einmalige Möglichkeit, die Stärke und Interessen der Vereinigten Staaten geltend zu machen und sich als Nation selbst zu definieren. Allerdings fehlten der Regierung Monroe vorerst die Mittel, die Diskrepanz zwischen rhetorischem Anspruch und tatsächlichem Einfluss in Lateinamerika zu schließen.Monroe und sein Kabinett kamen schließlich überein, den Wortlaut der Passage an zwei Memoranden des Außenministers an den russischen und britischen Botschafter anzupassen, die kurz vor der Rede zur Lage der Nation verschickt wurden. Um mögliche Angriffspunkte zu vermeiden, strich der Präsident einen Absatz von Adams, der die republikanischen Grundprinzipien der Vereinigten Staaten thematisierte. Durch die Depesche an die russische Botschaft sollte unterstrichen werden, dass der Hauptadressat der Monroe-Doktrin die Heilige Allianz war. In dieser Nachricht stellte Adams klar, dass die Vereinigten Staaten außer Spaniens militärischem Bemühen, seine etablierte Kolonialmacht in Südamerika wiederherzustellen, die Einmischung keiner anderen zusätzlichen europäischen Macht bereit seien hinzunehmen.Am 2. Dezember 1823 präsentierte Monroe schließlich den überarbeiteten Beitrag zur Außenpolitik in seiner siebten Rede zur Lage der Nation. Die auf drei Absätze verteilten Grundsätze wurden erst als Prinzipien von 1823 und später als Monroe-Doktrin bekannt, die trotz ihrer Bedeutung nie kodifiziert wurde. Ihre erste Erwähnung folgte in einem Absatz, der die Verhandlungen mit Russland über den pazifischen Nordwesten thematisierte, die nächsten beiden im Kontext der historischen Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Insgesamt lassen sich sechs Prinzipien ableiten:
Der amerikanische Doppelkontinent ist nicht mehr ein Objekt für den Erwerb von neuen Kolonien oder Rekolonialisierung durch Europa.
Jede europäische Macht, die ihr monarchisches System auf ein Gebiet der westlichen Hemisphäre ausweiten will, wird als feindlich betrachtet.
Obwohl sich die Vereinigten Staaten nicht in bestehende koloniale Beziehungen zwischen Südamerika und Europa einmischen wollten, würden sie jeden Versuch Europas, über die unabhängigen Republiken Südamerikas wieder Kolonialmacht zu erlangen, als unfreundlichen Akt betrachten.
Solange sich die Umstände nicht wesentlich änderten, beispielsweise durch ein Eingreifen der Heiligen Allianz, würden die Vereinigten Staaten im Krieg zwischen Spanien und seinen früheren Kolonien in Südamerika neutral bleiben.
Die Vereinigten Staaten wollen sich in keine innereuropäischen Angelegenheiten einmischen und erwarten im Gegenzug das Gleiche von Europa.
Europäische Bündnisse, in diesem Fall die Heilige Allianz, sollten keinen Versuch unternehmen, ihr monarchisches System in einen Teil der westlichen Hemisphäre zu übertragen.Insbesondere das fünfte Prinzip, das die Reziprozität betont, verdeutlicht, dass das herkömmliche Verständnis der Monroe-Doktrin als unilateralistischer Erklärung nicht vollständig war. Ein Subtext der Monroe-Doktrin war zudem, den europäischen Nationen die Furcht vor einem missionarischen Amerika zu nehmen, das weltweit militant gegen Kolonialismus und Monarchie ankämpfen würde. Laut Ammon hatte die Doktrin für Monroe nur moralischen Charakter und keinen imperialistischen Anspruch. Er sieht Monroes demütigende diplomatische Niederlagen in Europa als mitprägend für die Prinzipien von 1823 an. Hart verortet die zentrale Botschaft der Monroe-Doktrin darin, dass sie verkündete, keine Hegemonie zu tolerieren oder auszuüben, auch wenn sie später als Begründung imperialistischer Machtansprüche Amerikas diente. Die wichtigste Konsequenz der Monroe-Doktrin bleibt, dass sie die westliche Hemisphäre als unabhängig von europäischer Einflussnahme etablierte. In dieser Vernetzung von nationaler Sicherheit und Außenpolitik ging Monroe weiter als alle vorigen Präsidenten.Die Historiker betonen einerseits den maßgeblichen Einfluss von Adams auf den Inhalt der Doktrin, stellen aber andererseits heraus, dass es Monroes Entscheidung war, sie nicht auf vertrauliche diplomatische Noten zu beschränken, wie von Adams gewünscht, sondern durch die State of the Union Address weltweit bekannt zu machen. Monroe selbst war bewusst, dass er mit dieser Erklärung die kommenden Präsidenten nicht an die Prinzipien von 1823 binden konnte. Trotzdem wurde die Monroe-Doktrin die wirkungsmächtigste und am meisten diskutierte Erklärung eines Präsidenten zur Außenpolitik, was Hart auf ihren logischen Aufbau zurückführt. Für viele Bürger hat sie den Status eines Evangeliums, obwohl nur wenige ihren konkreten Inhalt kennen. Während die Monroe-Doktrin in Frankreich und Großbritannien viel Zustimmung erfuhr, nahmen sie Russland und Fürst Metternich mit Geringschätzung auf und betrachteten sie als einen revolutionären Akt, ohne konkrete feindselige Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
=== Im Ruhestand ===
Am 3. März 1825 gab James Monroe sein Amt an Adams weiter. Auch aufgrund der aufgeheizten politischen Atmosphäre zum Ende seiner Amtszeit scheute Monroe davor zurück, am politischen Geschehen teilzuhaben. Im Ruhestand plagten ihn drückende Geldsorgen: Er hatte als Botschafter in Europa während der 1790er und 1800er Jahre wegen der mäßigen Entlohnung erhebliche Privatkredite aufnehmen müssen, um repräsentative Aufgaben und das diplomatische Protokoll zu erfüllen. Bereits 1797 hatte er den Kongress um eine Aufwandsentschädigung gebeten und wartete seitdem vergebens auf eine Zahlung. Später als Minister unter Madison und Präsident hatte er die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, da er dies in solch einer Position für ungebührlich hielt. Noch in den letzten Tagen vor der Amtsübergabe an Adams ging Monroe in dieser Sache die persönlichen Papiere der letzten drei Jahrzehnte durch und schrieb an Jefferson und Madison mit der Bitte, ihn gegebenenfalls in seinen Ansprüchen gegenüber dem Kongress zu unterstützen. Im Jahr 1826 erkannte der Kongress einen Teil der Forderungen an. Monroe, der sich ungerecht behandelt fühlte und aus Geldnot Highland an die Second Bank of the United States verkaufen musste, gab sich damit nicht zufrieden und versuchte in den nächsten Jahren, von Washington eine vollständige Bewilligung seiner damaligen Auslagen zu erreichen. Im Kongress stieß er damit auf Widerstand der Fraktionen um Jackson, Crawford und Calhoun, die ihm frühere Konflikte nachtrugen und unter anderem Parteinahme für Adams bei der Präsidentschaftswahl 1824 vorwarfen. Erst kurz vor seinem Tod, als er verarmt und abhängig von privaten Gönnern in New York City lebte, erhielt er in dieser Sache eine moderate Zahlung, die zwar reichte, seine Gläubiger zu bedienen, aber nicht, um seinen früheren Lebensstandard wiederherzustellen. Zusätzlich getrübt wurden seine letzten Jahre durch ein Wiederaufflammen von Hass und Groll gegen ihn als Präsidenten wegen des Missouri-Kompromisses und Jacksons Invasion in Florida.Anders als ursprünglich geplant, verbrachte Monroe seinen Ruhestand nicht in Highland, sondern für die ersten fünf Jahre in seiner Residenz Oak Hill im Loudoun County. Dort hatte er bereits während seiner Präsidentschaft im Sommer residiert. Er füllte die Zeit mit täglichen Ausritten und experimentierte mit neuen Anbautechniken, um die Ernte zu erhöhen. Daneben widmete sich er dem Lesen, wobei seine Privatbibliothek über 3000 Büchern umfasste, die er zum großen Teil während seiner Aufenthalte in Europa erworben hatte. Monroe arbeitete an einem Werk zur politischen Theorie mit dem sperrigen Titel The People the Souvereigns, Being a Comparison of the Government of the United States with those of the Republics Which Have Existed Before, with the Causes of their Decadence and Fall, das wie auch eine Autobiographie unvollendet blieb. Wie seine beiden Amtsvorgänger enthielt er sich bewusst, Einfluss auf die Politik seiner Nachfolger zu nehmen.Nachdem er während der Präsidentschaft sein gemeinsames Engagement mit Jefferson und Madison am Central College, aus dem die University of Virginia hervorging, eingestellt hatte, nahm er nun wieder einen Sitz im Board of Visitors der Universität ein. Bei den jährlichen Examen im Juli präsidierte er im Prüfungsausschuss. Als es zu erheblichen Disziplinlosigkeiten unter den Studenten kam, schlug Monroe in einem Bericht im Jahr 1830 die Aufnahme von militärischem Drill in die Studienordnung vor, was aber Madison ablehnte.Obwohl bereits deutlich vom Alter gezeichnet und durch einen Reitunfall im Jahr 1828 gesundheitlich schwer beeinträchtigt, nahm Monroe ab Oktober 1829 an der Virginia Convention in Richmond teil. Nachdem die westlichen Countys mit dem Austritt aus dem Bundesstaat gedroht hatten, wurde dieser Konvent einberufen, um die Verfassung von Virginia zu überarbeiten. Kern des Konflikts zwischen dem Osten und Westen Virginias waren die Repräsentation im Kongress von Virginia und das an Grundbesitz gebundene Zensuswahlrecht. Die westlichen Countys wollten beim Zuschnitt der Wahldistrikte für die Virginia General Assembly nur Weiße berücksichtigt wissen, da sich von den 750.000 Sklaven nur 50.000 in ihrem Gebiet befanden. Außerdem forderten sie eine Lockerung des Zensuswahlrechts, da es die östlichen Countys mit ihren großen Plantagen bevorteilte. Die östliche Pflanzeraristokratie hingegen fürchtete um die Zukunft der Sklaverei, wenn der Westen Virginias zu viel politischen Einfluss entfaltete. Obwohl Monroe sich für einen Kompromiss aussprach und somit zwischen alle Stühle setzte, wurde er wegen seines hohen Ansehens als Ex-Präsident im Loudon County als Delegierter für die Versammlung gewählt. Als Elder statesmen übernahm er den Vorsitz der im Virginia State Capitol tagenden Virginia Convention, nachdem Marschall und Madison abgesagt hatten. Mit Madison schlug er auf der Versammlung erfolglos einen Kompromiss vor, der für das Abgeordnetenhaus von Virginia die vom Westen geforderte Reform der Repräsentation vorsah, während im Senat von Virginia die Wahldistrikte bei der Bemessung weiterhin die Anzahl der Sklaven berücksichtigten. Noch vor Ende der Virginia Convention musste sie Monroe aus gesundheitlichen Gründen Anfang Dezember 1829 verlassen.Kurz vor seinem Tod trafen Monroe schwere Schicksalsschläge in der Familie, als am 21. September 1830 sein Schwiegersohn und enger Berater Hay und nur zwei Tage später seine Ehefrau Elizabeth starben. Schwer getroffen musste Monroe danach in Pflege genommen werden und zog mit Tochter Eliza Hay zu seiner jüngeren Tochter Maria Hester nach New York City. Dort wurde die materielle Not schließlich so groß, dass er sich dazu gezwungen sah, Oak Hill zu verkaufen. Am 4. Juli 1831, dem Unabhängigkeitstag, starb Monroe in New York City.Monroe wurde drei Tage später auf dem New York Marble Cemetery bestattet. Präsident Jackson ordnete einen landesweiten Trauertag an. Die Bevölkerung war von Monroes Tod ergriffen, weniger wegen seiner Leistungen als Präsident, sondern weil mit ihm einer der letzten prominenten Gründerväter gestorben war. Auf ein entsprechendes Angebot des Gouverneurs von New York hin, das etwa um 1856 erfolgte, stimmten der virginische Gouverneur Henry A. Wise und die Virginia General Assembly einer Überführung von Monroes sterblichen Überresten in seinen Heimatstaat zu. Er wurde in Richmond auf dem Hollywood Cemetery in einem gusseisernem Grabmal beigesetzt, das 1859 fertiggestellt wurde. Bei der Zeremonie waren die Gouverneure von Virginia und New York zugegen und beschworen in ihren Grabreden die Einheit der amerikanischen Union.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung und Persönlichkeit ===
Eine kritische Gesamtausgabe der Schriften Monroes existiert bisher noch nicht. Seit 2003 wird von Daniel Preston eine Quellensammlung herausgegeben, die insgesamt zehn Bände umfassen soll. Das Projekt trägt den Titel The Papers of James Monroe und ist an der University of Mary Washington beheimatet. Als ausgewogenste Biographie zu Monroe gilt nach wie vor James Monroe: The Quest for National Identity (1971) von Harry Ammon. Werke neueren Datums, die Wellenreuther als relevant anführt, sind The Presidency of James Monroe (1996) von Noble E. Cunningham und James Monroe (2005) von Gary Hart.In den traditionellen Kurzbiographien wird Monroe üblicherweise als weniger schillernd und vermutlich intelligent wie die anderen Präsidenten der Virginia-Dynastie beschrieben, die neben ihm aus Washington, Jefferson und Madison bestand. Als sein Verdienst in diesem herkömmlichen Geschichtsverständnis wird die Monroe-Doktrin hervorgehoben, wobei allerdings Adams als deren eigentlicher Autor angesehen wird. Hart kommt in seiner Biographie zu dem Urteil, dass Monroe eine wesentlich stärkere und unabhängige Persönlichkeit gewesen sei, als allgemein angenommen werde. Er sei, mit Ausnahme Washingtons, der erste Präsident gewesen, dessen Hauptmotiv während der gesamten politischen Laufbahn die nationale Sicherheit gewesen sei. Monroes Verteidigungspolitik und das Schaffen einer stringenten außenpolitischen Orientierung mittels der Prinzipien von 1823 habe den Grundstein für die Dominanz der Vereinigten Staaten auf dem Doppelkontinent Amerika und eine aktivere Rolle in der Weltpolitik gelegt. Als erster Präsident habe er die nationale Sicherheit nicht nur aus atlantischer Perspektive, sondern auch aus pazifischer betrachtet und definiert. Laut Hart zählt Monroe nicht zu den großen Präsidenten, aber seine Amtszeit sei historisch bedeutsam und ebenso folgenreich wie die der Amtsvorgänger Jefferson und Madison gewesen.Den Erfolg bei den eigentlich konkurrierenden Zielen nationale Sicherheit und Expansion verdankte Monroe diplomatischen Größen wie Adams, der weniger polarisierten Innenpolitik in der Era of Good Feelings zum Ende des First Party Systems und dem Missouri-Kompromiss. Der Kompromiss ermöglichte die Aufnahme von fünf neuen Bundesstaaten in die Union, so dass sie zum Ende von Monroes Amtszeit aus 25 Bundesstaaten bestand. Der Missouri-Kompromiss, den Monroe als die größte Krise seiner Amtszeit erlebte, überbrückte die Spaltung des Landes in der Sklavenfrage nur notdürftig, hielt die amerikanische Union aber für die nächsten knapp 40 Jahre zusammen.Viele Historiker und Biographen weisen darauf hin, dass Monroes Interesse für Diplomatie und auswärtige Angelegenheiten besser dokumentiert sei als das für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Laut Hart hängt dies damit zusammen, dass das meiste, was über Monroes Regierung bekannt sei, aus den Aufzeichnungen der Kabinettsmitglieder stamme und diejenigen des Außenministers Adams detaillierter und umfassender seien als die des Kriegsministers Calhoun. Monroe sei ein zupackender Präsident gewesen, der seine Exekutivgewalt ausgenutzt habe, wobei er Calhoun mehr Spielräume zugestand als Adams. Nach Monroes Präsidentschaft, der letzten eines Veteranen aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, sei es immer schwieriger geworden, zwischen Außen- und nationaler Sicherheitspolitik zu differenzieren.Monroe wurde politisch von drei bedeutenden Zeitgenossen geprägt: Washington, Jefferson und Madison. Vor allem Jefferson und Madison als unmittelbare Amtsvorgänger warfen einen langen Schatten auf Monroes Präsidentschaft. Als Rhetoriker und politischer Theoretiker weniger begabt und belesen als diese beiden, war er aufgrund des rechtswissenschaftlichen Unterrichts bei George Wythe trotzdem zu einem gewissen Grade mit den Klassikern vertraut. Reflektiert genug, um Madisons und Jeffersons Geistesgröße im Vergleich zu seinem Talent zu erkennen, ließ er sich dennoch nicht im politischen Geschäft an die Seite drängen, sondern entwickelte in seiner Ämterlaufbahn großen Ehrgeiz. Während das Verhältnis zu Washington schwierig war und kein gutes Ende nahm, blieb Jefferson für Monroe lebenslang ein freundschaftlicher Ratgeber und Mentor. Mit Madison pflegte er eine gleichberechtigte politische Partnerschaft, die phasenweise von Spannungen überlagert wurde, ohne ihre Freundschaft zu trüben. Als Gesamtpersönlichkeit war Monroe stark durch seine virginischen Wurzeln geprägt.Wie Washington und später Jackson war Monroe als Diplomat und Politiker durch seinen militärischen Werdegang geprägt. Er betrachtete die Zukunft der jungen Republik daher vor allem aus einer verteidigungs- und sicherheitspolitischen Perspektive. Er war ein Mann der Tat mit Führungsinstinkt, eher reserviert und formell, womit er Washington ähnelte. Wie dieser war er praktischer orientiert als John Adams, Jefferson und Benjamin Franklin, weshalb er nie deren diplomatisches Format erreichte. Andererseits ging Monroe dadurch die strikte Einteilung in eine westliche, republikanisch verfasste und eine östliche, monarchisch geprägte Hemisphäre leichter von der Hand. Während Jefferson das republikanische Ideal durch Reden im Bewusstsein der Amerikaner verankerte, machte Monroe daraus das offizielle Staatsprinzip. Als Pragmatiker hatte er ein feineres Gespür für aktuelle politische Strömungen als Jefferson und Madison. Dennoch war er im Unterschied zu Jefferson nicht aktiv um den Aufbau einer politischen Gefolgschaft bemüht, sondern sah den Politiker als jemanden, der zum Dienste an der Gesellschaft berufen wird, ohne sich aufzudrängen.Monroe legte größten Wert auf persönliche Ehre, Würde und Respekt, was zugleich seine bedeutendste menschliche Schwäche war. Wenn er kritisiert oder ihm Anerkennung versagt wurde, sah er darin eine persönliche Herausforderung, die Intellekt, Sachverstand oder Aufrichtigkeit seines Charakters in Frage stellte. In solchen Fällen gelang es ihm nicht, darüber einfach hinwegzugehen, sondern er musste sich zwanghaft verteidigen, auch wenn er damit Freundschaften und lange bestehende Bekanntschaften gefährdete.Monroe erkannte als erster Präsident das Paradox, in dem das Amerika der Gründerväter gefangen war: Der klassische Republikanismus der griechischen Polis, die von Bürgersoldaten verteidigt wurde, fand Anwendung auf ein vielfach größeres Staatsgebilde. An Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, orientiert, lösten sie diesen Widerspruch, indem sie eine Föderation von Republiken schufen. Mit der Expansion war dieses Fundament nicht mehr zu halten, weshalb Monroe mit diesem Prinzip brach, obwohl er selbst ein strammer und überzeugter Parteisoldat war. Er schuf einen neuen Republikanismus, der nationale Sicherheit, die durch eine reguläre Armee gewährleistet wurde, an oberste Stelle setze. Monroe legte so die Basis für die großen professionalisierten Streitkräfte, die das 20. Jahrhundert kennzeichneten. Monroes Fähigkeit, programmatische Inhalte des politischen Gegners zu übernehmen und so dauerhafte breite Mehrheiten zu schaffen, sieht Hart als beispielgebend für zukünftige Präsidenten wie zum Beispiel Franklin D. Roosevelt an. Trotzdem war Monroe insgesamt den klassischen republikanischen Idealen sehr stark verbunden, was das tiefe Misstrauen gegenüber den Handlungsmotiven von John Adams und Hamilton, aber auch die Begeisterung für die Französische Revolution begründete, in der er tendenziell eine Fortsetzung der Amerikanischen Revolution sah.Die Zusammenarbeit von Monroe mit Adams war äußerst fruchtbar, sodass es schwerfällt, die Leistungen des einen von denen des anderen zu trennen. Laut Ammon war der Grundpfeiler von Monroes Außenpolitik, Amerika den einer unabhängigen Republik gebührenden Respekt und Anerkennung zu verschaffen und der Schlüsselbegriff dabei Ehre. Seine Präsidentschaft ist eine von ungefähr einem halben Dutzend, die Amerikas Selbstverständnis und seine Rolle in der Welt nachhaltig bestimmten. Wellenreuther sieht die Errungenschaften in der Außenpolitik als wesentliche Leistung Präsident Monroes. Deren konkrete Umsetzung habe zwar Adams erreicht, aber der Präsident habe dafür die nötigen Voraussetzungen geschaffen.Die Präsidentschaft Monroes lag in einer außergewöhnlichen Transformationsphase: Die von den Gründervätern dominierte alte Ordnung war im Verschwinden begriffen, während Amerika gleichzeitig seine Beziehungen zu den europäischen Mächten zu stabilisieren versuchte. Die Grenzdispute in Nordamerika konnten in dieser Zeit bis auf den britischen in Kanada beseitigt werden. Innenpolitisch verschärfte der Beitritt Missouris zu den Vereinigten Staaten die Sklavenfrage, während sich gleichzeitig die Expansion nach Westen intensivierte. Hart vergleicht diese Entwicklung, die einen reiferen Umgang mit sicherheitspolitischen Fragen notwendig machte, mit dem Eintritt eines Jugendlichen in das junge Erwachsenenalter. Monroe lässt sich der ersten Phase der amerikanischen Präsidenten zuordnen. Zu dieser Zeit wurden die Amtsinhaber ideologisch durch Werke aus der klassischen Antike und der Renaissance sowie englische Staatstheoretiker aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert geprägt, wobei insbesondere die Schrift Idea of a Patriot King von Henry St. John, 1. Viscount Bolingbroke, am meisten Wirkung hatte. Das Konzept eines „patriotischen Königs“, der über selbständige und tugendhafte Landbesitzer regiert, denen Parteienhader und Interessensgegensätze fremd sind, übte insbesondere auf die Pflanzer und Sklavenhalter der Südstaaten, denen die Virginia-Dynastie entstammte, eine große Anziehung aus. Dieses traditionelle Bewusstsein geriet zunehmend in ein Spannungsverhältnis mit dem Fortschritt, der sich in kommerziellem Gewinnstreben, Individualismus und wirtschaftlichem Aufstieg äußerte. Als Präsidenten versuchten Jefferson, Madison und Monroe, das Amt möglichst unpolitisch auszuüben, auch wenn sie zuvor am Parteienstreit zwischen Föderalisten und Republikanern maßgeblich beteiligt waren. Ihr Ziel, Parteien letztendlich überflüssig zu machen, schien Monroe nach dem Niedergang der Föderalisten fast erreicht zu haben, doch die gesellschaftliche Wirklichkeit holte dieses traditionelle Denken ein. Bereits unter Monroes Nachfolger brachen innerhalb der Republikaner unversöhnliche Gegensätze auf, welche Präsident Adams zu einer politischen Randfigur machten und zu seiner Niederlage gegen Jackson führten.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Im Jahr 1824 benannte die American Colonization Society ihre zwei Jahre zuvor nahe Kap Mesurado gegründete Siedlung nach Monroe, die als Monrovia Hauptstadt Liberias wurde. 17 Countys in den Vereinigten Staaten sowie das Fort Monroe National Monument tragen seinen Namen. Auf dem Campus der University of Virginia ist ihm die Monroe Hall gewidmet. In Fredericksburg, Virginia, hat das Haus, in dem Monroe von 1786 bis 1790 eine Anwaltskanzlei betrieb, als James Monroe Law Office den Status einer National Historic Landmark. Gleiches gilt für seine Grabstätte, die James Monroe Tomb, in Richmond und sein Gutshaus Oak Hill. Das Anwesen Highland, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu Monticello liegt und von Monroe und seiner Familie bis 1830 immer wieder zwischen längeren Phasen der Abwesenheit bewohnt wurde, ist als Baudenkmal im National Register of Historic Places (NRHP) verzeichnet. Die Überreste des Geburtshauses Monroes sind als archäologische Fundstätte unter der Bezeichnung James Monroe Family Home Site ebenfalls im NRHP eingetragen.Die 2007 gestartete Serie der Präsidentendollars prägte im Jahr 2008 Münzen mit den Porträts von Monroe, Adams, Jackson und Martin Van Buren.
=== Filme ===
Life Portrait of James Monroe auf C-SPAN, 12. April 1999, 145 Min. (Dokumentation und Diskussion mit Daniel Preston und John Pearce)
== Werke ==
=== Zu Lebzeiten veröffentlicht ===
A view of the conduct of the executive in the foreign affairs of the United States, connected with the mission to the French Republic, during the years 1794, 5, & 6 (1797). LCCN 04-019613.
An examination of the British doctrine which subjects to capture a neutral trade not open in time of peace (1806). LCCN 10-017355.
=== Werkausgaben ===
Daniel Preston (Hrsg.): The Papers of James Monroe. Bisher sechs Ausgaben. ABC-CLIO, Santa Barbara 2003-
== Literatur ==
Stuart Leibiger (Hrsg.): A Companion to James Madison and James Monroe. Wiley-Blackwell, Chichester 2013, ISBN 978-0-470-65522-1, S. 324–540.
Hermann Wellenreuther: James Monroe: Die Selbstfindung der Nation. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 96–105.
Harlow Giles Unger: The Last Founding Father: James Monroe and a Nation’s Call to Greatness. Da Capo, Cambridge 2009, ISBN 978-0-306-81808-0.
Gary Hart: James Monroe (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 5th President). Times Books, New York City 2005, ISBN 0-8050-6960-7.
Daniel Preston: James Monroe. In Melvin I. Urofsky (Hrsg.): The American Presidents: Critical Essays. Taylor & Francis, New York 2005, ISBN 0-203-00880-4, S. 72–85.
Noble E. Cunningham: The Presidency of James Monroe. University Press of Kansas, Lawrence 1996, ISBN 978-0-7006-0728-0.
Harry Ammon: James Monroe: A Bibliography. Meckler, Westport 1991, ISBN 0-313-28163-7.
Harry Ammon: James Monroe: The Quest for National Identity. Taschenbuchausgabe. University Press of Virginia, Charlottesville 1990, ISBN 0-8139-1266-0.
== Weblinks ==
Biografie auf der Website des Weißen Hauses (Memento vom 17. Januar 2009 im Internet Archive) (englisch)
James Monroe in der Notable Names Database (englisch)
James Monroe: A Resource Guide, Library of Congress (englisch)
James Monroe im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
American President: James Monroe (1758–1831), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Daniel Preston)
James Monroe in der Datenbank der National Governors Association (englisch)
The Papers of James Monroe, Projekt zur Quellensammlung an der University of Mary Washington, (englisch, Herausgeber: Daniel Preston)
The James Monroe Museum im James Monroe Law Office, Fredericksburg (englisch)
The American Presidency Project: James Monroe. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
James Monroe in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/James_Monroe |
Nashörner | = Nashörner =
Die Nashörner (Rhinocerotidae) oder auch Rhinozerosse bilden eine Familie der Unpaarhufer (Perissodactyla) mit heute noch fünf lebenden Arten. Sie sind charakterisiert durch einen kräftigen Körper und kurze Gliedmaßen mit drei Zehen sowie einen großen Kopf, der bei allen heute lebenden Vertretern eine markante Bildung, bestehend aus einem oder zwei – für die Familie namensgebenden – Hörnern, trägt. Die Familie stellt eine der vielfältigsten und erfolgreichsten in der Geschichte der Säugetiere dar und war während ihrer vor nahezu 50 Millionen Jahren beginnenden Entwicklungsgeschichte über weite Teile Eurasiens, Afrikas und Nordamerikas verbreitet. Ihr Niedergang begann Ende des Miozäns vor rund 6 bis 5 Millionen Jahren in Verbindung mit klimatischen und damit einhergehenden Landschaftsveränderungen, die zum Aussterben der nordamerikanischen sowie zahlreicher weiterer Nashornvertreter im ursprünglichen Verbreitungsgebiet führten. Gegen Ende des Pleistozäns gab es eine erneute Aussterbephase, während der alle nordeurasischen Vertreter verschwanden. Überlebt haben die heute noch bestehenden Nashornarten Breitmaul- und Spitzmaulnashorn in Afrika südlich der Sahara sowie Panzer-, Java- und Sumatra-Nashorn im süd- bis südöstlichen Asien, die teilweise in ihrem Bestand durch Vernichtung ihres Lebensraumes und Wilderei abermals stark geschrumpft sind.
== Merkmale ==
Nashörner sind große bis sehr große Säugetiere. Sie weisen bei den heute lebenden Vertretern eine Kopf-Rumpf-Länge zwischen 2,5 und 3,8 m auf (zuzüglich eines 40 bis 60 cm langen Schwanzes) bei Schulterhöhen variierend von 1,2 bis 1,8 m und einem Körpergewicht schwankend zwischen 500 und 3.600 kg. Die größte heute lebende Nashornart ist das Breitmaulnashorn (Ceratotherium simum). Fossil traten aber noch deutlich größere Arten auf. So erreichten einige Vertreter von Elasmotherium und Brachypotherium jeweils mehr als 5.000 kg Körpergewicht.Allgemein haben Nashörner einen massigen Körper mit großem Kopf und kurzen, kräftigen Beinen. Jeder Fuß hat drei Zehen, die jeweils in breiten Hufen enden. Die Haut ist dick und grau oder braun gefärbt. Bei den asiatischen Arten ist die Haut am Ansatz des Halses und der Beine stark gefaltet, so dass es aussieht, als seien die Tiere gepanzert. Die meisten heutigen Nashörner sind unbehaart mit Ausnahmen der Ohrspitzen und Schwanzenden. Allerdings weist das Sumatra-Nashorn (Dicerorhinus sumatrensis) noch teilweise ein recht dichtes Haarkleid auf. Beim fossilen Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis) ist ein sehr dichtes Fell durch im Permafrost Sibiriens erhaltene Kadaver nachgewiesen, für andere ausgestorbene Nashornarten wird es teils angenommen. Darüber hinaus haben Nashörner ein geringes Sehvermögen, doch wird dieser Nachteil durch einen ausgeprägten Geruchssinn und ein sehr gutes Gehör ausgeglichen.
=== Schädel- und Gebissmerkmale ===
Nashörner haben einen sehr großen Schädel, der gewöhnlich recht lang gestreckt und am Hinterhauptsbein aufgerichtet ist. Das Nasenbein ist häufig massiv und deutlich nach vorn gewölbt und ragt über den Zwischenkieferknochen. An den Stellen, wo die Hörner ansetzen, befinden sich auf den Knochenoberflächen deutliche, meist perl- oder blumenkohlförmig aufgeraute Strukturen. Die Gehirnkapsel ist verhältnismäßig klein.Das Gebiss ist sehr unterschiedlich aufgebaut, bei den heutigen Nashörnern aber generell reduziert. Bei den afrikanischen Nashörnern fehlt das gesamte vordere Gebiss bestehend aus Schneidezähnen und Eckzahn. Die asiatischen Nashornarten hingegen besitzen noch ein oder zwei Paare an Schneidezähnen je untere und obere Gebisshälfte. Hierbei haben die innersten oberen Schneidezähne (I1) eine meißelartige Gestalt, die jeweils zweiten unteren (i2) erinnern an Hauer oder kleine Stoßzähne. Dies wird als „Meißel-Stoßzahn“-Komplex bezeichnet. Er findet sich auch bei zahlreichen ausgestorbenen Vertretern und dient zur Unterscheidung der Nashörner von ihren stammesgeschichtlich nächsten Verwandten. Die Molaren weisen wie bei allen Unpaarhufern zwei aus Zahnschmelz gebildete Querleisten auf der Kaufläche (bilophodont) auf. Als generelles Kennzeichen verläuft der Zahnschmelz auf den Kauflächen der vorderen beiden Oberkiefermolare charakteristisch „π“-förmig, während dieser auf den Unterkiefermolaren „L“-förmig gestaltet ist. Dieses Merkmal gilt auch für alle fossilen Nashörner und für deren unmittelbar nächsten Verwandten, so dass dieses sich schon vor etwa 50 Millionen Jahren herausgebildet hatte. Abhängig von der Ernährungsweise können die hinteren Backenzähne nieder- oder hochkronig (brachyodont oder hypsodont) ausgebildet sein. Die Prämolaren sind bei den rezenten Arten weitgehend molarisiert, das heißt, sie unterscheiden sich nur wenig von den Molaren. Je nach stammesgeschichtlicher Entwicklung gibt es jedoch unterschiedliche Grade der Molarisierung der Prämolaren bei den einzelnen fossilen Arten. Urtümliche Nashörner besaßen noch die vollständige Gebissformel bestehend aus drei Schneidezähnen, einem Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren je Kieferast; das am stärksten reduzierte Gebiss wurde bei Elasmotherium mit nur zwei Prämolaren und drei Molaren je Kieferast nachgewiesen. Zusätzlich wiesen die Backenzähne dieser Nashorngattung die höchsten Zahnkronen innerhalb der gesamten Ordnung der Unpaarhufer auf, und sie werden in diesem Merkmal nur von einigen Vertretern der Nagetiere übertroffen. Die Reduktion der Zahnanzahl begann sehr früh in der Stammesgeschichte der Nashörner. In der Regel bildete sich zuerst der untere Eckzahn zurück, gefolgt vom äußersten unteren und oberen Schneidezahn sowie vom oberen Eckzahn.
=== Hörner ===
Ein wesentliches, optisch markantes und namensgebendes Merkmal der Nashörner sind die Hörner. Bei den rezenten Vertretern gibt es je nach Art ein Horn oder zwei Hörner. So besitzen das asiatische Panzer- (Rhinoceros unicornis) und das Java-Nashorn (Rhinoceros sondaicus) nur ein vorderes Horn (Nasalhorn), welches dem Nasenbein entwächst. Die afrikanischen Nashornarten Breitmaul- und Spitzmaulnashorn (Diceros bicornis) und das asiatische Sumatra-Nashorn haben dagegen zwei Hörner, wobei das Nasalhorn ebenfalls auf der Nase sitzt, das hintere (Frontalhorn) aber auf dem Stirnbein wächst. Bei ausgestorbenen Nashornarten können die Hörner meist nur anhand der Ansatzstellen am Schädel nachgewiesen werden. So trugen zum Beispiel Vertreter der Gattung Elasmotherium nur ein Horn auf der Stirn, während jene von Diceratherium zwei Nasalhörner hatten und ebensolche von Aceratherium wohl gar keine besaßen.Das Horn besteht aus agglutiniertem Keratin, einem fibrillären Protein, das auch in Haaren vorkommt, und enthält trotz seiner Festigkeit weder Knochensubstanz noch, wie stellenweise irrtümlich behauptet wird, Elfenbein. Es setzt sich zusammen aus zahlreichen langen fadenförmigen Strängen, Hornsäulchen oder Filamente genannt, deren Zwischenräume mit Hornsubstanz verfestigt sind. Diese Fäden verlaufen durch die gesamte Hornlänge, verjüngen sich aber nach oben hin deutlich. Der Kern des Hornes ist deutlich fester ausgebildet und meist schwarz gefärbt, nach außen hin wird es deutlich faseriger und nimmt eine hellgraue Farbe an. Fossiles Horn ist bisher nur vom Wollnashorn überliefert, weist aber prinzipiell den gleichen Aufbau auf wie rezentes. Das Horn nutzt sich mit der Zeit durch Reiben am Untergrund oder an Steinen kontinuierlich ab, beim Kampf mit Artgenossen oder infolge traumatischer Erlebnisse kann es auch abbrechen, wächst aber das gesamte Leben lang nach. Das bisher größte bekannte Horn hat 1,58 m über die vordere Krümmung gemessen.
=== Innere Organe ===
Wie alle Unpaarhufer sind Nashörner gute Enddarmfermentierer, so dass die Verdauung weitgehend im Darm erfolgt. Der Magen erreicht eine Länge von 120 cm. Der Blinddarm ist zwischen 60 und 90 cm lang, der Grimmdarm 5 bis 8 m, der gesamte Darmtrakt kann bis über 20 m lang werden. Zum Abbau unverdaulicher Pflanzenteile dienen im hintersten Teil des Darms Mikroorganismen. Das Herz wiegt bis zu 5 kg. Die männlichen Tiere besitzen keinen Hodensack; die Hoden liegen im Leibesinneren.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Nashörner leben heute in Afrika südlich der Sahara und in Süd- bzw. Südostasien sowohl in Savannenlandschaften als auch in Tropischen Regenwäldern in Hoch- oder Tiefländern. Die ursprüngliche Verbreitung war aber wesentlich weiter. Die stammesgeschichtlich ältesten Arten lassen sich im Mittleren Eozän vor rund 50 Millionen Jahren in Eurasien und Nordamerika nachweisen. Afrika erreichten die Nashörner erstmals mit der Schließung des Tethys-Ozeans und der Schaffung einer Landbrücke im frühen Miozän vor etwa 20 Millionen Jahren. Am Ende des Miozäns und zum Übergang zum Pliozän vor 4 Millionen Jahren starben die Nashörner aufgrund von Klimaänderungen in Nordamerika aus.Während des Pleistozäns mit seinem stark schwankenden Klima waren Nashörner auch im hohen Norden Eurasiens verbreitet und lebten in subarktischen Tundrenlandschaften. Am Ende der letzten Eiszeit verschwanden die Nashörner aus Nordasien und Europa. Im Laufe ihrer Stammesgeschichte hatten die unterschiedlichen Nashornarten nahezu alle für große, terrestrisch lebende Säugetiere erreichbaren ökologischen Nischen besetzt.
== Lebensweise ==
=== Sozialverhalten, Fortpflanzung und Entwicklung ===
Nashörner leben häufig als Einzelgänger, die aber in Savannen auch in kleinen, matriarchalisch organisierten Herden auftreten können. Bullen sind meistens Einzelgänger und leben territorial. Die einzelnen Tiere bewohnen dabei eng definierte Reviere, die mit Urin und Kot markiert werden, ebenso wie die häufig begangenen Wege. Am Tage schlafen Nashörner oder halten sich an Suhlplätzen auf, aktiv fressend sieht man sie in der Dämmerung und nachts. Sie sind scheue Tiere, die menschliche Nähe meiden. Berichte über die Angriffslust der Tiere sind in der Regel stark übertrieben. Die Angriffe sind, wenn es dazu kommt, kaum zielgerichtet, können aber durch die Hörner, die vorderen Zähne sowie die Kraft und Masse des Tieres mit tödlichen Verletzungen enden. Ein Nashorn läuft überdies bis zu 45 km/h (12,5 m/s) schnell und übertrifft damit knapp menschliche Spitzensportler. Dabei kann es abrupt die Richtung wechseln. Zudem sind bei Kämpfen zwei unterschiedliche Strategien zu beobachten. Die asiatischen Nashornarten, die alle über eine vordere Bezahnung verfügen, nutzen ihre meist kleinen Hörner nur selten bei Kämpfen, die dann hochritualisiert in Horngefechten ausgetragen werden. Als eigentliche Waffen dienen die dolchartigen Schneidezähne des Unterkiefers, mit denen sie gefährliche und tiefe Wunden reißen. Die afrikanischen Nashornarten, die kein Vordergebiss aufweisen, setzen ihre häufig wesentlich längeren Hörner – vor allem das Nasalhorn – neben Drohgebärden auch aktiv als Waffe zur Selbst-, Revier-, aber auch zur Futterverteidigung ein, um damit den Gegner mittels Aufspießens zu schwächen.Während der Brunftzeit einer Kuh kann es zu Kämpfen unter den Bullen kommen, wobei der Sieger in auffallender Weise um das weibliche Tier wirbt. Dies erfolgt durch gegenseitiges Jagen oder Scheingefechte, anschließend kommt es zur Kopulation. Nach einer Tragzeit von 15 bis 18 Monaten wird ein Junges geboren, das zweieinhalb bis drei Jahre bei der Mutter bleiben kann. Kommt ein zweites Jungtier zur Welt, so wird das ältere zumindest für die Zeit des Säugens von der Mutter verjagt. Die Lebenserwartung heutiger Nashörner liegt zwischen 30 und maximal 50 Jahren. Die Altersbestimmung fossiler Arten erfolgt überwiegend im Vergleich zum Breitmaulnashorn und beruht auf anatomischen Merkmalen wie Zahndurchbruch, Abkauungsgrad der einzelnen Zähne oder Verwachsungsstadien bestimmter Knochennähte. Allgemein hängt die Lebenserwartung bei Säugetieren eng mit dem Körpergewicht der erwachsenen Tiere zusammen, bei ausgestorbenen Nashörnern, die ähnlich groß waren wie die heutigen, lag sie wahrscheinlich in einem gleichwertigen Rahmen. Genauere Analysen zu einzelnen fossilen Populationen liegen aber nur selten vor, für pleistozäne Vertreter betrifft dies weitgehend das Wollnashorn (Coelodonta antiquitatis), bei älteren Formen sind solche für die eher häufig auftretenden Gattungen wie Teleoceras oder Chilotherium aus dem Miozän bekannt.
Die heute lebenden, weitgehend offene Landschaften bewohnenden Nashornarten, wie die afrikanischen Nashörner und das Panzernashorn, werden oft von Vögeln wie Madenhackern oder Kuhreihern begleitet, die auf ihrer Haut sitzen und sie von Parasiten reinigen. Die Alarmrufe der Madenhacker warnen die Tiere außerdem vor Gefahren oder Störungen, einschließlich des Menschen, in Distanzen von 27 bis 61 m. Dabei vermag ein Tier bei höherer Anzahl an Madenhackern die potentielle Störung in größerer Entfernung zu orten, die Rufe geben aber keine Auskunft über die Richtung. Dies ermitteln die Nashörner über den Geruchssinn. Bei den überwiegend im tropischen Regenwald lebenden Java- und Sumatra-Nashorn wurde dies bisher nicht beobachtet, was mit ihrer Lebensweise in geschlossenen Landschaftsgebieten zusammenhängt. Jungtiere können in einzelnen Fällen von Großkatzen und Hyänen, gelegentlich auch von Wildhunden erbeutet werden, ausgewachsene Nashörner haben außer dem Menschen keine natürlichen Feinde. Auch ein Großteil der fossilen Vertreter hatte eher selten Konfrontationen mit Beutegreifern zu fürchten, gelegentlich treten aber Bisswunden bei heute ausgestorbenen Vertretern auf, die teilweise von sehr großen Raubtieren verursacht wurden.
=== Ernährung ===
Alle Nashörner ernähren sich ausschließlich von Pflanzenkost und sind an diese Ernährungsweise mit breiten Backenzähnen angepasst. Dabei haben sich die Arten aber auf unterschiedliche Pflanzennahrung spezialisiert. Vier der fünf heute lebenden Nashornarten bevorzugen weiche Pflanzenkost, wie Blätter, Äste, Zweige, Knospen und Früchte (browsing). Die Backenzähne dieser Arten weisen meist niedrige Zahnkronen und weniger Zahnzement auf. Außerdem besitzen diese Nashornarten aufgrund der hohen Kopfhaltung ein eher rechtwinkliges kurzes Hinterhauptsbein. Das Panzernashorn (Rhinoceros unicornis) ernährt sich aber auch zum Teil von Gräsern, besitzt aber wie die anderen, Blattnahrung zu sich nehmenden Nashornarten eine spitze, bewegliche Oberlippe. Das Breitmaulnashorn ist die einzige rezente, vollständig an Grasnahrung angepasste Nashornart (grazing). Da Gräser Kieselsäure enthalten, die sehr hart ist, haben sich bei ihm aufgrund des hohen Abriebs beim Kauen Zähne mit hohen Zahnkronen und einem hohen Zahnzementanteil ausgebildet. Die dauerhafte niedrige Kopfhaltung während der Nahrungsaufnahme führte evolutiv zur Verlängerung des Hinterhauptes und damit zu einer tiefen Kopfhaltung und Ausbildung eines Nackenbuckels. Des Weiteren besitzt das Breitmaulnashorn namengebende breite wulstige Lippen.Ein Großteil der fossilen Nashörner war aufgrund ihrer Anatomie auf weiche Pflanzennahrung spezialisiert. Dennoch kam es immer wieder während der Stammesgeschichte infolge von Klima- und damit verbundenen Landschaftsveränderungen innerhalb der verschiedenen Nashornlinien unabhängig voneinander (konvergente Evolution) zur Spezialisierung auf Grasnahrung. Bei den moderneren Nashörnern der Gruppe der Rhinocerotinae war dies mit Veränderungen der Schädelanatomie, unter anderem mit der Verlängerung des Hinterhauptsbeines und einem daraus resultierenden, tief hängenden Kopf, verbunden. Dies geschah vor allem gegen Ende des Miozäns und während des Plio- und des Pleistozäns. Neben dem heute lebenden Breitmaulnashorn sind die bekanntesten fossilen grasfressenden Vertreter das Wollnashorn, das Steppennashorn (Stephanorhinus hemitoechus) und die verschiedenen Mitglieder der Gattung Elasmotherium. Zumindest beim Wollnashorn ist durch die fossil erhaltenen Eismumien eine dem Breitmaulnashorn ähnlich geformte Maulpartie nachgewiesen. Ein weiteres Anpassungsmodell an Grasnahrung ist bei stammesgeschichtlich älteren Linien, wie den Aceratheriinae feststellbar. Hier erfolgte eine Kürzung der Gliedmaßen, die eine niedrige Körper- und Kopflage verursachte. Diese Nashornvertreter konnten mit nur einer leichten Senkung des Kopfes den Boden erreichen, eine Verlängerung des Hinterhauptsbeines fand nicht statt, so dass der Schädel überwiegend horizontal getragen wurde. Bekannte Gattungen hierbei sind Chilotherium und Teleoceras aus dem späten Miozän. Beide Entwicklungsmodelle zeichnen sich aber durch die Erhöhung der Zahnkronen aus, um einem verstärkten Abrieb durch die harte Grasnahrung entgegenzuwirken.
== Systematik ==
=== Äußere Systematik ===
Die nächsten heute lebenden Verwandten der Nashörner sind die Pferde und Tapire. Die Trennung von den Tapiren erfolgte dabei vor etwa 47 bis 57 Millionen Jahren, die Pferde hatten sich bereits vor 56 bis 60 Millionen Jahren abgespalten. Dabei bilden die Nashörner einen Teil der Überfamilie Rhinocerotoidea (Nashornartige). Zu dieser gehören in einer klassischen Auffassung zwei weitere, ausgestorbene Familien: die Amynodontidae und die Hyracodontidae, wobei letztere zusammen mit den Nashörnern eine enger verwandte Gruppe bilden, die sich durch eine im Vergleich zum Schädel längere Backenzahnreihe und in einzelnen Zahnmerkmalen von den Amynodontidae abheben. Unterschiede finden sich vor allem im vorderen Gebissaufbau. So weisen die Nashörner eine typische „Meißel-Stoßzahn“-Bildung der oberen und unteren Schneidezähne auf, die Amynodontidae haben vergrößerte Eckzähne und kleine Schneidezähne, während die Hyracodontidae ein vielfältigeres Muster zeigen. Die Amynodontidae bestanden vom Mittleren Eozän bis zum Mittleren Miozän und traten in Eurasien und Nordamerika auf. Vertreter dieser Nashornartigen waren teilweise so groß wie heutige Nashörner, trugen aber kein Horn. Sie lebten halb-aquatisch und ernährten sich wahrscheinlich von Wasserpflanzen. Die Hyracodontidae, welche ebenfalls vom Mittleren Eozän bis zum Unteren Miozän vorkamen, zeigen in dieser Definition eine hohe Variabilität, die sich in drei bestehenden Unterfamilien ausdrückt. Dazu gehören die relativ kleinen Hyracodontinae, die Allaceropinae und die großen Indricotheriinae. Letztere stellten mit Paraceratherium (auch unter den Synonymen Baluchitherium und Indricotherium bekannt) das größte bekannte Landsäugetier der Erdgeschichte. Es war langhalsig und hornlos und kam hauptsächlich im Oligozän in Asien vor. Neuere Untersuchungen fassen die Hyracodontidae als nicht einheitliche Gruppe auf. Sie werden daher in die Hyracodontidae im engeren Sinne, in die Eggysodontidae (etwa den Allaceropinae entsprechend) und in die Indricotheriidae (= Paraceratheriidae) aufgespalten. Letztere beiden stehen den Nashörnern mit ihrem spezialisierteren Vordergebiss deutlich näher als die klassischen Hyracodontidae mit ihren eher generalisierten Schneide- und Eckzähnen. Allerdings bilden vermutlich auch die Indricotheriidae keine in sich geschlossene Gruppe, so dass in einer Auffassung aus dem Jahr 2020 diese in die riesenhaften eigentlichen Indricotheriidae und die urtümlicheren und kleineren Forsterccoperiidae aufgeteilt werden müssen. Letztere sind sehr basal einzuordnen, erstere formen die Schwestergruppe der eigentlichen Nashörner.
=== Innere Systematik ===
Die eigentlichen Nashörner (Rhinocerotidae) entwickelten mehrere Linien: Die Unterfamilie der Diceratheriinae umfasst mit den Diceratheriini und den Trigoniadini zwei Triben. Sie waren charakterisiert durch paarige Hörner auf der Nase und stellten die ersten Nashörner mit derartigen Bildungen dar. Sie lebten weitgehend im Oligozän und Miozän hauptsächlich in Nordamerika, wo sie bis vor 21 Millionen Jahren die größte endemische Säugetiergruppe darstellten. In Eurasien sind Fossilien dieser Nashorngruppe eher selten überliefert. Eine weitere Unterfamilie bilden die Aceratheriinae, die nur selten Hörner besaßen und in die Triben Aceratheriini und Teleoceratini aufgegliedert werden. Ihre Entwicklung begann ebenfalls bereits im Oligozän, sie überlebten aber teilweise bis zum Ende des Pliozäns und besiedelten sowohl Eurasien und Nordamerika als auch Afrika.Die Unterfamilie der Rhinocerotinae splitterte sich ebenfalls in mehrere Linien auf. Die Tribus der Menoceratini umfasst dabei die Stammgruppe, wurde aber ursprünglich aufgrund der paarigen Nasenhörner in die Nähe der Diceratheriinae gestellt. Sie weisen aber wesentlich modernere Entwicklungsmerkmale als diese auf. Die Elasmotheriini entwickelten sich im Unteren Miozän, wobei die bekannteste Gattung, das elefantengroße Elasmotherium, noch in der letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit) lebte und sich durch ein überdimensionales, möglicherweise bis zu 2 m langes Horn auszeichnete.
Die fünf heute lebenden Arten gehören alle zur Tribus der Rhinocerotini. Ihre nächsten Verwandten bilden wahrscheinlich die Elasmotheriini. Zwischen den beiden Linien liegt laut molekulargenetischen Untersuchungen eine tiefe zeitliche Kluft, da ihre Trennung bereits im Paläogen begann, die Angaben reichen je nach Studie vom Mittleren Eozän vor rund 47 Millionen Jahren bis zum Unteren Oligozän vor etwa 31 Millionen Jahren. Die Rhinocerotini kann man in drei Gruppen einteilen, welche die zweihörnigen (Dicerorhinina) und einhörnigen Formen (Rhinocerotina) Asiens und die (generell) zweihörnigen (Dicerotina) Afrikas umfassen. Ihre Verwandtschaftsverhältnisse zueinander werden vielfältig diskutiert. Als zwei gegenständige Ansichten haben sich die „Horn-Hypothese“ (die zweihörnigen Nashörner sind gegenüber den einhörnigen enger miteinander verwandt) und die „geographische Hypothese“ (die asiatischen Nashörner und die afrikanischen bilden jeweils eigene Verwandtschaftsgemeinschaften) herausgestellt. Als dritte Möglichkeit kommt eine Schwestergruppenbeziehung des zweihörnigen Sumatra-Nashorns (Dicerorhinus sumatrensis) zu allen anderen rezenten Nashörnern in Betracht.Eine Studie aus dem Jahr 2021 sieht die geographische Variante bestätigt. Ihren Ergebnissen zufolge spalteten sich die heutigen zwei asiatischen und eine afrikanische Linie im Mittleren Miozän vor rund 15,6 Millionen Jahren voneinander ab. Als Ursache hierfür wird die Ausbildung von Landverbindungen zwischen den afrikanischen und der eurasischen Kontinentalmassen im Unteren Miozän diskutiert. Die asiatische Linie wiederum teilte sich nur wenig später, vor etwa 14,8 Millionen Jahren, in die Dicerorhinina und die Rhinocerotina auf. Das hochgradig gefährdete Sumatra-Nashorn stellt hierbei die einzige überlebende Art der Dicerorhinina dar. Diesen werden allerdings auch die während des Pleistozäns über weite Teile des nördlichen Eurasiens verbreiteten Nashorngattungen Coelodonta mit dem bekannten Wollnashorn und Stephanorhinus, zu der das weniger bekannte Waldnashorn gehört, zugeordnet. Ihre Diversifizierung setzte im Oberen Miozän vor rund 9,4 Millionen Jahren ein. Die Rhinocerotina, die mit dem gefährdeten Panzernashorn (Rhinoceros unicornis) und dem hochgradig gefährdeten Java-Nashorn (Rhinoceros sondaicus) zwei Arten einschließen, vollzogen ihre Aufspaltung erst im Unteren Pliozän vor gut 4,3 Millionen Jahren. Auf dem afrikanischen Kontinent hatten sich derweil bereits im ausgehenden Miozän vor etwa 6,8 Millionen Jahren die Linien des Breitmaulnashorns (Ceratotherium simum) und des Spitzmaulnashorns (Diceros bicornis) als Angehörige der Dicerotina genetisch voneinander entfernt. Andere molekulargenetische Untersuchungen erbrachten dagegen weitaus ältere Radiationsdaten. Demnach begann die Aufspaltung der rezenten Nashörner bereits im Unteren Oligozän vor etwa 29 bis 30 Millionen Jahren. Hierbei formten sich zuerst die Dicerorhinina heraus mit einer Abspaltung der Coelodonta-Stephanorhinus-Linie vor gut 21 Millionen Jahren im Unteren Miozän. Die afrikanischen Dicerotina wiederum bildeten vor rund 17 Millionen Jahren die heutigen Linien aus, während sich jene der asiatischen Rhinocerotina vor etwa 11,7 Millionen Jahren herausdifferenzierten.
Die hier dargestellte Nashorn-Systematik basiert auf den Ausarbeitungen von Kurt Heissig, Donald R. Prothero und Colin Peter Groves. Dabei ist die systematische Stellung der lebenden Nashornarten als Tribus oder Untertribus in Diskussion, allerdings scheint die Stellung als Untertribus gerechtfertigt zu sein. Problematisch ist des Weiteren die Stellung von Dicerorhinus. das manchmal auch der Untertribus Rhinocerotina oder keiner speziellen Untertribus zugewiesen wird.Daneben gibt es noch weitere Ordnungsschemata der Nashörner wie jenes von Pierre-Olivier Antoine, in dem die zwei Unterfamilien Elasmotheriinae und Rhinocerotinae unterschieden werden. Dabei umfasst erstere die Triben Elasmotheriini und Diceratheriini, während Rhinocerotini und Aceratheriini zu den Rhinocerothinae gestellt werden. Ebenfalls ein zusätzliches Ordnungsschema stammt von Esperanza Cerdeño, welches die Unterfamilien Acertheriinae mit den Triben Alicornopini bzw. Teleoceratini und die Unterfamilie Rhinocerothinae mit der alleinigen Tribus Rhinocerotini herausstellt.
=== Übersicht über die rezenten und fossilen Nashorn-Taxa ===
Einschließlich der rezenten Vertreter sind bis heute über 70 Gattungen mit mehreren hundert Arten beschrieben worden. Das hier verwendete Ordnungsschema folgt weitgehend Prothero und Schoch 1989, wobei Änderungen der Gliederung von Heissig 2007 und weitere Überarbeitungen und Ergänzungen aus neuerer Zeit berücksichtigt wurden:
Familie: Rhinocerotidae Owen, 1845.Meschotherium Gabunia, 1964
Woodoceras Prothero, 2005
Gulfoceras Albright, 1999
Molassitherium Becker & Antoine, 2013Unterfamilie: Diceratheriinae Dollo, 1885Tribus: Trigoniadini Heissig, 1989Ronzotherium Aymard, 1854
Guixia You, 1977
Epiaceratherium Abel, 1910
Penetrigonias Tanner & Martin, 1976
Trigonias Lucas, 1900
Amphicaenopus Wood, 1927Tribus: Diceratheriini Dollo, 1885Subhyracodon (= Caenopus, Leptaceratherium) Brandt, 1878
Diceratherium Marsh, 1875
Skinneroceras Prothero, 2005Unterfamilie: Aceratheriinae Dollo, 1885Floridaceras Wood, 1964
Mesaceratherium Heissig, 1969
Diaceratherium Dietrich, 1931
Galushaceras Prothero, 2005
Aprotodon Forster-Cooper, 1915
Plesiaceratherium Young, 1937
Chilotheridium Hooijer, 1971
Dromoceratherium Crusafont & Villalta, 1955Tribus: Aceratheriini Dollo, 1885Persiatherium Pandolfi, 2016
Proaceratherium Ginsburg & Hugueney, 1980
Subchilotherium Heissig, 1972
Aphelops Cope, 1873
Peraceras Cope, 1880
Aceratherium Kaup, 1832
Hoploaceratherium Ginsburg & Heissig, 1989
Chilotherium Ringström, 1924
Shansirhinus Kretzoi, 1942
Acerorhinus Kretzoi, 1942
Sinorhinus Schlosser, 1903Tribus: Teleoceratini Hay, 1902Brachydiceratherium Lavocat, 1951
Alicornops Ginsburg & Guérin, 1979
Prosantorhinus Heissig, 1973
Teleoceras Hatcher, 1894
Brachypotherium Roger, 1904
Symphyssorrachis Beliajeva, 1954
Brachypodella Heissig, 1973Unterfamilie: Rhinocerotinae Owen, 1845Tribus: Menoceratini Prothero, Manning & Hanson, 1986Menoceras (= Moschoedestes) Troxell, 1921
Pleuroceros Roger, 1898
Protaceratherium Abel, 1910Tribus: Elasmotheriini Bonaparte, 1845Bugtirhinus Antoine & Welcomme, 2000
Turkanatherium Dereniyagala, 1951
Kenyatherium Aguirre und Guérin, 1974
Hispanotherium Crusafont & Villalta, 1947
Victoriaceros Geraads, MacCrossin & Benefit, 2012
Samburuceros Handa, Nakatsukasa, Kunimatsu & Nakaya, 2017
Kenyatherium Aguirre & Guérin, 1974
Ougandatherium Guérin & Pickford, 2003
Caementodon Heissig, 1972
Procoelodonta Matthew, 1931
Gobitherium Kretzoi, 1943
Beliajevina Heissig, 1974
Bergertherium Beliajeva, 1971
Huaqingtherium Huang & Yan, 1983
Iranotherium Ringström, 1924
Eoazara Geraads & Zouhri, 2021
Parelasmotherium Killgus, 1923
Ningxiatherium Chen, 1977
Sinotherium Ringström, 1922
Elasmotherium Fischer, 1808Tribus: Rhinocerotini Owen, 1845Parvorhinus Pandolfi & Martino, 2023Untertribus: Dicerorhinina Ringström, 1924Dicerorhinus (= Didermocerus, Ceratorhinus) Gloger, 1841 (einschließlich Sumatra-Nashorn)
Rusingaceros Geraads, 2010
Pliorhinus Pandolfi, Pierre-Olivier, Bukhsianidze, Lordkipanidze & Rook, 2021
Stephanorhinus (= Brandtorhinus) Kretzoi, 1942
Lartetotherium Ginsburg, 1974
Dihoplus Brandt, 1878
Coelodonta (= Tichorhinus) Bronn, 1831Untertribus: Rhinocerotina Ringström, 1924Iberotherium Antunes & Ginsburg, 2000
Gaindatherium Colbert, 1934
Punjabitherium Khan, 1971
Nesorhinus Antoine, Reyes, Amano, Bautista, Chang, Claude, Vos & Ingicco, 2021
Rhinoceros Linnaeus, 1758 (einschließlich Panzernashorn und Java-Nashorn)Untertribus: Dicerotina Ringström, 1924Paradiceros Hooijer, 1968
Diceros Gray, 1821 (einschließlich Spitzmaulnashorn)
Ceratotherium Gray, 1867 (einschließlich Breitmaulnashorn)Formen mit unklarerer Zugehörigkeit zu den Nashörnern:
Uintaceras Hollbrook & Lucas, 1997
Teletaceras Hanson, 1989
== Stammesgeschichte ==
=== Adaptive Radiation ===
Die Familie der Nashörner gehört zu den erfolgreichsten und vielfältigsten Säugetiergruppen der jüngeren Erdgeschichte und lässt sich rund 50 Millionen Jahre zurückverfolgen. Während dieser Zeit vollzog sich eine breit angelegte evolutionäre Entwicklung und Anpassung an die jeweiligen Lebensräume (Adaptive Radiation). Vertreter der Nashörner besetzten nahezu jedes terrestrische Biotop. Innerhalb der Stammesgeschichte gab es zahlreiche anatomische Veränderungen. Allgemeine Evolutionstrends bei den Nashörnern, die weitgehend alle Linien durchliefen und jeweils Anpassungen an bestimmte Biotope darstellen, sind die Kürzung und Verbreiterung des Schädels, vor allem im vorderen Gesichtsbereich, Längenreduktion der Gliedmaßen, Reduktion des Gebisses, Molarisierung der Prämolaren und Vergrößerung der Höhe der Zahnkronen bei den Backenzähne. Weiterhin können zwei generelle Entwicklungsmodelle festgestellt werden: hornlose Nashörner mit einem weitgehend intakten oder umfangreichen vorderen Gebiss mit vergrößerten Zähnen und horntragende Nashörner mit einer stark reduzierten oder nicht vorhandenen vorderen Bezahnung.
=== Eozän ===
Der früheste bekannte Vorläufer der Nashörner war Hyrachyus aus dem Mittleren Eozän Nordamerikas und Europas. Er war etwa so groß wie ein heutiger Schäferhund und besaß die vollständige Säugetierbezahnung mit kaum molarisierten Prämolaren. Aufgrund der sehr basalen Stellung wird diese Gattung je nach Auffassung zu den Tapiroiden oder zu den Rhinocerotoiden gestellt. Mögliche Frühformen der Nashörner sind mit Uintaceras und Teletaceras ebenfalls im Mittleren oder Oberen Eozän nachgewiesen, besaßen aber wie alle urtümlichen Vertreter keine Hornbildung. Beide Formen waren ebenfalls relativ klein. Uintaceras ist weitgehend nur aus Nordamerika belegt, Teletaceras hingegen kam weitverbreitet vor und ist unter anderem aus der Clarno-Formation in Nordamerika sowie aus der Pondaung-Formation in Südostasien überliefert. Im Oberen Eozän traten dann auch die ersten echten und schon größeren Nashörner auf, wie etwa das rindergroße Trigonias.
=== Oligozän ===
Die ersten Nashörner Europas erschienen mit dem großen und hornlosen Ronzotherium erstmals im Unteren Oligozän, das von zahlreichen Fundstellen belegt ist. Ebenso trat Epiaceratherium auf, möglicherweise kam die Form aber schon im Oberen Eozän vor. Es hatte vergleichbar zu Ronzotherium eine weitgehend westeurasische Verbreitung. Einzelne Funde wie ein Schädel aus der Fossillagerstätte von Na Dương in Vietnam zeigen jedoch ein weites Vorkommen bis in den östlichen Teil des Großkontinentes an. Wie Ronzotherium gehört Epiaceratherium noch der Stammgruppe der Nashörner an. In Asien breiteten sich des Weiteren Vertreter von Guixia aus. Im Oberen Oligozän teilten sich Europa und Asien zahlreiche gemeinsame Nashornlinien. So entwickelten sich mit Protaceratherium ein Mitglied der Aceratheriini, die charakterisiert waren durch eine lange, rüsselartige Schnauze und eine zurückgebildete Nasenregion und auf pflanzliche Weichkost spezialisiert waren. Ebenso entstanden mit Diaceratherium (nicht zu verwechseln mit Diceratherium) und Brachydiceratherium erste Vertreter der flusspferdartigen kurzbeinigen und teils in offenen Waldlandschaften, später auch in Savannen lebenden Teleoceratini, die teilweise spezialisierte Grasfresser waren und sehr hochkronige Backenzähne entwickelten.In Nordamerika bildeten sich eigene Nashornlinien aus, insgesamt war aber die Diversität der dortigen Nashörner verglichen mit Eurasien wesentlich geringer. Subhyracodon, das ebenfalls schon im Oberen Eozän auftrat, entwickelte sich zur Diceratherium-Linie weiter. Diese stellten die ersten Nashörner mit Hornbildungen dar, die bei dieser Gruppe aber paarig auf der Nase saßen. Mit dem Auftreten von Subhyracodon und Diceratherium wurden zudem in Nordamerika zum Ende des Oligozäns alle urtümlichen Nashörner mit vierzehigen durch modernere mit dreizehigen Vorderfüßen ersetzt, ein Prozess der in Eurasien und Afrika noch bis weit in das Miozän hinein andauerte.
=== Miozän ===
Im Miozän kam es zu einer starken Radiation der Nashörner mit einem großen Formenreichtum. Im Unteren Miozän betraten die Nashörner erstmals afrikanischen Boden. Frühe Funde sind mit Aceratherium und Brachypotherium in Ägypten und Libyen nachgewiesen. Vertreter der Aceratheriini erreichten außerdem Nordamerika und bildeten unter anderem mit Floridaceras und Aphelops eigene Gattungen aus. Auch die Teleoceratini wanderten nach Nordamerika aus. Hier findet sich in Nebraska am Verdigre Creek in der Ash-Hollow-Formation, wo eine komplette Herde mit intakten Mageninhalten unter Vulkanasche begraben wurde, einer der besten Nachweise der für diese Nashorngruppe namengebenden Gattung Teleoceras, der zudem einer der dominantesten Pflanzenfresser jener Zeit in Nordamerika war. Weiterhin erschien das aus Eurasien stammende Menoceras, das wie Diceratherium paarige Nasalhörner besaß aber ein basaler Vertreter der Rhinocerotinae ist.
Aber auch nach Eurasien wanderten verschiedene, ursprünglich nordamerikanische Nashörner ein, wie einzelne Vertreter der Diceratheriini. Bedeutend ist hier jedoch die Ausbreitung der hornlosen Nashörner, der Aceratheriini, die zahlreiche Formen hervorbrachten und die neben dem bereits erwähnten Aceratherium auch Alicornops und Chilotherium einschließen. Vor allem Letzteres war sehr häufig. Weiterhin können schon im Unteren Miozän erstmals Angehörige modernerer Nashornformen, wie Bugtirhinus als Basalform der Elasmotheriini, nachgewiesen werden. Bedeutend ist darüber hinaus das erste Auftreten der heute noch bestehenden Gattungen, wie der afrikanischen Formen Ceratotherium und Diceros im Oberen Miozän. Dabei muss vor allem das Verbreitungsgebiet von Diceros. ursprünglich wesentlich größer gewesen sein, da die stammesgeschichtlich alte Art Diceros gansuensis. vor 5 bis 7 Millionen auch in Ostasien auftrat. Weiterhin sind in Eurasien mit Dicerorhinus frühe Vertreter der Dicerorhinina nachgewiesen, während Sinotherium und Ningxiatherium deutlich entwickeltere Angehörige der Elasmotheriini darstellen. Die Rhinocerotina sind in dieser Zeitphase mit Gaindatherium und Punjabitherium nachweisbar.Am Ende des Miozäns kam es aufgrund klimatischer Abkühlung verbunden mit der Ausbreitung von offenen Steppenlandschaften zu einem Aussterben zahlreicher Nashornarten. Dies betraf vor allem die Aceratheriini und einen Teil der Teleoceratini. In Nordamerika verschwand die gesamte Nashornfauna, in Eurasien überlebten nur Elasmotheriini, Dicerorhinina und Rinocerotina. In Afrika hielten sich des Weiteren die Dicerotina und einige Arten von Brachypotherium aus der Gruppe der Teleoceratini.
=== Plio- und Pleistozän ===
Die Zeit des Plio- und Pleistozäns war vor allem geprägt durch die Weiterentwicklung der modernen Nashorngruppen, wie Elasmotheriini und Rhinocerotini. Letztere schließen die noch heute bestehenden Arten ein. Vor allem die urtümlichen Dicerorhinina Eurasiens zeigten eine große Diversität. Allerdings ist von den direkten Vorfahren des Sumatra-Nashornes wenig bekannt. Bedeutend ist der Aufstieg des seit dem mittleren Pliozän bekannten Coelodonta zum am Ende des Pleistozäns lebenden Wollnashorn. Die Schwestergruppe Stephanorhinus spaltete sich in mehrere, an unterschiedliche Biotope angepasste Arten auf, wie es die mittelpleistozänen Formen des Wald- und Steppennashorns zeigen. Beide Nashornlinien enden jedoch im späten Pleistozän. Die Gattung Rhinoceros ist seit dem Pliozän nachweisbar und spaltete sich in mehrere Formen auf. Auf den Philippinen kam im Mittleren Pleistozän das nahe verwandte Nesorhinus vor, eine der wenigen Formen der Nashörner mit Inselverzwergung. Im nördlichen Eurasien, vor allem in Zentralasien sind die verschiedenen Vertreter von Elasmotherium überliefert. Diese Nashorngattung stirbt allerdings ebenfalls im Jungpleistozän aus. In Afrika entwickeln sich Diceros und Ceratotherium zu den heute bekannten Arten.Am Ende des Pleistozäns kam es zu einer erneuten Aussterbewelle, in deren Zuge die Nashornlinien des nördlichen Eurasiens verschwanden (siehe Quartäre Aussterbewelle). Nur die heute noch existierenden Nashornvertreter überlebten.
== Taxonomie ==
Der Name Rhinoceros wurde 1758 von Linnaeus als wissenschaftliche Bezeichnung für das Nashorn eingeführt, genutzt wurde der Name aber schon mindestens seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, so unter anderem von Albrecht Dürer bei seinem berühmten Holzschnitt Rhinocerus, den er 1515 anfertigte. Einer der frühesten Hinweise auf die Namensverwendung stammt jedoch mit rhinókerôn aus der Bibliothéke historiké des antiken Historikers Diodor von Agyrion aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Die Bezeichnung setzt sich aus den griechischen Wörtern ῥίς (rhīs „Nase“; Genitiv rhinos) und κέρας (kéras „Horn“) zusammen, bezieht sich also eindeutig auf die Hornbildung auf der Nase. Linnaeus unterschied die damals bekannten zwei Arten: R. unicornis, das Panzernashorn, welches er in Indien und Afrika verortete, und R. bicornis, das Spitzmaulnashorn, welches seiner Meinung nach aber in Indien lebte. Linnaeus' Irrtümer bezüglich der Verbreitung beruhen wahrscheinlich auf der Verwendung häufig älterer Quellen bei der Erstellung seines Werkes Systema Naturae. Zahlreiche Gelehrte seiner Zeit lehnten eine Einteilung der Nashörner in zwei Arten ab und bevorzugten stattdessen nur eine, die bestimmte Variationen aufwies. Der Widerspruch löste sich erst auf, als der niederländische Anatom Petrus Camper 1771 ein zweihörniges Nashorn aus Südafrika studierte und neben dem zweiten Horn auch Unterschiede im Gebissaufbau bemerkte; die vollständige Publikation seiner Ergebnisse erfolgte aber erst 1782. Ungefähr im gleichen Zeitraum, 1769, entdeckte der deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas ein ebenfalls zweihörniges Nashorn in Sibirien, das Wollnashorn.Der britische Naturforscher John Edward Gray führte 1821 die Familienbezeichnung Rhynocerotidae ein. Seine kurze Beschreibung lautete: „Nose short, rounded, bones very thick, bearing a horn formed of agglutinated hair; toes three to each foot; stomach simple; intestine and caecum large“ („Nase kurz, gerundet, Knochen sehr dick, horntragend, bestehend aus zusammengewachsenem Haar; drei Zehen an jedem Fuß; Magen einfach; Darm und Blinddarm groß“). Aufgrund der falschen Schreibweise wird diese Bezeichnung aber offiziell nicht anerkannt, allerdings unterschied Gray in seiner Beschreibung formal die beiden heute noch bestehenden Gattungen Rhinoceros (Panzernashorn) und Diceros (Spitzmaulnashorn). Bereits 1811 hatte der deutsche Zoologe Johann Karl Wilhelm Illiger den Namen Nasicornia für die Nashörner vorgeschlagen, der, da er nicht auf einem vergebenen Gattungsnamen beruhte, ebenfalls ungültig ist. Im Jahr 1845 legte Richard Owen, neben Charles Darwin einer der bedeutendsten Naturhistoriker des Viktorianischen Zeitalters, eine Studie vor, in der er die Familie der Nashörner mit einbezog und auch die für die Säugetiertaxonomie wichtigen Zähne berücksichtigte. Hier bezeichnete er die Nashörner korrekt als Rhinocerotidae, weswegen viele Experten die Gruppenbenennung „Rhinocerotidae Owen, 1845“ gegenüber der eigentlich nicht korrekten Benennung „Rhinocerotidae Gray, 1821“ bevorzugen.
== Nashörner und der Mensch ==
=== Nashörner in Kunst und Kultur ===
Nashörner gehören, bezogen auf ihre Körpergröße und ihren Habitus, zu den beeindruckendsten landlebenden Säugetieren und fanden aufgrund dessen auch Einzug in die Kunst und Kultur des Menschen, besonders häufig trifft dies dabei auf Jäger-und-Sammler-Populationen zu. Die frühesten bekannten Darstellungen von Nashörnern finden sich im westeurasischen Jungpaläolithikum (vor 40.000 bis 10.000 Jahren) und sind wenigstens 31.000 Jahre alt. Hervorzuheben sind hier die Malereien der frankokantabrischen Höhlenkunst, wo Nashörner in mehr als einem halben Dutzend Höhlen mit über 80 Darstellungen abgebildet wurden. Am häufigsten sind sie in der Grotte Chauvet (Frankreich) mit 65, teils in roten oder schwarzen Farbpigmenten gehaltenen Zeichnungen überliefert, allein ein Panneau enthält 17 Darstellungen eines wohl in Bewegung befindlichen Tieres. Des Weiteren finden sich in Europa auch außerhalb dieses Kulturkreises in der mobilen jungpaläolithischen Kleinkunst Abbildungen und Darstellungen von Nashörnern in Form von Knochen- oder Steinritzungen, aber auch als kleine Statuetten modellierten Tonfiguren, die zu den ältesten Keramikgegenständen der Welt gehören. Alle diese Kunsterzeugnisse werden heute als Darstellungen des Wollnashorns interpretiert, welches damals in den nordeurasischen Kältesteppen lebte, einige ältere auch manchmal als Steppennashorn. Einige Forscher vertreten die Meinung, einzelne charakteristische Nashorndarstellungen, wie zum Beispiel in der Höhle Rouffignac, könnten als Abbildungen von Elasmotherium angesehen werden, doch war diese Gattung weder räumlich noch zeitlich so weit verbreitet.Auch vorgeschichtliche Jäger- und Sammlergemeinschaften in anderen Erdteilen bildeten Nashörner ab. In Südasien existieren zahlreiche Malereien in Höhlen und Abris, die in diesem Falle das Panzernashorn wiedergeben. Diese werden dem dortigen Mesolithikum zugewiesen und sind zwischen 12.000 und 7.000 Jahre alt. Bedeutend und zu den ältesten in dieser Region gehören jene vom Marodeo-Felsen nahe Pachmarhi im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh oder eine Jagdszene, dargestellt bei Mirzapur im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Aus weiten Bereichen des südlichen Afrika sind zahlreiche Felszeichnungen und -gravierungen von sowohl Breitmaul- als auch Spitzmaulnashorn bekannt, die überwiegend den Khoisan-Bevölkerungsgruppen zugewiesen werden und bis zu 14.000 Jahre alt sein können, teilweise aber auch bedeutend jünger sind. Diese sind mitunter sehr zahlreich, wobei gebietsweise mehr Gravierungen als Zeichnungen zu beobachten sind. Allein in den südafrikanischen Provinzen Nordkap, Nordwest und Freistaat sind mehr als 500 Darstellungen überliefert.
Mit dem Sesshaftwerden des Menschen gehen die Abbildungen von Nashörnern rapide zurück. Aus der Kupferzeit sind Darstellungen der Tiere auf Siegeln der Indus-Kultur bekannt, vereinzelt finden sie sich auch als Reliefdarstellungen im Alten Ägypten. Bemerkenswert sind dabei auch Relieffiguren einhörniger Nashörner an Tempelfriesen in Angkor Vat (Kambodscha), die aus dem 12. Jahrhundert stammen und aufgrund des historischen Verbreitungsgebietes zu den wenigen Abbildungen des Java-Nashornes gehören. Eine hohe kulturelle Bedeutung für das südliche Afrika hat das „Goldene Nashorn“ aus dem „Originalen Goldgrab“ vom Mapungubwe-Hügel in der südafrikanischen Provinz Limpopo. Der archäologische Fundstätten-Komplex wurde von lokalen Stämmen im 11. bis 13. Jahrhundert angelegt und in den 1920er bis 1930er Jahren ausgegraben. Das kleine Nashornfigürchen von 5,5 cm Höhe bildete möglicherweise gemeinsam mit anderen zoomorphen Statuetten wie einem Büffel, einer Raubkatze, einem Elefanten und einem Krokodil ein Zierelement eines größeren Gefäßes, das vermutlich beim Wahrsagen Verwendung fand. Für die europäische Kunstgeschichte herausragend sind der weit verbreitete Holzschnitt Rhinocerus von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1515, entstanden nach nur indirekten Berichten über ein indisches Panzernashorn in Portugal, und das Ölgemälde Rhinoceros Clara von Jean-Baptiste Oudry aus dem Jahr 1749.
=== Bedrohung und Schutz ===
Die heute lebenden Nashörner gehören aufgrund mehrerer Faktoren – enorme Größe, langsames Wachstum, territoriale Einzelgänger, wenige Nachkommen in menschlicher Obhut – zu den nicht domestizierbaren Wildtieren. Dadurch ist die Bedeutung der Tiergruppe für den heutigen Menschen als Nahrungs- und Rohstofflieferant relativ gering, in Asien besteht jedoch eine große Nachfrage nach Hörnern der Nashörner. Diese werden im Nahen Osten, vor allem im nördlichen Jemen, traditionell für die Griffe des Jambia-Dolches verwendet, der als Statussymbol dient. In Ostasien dagegen sind sie Bestandteil kunsthandwerklicher Schnitzereien und der Traditionellen Chinesischen Medizin. Bei Letzterer dienen die Hörner vor allem in pulverisierter Form als Medikament gegen Fieber und Schmerzen, ein häufig angenommener Einsatz als Aphrodisiakum ist historisch nicht verbürgt. Vor allem aufgrund dieses Marktes sind Nashörner durch die damit verbundene Wilderei vom Aussterben bedroht. So wurden auf dem Schwarzmarkt im Jahr 2012 zwischen 30.000 und 65.000 US-Dollar für jedes Kilogramm Horn gehandelt, im Zeitraum von 1993 bis 2009 betrug der Wert noch rund 4700 bis 5000 US-Dollar je Kilogramm. Durch die hohe Nachfrage aus Ostasien an Horn stieg in den letzten Jahren nicht nur die Anzahl der durch Wilderei getöteten freilebenden Nashörner vor allem im südlichen Afrika, sondern es kam auch verstärkt zu Diebstählen in Museen, Sammlungen und Auktionshäusern und damit verbundenem Schmuggel. Mehrere durchgeführte Tests seitens der Pharmaindustrie und biowissenschaftlicher Forschungsinstitute ergaben jedoch keinerlei medizinische Wirkung. Jedoch gab es immer wieder Gerüchte über Wunderheilungen, so dass zuletzt 2009 die Nachfrage stark angestiegen war. Weitere Ursachen für die Bedrohung der heutigen Nashornarten sind darüber hinaus die Zerstörung der Lebensräume durch Landwirtschaft oder Bau von Verkehrswegen aber auch die Ausdehnung der menschlichen Siedlungen bis an die Grenzen der Schutzgebiete.In neuerer Zeit gibt es allerdings wieder eine leichte Bestandserholung einiger Arten. In Afrika lebten Ende 2010 wieder rund 20.000 Breitmaul- und über 5.000 Spitzmaulnashörner. Beide Bestände haben sich seit 1995 fast verdoppelt. Ein großer Anteil der Nashörner lebt davon in Südafrika zumeist in eingezäunten und bewachten Reservaten. In Kenia finden sich ebenfalls verschiedene private und öffentliche Schutzgebiete, z. B. die private Farm Ol ari Nyiro von Kuki Gallmann oder der Lake-Nakuru-Nationalpark. Zwar hat sich der Gesamtbestand der afrikanischen Nashörner insgesamt laut IUCN stabilisiert, doch sind einzelne Unterarten teils stark bedroht. Besonders kritisch steht es dabei um das Nördliche Breitmaulnashorn (C. s. cottoni), welches nur noch zwei Exemplare umfasst und durch ein Zuchtprogramm im Ol Pejeta Reservat in Kenia vor dem Aussterben bewahrt werden soll. Durch die steigende Anzahl an durch Wilderer getöteten Nashörnern im südlichen Afrika (2013 fast 800 Nashörner) wurden 2013 neben bewaffneten Wildhütern, Enthornungen von wildlebenden Tieren oder Umsiedlungen einzelner Individuen beziehungsweise kleinerer Populationen neue Gegenmaßnahmen eingeleitet. Diese umfassen unter anderem das Einspritzen von Antiparasitika in die Hörner, hauptsächlich Arzneistoffe gegen äußere Parasiten, die im normalen Einsatz für die Nashörner unschädlich sind, beim Menschen aber Übelkeit oder Konvulsion erzeugen und die Hörner so unbrauchbar für den Markt der Traditionellen Chinesischen Medizin machen. Eine weitere Methode ist die Markierung der Hörner mit Farbstoffen, die deren Inneres rot oder pink färben. Dies soll helfen, den internationalen Handel mit illegal erbeuteten Hörnern zu verfolgen, da diese, vergleichbar zu durch ein ähnliches Verfahren markierten Banknoten, auch durch Scanner an Flughäfen aufgespürt werden können. Umweltschützer sehen diese Vorgehensweisen bisher eher skeptisch, einerseits weil vereinzelt Nashörner bei der Durchführung der Prozedur starben, andererseits auch weil kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu den neuen Maßnahmen und der damit verbundenen potentiellen gesundheitlichen Risiken für die behandelten Tiere durchgeführt wurden. Weiterhin können sie auch eine höhere Sicherheit der Populationen an Nashörnern lediglich vortäuschen, da zwar in einzelnen Schutzgebieten mit derartig behandelten Tieren die Wilderei zurückging, ein Großteil der Tiere aber diese aufgrund des Druckes durch Wilderei verlassen hatte. Eine Verschiebung des Jagddrucks ist dadurch nicht auszuschließen. Der WWF Deutschland informierte im März 2014 über ein Projekt, bei dem 1000 zu schützenden Nashörnern in Kenia ein Chip ins Horn eingepflanzt werden soll, um Wilderer besser überführen zu können.
Auch Schutzbemühungen Indiens und Nepals waren erfolgreich, so dass der Bestand an Panzernashörnern auf 2.850 Tiere Ende 2010 und damit im Vergleich zu 1995 deutlich gestiegen ist; gegenwärtig wird von einem Bestand von mehr als 3.500 Tieren ausgegangen. Der Bestand der Sumatra-Nashörner ist dagegen im selben Zeitraum von etwas mehr als 300 auf etwa 220 bis 280 Tiere zurückgegangen, teilweise werden auch weniger als 100 Tiere angenommen – Ursache ist offensichtlich, dass die Regierungen von Indonesien und Malaysia nur wenige finanzielle Mittel für den Schutz dieser Tiere bereitstellen. Das Java-Nashorn ist mittlerweile das am stärksten gefährdete Großsäugetier der Erde. Schätzungsweise 60 Exemplare bewohnen Reste des ehemaligen Verbreitungsgebiets der Art im Westen von Java. Die letzte verbliebene kleine Population des Java-Nashorns in Vietnam wurde im Oktober 2011 vom WWF für erloschen erklärt. Damit gilt die vietnamesische Unterart R. s. annamiticus des Java-Nashorns offiziell als ausgestorben. Aufgrund des hohen Risikos, die letzten zur Fortpflanzung fähigen Kühe zu isolieren, und der Tatsache, dass sich Nashörner allgemein in menschlicher Obhut teilweise nur selten fortpflanzen, sind Nachzuchtprogramme schwer umzusetzen, so dass sich die früheren Schutzbemühungen auf das Ausrufen neuer Schutzgebiete und die Rettung der Restpopulationen beschränken. Zwei bedeutende neuere Projekte in diesem Zusammenhang sind das zum Schutz des Sumatra-Nashorns im Jahr 1997 gestartete Nachzuchtprogramm im Sumatran Rhino Sanctuary auf Sumatra und das 2011 begonnene Projekt Javan Rhino Study and Conservation Area für die Erhaltung des Java-Nashorns.
== Literatur ==
Anonymous (Hrsg.): Die Nashörner: Begegnung mit urzeitlichen Kolossen. Fürth, Filander Verlag, 1997, ISBN 3-930831-06-6.
Esperanza Cerdeño: Diversity and evolutionary trends of the family Rhinocerotidae (Perissodactyla). In: Palaeo. 141, 1998, S. 13–34.
Claude Guérin: La famille des Rhinocerotidae (Mammalia, Perissodactyla): systématique, histoire, évolution, paléoécologie. In: Cranium. 6, 1989, S. 3–14.
Kurt Heissig: The Rhinocerotidae. In: Donald R. Prothero, R. M. Schoch (Hrsg.): The evolution of the Perissodactyls. New York 1989, S. 399–417.
Donald R. Prothero, Claude Guérin, Earl Manning: The history of Rhinocerotoidea. In: Donald R. Prothero, R. M. Schoch (Hrsg.): The evolution of the Perissodactyls. New York 1989, S. 321–340.
Donald R. Prothero: Fifty million years of rhinoceros evolution. In: O. A. Ryder (Hrsg.): Rhinoceros biology and conservation: Proceedings of an international conference, San Diego, U.S.A. Zoological Society, San Diego 1993, S. 82–91.
Rudolf Schenkel, Ernst M. Lang: Das Verhalten der Nashörner (= Handbuch der Zoologie. 8 (46)). 1969, S. 1–56, ISBN 3-11-000664-2.
== Einzelnachweise ==
== Weblinks ==
Nashörner Spiegel online, Aktuelle Artikel und Hintergründe
World Wildlife Fund (WWF): Rhino: Species, Places, Threats, Our Work
Themen & Projekte: Nashorn WWF Deutschland | https://de.wikipedia.org/wiki/Nash%C3%B6rner |
Jim Morrison | = Jim Morrison =
James Douglas „Jim“ Morrison (* 8. Dezember 1943 in Melbourne, Florida; † 3. Juli 1971 in Paris) war ein US-amerikanischer Sänger, Songwriter und Lyriker. Er war der Frontmann der Rockband The Doors.
Jim Morrison gilt als Rockmusiker, der die Fantasien, Visionen, Ängste und die Selbstdestruktivität der Generation der späten 1960er Jahre artikulierte und exemplarisch auslebte. Er zählt zu den charismatischsten Persönlichkeiten der Rockmusik dieser Zeit. Gemeinsam mit den Doors erweiterte er das Repertoire der Rockmusik um mehrschichtige Konzeptstücke und Formen des Rocktheaters. Morrison, von dem zu Lebzeiten drei Gedichtbände veröffentlicht wurden, nutzte die Doors-Konzerte regelmäßig für spontane Rezitationen poetischer Texte. Er produzierte einen Dokumentarfilm über die Doors sowie einen experimentellen Spielfilm. Morrison zählt zu den zentralen Symbolfiguren der Hippiezeit und -kultur. In seiner Schaffenszeit wurde er als Sexsymbol wahrgenommen.
Obwohl sich Morrison durch seinen Rock-Bariton und poetische Songtexte einen Namen gemacht hat, wurde er in späteren Jahren meist mit einem aufrührerischen und selbstzerstörerischen Lebensstil assoziiert. Sein früher Tod, dessen nähere Umstände nicht mit Sicherheit geklärt werden konnten, trug erheblich zur Legendenbildung um seine Person bei. Im Jahr 1993 wurde Morrison als Mitglied der Doors in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen.
== Leben ==
=== Kindheit und Jugend ===
Jim Morrison wurde als erstes Kind von George Stephen Morrison (1919–2008) und Clara Virginia Morrison (geb. Clarke, 1919–2005) geboren. Er hatte zwei Geschwister, Anne Robin (* 1947) und Andrew Lee (* 1948). Morrisons Vater war Marineoffizier. Deshalb zog Morrisons Familie häufig um. Bis zu seinem Schulabschluss lebte er in verschiedenen Städten der US-Bundesstaaten Florida und Kalifornien sowie jeweils zweimal in Washington, D.C. und Albuquerque.
Als prägende Erfahrung seiner Kindheit schilderte Morrison später, wie er als Vierjähriger auf einer Fernverkehrsstraße südwestlich Albuquerques aus dem Wagen seiner Eltern heraus einen schweren Autounfall von Pueblo- oder Hopi-Indianern beobachtet habe. Auf dieses Schlüsselerlebnis nahm Morrison regelmäßig in Songtexten, Gedichten und Interviews Bezug. In seinen Texten spielte sich das Erlebnis an einem verunglückten Lastwagen ab, vor dem verletzte und tote Indianer auf der Straße lagen. Die Eltern hielten an, und Morrisons Vater sah nach, ob er helfen könne. Bei einer Tankstelle in der Umgebung verständigte sein Vater die Highway-Polizei und einen Krankenwagen. Da sein Sohn von der Konfrontation mit dem Tod verstört war, versuchte der Vater ihm einzureden, dass er den Vorfall bloß geträumt habe.In späteren Interviews erklärte Jim Morrison, dass in diesem Moment die Seelen toter Indianer in seinen Körper gewandert seien. Bei der bekanntesten Umsetzung der Geschehnisse in dem Lied Peace Frog von der Doors-LP Morrison Hotel (1970) brachte Morrison das erlittene schwere Trauma dieser Unfallszene mit einer vermeintlichen Seelenwanderung in Verbindung:
Morrisons Interesse an der Kultur der indianischen Völker des US-amerikanischen Südwestens entwickelte sich während seiner Schulzeit weiter, als Morrisons Familie zeitweilig erneut in Albuquerque in New Mexico lebte und er dort Gelegenheit hatte, die Lebensräume der Ureinwohner näher kennenzulernen.
Infolge der beruflich bedingten Abwesenheit des Vaters, der regelmäßigen Umzüge der Familie quer durch die Vereinigten Staaten und einer strengen Erziehung fiel Morrison als Heranwachsender trotz guter schulischer Leistungen durch ausgeprägtes Problemverhalten gegenüber Lehrern und Mitschülern auf. 1958 besuchte er die Alameda High School in Alameda (Kalifornien). Seinen Schulabschluss machte er im Juni 1961 an der George Washington High School in Alexandria (Virginia). Als Jugendlicher zog Morrison auf Wunsch seiner Eltern im September 1961 zu seinen presbyterianischen und streng abstinenten Großeltern väterlicherseits nach Clearwater (Florida). Morrison besuchte dort das St. Petersburg Junior College. Morrisons Vater wurde 1963 zum Kapitän des Flugzeugträgers USS Bon Homme Richard befördert. Bis zum Frühjahr 1964 versuchte der Vater vergeblich, seine Söhne für eine Karriere bei der Marine zu interessieren.Um Jim Morrisons Sprachempfinden zu schulen, schenkte sein Vater ihm bei seinen Besuchen daheim häufig Bücher. Früh begriff Morrison die Sprache als mächtiges Werkzeug, unter anderem um sich gegen missliebige Autoritäten aufzulehnen. Im Alter von zwölf Jahren verfasste Morrison in Notizbüchern seine ersten, zum Teil aggressiv satirischen Gedichte, die er „Radio Essays“ nannte. Er las früh die unkonventionellen Bücher der Beat Generation. Dazu gehörten insbesondere Jack Kerouacs Schlüsselroman Unterwegs, aber auch Werke der Schriftsteller Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti, dessen „City Lights Bookstore“ Morrison 1958 in San Francisco nach der Lektüre Kerouacs mehrfach aufsuchte. Morrison studierte die Werke von Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Jean Cocteau, James Joyce und Arthur Rimbaud. Rimbaud war für Morrison „einer, der den Göttern das Feuer stahl und dafür bestraft werden würde.“ Morrison setzte sich mit Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie auseinander. Plutarchs Biografie von Alexander dem Großen beeindruckte ihn so, dass er den renommierten Friseur Jay Sebring darum bat, seine Haare nach der Vorlage einer Alexander-Büste zu schneiden. Bei späteren Aufnahmen des Fotografen Joel Brodsky, die dieser unter anderem für das Album The Doors anfertigte, orientierte sich Morrison an der Kopfhaltung dieser Büste.
=== Studium und Bandgründung ===
Das Studium, das er in Saint Petersburg, Florida, aufgenommenen hatte, setzte Morrison zwischen 1962 und 1963 an der Florida State University in Tallahassee fort, wo ein kurzer Hochschulmarketingfilm mit ihm aufgezeichnet wurde. Morrison, der ursprünglich „Schriftsteller oder Soziologe werden“ wollte, interessierte sich zunehmend für eine Arbeit im Filmsektor. Gegen den Willen seiner Eltern bewarb er sich im Oktober 1963 für ein Studium der Film- und Theaterwissenschaft in Kalifornien. Im Januar 1964 ließ er sich am Theater Arts Department der University of California, Los Angeles, (UCLA) einschreiben und belegte dort Kurse beim österreichisch-amerikanischen Regisseur Josef von Sternberg. An der UCLA produzierte er auf der Grundlage von Aufnahmen eines Kommilitonen den Kurzfilm First Love, der ebenso wie ein zweiter Film voller abrupter Brüche zu kontroversen Reaktionen und vehementer Ablehnung in den Filmseminaren führte. Im Juni 1965 schloss Morrison sein Studium erfolgreich mit einem Bachelor of Science der „Kinematographie“ ab.
Die beruflichen Absichten Morrisons, der bereits während seines Studiums Gedichte und Songtexte verfasst hatte, waren bei seinem Vater seit geraumer Zeit auf scharfe Ablehnung gestoßen. Auf eine briefliche Rüge seines Vaters hin brach Morrison den Kontakt zu seinen Eltern ab. Seiner Mutter verweigerte er noch im November 1967 bei einem Konzert eine direkte Begegnung. Nach dem Kontaktabbruch musste Morrison aus finanziellen Gründen seine Studentenwohnung aufgeben. Der in seiner Kindheit durch ständige Umzüge entwurzelte UCLA-Absolvent sollte zeitlebens keine eigene Wohnung mehr besitzen. Im Frühjahr 1965 fand Morrison eine neue Bleibe bei einem vormaligen Kommilitonen auf dem Dach eines alten Bürogebäudes in Venice, verlor unter Drogeneinfluss erheblich an Körpergewicht und verfasste weitere Gedichte und Songtexte. Er hoffte auf eine Möglichkeit, seine Texte mit bass- und blueslastigen Klängen, indianischen Trommeln, Räucherwerk und multimedialen Elementen wie Filmprojektionen in Szene setzen zu können.
Während seines Studiums hatte Morrison den Kommilitonen und Organisten Ray Manzarek kennengelernt. Manzarek forderte ihn und andere ehemalige Kommilitonen am 5. Juni 1965 während eines Auftritts im Turkey Joint West in Santa Monica erstmals auf, ihn spontan als Sänger bei dem Rhythm-and-Blues-Lied Louie Louie zu unterstützen. Nachdem Morrison Manzarek im Juli 1965 einige seiner eigenen Songtexte vorgetragen hatte, lud der Organist Morrison ein, bei seiner Band mitzuwirken. Die Band, in der zwei Brüder Manzareks mitspielten, nannte sich „Rick and the Ravens“.
Nachdem Manzareks Band im September 1965 mit Morrison in den World Pacific Studios in Los Angeles eine erfolglose Demoaufnahme im Folk-Rock-Stil produziert hatte, verließen Manzareks Brüder die Gruppe. Bereits im August 1965 war der Schlagzeuger John Densmore hinzugekommen. Zwei Monate später folgte der Gitarrist Robby Krieger. Manzareks Band, die nach einem Vorschlag Morrisons in „The Doors“ umbenannt wurde, hatte sich als Quartett von Grund auf neu formiert. Der neue Name der Gruppe leitete sich von dem Titel von Aldous Huxleys Essay The Doors of Perception (1954) ab, das unter anderem die Auswirkung von Halluzinogenen wie Mescalin und LSD auf das menschliche Bewusstsein schilderte.
=== Frontmann der Doors ===
Als Sänger war Morrison anfangs so in sich gekehrt, dass er bei ersten Auftritten der Doors dem Publikum den Rücken zuwandte. Ein erster Plattenvertrag, den die Gruppe nach frühen Auftritten als Vorband oder auf kleinen Festen im Oktober 1965 bei Columbia Records unterzeichnete, wurde nach kurzer Zeit in beiderseitigem Einvernehmen wieder aufgelöst. Im Frühjahr 1966 spielten die Doors als Clubband im „London Fog“ am Sunset Strip im späteren West Hollywood. Dort lernte Morrison im April 1966 die Kunststudentin Pamela Courson (1946–1974) aus Orange County kennen, die seine dauerhafte Lebensgefährtin werden sollte. Im November 1966 bezog Courson eine Wohnung im Laurel Canyon, 8021 Rothdell Trail, in die auch Morrison einzog. Beide nannten die Straße „Love Street“. Dort experimentierten Morrison und Courson weiter mit Substanzen wie LSD, Amphetaminen und Mescalin, die Morrison als Katalysator und Inspirationsquelle für zahlreiche Texte dienten.
Zwischen Mai und Juli 1966 waren Morrison und die Doors die erste Band, die abends im Whisky a Go-Go am Sunset Strip auftrat. Zu dieser Zeit spielte dort auch Van Morrisons Band Them. Ein Biograf machte einen deutlichen Einfluss von Van Morrisons impulsiver Bühnenpräsenz auf Jim Morrison aus: „Jim Morrison lernte rasch von der Bühnenkunst seines Beinahe-Namensvetters, seinem augenscheinlichen Draufgängertum, der Pose gedämpfter Bedrohung, seiner Art, Gedichte zu einem Rockbeat zu improvisieren, sogar von seiner Angewohnheit, sich während instrumentaler Passagen bei der Basstrommel niederzukauern.“ In der letzten Nacht, in der Them im Whisky auftrat, spielten die beiden Morrisons während einer Jam-Session beider Bands gemeinsam Van Morrisons Song Gloria. In den folgenden Wochen traten Morrison und die Doors im „Whisky“ gemeinsam mit weiteren Bands wie The Byrds, Love und Frank Zappas Mothers of Invention auf.
Morrison betrachtete die frühe Club-Phase der Doors rückblickend als eine der schöpferischsten der Band, weil sich viele Stücke durch die zahlreichen Auftritte in kleinem Rahmen kontinuierlich weiterentwickeln ließen:
Landesweit bekannt wurden die Doors, nachdem sie im August 1966 mit Jac Holzman von Elektra Records einen Plattenvertrag über sieben Alben vereinbart hatten, der am 15. November 1966 unterzeichnet wurde. Holzman hatte vor allem die Coverversion des Alabama Song gefallen. Im September und Oktober 1966 machte die Band in den „Sunset Recording Studios“ auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles Aufnahmen für eine erste Schallplatte. Nachdem erste Auftritte Morrisons und der Doors außerhalb von Los Angeles bereits im Juli 1966 stattgefunden hatten, traten sie zum November 1966 erstmals in einem kleinen Kellerclub in New York auf. In New York bewegte sich der Sänger im Umkreis der „The Factory“ und Andy Warhols, den Morrison ein halbes Jahr zuvor in Los Angeles kennengelernt hatte. Warhol wollte Morrison als Hauptdarsteller für einen seiner Avantgardefilme gewinnen.
Das Debütalbum der Band veröffentlichte Elektra im Januar 1967 unter dem Titel The Doors und bewarb dieses, für damalige Zeit unüblich, durch eine Plakatwand am Sunset Strip. Bereits für ihre erste Singleauskopplung Break On Through (To the Other Side) produzierten Morrison und die Doors 1967 einen Promotionclip, dem bald weitere folgten (Moonlight Drive, People Are Strange, The Unknown Soldier). Die zweite Single Light My Fire wurde im Juli 1967 zum Nummer-eins-Hit in den amerikanischen Billboard-Singles-Charts.
Seit ersten Fernsehauftritten in der Sendung „Shebang“ (KTLA-TV Channel 5) am 6. März 1967 und bei „American Bandstand“ auf ABC am 22. Juli 1967 mit Playback wurden Fernsehsender zunehmend auf die neue Gruppe aufmerksam. Unter anderem wurden die Doors zur Ed Sullivan Show am 17. September 1967 eingeladen, einer beliebten, live ausgestrahlten Late-Night-Show am Sonntag bei CBS, die ein breiteres amerikanisches Publikum 1956 mit Elvis Presley und 1964 mit den Beatles bekannt gemacht hatte. Die Doors sollten zwei Titel spielen, verärgerten die Redaktion jedoch, weil Morrison eine zuvor abgesprochene Änderung des Songtextes von Light My Fire nicht einhielt. Wenngleich sich dieser Vorfall nicht nachhaltig auf Morrisons Fernsehpräsenz auswirkte, zeigten solche Ereignisse doch die Unberechenbarkeit des Rocksängers, der schon zu Jahresbeginn in einer Pressemitteilung seiner Plattenfirma diffus gegen etablierte Autoritäten Stellung bezogen hatte:
Mit Rocksongs voller „erhabener Verheißungen, faszinierender Metaphorik, hypnotischer Gebärden und zorniger Äußerungen“ und seiner rigorosen Lebensmaxime „Die Zeit ist knapp, also macht am besten was draus!“ traf Morrison das Lebensgefühl einer Generation aufbegehrender junger Menschen, die sich unter anderem gegen den Vietnamkrieg wandten oder bewusstseinserweiternde Drogen zu sich nahmen. Mit 24 Jahren – der Fotograf Joel Brodsky hatte Morrison im Januar 1967 in einer Serie von Schwarzweiß-Aufnahmen erotisch in Szene gesetzt – war der charismatische Rock-Sänger das neue Sexsymbol Amerikas.
Als die Doors im Oktober 1967 ihr zweites Album, Strange Days, veröffentlichten, das 500.000 Vorbestellungen verzeichnet hatte, und ihre Singles People Are Strange und Love Me Two Times in den US-Charts erschienen, waren sie mit ihrem psychedelisch grundierten Musikstil aus Blues und Rock eine der beliebtesten Rockbands der Vereinigten Staaten. Die Zeitschrift Vogue schrieb in ihrer Ausgabe vom 15. November 1967, beeindruckt von Morrisons und Kriegers Songtexten: „Jim Morrison schreibt, als wäre Edgar Allan Poe in Gestalt eines Hippies zurückgekehrt“. Im November 1967 wurden die Doors vom Verband der amerikanischen Musikindustrie erstmals für die Single Light My Fire und ihr Debütalbum mit je einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.
=== Starruhm und Konflikte mit den Behörden ===
Die von Morrison betriebene Selbstmythisierung als Rockidol war von einer wachsenden Fangemeinde bereitwillig nachvollzogen worden, verselbständigte sich jedoch zunehmend. Thomas Collmer zufolge entwickelte sich Morrison immer stärker zur Kristallisationsfigur für unterschwellige Sehnsüchte vieler Doors-Anhänger, die eigene Rollenerwartungen stellvertretend auf der Bühne ausgelebt sehen wollten („Stellvertreter-Imago“). Auch angesichts des auf dem Frontmann der Doors lastenden Drucks und der Schar sensationslüsterner Anhänger suchte Morrison Erleichterung, indem er erhebliche Mengen Alkohol trank und unbeeindruckt von dem 1966 ergangenen LSD-Verbot in den USA zeitweilig weiter regelmäßig Drogen konsumierte. Für die einseitige Wahrnehmung seiner Person machte Morrison in besonderem Maß die Massenmedien verantwortlich:
Wiederholt kam es Ende 1967 zu Tumulten vor, während und nach Konzerten. Oft waren Polizisten und Fans darin verwickelt, wie bei einem Konzert am 9. Dezember 1967 in der New Haven Arena in New Haven (Connecticut), wo Morrison nach dem Einsatz von Reizgas durch einen übereifrigen Ordnungshüter zur offenen Provokation gegen Polizisten auf der Bühne überging. Er wurde wegen Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Neben Morrison wurden an diesem Abend zwei Musikjournalisten und ein Fotograf von Life-Magazin und The Village Voice sowie diverse Doors-Fans von der Polizei von New Haven verhaftet. Während der Nacht kam es zur Inhaftierung weiterer Morrison-Anhänger, die gegen die Festnahme des Sängers protestiert hatten. Während die lokale Polizeibehörde die Vorwürfe gegen den Sänger einige Wochen später wieder fallenließ, begann die Bundespolizei, in Übereinstimmung mit der Cointelpro-Strategie den Sänger belastendes Material zu sammeln. Das FBI hatte Morrison als Galionsfigur einer Jugendrevolte identifiziert und – als das FBI in den folgenden Monaten Beschwerden aufgebrachter Radiomoderatoren erreichten – als potenzielle Gefahr für die staatliche Ordnung der USA.Seit Dezember 1967 spielten die Doors zunehmend in großen Konzerthallen wie dem Shrine Auditorium in Los Angeles oder dem Fillmore East in New York sowie in Mehrzweckarenen wie dem Madison Square Garden. Diese konnten auch Morrisons mehrteilige Rocktheater-Kompositionen wie The Celebration of the Lizard besser zur Geltung bringen. Morrison und die Doors begannen, nach neuen Formen wie Theaterelementen und Filmeinspielungen zur Anpassung der Konzerte an größere räumliche Dimensionen zu suchen:
Mitte März 1968 zeigten die Doors im Back Bay Theater in Boston erstmals den Kurzfilm zu ihrem Vietnamkriegssong The Unknown Soldier. Als der Kurzfilm veröffentlicht wurde, war in Vietnam seit geraumer Zeit die Tet-Offensive der nordvietnamesischen Armee und des Vietcong im Gang, die in der amerikanischen Öffentlichkeit zunehmend den Eindruck eines verlorenen und sinnlos gewordenen Kriegs vermittelte. Für Morrison hatte der Song durch die Beteiligung seines Vaters am Vietnamkrieg auch einen familiären Hintergrund: George Stephen Morrison war 1964 mit seinem Flugzeugträger maßgeblich am Tonkin-Zwischenfall sowie an den anschließenden Kampfhandlungen zu Beginn des Vietnamkriegs beteiligt gewesen. 1967 hatte Morrisons Vater den Dienstgrad des Admirals erlangt.
Auf stetes Drängen seiner Lebensgefährtin Courson hin verkündete Morrison im Juni 1968 während der Fertigstellung eines weiteren Albums in den neu angemieteten Aufnahmeräumen des „Doors Workshop“ in Los Angeles seine Absicht, nicht länger mit den Doors zusammenzuarbeiten. Manzarek konnte ihn jedoch von diesem Schritt abbringen. Anfang Juli 1968 erhielt Morrison Besuch von Mick Jagger, der mit ihm über Konzertauftritte vor großem Publikum sprechen wollte; weitere Begegnungen ergaben sich im Folgejahr. Im Juli 1968 erschien das dritte und kürzeste Studioalbum der Doors, Waiting for the Sun. Im selben Monat wurde der Morrison-Titel Hello, I Love You zum Nummer-eins-Hit in den amerikanischen „Billboard Hot 100“, zwei Monate später kletterte auch das Studioalbum an die Spitze der Plattencharts („Billboard Top 200“). Bei anschließenden Konzerten wie dem in der Singer Bowl in Queens, New York, kam es am 2. August 1968 auf einer teilweise defekten Bühne zu weiteren Ausschreitungen des Publikums, zu einer Zerstörung der Hallenbestuhlung, Prügeleien von Konzertbesuchern mit dem Sicherheitspersonal, demolierten Instrumenten und zahlreichen Verhaftungen.Seit dem Vorfall in New Haven war Morrison zunehmend ein Dorn im Auge, dass zahlreiche Fans von Doors-Konzerten, die er selbst als „Séance, in einer Umgebung, die lebensfeindlich geworden ist – kalt und restriktiv –,“ verstanden wissen wollte, weitere Gewalt und Krawalle geradezu erwarteten. Doch lotete der Sänger bei Live-Auftritten selbst regelmäßig Toleranzgrenzen seiner Umwelt aus, wollte herausfinden, zu welchen Schritten der Selbstentgrenzung er das Publikum bringen konnte, und regte Zuhörer zum Stürmen der Bühne an:
Zu den professioneller gewordenen Aufnahmesessions erschien Morrison zunehmend angetrunken und verspätete sich zu Live-Auftritten. Zur Besänftigung des Publikums spielten die anderen Doors-Mitglieder Instrumentalstücke.
Am 3. September 1968 begannen die Doors ihre Europa-Tournee in London. Zum Gelingen der Konzerte trug sicherlich auch der Veranstaltungsort bei. Das Roundhouse, eine 1846 errichtete Ruhehalle für Lokomotiven, bot mit seinen Eisensäulen und dem eigenartigen Kuppeldach eine ähnliche Atmosphäre wie die kleinen Hallen in San Francisco. In Frankfurt a. M. kam es am 14. September 1968 zu einem Zwischenfall. Einige anwesende GIs kamen mit der grünen Fahne ihrer kalifornischen Division bis zur Bühne vor. Jim Morrison entriss ihnen die Flagge, rupfte sie von der Bambusstange und warf das zerknüllte und zerfetzte Stoffstück von sich. Die Doors waren verwirrt und beendeten schleunigst das Konzert. Fast alle Zuschauer verließen die Kongresshalle. Nur wenige blieben zurück. Tatsächlich kamen die Doors wieder zurück und setzten vor den ca. 40 Leuten überraschend da ein, wo sie aufgehört hatten. Sie verausgabten sich, legten alles hinein, was an Energiereserven noch vorhanden war. Jim Morrison war völlig erschöpft und verschwitzt, aber glücklich. Gegen 1 Uhr nachts endete die Zugabe, und die Doors gaben bereitwillig Autogramme. Die nächste Station ihrer Tournee war Amsterdam. Am Abend vor dem Auftritt ging es Morrison so schlecht, dass er sofort in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und dort bis zum Morgen durchschlief. Ein Fan hatte Jim in Frankfurt einen Brocken Haschisch zugesteckt. Aus Angst vor dem niederländischen Zoll festgehalten zu werden, schluckte er ihn hinunter. Auf Drängen des Publikums fand das Konzert aber trotzdem statt. Ray Manzarek meisterte die Vocals auf erstklassige Weise. Die beiden Stockholmer Konzerte verliefen entspannt. Am 21. September 1968 flogen die Doors nach Los Angeles zurück.Am Rande der Europa-Tournee besuchte Morrison am 23. September 1968 die Beatles in den Abbey Road Studios, die dort mit Aufnahmen des Lennon-Songs Happiness Is a Warm Gun für ihr Weißes Album beschäftigt waren.Da Morrison mittlerweile nur noch an Wochenenden live auftreten wollte und die Einnahmen der Doors wegen negativer Schlagzeilen und seltener Konzerte hinter den Erwartungen zurückblieben, gab die Band im Oktober 1968 die Rechte an dem Song Light my Fire ohne Morrisons Einverständnis für 60.000 Dollar für einen Buick-Werbespot frei. Als die Band das Angebot erreichte, war Morrisons Aufenthaltsort nicht bekannt. Er war seiner On-off-Partnerin Courson nachgereist, die in London eine Affäre mit dem US-Schauspieler Christopher Jones hatte. Nach Morrisons Rückkehr war der Sänger über den „Ausverkauf“ der Doors aufgebracht, doch ließ sich der Vertrag mit dem Automobilkonzern nicht mehr revidieren. Der Werbespot wurde in begrenztem Umfang in den Bundesstaaten des Südens und Mittleren Westens ausgestrahlt. Im Februar 1969 verzeichneten die Doors in der amerikanischen „Cash Box Top 100“-Hitparade ein letztes Mal einen Nummer-eins-Hit in den USA mit dem Krieger-Song Touch Me.
=== Der Miami-Vorfall ===
Im Frühjahr 1969 wollten die Doors zu einer ersten großen Tournee durch die Vereinigten Staaten aufbrechen. Zum ersten Konzert in Miami reiste Morrison aus Kalifornien an, wo er gerade mehrere Aufführungen der kontroversen New Yorker Theatergruppe Living Theatre an der University of Southern California besucht hatte. Noch unter dem Eindruck der Theater-Performances stehend und über Manipulationen des lokalen Konzertveranstalters beim Ticketverkauf aufgebracht, versuchte Morrison bei dem Konzert am 1. März 1969 im „Dinner Key Auditorium“ in Miami, Aufruhr unter den 13.000 Konzertbesuchern zu stiften („There are no rules! […] Let’s see some action out there. […] You wanna see my cock, don’t you?“). Außerdem simulierte er an Kriegers Gitarre kniend Fellatio. Unter dem von Morrison provozierten Ansturm des Publikums brach die unzulängliche Bühne des „Auditorium“ zusammen.
Nach einem „Sensations-Aufmacher über Anstiftung zum Aufruhr“ in der lokalen Presse erließ die Dade-County-Polizeidirektion am 5. März 1969 Haftbefehl gegen Morrison wegen „unzüchtigen und lasziven Verhaltens“ sowie mehrerer kleinerer Delikte („unzüchtige Entblößung“, „vulgäre Sprache in der Öffentlichkeit“, „öffentliche Trunkenheit“). Gegenüber dem Musikjournalisten Jerry Hopkins deutete Morrison das entglittene Konzert als spielerisches Ereignis:
Morrison hatte bereits bei einem Konzert im November des Vorjahres diffuse Drohungen gegen den designierten US-Präsidenten Richard Nixon ausgesprochen („We’re gonna get him…“). Auf Ersuchen des FBI erließ ein Bundesrichter wegen vermeintlicher „Landesflucht“ Morrisons nach dem Miami-Vorfall – der Sänger hatte einen schon geraume Zeit geplanten Urlaub auf Jamaika angetreten – einen Steckbrief. Schon kurz nach Beginn der Nixon-Ära bildeten sich nunmehr Initiativen empörter Eltern und ehemaliger Fans gegen die Doors wie die „Kundgebung für den Anstand“ in der Orange Bowl in Miami am 23. März 1969, die der erst wenige Wochen amtierende US-Präsident Nixon brieflich unterstützte. 16 US-Bundesstaaten verhängten einen Bann über die Doors, zahlreiche Konzerte wurden abgesagt, und in die Konzertverträge der Doors wurde eine Regressklausel aufgenommen für den Fall, dass die Band weiterhin öffentlich Ärgernis erregte.Im Juni 1969 spielte die Band in Mexiko-Stadt. Im folgenden Monat erschien das Album The Soft Parade. Die Aufnahmesessions, denen George Harrison von den Beatles einen Besuch abgestattet hatte, hatten sieben Monate gedauert und etwa 200.000 Dollar gekostet. Die Hälfte der Liedtexte hatte Krieger verfasst. Das Album, das mit Blas- und Streichinstrumenten arrangiert war, verkaufte sich verhältnismäßig schlecht. Weil Morrison Freiluftkonzerte ablehnte, nahmen die Doors im August 1969 nicht am Woodstock-Festival teil. Ende 1969 war Morrison mit einem weiteren Prozess wegen Belästigung von Flugpersonal in Phoenix sowie Vaterschaftsklagen konfrontiert. Angesichts des drastischen öffentlichen Stimmungsumschwungs gegen die Doors zog Morrison sich zunehmend zurück. Der Miami-Vorfall hatte zugleich die Abkehr Morrisons vom Sexsymbol-Image bedeutet, das ihn zwei Jahre lang umgeben hatte. Er ließ sich einen Bart wachsen, nahm deutlich zu und trennte sich von dem Look mit Lederhose und Conchagürtel, den der Modedesigner January Jansen für ihn entworfen hatte.
Im Februar 1970 erschien die von rauen Rhythm-and-Blues-Songs geprägte Schallplatte Morrison Hotel. Zu den vielfältigen Turbulenzen in Morrisons Leben seit dem Miami-Vorfall zählte, der Musikkritikerin Patricia Kennely zufolge, eine informelle, rechtlich unwirksame Eheschließung mit ihr am 24. Juni 1970. Acht Jahre nach Morrisons Tod änderte die Kritikerin und Schriftstellerin ihren Namen infolgedessen in Patricia Kennealy Morrison. Auf Einladung der französischen Filmemacherin Agnès Varda bereiste Morrison im Juni 1970 gemeinsam mit dem PR-Berater der Doors, Leon Barnard, erstmals Frankreich. Er gab an, sich auf eine zu dieser Zeit für den August und September geplante zweite Europa-Tournee der Doors durch die Schweiz, Dänemark, Deutschland, Italien und Frankreich vorbereiten zu wollen. Am 18. Juli 1970 besuchte er in London das Pink-Floyd-Konzert im Hyde Park. Auf der Suche nach seiner verschollenen Lebensgefährtin Courson fuhr Morrison im selben Monat auch nach Tanger. Nach seiner Rückkehr nach Los Angeles war der Sänger aufgrund einer Lungenentzündung gesundheitlich stark angeschlagen. Von der geplanten zweiten Europa-Tournee blieb aufgrund der zeitlichen Verzögerung von Morrisons Miami-Prozess schließlich nur ein Auftritt beim Isle of Wight-Festival übrig, den die Doors im August 1970 vor über einer halben Million Zuschauern spielten.
In dem Gerichtsprozess, der auf den Miami-Vorfall des Vorjahres folgte, wurde Morrison, der gefürchtet hatte, in seinem Heimatstaat Florida „gekreuzigt“ zu werden, im Oktober 1970 zu der von der Staatsanwaltschaft geforderten Höchststrafe verurteilt. Diese umfasste sechzig Tage harter Arbeit im Miami-Dade-County-Gefängnis für den Tatbestand der vulgären Sprache in der Öffentlichkeit, sechs Monate harter Arbeit an selber Stelle sowie eine Geldstrafe von 500 Dollar aufgrund von öffentlicher Entblößung – ein Tatbestand, der von den Anklagevertretern nicht hatte bewiesen werden können. Beide Haftstrafen sollten nacheinander abgeleistet werden. Für die Verurteilung aufgrund von öffentlicher Entblößung wurde Morrison bei guter Führung eine Entlassung nach zwei Monaten und die Aussetzung der verbleibenden viermonatigen Haftstrafe auf Bewährung in Aussicht gestellt. Darüber hinaus wurde eine weitere zweijährige Bewährungsstrafe über ihn verhängt. Der Doors-Sänger blieb nach Hinterlegung einer Kaution von 50.000 Dollar in Freiheit, und Morrisons Anwalt Max Fink kündigte eine Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils vor dem Berufungsgericht von Florida an. Morrison deutete den Prozess als gegen den von ihm verkörperten Lebensstil gerichtet:
Dennoch bedeutete die Verurteilung für Morrison, „dass sein gesamtes weiteres Leben einem juristischen Drahtseilakt gleichkommen würde.“ Erst vier Jahrzehnte später erfolgte eine Revision des Urteils durch den Begnadigungsausschuss des Staates Florida in Tallahassee. Der republikanische Gouverneur von Florida Charlie Crist hatte sie beantragt, weil es so ausgesehen habe, „als ob eine Ungerechtigkeit korrigiert werden“ musste. Das Urteil wurde am 9. Dezember 2010 aufgehoben.Im Oktober 1970 kamen die Doors zusammen, um ihr letztes gemeinsames Album, L.A. Woman, aufzunehmen, das starke Blues-Einflüsse aufwies. Bei einer Show am 11. Dezember 1970 in der State Fair Music Hall in Dallas spielten die Doors das einzige Mal den Song Riders on the Storm live. Am folgenden Abend gab Morrison im The Warehouse in New Orleans ein letztes unmotiviertes Konzert gemeinsam mit den Doors. Nachdem er seine Gesangseinsätze wiederholt verpasst, nach einem Tritt des Schlagzeugers einen Wutanfall erlitten und Teile der Holzbühne zerstört hatte, beschlossen die Doors einvernehmlich, weitere Konzerte auszusetzen.
Bei einem Sturz vom Dach eines zweigeschossigen Bungalows des Chateau Marmont Hotel im späteren West Hollywood zog Morrison sich im Januar 1971 Rippenprellungen zu.
=== Auszeit in Paris und Tod ===
Pamela Courson hatte sich im Zusammenhang mit der erfolglosen Boutique Themis, deren Einrichtung Morrison ihr zum Dezember 1968 in West Hollywood finanziert hatte, bereits zuvor in Paris aufgehalten. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit Morrison wegen ihres Heroinkonsums war sie Ende September 1970 nach Paris verreist und kehrte dorthin erneut im Februar 1971 zurück. Seiner Rolle bei den Doors überdrüssig und unter dem Eindruck des Miami-Urteils stehend folgte Morrison seiner Langzeitfreundin nach Paris. Nach der umstrittenen Einschätzung des Morrison-Biografen Stephen Davis verstieß Morrison mit seinem Fortgang aus den Vereinigten Staaten gegen gerichtliche Kautionsvereinbarungen. Im März 1971 wohnte er mit Courson zunächst im Hotel Georges V. im 8. Arrondissement. Anschließend lebten sie zur Untermiete in Paris, 17 Rue Beautreillis, dritter Stock, einem luxuriös eingerichteten Appartement des französischen Fotomodells Elisabeth Larivière.Morrison führte in Paris ein zurückgezogenes Leben. Er wollte vor allem an Gedichten und Drehbüchern arbeiten und eine Gedicht-LP vorbereiten. Da weder Courson noch Morrison Französisch sprachen, stellten sie eine kanadische Sekretärin, Robin Wertle, ein. Der Sänger klagte in Paris wiederholt über starke Atembeschwerden. Ärztlich verordnete Asthma-Medikamente führten zu keiner Linderung. Im April unternahmen Morrison und Courson auf den ärztlichen Rat hin, Morrison solle sich in einer warmen Region erholen, eine Reise in den Südwesten Frankreichs, nach Spanien und Marokko. Im Mai bereisten sie Korsika und Anfang Juni London.
In den ersten Julitagen führte Morrison eine Selbstmedikation gegen seine ausgeprägten Atembeschwerden durch, indem er gemeinsam mit Courson Heroin schnupfte, das neben der narkotischen und schmerzbetäubenden Wirkung auch eine ausgeprägte hustenstillende Wirkung hat. Am Morgen des 3. Juli 1971 starb Jim Morrison im Alter von 27 Jahren. Als Todesursache attestierte der offizielle gerichtsärztliche Bericht vom 3. Juli 1971 einen Herzstillstand, doch konnten die genauen Umstände von Morrisons Tod in Paris nicht mit Sicherheit ermittelt werden. Da Courson den Tod Jim Morrisons später auf eine Überdosis Heroin zurückführte, Morrisons Leiche nicht obduziert und die Nachricht von seinem Tod erst am 9. Juli 1971, zwei Tage nach seiner Beerdigung, offiziell bekannt gegeben wurde, kam es zu umfangreichen Legendenbildungen um die Umstände seines Ablebens.
Die Morrison-Biografen Hopkins/Sugerman hielten es 1980 unter anderem für möglich, dass Morrison seinen Tod vorgetäuscht hatte, um „Frieden zum Schreiben zu finden“, und wollten auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Morrison ermordet worden oder „Opfer einer politischen Verschwörung geworden“ war. Danny Sugerman machte 1989 in seiner Autobiografie Wonderland Avenue bekannt, dass Courson davon überzeugt war, ihr Freund sei an einer Heroinüberdosis gestorben. Im Anschluss an Sugermans Buch kursierten vermehrt Berichte von einem Drogentod Morrisons. Die Biografen Riordan/Prochnicky wiesen 1991 die Möglichkeit von Morrisons Überleben zurück und nahmen in Übereinstimmung mit Sugermans Autobiografie an, dass Morrison in seiner Pariser Wohnung an einer Heroin-Überdosis gestorben war. Der Biograf Davis ließ 2004 die eigentliche Todesursache offen, gab jedoch an, dass Pamela Courson am 3. Juli nach Morrisons Tod in der gemeinsamen Wohnung Unterstützung bei ihrem Heroindealer Jean de Breteuil sowie bei Morrisons Freunden Alain Ronay und Agnès Varda gesucht habe, bevor die Polizei eintraf. Marianne Faithfull äußerte 2014 die Überzeugung, dass ihr damaliger Partner, Jean de Breteuil, Morrison mit Heroin, das angesichts dessen Alkoholismus und Herzerkrankung zu stark für diesen gewesen sei, versorgt habe; sie sieht Morrisons Tod als Unfall, nicht als Mord an.
=== Rekonstruktion der Todesumstände und Beerdigung ===
Trotz zahlreicher Abweichungen im Detail geben Jim Morrisons Biografen mehrheitlich als „offizielle Lesart“ den auf Pamela Courson zurückgehenden Bericht wieder, dass Courson Jim Morrison am Morgen des 3. Juli 1971 in ihrer Pariser Wohnung aufgeweckt habe, da sie wahrnahm, dass er starke Atembeschwerden hatte. Sie brachte Morrison in die Badewanne, um ihn kalt abzuduschen. In der Badewanne erbrach sich Morrison mehrmals und blutete aus der Nase. Schließlich setzte seine Atmung aus. Als der wegen Asphyxie zu Hilfe gerufene Rettungsdienst der Pariser Feuerwehr am 3. Juli 1971 wenige Minuten nach dem Hilferuf um 9:24 Uhr eintraf, war Morrison tot. Da der Rockstar nicht erkannt worden war und der untersuchende Kriminalbeamte mutmaßte, dass Drogen im Spiel waren, verzichtete der Gerichtsmediziner auf eine Obduktion, weil er annahm, dass eine Obduktion den Verdacht des Drogenkonsums bestätigen würde. Die Untersuchungsbeamten gingen davon aus, dass Morrison im Fall einer Drogenüberdosis seinen Tod selbst verschuldet hatte.Zahlreiche Publikationen sind vorrangig Morrisons letzten Lebenswochen und den näheren Umständen seines Todes gewidmet. Die relevanten Dokumente zu Morrisons Tod veröffentlichte erstmals Bob Seymore 1991 in seinem Buch The End – The Death Of Jim Morrison. Am stärksten von der „offiziellen Lesart“ wich Sam Bernett ab, der in einem anderweitig nicht bestätigten Bericht angab, Morrison sei in seinem Pariser Nachtklub, dem „Rock ’n’ Roll Circus“, auf der Toilette an einer Überdosis Heroin gestorben. Nach Heinz Gerstenmeyer ist Morrisons Tod – aufgrund eines Lungenversagens nach einer länger anhaltenden Lungenblutung – erst wenige Minuten vor dem Eintreffen des Rettungsdienstes der Pariser Feuerwehr in Morrisons Wohnung eingetreten. Entgegen Coursons dringlicher Bitte verständigten Alain Ronay und Agnès Varda, zwei Freunde Morrisons, die Courson aufgrund ihrer Sprachprobleme telefonisch um Unterstützung gebeten hatte, den Rettungsdienst erst mit halbstündiger Verzögerung. Da Ronay fürchtete, mit Coursons und Morrisons Heroinkonsum in Verbindung gebracht zu werden, habe er sich zunächst selbst einen Eindruck vom Gesundheitszustand seines ehemaligen Studienfreundes verschaffen wollen.Am Tag nach Morrisons Tod entdeckte Courson, die in der Wohnung bis zur Erteilung der Bestattungserlaubnis zwei Nächte lang Totenwache hielt, in einem Notizbuch Morrisons die Zeilen:
Morrison wurde am Morgen des 7. Juli 1971 auf dem Pariser Ostfriedhof Père Lachaise in der 6. Division, 2. Reihe, Grab 5 beigesetzt. An der Beerdigung nahmen nur Pamela Courson, der Doors-Manager Bill Siddons, Alain Ronay, Agnès Varda und Morrisons Sekretärin Robin Wertle teil. Nach dem Diebstahl einer kleinen Steintafel 1973 wurde erst im Juni 1981 ein Grabstein, den die drei verbliebenen Doors-Musiker finanziert hatten, errichtet. Im Dezember 1990 ließen Morrisons Eltern einen neuen monumentalen Grabstein mit einer Bronzeplatte errichten; diese trägt die altgriechische Grabinschrift „ΚΑΤΑ ΤΟΝ ΔΑΙΜΟΝΑ ΕΑΥΤΟΥ“, die „gemäß seinem Dämon“ oder „gemäß seinem Schicksal“ bedeutet. Die Außenmauer des Friedhofs wurde kurz darauf um eine mit Eisenspitzen bewehrte Mauerkrone ergänzt, um Morrison-Fans vom nächtlichen Vordringen auf den Friedhof abzuhalten. Das Grab zog gerade während der 1990er Jahre zu Morrison-Gedenktagen wiederholt auch gewalttätige Randalierer an. Nach jahrzehntelangen Gerüchten um eine mögliche Verlegung oder Auflösung des Grabs erklärte der vormalige französische Kulturminister und seinerzeitige Justizminister Jacques Toubon im März 1996 im französischen Fernsehen, dass Jim Morrisons Grab Bestandteil des Kulturdenkmals Père Lachaise sei und deshalb zeitlich unbegrenzt bestehen bleibe.Angaben der Friedhofsverwaltung aus dem Jahr 2004 zufolge handelt es sich bei dem Grab des Rocksängers um eine der populärsten Pariser Touristenattraktionen und um das meistbesuchte der 70.000 Gräber des Père Lachaise, auf dem zahlreiche bekannte Persönlichkeiten ruhen. Die Pariser Stadtverwaltung schätzte die Anzahl der Besucher des Grabs im Jahr 2001 auf etwa 1,5 Millionen. Nach einer ersten zeitweiligen Sperrung von Morrisons Grab 1988/1989, die keinen Rückgang des Besucherzustroms bewirkte, ist die Grabstelle seit 2004 erneut durch ein Metallgitter abgesperrt. In einer ethnologischen Feldstudie wurde das Grab als modernes Wallfahrtsziel und „polymorphe heilige Stätte“ beschrieben, an der zumindest eine der unterschiedlichen Kategorien von Besuchern spirituelle Inspiration bei Morrison als einer „Gestalt von transzendenter Bedeutung“ suche. Bei seiner Verklärung wird oft übersehen, dass der massive Alkoholkonsum und auch der Drogenmissbrauch schon nach den ersten Erfolgen sein schöpferisches Talent beschädigte. Nach den ersten Erfolgen 1967 behinderten die hohen Mengen Alkohol zunehmend seine Fähigkeit, kreative Inspirationen auszuarbeiten. In einem Teufelskreis führte der Verlust seiner kreativen Ausdrucksmöglichkeiten zu einer Steigerung des Alkoholkonsums und Drogenmissbrauchs und letztlich zu seinem Tod.
== Künstlerisches Werk und Wirkung ==
Zu Morrisons raschem Aufstieg als Rockstar und seiner außerordentlichen Popularität in den späten 1960er Jahren trugen zahlreiche Faktoren bei, darunter die von den Doors verkörperte Antithese zu den verklärten Traumwelten, für die Teile der Folkszene und die Flower-Power-Musik der 1960er Jahre standen, Morrisons „etwas raue Baritonstimme“ und seine erotische Ausstrahlung, seine dunklen, anspruchsvollen Texte und seine spektakulären Auftritte. Morrisons Selbstinszenierung, Selbstmythisierung und seine Manipulation der Medien mit griffigen Schlagwörtern, sein rebellischer und gegen etablierte Autoritäten gerichteter Habitus, sein selbstzerstörerischer Lebensstil und seine skandalösen Grenzüberschreitungen boten einem vorwiegend jugendlichen Publikum auf der Suche nach Orientierung und persönlicher Freiheit vielfältige Projektionsflächen.
Unter Rückgriff auf indigen beeinflusste Chiffren wie den Rock-„Schamanen“ oder „Echsenkönig“ hatte Jim Morrison sich darauf verstanden, mit einem betont männlichen Erscheinungsbild aus Lederhose, weißem Hemd und dem Conchagürtel der Navajo-Indianer einen Mythos um die eigene Person zu bilden. Binnen weniger Jahre drohte er dauerhaft auf die Rolle des mysteriösen, erotischen und skandalösen Rockstars festgelegt zu werden. Je stärker das Bühnen-Image des dionysisch-rauschhaften „Weltenkünstlers“ im Sinne Nietzsches, dem Morrison sich auch durch Alkohol- und Drogenkonsum nicht entziehen konnte, außer Kontrolle zu geraten drohte, desto wichtiger wurde ihm „alles, was Leute zum Denken bringt“ und die inhaltliche Auseinandersetzung des Publikums mit seinem künstlerischen Schaffen. Auch seine Aneignung der Figur des „Schamanen“ ging weit über einen Marketingtrick hinaus; Morrison begründete seine Identifikation mit dieser Figur dadurch, dass bei einem Autounfall, dessen Zeuge er als Vierjähriger zufällig wurde, die Seelen zweier dabei verstorbener Indianer in ihn eingedrungen seien. Er beschäftigte sich eingehend mit der ethnologischen und religionswissenschaftlichen Literatur zum Schamanismus und fügte die Idee eines „Mittlers zwischen den Welten“ in sein von Nietzsches apollinisch-dionysischer Kunstkonzeption, der Psychologie Norman O’Browns und Antonin Artauds Theaterkonzeption geprägtes Weltbild ein. Die Figur des Schamanen ging dabei eine Synthese mit der des Dionysos, des Hitchhikers und Vatermörders ein. Zugleich fügte er auch Elemente der schamanischen Séance in seine Bühnenauftritte ein.Wenngleich Morrison vor allem durch seine Songs bekannt wurde, hinterließ er ein künstlerisches Gesamtwerk von insgesamt über 1600 Manuskriptseiten, darunter Gedichte, Anekdoten, Epigramme, Essays, Erzählungen, Songtexte, szenische Texte und Drehbuchentwürfe. Morrison versuchte, verschiedene Kunstformen miteinander in Einklang zu bringen und zu vereinen:
Als verbindendes Element von Morrisons musikalischen Arbeiten und seinen literarischen und filmischen Versuchen deutete Collmer Morrisons persönliche Befreiungsversuche und seine Absicht, „die Kontrolle über das eigene Leben so weit wie möglich zurückzugewinnen.“ Als Hintergrund seiner künstlerischen, insbesondere seiner literarischen Ambitionen nannte Morrison die Absicht zur Förderung eines neuen Bewusstseins:
Morrison äußerte sich ungern über eigene Texte und warnte in einem Interview 1967 davor, seine vieldeutigen Arbeiten auf einfache Botschaften zu reduzieren. Nach Auffassung des Sängers – dem nach der im Elternhaus erlebten autoritären Erziehung die Vorstellung von eigener Autorität, die Übernahme von persönlicher Verantwortung und von Führungsrollen ohnehin fremd geblieben waren – sollten Leser und Zuschauer seine Arbeiten auf ihre eigenen Kontexte übertragen: „Ich biete Bilder an. Ich beschwöre Erinnerungen an … Freiheit. Doch können wir nur Türen öffnen; wir können Leute nicht hindurchschleifen.“Der Rolling Stone listete Morrison 2008 auf Rang 47 der 100 größten Sänger aller Zeiten.
=== Musik und Live-Auftritte ===
Nach dem Verfall des Rock ’n’ Roll hatte an der US-Westküste in den frühen 1960er Jahren neben dem poppigen Soul des Motown-Labels und der Surfmusik die fast ausschließlich akustisch instrumentierte Folkmusik um Künstler und Bands wie Bob Dylan oder Simon and Garfunkel dominiert. Parallel zur British Invasion durch Gruppen wie die Beatles, die Rolling Stones, The Who oder The Kinks hatten US-Bands wie die Byrds und The Beau Brummels die Elektrifizierung der US-Folkszene betrieben. Damit einher ging die Entwicklung zum Psychedelic Rock mit seinen experimentelleren Songstrukturen und neuen Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead. Im Gegensatz zu Teilen der „Flower Power“-Musik, bei der jedermann gemäß der „Love, Peace and Happiness“-Maxime „von Räucherstäbchen, Pfefferminz und orangefarbenen Himmeln zu singen schien,“ strahlten die Songs der Doors eine ungewöhnlich düstere und aggressive Atmosphäre aus. Zugleich hoben die Doors sich durch ihren attraktiven Frontmann, poetische Songtexte, ihre psychedelischen Konzeptstücke und eine provokative Bühnenshow deutlich vom Auftreten anderer Gruppen der späten 1960er Jahre ab, was Morrison und seiner Band ab 1967 in den USA eine Sonderstellung im noch jungen Rockmusik-Genre verschaffte.
Morrison verfasste den größten Teil der Songtexte der Doors, und er konzipierte die Grundmelodie zahlreicher Lieder. Da Morrison eine Ausbildung am Klavier nach wenigen Monaten abgebrochen hatte und keine Notationstechniken beherrschte, bereitete es ihm anfangs Schwierigkeiten, die Melodien seiner Songs zu fixieren:
Erst in der gemeinsamen Kompositions- und Probenarbeit mit den anderen Doors-Mitgliedern ließ sich das Problem der vergänglichen Melodien lösen, wie Manzarek sich erinnerte: „Jim sprach-sang die Wörter immer wieder, und währenddessen entwickelten sich langsam die dazu passenden Töne.“ Seine Bandkollegen regte Morrison 1965 dazu an, eigene Songtexte zu verfassen, die sich auf Elementarkräfte und -bilder wie Erde, Luft, Feuer und Wasser beziehen sollten. Dem intensiven gemeinsamen Schaffensprozess trug der Sänger Rechnung, indem er die Urheberschaft an den Liedern meist der gesamten Gruppe zuschrieb („All Songs Written by The Doors“). Auch andere Künstler unterstützte er beim Songschreiben wie die deutsche Sängerin Nico, deren Album The Marble Index (1968) zahlreiche Anregungen Morrisons enthält.Morrison schrieb über hundert Lieder mit einer großen Bandbreite musikalischer Stile: Blues, Rocksongs, Psychedelic Rock, Hard Rock, Balladen, Seemannslieder oder A-cappella-Gesang. Der Sänger betrachtete die Doors als weiße Bluesband und machte als Einflüsse neben Blues und Rock ’n’ Roll auch Jazz und einen kleinen Anteil klassischer Einflüsse geltend. Das musikalische Spektrum Morrisons und der Doors umfasste auch Elemente des epischen Theaters der zwanziger Jahre (Coverversion des Alabama Song aus Brechts und Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny) oder Barockmusik, wie ein postum veröffentlichtes Lied belegt (Woman in the Window, 1971), das auf einer Melodie von Johann Sebastian Bach basiert. Zahlreiche von Morrisons Songtexten enthalten literarische Anspielungen und Zitate wie etwa End of the Night (1967), das im Wesentlichen auf Versen Louis-Ferdinand Célines und William Blakes beruht.Auf der Bühne setzte Morrison die Doors-Songs als Sänger, Performer und Perkussionsspieler in Szene. Morrison hatte in seinen Schul- und Collegejahren mehrfach an Theateraufführungen mitgewirkt. Beeinflusst von den Konzeptionen Antonin Artauds oder von Julian Becks „Living Theatre“, dessen Improvisationsstück Paradise Now den Doors-Sänger im Februar 1969 mehrfach spontan zum Mitspielen angeregt hatte, erweiterte Morrison das Repertoire der Rockmusik um Formen eines „Rocktheaters“. Besondere Bedeutung kam dabei epischen Konzeptstücken wie The End (1967), When the Music’s Over (1967), The Unknown Soldier (1968), The Celebration of the Lizard (1965–68), Rock is Dead (1969) oder The Soft Parade (1969) zu, die sowohl gesprochene als auch gesungene Passagen und Soundeffekte enthielten. Diese Stücke eigneten sich besonders für improvisatorische Variationen und zielten auf eine intensive Interaktion mit dem Publikum ab:
Bei Livekonzerten nutzte der Sänger die offenen Konzeptstücke der Doors regelmäßig als „erweiterbares Gewebe für seine poetischen Stücke, Fragmente, kleinen Couplets und die Dinge, die ihm gerade auf der Zunge lagen.“ In einem Interview hob Morrison im Juni 1969 die Unabgeschlossenheit der Doors-Songs und die Möglichkeit hervor, bei Live-Auftritten unterschiedliche Versatzstücke assoziativ aneinanderreihen und ineinander übergehen lassen zu können:
Die für Morrison charakteristische Technik der Verknüpfung von Musik mit literarischen Texten fand in Gestalt rezitativer Beiträge wie Horse Latitudes (1967) in die Studioalben der Doors Eingang. Zu den theatralen Einlagen von Morrisons Bühnenauftritten zählte ein indianischer Geistertanz, der an die vielfältigen Anspielungen seiner Songtexte auf indianische Lebenswelten (Eidechsen, Schlangen, Wüsten etc.) anknüpfte. Nach Riordan/Prochnicky war Morrison 1966 zudem der erste Rock-Performer, der sich in das Publikum fallen ließ (Stagediving).
=== Lyrik ===
Neben Morrisons Gesang und Songtexten fanden seine literarischen und filmischen Arbeiten nur geringe Beachtung. Der Rockstar gab an, die besondere Stärke der Poesie liege in ihrer Dauerhaftigkeit begründet:
In seiner umfangreichen Studie zum Dichter Jim Morrison urteilte Collmer, im Vergleich zu seinen literarischen Vorbildern sei Morrison „überhaupt nicht als literarisches Genie [zu] bezeichnen“, doch habe er, „vereinzelt, beachtenswerte literarische Leistungen“ hervorgebracht. Auf der Grundlage von Tageseindrücken habe Morrison in seinen Texten regelmäßig mehrschichtige Bedeutungsgehalte aufgebaut.
Die Einflüsse auf Morrisons literarisches Schaffen sind vielfältig. Neben Versatzstücken der Kulturen der amerikanischen Ureinwohner spiegeln seine Texte Anregungen von Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie dem Naturmystiker William Blake oder den französischen Symbolisten Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud wider. Deutliche Spuren hinterließen die Autoren der Beat Generation der 1950er Jahre wie Jack Kerouac (vor allem die „Beat-Romane“ Unterwegs und Doctor Sax) oder Michael McClure, deren Arbeiten von spontanen Schaffensformen und offenen Kompositionsprinzipien geprägt waren. Aus Kerouacs Werken übernahm Morrison indianische, aztekische oder ägyptische Chiffren. Die Werke des Mythenforschers Joseph Campbell und des Sozialanthropologen James Frazer fanden Niederschlag in Arbeiten wie The Celebration of the Lizard.
Morrison war Autor des aphoristischen Lyrikbands The Lords / Notes on Vision, der sich auf „ein romantisches Geschlecht von Menschen, die einen Weg gefunden haben, ihre Umwelt und ihr eigenes Leben zu kontrollieren“, und auf filmästhetische Fragen konzentrierte. Sein zweiter Band The New Creatures (1969) griff im Titel ein Paulus-Zitat (2 Kor 5,17 ) auf. Beide Lyrikbände erschienen im April 1970 gemeinsam als Hardcover bei Simon & Schuster. Im selben Jahr ließ Morrison in einem Privatdruck bei Western Lithographers den Lyrikband An American Prayer drucken. Einzelne Gedichte wurden in diversen amerikanischen und britischen Zeitschriften („16 Spec“, „Circus“, „Disc“, „Eye“, „The Los Angeles Image“, „Rolling Stone“) abgedruckt.
Zu öffentlichen Lesungen kam es kaum, weil Morrison es „ziemlich hart [fand], etwas einfach so trocken vorzulesen.“ Während seiner Collegezeit in St. Petersburg hatte Morrison 1961/62 erstmals im Contemporary-Café eigene Texte vorgetragen und sich selbst auf der Ukulele begleitet. Im Mai 1969 trug der sichtlich nervöse Doors-Frontmann seine Lyrik sowohl in der Sacramento State College Gallery (SacSC Gallery) als Gast Michael McClures als auch an zwei Abenden im Kino „Cinematheque 16“ in Los Angeles bei einer Benefiz-Veranstaltung des US-Schriftstellers Norman Mailer vor. Auch während eines Jimi-Hendrix-Konzerts im The Village Gate in New York soll Morrison am 4. Mai 1970 eigene Texte vorgetragen haben.Mehrfach zeichnete der Sänger eigene Lyrik in Tonstudios auf. Die erste Aufnahme von 40 Gedichten entstand wohl am 8. Juni 1969 im Elektra Sound Recorders-Studio in Los Angeles und wurde auszugsweise 1978 auf der Lyrik-LP An American Prayer der Doors veröffentlicht. Eine zweite Studio-Session, die 22 teilweise unvollendete Texte Morrisons umfasste, wurde am 8. Dezember 1970 im Village Recorders-Studio aufgezeichnet. Der Ruf Morrisons als amerikanischer Poète maudit wurde durch die nach dem Tod des Sängers veröffentlichten Lyriksammlungen Wilderness – The Lost Writings of Jim Morrison (1988) und The American Night (1990) weiter gefestigt (zuvor auf Deutsch bereits Ein Amerikanisches Gebet, 1978, und Far Arden, 1985). In Zusammenhang mit der allmählichen Publikation von Nachlasstexten seit den 1980er Jahren wurden Morrisons metaphernreiche Songtexte und Gedichte wiederholt zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Zugleich nahm der Marktwert von Morrison-Autographen zu: Eine Handschrift von The Celebration of the Lizard erzielte bei einer Auktion von Christie’s in New York am 4. Februar 1998 einen Preis von 40.000 Dollar, ein L.A.-Woman-Autograph wechselte bei einer Auktion in Berkshire am 4. August 2010 für 13.000 Pfund Sterling (etwa 16.000 Euro) den Besitzer und zwei seiner Pariser Notizhefte erzielten 2007 und 2013 Preise von 140.000 bzw. 200.000 Dollar.
=== Filmprojekte ===
Morrison hatte zunächst Filmregisseur werden wollen. Während seiner Studienzeit produzierte er 1964/65 mit seinen Kommilitonen Phil O’Leno und John DeBella zwei unkonventionelle Kurzfilme in Montagetechnik. In seinem Gedichtband The Lords (1969), der von den Schriften des klassischen Philologen Norman O. Brown inspiriert ist, stellte Morrison das Kino als „totalitärste aller Kunstformen“ dar. Das Kino vermittle dem Zuschauer den Eindruck, dass der Schmerz der Individualität vorübergehend aufgehoben sei. Darüber hinaus entspreche der Film am stärksten der Alltagswahrnehmung:
Gemeinsam mit dem Beat-Schriftsteller Michael McClure, den Morrison im Mai 1967 in Los Angeles kennengelernt hatte, arbeitete der Sänger später an verschiedenen, nicht realisierten Filmprojekten. Im September 1968 planten beide in London eine Verfilmung von McClures Stück The Beard (1965), in der Morrison die Rolle des Gesetzlosen und Serienmörders Billy the Kid spielen sollte. Im selben Jahr trat Morrison als Statist in Agnès Vardas US-Filmkomödie Lions Love auf. Weitere Filmpläne Morrisons betrafen McClures mystischen Abenteuerroman The Adept (veröffentlicht erst 1971). Gemeinsam erstellten McClure und Morrison 1970 für MGM eine Drehbuchfassung des Romans, die mehrere hundert Seiten umfasste.Der von Morrison und den Doors als „Dokument dieser Ära“ produzierte kurze Konzertfilm A Feast of Friends wurde im Mai 1969 auf dem „Atlanta International Film Festival“ mit dem ersten Preis in der Kategorie „Dokumentarfilm“ ausgezeichnet und im selben Jahr bei zahlreichen anderen Filmfestivals gezeigt, hatte beim Publikum und den Kritikern allerdings nur begrenzt Erfolg. Manzarek, Krieger und Densmore distanzierten sich zur Enttäuschung Morrisons von dem Film.Morrisons bekanntestes, aber öffentlich nur am 27. März 1970 im Queen Elisabeth Theatre in Vancouver und erneut in Paris 1993 gezeigtes Filmprojekt ist HWY: An American Pastoral. Das zwischen Frühjahr und Sommer 1969 entstandene, wenig strukturierte Spielfilmfragment im Stil des Direct Cinema weist starke Abweichungen vom unvollendeten Drehbuch auf. Morrison finanzierte durch die eigens dafür gegründete Produktionsgesellschaft „HiWay Productions“ sein Low-Budget-Projekt über einen Anhalter, der in einer unwirtlichen Gegend seinen Fahrer tötet und dessen Auto stiehlt. Als Collegestudent war Morrison 1962 regelmäßig per Anhalter von Tallahassee 450 Kilometer zu einer Freundin nach Clearwater gefahren. Die bei Palm Springs in der Mojave-Wüste und in Los Angeles gedrehten Filmsequenzen über den Highway-Mörder – eine Vatermörder-Chiffre – sollten der Einholung weiterer Gelder dienen, mit denen das Projekt hätte abgeschlossen werden können. Unterstützt wurde Morrison bei HWY von seinen Freunden Paul Ferrara, Frank Lisciandro und Babe Hill. Den Soundtrack produzierte der mit Morrison befreundete Pianist Fred Myrow. Im Oktober 1969 wurde die Filmhandlung durch die von besonderer Grausamkeit gekennzeichneten Tate-/LaBianca-Morde, die Mitglieder der Manson Family in Los Angeles begingen, von der Wirklichkeit eingeholt. Auszüge aus dem HWY-Filmmaterial wurden erst 2009 in Tom DiCillos Kino-Dokumentation When You’re Strange (deutsch: The Doors: When You’re Strange) veröffentlicht.1971 wollte Morrison während seines zweiten Paris-Aufenthalts A Feast of Friends und HWY zur Aufführung bringen. Morrison arbeitete an weiteren Filmprojekten. Wie seit 1968 mehrfach geschehen, erreichten ihn auch in Paris Anfragen zur Übernahme von Rollen in Spielfilmen.
=== Nach Morrisons Tod ===
Trotz seiner nur wenige Jahre andauernden Karriere mit den Doors hat der Rockstarmythos um Morrison in Zusammenhang mit mehreren Kinofilmen (darunter Apocalypse Now 1979, The Doors 1991, Forrest Gump 1994 und When You’re Strange 2009) und Buchpublikationen mehrere Renaissancen erlebt. Die verbliebenen Bandmitglieder der Doors haben sechs Jahre nach Morrisons Tod eine Auswahl hinterlassener Gedichtaufnahmen mit Musik unterlegt, sie um alte Doors-Livemitschnitte und eine Sequenz aus dem Morrison-Film HWY ergänzt und diese 1978 auf dem Spoken-Word-Album An American Prayer veröffentlicht. Das Album klang mit Remo Giazottos von Tomaso Albinoni inspirierter Komposition Adagio g-Moll aus. An American Prayer wurde im Juni 1995 zum Nummer-eins-Album auf dem „Billboard’s Top Pop Catalogue Albums“ und war das einzige Doors-Album, das in den USA für einen Grammy (als Best Spoken Word Album) nominiert war.
Ebenfalls im Jahr 1978 entstand der Dokumentarfilm 20 Stunden mit Patti Smith, in dem sich die Punksängerin Patti Smith beim Lesen von Morrison-Gedichten filmen ließ. Neben Patti Smith beeinflusste Morrison mit seinem Erscheinungsbild und dem Habitus des revoltierenden Rockstars in den folgenden Jahrzehnten unterschiedliche Musiker und Bands wie Scott Stapp von Creed, Iggy and the Stooges, Ian Curtis von Joy Division oder Scott Weiland von den Stone Temple Pilots.
Der US-Regisseur Francis Ford Coppola, der gemeinsam mit Morrison das Filminstitut der UCLA besucht hatte, griff 1979 für den Soundtrack seines Antikriegsfilms Apocalypse Now neben Richard Wagners Walkürenritt auch auf Doors-Musik zurück. Die Eingangssequenz des Films unterlegte Coppola mit dem Song The End.
Die erste Morrison-Biografie No One Here Gets Out Alive (deutsch: Keiner kommt hier lebend raus) von Jerry Hopkins und Danny Sugerman wurde 1980 mit weltweit mehr als vier Millionen verkauften Exemplaren zu einem Kassenschlager und führte zu einem Wiederaufleben des Interesses an dem verstorbenen Doors-Sänger. Der Titel von Hopkins/Sugermans Rockstarbiografie war dem Doors-Song Five To One (1968) entlehnt. In Zusammenhang mit Hopkins/Sugermans Spekulationen über ein Überleben Morrisons entstand auch das Genre der fingierten Morrison-Biografien und -Romane, deren Gegenstand frei erfundene Abenteuer des „weiterlebenden“ Doors-Frontmanns sind.Der US-amerikanische Filmregisseur und Oscar-Preisträger Oliver Stone verfilmte 1990 die Morrison-Biografie und die Geschichte der Band unter dem Titel The Doors. Der Film, der hauptsächlich auf der Morrison-Biografie von Hopkins und Sugerman basierte, trug maßgeblich zur posthumen Imagebildung und -verfestigung Morrisons bei. Schauspieler wie Richard Gere, Michael O’Keefe oder John Travolta hatten Interesse an der Rolle Morrisons gezeigt, die schließlich von Val Kilmer übernommen wurde. Meg Ryan spielte Pamela Courson. In Cameo-Auftritten traten die britischen Rockmusiker Eric Burdon und Billy Idol und zudem Robbie Krieger, John Densmore sowie Patricia Kennealy auf. Die Authentizität von Stones cineastischem Porträt Morrisons als modernen Schamanen war umstritten. Stone hatte die Doors zu Morrisons Lebzeiten nicht live erlebt. Während Kilmers schauspielerische Leistung von der Kritik gelobt wurde, griffen vor allem die Doors-Mitglieder und Freunde Morrisons die Darstellung des Sängers als außer Kontrolle geratenen Soziopathen an. Manzarek sagte nach der Filmpremiere, dass es ein guter Film sei, der eine amerikanische Rock-Band zeige, niemals aber die Doors und schon gar nicht Jim Morrison. Der Film endet mit einer Aufnahme des Grabs auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, für die kurzzeitig eine neue Morrison-Büste am Grab aufgestellt worden war.
Stones Spielfilm machte eine neue Generation von Anhängern mit Jim Morrison vertraut, deren Begeisterung für die Rock-Ikone in den 1990er Jahren zeitweilig bizarre Formen annahm. Am 20. Todestag Jim Morrisons mussten 1991 am Friedhof Père Lachaise die Compagnies Républicaines de Sécurité, eine kasernierte Spezialeinheit der Nationalpolizei Frankreichs, einschreiten. Die Spezialeinheit hinderte Morrison-Fans, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vermehrt aus den ehemaligen Ostblock-Staaten angereist waren, an einem Durchbrechen der verriegelten Friedhofstüren mit einem gestohlenen Wagen und am gewaltsamen Vordringen auf den Friedhof. Nach dem frühen Tod des Nirvana-Sängers Kurt Cobain im Frühjahr 1994 wurde von Publikumsmedien das Konstrukt eines Klub 27 geprägt, dem mehrere populäre Musiker mit exzessivem Lebensstil und frühem Todeszeitpunkt wie Jim Morrison und Cobain zugerechnet wurden; eine statistisch signifikante Häufung von Todesfällen bei 27-jährigen Musikerinnen und Musikern konnte empirisch hingegen nicht belegt werden.
In der Horrorkomödie American Werewolf in Paris von 1997 gibt sich in einer Szene ein junges Liebespaar auf dem Grab von Rocksänger Jim Morrison auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise der körperlichen Liebe hin, bis sich der Mann plötzlich im Schein des Vollmonds in einen Werwolf verwandelt.
Auch Jahrzehnte nach dem Tod des Doors-Sängers hält die Rezeption von Morrisons Songs und Texten an, wie ein 2003 in Berlin-Baumschulenweg eingeweihtes Morrison-Denkmal, der späte Erfolg einer US-Initiative zur Revision des Miami-Urteils vor dem Begnadigungsausschuss des Staates Florida im Dezember 2010, eine Reihe neuer Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen, zahlreiche Samples aus Doors-Songs durch andere Bands, Fanclubs, Coverbands und der regelmäßige Besucherstrom an Morrisons Grabstätte dokumentieren.
2009 erschien unter dem Titel When You’re Strange die erste abendfüllende Kino-Dokumentation über Morrison und die Doors. Der Film des US-amerikanischen Regisseurs Tom DiCillo erzählt die Geschichte der Band von den Anfängen am Strand von Venice Beach im Jahr 1965 über die sechs Studioalben bis zu Jim Morrisons Tod im Jahr 1971 (Sprecher: Johnny Depp). Die Feuilletons der deutschsprachigen Zeitungen besprachen den „sensationelle[n] Dokumentarfilm“ überwiegend positiv. Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung grenzte DiCillos Ansatz deutlich von dem seines Vorgängers ab: „Bei den Aufnahmen legendärer Songs, von ‚Light my Fire‘ bis ‚People are Strange‘, ist man so nah dabei, dass Oliver Stones 1991 entstandene Spielfilmversion dagegen reichlich exaltiert, lächerlich und künstlich wirkt.“Im November 2010 wurde in Frankreich eine Graphic Novel zu Morrisons Biografie veröffentlicht. Im Mai 2011 choreographierte und inszenierte der Leipziger Ballettdirektor Mario Schröder am Opernhaus Leipzig ein Ballett über Jim Morrison. Die Leipziger Neuinszenierung knüpfte an ein früheres Morrison-Ballett vom Januar 2001 an, das Schröder am Mainfranken Theater Würzburg produziert hatte. Nach Jim Morrison wurde im Jahr 2013 eine vor 40 Millionen Jahren existierende Riesenechse Barbaturex morrisoni genannt.
== Literatur ==
=== Morrison-Texte ===
The Collected Works of Jim Morrison. Poetry, Journals, Transcripts, and Lyrics. Harper Design, New York 2021, ISBN 978-0-06302-897-5.
Jim Morrison & The Doors – Die kompletten Songtexte. Bearbeitet und übersetzt von Heinz Gerstenmeyer. Schirmer/Mosel, München 1992 (Neuauflagen: 2000, 2004), ISBN 3-88814-467-1.
The American Night. Deutsche Übersetzung von Barbara Jung und Sabine Saßmann. Maro, Augsburg 1991, ISBN 978-3-87512-206-0.
Ein amerikanisches Gebet/An American Prayer und andere Gedichte. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Fischer und Werner Reimann. Kramer, Berlin 1996, ISBN 3-87956-098-6
Fernes Arden. Far Arden. Hrsg. und übersetzt von Werner Reimann. Kramer, Berlin 1985, ISBN 3-87956-173-7.
Die Herren und die neuen Geschöpfe. Texte und Gedichte zu Film, Sehen, Alchemie und Magie. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Fischer und Werner Reimann. Kramer, Berlin 1977, ISBN 3-87956-078-1.
The Lords – Die Herrengötter. Notes on vision – Notizen zum Sehen. Neuübersetzung, Berlin 2018, ISBN 978-3-945980-09-5 (PDF).
Wildnis. Die verlorenen Schriften von Jim Morrison. Übersetzt von Karin Graf, Nachwort von Arman Sahihi. Schirmer/Mosel, München 1989, ISBN 3-88814-337-3.
=== Sekundärliteratur ===
Thomas Collmer: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison und seine Vorbilder. Maro-Verlag, Augsburg 1994, ISBN 3-87512-148-1; überarbeitete, aktualisierte & erweiterte Neuausgabe ebd. 1997, ISBN 3-87512-149-X; 2. (…) Neuausgabe ebd. 2002, ISBN wie zuvor; 3. überarbeitete und um ein langes Nachwort ergänzte Ausg. in 2 Bänden ebd. 2009, ISBN 978-3-87512-154-4
Stephen Davis: Jim Morrison – Life, Death, Legend. Gotham, New York 2004, ISBN 1-59240-099-X (Paperback), ISBN 1-59240-064-7 (Hardcover)
John Densmore: Riders on the Storm: Mein Leben mit Jim Morrison und den Doors. Hannibal, Innsbruck 2001, ISBN 3-85445-066-4 (Englisch: Riders on the Storm – My Life With Jim Morrison And The Doors. Delacorte Press, New York 1990, ISBN 0-385-30033-6)
The Doors mit Ben Fong-Torres: The Doors: Die illustrierte autorisierte Biographie der Band. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2007, ISBN 978-3-89602-785-6 (Englisch: The Doors. Hyperion, New York 2006, ISBN 1-4013-0303-X, ISBN 978-1-4013-0303-7)
Jerry Hopkins: Jim Morrison. Der König der Eidechsen: Die endgültige Biographie und die grossen Interviews. Schirmer/Mosel, München 1993, ISBN 3-88814-673-9 (Englisch: The Lizard King – The Essential Jim Morrison. Charles Scribner’s Sons / Macmillan, New York 1992, ISBN 0-684-19524-0)
Jerry Hopkins, Daniel Sugerman: Keiner kommt hier lebend raus. Die Jim-Morrison-Biografie. Heyne, München 2001, ISBN 3-453-19784-4 (Englisch: No One Here Gets Out Alive. Warner Books, New York 1980, ISBN 0-446-97133-2, deutsche Erstausgabe: Maro Verlag, Augsburg 1981, ISBN 3-87512-050-7)
Dylan Jones: Jim Morrison. Poet und Rockrebell. Wilhelm Heyne, München 1994, ISBN 3-453-07554-4. (Englische Originalausgabe: Jim Morrison. Dark Star. Bloomsbury Publishing, London 1990; Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien und Bibliographie)
Patricia Kennealy-Morrison: Strange Days, mein Leben mit Jim Morrison. Egmont, Kopenhagen 1998, ISBN 3-8025-2522-1 (Englisch: Strange Days – My Life With And Without Jim Morrison. Dutton Books / Plume / Penguin Group, New York 1992)
Frank Lisciandro: Stunde der Magie. Schirmer/Mosel, München 1994, ISBN 3-88814-715-8 (Englisch: Jim Morrison – An hour for magic. Delilah Communications, New York. 1982 ISBN 0-933328-22-2)
Ray Manzarek: Die Doors, Jim Morrison und ich: Mein Leben mit den Doors. Hannibal, Wien 1999, ISBN 978-3-85445-165-5 (Englisch: Light My Fire – My Life with The Doors. G. P. Putnam’s Sons, New York 1998, ISBN 0-399-14399-8)
Rainer Moddemann: The Doors. 2. überarbeitete Auflage. Heel, Königswinter 2001 (Erstauflage: Heel, Königswinter 1991), ISBN 3-89365-927-7
James Riordan, Jerry Prochnicky: Break on Through. The Life and Death of Jim Morrison. William Morrow, New York 1991, ISBN 0-688-08829-5
== Filme ==
=== Morrison-Filmografie ===
A Feast of Friends (1968/69, DVD 2014), Regie: Paul Ferrara
HWY: An American Pastoral (1969), Regie: Jim Morrison, Paul Ferrara
=== Dokumentationen ===
The Doors Are Open (1968, DVD 2014), Regie: John Sheppard
The Doors: Live in Europe 1968 (1968, DVD 1998), Regie: Paul Justman, Ray Manzarek et al.
Live at the Hollywood Bowl (1968, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek
The Doors: A Tribute to Jim Morrison (1981)
The Doors: Dance on Fire (1985, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek
The Soft Parade, a Retrospective (1991, DVD 2001), Regie: Ray Manzarek
The Doors – Legends (1997), VH1, Produzentin: Mary Wharton, Erzähler: Henry Rollins
Jim Morrison: The Final 24 (2006), Discovery Channel, Global Television Network, Oprah Winfrey Network, Regie: Mike Parkinson
The Doors: When You’re Strange (2009), Regie: Tom DiCillo
The Doors: R-Evolution (2013)
Jim Morrison: Die letzten Tage in Paris (Jim Morrison, derniers jours à Paris, 2021), Arte und RTBF, Regie: Olivier Monssens
=== Doors-Spielfilm ===
The Doors (1991, DVD 2002), Spielfilm von Oliver Stone mit Val Kilmer und Meg Ryan
== Weblinks ==
Literatur von und über Jim Morrison im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Jim Morrison in der Internet Movie Database (englisch)
Jim Morrison bei Discogs
Früher Studienwerbefilm der Florida State University mit Jim Morrison (englisch)
doors-online.de, älteste deutschsprachige Doors-Seite
Doors Fanclub/Doors Quarterly Magazine Online (37 Ausgaben zwischen 1983 und 1999) (englisch und deutsch)
seelenkueche.com, Deutsches Doors-Fanprojekt
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Jim_Morrison |
Britisches Weltreich | = Britisches Weltreich =
Das Britische Weltreich (englisch British Empire oder kurz Empire) war das vom 17. bis zum 20. Jahrhundert bestehende, größte Kolonialreich der Geschichte und vom Ende der Napoleonischen Ära bis zum Ersten Weltkrieg die führende Weltmacht. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung, 1922, umfasste es mit 458 Millionen Einwohnern und ca. 33,67 Millionen km² sowohl ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung als auch ein Viertel der Landfläche der Erde.Unter der Herrschaft des Vereinigten Königreichs vereinte es Dominions, Kronkolonien, Protektorate, Mandatsgebiete und sonstige abhängige Territorien auf allen Kontinenten, die aus englischen und später britischen Überseebesitzungen, Handelsposten und Strafkolonien hervorgegangen waren. Auch nach ihrer Unabhängigkeit sind viele ehemalige Teile des Empire im Commonwealth of Nations verbunden.
Wie zuvor schon das spanische Kolonialreich galt auch das Britische Weltreich als Reich, „in dem die Sonne nie untergeht“. Sein politischer, juristischer, sprachlicher und kultureller Einfluss wirkt bis heute in vielen Teilen der Welt nach. Ebenso spielen viele koloniale Grenzziehungen bei heutigen regionalen Konflikten eine Rolle.
== Überblick ==
Im 15. und 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Entdeckungen waren Spanien und Portugal die Pioniere der europäischen Erforschung und Eroberung der Welt. Sie bildeten riesige Kolonialreiche, die ihnen immense Reichtümer einbrachten. Dadurch angespornt, begannen auch England, Frankreich und die Niederlande mit dem Aufbau eigener Kolonien und Handelsnetzwerke in Amerika und Asien. Nach mehreren Kriegen im 17. und 18. Jahrhundert gegen Frankreich und die Niederlande etablierte sich England (nach dem Act of Union 1707 mit Schottland das Königreich Großbritannien) als führende Kolonialmacht in Amerika und Indien. Die Abspaltung der Dreizehn Kolonien nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) bedeutete zwar den Verlust der bevölkerungsreichsten Überseegebiete, doch wandte sich Großbritannien bald Afrika, Asien und Ozeanien zu. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 übte Großbritannien über ein Jahrhundert lang eine nahezu unangefochtene Dominanz über die Weltmeere aus. Das Land war die erste Industrienation und ebnete dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus den Weg. Es verfügte seit dem 19. Jahrhundert für viele Jahrzehnte über die mit Abstand größten Handels- und Kriegsflotten der Welt, galt als stärkste See- und Weltmacht und praktizierte bis etwa 1902 die Splendid isolation. Mehrere Siedlerkolonien, deren Bevölkerung vor allem durch den stetigen Zustrom von Auswanderern aus dem Mutterland zunahm, erhielten mit der Zeit mehr Autonomie und wurden zu Dominions erhoben.
Das Jahr 1875 markiert den Eintritt Großbritanniens in das neue imperialistische Zeitalter. Damals kaufte die konservative Regierung Disraeli für 4 Millionen Pfund die Aktienanteile des ägyptischen Herrschers Ismail an der Sueskanal-Gesellschaft auf, um diesen strategisch wichtigen Handelsweg nach Indien im Rahmen des Indienhandels zu sichern. Die gemeinsame britisch-französische Finanzkontrolle über Ägypten wurde mit der formellen Besetzung durch Großbritannien im Jahr 1882 beendet. Die Rivalität zu Russland (vgl.: The Great Game), die im Krimkrieg (1854–1856) eine erste Eskalation erfahren hatte, und die Angst vor einer russischen Expansion in Richtung Süden und Indien war ein weiterer Faktor der britischen Politik. 1878 wurde die Insel Zypern besetzt, als Reaktion auf den Russisch-Türkischen Krieg. Auch Afghanistan wurde zeitweise besetzt, um dort den russischen Einfluss zurückzudrängen. Großbritannien führte in Afghanistan drei erfolglose Kriege.
Wegen der wachsenden ökonomischen Potenz sowie des wachsenden Einflusses des Deutschen Reiches und der Vereinigten Staaten büßte Großbritannien seit etwa 1900 zunehmend seine politische und wirtschaftliche Vormachtstellung ein. Wirtschaftliche und politische Spannungen mit dem Deutschen Reich gehören zu den wichtigsten Ursachen des Ersten Weltkriegs, in dem Großbritannien in hohem Maße auf die Unterstützung durch seine Kolonien angewiesen war. Die USA hatten sich bereits vor 1914 zur stärksten Industrie- und Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt. Zwar erreichte Großbritannien nach Kriegsende 1918 durch die Übernahme deutscher Kolonien seine größte Ausdehnung, doch leiteten finanzielle Probleme und zunehmende Autonomiebestrebungen das Ende seiner globalen Bedeutung ein. Im Zweiten Weltkrieg schmälerte die Besetzung der Kolonien in Südostasien durch Japan das britische Prestige. Trotz des Sieges von 1945 war der Niedergang nicht mehr aufzuhalten, denn Großbritannien war durch den langen Krieg finanziell nahezu ruiniert. So erlangte die bevölkerungsreichste Kolonie, Indien, bereits zwei Jahre nach Kriegsende die Unabhängigkeit.
Während die Kolonien in Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Dominions eine gewisse Eigenständigkeit erlangt hatten und diese danach stetig ausbauten, wurden die meisten Territorien des Britischen Weltreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Dekolonisation zu unabhängigen Staaten. So erlangten beispielsweise 1960, im so genannten „Afrikanischen Jahr“, Nigeria und Britisch-Somaliland ihre Souveränität. Der Prozess der Entkolonialisierung war 1997 mit der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China weitgehend abgeschlossen. Nach Erlangung der Unabhängigkeit traten die meisten ehemaligen Kolonien dem Commonwealth of Nations bei, einer losen Verbindung souveräner Staaten. Bis heute erkennen 16 Commonwealth-Staaten als Commonwealth Realms den britischen Monarchen als gemeinsames Staatsoberhaupt an. Darüber unterstehen 14 kleinere Überseegebiete weiterhin der britischen Souveränität.
== Grundlagen (bis 1583) ==
Erste Besitztümer außerhalb der britischen Hauptinsel erlangte das Königreich England, als im Norden noch das Königreich Schottland bestand. Das Königshaus Plantagenet herrschte in der zweiten Hälfte des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts über England und den gesamten Westen Frankreichs (das so genannte Angevinische Reich). Der englische Besitz auf dem europäischen Festland ging bis 1453 im Hundertjährigen Krieg fast ganz verloren, als letztes fiel 1558 die Hafenstadt Calais ebenfalls an Frankreich.
Der Grundstein zum Weltreich war die Ausdehnung des englischen Machtbereichs auf den Britischen Inseln selbst. Sie begann 1171 mit der Invasion Irlands und der Ausrufung der Lordschaft Irland, wenngleich sich die direkte englische Herrschaft zunächst auf kleine Gebiete an der Ostküste beschränkte, insbesondere den Pale um Dublin. Erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnte England mit den Plantations seinen Einfluss auf die gesamte Insel ausdehnen. Nach mehr als zwei Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen wurde Wales im Jahr 1283 endgültig unterworfen. Schottland kam 1296 ebenfalls unter englische Herrschaft, befreite sich jedoch nach den Unabhängigkeitskriegen für rund vier Jahrhunderte wieder.
Nach den Erfolgen der spanischen und portugiesischen Entdeckungsreisen in der „Neuen Welt“ beauftragte König Henry VII. den italienischen Seefahrer Giovanni Caboto (zu John Cabot anglifiziert), dem Beispiel von Christoph Kolumbus zu folgen und im Nordatlantik nach einem Seeweg nach Asien zu suchen. Cabots Expedition brach 1497 auf und landete an der Küste Neufundlands im heutigen Kanada. Im darauf folgenden Jahr führte Cabot eine zweite Expedition an, die jedoch verschollen ist. Henry VII. trieb die Entwicklung in der Seefahrt gezielt voran und ließ 1495 in Portsmouth das erste Trockendock Europas errichten. Auch reformierte er die noch kleine englische Flotte, aus der sich die Royal Navy entwickelte.
Bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, während der Herrschaft von Königin Elizabeth I., gab es keine Anstrengungen mehr, in Amerika englische Kolonien zu gründen. Die Reformation hatte England und das katholische Spanien zu Feinden gemacht. Ab 1562 verordnete die englische Krone staatlich autorisierte Piraterie. Englische Freibeuter wie John Hawkins und Francis Drake waren bei ihren Bestrebungen, durch Überfälle auf westafrikanische Küstenstädte und portugiesische Schiffe im lukrativen Sklavenhandel über den Atlantik Fuß zu fassen, zunächst nur wenig erfolgreich. Als die Spannungen mit Spanien sich intensivierten, gab Königin Elisabeth ihre formelle Zustimmung, spanische Städte auf dem amerikanischen Kontinent zu plündern und die aus der Neuen Welt zurückkehrenden, mit Schätzen beladenen spanischen Galeonen zu überfallen. Einflussreiche Gelehrte wie Richard Hakluyt und John Dee (der als Erster den Begriff British Empire gebrauchte) begannen die Errichtung eines englischen Weltreiches zu fordern, das mit dem spanischen sowie dem portugiesischen Weltreich rivalisieren sollte.
== Erstes Britisches Weltreich (1583–1783) ==
Von 1577 bis 1580 gelang Francis Drake die zweite Weltumseglung der Geschichte. 1578 stattete Königin Elisabeth I. den Abenteurer Humphrey Gilbert mit offiziellen Privilegien für Entdeckungen und Erkundungen in Übersee aus. Gilbert segelte in die Karibik, mit dem Ziel, Piraterie zu betreiben und in Nordamerika eine Kolonie zu gründen. Doch die Expedition musste aufgegeben werden, noch bevor sie den Atlantik überquert hatte. 1583 unternahm er einen zweiten Versuch und gelangte nach Neufundland. Er nahm die Insel formell in englischen Besitz und übernahm das Kommando über die lokale Fischereiflotte, der Versuch einer dauerhaften Ansiedlung blieb jedoch aus. Gilbert starb auf der Rückkehr nach England. 1584 erhielt sein Halbbruder Walter Raleigh eigene Privilegien und gründete vor der Küste North Carolinas die Kolonie Roanoke, die jedoch aus Mangel an Versorgungsgütern scheiterte.1603 gelangte der schottische König James VI. auf den englischen Thron, womit die beiden Staaten in Personalunion verbunden waren. Im darauf folgenden Jahr beendete er die Feindseligkeiten mit Spanien. Aufgrund des nun herrschenden Friedens mit dem Hauptrivalen verlagerte sich das englische Interesse von Beutezügen in Kolonien anderer Staaten hin zum systematischen Aufbau eines eigenen Kolonialreiches. Das Britische Weltreich nahm seinen Anfang im frühen 17. Jahrhundert mit der Besiedlung Nordamerikas und kleinerer karibischer Inseln sowie der Gründung einer privaten Handelsgesellschaft, der Ostindien-Kompanie, um Handel mit Asien zu treiben. Die folgende Zeitepoche bis zum Verlust der Dreizehn Kolonien nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird als „Erstes Britisches Weltreich“ (First British Empire) bezeichnet.
=== Afrika, Amerika, Europa und der Sklavenhandel ===
Die wichtigsten und lukrativsten englischen Kolonien lagen zunächst in der Karibik, aber erst nachdem einige Kolonialisierungsversuche gescheitert waren. Die 1604 gegründete Kolonie Britisch-Guayana hielt sich nur zwei Jahre, und ihr Hauptziel – Goldvorkommen zu finden – wurde nicht erreicht. Die ersten Kolonien auf den Inseln St. Lucia (1605) und Grenada (1609) mussten ebenfalls bald wieder aufgegeben werden. Von Anfang an erfolgreich waren hingegen die Anstrengungen auf St. Kitts (1624), Barbados (1627) und Nevis (1628). Die Kolonien übernahmen bald das System von Zuckerrohr-Plantagen, das die Portugiesen in Brasilien erfolgreich eingeführt hatten. Voraussetzung dafür in Amerika war jedoch die Arbeit von importierten Sklaven aus Afrika und – zumindest zu Beginn – die Unterstützung durch niederländische Schiffe, welche die Deportierten verkauften, dafür den Zucker aufkauften und nach Europa brachten. Um sicherzustellen, dass die steigenden Profite nicht zu stark ins Ausland abflossen, beschloss das englische Parlament im Jahr 1651 die Navigationsakte, das nur englischen Schiffen den Handel in englischen Kolonien erlaubte. Dieser Schritt führte zu Feindseligkeiten mit der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen. In den nachfolgenden Englisch-Niederländischen Seekriegen konnte England seinen Einfluss in Amerika auf Kosten der Niederländer ausweiten. 1655 eroberten die Engländer Jamaika von den Spaniern und 1666 gelang die Kolonialisierung der Bahamas.
Die erste dauerhafte englische Siedlung in Nordamerika war das 1607 gegründete und von der Virginia Company of London verwaltete Jamestown in Virginia. Die Gründung der Kolonie Bermuda geht auf Schiffbrüchige zurück, die 1609 auf dem Weg nach Jamestown dort gestrandet waren. Die Virginia Company verlor 1624 ihre Privilegien und Virginia wurde zu einer Kronkolonie. Die Gründung der London and Bristol Company (besser bekannt als Newfoundland Company) erfolgte im Jahr 1610. Ihr Ziel war es, auf Neufundland eine dauerhafte Siedlung zu gründen, was jedoch misslang. Die Pilgerväter, eine streng puritanische Glaubensgemeinschaft, gründeten 1620 die Kolonie Plymouth in Massachusetts. Sie waren die ersten, die sich durch die beschwerliche Überfahrt nach Nordamerika der religiös motivierten Verfolgung entzogen. Maryland (1634) war eine Zufluchtsstätte für Katholiken, Rhode Island (1636) war gegenüber allen Konfessionen tolerant und Kongregationalisten zog es nach Connecticut (1639). Im Jahr 1663 wurde die Provinz Carolina gegründet. 1664 eroberte England im zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg die Kolonie Nieuw Amsterdam und benannte sie in New York um. 1681 gründete William Penn die Kolonie Pennsylvania. Die Kolonien auf dem amerikanischen Festland waren finanziell weniger erfolgreich als jene in der Karibik, verfügten jedoch über weite Gebiete mit gutem Ackerland und zogen weitaus mehr englische Emigranten an, welche das kühlere Klima bevorzugten.1670 gewährte König Charles II. der Hudson’s Bay Company (HBC) eine Royal Charter, mit der sie ein Monopol auf den Pelzhandel in dem damals als Ruperts Land bekannten Gebiet erhielt; ein weitläufiges Territorium, das heute einem großen Teil von Kanada entspricht. Die durch die HBC errichteten Forts und Handelsposten waren wiederholt Angriffen durch die Franzosen ausgesetzt, die im benachbarten Neufrankreich eine eigene Pelzhandelskolonie gegründet hatten.
Die 1672 gegründete Royal African Company erhielt von Charles II. das Monopol über die Versorgung der britischen Kolonien mit afrikanischen Sklaven. Von Anfang an bildeten Menschenhandel und Versklavung die Grundlage aller Kolonien in der Karibik. Bis zum Verbot des Sklavenhandels (aber nicht der Sklavenhaltung) im Jahr 1807 waren die Briten für die Verschleppung von 3,5 Millionen afrikanischen Sklaven verantwortlich, was einem Drittel aller über den Atlantik transportierten Menschen entspricht. Um den Menschenhandel zu erleichtern, wurden an der Küste Westafrikas Forts errichtet, beispielsweise James Island oder Bunce Island. Vor allem wegen des ansteigenden europäischen Verbrauchs von Zucker aus Zuckerrohrplantagen stieg zwischen 1650 und 1780 der Anteil der afrikanischen Zwangsarbeiter in den karibischen Kolonien von 25 auf 80 Prozent, in den Dreizehn Kolonien von 10 auf 40 Prozent (wobei Sklaven in den südlichen Kolonien die Bevölkerungsmehrheit stellten). Für Städte im Westen Englands wie Bristol und Liverpool, die eine der drei Seiten im atlantischen Dreieckshandel bildeten, war der Menschenhandel ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Unhygienische Verhältnisse auf den Schiffen, sexueller Missbrauch, Ankettung der Menschen sowie mangelnde Ernährung führten dazu, dass jeder siebte Deportierte auf der Überfahrt starb.Auch Schottland strebte danach, in Amerika Kolonien aufzubauen. 1621 wurde Nova Scotia in Besitz genommen, ging jedoch zehn Jahre später an Frankreich verloren. Das 1695 vom schottischen Parlament genehmigte Darién-Projekt sah die Errichtung einer Kolonie auf dem Isthmus von Panama vor, um den Handel zwischen Schottland und dem Fernen Osten anzukurbeln. Das Vorhaben scheiterte kläglich und zerrüttete die Staatsfinanzen. Die Konsequenzen waren derart schwerwiegend – ein Viertel des schottischen Kapitals ging verloren –, dass England und Schottland sich dazu entschlossen, beide Staaten zu vereinen. Mit dem Act of Union 1707 entstand das Königreich Großbritannien und die Engländer übernahmen die schottischen Schulden.
=== Rivalität mit den Niederlanden in Asien ===
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begannen England und die Niederlande, das Monopol Portugals auf den Handel mit Asien in Frage zu stellen. Es entstanden private Aktiengesellschaften, um die Handelsreisen zu finanzieren – die Englische Ostindien-Kompanie (später Britische Ostindien-Kompanie) und die Niederländische Ostindien-Kompanie wurden 1600 bzw. 1602 gegründet. Hauptziel dieser Gesellschaften war es, einen möglichst großen Anteil am lukrativen Indienhandel zu sichern. Die relative Nähe der Hauptstädte London und Amsterdam und die Rivalität beider Länder führten zu Konflikten zwischen den Gesellschaften. Die Niederländer sicherten sich eine Vormachtstellung auf den Molukken (zuvor eine portugiesische Hochburg), während die Engländer in Indien Fuß fassten.
Obwohl die Engländer die Niederländer später als Kolonialmacht übertrafen, errangen letztere im 17. Jahrhundert vorübergehend eine Vormachtstellung in Asien, aufgrund eines besser entwickelten Finanzsystems und der Auswirkungen der Englisch-Niederländischen Seekriege. Die Feindseligkeiten endeten 1688 nach der Glorious Revolution, als der Niederländer Wilhelm von Oranien den englischen Thron bestieg. Ein Vertrag zwischen beiden Staaten überließ den Niederlanden den Gewürzhandel im indonesischen Archipel und England den Textilienhandel in Indien. Der Handel mit Textilien war bald profitabler als jener mit Gewürzen und um 1720 hatte die britische Gesellschaft die niederländische übertroffen. Die Britische Ostindien-Kompanie richtete ihren Fokus nun nicht mehr auf Surat, ein Zentrum des Gewürzhandels, sondern auf Fort St. George, das spätere Madras bzw. Chennai, Bombay (heute Mumbai, 1661 von den Portugiesen als Mitgift für Katharina von Braganza überlassen) und Sutanuti, eines von drei Dörfern, aus denen die Stadt Kalkutta entstand.
=== Auseinandersetzungen mit Frankreich ===
Der Frieden zwischen England und den Niederlanden im Jahr 1688 hatte zur Folge, dass beide Länder im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) verbündet waren. Allerdings konnte England einen großen Teil seiner militärischen Ausgaben auf den gleichzeitig stattfindenden King William’s War konzentrieren, während die Niederländer gezwungen waren, sich auf dem europäischen Festland gegen die Franzosen zur Wehr zu setzen und ihre koloniale Expansion dadurch ins Stocken geriet. Im 18. Jahrhundert stieg Großbritannien zur weltweit führenden Kolonialmacht auf, wodurch Frankreich zum Hauptrivalen wurde.
Der Tod des spanischen Königs Karl II. und der Erbanspruch von Philipp von Anjou, einem Enkel des französischen Königs Ludwig XIV., ergab die Möglichkeit der Vereinigung Spaniens und Frankreichs mitsamt ihren Kolonien, was für die übrigen europäischen Großmächte inakzeptabel war. Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) verbündeten sich Großbritannien, Portugal, die Niederlande und das Heilige Römische Reich gegen Spanien und Frankreich. Ein paralleler Kriegsschauplatz zwischen Großbritannien und Frankreich war in Nordamerika der Queen Anne’s War. Im Frieden von Utrecht verzichtete Philipp von Anjou auf seinen Anspruch auf den französischen Thron und Spanien verlor seine Besitzungen in Europa. Am meisten profitierte Großbritannien. Von Frankreich erhielt es Neufundland und Akadien, von Spanien Gibraltar und Menorca. Gibraltar, das heute noch in britischem Besitz ist, wurde zu einer strategisch wichtigen Marinebasis und ermöglichte es den Briten, den Zugang vom Atlantik ins Mittelmeer zu kontrollieren. Die Briten gaben Menorca 1802 im Frieden von Amiens zurück. Spanien erteilte Großbritannien außerdem das Recht am lukrativen Asiento de Negros, also die Erlaubnis, in Lateinamerika Sklaven zu verkaufen.Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) war der erste Krieg mit weltweiten Auswirkungen. Kriegsschauplätze waren Europa, Indien, Nordamerika, die Karibik, die Philippinen und die Küstengebiete Afrikas. In den USA ist der Konflikt unter dem Namen Franzosen- und Indianerkrieg bekannt. Die Unterzeichnung des Pariser Friedens hatte große Auswirkungen auf die Zukunft des Britischen Weltreiches. Die Kolonialherrschaft Frankreichs in Nordamerika endete mit der Anerkennung der britischen Ansprüche auf Ruperts Land und der Abtretung von Neufrankreich an Großbritannien. Spanien erhielt von Frankreich Louisiana zugesprochen und überließ dafür Florida den Briten. Nach dem Dritten Karnatischen Krieg behielt Frankreich in Indien zwar die Kontrolle über einige Enklaven, musste jedoch militärische Einschränkungen dulden und sich verpflichten, die britischen Vasallenstaaten zu unterstützen. Somit war Großbritannien nach dem Siebenjährigen Krieg die führende Kolonialmacht.
== Aufstieg des Zweiten Britischen Weltreichs (1783–1815) ==
=== Herrschaft in Indien ===
Die Britische Ostindien-Kompanie (BEIC) konzentrierte sich im ersten Jahrhundert ihres Bestehens auf den Handel in Indien, da sie nicht in der Lage war, das mächtige Mogulreich herauszufordern, das 1617 den Engländern Handelsrechte gewährt hatte. Dies änderte sich im 18. Jahrhundert, als die Macht der Mogule unter der Herrschaft von Aurangzeb und insbesondere dessen Nachkommen allmählich zu schwinden begann. In den Karnatischen Kriegen der 1740er und 1750er Jahre gewann die BEIC die Oberhand über die konkurrierende Französische Ostindienkompanie. Der Sieg in der Schlacht bei Plassey über den Nawab Siraj-ud-Daula im Jahr 1757 hatte die uneingeschränkte Herrschaft der BEIC in der wirtschaftlich bedeutenden Provinz Bengalen zur Folge. Die Kompanie etablierte sich als führende militärische und politische Macht Indiens.In den folgenden Jahrzehnten konnte sie das von ihr beherrschte Territorium allmählich ausweiten. Nach dem Dritten Marathenkrieg (1817/18) herrschte sie über weite Teile Südindiens, entweder direkt oder über Vasallen in den indischen Fürstenstaaten, die unter strenger Kontrolle standen. Die lokalen Herrscher mussten die Vorherrschaft Großbritanniens anerkennen und wurden im Falle einer Weigerung abgesetzt. Die Truppen der BEIC setzten sich überwiegend aus Sepoys zusammen. Weitere Eroberungen waren Rohilkhand (1801), Delhi (1803), Sindh (1843), Punjab und Nordwestliche Grenzprovinz (beide 1849), Berar (1854) und Oudh (1856).
=== Verlust der Dreizehn Kolonien ===
In den 1760er und 1770er Jahren verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Großbritannien und den Dreizehn Kolonien in Nordamerika zusehends, insbesondere weil das britische Parlament versuchte, Steuern einzuführen, ohne dass die Siedler angemessen im Parlament vertreten waren, was in der Parole No taxation without representation beispielhaft zum Ausdruck kam. Auf die Boston Tea Party und weitere gewalttätige Ausschreitungen reagierten die Briten mit den Intolerable Acts, was 1775 zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs führte. 1776 erließen die Kolonisten die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Nach dem entscheidenden Sieg der Aufständischen in der Schlacht bei Yorktown 1781 musste Großbritannien zwei Jahre später im Frieden von Paris die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkennen.
Der Verlust eines bedeutenden Teils von Britisch-Nordamerika, damals das bevölkerungsreichste britische Überseeterritorium, wird von Historikern als Übergang zwischen dem „ersten“ und dem „zweiten Weltreich“ bezeichnet; die Aufmerksamkeit Großbritanniens richtete sich kaum noch auf Nordamerika, sondern vielmehr auf Asien, den Pazifik und später auch das Innere Afrikas. In seinem 1776 erschienenen Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen bezeichnete der schottische Ökonom Adam Smith Kolonien als überflüssig und forderte den Ersatz der alten merkantilistischen Wirtschaftspolitik durch den Freihandel. Der zunehmende Handel mit den unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten nach 1783 schien Smiths Theorie zu bestätigen, dass politische Kontrolle keine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg ist. Spannungen zwischen beiden Staaten eskalierten während der Koalitionskriege, als Großbritannien versuchte, den amerikanischen Handel mit Frankreich zu blockieren, und amerikanische Seeleute zum Dienst in der Royal Navy zwangsrekrutierte. Im Britisch-Amerikanischen Krieg (1812–1814) konnte keine Seite einen entscheidenden Vorteil erringen und der Friede von Gent stellte im Wesentlichen den Vorkriegszustand wieder her.
Die Ereignisse in Nordamerika beeinflussten die britische Politik in Kanada, wo sich nach dem Unabhängigkeitskrieg mehrere Zehntausend Loyalisten niedergelassen hatten. Die 14.000 Loyalisten, die zum Saint John River zogen, fühlten sich zu isoliert von der Kolonialregierung in Halifax, so dass die britische Regierung 1784 von Nova Scotia die neue Kolonie New Brunswick abtrennte. Das Verfassungsgesetz von 1791 schuf die Provinzen Oberkanada und Niederkanada; erstere war mehrheitlich englischsprachig, letztere mehrheitlich französischsprachig. Dadurch sollten die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen abgebaut werden. Ein weiteres Ziel war es, die Herrschaft der Zentralregierung zu stärken und nicht jene Art der Selbstverwaltung zuzulassen, die aus Sicht der Briten zur Amerikanischen Revolution geführt hatte.
=== Expansion im Pazifik ===
Seit 1718 war die Deportation nach Amerika die Strafe für zahlreiche kriminelle Vergehen in Großbritannien. Jährlich wurden rund 1.000 Verurteilte über den Atlantik transportiert. Nach dem Verlust der Dreizehn Kolonien sah sich die britische Regierung gezwungen, ein neues Ziel für Deportationen zu finden, wofür sich Australien anbot. 1770 entdeckte James Cook auf seiner wissenschaftlichen Expedition im Südpazifik die Ostküste Australiens und nahm den Kontinent für Großbritannien in Besitz. Joseph Banks, Cooks Botaniker auf dieser Reise, überzeugte 1778 die Regierung davon, dass die Botany Bay als Standort einer Sträflingskolonie geeignet sei. Die erste Flotte mit Strafgefangenen, die First Fleet, legte 1787 in Portsmouth ab und erreichte ein Jahr später Australien. Die erste Siedlung wurde nicht in der Botany Bay errichtet, sondern in der nahen Sydney Cove, aus der die spätere Millionenstadt Sydney entstand. Die Deportationen in die Kolonie New South Wales wurden bis 1840 fortgesetzt. Damals zählte sie 56.000 Einwohner, von denen die Mehrheit Sträflinge, Freigelassene und deren Nachkommen waren. Australien entwickelte sich zu einem profitablen Exporteur von Wolle und Gold.Während seiner Reise gelangte Cook auch nach Neuseeland. 1769 nahm er die Nordinsel in Besitz, 1770 die Südinsel. Zunächst beschränkte sich der Kontakt zwischen Māori und Europäern auf den Austausch von Handelsgütern. Insbesondere im Norden entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Walfangstationen. 1839 gab die New Zealand Company bekannt, sie werde in Neuseeland große Landstriche erwerben und Kolonien gründen. 1840 unterzeichneten Kapitän William Hobson und rund 40 Māori-Repräsentanten den Vertrag von Waitangi. Dieser Vertrag gilt als Gründungsdokument Neuseelands, doch unterschiedliche Interpretationen der englischen und Māori-Versionen sorgen bis heute für juristische Auseinandersetzungen. In den Neuseelandkriegen (1845–1872) konnten die Briten ihre Herrschaft über ganz Neuseeland durchsetzen.
=== Napoleonische Kriege und Abschaffung der Sklaverei ===
Während der Herrschaft Napoleon Bonapartes wurde Großbritannien im sogenannten Britisch-Französischen Kolonialkonflikt erneut durch das neu entstandene französische Kaiserreich herausgefordert. Im Gegensatz zu früher handelte es sich nicht nur um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Staaten, sondern auch zwischen Ideologien. Nicht nur die britische Vormachtstellung in der Welt war gefährdet; Napoléon drohte auch damit, Großbritannien selbst zu erobern, wie zahlreiche andere Staaten auf dem europäischen Festland. Die Briten investierten viele Ressourcen und große Geldsummen, um den Krieg zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Royal Navy blockierte französische Häfen und errang 1805 in der Schlacht von Trafalgar einen entscheidenden Sieg über die französisch-spanische Flotte. Frankreich wurde schließlich 1815 durch eine Koalition europäischer Armeen besiegt. Wieder war Großbritannien der größte Nutznießer von Friedensverträgen. Frankreich musste gemäß den am Wiener Kongress ausgehandelten Bedingungen die Ionischen Inseln, Malta, die Seychellen, Mauritius, St. Lucia und Tobago abtreten. Von Spanien erhielten die Briten Trinidad, von den Niederlanden Guayana und die Kapkolonie. Im Gegenzug gaben die Briten Guadeloupe, Martinique, Gorée, Französisch-Guayana und Réunion an Frankreich sowie Java und Suriname an die Niederlande zurück – Territorien, die sie während der Koalitionskriege besetzt hatten.
Die britische Regierung geriet unter zunehmenden Druck der Abolitionismus-Bewegung, woraufhin das Parlament 1807 den Slave Trade Act erließ, der den Sklavenhandel, jedoch nicht die Sklavenhaltung, im gesamten Britischen Empire verbot. Sierra Leone wurde 1808 als offizielle britische Kolonie für befreite Sklaven gegründet. Der 1833 vom Parlament erlassene Slavery Abolition Act machte nicht nur den Sklavenhandel illegal, sondern die Sklaverei an sich. Am 1. August 1834 erhielten sämtliche Sklaven im Empire die Freiheit.
== Großbritanniens „imperiales Jahrhundert“ (1815–1914) ==
Der Zeitraum zwischen 1815 und 1914 wird von einigen Historikern als „imperiales Jahrhundert“ bezeichnet. Nach dem Sieg über Frankreich hatte Großbritannien keine ernstzunehmenden Rivalen mehr, mit Ausnahme des Russischen Reiches in Zentralasien. Die auf See uneingeschränkt dominierenden Briten übernahmen die Rolle eines „Weltpolizisten“, eine später als Pax Britannica bezeichnete Staatsdoktrin. Die Außenpolitik war vom Prinzip der splendid isolation geprägt: Andere Mächte waren durch Konflikte in Europa gebunden, während die Briten sich heraushielten und durch die Konzentration auf den Handel ihre Vormachtstellung noch weiter ausbauten. Großbritannien übte nicht nur die Kontrolle über die eigenen Kolonien aus, sondern beeinflusste dank der führenden Position in der Weltwirtschaft auch die Innenpolitik zahlreicher nominell unabhängiger Staaten. Dazu gehörten China, Argentinien und Siam, die auch „informelles Empire“ genannt werden.Neue Technologien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, stützten die imperiale Macht Großbritanniens. Dazu gehörten das Dampfschiff und die Telegrafie, welche die Koordination, Kontrolle und Verteidigung des Empire erleichterten. Bis 1902 waren sämtliche Kolonien durch ein Netz von Telegrafenkabeln miteinander verbunden, die All Red Line.
=== Die Ostindien-Kompanie in Asien ===
Die britische Asienpolitik im 19. Jahrhundert war hauptsächlich auf die Absicherung und Ausdehnung der Herrschaft in Indien ausgerichtet, da es die wichtigste Kolonie war und als Schlüssel zum übrigen Asien galt. Die Britische Ostindien-Kompanie trieb die Expansion des Empire in Asien voran. Die Armee der Kompanie hatte erstmals im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) mit der Royal Navy zusammengearbeitet. Sie kooperierten auch außerhalb Indiens, beispielsweise bei der Vertreibung der Franzosen aus Ägypten (1799), der vorübergehenden Eroberung Javas von den Niederländern (1811), beim Erwerb von Singapur (1819) und Malakka (1824) sowie der Eroberung Burmas (1826).Von ihrer indischen Basis aus war die Kompanie seit den 1730er Jahren im Rahmen des Chinahandels auch im zunehmend profitablen Opiumgeschäft mit China involviert. Dieser Handel, den Kaiser Yongzheng 1729 für illegal erklärt hatte, trug dazu bei, dass die negative britische Handelsbilanz, die sich aus dem Import von Tee und Seide ergab, umgekehrt und der Devisenabfluss nach China, der zu einer spürbaren Verknappung der britischen Silberreserven geführt hatte, gestoppt werden konnte. Als die chinesischen Behörden 1839 in Guangzhou über 20.000 Kisten Opium konfiszierten, führte dies zum Ersten Opiumkrieg. 1841 eroberten die Briten Hongkong, damals eine kleine Siedlung.
Der Anfang vom Ende der Britischen Ostindien-Kompanie war eine Meuterei der Sepoys gegen ihre britischen Kommandanten, zum Teil ausgelöst durch die Spannungen, welche die Briten mit dem Versuch, Indien zu verwestlichen, aufgebaut hatten. Die Briten benötigten für die Niederschlagung des Sepoy-Aufstandes von 1857 ein halbes Jahr, der Konflikt forderte auf beiden Seiten viele Tote. Daraufhin führte die britische Regierung die direkte Herrschaft über Britisch-Indien ein und ein ernannter Generalgouverneur im Range eines Vizekönigs verwaltete die Kronkolonie. Königin Victoria wurde 1876 zur Kaiserin von Indien ernannt. Die Ostindien-Kompanie stellte 1858 ihre Geschäftstätigkeit ein und wurde 1873 aufgelöst.Im 19. Jahrhundert gab es in Indien eine Reihe von Missernten, die folgenden Hungersnöte forderten rund 10 Millionen Tote. Während ihrer Herrschaft hatte es die Ostindien-Kompanie unterlassen, irgendwelche koordinierten Maßnahmen gegen Hungersnöte zu treffen. Dies änderte sich erst unter direkter britischer Verwaltung. Nach jeder Hungersnot wurden Kommissionen eingesetzt, um die Ursachen zu untersuchen und Maßnahmen einzuleiten. Der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel und sein Co-Autor Dylan Sullivan schätzen, dass Indien eine Übersterblichkeit von 165 Millionen Menschen aufgrund des britischen Kolonialismus zwischen 1880 und 1920 erlitten hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten sich erste Auswirkungen.
=== „The Great Game“ ===
Während des 19. Jahrhunderts strebten Großbritannien und Russland danach, das Machtvakuum in Zentralasien auszufüllen, das durch die Schwächung des Osmanischen Reiches, der persischen Kadscharen-Dynastie und der chinesischen Qing-Dynastie entstanden war. Diese Rivalität ist als The Great Game („Das Große Spiel“) bekannt. Aus britischer Sicht waren die errungenen Siege im Russisch-Persischen Krieg (1826–1828) und im Russisch-Türkischen Krieg (1828–1829) ein klares Zeichen für die imperialen Ambitionen und Möglichkeiten der Russen, sie weckten auch die Angst vor einer Invasion Indiens auf dem Landweg. 1839 versuchte Großbritannien, diesem Ziel mit der Eroberung Afghanistans zuvorzukommen. Diese endete drei Jahre später mit einer der verheerendsten Niederlagen des viktorianischen Zeitalters, als die britische Invasionstruppe 1842 beim Abzug aus Kabul durch paschtunische Stämme, die mit russischen Waffen ausgerüstet waren, fast vollständig vernichtet wurde. Der Zweite Anglo-Afghanische Krieg führte 1880 zu einer verheerenden Niederlage bei Maiwand, der Belagerung Kabuls durch die Afghanen und dem britischen Rückzug nach Indien. Nach dem Dritten Anglo-Afghanischen Krieg von 1919 musste Großbritannien die Souveränität Afghanistans endgültig anerkennen.
Als Russland 1853 den türkisch beherrschten Teil des Balkans besetzte, fürchteten sowohl Großbritannien als auch Frankreich die drohende russische Dominanz im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Sie entsandten Expeditionsarmeen auf die Krimhalbinsel, um die dortige russische Flottenbasis einzunehmen. Im Krimkrieg, der bis 1856 dauerte, kamen zahlreiche neue Methoden der modernen Kriegführung zur Anwendung. Dieser Krieg war der einzige gegen eine andere Kolonialmacht während der Pax Britannica und endete mit einer empfindlichen Niederlage Russlands. In den nächsten zwei Jahrzehnten blieb die Situation in Zentralasien weiterhin angespannt. Während die Briten 1876 Belutschistan annektierten, eroberten die Russen die Territorien des heutigen Kirgisistan, Kasachstan und Turkmenistan.
1878 verpachtete das Osmanische Reich Zypern an Großbritannien und erhielt im Gegenzug die Zusicherung, bei einem erneuten Vorstoß der Russen Unterstützung zu erhalten. Im selben Jahr einigten sich aber Großbritannien und Russland auf Einflusssphären, womit der Konflikt entschärft werden konnte. Den letzten Versuch, ihren Einfluss in Zentralasien auszudehnen, unternahmen die Briten 1903/04 mit dem erfolglosen Tibetfeldzug. Die Vernichtung der russischen Flotte im Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) verringerte gleichwohl die Bedrohung für Großbritannien.
=== Wettlauf um Afrika ===
Die Niederländische Ostindien-Kompanie hatte 1652 an der Südspitze Afrikas die Kapkolonie gegründet, als Zwischenstation für ihre Schiffe auf dem Weg zu den Kolonien in Asien. Großbritannien besetzte die Kolonie 1795, um sie nach der Eroberung der Niederlande vor dem Zugriff der Franzosen zu bewahren. 1806 annektierte Großbritannien die Kapkolonie formell. Nach 1820 gelangten immer mehr britische Einwanderer hierher und verdrängten die Buren, welche die britische Herrschaft ablehnten. Tausende von Buren zogen in den 1830er und 1840er Jahren im Großen Treck nordostwärts und gründeten kurzlebige Burenrepubliken.
1843 annektierten die Briten Natal. 1879 drangen britische Truppen von dort aus in das benachbarte Reich der Zulu ein und unterwarfen es im Zulukrieg. Die Voortrekker gerieten wiederholt in bewaffnete Konflikte mit den Briten, die im südlichen Afrika ihre eigenen Ziele verfolgten. Schließlich gründeten die Buren zwei Republiken, die sich längere Zeit halten konnten, die Südafrikanische Republik und den Oranje-Freistaat. Im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) eroberten die Briten, die es vor allem auf die großen Goldvorkommen abgesehen hatten, beide Republiken. Den unterlegenen Buren gewährten sie aber großzügige Friedensbedingungen.
1869 wurde in Ägypten der unter französischer Leitung errichtete Sueskanal eröffnet, der das Mittelmeer mit dem Roten Meer und dem Indischen Ozean verbindet. Die Briten lehnten den Bau des Kanals zunächst ab; als er jedoch offen war, erkannten sie rasch seinen strategischen Wert. 1875 erwarb die britische Regierung für vier Millionen Pfund den 44-%-Anteil des verschuldeten ägyptischen Herrschers Ismail Pascha an der Kanalgesellschaft. Zwar erlangten die Briten dadurch nicht die vollständige Kontrolle über den Wasserweg, konnten aber großen Einfluss ausüben. Die gemeinsame britisch-französische Finanzkontrolle Ägyptens endete 1882 mit der britischen Okkupation des Landes nach der Niederschlagung des Urabi-Aufstands. Die Franzosen blieben Mehrheitsaktionäre und versuchten, die britische Position zu schwächen. Die Streitfragen konnten 1888 durch Verhandlungen geklärt werden. Der daraus resultierende Vertrag trat 1904 in Kraft und machte den Kanal zu einem neutralen Territorium. De facto übten die Briten aber bis 1954 die Kontrolle aus.
1874 zwangen die Briten dem Aschantireich den Vertrag von Fomena auf. Die Aschanti mussten auf alle ihre Rechte an der Küste verzichten und den Sklavenhandel, einst ihre Haupteinnahmequelle, für illegal erklären. Die Gebiete an der Küste wurden in die britische Kolonie Goldküste eingegliedert, der Rest des Aschantireiches bis 1902 ebenfalls unterworfen. Als die Aktivitäten Frankreichs, Belgiens und Portugals im Mündungsbereich des Kongo die Gefahr eines Krieges heraufbeschworen, beschlossen die europäischen Kolonialmächte bei der Kongokonferenz in Berlin (1884/85) Regeln für die Aufteilung Afrikas. Sie definierten die „effektive Okkupation“ als Kriterium für die internationale Anerkennung eines Anspruchs in diesem „Wettlauf um Afrika“ (scramble for Africa).Im Sudan kam es 1881 zum Mahdi-Aufstand, der sich gegen die ägyptische Besetzung richtete. 1885 eroberten die Aufständischen Khartum, ein britisches Expeditionsheer erreichte die Stadt zu spät und musste wieder abziehen. Erst 1896 wurde ein britisch-ägyptisches Expeditionskorps in Marsch gesetzt, das die Mahdisten zwei Jahre später in der Schlacht von Omdurman besiegte. Ebenfalls 1898 hatte Frankreich von Süden her Teile des Sudan besetzt; die daraus resultierende Faschoda-Krise konnte jedoch mit dem Rückzug der französischen Truppen und dem Sudanvertrag beigelegt werden. 1899 wurde der Sudan als anglo-ägyptisches Kondominium konstituiert.
Die britischen Eroberungen in Süd- und Ostafrika bewogen Cecil Rhodes dazu, ein Reich vom „Kap nach Kairo“ anzustreben und eine transkontinentale Eisenbahn von Süd nach Nord zu bauen (Kap-Kairo-Plan). Die British South Africa Company, deren Vorsitzender Rhodes war, annektierte 1888 die nach ihm Rhodesien benannten Territorien. Einem ununterbrochenen, von Kapstadt nach Kairo reichenden britischen Herrschaftsgebiet stand jedoch die Kolonie Deutsch-Ostafrika im Wege. Im Helgoland-Sansibar-Vertrag verzichtete das Deutsche Reich 1890 auf seine Ansprüche auf Sansibar und erhielt im Gegenzug das zuvor britische Helgoland zugesprochen. Mächtige Interessengruppen aus Wirtschaft und Politik kamen zur Ansicht, dass die Bildung eines „formellen“ Imperiums nötig sei, um den Bedeutungsverlust in den Weltmärkten aufzuhalten. Vor allem Joseph Chamberlain setzte sich vehement dafür ein. Während der 1890er Jahre wurde der neue Imperialismus zur Leitidee der britischen Politik. Dieser entstand also nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern war vielmehr eine Folge der Angst vor dem wirtschaftlichen Bedeutungsverlust.
=== Neuer Status der Siedlerkolonien ===
Der Weg zur Unabhängigkeit der Siedlerkolonien des Britischen Weltreichs nahm 1839 seinen Anfang mit dem Bericht von Lord Durham über die Lage in Britisch-Nordamerika. Darin schlug er die Vereinigung und Selbstverwaltung von Oberkanada und Niederkanada vor, als Reaktion auf die niedergeschlagenen Rebellionen von 1837. Mit dem Act of Union 1840 wurde die Provinz Kanada geschaffen. Als erste Kolonie erhielt Nova Scotia 1848 eine eigenverantwortliche Regierung, bald darauf folgten die weiteren Kolonien in Britisch-Nordamerika. 1867 schlossen sich Ober- und Niederkanada, New Brunswick und Nova Scotia zum Bundesstaat Kanada zusammen, der mit Ausnahme der Außenpolitik in allen Bereichen politisch eigenständig war.Weitere Gebiete erhielten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ähnlichen Grad an Selbstbestimmung zugesprochen: Die australischen Kolonien 1901 durch Zusammenschluss zu einem Bundesstaat, Neuseeland und Neufundland sechs Jahre später. Im Rahmen der Reichskonferenz von 1907 wurde der Begriff Dominion für diese Gebiete offiziell eingeführt. 1910 erhielt auch die Südafrikanische Union, die durch den Zusammenschluss von Kapkolonie, Natal, Transvaal und Oranje-Freistaat entstand, diesen Status.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es immer häufiger Kampagnen für die Selbstverwaltung Irlands (Home Rule). Nach der Rebellion von 1798 war Irland mit dem Act of Union 1800 dem Vereinigten Königreich einverleibt worden. Die Große Hungersnot von 1845 bis 1849 forderte bis zu einer Million Tote. Premierminister William Ewart Gladstone unterstützte das Prinzip des Home Rule, weil er hoffte, Irland würde dem Beispiel Kanadas folgen und ein Dominion werden. Das Parlament lehnte jedoch am 8. Juni 1886 ein entsprechendes Gesetz (das Government of Ireland Bill 1886, auch bekannt als 'First Home Rule Bill') ab. Viele Abgeordnete fürchteten, ein teilweise unabhängiges Irland wäre ein Sicherheitsrisiko für Großbritannien und werde zum Auseinanderbrechen des Empire führen. Ein ähnliches Gesetz wurde 1893 ebenfalls abgelehnt. Der dritte Anlauf im Jahr 1914 war schließlich erfolgreich, konnte aber wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht umgesetzt werden, was 1916 zum Osteraufstand führte.
== Weltkriege (1914–1945) ==
Um die Jahrhundertwende nahmen die Befürchtungen zu, Großbritannien werde nicht mehr in der Lage sein, das gesamte Empire zu verteidigen und gleichzeitig die „splendid isolation“ zu bewahren. Das Deutsche Reich hatte einen rasanten Aufstieg hinter sich, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich, und galt nun als wahrscheinlichster Gegner in einem künftigen Krieg. Großbritannien schloss neue Allianzen: 1902 mit Japan, sowie mit den ehemaligen Erzfeinden Frankreich (entente cordiale) 1904 und Russland 1907 (Triple Entente, Vertrag von Sankt Petersburg).
=== Erster Weltkrieg ===
Die Kriegserklärung Großbritanniens und seiner Alliierten an das Deutsche Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs zog auch die Kolonien und Dominions in den Konflikt hinein. Sie leisteten dem Mutterland umfangreiche militärische, finanzielle und materielle Unterstützung. Mehr als 2,5 Millionen Soldaten dienten in den britischen Streitkräften, dazu kamen Tausende von Freiwilligen aus den Kolonien. Die meisten deutschen Besitzungen in Afrika wurden rasch eingenommen; Australien und Neuseeland besetzten die deutschen Besitzungen im Pazifik, Deutsch-Neuguinea und Samoa. Der Beitrag der Truppen dieser Dominions während der Schlacht von Gallipoli gegen das Osmanische Reich hatte einen großen Einfluss auf ihr Bewusstsein als Nation. Beide Länder gedenken am ANZAC Day noch heute dieses Ereignisses. Im Falle Kanadas hatte die Schlacht bei Arras an der Westfront ähnliche Auswirkungen. Premierminister David Lloyd George honorierte diesen wichtigen Beitrag, indem er 1917 mit den Premierministern der Dominions das Reichskriegskabinett (Imperial War Cabinet) bildete, um die gemeinsamen Anstrengungen zu koordinieren.Gemäß den Bestimmungen des 1919 unterzeichneten Friedensvertrages von Versailles wuchs die Fläche des Empire um 4,662 Millionen km², die Zahl der Untertanen um 13 Millionen, womit die größte Ausdehnung erreicht war. Die Kolonien des Deutschen Reiches und Teile des Osmanischen Reiches wurden als Mandatsgebiete des Völkerbundes unter den Alliierten aufgeteilt. Großbritannien erhielt die Kontrolle über Palästina und Jordanien, den Irak (mit den deutschen Ölkonzessionen im Norden), Teile Kameruns, Togo und Tanganjika. Auch die Dominions erhielten Mandatsgebiete zugesprochen: Südwestafrika (das heutige Namibia) gelangte an die Südafrikanische Union, Deutsch-Neuguinea an Australien und Samoa an Neuseeland. Nauru war ein gemeinsames Mandat der Briten und der beiden pazifischen Dominions.
=== Zwischenkriegszeit ===
Die neue Weltordnung, die der Krieg hervorgebracht hatte, insbesondere der Bedeutungszuwachs Japans und der Vereinigten Staaten als Seemächte sowie Unabhängigkeitsbewegungen in Indien und Irland, hatten eine grundlegende Neuausrichtung der britischen imperialen Politik zur Folge. Großbritannien entschloss sich, die Allianz von 1902 mit Japan nicht zu erneuern, und unterzeichnete 1922 stattdessen das Washingtoner Marineabkommen, das die Parität der britischen und US-amerikanischen Flotte festschrieb. Diese Entscheidung löste in den 1930er Jahren zahlreiche Debatten aus, da als Folge der Weltwirtschaftskrise in Deutschland und Japan faschistisch-militaristische Regimes die Macht an sich rissen. In Regierungskreisen befürchtete man, das Empire werde einem gleichzeitigen Angriff beider Länder nicht standhalten können. Darüber hinaus wurde das Empire für die Wirtschaft Großbritanniens immer wichtiger. Während der Zwischenkriegszeit wuchs der Anteil der Exporte in die Dominions und Kolonien von 32 auf 39 Prozent, der Anteil der Importe von 24 auf 37 Prozent.Enttäuschung über die Verzögerungen des Home Rule in Irland bewogen im Jahr 1919 Mitglieder von Sinn Féin, die über die Mehrheit der irischen Sitze im Parlament verfügten, dazu, in Dublin ein eigenes Parlament zu bilden. Dieser Dáil Éireann rief daraufhin die Unabhängigkeit Irlands aus, gleichzeitig begann die Irish Republican Army einen Guerillakrieg gegen die britischen Besatzer. Der Irische Unabhängigkeitskrieg endete 1921 in einer Pattsituation und mit der Unterzeichnung des Anglo-Irischen Vertrages, der den Irischen Freistaat schuf – ein weitgehend unabhängiges Dominion innerhalb des Empire, das aber verfassungsrechtlich noch mit der britischen Krone verbunden war. Das mehrheitlich protestantische Nordirland löste die im Government of Ireland Act vorgesehene Option sofort ein und verblieb im Vereinigten Königreich.Eine ähnliche Auseinandersetzung begann 1919 in Britisch-Indien, als mit dem Government of India Act die Forderungen nach Unabhängigkeit nicht erfüllt wurden. Aus Furcht vor kommunistischer und ausländischer Infiltration wurden mit dem Rowlatt Act die Sicherheitsbestimmungen der Kriegszeit auf unbestimmte Zeit verlängert. Dies hatte vor allem im Punjab Ausschreitungen zur Folge, die im April 1919 im Massaker von Amritsar gipfelten. Die britische Öffentlichkeit war gespalten: manche glaubten, Indien sei vor der Anarchie bewahrt worden, andere empfanden das Massaker als abscheulich. Die Inder beendeten 1922 nach dem Zwischenfall im Dorf Chandi Chaura die Kampagne der Nichtkooperation, die Unzufriedenheit gärte in den folgenden 25 Jahren weiter.
1922 erhielt Ägypten unter der Herrschaft der Muhammad Ali-Dynastie nach einem Volksaufstand seine Unabhängigkeit und wurde Königreich. Das Land war nach Beginn des Ersten Weltkriegs zum Protektorat erklärt worden. Britische Truppen blieben aber auch nach der Unabhängigkeit im Land stationiert und der politische Einfluss der Briten auf das Land blieb stark. Die britische Truppenpräsenz wurde durch die Unterzeichnung des Anglo-Ägyptischen Abkommens von 1936 legitimiert. Großbritannien erhielt das Recht weiterhin die Zone um den Sueskanal zu verteidigten. Im Gegenzug erhielt Ägypten 1937 Unterstützung beim Beitritt zum Völkerbund. Im gemeinsam verwalteten britisch-ägyptischen Sudan kam es 1924 zur Sudankrise zwischen den Ägyptern und Briten um dessen Status. Der Irak, seit 1919 ein britisches Mandatsgebiet, wurde nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1932 ebenfalls in den Völkerbund aufgenommen.An der Reichskonferenz von 1923 setzten die Dominions durch, dass sie ihre Außenpolitik selbständig betreiben durften. Kanada und Südafrika hatten ein Jahr zuvor während der Chanakkrise ihre militärische Unterstützung verweigert, außerdem fühlte sich Kanada nicht an den 1923 geschlossenen Vertrag von Lausanne gebunden. Auf Druck Irlands und Südafrikas beschloss die Reichskonferenz von 1926 die Balfour-Deklaration. Sie erklärte die Dominions zu „autonomen Gemeinschaften innerhalb des Britischen Empire“, die dem Vereinigten Königreich gleichgestellt, mit diesem im Commonwealth of Nations aber lose verbunden waren. Diese Deklaration erhielt 1931 mit dem Statut von Westminster rechtliche Substanz. Die Parlamente Kanadas, Neuseelands, der Südafrikanischen Union, des Irischen Freistaates und Neufundlands waren nun gesetzgeberisch völlig unabhängig. Neufundland, das aufgrund der Weltwirtschaftskrise unter massiven finanziellen Schwierigkeiten litt, wurde 1933 wieder zu einer Kronkolonie. Der Irische Freistaat distanzierte sich 1937 durch die Annahme einer neuen Verfassung weiter von Großbritannien, wobei der genaue konstitutionelle Status ungeklärt blieb (bis zur Ausrufung der Republik Irland im Jahr 1949).
=== Zweiter Weltkrieg ===
Großbritanniens Kriegserklärung an das von den Nationalsozialisten beherrschte Deutsche Reich im September 1939 schloss die Kronkolonien und Indien mit ein, jedoch nicht automatisch die Dominions. Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland erklärten den Krieg eigenständig, während der Irische Freistaat sich dazu entschloss, im Zweiten Weltkrieg neutral zu bleiben. Seit der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 standen Großbritannien und das Empire dem Deutschen Reich und dessen Verbündeten bis zum Kriegseintritt der Sowjetunion 1941 allein gegenüber. Die Vereinigten Staaten waren noch nicht bereit, offen an der Seite der Briten in den Krieg einzutreten, gewährten ihnen jedoch mit dem Leih- und Pachtgesetz dringend benötigte Unterstützung. Premierminister Winston Churchill und Präsident Franklin D. Roosevelt unterzeichneten im August 1941 die Atlantik-Charta. Sie enthielt unter anderem die Vereinbarung, dass „das Recht sämtlicher Völker, jene Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen“, respektiert werden solle. Der Wortlaut war zweideutig; er konnte sowohl auf von den Deutschen besetzte europäische Staaten zutreffen als auch auf durch europäische Staaten kolonialisierte Völker. Briten, Amerikaner und nationalistische Bewegungen interpretierten die Vereinbarung später jeweils in ihrem Sinne.Im Dezember 1941 griff Japan kurz nacheinander British Malaya, den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor und die britische Kronkolonie Hongkong an. Seit dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1894–1895) war die Macht Japans im Fernen Osten stetig angewachsen, Fernziel der Japaner war eine von ihnen dominierte „Großostasiatische Wohlstandssphäre“. Der von Churchill herbeigesehnte Kriegseintritt der Vereinigten Staaten war nun Realität geworden und der Sieg Großbritanniens schien nun möglich zu sein, doch die schnellen Kapitulationen in Ostasien schädigten das Prestige als Kolonialmacht nachhaltig. Am verheerendsten wirkte sich der Fall Singapurs aus, das als uneinnehmbare Festung gegolten hatte. Die Erkenntnis, dass Großbritannien nicht in der Lage war, das gesamte Empire zu verteidigen, führte zu einer engeren Kooperation Australiens und Neuseelands mit den Vereinigten Staaten und schließlich 1951 zur Unterzeichnung des ANZUS-Abkommens.
== Dekolonisation (1945–1997) ==
Obwohl Großbritannien mit dem Empire den Zweiten Weltkrieg als eine der Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition 1945 erfolgreich beenden konnte, hatte der Konflikt tiefgreifende Auswirkungen. Europa, ein Kontinent, der die Welt mehrere Jahrhunderte lang dominiert hatte, lag buchstäblich in Trümmern. Die nunmehr dominierenden Weltmächte USA und Sowjetunion hatten ihren Machtbereich enorm ausdehnen können. In einer Reihe von Staaten wurden Besatzungstruppen stationiert, ihr politisches System eingeführt und Militärstützpunkte errichtet. Sie stiegen folglich zu globalen Supermächten auf. Großbritannien wiederum hatte riesige Schulden angehäuft und entging 1946 nur knapp dem Staatsbankrott, nicht zuletzt dank einer US-Anleihe in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar.Zur selben Zeit gewannen antikolonialistische Bewegungen an Bedeutung. Die Situation wurde durch die wachsenden Spannungen im Kalten Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion weiter verkompliziert. Beide Staaten lehnten den europäischen Kolonialismus ab, wenngleich bei den Amerikanern und Westeuropäern der Antikommunismus weitaus stärker ausgeprägt war als der Antiimperialismus und die Briten deshalb weiterhin Unterstützung erhielten. Das Ende des Britischen Weltreichs war absehbar und Großbritannien versuchte eine Politik des friedlichen Rückzugs aus den Kolonien, was nicht immer gelang. Ziel war es einerseits die Staatsgewalt an stabile antikommunistische Regierungen zu übertragen und andererseits durch stabile wirtschaftliche Beziehungen den britischen Siedlern weiterhin eine sichere Heimat zu garantieren. In manchen ehemaligen Kolonien Afrikas etablierte sich jedoch ein afrikanischer Sozialismus, wie z. B. in Sambia oder Tansania. Andere Staaten wie Frankreich oder Portugal, führten teilweise kostspielige und letztlich erfolglose Kriege, um ihre Kolonialreiche zu retten. Zwischen 1945 und 1965 nahm die Zahl der Menschen, die außerhalb des Vereinigten Königreichs unter britischer Herrschaft standen, von 700 Millionen auf fünf Millionen ab (davon drei Millionen in Hongkong).
=== Erste Auflösungstendenzen ===
Die von Clement Attlee angeführte Labour Party, die bei den Unterhauswahlen 1945 an die Macht gelangt war, nahm sich rasch des drängendsten Problems an, jenes der indischen Unabhängigkeit. Der Indische Nationalkongress und die Muslimliga hatten sich seit Jahrzehnten für die Unabhängigkeit eingesetzt, waren sich aber über die Umsetzung uneinig. Erstere befürworteten einen gesamtindischen Staat, letztere einen separaten Staat in Gebieten mit muslimischer Mehrheit. Angesichts von Unruhen und eines drohenden Bürgerkriegs erklärte Lord Mountbatten, der letzte britische Vizekönig, das mehrheitlich hinduistische Indien und das mehrheitlich muslimische Pakistan am 15. August 1947 recht überhastet für unabhängig. Die durch Großbritannien festgelegte Grenzziehung machte Dutzende Millionen Menschen zu Angehörigen einer religiösen Minderheit. Die einsetzenden Flüchtlingsströme führten zu Gewalt und Krieg zwischen beiden Gruppen und zu Hunderttausenden von Toten. Burma und Ceylon erlangten ihre Unabhängigkeit 1948. Im Gegensatz zu Indien, Pakistan und Ceylon trat Burma nicht dem Commonwealth of Nations bei.Das britische Völkerbundsmandat für Palästina, wo eine arabische Mehrheit mit einer jüdischen Minderheit zusammenlebte, erwies sich für Großbritannien als ähnliches Problem wie Indien. Es wurde zusätzlich verschärft durch die große Anzahl jüdischer Flüchtlinge, die sich nach der Unterdrückung und dem Genozid durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs in Palästina niederlassen wollten. Anstatt sich mit der Angelegenheit zu befassen, erklärte die britische Regierung 1947, dass sie im folgenden Jahr ihre Truppen zurückziehen und die Problemlösung den Vereinten Nationen überlassen werde. Sie versuchte dies durch die Ausarbeitung eines Teilungsplans, konnte aber nicht den Palästinakrieg verhindern, der die einseitige Proklamation des Staates Israel zur Folge hatte.
Nach der japanischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg richteten die malaiischen Widerstandsbewegungen ihre Aufmerksamkeit auf die Briten, die die Kontrolle über die Kolonie rasch wiedererlangt hatten. Die Tatsache, dass die Rebellen überwiegend chinesischstämmige Kommunisten waren, bewog die muslimische Mehrheit dazu, die Briten bei der Niederschlagung zu unterstützen – mit der späteren Unabhängigkeit des Landes als Gegenleistung. Dieser „Malaiische Notstand“ (Malayan Emergency) dauerte von 1948 bis 1960, doch schon 1957 fühlten sich die Briten sicher genug, die Föderation Malaya als Teil des Commonwealth in die Unabhängigkeit zu entlassen. 1963 schlossen sich die Föderation, Singapur, Sarawak und Britisch-Nordborneo zum Staat Malaysia zusammen, musste im Anschluss jedoch von britischen Truppen gegen Angriffe Indonesiens verteidigt werden, welches die Konfrontasi begann. Nach Spannungen zwischen den malaiischen und chinesischen Bevölkerungsgruppen trat Singapur 1965 wieder aus Malaysia aus. Das Sultanat Brunei, das seit 1888 ein britisches Protektorat gewesen war, behielt seinen Status bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1984.
=== Die Sueskrise und ihre Folgen ===
Nach der Unterhauswahl vom Oktober 1951 übernahm die Conservative Party unter Winston Churchill wieder die Regierung. Am 3. Oktober 1952 wurde Großbritannien durch seinen ersten erfolgreichen Kernwaffentest, die Operation Hurricane, zur Atommacht. Die Konservativen waren davon überzeugt, dass Großbritanniens Status als Weltmacht vom Weiterbestehen des Empire abhing. Dabei spielte der Sueskanal trotz des Verlusts von Indien eine Schlüsselrolle. Gamal Abdel Nasser, der 1952 in Ägypten an die Macht gelangt war, handelte das Suez-Abkommen aus, das bis 1956 den Abzug britischer Truppen aus der Kanalzone vorsah.1956 verstaatlichte Nasser unvermittelt den Sueskanal. Als Reaktion darauf führte der neue Premierminister Anthony Eden Verhandlungen mit den Regierungen Frankreichs und Israels. Ein israelischer Angriff auf Ägypten sollte den Briten und Franzosen als Vorwand dienen, die Sueskanalzone zurückzuerobern. Der US-Präsident Dwight D. Eisenhower war nicht in die Pläne eingeweiht worden und verweigerte aus Verärgerung jegliche Unterstützung. Eisenhower fürchtete auch einen Krieg gegen die Sowjetunion, da Nikita Chruschtschow gedroht hatte, den Ägyptern zu Hilfe zu eilen. Die Amerikaner übten Druck aus, indem sie den Verkauf ihrer Pfund-Reserven androhten, was zum Zusammenbruch der britischen Währung geführt hätte. Obwohl die Invasion militärisch erfolgreich war, wurden die Briten auf Druck der Vereinigten Staaten zu einem demütigenden Rückzug ihrer Truppen gezwungen und Eden trat Anfang 1957 zurück.Die Sueskrise zeigte klar die Grenzen britischer Macht auf und leitete den endgültigen Niedergang des Empire ein. Ohne Einwilligung oder gar Unterstützung der Vereinigten Staaten war Großbritannien allein nicht mehr länger handlungsfähig. Zwar war die britische Machtposition im Nahen Osten nach der Sueskrise erheblich geschwächt, sie brach jedoch nicht zusammen. Großbritannien entsandte bald wieder Truppen in die Region und intervenierte in Oman (1957), Jordanien (1958) und Kuwait (1961), wenn auch mit amerikanischer Billigung. Die britische Präsenz im Nahen Osten endete mit dem geordneten Rückzug aus Kolonie Aden (1967) und Bahrain (1971).
=== „Wind der Veränderung“ ===
Premierminister Harold Macmillan hielt im Februar 1960 in Kapstadt eine Rede und sprach dabei vom „Wind der Veränderung“ (wind of change), der durch Afrika wehe. Er wollte Unabhängigkeitskriege wie beispielsweise den Algerienkrieg, in den Frankreich verwickelt war, vermeiden. Ein blutiger Konflikt war allerdings bereits in Kenia mit dem sich über Jahre hinziehenden Mau-Mau-Krieg ausgebrochen. Ein Jahr vor Macmillans Amtsantritt war Sudan unabhängig geworden. Der neue Premierminister trieb die Dekolonisation rasch voran. Die verbliebenen britischen Kolonien – mit Ausnahme Südrhodesiens – folgten bis 1968 (siehe Karte). Der britische Rückzug aus dem östlichen und südlichen Teil Afrikas verursachte wegen der eingewanderten europäischen Siedlerminderheiten Probleme, insbesondere in Südrhodesien, wo Premierminister Ian Smith 1965 einseitig die Unabhängigkeit von Großbritannien ausrief. Daraufhin herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen dem afrikanischen (verschiedene, zum Teil rivalisierende Stämme) und dem europäischen Bevölkerungsteil, bis zur Unterzeichnung des Lancaster-House-Abkommens im Jahr 1979. Südrhodesien wurde vorübergehend wieder zu einer Kolonie, bis unter britischer Aufsicht Wahlen durchgeführt werden konnten. Diese Wahlen wurden von Robert Mugabe gewonnen, der 1980 Premierminister des neuen unabhängigen Staates Simbabwe wurde.Auf Zypern kämpfte die Widerstandsorganisation EOKA seit 1955 für die Selbstbestimmung und den Anschluss an Griechenland. Das Land wurde 1960 unabhängig, durfte sich jedoch aus Rücksicht auf die türkische Minderheit nicht Griechenland anschließen. Außerdem blieben die Briten mit den Militärbasen Akrotiri und Dekelia, die bis heute britisches Hoheitsgebiet sind, präsent. Seit dem Einmarsch türkischer Truppen im Jahr 1974 und der einseitigen Ausrufung der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern ist die Insel geteilt. Die Unabhängigkeit Maltas im Jahr 1964 verursachte hingegen keine Probleme.
1958 wurde die Westindische Föderation gegründet. Großbritannien versuchte dadurch, in elf Kolonien in der Karibik die Forderung nach Unabhängigkeit gleichzeitig zu erfüllen und die Inseln unter einer Regierung zu vereinen. Dieser Bundesstaat brach jedoch auseinander, als zuerst 1961 Jamaika und dann 1962 Trinidad und Tobago, die beiden größten Provinzen, austraten. Barbados und Guyana wurden 1966 unabhängig, weitere Kolonien im karibischen Raum folgten in den 1970er und 1980er Jahren. Hingegen verblieben Anguilla, die Turks- und Caicosinseln, die Britischen Jungferninseln, die Cayman Islands und Montserrat Teil Großbritanniens. Britisch-Honduras, die letzte verbliebene Kolonie auf dem amerikanischen Festland, erhielt 1964 das Recht zur Selbstverwaltung, benannte sich 1973 in Belize um und erlangte 1981 die vollständige Unabhängigkeit.
Die britischen Kolonien im Pazifik wurden zwischen 1970 (Fidschi) und 1980 (Vanuatu) in die Unabhängigkeit entlassen. Im Falle Vanuatus verzögerte sich dieser Prozess aufgrund politischer Auseinandersetzungen zwischen dem englisch- und französischsprachigen Bevölkerungsteil (die Inselgruppe war zuvor ein gemeinsam mit Frankreich verwaltetes Kondominium gewesen).
=== Das Ende des Weltreichs ===
Zu Beginn der 1980er Jahre war die Dekolonisation weitgehend abgeschlossen. Großbritannien verfügte nur noch über einige über die ganze Welt verstreute Gebiete. Die einzige Neuerwerbung war 1955 Rockall gewesen, ein unbewohnter Felsen im Nordatlantik; dadurch sollte die sowjetische Marine daran gehindert werden, Raketentests auf den Hebriden zu beobachten. 1982 besetzte Argentinien die Falklandinseln und berief sich dabei auf Ansprüche aus der spanischen Kolonialzeit. Im anschließenden Falklandkrieg konnten die anfänglich überraschten Briten die Inselgruppe zurückerobern; die Niederlage Argentiniens führte dort zum Sturz der Militärdiktatur. Im selben Jahr wurde Kanada durch das vom britischen Parlament erlassene Kanada-Gesetz 1982 verfassungsrechtlich vollständig vom Mutterland getrennt. Entsprechende Gesetze für Australien und Neuseeland folgten 1986.Im September 1982 verhandelte Premierministerin Margaret Thatcher mit der Regierung der Volksrepublik China über die Zukunft der letzten bedeutenden und bevölkerungsreichsten britischen Kolonie Hongkong. Gemäß den Bestimmungen des Vertrags von Nanking von 1842 hatten die Chinesen Hong Kong Island „auf ewig“ abgetreten. Doch der überwiegende Teil der Kolonie bestand aus den New Territories, die für 99 Jahre gepachtet worden waren und für die der Pachtvertrag 1997 auslief. Thatcher wollte an Hongkong festhalten und schlug eine britische Verwaltung unter chinesischer Souveränität vor, was die Chinesen jedoch ablehnten. 1984 vereinbarten beide Regierungen die chinesisch-britische gemeinsame Erklärung zu Hongkong, welche die Einrichtung einer Sonderverwaltungszone unter dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ vorsah. Viele Beobachter, darunter der anwesende Prinz Charles, bezeichneten die Übergabezeremonie am 30. Juni 1997 als das „Ende des Empire“.
== Nachwirkung ==
Großbritannien übt außerhalb der Britischen Inseln die Souveränität über 14 Gebiete aus, die seit 2002 als Britische Überseegebiete bezeichnet werden. Einige sind mit Ausnahme von militärischem oder wissenschaftlichem Personal unbewohnt, die übrigen verwalten sich in unterschiedlichem Maße selbst und sind in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung von Großbritannien abhängig. Die britische Regierung hat jedem Überseegebiet seine Unterstützung zugesagt, falls es die Unabhängigkeit anstreben will. Die britische Souveränität über verschiedene Überseegebiete wird von benachbarten Staaten in Frage gestellt: Spanien erhebt Anspruch auf Gibraltar, Argentinien auf die Falklandinseln und Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln, die Seychellen und Mauritius auf das Britische Territorium im Indischen Ozean. Das Britische Antarktis-Territorium überlappt mit Ansprüchen Argentiniens und Chiles, während zahlreiche andere Staaten überhaupt keine territorialen Ansprüche in der Antarktis anerkennen.
Die meisten ehemaligen britischen Kolonien sind Mitglied des Commonwealth of Nations, ein freiwilliger, unparteiischer, wirtschaftspolitischer Zusammenschluss gleichberechtigter Staaten, in welchem Großbritannien kein privilegierter Status zusteht. Fünfzehn Staaten des Commonwealth, die so genannten Commonwealth Realms, teilen sich mit Großbritannien das Staatsoberhaupt, den britischen Monarchen.
Jahrzehnte-, in manchen Fällen jahrhundertelange britische Herrschaft und Auswanderung haben in den Staaten, die aus dem Britischen Weltreich entstanden sind, ihre Spuren hinterlassen. Die englische Sprache ist die Hauptsprache von über 300 Millionen Menschen und die Zweitsprache von mehr als 400 Millionen. Ursache ist zum Teil der wirtschaftliche und kulturelle Einfluss der Vereinigten Staaten, die ihrerseits aus dem Empire hervorgegangen sind. Das englische parlamentarische System (Westminster-System) und die englische Rechtsprechung (common law) dienten vielen ehemaligen Kolonien als Vorbild bei der Gestaltung ihres Staatswesens. Das Justizkomitee des britischen Privy Council ist heute noch das oberste Appellationsgericht einiger früherer Kolonien in der Karibik und im Pazifik. Protestantische britische Missionare verbreiteten die anglikanische Konfession in alle Kontinente. Beispiele britischer Kolonialarchitektur wie Straßen- und Stadtplanung, Kirchen, Bahnhöfe und Regierungsgebäude prägen bis heute Städte, die einst Teil des Empires waren. In Großbritannien entwickelte Ballspiele – Fußball, Cricket, Rugby, Hockey, Tennis und Golf – haben sich über die ganze Welt verbreitet. Einige Länder haben das britische Maßsystem und den Linksverkehr beibehalten.
Die durch die Briten gezogenen politischen Grenzen entsprachen oft nicht ethnischen oder religiösen Kriterien und führten zu Konflikten, beispielsweise in Kaschmir, Palästina, Sudan und Nigeria. Das Britische Weltreich war auch für große Migrationsströme verantwortlich. Millionen von Menschen verließen die Britischen Inseln und bildeten die Grundlage von Siedlerstaaten wie den USA, Kanada, Australien und Neuseeland. Spannungen zwischen den europäischen bzw. indischen Minderheiten und den indigenen Mehrheiten in Afrika (besonders in Südafrika oder Simbabwe) bleiben bis heute weitgehend bestehen. Die britische Besiedlung Irlands hatte in Nordirland eine tiefe Kluft zwischen indigenen Katholiken und eingewanderten Protestanten zur Folge. Millionen von Menschen wanderten, oft als Zwangsarbeiter, zwischen den verschiedenen britischen Kolonien, insbesondere Afrikaner, Inder und Chinesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich durch die erleichterte Einwanderung aus ehemaligen Kolonien auch die Zusammensetzung der Bevölkerung Großbritanniens.
== Siehe auch ==
Britische Kolonien und Protektorate
Britische Überseegebiete
Liste der größten Imperien und Reiche
== Literatur ==
Caroline Elkins: Legacy of Violence: A History of the British Empire. Alfred A. Knopf, New York 2022, ISBN 978-0-307-27242-3.
Benedikt Stuchtey: Geschichte des Britischen Empire. Verlag C.H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-76699-2.
Eva Marlene Hausteiner: Greater than Rome. Neubestimmungen britischer Imperialität. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2015, ISBN 978-3-593-50307-3.
John Gareth Darwin: Das unvollendete Weltreich. Aufstieg und Niedergang des Britischen Empire 1600–1997. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2013, ISBN 978-3-593-39808-2.
Dominik Nagl: No Part of the Mother Country, But Distinct Dominions. Rechtstransfer, Staatsbildung und Governance in England, Massachusetts und South Carolina, 1630–1769. LIT, Berlin 2013, ISBN 978-3-643-11817-2. (Rezension; Volltext).
Peter Wende: Das Britische Empire, Geschichte eines Weltreichs. C. H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57073-5.
Bill Nasson: Das britische Empire. Ein Weltreich unterm Union Jack. Magnus, Cambridge 2007, ISBN 978-3-88400-443-2.
Nigel Dalziel: The Penguin Historical Atlas of the British Empire. Penguin Books, London 2006, ISBN 0-14-101844-5.
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== Weblinks ==
British Empire & Commonwealth Museum in Bristol
The British Empire (Website des Lehrers Stephen Luscombe)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Britisches_Weltreich |
Goa | = Goa =
Goa (Konkani: गोंय, goṃya; Marathi: गोवा, govā) ist der kleinste indische Bundesstaat. Er liegt an der mittleren Westküste Indiens, hat eine Fläche von 3702 Quadratkilometern und knapp 1,5 Millionen Einwohner (Volkszählung 2011). Die Hauptstadt Goas ist Panaji, von den Portugiesen Pangim, von den Briten Panjim genannt.
Goa ist nach der ehemals gleichnamigen Stadt, heute Velha Goa, benannt. Die Region war als Teil Portugiesisch-Indiens rund 450 Jahre lang portugiesische Kolonie und weist daher eine besondere kulturelle Prägung auf. Kaum ein indischer Bundesstaat ist kulturell so nachhaltig von einer europäischen Kolonialmacht beeinflusst worden wie Goa. Dies zeigt auch der hohe katholische Bevölkerungsanteil.
== Geografie ==
Mit einer Fläche von 3702 Quadratkilometern, einer Nord-Süd-Ausdehnung von 105 Kilometern sowie einer West-Ost-Ausdehnung von höchstens 65 Kilometern ist Goa der kleinste Bundesstaat Indiens.
Goa liegt an der Konkanküste, der mittleren Westküste Indiens. Es grenzt im Norden an den Bundesstaat Maharashtra, im Süden und Osten an Karnataka sowie im Westen an das Arabische Meer. Die Küstenlänge beträgt 101 Kilometer.
An die schmale Küstenebene schließen sich terrassenähnliche, 30 bis 100 Meter hohe Tafelländer an, die nach Osten in Ausläufer der Westghats übergehen. Die Berge der Westghats, die etwa 15 Prozent der Landesfläche einnehmen, sind im Schnitt 800 Meter hoch, einzelne Berge steigen aber bis über 1000 Meter auf. Goas höchste Erhebung ist mit 1167 Metern über dem Meeresspiegel der Sonsogor.
Goas Küstenlinie ist durch breite Flussmündungen zergliedert. Die Mormugao-Bucht gilt als einer der besten Naturhäfen Südasiens. Alle größeren Flüsse entspringen in den Westghats. Am bedeutendsten sind die Flüsse Zuari und Mandovi im Zentrum Goas, Chapora und Terekhol im Norden sowie Sal und Talpona im Süden.
=== Klima ===
Das Klima ist tropisch und wird, wie allgemein in Indien, durch den Monsun bestimmt. Der Sommermonsun setzt etwa Mitte Juni ein und dauert in der Regel bis September. Im Schnitt beträgt die jährliche Niederschlagsmenge zwischen 2800 und 3500 mm, in einigen höher gelegenen Bergregionen können die Niederschläge aber auch wesentlich stärker (bis zu 7500 mm) ausfallen. Während des Monsuns schwanken die Temperaturen um die 26 °C.
Auf den Monsun folgt die trockene Jahreszeit von Oktober bis Anfang Juni mit etwa gleich bleibenden Temperaturen zwischen 25 und 27 °C im Durchschnitt. Nur in der heißen Saison im April und Mai steigen die Durchschnittstemperaturen auf 29 bis 30 °C, tagsüber auf bis zu 35 °C. Auf Grund der Meeresnähe herrscht in Goa auch in der trockenen Jahreszeit stets eine relativ hohe Luftfeuchtigkeit von etwa 60 %.
=== Vegetation ===
Während in ganz Indien rund 20 Prozent der Fläche bewaldet sind, sind es in Goa etwa 38 Prozent. Dichte Bewaldung findet sich vor allem im Berg- und Hochland. In Lagen von über 500 Metern erstrecken sich überwiegend immergrüne Feuchtwälder mit Magnoliengewächsen, Feigen-, Teak- und Salbäumen sowie einem dichten Unterholz aus Bambus und Farnen. Häufig anzutreffen sind zudem Lianen und Orchideen. Auf den tiefer gelegenen Hochebenen herrschen Akazien und andere laubabwerfende Baumarten vor. In Höhen zwischen 50 und 200 Metern wechseln sich die ursprünglichen offenen Buschwälder mit großen Kaschubaumpflanzungen ab.
Im Tiefland ist die ursprüngliche Pflanzendecke aufgrund der hohen Besiedlungsdichte weitgehend zerstört, stattdessen findet man dort eine vom Ackerbau geprägte Kulturlandschaft vor. Lediglich an Flussmündungen gibt es noch Mangrovenwälder, die jedoch durch Abholzung zur Gewinnung von Feuerholz und Baustoffen bedroht sind. Entlang der Küsten wachsen neben zahlreichen Gräsern und Sträuchern vor allem Palmengewächse, darunter die auch wirtschaftlich genutzten Kokospalmen.
=== Tierwelt ===
Unter den rund 40 in Goa vorkommenden Säugetierarten sind Gaure und die seltenen Indischen Leoparden die größten Lebewesen. Weitaus häufiger sind kleinere Katzenarten, besonders Zibetkatzen, Musangs und Rohrkatzen, sowie Affen und Halbaffen, darunter die von den Hindus als heilig erachteten und daher auch in besiedelten Gegenden allgegenwärtigen Hanuman-Languren. Dagegen findet man Hirscharten wie Sambars, Axishirsche, Schweinshirsche und Muntjaks nur in geschlossenen Waldgebieten, ebenso Lippenbären, Wild- und Stachelschweine. Streifenhyänen und Goldschakale bevorzugen offeneres Gelände. 423 Vogelarten wurden bisher in Goa nachgewiesen, unter anderem Würger, Eisvögel, Hirtenmainas, Papageien und Reiher. Die am häufigsten vorkommenden Kriechtiere sind Schlangen, darunter die giftigen Kobras. Deren natürliche Fressfeinde sind die Mungos, die daher auch in der Nähe menschlicher Siedlungen geduldet werden. Aber auch viele Fangschrecken kommen aus der Region.
== Bevölkerung ==
=== Demografie ===
Nach der indischen Volkszählung 2011 hat Goa 1.457.723 Einwohner. Gemessen an der Einwohnerzahl ist Goa der viertkleinste Bundesstaat Indiens. Die Bevölkerungsdichte liegt mit 394 Einwohnern pro Quadratkilometern nur unwesentlich über dem Landesdurchschnitt. Goas Bevölkerung ballt sich vor allem in den nördlichen und mittleren Küstengebieten, während die Hochland- und Berggegenden des Hinterlandes viel dünner besiedelt sind. Von allen indischen Bundesstaaten weist Goa mit 62,2 Prozent den höchsten Verstädterungsgrad auf. Im Landesdurchschnitt leben dagegen nur 31,2 Prozent aller Inder in Städten.Dank des für indische Verhältnisse hohen Lebensstandards ist mittlerweile etwa jeder dritte Goanese ein aus einem anderen indischen Bundesstaat Zugewanderter. Etwa ein Drittel der Einwanderer stammt allein aus Karnataka, gefolgt von Kerala und Gujarat. Ein bedeutender Anteil der Einwohner zumindest der Hauptstadt Goas ist portugiesischer Abstammung und römisch-katholisch (Goa-Katholiken), die Mehrheit der Einwohner spricht die vom Portugiesischen stark beeinflusste Konkani-Sprache. Im ländlichen Raum lebt demgegenüber eine kleine Gruppe von etwa 25.000 Adivasi (Ureinwohner), die als Gauda bekannt sind.
Zensusbevölkerung von Goa seit der ersten Volkszählung im Jahr 1951.
=== Sprachen ===
Die traditionelle Sprache der Goaner ist Konkani, ursprünglich ein Dialekt des Marathi, der später als eigenständige Sprache anerkannt wurde. Konkani weist Einflüsse aus dem Portugiesischen und Kannada auf. Es wird bevorzugt in Devanagari, bisweilen aber auch in lateinischer Schrift geschrieben. Durch zunehmende westliche Einflüsse, die von einigen betriebene Angliederung Goas an Maharashtra in den 1960er Jahren sowie die in den 1980ern geplante Erhebung von Marathi zur Amtssprache war Konkani in seinem Fortbestand bedroht. Eine Bewegung zum Erhalt der Sprache führte aber dazu, dass es heute wieder die allgemein übliche Umgangssprache der Bevölkerung und am 19. Dezember 1987 Amtssprache des Bundesstaats Goa wurde. Daneben darf auch Marathi, das in einigen ländlichen Gegenden Nordgoas als Muttersprache gesprochen wird, für offizielle Zwecke verwendet werden. Englischkenntnisse sind im Fremdenverkehr nützlich, der für Goa von wirtschaftlicher Bedeutung ist. Daher wird es von den meisten Goanern mehr oder weniger gut beherrscht. Als Bildungssprache hat es das Portugiesische weitgehend abgelöst. Letzteres wird nur noch von einigen christlichen Familien oder Nachfahren portugiesischer Siedler gepflegt, die meistens einer Brahmanen-Kaste angehören. Wie das Englische, so wird auch Hindi häufig als Verkehrssprache zur Verständigung zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen angewandt. Unter den jüngeren Bevölkerungsschichten Goas hat sich eine Mischung aus Hindi, Konkani und Englisch als Umgangssprache etabliert, die sich an den Sprachgebrauch der Bollywood-Filme anlehnt. Zuwanderer aus anderen Bundesstaaten verwenden untereinander ihre Muttersprachen. Besonders Kannada hat daher zahlreiche Sprecher in Goa.
=== Religionen ===
Hindus stellen mit 66 Prozent (Volkszählung 2011) die deutliche Mehrheit der Bevölkerung Goas. Seit dem Anschluss Goas an Indien ist ihr Anteil langsam aber stetig gestiegen, was vor allem auf Zuwanderung aus anderen Bundesstaaten zurückzuführen ist. Durch die portugiesische Kolonialgeschichte gibt es aber auch eine starke Präsenz von Christen (fast ausschließlich Katholiken). Während der Kolonialzeit stellten Christen noch die Bevölkerungsmehrheit, heute stellen sie mit 25 Prozent noch eine bedeutende Minderheit. Damit stellt Goa nach Osttimor und den Philippinen das Gebiet mit der stärksten katholischen Prägung in Asien dar. Eingeführt wurde der Katholizismus im 16. Jahrhundert durch die Missionstätigkeit der Portugiesen. Unter der Inquisition wurden viele Hindus zur Annahme des christlichen Glaubens gezwungen. Muslime machen 8 Prozent der Bevölkerung aus. Während Hindus und Christen etwa gleichmäßig auf ländliche Gebiete und Städte verteilt sind, lebt die muslimische Minderheit zumeist im ländlichen Raum.
=== Bildung ===
Goa hat ein im Vergleich zu den meisten anderen Bundesstaaten Indiens gut ausgebautes Bildungswesen. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Alphabetisierungsrate, der vierthöchsten aller 29 Bundesstaaten. Nach der Volkszählung 2011 beträgt sie 87,4 Prozent (Männer: 92,8 Prozent; Frauen: 81,8 Prozent) und liegt damit deutlich über dem gesamtindischen Durchschnitt von 74,0 %. 97 Prozent aller schulpflichtigen Kinder werden tatsächlich eingeschult.
Seit 1985 verfügt Goa auch über eine Universität. Die in Taleigao, etwas außerhalb von Panaji, gelegene Goa University hat elf Fakultäten. Daneben gibt es zwei private und ein öffentliches technisches College sowie ein staatliches College für Medizin. Das Goa Institute of Management ist in privater Hand.
=== Größte Städte ===
== Geschichte ==
=== Frühe Geschichte (bis 10. Jahrhundert n. Chr.) ===
Goas belegte Geschichte reicht bis in das 3. Jahrhundert v. Chr. zurück, als die örtlichen Herrscher, darunter die in Chandrapura im Süden Goas residierenden Bhojas, dem Maurya-Reich untertan waren. Zu diesem Zeitpunkt war es auch schon den Griechen bekannt. Der griechische Geograf Ptolemäus beschrieb die Küstengegend des heutigen Goa im 2. Jahrhundert n. Chr. unter dem Namen Nelkinda. Hinweise auf noch weiter zurückreichende Zusammenhänge, wie etwa die Annahme, dass die Sumerer schon vor 4000 Jahren Handel mit Goa getrieben haben sollen, sind dagegen nicht belegt.
Nach dem Zerfall des Maurya-Reiches nach dem Tode Ashokas im Jahre 232 v. Chr. geriet Goa unter die Herrschaft der Shatavahanas, die für vier Jahrhunderte weite Teile des Dekkans, einschließlich Goa, regierten. Auch die Bhojas mussten sich ihnen gegen Ende des 2. Jahrhunderts beugen. Um 250 n. Chr. trat die Abhira-Dynastie als Beherrscher der gesamten Konkanküste in Erscheinung, später die Kalachuris.
Um 580 fiel Goa den Chalukyas zu, die seit etwa 550 ein mächtiges Reich in Zentral- und Südindien errichtet hatten. Den Chalukyas folgten um die Mitte des 8. Jahrhunderts die Rashtrakutas. Unter deren Vasallenkönigen, den Silharas, erreichte der Seehandel mit Arabien eine bis dahin unerreichte Blüte.
=== Eigenständigkeit unter den Kadambas (973 bis 1237/38) ===
973 gelang es den Chalukyas, ihre alten Widersacher, die Rashtrakutas, zu beseitigen und ihre Herrschaft wiederherzustellen. Die Neuverteilung der Kräfte auf dem Dekkan nutzten indes die Kadambas, um Goa an sich zu reißen. König Shastadeva I. (regierte etwa 960 bis 1008) verlegte seine Hauptstadt nach Chandrapura. Sein Reich ist unter dem Namen Gopakkapattana bekannt. Damit wurde Goa erstmals in seiner Geschichte Mittelpunkt eines eigenständigen Reiches.
Shastadevas I. Nachfolger machten 1054 Govapuri an der Stelle des heutigen Velha Goa zur Hauptstadt. Der Handel gedieh weiterhin, und neue Handelsbeziehungen unter anderem nach Ostafrika, Ceylon, Bengalen und Südostasien führten zu Wohlstand und kultureller Blüte.
Zum Höhepunkt kam die Herrschaft der Kadambas unter Jayakeshi II. (1104–1148). Er zielte auf die Ablösung der Chalukyas, die noch immer den Dekkan kontrollierten. Stattdessen setzten die Yadavas am Ende des 12. Jahrhunderts dem verfallenden Chalukya-Königreich ein Ende und bedrohten nun auch die Kadambas. Auch mit dem südlichen Hoysala-Reich kam es im frühen 13. Jahrhundert zu kriegerischen Auseinandersetzungen. 1237/38 führte der Einfall der Yadavas schließlich zum Ende der selbstständigen Kadamba-Könige, die fortan nur noch als Vasallen der Yadavas regierten.
=== Kämpfe um die Vorherrschaft (1310 bis 1510) ===
Mit dem Vordringen des Generals Malik Kafur auf den Dekkan im Auftrag des Sultanats von Delhi im Jahre 1310 wurden die Yadavas entscheidend geschwächt und einige Jahre darauf ausgelöscht. 1312 unterlag auch Goa dem nordindischen Sultanat. Nach kurzer Besatzung durch die Truppen des Sultanats und der Zerstörung Govapuris erreichten die Kadambas wieder ihre Unabhängigkeit. Zur Hauptstadt machten sie erneut Chandrapura. Dem Reich blieb jedoch nur eine kurze Friedenszeit beschieden, denn schon unter Muhammad Shah II. (regierte 1325 bis 1351) führte das Delhi-Sultanat abermals Krieg, zerstörte Chandrapura und besiegelte damit den endgültigen Untergang der Kadambas.
Das Sultanat von Delhi vermochte seine Macht auf dem Dekkan jedoch nicht lange aufrechtzuerhalten. 1347 fiel Goa unter die Herrschaft des Bahmani-Sultanats, das sich kurz zuvor abgespalten hatte. Für Goa begann damit eine Zeit der Intoleranz, in der Hindus verfolgt wurden. Gleichzeitig begann im Süden das hinduistische Großreich Vijayanagar zu erstarken, das zum Hauptgegner der Bahmaniden aufstieg. Auch um Goa führten die beiden verfeindeten Staaten Krieg, bis es 1380 von Vijayanagar eingenommen wurde. Für mehrere Jahrzehnte herrschten wieder Frieden und Wohlstand, besonders der Handel mit Arabien, wo die Vijayanagar-Herrscher Pferde für ihre Reiterei bezogen, gewann erneut an Bedeutung. Auf den Trümmern des alten Govapuri erbaute man die neue Hauptstadt Ela.
Erst 1471 gelang den Bahmaniden die Rückeroberung, doch nur wenige Jahre später begann der Zerfall des Sultanats, aus dem ab 1490 die fünf Dekkan-Sultanate hervorgingen. Im westlichen Teil des ehemaligen Bahmanidenreiches, einschließlich Goa, errichtete die Dynastie der Adil Shahi 1490 das Sultanat Bijapur.
=== Portugiesische Kolonialherrschaft (1510 bis 1961) ===
==== Festigung der portugiesischen Herrschaft ====
1498 waren die Portugiesen unter Vasco da Gama zum ersten Mal an der indischen Küste bei Calicut gelandet. Schnell verstanden sie es, die Feindschaften der indischen Regionalreiche zu ihren Gunsten auszunutzen. Afonso de Albuquerque ging ein Bündnis mit Vijayanagar gegen Bijapur ein. 1510 eroberte er mit Unterstützung der Flotte Vijayanagars die Gegend um die heutigen Städte Panaji und Velha Goa. Im gleichen Jahr starb der Sultan von Bijapur. Dessen Nachfolger versuchte, das verlorene Gebiet zurückzuerobern, was aber letztlich scheiterte. Von da an wurde Goas Schicksal rund 450 Jahre lang fast ununterbrochen von den Portugiesen bestimmt.
Im 16. Jahrhundert trafen fast jedes Jahr eine von Lissabon kommende portugiesische Handelsflotte in Goa ein. Die Verwaltung Goas oblag einem Generalgouverneur, von denen einige auch den Titel eines Vizekönigs führten, der von Goa aus bis ins 18. Jahrhundert alle portugiesischen Besitzungen in Indien und Ostafrika direkt verwaltete, dessen Oberhoheit aber auch die Gouverneure und Statthalter anderer portugiesischer Besitzungen in Asien unterstanden. Ab 1757 war Goa Mittelpunkt der Kolonie Portugiesisch-Indien (Estado da Índia). Prägend für die Frühzeit der portugiesischen Epoche wurden der erste Gouverneur und Vizekönig Francisco de Almeida (1505–1509) sowie als zweiter Gouverneur (1509–1515) sein Nachfolger Afonso de Albuquerque. Vor allem dieser hatte begriffen, dass das kleine, bevölkerungsarme Portugal nicht in der Lage war, seine Herrschaft auf Landbesitz zu begründen. Unter seiner Führung stützten sich die Portugiesen daher auf ihre Seemacht. Albuquerque eroberte und sicherte die wichtigsten Stützpunkte an den afrikanischen und asiatischen Küsten des Indischen Ozeans, so dass im Falle von Gefahr das portugiesische Indiengeschwader schnell zu den Konfliktherden verlegt werden konnte.
1543 rang Portugal den Adil Shahi von Bijapur die Gebiete Bardez im Norden und Salcete weiter südlich an der Küste ab. Auch an der Malabarküste, in Malakka, Ceylon und Macau gewann es Stützpunkte. Auf dem Höhepunkt portugiesischer Macht im 16. Jahrhundert wurde Velha Goa zur blühenden Stadt, bekannt als Goa Dourada („Goldenes Goa“).
Mit der Hochzeit des portugiesischen Kolonialreiches hielt auch der Katholizismus verstärkt Einzug in Goa. Vor allem Jesuiten wie Francisco Xavier trieben die Missionierung voran. Xavier gründete 1542 das St.-Pauls-Kolleg für die Ausbildung der Missionare und machte es damit zur Basis der Mission. Clemens VII. errichtete am 31. Januar 1533 in Goa eine Diözese, die am 4. Februar 1557 von Paul IV. zur Erzdiözese erhoben wurde. Ihr Jurisdiktionsbereich erstreckte sich damals von Kap der Guten Hoffnung bis Japan.
Von 1560 bis 1812 verfolgte die Spanische Inquisition die Ausübung anderer Religionen als der katholischen, vor allem des Hinduismus.
==== Niedergang Goas ====
Der Niedergang der Kolonialmacht Portugal setzte 1580 mit dem Aussterben des Königshauses Avis und der folgenden Personalunion mit Spanien (bis 1640) ein. Während dieser Zeit wurden die Niederländer zum Hauptgegner in Asien. Während die Besitzungen an der Malabarküste bis 1663 vollständig verloren gingen, konnte Goa den niederländischen Angriffen der Jahre 1603 und 1639 widerstehen. Dennoch war der Bedeutungsverlust des einstigen „Goldenen Goas“ mit dem Niedergang Portugals nicht mehr aufzuhalten.
Aus dem Norden drohte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts neue Gefahr: Die Marathen unter Shivaji (reg. 1674–1680) und dessen Sohn und Nachfolger Sambhaji (reg. 1680–1689) dehnten ihre Macht auf große Teile des vormaligen Bijapurs aus. Nachdem die nördlichen Bereiche Goas belagert und erobert worden waren, schien das Ende der portugiesischen Herrschaft besiegelt. Nur der Krieg des Mogulreiches gegen die Marathen brachte diese 1683 von ihrem Vorhaben, der Eingliederung Goas, ab. 1737 kam es erneut zum Krieg gegen die Marathen, die innerhalb von zwei Jahren fast ganz Goa überrannten. Nur das Eintreffen einer Flotte des neuen Vizekönigs verhinderte den Verlust Goas.
Seuchen hatten die Bevölkerung Velha Goas im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert stark vermindert. 1759 verlegte der Vizekönig daher seinen Sitz in die nahe gelegene, aufstrebende Stadt Panaji, von den Portugiesen Pangim genannt. Velha Goa blieb zwar Hauptstadt, verkam aber mehr und mehr zur Geisterstadt, bis die Hauptstadt 1843 auch offiziell nach Panaji verlegt wurde.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts dehnte Portugal auf Kosten des Königreiches Sunda seinen Besitz auf die Größe des heutigen Goa aus. Bicholim (1781), Satari (1782), Pernem (1788), Ponda, Quepem, Sanguem und Canacona (alle 1791) waren die letzten Gebietsgewinne der Portugiesen auf dem indischen Subkontinent. Noch während der Expansion im Jahre 1787 begehrte die einheimische Bevölkerung erstmals gegen ihre portugiesischen Herren auf, jedoch ohne Erfolg.
Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801) zielte langfristig auf die Eroberung der britischen und portugiesischen Besitzungen in Indien. Die Briten boten Portugal, mittlerweile unfähig, sein Weltreich allein zu verteidigen, ihren Schutz an und hielten Goa von 1799 bis 1813 besetzt. Auf ihren Druck hin schaffte man 1814 die Inquisition endgültig ab.
==== Unabhängigkeitsbestrebungen im 20. Jahrhundert ====
Die Ausrufung der Republik in Portugal am 5. Oktober 1910 hatte für Goa die Glaubensfreiheit zur Folge. Zum ersten Mal seit dem Beginn der europäischen Herrschaft durften nun auch Hindus ihre Religion frei ausüben. Auch wenn die erste Republik in Portugal instabil blieb und 1926 wieder gestürzt wurde, erwachte in Goa doch der Ruf nach Freiheit und es begann sich der Widerstand gegen die Kolonialherren nach dem Vorbild der Freiheitsbewegung in Britisch-Indien zu regen.
Nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 erhöhte sich der Druck auf Portugal, auch seine Kolonien in Indien – neben Goa die Städte Daman (Damão) und Diu sowie die Enklaven Dadra und Nagar Haveli – an Indien abzutreten. Entsprechende Aufforderungen des indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru lehnte der Estado Novo jedoch ab. Auch im Inneren wurden Unabhängigkeitsbewegungen, wie die Jai-Hind-Bewegung, teils gewaltsam unterdrückt.
1955 stürmten Unbewaffnete das Fort von Tiracol und hissten dort die indische Flagge. Portugal wies die Männer aus, woraufhin Nehru erklärte, dass die Anwesenheit der Portugiesen auf dem indischen Subkontinent unerwünscht sei und eine Blockade der portugiesischen Kolonien in Indien anwies. Die Regierung in Lissabon lenkte unterdessen nicht ein.
=== Goa im unabhängigen Indien ===
Am 18. Dezember 1961 marschierten Truppen der Streitkräfte Indiens mit etwa 20-facher Übermacht in Goa ein. Das Unternehmen trug den Namen „Operation Vijay“ (von Hindi विजय vijaya, „Sieg“) und war nach 26 Stunden abgeschlossen. Portugiesische Streitkräfte und goanische Truppen kämpften auf verlorenem Posten. Die geplante Entsendung der portugiesischen Verstärkung wurde abgebrochen, nachdem Ägyptens Staatspräsident Nasser für die Flotte den Sueskanal sperren ließ. Indien bombardierte strategische und zivile Ziele in Goa, Damão und Diu, unter anderem den Marktplatz von Damão. Entgegen dem Befehl, bis zum letzten Mann zu kämpfen, unterschrieb der portugiesische Gouverneur, Manuel António Vassalo e Silva, am 19. Dezember, dem Goa Liberation Day, die Kapitulation. Er wurde wegen Feigheit und Befehlsverweigerung aus der Armee entlassen, verlor Rang und Pensionsanspruch und musste ins Exil gehen.Im darauffolgenden Jahr wurde Goa zusammen mit Daman und Diu zu einem indischen Unionsterritorium. Eine eingebrachte Resolution im UN-Sicherheitsrat gegen die Annexion scheiterte am Veto der Sowjetunion. In den folgenden Jahren erkannten mehrere Regierungen die Annexion an. Portugal erkannte die Angliederung an Indien 1974, nach dem Sturz der Diktatur in der Nelkenrevolution, an.
In einer Volksabstimmung sprachen sich die Goaner 1967 gegen einen Anschluss an den Bundesstaat Maharashtra aus. Kritiker des Anschlusses befürchteten eine Benachteiligung der Interessen der überwiegend konkanisprachigen Bevölkerung. Schließlich wurde Goa aus den verwalteten Territorien herausgelöst und am 30. Mai 1987 zu einem eigenständigen Bundesstaat Indiens erhoben, allerdings ohne Daman und Diu, die weiterhin Unionsterritorien sind.
== Politik ==
=== Politisches System ===
Goa wird von der Hauptstadt Panaji am linken Ufer des Mandovi aus verwaltet. Der Sitz des Parlaments ist in Porvorim auf dem gegenüberliegenden Mandovi-Ufer. Der für Goa zuständige höchste Gerichtshof befindet sich dagegen im rund 400 Kilometer entfernten Mumbai. In Panaji sitzt lediglich ein Richter des Bombay High Court. Goas Parlament, die Goa Legislative Assembly, ist ein Einkammerparlament mit 40 auf fünf Jahre gewählten Abgeordneten. Die Regierungsgewalt liegt beim Chefminister (Chief Minister), der vom Parlament gewählt wird. Formell steht ihm der vom indischen Präsidenten ernannte Gouverneur (Governor) vor, dessen Aufgaben jedoch hauptsächlich repräsentativ sind. Die wichtigste Funktion des Gouverneurs ist die Ernennung des Chefministers, außerdem hat er das Recht, das Parlament aufzulösen.
Goa stellt zwei Abgeordnete in der Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, und einen in der Rajya Sabha, dem indischen Oberhaus.
=== Parteien ===
Die beiden stärksten politischen Parteien in Goa sind die Kongresspartei (INC) und die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP). Die beiden ehemals dominierenden goanischen Regionalparteien haben dagegen viel Unterstützung eingebüßt: Die traditionell von den nicht-brahmanischen Hindus unterstützte Maharashtrawadi Gomantak Party (MGP), die vom Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft 1962 bis 1979 die Regierung Goas stellte, hat inzwischen den Großteil ihrer Stammwählerschaft an die BJP verloren. Die früher vor allem von der christlichen Bevölkerung gewählte United Goans Democratic Party ist mittlerweile gar nicht mehr im Parlament vertreten.
Die Parlamentswahl 2012 entschied die BJP im Bündnis mit der MGP für sich. Die BJP gewann 21 von 40 Wahlkreisen und konnte somit alleine regieren, die MGP kam auf drei Sitze im Parlament. Die zuvor regierende Kongresspartei wurde deutlich abgestraft und kam nur auf neun Sitze. Ebenfalls im Parlament vertreten waren die Regionalpartei Goa Vikas Party mit zwei Abgeordneten und fünf Unabhängige. Nach der Wahl wurde Manohar Parrikar von der BJP zum Chief Minister Goas gewählt. Er hatte das Amt zuvor bereits 2000 bis 2005 inne. 2014 wechselte Parrikar als Bundesminister nach Neu-Delhi und wurde durch seinen Parteikollegen Laxmikant Parsekar ersetzt. Auch bei der gesamtindischen Parlamentswahl 2014 war die landesweit siegreiche BJP in Goa erfolgreich und gewann beide Wahlkreise des Bundesstaates für sich. Bei der Parlamentswahl in Goa 2017 verlor die BJP deutlich und gewann 13 Wahlkreise. Die Kongresspartei legte entsprechend zu und kam auf 17. Die MGP behauptete ihre 3 Sitze, die erst im Vorjahr gegründete Goa Forward Party (GFP) kam ebenfalls auf 3 Sitze und die Nationalist Congress Party (NCP) auf einen. Drei Wahlkreise wurden von Unabhängigen gewonnen. Nach kurzen Verhandlungen kam es zur Bildung einer Koalition aus BJP, MGP und GFP. Am 16. März 2017 wurde Manohar Parrikar, der bereits den Wahlkampf der BJP im Wesentlichen geführt und organisiert hatte, zum neuen Chief Minister gewählt. Parrikar verstarb am 17. März 2019 nach längerer Krankheit. Als sein Nachfolger wurde am 19. März 2019 Pramod Sawant (BJP) vereidigt.
== Verwaltungsgliederung ==
Indiens kleinster Bundesstaat ist in zwei Distrikte, North Goa (Nordgoa) und South Goa (Südgoa), eingeteilt. Jeder Distrikt ist wiederum in mehrere Verwaltungsbezirke, genannt Taluka, untergliedert. Nordgoa umfasst die Talukas Pernem, Bardez, Bicholim, Satari und Tiswadi. Zu Südgoa gehören Ponda (seit Januar 2015), Mormugao, Salcete, Sanguem, Quepem, Canacona und Dharbandora. Insgesamt umfasst Goa also 12 Talukas. Den beiden Distrikten entsprechen die Wahlkreise North Goa und South Goa, die im Unterhaus des indischen Parlaments, der Lok Sabha, durch jeweils einen Abgeordneten vertreten sind.
== Wirtschaft ==
=== Landwirtschaft und Fischerei ===
Da nur 38 Prozent der Landesfläche Goas landwirtschaftlich genutzt werden können, ist der Bundesstaat auf Lebensmitteleinfuhren aus den Nachbarbundesstaaten Karnataka und Maharashtra angewiesen. Die Ebenen entlang der Flüsse Mandovi und Zuari sind zwar fruchtbar, aber auch dicht besiedelt. Zudem stellt die zunehmende Versalzung vieler Böden ein großes Problem dar. Die Hoch- und Bergländer sind unfruchtbar und teils dicht bewaldet. Dennoch arbeitet noch immer ein großer Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Die wichtigsten Anbauerzeugnisse sind Reis, Zuckerrohr, Kokos- und Cashewnüsse. In geringerem Maße werden auch Gemüse- und Obstsorten angebaut, vor allem Mangos, Bananen, Ananas und Jackfrüchte. 2001/02 trug die Landwirtschaft 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) Goas bei.
Die Fischerei war in Goa schon immer von besonderer Bedeutung, und auch heute noch verdienen viele Goaner ihren Lebensunterhalt damit. Zunehmend werden jedoch die traditionellen Fischerboote motorisiert sowie Hochseefischereiflotten ausgerüstet. Mittlerweile übersteigen die jährlichen Fänge den einheimischen Verbrauch bei weitem. Daraus kann zwar die fischverarbeitende Industrie großen Nutzen ziehen, andererseits werden aber viele Küstengebiete überfischt. Dies hat in den letzten Jahren zu Rückgängen bei den Fischfangerträgen geführt.
=== Bergbau ===
Goa gehört zu den Haupteisenerzerzeugern Indiens. 2001/02 wurden 11,4 Millionen Tonnen Eisenerz gefördert, das entsprach rund 14 Prozent der gesamten indischen Fördermenge. Ein großer Teil davon wird über den Hafen Mormugao exportiert. Hauptabnehmer ist Japan, das etwa die Hälfte des aus Goa ausgeführten Eisenerzes kauft. Außer Eisenerz wird in Goa auch Mangan gefördert.
=== Industrie ===
Goa entwickelte sich nach der portugiesischen Kolonialzeit zu einem der höher industrialisierten indischen Bundesstaaten. Rund ein Viertel des BIP wird im industriellen Sektor erwirtschaftet. Die stärksten Industriezweige sind die Nahrungs- und Genussmittel-, metallverarbeitende, Holz- und Papier-, Gummi-, Kunststoff-, chemische, pharmazeutische, elektrotechnische sowie die Textilindustrie. Auch die Computerindustrie hat sich in jüngerer Zeit etabliert.
=== Dienstleistungen ===
Über die Hälfte des goanischen Bruttoinlandsprodukts entfällt auf den Dienstleistungsbereich. Er erzielt seit Mitte der 1990er Jahre teils zweistellige Zuwachsraten. 25 Prozent des BIP werden im Bank- und Versicherungswesen sowie im Immobilienbereich erwirtschaftet. 20 Prozent entfallen auf Fremdenverkehr, Gastronomie, Transportwesen und Kommunikation.
=== Tourismus ===
Der Tourismus bildet eine der tragenden Säulen der Wirtschaft Goas. Der Bundesstaat zählt zu den beliebtesten Reisezielen in Indien und trägt etwa zwölf Prozent zu den ausländischen Besucherzahlen bei. 2004 kamen 2,2 Millionen Urlauber nach Goa, darunter über 200.000 aus dem Ausland. Besonders hoch besucht ist Goa in den Wochen um Neujahr. Der Tourismus begann in den späten 1960er Jahren mit der Ankunft einiger Hippie-trail-Reisender an Goas Stränden.
In den 1980er Jahren gelang es westeuropäischen Firmen durch Grundstücksspekulationen und Bestechung Teile der Küstengegend Goas in Besitz zu nehmen, und dort Tourist resorts zu errichten. Die goanesische Regierung verhinderte küstennahe Ansiedlungen, erlaubte jedoch Spielcasinos im Landesinneren. Das Problem der Müllentsorgung sowie die teilweise mangelhafte Versorgung mit Trinkwasser wurde dabei nicht gelöst, da Süßwasser aus der öffentlichen Wasserversorgung abgeleitet und dazu benutzt werden, die Swimmingpools der Resorts zu füllen. Die Neubauten beschränken sich weitgehend auf die unmittelbare Umgebung der leicht zugänglichen Strände am Arabischen Meer.
Die in den 1990er Jahren veranstalteten Goapartys und die dort entstandene Goa-Musik machten den Bundesstaat international bekannt. Für junge Israelis war Goa nach ihrem dreijährigen Militärdienst ein beliebtes Reiseziel. Von etwa 50.000 Israelis, die jährlich den Militärdienst beenden, sollen laut Schätzungen in den 2000er Jahren etwa die Hälfte anschließend eine Reise nach Goa unternommen haben. Später wurde die Region vor allem bei russischen Touristen beliebt.
=== Soziales ===
Mit einem Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt von 224.138 Rupien (4.903 US-Dollar) im Jahre 2015 lag Goa auf Platz 1 von 29 indischen Bundesstaaten. Goa ist damit der mit Abstand reichste Bundesstaat Indiens und knapp dreimal wohlhabender als der indische Durchschnitt. Dazu tragen unter anderem der Tourismus und der verhältnismäßig hohe Industrialisierungsgrad bei, sowie die Anzahl an Auslandsgoaner, die regelmäßig Überweisungen an ihre Verwandten in Goa vornehmen.
Die Gesundheitsversorgung ist besser als in zahlreichen anderen Bundesstaaten, wo sie vor allem auf dem Land oft als unzureichend betrachtet wird. Daher weist Goa verhältnismäßig gute Gesundheitsindikatoren auf. So lag beispielsweise die Kindersterblichkeit im Jahre 2000 mit 17 Totgeburten auf 1000 Lebendgeburten unter dem gesamtindischen Wert (63 auf 1000), aber immer noch um das Drei- bis Vierfache über der Sterblichkeit in Industrieländern. Die Fertilitätsrate betrug 1,74 Kinder pro Frau (Stand: 2016) während der indische Durchschnitt im selben Jahr bei 2,23 Kinder lag.Mit einem Wert von 0,763 erreicht Goa den zweiten Platz unter den 29 Bundesstaaten Indiens im Index der menschlichen Entwicklung. Nur Kerala erreichte noch besseren Entwicklungsindikatoren.
=== Infrastruktur ===
Zwei National Highways durchqueren Goa. Der NH-17 verbindet Mumbai im Norden mit der südlich von Goa gelegenen Hafenstadt Mangaluru. Der NH-4A verläuft zwischen der Hauptstadt Panaji und der östlich gelegenen Stadt Belagavi in Karnataka. Zusammen haben die National Highways in Goa eine Länge von 224 Kilometern. Goas Straßennetz umfasst insgesamt rund 7200 Kilometer und ist damit das dichteste aller indischen Bundesstaaten.
Schienenanschlüsse in die wichtigsten Städte des Landes, unter anderem nach Bengaluru, Delhi, Mumbai und Hyderabad, bestehen über die South Central Railway zwischen Vasco da Gama und Hubballi. Außerdem ist Goa an die Konkanbahn zwischen Mumbai und Mangaluru angeschlossen. Als Hauptverkehrsmittel innerhalb Goas dienen privat betriebene Buslinien, welche die größeren Städte mit ländlichen Gegenden verbinden.
Bis in die späten 1980er Jahre verkehrte eine regelmäßige Fähre zwischen Panaji und Mumbai. Auf Grund von Dieben, die sich auf den Schiffen betätigten, und häufigen technischen Problemen wegen mangelnder Wartung wurde der Verkehr eingestellt; für Reisegruppen verkehren bisweilen Luftkissenboote.
Der Flughafen Dabolim (IATA-Code: GOI, ICAO-Code: VAGO) bei Vasco da Gama, war ursprünglich ein Militärflugplatz, der inzwischen auch zivil genutzt wird und zum internationalen Flughafen ausgebaut wurde. Linienflüge ins Ausland bestehen auf die Arabische Halbinsel, nach Westeuropa sowie in die USA. Im Dezember 2022 wurde ein zweiter Flughafen eröffnet, der Flughafen Mopa.
Der Hafen von Mormugao zählt zu den wichtigsten Ausfuhrhäfen Indiens, besonders für Eisenerz. 2004/05 wurden dort 30,66 Millionen Tonnen umgeschlagen.
== Kultur ==
Mit der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft der Portugiesen gingen kulturelle Einflüsse einher, sodass Goa heute von allen Regionen Indiens am stärksten europäisch geprägt ist. Am deutlichsten offenbart sich dies im Kernland Goas, das am längsten unter fremder Herrschaft stand und den höchsten katholischen Bevölkerungsanteil aufweist. Seit der Zugehörigkeit zu Indien sind jedoch mehrere Elemente mediterraner Kultur zurückgedrängt worden. So beispielsweise die portugiesische Sprache als Verwaltungs-, Rechts-, Literatur- und Bildungssprache. Deren Stellenwert nahm später die englische Sprache ein. Literarische Beiträge in englischer Sprache entstanden im 19. Jahrhundert. Zur Entwicklung und einer der ersten einheimischen Sprachen, dem Konkani, trugen im 16. und frühen 17. Jahrhundert missionarische Schriften bei, bis der Gebrauch der Sprache 1684 verboten wurde. Ein erneutes Aufleben findet seit Beginn des 20. Jahrhunderts und seit der Anerkennung der Konkani-Literatur durch die Sahitya-Akademie in den 1970er Jahren statt.
Ein architektonisches Erbe haben die portugiesischen Kolonialherrscher unter anderem in Form mehrerer Sakralbauten hinterlassen. So beispielsweise die Kirchen und Klöster der ehemaligen Hauptstadt Velha Goa, die seit 1986 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. In der Basílica do Bom Jesus liegt Franz Xaver, von mehreren Katholiken als Schutzheiliger Goas angesehen, begraben. Herrenhäuser, die einst in portugiesischem Besitz waren, finden sich ebenfalls noch in Goa. Beispiele alter hinduistischer Tempelarchitektur beschränken sich dagegen auf die ländlichen Randgebiete, da christliche Eiferer in der Frühzeit der Kolonialherrschaft mehrere Tempel im Kernland zerstörten. Berühmt ist der Mangeshi-Tempel bei Ponda.
Konkani Pop und Hindi-Filmmusik erfreuen sich heute großer Beliebtheit. Internationale Bekanntheit erlangte Goa außerdem durch die gleichnamige Trance-Stilrichtung (siehe Goa (Musik)). Daneben sind traditionelle Konkani-Volkslieder weiterhin populär. Zu besonderen Anlässen wird der im 19. Jahrhundert entstandene Mando gesungen und getanzt. Er weist Elemente europäischer Tänze auf. Für Goa charakteristische Musikinstrumente sind die Kesseltrommel aus Ton ghumat, die einfellige Röhrentrommel samel, die zweifellige Röhrentrommel madlem (namens- und formverwandt mit der südindischen maddale) und Zimbeln (kansalim). Portugiesen brachten Violine und Mandoline.
Das beliebteste hinduistische Fest in Goa ist Ganesh Chaturthi. Das Shigmo-Fest wird zur gleichen Zeit wie das im restlichen Indien äußerst beliebte Frühlingsfest Holi begangen. Auch Diwali und Dussehra sind wichtige Feierlichkeiten für Hindus. Die christliche Bevölkerung feiert neben Weihnachten und Ostern auch Karneval, letzteren aber fast nur noch in den Städten und auch dort zunehmend als Touristenattraktion.
Auch in der Küche spiegeln sich sowohl indische als auch mediterrane Einflüsse wider. Reis und Fisch sind prägend für die goanesische Küche. Dabei werden unter anderem Kokosöl und -fruchtfleisch, verschiedene Gewürze (vor allem Chili, Kreuzkümmel, Koriander, Knoblauch, Kurkuma), Tamarinden und Essig verwendet. Fleischgerichte sind unter der katholischen Bevölkerung wesentlich verbreiteter als unter den Hindus. Zu Feiertagen sind Schweinefleischgerichte portugiesischen Ursprungs wie Vindaloo üblich. Zu Weihnachten verzehrt man traditionell die üppige Süßspeise Bibingka aus Eiern und Kokosmilch. Das beliebteste alkoholische Getränk ist der aus Kaschuäpfeln oder aus Palmwein (Toddy) der Kokospalme gebrannte, hochprozentige Fenny.
== Sport ==
In kaum einem Teil Indiens erfreut sich Fußball derart großer Beliebtheit wie in Goa. In der höchsten Spielklasse, der National Football League, ist Goa von jeher stark vertreten. Cricket, in anderen Gegenden Indiens der mit Abstand populärste Sport, gewinnt nicht zuletzt dank der intensiven Berichterstattung in den Medien immer mehr Anhänger.
Der Fußballverein Sporting Clube de Goa spielt in der National Football League. Ihre Heimspiele trägt die Mannschaft in Goas größtem Stadion, dem Nehru-Stadion (früher Fatorda-Stadion) nahe Margao aus, das rund 27.000 Zuschauern Platz bietet. Das Stadion ist auch Heimstätte der Vereine Dempo SC, Salgaocar Sports Club und Churchill Brothers SC. Auch der Fransa-Pax FC spielte hier bis zu seiner Auflösung.
Der FC Goa spielt in der 2014 gegründeten Indian Super League.
2013 war Goa Austragungsort der Jogos da Lusofonia, der Spiele der Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder.
== Medien ==
=== Printmedien ===
Die meistgelesenen Tageszeitungen Goas erscheinen in englischer Sprache (Herald, Navhind Times, Gomantak Times) oder Marathi (Gomantak, Tarun Bharat). Lediglich die in Devanagari geschriebene Zeitung Sunaparant erscheint auf Konkani. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Zeitungen auf Marathi, die teils im benachbarten Bundesstaat Maharashtra verlegt werden. In den größeren Städten sind auch nationale Tageszeitungen im Umlauf. Zu den wichtigsten Zeitschriften gehören die englischsprachigen Nachrichtenmagazine Goa Today und Goan Observer sowie die Konkani-Wochenzeitschrift Vauraddeancho Ixtt (in lateinischer Schrift), ferner Gulab, Bimb (Konkani), Goa Messenger, Harbour Times (englisch) sowie die Computer-Zeitschrift DigITal Goa.
=== Hörfunk ===
Nach dem Ende der portugiesischen Kolonialzeit übernahm das staatliche All India Radio den früheren portugiesischen Rundfunksender Emissora Goa. Lange Zeit war das regionale Programm von All India Radio das einzige Goas, bis Anfang 2006 im Zuge der allgemeinen Liberalisierung des indischen Hörfunkmarktes drei private Sender eine Funkgenehmigung erhielten.
=== Fernsehen ===
In Goa können fast alle nationalen Programme empfangen werden. Darüber hinaus gibt es mehrere Regionalsender, darunter Goa Newsline, Goa 365, Goa Plus und Goa TV. Während sich in den Städten das Kabelfernsehen durchgesetzt hat, ist der Empfang auf dem Land meist nur per Satellit möglich.
== Söhne und Töchter Goas ==
Fernão Álvares do Oriente (16./17. Jh.), Militär und Autor
Manuel de Santo António (1660–1733), portugiesischer Bischof und Kolonialverwalter
Caetano de Lemos Telo de Meneses (1739–1795), Gouverneur von Portugiesisch-Timor
Abbé Faria (1756–1819), geistlicher Hypnotiseur und Psychiater
Manuel Joaquim de Matos Góis (1781–1832), portugiesischer Kolonialverwalter
Antonio Francisco Xavier Alvares (1836–1923), Bischof
Júlio Raymundo da Gama Pinto (1853–1945), portugiesischer Augenarzt
Andrew Alexis D’Souza (1889–1980), Bischof von Poona
Miguel Xavier dos Mártires Dias (1896–1933), portugiesisch-indischer Offizier und Kolonialverwalter
Vithalrao Nagesh Shirodkar (1899–1971), indischer Gynäkologe
Damodar Dharmananda Kosambi (1907–1966), indischer Mathematiker und Historiker
Ignatius Salvador D’Souza (1912–1986), Bischof
Ignatius P. Lobo (1919–2010), Bischof
Ravindra Kelekar (1925–2010), indischer Autor, Übersetzer und Aktivist
Victor de Mello (1926–2009), brasilianischer Bauingenieur
Raul Nicolau Gonsalves (1927–2022), Erzbischof von Goa und Damão
Evarist Pinto (* 1933), Erzbischof von Karachi
Prafulla Dahanukar (1934–2014), indische Malerin
Braz Gonsalves (* 1934), Jazzmusiker, Saxophonist
Aleixo das Neves Dias (* 1944), Bischof
Pundalik Naik (* 1952), indischer Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Drehbuchautor
Shripad Yesso Naik (* 1952), indischer Politiker
Anil Couto (* 1954), Erzbischof von Delhi
Manohar Parrikar (1955–2019), Politiker, Regierungschef Goas
Laila (* 1980), indische Schauspielerin
Mahesh Gawli (* 1980), indischer Fußballspieler
== Literatur ==
Christine Anna Döring: Indien Goa – Travel in Style. 1. Auflage. International Travel Books, 2012, ISBN 978-3-00-038816-3.
Alexandra Ardeleanu-Jansen: Goa. 2. Auflage. DuMont, Köln 1997, ISBN 3-7701-2774-9.
Paul Harding: Lonely Planet Goa. Lonely Planet Publications, London 2003, ISBN 1-74059-139-9.
Arthur G. Rubinoff: The Construction of a Political Community, Integration and Identity in Goa. Sage Publications, New Delhi 1998, ISBN 0-7619-9259-6.
Maurice Hall: Window on Goa: A History and Guide. Quiller, London 1992, ISBN 1-870948-98-X.
P. P. Shirodkar: Goa’s Struggle for Freedom. Ajanta South Asia Books, New Delhi 1988, ISBN 81-202-0195-7.
António de Oliveira Salazar: Der Streit um Goa. Secretariado Nacional de Informação, Lissabon 1954.
== Weblinks ==
Literatur zu Goa im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Kunst, Kultur und Geschichte Goas (englisch)
Karten von Goa (englisch)
Umfangreiche Bibliographie zum Thema Goa (englisch)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Goa |
Robert Louis Stevenson | = Robert Louis Stevenson =
Robert Louis Balfour Stevenson (* 13. November 1850 in Edinburgh; † 3. Dezember 1894 in Vailima nahe Apia, Samoa) war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Obwohl er an Tuberkulose erkrankt war und nur 44 Jahre alt wurde, hinterließ er ein umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen, aber auch Lyrik und Essays. Bekannt geworden sind vor allem der Jugendbuchklassiker Die Schatzinsel wie auch die Schauernovelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die sich dem Phänomen der Persönlichkeitsspaltung widmet und als psychologischer Horrorroman gelesen werden kann. Einige Romane sind heute noch populär und haben als Vorlagen für zahlreiche Verfilmungen gedient.
== Leben ==
=== Kindheit ===
Robert Louis Stevenson wurde als einziger Sohn des Ingenieurs und Leuchtturmbauers Thomas Stevenson und der Margaret Isabella Stevenson, geborene Balfour (1829–1897), in 8 Howard Place, Edinburgh, geboren. Ursprünglich lautete sein Taufname Robert Lewis Balfour; im Alter von 18 Jahren ließ der Vater „Lewis“ zur französischen Form „Louis“ ändern, um die Assoziation zu einem gleichnamigen politischen Radikalen zu unterbinden. Sein Großvater Robert Stevenson, seine Onkel Alan Stevenson und David Stevenson, seine Cousins David Alan Stevenson und Charles Alexander Stevenson sowie sein Großcousin Alan Stevenson (1891–1971) waren allesamt Ingenieure und Leuchtturmbauer. Die Familie seiner Mutter führte ihren Namen zurück auf einen Alexander Balfour, der Ländereien bei Fife im 15. Jahrhundert besaß. Margarets Vater, Lewis Balfour (1777–1860), war Pastor der Church of Scotland im nahe gelegenen Colinton gewesen, wo Stevenson in seiner Kindheit oft die Ferien verbrachte.
Der Schriftsteller Graham Greene war in der mütterlichen Linie ein Großneffe von Robert Louis Stevenson.
Stevensons Eltern waren ebenfalls in der Church of Scotland als Presbyterianer religiös gebunden. Margaret Stevenson hatte eine geschwächte gesundheitliche Konstitution; sie litt an Atemwegserkrankungen, einer Schwäche, an der auch Stevenson sein Leben lang leiden musste. Das schottische Klima mit kühlen Sommern und regnerischen, nebligen Wintern war für Mutter und Sohn äußerst ungünstig, und auf Rat des Hausarztes verbrachten sie viele Vormittage im Bett. Um die Mutter zu entlasten, wurde im Jahr 1852 die Kinderpflegerin Alison Cunningham (1822–1910), genannt „Cummy“, engagiert, die mit ihrem strengen Calvinismus und den abendlichen Schauergeschichten den kleinen Louis so beeindruckte, dass er nachts Alpträume erlebte. Die Familie zog 1853 zur 1 Inverleith Terrace um. Da die Wohnung noch ungünstiger gelegen war, wurde ein erneuter Umzug im Jahr 1857 in die 17 Heriot Row erforderlich.
Bereits mit zwei Jahren wurde der kleine Louis zum Gottesdienst mitgenommen und hörte dort die Predigten mit den Geschichten beispielsweise über Kain und Abel, Daniel in der Löwengrube und über die Sintflut. Hinzu kamen Cummys Schauergeschichten über die düstere schottische Kirchengeschichte, die den kleinen Jungen erschreckten, aber auch faszinierten. Sein Werk wurde von der frühkindlichen Erfahrung stark beeinflusst. Cummy kümmerte sich rührend um ihn, wenn er krank im Bett lag, und las beispielsweise aus John Bunyans The Pilgrim’s Progress und aus der Bibel vor. In dem in Großbritannien noch heute beliebten Buch A Child’s Garden of Verses (Im Versgarten), das 1885 erschien, erinnerte sich der 35-jährige Stevenson an diese Zeit und versah es mit einer Widmung für seine Nanny.
Auf seine erste Lieblingsbeschäftigung des „Kirchespielens“, bei der er aus Stuhl und Tisch eine Kanzel baute und als Pastor rezitierte und sang, folgte das Reimen und Erfinden von Geschichten. Den ersten Fünfzeiler schrieb er als knapp Fünfjähriger im September 1855, wie seine Mutter im Tagebuch berichtete. Margaret Stevenson führte über ihren Sohn, im Familienkreis „Lou“ oder „Smout“ (schottisch: einjähriger Lachs) genannt, bis zu dessen 39. Lebensjahr ein Tagebuch, durch das Stevensons frühe Jahre gut dokumentiert sind.
=== Schule und Studium ===
Ab September 1857 besuchte Stevenson die „Henderson’s Preparatory School“, konnte jedoch aus gesundheitlichen Gründen nur zwei Stunden täglich am Unterricht teilnehmen. Nach wenigen Wochen beendete eine Bronchitis den regelmäßigen Schulbesuch, und er erhielt für die Dauer von zwei Jahren Privatunterricht. Nach vier Jahren wechselte er zur Edinburgh Academy, einer weiterführenden Schule, die er mit 13 Jahren verließ, um nach einem kurzen Aufenthalt in einem in Spring Grove nahe London gelegenen Internat ab 1864 wieder eine Privatschule in seiner Heimatstadt zu besuchen.Während seiner Kindheit schrieb Stevenson ständig Essays und Geschichten; sein Vater hatte Verständnis dafür, hatte er doch selbst in seiner Freizeit geschrieben, bis ihm der eigene Vater sagte, er möge diesen Unsinn aufgeben und sich den Geschäften widmen. Das erste historische Buch des jungen Stevenson, Pentland Rising, das er in der Tradition der Romane von Sir Walter Scott verfasste, erschien im Jahr 1866 bei Andrew Elliot, Edinburgh. Für den Verleger war es kein Risiko, hatte sich doch Vater Stevenson, wie damals üblich, verpflichten müssen, die zu einem festgesetzten Termin nicht verkauften Exemplare aufzukaufen. Dieser Fall trat ein. Der Roman war von geringem literarischem Wert, erzielte jedoch zwanzig Jahre später, als der Autor berühmt war, „Phantasiepreise“.
Im Jahr 1867 erwarb Thomas Stevenson ein Landhaus als Sommersitz, das Swanston Cottage, in der Nähe von Edinburgh am Fuß der Pentland Hills gelegen, das im Lauf der Jahre in den Monaten von März bis Oktober häufig zum Refugium des künftigen Schriftstellers wurde.Im selben Jahr immatrikulierte sich Stevenson an der Universität Edinburgh, studierte zunächst Technik und wechselte aufgrund seines labilen Gesundheitszustands 1871 zur Rechtswissenschaft. Sein Vater akzeptierte den Wunsch des Sohnes, Schriftsteller zu werden, nur unter einer Bedingung: eine abgeschlossene Ausbildung.
Aufgrund seiner bekannten Vorfahren wurde er 1869 zum Mitglied des illustren Debattierclubs „Speculative Society“, kurz „Spec“ genannt, gewählt, dessen abendliche Sitzungen er gern aufsuchte und durch die er viele Freunde gewann, beispielsweise Charles Baxter und seinen Professor, Fleeming Jenkin. Mit seinem Cousin, Robert Alan Mowbray Stevenson (1847–1900), genannt „Bob“, zog Stevenson durch die Kneipen, trank mit ihm und verunsicherte die wohlanständigen Bürger. Sie rauchten heimlich Haschisch und bändelten mit den Damen des Vergnügungsviertels an. Ende 1871 trat er in die Sozietät Skene, Edwards & Garson ein, um sich juristische Praxis anzueignen. Dort blieb er bis zur Jahresmitte 1873. Im selben Jahr lernte er Sidney Colvin, Dozent des Trinity College in Cambridge, kennen; dieser wurde sein Freund und Briefpartner sowie später Herausgeber einer Edition von Stevensons Werken. Stevenson verliebte sich in dessen Lebensgefährtin Fanny Sitwell, die es jedoch verstand, seine Schwärmerei in Schach zu halten.
Im Jahr 1874 erfolgte die Aufnahme in den „Savile Club“ in London, eine literarische Gesellschaft. Der hochgewachsene schmalschultrige Louis gab sich als Bohemien, trug eine blaue Samtjacke, schulterlanges Haar und einen Schnurrbart und erregte mit seinem Auftreten in seiner Heimatstadt Aufsehen. Sein Aussehen erinnerte an die romantisch-religiösen Maler der Nazarener. Seine Diskutierfreude, die Hinwendung zum Atheismus und die Auflehnung gegen die sozialen Verhältnisse im viktorianischen Königreich entfremdeten ihn dem konservativen Elternhaus.Am 9. November 1872 bestand Stevenson die Aufnahmeprüfung für das „Scottish Bar“ (schottische Anwaltschaft) und am 14. Juli 1875 die Abschlussprüfung, sodass er als Advocate (Anwalt vor den Obergerichten) am 15. Juli bei der „Faculty of Advocates“ zugelassen wurde. Das dem Vater gegebene Versprechen war eingelöst. Dennoch lehnte er die an ihn herangetragenen Fälle ab, obgleich ihn der neue Status als Rechtsanwalt mit Stolz erfüllte. Mit der Schriftstellerei verdiente er kaum etwas, sodass er vom Geld seiner Eltern abhängig blieb.
=== Reisen ===
Durch Leslie Stephen, später Vater von Virginia Woolf, Herausgeber des Cornhill Magazine, lernte Stevenson 1875 William Ernest Henley kennen, der infolge von Knochentuberkulose einen Fuß verloren hatte. Mit Henley zusammen schrieb er später Dramen wie Deacon Brodie. Stephens Cornhill Magazine veröffentlichte unter anderem 1876 Stevensons Essaysammlung Virginibus Puerisque (1881 als Buch erschienen).
Stevensons Leben bestand in dieser Zeit aus Reisen im Sommer, Literaturstudien und dem Verfassen von Essays im Winter. Den Auftakt der Sommerreisen bildete ein Aufenthalt im Jahr 1872 mit seinem Jura-Kommilitonen und Freund Walter Grindlay Simpson in Frankfurt am Main. 1875 traf Stevenson seinen Cousin „Bob“, der Maler war, während einer Frankreichreise in Barbizon, wo dieser nach der Manier von Corot und Millet Malstudien betrieb. Im Sommer 1876 wanderte Stevenson durch Ayrshire und Galloway und unternahm mit Simpson eine Kanufahrt von Antwerpen bis zur Oise; der Reisebericht darüber erschien 1878 unter dem Titel An Inland Voyage. Er traf Bob wieder in der Künstlerkolonie Grez-sur-Loing, wo er die amerikanische Amateurmalerin Fanny Osbourne, geborene Vandegrift, kennenlernte, die sich mit ihren Kindern, der 18-jährigen Isobel, genannt „Belle“ (1858–1953), und dem achtjährigen Sohn Lloyd Osbourne, dort aufhielt.
=== Heirat mit Fanny Osbourne ===
Die zehn Jahre ältere Amerikanerin Fanny Osbourne (1840–1914) war verheiratet, lebte jedoch von ihrem Mann Sam Osbourne getrennt, da dieser sie ständig betrogen hatte und ein unstetes Wanderleben führte. Fanny Osbourne hatte Amerika mit ihren drei Kindern verlassen, um ihre Malerei zu vervollkommnen. Nach einem Aufenthalt in Antwerpen war sie nach Paris gezogen, wo der jüngste Sohn, Harvey, aufgrund der eingeschränkten Lebensverhältnisse an Tuberkulose verstarb. Sie entschloss sich daraufhin, mit Belle und Lloyd nach Grez-sur-Loing zu ziehen.
Stevenson und sie verliebten sich ineinander, doch kehrte er im Spätherbst in die Heimat zurück. Im Frühjahr 1877 reiste er wieder nach Frankreich, und das Paar wohnte eine Zeitlang gemeinsam in Paris. Er wollte heiraten, Fanny Osbourne konnte sich jedoch zu einer Scheidung nicht entschließen. Sie kehrte im August 1878 nach San Francisco zurück, um eine Entscheidung herbeizuführen. Stevenson arbeitete im Sommer in Paris zusammen mit Henley an der Herausgabe der Zeitschrift London: The Conservative Weekly Journal und begann im Herbst eine Wanderung in Südfrankreich. Zur Beförderung des Gepäcks mietete er eine Eselin, die er Modestine nannte. Die Beschreibung ihrer störrischen Eskapaden sowie der kargen, doch reizvollen Landschaft bildete die Grundlage für seinen Bericht Reise mit dem Esel durch die Cevennen, der 1879 veröffentlicht wurde. Dieser Stevensonweg ist heute ein markierter Wanderweg.
Im August 1879 reiste Stevenson – er hatte ein Telegramm erhalten, dass Fanny krank sei – auf der Devonia nach New York und anschließend mit dem Zug elf Tage quer durch Amerika nach Monterey in Kalifornien. Die Eltern waren nur durch einen kurzen Abschiedsbrief informiert worden. Fanny empfing ihn mit gedämpfter Freude, sie hatte sich noch immer nicht zu einer Trennung durchgerungen. Stevenson reiste ab zum Zelten, war aber von der Reise so erschöpft, dass er zusammenbrach und von Ranchern gepflegt wurde. Ein Bericht über diese Reise erschien unter dem Titel The Amateur Emigrant (Emigrant aus Leidenschaft), der postum im Jahr 1896 veröffentlicht wurde.
Fanny Osbourne ließ sich schließlich doch scheiden, und am 19. Mai 1880 wurde das Paar von einem presbyterianischen schottischen Geistlichen in dessen Wohnung in San Francisco getraut. Wenige Tage vor der Hochzeit hatte Stevenson ein Telegramm mit versöhnlichen Worten aus der Heimat erhalten: „250 Pfund jährlich für Dich“. Das Paar machte mit Lloyd zusammen eine zweimonatige Hochzeitsreise in eine verlassene, wenig romantische Bergarbeitersiedlung namens Juan Silverado in Napa County, nördlich von San Francisco. Die Erlebnisse dort fasste Stevenson in dem Bericht The Silverado Squatters zusammen, der 1884 veröffentlicht wurde. Nach der Rückkehr in die Zivilisation buchte das Ehepaar für sich und Lloyd – Belle hatte kurz vor der zweiten Hochzeit ihrer Mutter den Maler Joseph Strong geheiratet – im August eine Passage nach England, um die endgültige Versöhnung mit Stevensons Eltern herbeizuführen und die Ehefrau vorzustellen. Stevensons Eltern erwarteten sie in Liverpool, als die „City of Chester“ am 7. August 1880 dort anlegte. Stevenson war über ein Jahr in den USA gewesen. Wider Erwarten verstanden sich der streng konservative calvinistische Thomas Stevenson und die geschiedene, Zigaretten rauchende Schwiegertochter ausgezeichnet. Die Eltern erkannten, dass Fanny in der Lage war, ihrem Sohn im Krankheitsfall die notwendige Pflege zukommen zu lassen, und dass sie ihm intellektuell eine Partnerin war. Unter der Anleitung ihres Mannes sollte Fanny schriftstellerisch tätig werden.
=== Entstehung der „Schatzinsel“ ===
Bald nach der Rückkehr und der Aussöhnung mit den Eltern verschlechterte sich Stevensons Gesundheitszustand dramatisch. Die hinzugezogenen Ärzte konstatierten den Ausbruch einer Tuberkulose. Im November 1880 zogen die Stevensons mit Lloyd ins Kurhotel Belvedere in Davos (Schweiz). Stevenson erholte sich ein wenig, doch Fanny vertrug das Klima in den Hochalpen nicht. Der als trostlos empfundene Anblick der Berge und der ausschließliche Kontakt zu Leidensgenossen wirkten sich nicht günstig auf das Befinden des Patienten aus. So kehrte die Familie im April 1881 nach Schottland zurück und mietete in Braemar, einem kleinen Hochlanddorf etwa sechs Meilen westlich vom königlichen Sommerschloss Balmoral Castle, ein Cottage.
Während einer Schlechtwetterperiode zog Stevenson sich eine starke Erkältung zu, musste seine Wanderungen aufgeben und widmete sich seinem Stiefsohn Lloyd. Er half ihm beim Malen: „Bei dieser Gelegenheit fertigte ich die Landkarte einer Insel an. […] Die Gestalt dieser Insel befruchtete meine Phantasie außerordentlich. Da waren Hafenplätze, die mich entzückten wie Sonette, und im Bewußtsein einer Schicksalsbestimmung nannte ich mein Erzeugnis ‚Die Schatzinsel‘“. Auf diese Weise entstand die Anregung zu Stevensons erstem Roman, Treasure Island (Die Schatzinsel), der für seinen Stiefsohn geschrieben und ihm gewidmet wurde. Der Protagonist Jim Hawkins sollte in Lloyds Alter sein; William Ernest Henley, Stevensons Mitherausgeber des London Journal, war als fußamputierter trinkfester Schotte das Vorbild für den Piraten Long John Silver.
Nach den ersten Kapiteln litt Stevenson unter einer Schreibhemmung. Aus gesundheitlichen Gründen befand man einen erneuten Aufenthalt in Davos für notwendig; im Herbst war er dort wieder in der Lage, jeden Tag ein Kapitel zu schreiben. Die Schatzinsel erschien ab Ende des Jahres 1881 in mehreren Fortsetzungen in der Jugendzeitschrift Young Folks unter dem Pseudonym Captain George North und dem Titel The Sea Cook, or Treasure Island; sie fand jedoch wenig Beachtung. Als im Jahr 1883 der Roman mit dem Titel Treasure Island in Buchform bei Cassell & Company in London veröffentlicht wurde, ausgestattet mit zahlreichen Holzschnitten von George Roux und der Schatzkarte als Frontispiz, wurde er ein Bestseller; bereits nach wenigen Jahren waren 75.000 Exemplare verkauft.
=== Aufenthalt in Frankreich und Bournemouth ===
Im April des Jahres 1882 war eine gesundheitliche Besserung eingetreten, und Stevenson verließ mit seiner Familie Davos in Richtung Schottland. Er erlitt einen Blutsturz und siedelte auf Ratschlag des Arztes nach Frankreich über. Nach einem kurzen Aufenthalt nahe Marseille mussten die Stevensons wegen einer Typhusepidemie umziehen nach Hyères, wo sie das Haus „La Solitude“ mieteten. Nach zwei Jahren kehrten sie wegen einer erneuten Epidemie – diesmal war es die Cholera – nach Großbritannien zurück und bezogen im September 1884 das Haus „Skerryvore“ – benannt nach dem Skerryvore-Leuchtturm, erbaut von seinem Onkel Alan Stevenson – in Bournemouth, wo sie bis Juli 1887 lebten. Dort lernte Stevenson den amerikanischen Schriftsteller Henry James kennen, der sich als einer der ersten Kritiker ernsthaft, aber zugleich begeistert mit seinem Werk auseinandersetzte. Es entstand ein reger Briefwechsel, und Stevenson empfing von ihm Impulse für seine Arbeit. Die Jahre in Bournemouth verbrachte er zum großen Teil im Krankenbett.
Im Jahr 1886 schrieb Stevenson Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, eine Schauernovelle, die auf einem authentischen Fall beruht, den Stevenson und Henley bereits mit dem Schauspiel Deacon Brodie im Jahr 1880 dramatisiert hatten. Deacon William Brodie war ein Kunsttischler aus dem Edinburgh des 18. Jahrhunderts, der tagsüber ein angesehener Handwerker war, nachts jedoch ein Verbrecher. Angeblich hatte sich in Stevensons Kinderzimmer ein von Brodie geschreinertes Schränkchen befunden.
Die Novelle war noch nicht erschienen, als Stevenson bereits einen weiteren Roman vorbereitete, Kidnapped (Entführt), eine Abenteuergeschichte aus dem Schottland des 18. Jahrhunderts, in der er die Erlebnisse des 17-jährigen David Balfour schilderte. Hintergrund der Handlung war die Ermordung des königlichen Statthalters Colin Campbell of Glenure durch den Stuart-Clan. Entführt erschien zunächst wieder als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Young Folks im Juli 1886 und kurz darauf als Buch bei Cassell in London sowie Scribner’s, New York.
=== Abreise aus Europa ===
Sein Vater, Thomas Stevenson, verstarb am 8. Mai 1887 in Edinburgh. Robert Louis Stevenson, der seiner Familie hatte nahe sein wollen und deshalb Bournemouth als Wohnort gewählt hatte, entschied sich auf ärztlichen Rat, das raue britische Klima zu verlassen, und die Familie siedelte mit der verwitweten Mutter nach Saranac in den Adirondack Mountains über, wo es ein Sanatorium für Lungenkranke gab. Während eines Besuchs in New York im Jahr 1888 traf Stevenson Mark Twain, dessen Huckleberry Finn ihn begeistert hatte; im Washington Square Park saßen beide lange auf einer Bank und diskutierten. Ein Briefwechsel schloss sich daran an.
In Saranac entstand der Beginn des Romans The Master of Ballantrae (Der Junker von Ballantrae), erschienen 1889, sowie das von Lloyd Osbourne verfasste und von Stevenson redigierte Werk The Wrong Box (Die falsche Kiste). Fanny Stevenson hatte unter anderem eine Kurzgeschichte mit dem Titel The Nixie (1888) geschrieben. Ein weiterer Text, den sie von Bob Stevensons Schwester übernommen und mit deren Einwilligung fertiggestellt hatte, zog einen heftigen Plagiatsvorwurf Henleys nach sich, der die Freundschaft zwischen diesem und Stevenson stark beeinträchtigte. Der Erlös aus den Veröffentlichungen war für eine seit längerem geplante Südseereise gedacht, die die Familie am 28. Juni 1888 auf dem Schoner „Casco“ in San Francisco antrat. Die Reise führte über die Marquesas-Inseln nach Tahiti und Honolulu auf Oʻahu, einer der acht Hauptinseln des Hawaiʻi-Archipels, wo sie Freundschaft mit König Kalākaua und dessen Nichte Prinzessin Victoria Kaʻiulani schlossen. Stevenson verbrachte dort fünf Monate und gewann durch den König Einblicke in die komplizierten sozialen und politischen Verhältnisse dieser Region. Als er 1893 nochmals für einige Wochen auf die Inseln zurückkehrte, war die letzte Königin Liliʻuokalani gestürzt worden, und das Land stand unter amerikanischem Einfluss.Im Juni 1889 reisten die Stevensons mit dem Handelsschoner „Equator“ zu den Gilbert-Inseln. Im Dezember des Jahres besuchte Stevenson erstmals Samoa, wo er ein Anwesen am Fuß des Mount Vaea, unweit von Apia auf der Insel Upolu erwarb. Im Februar 1890 reisten die Stevensons nach Sydney, machten von April bis August eine dritte Kreuzfahrt in der Südsee, kehrten nach Sydney zurück und siedelten im Oktober endgültig nach Samoa über.
=== Letzte Jahre auf Samoa ===
Der Plantage, die Stevenson für 400 Pfund erworben hatte, und dem Wohnhaus, das ab Januar 1891 in zweijähriger Bauzeit errichtet wurde, gab er den Namen „Vailima“ („Wasser aus der Hand“). Die Übersetzung „Fünf Flüsse“, die oft in Biografien auftaucht, beruht auf einem Missverständnis.
Die für den zweistöckigen Holzbau im Kolonialstil anfallenden Kosten erbrachte der Verkauf des Wohnsitzes „Skerryvore“. Lloyd Osbourne war nach Bournemouth gefahren, hatte sich um die Veräußerung der Immobilie gekümmert, den Haushalt aufgelöst und Möbel sowie Hausrat und Bilder auf den Weg nach Samoa gebracht. Auf Stevensons Wunsch hin zogen Belle und Joseph Strong und Sohn Austin nach Vailima, Mutter Margaret folgte aus Sydney. Stevenson holte sie von dort ab, erlitt jedoch einen Zusammenbruch, der die Rückreise verzögerte. Im Mai 1891 erreichten sie Samoa; der „Stevenson-Clan“ war komplett. Im gleichen Jahr erschien seine Kurzgeschichte The Bottle Imp (Der Flaschenkobold), deren Handlung bereits auf polynesische Verhältnisse zugeschnitten ist.
Belle trennte sich von ihrem Ehemann, der ihr untreu geworden war, führte Stevensons Haushalt und schrieb seine Manuskripte wie den Abenteuerroman Catriona (1893), die Fortsetzung von Entführt, ins Reine. Fanny kümmerte sich um die Pflanzungen und den Garten. Zwölf samoanische Diener wurden angestellt und wie Familienangehörige in den „Stevenson“-Clan aufgenommen. An Feiertagen trugen die Diener Lendentücher in Stuart-Farben. Stevenson war in dieser Zeit äußerst produktiv; begeistert schrieb er an seinen Freund Colvin: „So viele Eisen im Feuer hatte noch niemand.“ Außer Catriona schrieb er The Beach of Falesá (Der Strand von Falesa), zusammen mit Lloyd The Ebb-Tide (Der Schiffbruch) und die Vailima Letters an Colvin. Verspürte Stevenson keine Lust zum Schreiben – oftmals arbeitete er an mehreren Werken gleichzeitig – vertrieb er sich die Zeit mit Flageolettspielen, oft vom Krankenbett aus, was für seine Mitbewohner nicht immer ein ungetrübtes Hörvergnügen gewesen war.Die Einwohner der Insel gaben Stevenson den Namen Tusitala, der Geschichtenerzähler. Sie suchten seinen Rat, und er befasste sich mit dem schwierigen Konflikt um Samoa, der vom Konflikt der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Deutschlands, vertreten durch den Konsul Wilhelm Knappe sowie dessen Nachfolger, geprägt war. Stevenson bezeichnete die europäischen offiziellen Vertreter als inkompetent, und nach vielen vergeblichen Vorschlägen, die Lokalpolitik zu verbessern, schrieb er über die Ereignisse die Publikation A Footnote to History. Eight Years of Trouble in Samoa (1892).
Stevenson stand auf der Seite des samoanischen Oberhäuptlings Mataafa, der sich im Juni 1893 gegen den Rivalen Laupepa wandte und damit einen Bürgerkrieg auslöste. Das britische Foreign Office ließ ihn wissen, dass er sich allein auf das Schreiben von Novellen konzentrieren und sich aus der Politik heraushalten solle. Deutschland drohte offen mit Verhaftung und Deportation. Als Mataafa unterlag und auf die von Deutschland kontrollierten Marshall-Inseln verbannt wurde, versorgten die Stevensons ihn und weitere Inhaftierte mit Lebensmitteln, Medikamenten und Tabak. Nach der Freilassung im September 1894 bedankten sich die Gefolgsleute Mataafas mit dem Bau einer Verbindungsstraße (genannt „Straße der liebenden Herzen“) mitten durch den Urwald nach Vailima zu Stevensons im Januar 1893 fertiggestelltem Haus. Vailima wurde 1994 zu einem Robert-Louis-Stevenson-Museum umgebaut.
Stevenson begann 1893 mit einem weiteren historischen Roman, St. Ives, doch er war mit dem Werk nicht zufrieden und brach die Arbeit im Oktober 1894 zugunsten des Romans Weir of Hermiston (Die Herren von Hermiston) ab, der, obgleich unvollendet, zu seinen reifsten Werken gezählt wird. Am Abend des 3. Dezember 1894 griff er sich auf der Veranda von Vailima an den Kopf, rief: „Was ist das! – Sehe ich nicht merkwürdig aus?“ und brach bewusstlos zusammen. Herbeigerufene Ärzte konnten nicht mehr helfen. Im Beisein der Familie, der Diener und Geistlichen starb Stevenson 44-jährig, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Als Todesursache wurde eine Intracerebrale Blutung vermerkt. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf der Insel; die Einheimischen defilierten am Totenbett Tusitalas, also dem Totenbett Stevensons, vorbei und hielten auch die Totenwache. Stevenson wurde am Gipfel des Mount Vaea begraben, wie er es sich gewünscht hatte: „Herrlich ist es hier, hier ist mein Haus und wird mein Grab sein; aber daß beides nicht in Schottland ist, tut schon weh. Das werde ich niemals verwinden können.“
== Werke ==
=== Gesamtausgaben, Verwahrung des Nachlasses ===
Robert Louis Stevenson hat ein umfangreiches Werk von Romanen, Novellen, Reisebeschreibungen, Theaterstücken, Gedichten, Essays und Briefen hinterlassen, die in neun verschiedenen Gesamtausgaben 10 bis 35 Bände umfassen. Die erste Gesamtausgabe, von seinem Freund Sidney Colvin herausgegeben, die „Edinburgh-Edition“ (1894–1898), umfasst beispielsweise 28 Bände, die seines Stiefsohns Lloyd Osbourne von 1921 bis 1923 in New York herausgegebene „Vailima-Edition“ 26 Bände. Es ist dem häufigen Ortswechsel Stevensons geschuldet, dass sein Nachlass weit verstreut archiviert ist. So verwahren die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University, die Pierpont Morgan Library in New York, die Huntingdon Library in San Marino, Kalifornien, die Widener Library an der Harvard University sowie die Edinburgh Public Library umfangreiches Manuskriptmaterial. Die erste deutschsprachige Werkausgabe erschien 1918 in München, die letzte 12-bändige Ausgabe 1979 in Zürich ist eine Neuedition der Übersetzungen von Marguerite und Curt Thesing aus den 1920er Jahren. Die bisher vollständigste deutsche Ausgabe der Romane und Erzählungen (unter Ausschluss der Gemeinschaftswerke mit Lloyd und Fanny Osbourne) erschien 1960 in der Übersetzung von Richard Mummendey im Winkler Verlag München.
In Edinburgh wurde in einem Buchladen im Lady Stair’s House für Robert Burns, Sir Walter Scott und Robert Louis Stevenson ein kleines Museum mit dem Namen The Writers’ Museum eingerichtet, in dem einige ihrer Werke und persönliche Gegenstände ausgestellt sind.
=== Historische Romane und Novellen (Auswahl) ===
Der Erstdruck von Stevensons populärstem Werk Treasure Island (Die Schatzinsel) – ein späterer Jugendbuchklassiker – erfolgte als Mehrteiler in der Zeitschrift Young Folks in der Zeit vom 1. Oktober 1881 bis 28. Januar 1882. Die englische Erstausgabe in Buchform erschien 1883 in London und war sein erster schriftstellerischer Erfolg. Eine ins Deutsche übersetzte Ausgabe erschien erstmals 1897. Ursprünglich sollte der Roman The Sea Cook heißen. Bei den Figuren und Motiven hat sich Stevenson nach eigenen Angaben unter anderem von Daniel Defoe, Edgar Allan Poe und Washington Irving beeinflussen lassen. Die weltweite Wirkung dieses populären Jugendbuchs ist den Werken von Defoes Robinson Crusoe, Mark Twains Tom Sawyer und Lewis Carrolls Alice im Wunderland vergleichbar.Der Roman Prince Otto, 1885 erschienen, erzählt in märchenhafter Weise die Geschichte eines jungen deutschen Adligen, dessen Gegenpart, Baron Heinrich von Gondremark, als machtbesessener Ränkeschmied fungiert, der dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck nachempfunden sein soll. Dieser Roman konnte nicht an den Erfolg der Schatzinsel anknüpfen.
Der historische Roman Kidnapped (Entführt), erschienen 1886, spielt zur Zeit der jakobitischen Auseinandersetzungen zwischen England und Schottland im 18. Jahrhundert. Die Abenteuer des David Balfour verknüpfen mit dem zweiten Protagonisten Alan Breck eine weitgehend historische Figur in der Geschichte Schottlands, den Jakobiten Alan Breck Stewart. Dieser Roman fand 1893 in Catriona seine Fortsetzung. The Black Arrow. A Tale of the Two Roses (Der Schwarze Pfeil), 1883 als Fortsetzungsroman erneut unter dem Pseudonym Captain Georg North in den Young Folks erschienen, wurde 1888 in Buchform veröffentlicht. Er behandelt die Zeit der Rosenkriege. 1889 folgten The Master of Ballantrae (Der Junker von Ballantrae) sowie zusammen mit Lloyd Osbourne The Wrong Box (Die falsche Kiste). Den 1893 begonnenen Roman St. Ives brach er 1894 zugunsten des Werks Weir of Hermiston (Die Herren von Hermiston) ab. Dieser Roman wird als sein literarisch reifstes Werk angesehen, Stevenson konnte es jedoch nicht vollenden. Das Fragment erschien postum 1896 in London, 1897 folgte die Veröffentlichung des Fragments von St. Ives.
Die Schauernovelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus dem Jahr 1886, die von einer Persönlichkeitsspaltung erzählt, nimmt die Thematik des gemeinsam mit Henley verfasste Dramas Deacon Brodie wieder auf. Mary Shelley hatte bereits 1818 in ihrem Werk Frankenstein einen Wissenschaftler geschaffen, der von einem unbändigen Wissensdurst ergriffen war und keine Grenzen kannte. Dr. Jekyll war die Erfindung einer synthetischen Droge gelungen, die die Wandlung vom Wissenschaftler zum Bösewicht Hyde ermöglichte. Nach Stevensons Angaben soll ihm die Idee zu der Novelle nach dem Erlebnis eines Albtraums gekommen sein. Aufgrund der Krankheit Stevensons gibt es Vermutungen, dass er das zu jener Zeit erhältliche opiumhaltige Laudanum eingenommen und daher unter Ängsten gelitten haben könnte. Das Buch wurde im Januar veröffentlicht und erwies sich als großer Verkaufserfolg. In Großbritannien wurden innerhalb von sechs Monaten 40.000 Exemplare umgesetzt; es folgte eine Lizenzausgabe in den USA und Übersetzungen in vielen Sprachen. Der Theaterdichter Thomas Russell Sullivan dramatisierte den Stoff ein Jahr später und brachte ihn mit großem Erfolg 1887 in New York und ein Jahr später in London auf die Bühne. Im 20. Jahrhundert machte das neue Medium Film Dr. Jekyll und Mr. Hyde weltweit bekannt. Die erste deutsche Version von 1920 stammt von Friedrich Murnau mit Conrad Veidt in der Hauptrolle; die Hollywood-Fassung aus dem Jahr 1941 unter der Regie von Victor Fleming wurde mit Spencer Tracy, Ingrid Bergman und Lana Turner in den Hauptrollen besetzt. Weitere Adaptionen für Film und Fernsehen, wie beispielsweise der Fernsehfilm aus dem Jahr 2002, werden auch in der Gegenwart gedreht.
In der Novelle The Bottle Imp (Der Flaschenkobold) befasst sich Stevenson erstmals mit einem Thema, das in seiner neuen Heimat spielt und auf polynesische Verhältnisse zugeschnitten ist. Der Protagonist ist der Hawaiier Keawe, der eine Glasflasche erwirbt, in der ein Teufelchen sitzt, das Wünsche erfüllen kann. Er muss die Flasche jedoch vor seinem Tod verkauft haben, sonst verfiele er der Hölle. Die Samoaner hielten die Geschichte für wahr und Stevenson für den Besitzer der Flasche, dessen Reichtum vom Teufelchen stammen musste. Die Novelle wurde 1891 in mehreren Teilen vorab in der Missionarszeitung O le Sulu O Samoa gedruckt und erschien 1892 erstmals in Buchform. Im Jahr 1893 veröffentlichte Stevenson den Flaschenkobold mit weiteren Südseegeschichten in dem Erzählband Island Night’s Entertainments (Inselnächte).
=== Reiseberichte, Kurzgeschichten, Bühnenstücke, Essays, Briefe und Lyrik ===
Nach An Inland Voyage (1878) (Eine Binnenlandfahrt durch Belgien und Frankreich), Stevensons erstem Buch, dem Bericht über eine Kanufahrt mit seinem Freund Simpson von Belgien nach Frankreich, folgte Travels with a Donkey in the Cévennes (1879) (Eine Reise mit dem Esel durch die Cevennen). Er schildert eine zweiwöchige Wanderung mit dem Lastesel Modestine in den Cevennen im Süden Frankreichs. Stevenson legte mit Modestine in zwölf Tagen 220 km zurück, von Le Monastier-sur-Gazeille im Département Haute-Loire bis nach Saint-Jean-du-Gard. Dieser Weg, der GR 70 Fernwanderweg, auch Robert-Louis-Stevenson-Weg genannt, wird von Wanderern – Esel stehen auch zur Verfügung – bis heute nachvollzogen.
The Amateur Emigrant (Emigrant aus Leidenschaft) schildert die Überfahrt im Jahr 1879 von Schottland mit dem Auswandererschiff über den Atlantik und die anschließende Reise mit dem Zug von New York nach Chicago und San Francisco. Der Bericht erschien erst postum im Jahr 1895, da die Veröffentlichung von Stevensons Schilderungen über die ärmlichen Bedingungen, denen die Auswanderer ausgesetzt waren, im viktorianischen Großbritannien nicht opportun erschien.
The Silverado Squatters (1883) ist Stevensons Erinnerungsbericht an seine zweimonatige Hochzeitsreise mit seiner Frau Fanny und Stiefsohn Lloyd nach Napa Valley in Kalifornien im späten Frühling bis zum Frühsommer des Jahres 1880. Nach ihm ist der Robert Louis Stevenson State Park benannt. Er bietet den Aufstieg zum Gipfel des Mount Saint Helena, von dem aus die Bay Area sichtbar ist. An klaren Tagen ist der Gipfel des Mount Shasta zu sehen. In the South Seas (In der Südsee), ein Bericht über Stevensons drei Kreuzfahrten, erschien im Jahr 1896.
Stevensons erste Kurzgeschichte Lodging for the Night (Ein Nachtquartier) erschien 1877; sie befasst sich mit dem französischen spätmittelalterlichen Dichter François Villon, den er bis hin zu dessen Verhaltensweisen als Karikatur seiner selbst zeichnete. Eine Auflistung weiterer ausgewählter Kurzgeschichten, Bühnenstücke, Essays, Briefe und Lyrik findet sich in der Literaturliste.
Stevensons Lyrikband aus dem Jahr 1885, etwa 65 Kindergedichte in Knittelversen mit dem Titel A Child’s Garden of Verses (deutsch Im Versgarten, Mein Königreich oder Mein Bett ist ein Boot) erfreut sich in Großbritannien auch heute noch einer gewissen Popularität.
== Rezeption ==
=== Zeugnisse von Schriftstellern ===
Der amerikanische Kunstkritiker und Schriftsteller Henry James, der mit Stevenson befreundet war, lehnte die Unterscheidung zwischen „Roman“ und „Romanze“ ab, forderte eine realistische Darstellung und sah in dem Abenteuerroman Die Schatzinsel seine Bedingungen erfüllt. So schrieb er in dem literaturtheoretischen Essay The Art of Fiction 1884: „Ich nenne ‚Die Schatzinsel‘ herrlich, weil sie mir in wunderbarer Weise in dem, was sie anstrebt, gelungen zu sein scheint“.Sir Arthur Conan Doyle berichtet 1907 in Through the Magic Door, dass er Stevenson nie kennengelernt habe, aber ihm viel im literarischen Sinn verdanke. „Ich werde mich stets des Vergnügens erinnern, mit welchem ich seine frühen Geschichten im Cornhill Magazine las, längst noch, ehe mir der Name des Autors ein Begriff war. Noch heute halte ich den Pavillon in den Dünen für eine der bedeutendsten Kurzgeschichten der Welt“.
In einem Brief an Lorrin A. Thurston schrieb Jack London im Jahr 1910: „Glaub mir, Stevensons Father Damien-Brief tut in jeder einzelnen Minute mehr Wirkung – und das wird mit Sicherheit auch in Zukunft so bleiben – als alles, was ich je geschrieben habe und jemals schreiben werde.“
Bertolt Brecht äußerte sich in seinen Glossen zu Stevenson 1925 lobend über das Buch Der Junker von Ballantrae, empfand es als außerordentliches Beispiel eines Abenteuerromans, „in dem die Sympathie des Lesers zu dem Abenteurer selbst (von der allein doch alle anderen Abenteuerromane leben) sich erst mühsam durchsetzen muß. Wie gesagt, eine Erfindung allerersten Ranges.“
In der italienischen Zeitung L’Unità vom 27. Juni 1950 erklärte Cesare Pavese: „Mit Stevenson hielten die stilistischen Forderungen der französischen Naturalisten, in exotischen Zauber gehüllt, ihren Einzug in die englische Literatur. Man darf sagen, daß hier die Anfänge der bedeutendsten Prosa unseres Jahrhunderts zu suchen sind.“Der russisch-amerikanische Schriftsteller und Literaturkritiker Vladimir Nabokov schätzte Stevenson sehr, schrieb ein Vorwort zu einer Ausgabe von Dr. Jekyll und Mr. Hyde und nahm ihn 1980 in sein Buch Lectures on Literature (Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur) auf, in dem Nabokovs bekannteste Vorträge versammelt sind. Stevenson fand dort neben Jane Austen, Charles Dickens, Gustave Flaubert, James Joyce, Franz Kafka, Marcel Proust und anderen einen Ehrenplatz.
=== Bedeutung ===
Zu Lebzeiten war Stevenson sehr bekannt, doch als die Literatur der klassischen Moderne nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, wurde er in Großbritannien als Autor zweiter Klasse angesehen, begrenzt auf das Genre der Kinder- und Horrorliteratur. Autoren wie Virginia und Leonard Woolf lehnten seine Werke ab, und er wurde aus dem Kanon der Literatur gestrichen. Seinen Höhepunkt erreichte die Ausgrenzung im Jahr 1973, als Stevenson in der zweitausend Seiten starken Oxford Anthology of English Literature nicht erwähnt wurde. Die Norton Anthology of English Literature schloss ihn von 1968 bis 2000 aus und nahm ihn erst im Jahr 2006 in die achte Auflage auf. Erst das späte 20. Jahrhundert würdigte Stevenson wieder als einen Autor ersten Ranges, als Literaturtheoretiker, Essayisten und Sozialkritiker, als Humanisten und als Zeugen der Geschichte der pazifischen Inseln. Heute wird Stevenson wieder in eine Reihe gestellt mit Joseph Conrad, der durch Stevensons Südseegeschichten beeinflusst wurde, und Henry James.Der Literaturkritiker Robert Kiely weist darauf hin, dass Stevenson in fast jedem literarischen Genre tätig gewesen sei und nicht wie seine viktorianischen Zeitgenossen Charles Dickens, Anthony Trollope, George Eliot und Matthew Arnold Werk an Werk gereiht habe. Wegen seiner Vielseitigkeit habe die Literaturwissenschaft Probleme, Stevenson in die Reihe seiner schreibenden Kollegen einzuordnen.
Stevensons deutscher Biograf Michael Reinbold erwähnt, dass es in Stevensons Werk viele Protagonisten gibt, deren sittliche Problematik undiskutiert bleibt und deren sittliche Verworfenheit zum Teil noch faszinierend erscheint; Beispiele unter vielen sind Long John Silver und Dr. Jekyll. Dies ist nicht zufällig, da er sich in seinen Essays zur zeitgenössischen Literatur als scharfer Kritiker der herrschenden realistischen Literatur zeigt und somit zu Literaten wie Oscar Wilde und George Moore gehört, deren Werk mit dem Begriff Dekadenzdichtung belegt ist. An der viktorianischen Moral vorbei vertritt Stevenson eine L’art-pour-l’art-Auffassung, wie sie auch in der Bildenden Kunst des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist. Die Schriftstellerkollegen Joseph Conrad, Arthur Conan Doyle, Rudyard Kipling, Jack London und B. Traven werden ihm zur Seite gestellt; als Vorbilder gelten Walter Scott und Alexandre Dumas der Ältere. Die Zeit ist über seine literaturtheoretischen Ansätze hinweggegangen, doch sind zumindest seine Abenteuer- und Schauergeschichten weiterhin international erfolgreich.
Stevenson pflegte einen außerordentlich geschliffenen Sprachstil. Seine Maxime war: „Kunst ist Handwerk“, daher ist sein Schreibstil geprägt von dem Ringen um genaue Wortwahl, Klangcharakter und Satzrhythmus; die zeitgenössische französische Literatur war ihm darin ein Vorbild.
== Werkverzeichnis (Auswahl) ==
Einige Ausgaben sind in deutscher Übersetzung unter unterschiedlichen Titeln veröffentlicht worden und zum Teil vergriffen.
=== Romane ===
Treasure Island. Cassell, London 1883.
Die Schatzinsel. Dt. zuerst 1897; diverse Ausgaben weiterer Übersetzungen, darunter Insel (tb 65), Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-458-31765-4.Neuere Ausgabe: Die Schatzinsel. Roman. Hrsg. u. übers. von Andreas Nohl. Hanser, München 2013.Prince Otto. 1885; dt.: Intrigen am Thron. Übersetzung von Klaus-Dieter Sedlacek. BOD, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-0065-8.
Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde. 1886.
dt.: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Illustrationen von François Place, Übersetzung von Hermann Wilhelm Draber. Gerstenberg, Hildesheim 2002, ISBN 3-8067-4767-9.
Kidnapped. 1886.
dt.: Die Entführung. Neu illustriert von Gerhard Oberländer. Hoch-Verlag, Düsseldorf 1969.
als dtv-junior-Taschenbuch: dtv, München 1973, ISBN 3-423-07081-1.
Entführt. Die Abenteuer des David Balfour. Dressler, Hamburg 1999, ISBN 3-7915-3559-5.
The Black Arrow. A Tale of Two Roses. 1888.
dt.: Der schwarze Pfeil. Lübbe, Bergisch Gladbach 2000, ISBN 3-404-14401-5.
The Master of Ballantrae. A Winter’s Tale. 1889.
dt.: Der Junker von Ballantrae. Oder auch Der Erbe von Ballantrae. Velhagen, erste deutsche Ausgabe 1895; Artemis & Winkler, Zürich 1988, ISBN 3-538-06611-6.
Catriona. 1893.
dt.: Catriona. 1925: Eine Fortsetzung zu Kidnapped. Beide Romane in einem Band. Moewig, München 1977, ISBN 3-8118-0005-1.
Weir of Hermiston: An Unfinished Romance. Unvollendeter Roman, hrsg. 1896.
dt.: Die Herren von Hermiston, 1927; Neuauflage: Diogenes, Zürich 1999, ISBN 3-257-20702-6.
St. Ives: Being The Adventures of a French Prisoner in England. Unvollendeter Roman. W. Heinemann, London 1897.
St. Ives. Deutsch von Andreas Nohl. Hanser, München 2011, ISBN 978-3-446-23647-9.Gemeinsam mit Lloyd OsbourneThe Wrong Box. 1892
dt. Die falsche Kiste. Roman. Insel, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-458-33305-3.
The Wrecker. 1892.
dt. Der Ausschlachter. Ein Criminalroman. Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Hanna Neves. dtv, München 1994, ISBN 3-423-02343-0 (seit 2012 u. d. T. Der Strandräuber. ISBN 978-3-423-14121-5.)
The Ebb Tide. 1894.
Die Ebbe. Aus dem Engl. erstmals übers. und mit Anm. vers. von Klaus Modick. 1. Auflage. Haffmans, Zürich 1998, ISBN 3-251-20282-0.
Die Ebbe. Neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus Modick. Manesse, Zürich 2012, ISBN 978-3-7175-2244-7.
=== Erzählungen und Kurzgeschichten ===
The Story of a Lie. In: New Quarterly Magazine 25. Oct 1879; dt. Die Geschichte einer Lüge. Winkler 1960.
New Arabian Nights. 1882; Erzählungssammlung, darin:
The Suicide Club.
dt. Der Selbstmörderclub. Winkler 1960.
The Rajah’s Diamond.
dt. Der Diamant des Radschas. Winkler 1960.
The Pavillon on the Links.
dt. Der Pavillon auf den Dünen. Winkler 1960.
A Lodging for the Night – a Story of Francis Villon.
dt. Ein Nachtquartier. Winkler 1960.
The Sire de Malétroit’s Door.
dt. Die Tür des Sire de Malétroit. Winkler 1960.
Providence and the Guitar.
dt. Die Vorsehung und die Gitarre. Winkler 1960.
The Body Snatcher. 1884.
dt. Der Leichenräuber. Winkler 1960
More New Arabian Nights: The Dynamiter. Gemeinsam verfasst mit Fanny Stevenson. 1885. Erzählungszyklus.
dt.: Der Dynamitverschwörer – Neue arabische Nächte. Achilla Presse, Butjadingen 2006, ISBN 3-928398-93-8.
The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. 1886.
deutsche Erstausgabe 1889; dt. Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. u. a. Winkler 1960, Hildesheim 2002, ISBN 3-8067-4767-9.
The Misadventures of John Nicholson. A Christmas Story. In: Yule Tide. Cassell’s Christmas Annual. Dec 1887.
dt. Die unglücklichen Abenteuer John Nicholsons. Winkler 1960.
The Merry Men and Other Tales and Fables. 1887. Erzählungssammlung, darin:
The Merry Men.
dt. Die tollen Männer. Winkler 1960.
Will o’ the Mill. 1878.
dt. Will aus der Mühle. Winkler 1960.
Markheim. 1886.
dt. Markheim. Winkler 1960.
Thrawn Janet. 1881.
dt. Die krumme Janet. Winkler 1960 oder auch Die verdrehte Janet. jmb, Hannover 2010, ISBN 978-3-940970-82-4.
Olalla. 1885.
dt. Olalla. Winkler 1960
The Treasure of Franchard. 1883.
dt. Der Schatz von Franchard. Winkler 1960.
Island Nights Entertainments. 1893. Erzählungssammlung, darin:
The Beach of Falesà. 1892.
dt. Der Strand von Falesa. Winkler 1960.
The Bottle Imp. 1891.
dt. Der Flaschenteufel. Winkler 1960; oder auch Der Flaschenkobold. Ditzingen 1986: ISBN 3-15-006765-0.
The Isle of Voices. 1893.
dt. Die Insel der Stimmen. Winkler 1960.
Fables. 1896. In: Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. With other Fables.
The Waif Woman. In: Scribner’s Magazin. 1914.
dt. Die Landfremde. Winkler 1960.
When the Devil Was Well. Bibliophile Society, Boston; 1921.
dt. Als der Teufel wieder wohlauf war. Winkler 1960.
=== Lyrik ===
A Child’s Garden of Verses. 1885.
dt.: Im Versgarten. 1960 – auch: Mein Bett ist ein Boot. Der Versgarten eines Kindes. Lappan Verlag, Oldenburg 2002, ISBN 3-8303-1062-5.
Underwoods. 1887.
Ballads. 1890.
Songs of Travel and Other Verses. 1896.
=== Stücke ===
Three Plays by W. E. Henley and R.L. Stevenson, 1892. Enthält die Stücke Admiral Guinea, Beau Austin und Deacon Brodie or the Double Life.
The Hanging Judge. Gemeinsam mit Fanny Stevenson. Lloyd Osbournes Vailima-Edition, Band 6, New York 1922.
Macaire. Gemeinsam mit W. E. Henley 1895, nach Privatdruck 1885.
=== Reiseberichte ===
An Inland Voyage. 1878.
dt.: Eine Binnenlandfahrt durch Belgien und Frankreich. hohesufer.com, Hannover 2010, ISBN 978-3-941513-15-0.
dt.: Das Licht der Flüsse. Eine Sommererzählung. Herausgegeben und übersetzt von Alexander Pechmann. Aufbau Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-351-03348-4.
Travels with a Donkey in the Cévennes. 1879.
dt.: Eine Reise mit dem Esel durch die Cevennen. Editions La Colombe, Bergisch Gladbach 2000, ISBN 3-929351-12-9.
Reise mit einem Esel durch die Cevennen. hohesufer.com, Hannover 2009, ISBN 978-3-941513-02-0.
Silverado Squatters. 1884.
dt.: Faszinierendes Silverado. Impressionen aus dem Jahr 1880. Deutsch von Olaf R. Spittel. Verlag 28 Eichen, Barnstorf 2021, ISBN 978-3-96027-133-8.
The Amateur Emigrant. 1895.
dt.: Emigrant aus Leidenschaft. Ein literarischer Reisebericht. Manesse Verlag, Zürich 2005, ISBN 3-7175-2030-X (enthält auch eine Übersetzung von Across the Plains).
In the South Seas. 1896.
dt.: In der Südsee. Übersetzt von Heinrich Siemer (1928). Neuausgabe Belle Époque Verlag, Dettenhausen 2017, ISBN 978-3-945796-69-6.
=== Sammlungen, Essays zur Literatur- und Zeitgeschichte, Politik ===
Edinburgh: Picturesque Notes. 1878.
dt. Faszinierendes Edinburgh: Impressionen aus dem Jahre 1879. Deutsch von Nadine Erler und Olaf Spittel. Verlag 28 Eichen, Barnstorf 2020, ISBN 978-3-96027-123-9.
Virginibus Puerisque and other Papers. 1881.
dt.: Virginibus Puerisque und andere Schriften. Achilla Presse, 1995.
Familiar Studies of Men and Books. 1882.
Memories and Portraits. 1887.
Father Damien: An Open Letter to the Reverend Doctor Hyde of Honolulu from Robert Louis Stevenson. 1890.
dt. von Rainer G. Schmidt: Aussatz. Ein offener Brief an Ehrwürden Dr. Hyde zu Honolulu. Friedenauer Presse, Berlin 2013, ISBN 978-3-932109-79-9.
Across the Plains With Other Memories and Essays. 1892.
dt.: Emigrant aus Leidenschaft. Ein literarischer Reisebericht. Manesse Verlag, Zürich 2005, ISBN 3-7175-2030-X.
A Footnote to History, Eight Years of Trouble in Samoa. 1890.
dt.: Eine Fußnote zur Geschichte – Acht Jahre Unruhen auf Samoa. Achilla Presse, 2001, ISBN 3-928398-76-8.
== Vertonungen ==
Aus den vierundvierzig Gedichten der Songs of Travel wählte der englische Komponist Ralph Vaughan Williams neun aus, um sie 1904 als Liederzyklus für Bariton und Klavier unter demselben Titel in Musik zu setzen. Verlegt wurde die Sammlung bei Boosey & Hawkes.Das Hildesheimer R.A.M. Kindertheater vertonte 2012 etliche Gedichte aus
A child’s garden of verses, zum Teil wurden zusätzlich neue Übersetzungen erstellt. Die zugehörige CD Kirschbaumtage / Cherry Tree Days erschien 2013 beim Müller-Lüdenscheid-Verlag in Bremen.
== Hörspiele ==
Gruselkabinett Folge 10: Dr. Jekyll und Mr. Hyde (2006) Titania Medien
Gruselkabinett Folge 27: Der Leichendieb (2008) Titania Medien
Gruselkabinett Folge 72: Markheim (2013) Titania Medien
Gruselkabinett Folge 108: Der Kapitän der Polestar (2016) Titania Medien
== Filmografie ==
1920: Der Januskopf (Dr. Jekyll); Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, mit Conrad Veidt
1931: Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Dr. Jekyll and Mr. Hyde); Regie: Rouben Mamoulian, mit Fredric March
1934: Liebe, Tod und Teufel (The Bottle Imp); mit Brigitte Horney
1934: Die Schatzinsel (Treasure Island); Regie: Victor Fleming, mit Wallace Beery und Jackie Cooper
1937: Insel der verlorenen Seelen (Ebb Tide), mit Oskar Homolka und Frances Farmer
1938: Entführt (Kidnapped); Regie: Otto Preminger mit Freddie Bartholmew und Warner Baxter
1941: Arzt und Dämon (Dr. Jekyll and Mr. Hyde); Regie: Victor Fleming, mit Spencer Tracy, Ingrid Bergman und Lana Turner
1945: Der Leichendieb (The Body Snatcher); Regie: Robert Wise, mit Henry Daniell, Boris Karloff und Bela Lugosi
1950: Die Schatzinsel (Treasure Island); Regie: Byron Haskin, mit Robert Newton und Bobby Driscoll. Weitere Verfilmungen siehe: Die Schatzinsel (Verfilmungen)
1951: The Strange Door, mit Boris Karloff und Charles Laughton
1952: Der Schatz im Canyon (The Treasure of Lost Canyon), mit William Powell
1960: Entführt – Die Abenteuer des David Balfour (Kidnapped); Regie: Robert Stevenson, mit Peter Finch
1966: Die Schatzinsel (L’île au trésor); ZDF-Abenteuervierteiler mit Michael Ande
1966: Letzte Grüße von Onkel Joe (The Wrong Box); Regie: Bryan Forbes mit John Mills
1968: Schüsse unterm Galgen; DEFA-Film nach David Balfour
1968: Der schwarze Pfeil (La freccia nera); DDR synchron
1971: Entführt (Kidnapped), mit Michael Caine
1978: Die Abenteuer des David Balfour (Kidnapped); deutscher Abenteuervierteiler mit Ekkehardt Belle als David Balfour
1985: Black Arrow – Krieg der Rosen (Black Arrow), mit Oliver Reed
1988: Mit dem Esel durch die Cevennen. Eine Reise nach Robert Louis Stevenson, Film von Vera Botterbusch, 45 Min. BR 1988
1995: David Balfour: Zwischen Freiheit und Tod (Kidnapped), mit Armand Assante
1999: St. Ives, mit Miranda Richardson
2000: The Suicide Club, mit Jonathan Pryce
2005: Im Bann der Südsee (Les aventuriers des mers du sud); zweiteiliger französischer Fernsehfilm über Stevensons Leben auf Samoa, mit Jane Birkin und Geraldine Chaplin
== Literatur ==
Deutsche Literatur und Übersetzungen
Horst Dölvers: Der Erzähler Robert Louis Stevenson. Interpretationen. Francke Verlag, Bern 1969.
Ina Knobloch: Das Geheimnis der Schatzinsel. Robert Louis Stevenson und die Kokosinsel – einem Mythos auf der Spur. marebuchverlag, Hamburg 2009, ISBN 978-3-86648-097-1.
Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur. Vorwort John Updike, Hrsg. Fredson Bowers, übersetzt von Karl A. Klewer. Neuausgabe. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-10495-5.
Burkhard Niederhoff: Erzähler und Perspektive bei Robert Louis Stevenson. Königshausen & Neumann, Würzburg 1998, ISBN 3-88479-840-5.
Michael Reinbold: Robert Louis Stevenson. Rowohlt, Reinbek 1995, ISBN 3-499-50488-X.
Michael Rölcke: Robert Louis Stevenson. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2014, ISBN 978-3-422-07271-8.
Hans Joachim Schädlich: Tusitala. In: Ders: Vorbei. Drei Erzählungen. Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 978-3-498-06379-5.
Susanne Scholz: Kulturpathologien: Die „seltsamen Fälle“ von Dr. Jekyll und Mr. Hyde und Jack the Ripper (= Paderborner Universitätsreden. 88). Rektorat der Universität, Paderborn 2003.
Fanny Stevenson: Kurs auf die Südsee. Das Tagebuch der Mrs. Robert Louis Stevenson. Reisebericht aus 1890, hrsg. von Roslyn Jolly. National Geographic, Frederking und Taler, München 2005, ISBN 3-89405-494-8.
Fanny und Robert Louis Stevenson: Südseejahre. Eine ungewöhnliche Ehe in Tagebüchern und Briefen. Übersetzt und herausgegeben von Lucien Deprijck. Deutsche Erstausgabe. Mare Verlag, Hamburg 2011, ISBN 978-3-86648-152-7.BelletristikAlex Capus: Reisen im Licht der Sterne. Eine Vermutung. Biografischer Roman, basierend auf Recherchen von Walter Hurni. Albrecht Knaus Verlag, München 2005, ISBN 3-8135-0251-1.
Alberto Manguel: Stevenson unter Palmen. Eine metaphysische Kriminalgeschichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-047750-2.Englischsprachige Literatur
Nathalie Abi-Ezzi: The Double in the Fiction of R. L. Stevenson, Wilkie Collins and Daphne du Maurier. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2003, ISBN 3-906769-68-2.
Graham Balfour: The Life of Robert Louis Stevenson. Methuen, London 1901.
Ian Bell: Dreams of Exile. Mainstream, Edinburgh 1992.
John Cairney: The Quest for Robert Louis Stevenson. Luath, Edinburgh 2004, ISBN 0-946487-87-1.
Philip Callow: Louis. A Life of Robert Louis Stevenson. Constable, London 2001, ISBN 0-09-480180-0.
Angelica Shirley Carpenter, Jean Shirley: Robert Louis Stevenson. Finding Treasure Island. Lerner, Minneapolis, Minn. 1997, ISBN 0-8225-4955-7.
Ann C. Colley: Robert Louis Stevenson and the Colonial Imagination. Ashgate, Aldershot u. a. 2004, ISBN 0-7546-3506-6.
David Daiches: Robert Louis Stevenson and his World. Thames and Hudson, London 1973, ISBN 0-500-13045-0.
Linda Dryden: The Modern Gothic and Literary Doubles. Stevenson, Wilde and Wells. Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2003, ISBN 1-4039-0510-X.
J. C. Furnas: Voyage to Windward. The Life of Robert Louis Stevenson. Faber and Faber, London 1952.
William Gray: Robert Louis Stevenson. A Literary Life. Palgrave Macmillan, Basingstoke u. a. 2004, ISBN 0-333-98401-3.
Robert Irwin Hillier: The South Seas Fiction of Robert Louis Stevenson. (= American University Studies: Series IV, English Language and Literature. 91). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 1989, ISBN 0-8204-0889-1.
W. F. Prideaux: Bibliography of the Works of Robert Louis Stevenson. Martino Fine Books, Mansfield 1999 (Facs. of the original edition London, Hollings, 1917) ISBN 1-57898-118-2.Fachzeitschriften
The Journal of Stevenson Studies (JSS). Hrsg. vom Stirling Centre for Scottish Studies, 2004–, ISSN 1744-3857. Die Jahrgänge 2004–2010 sind online unter “When a popular writer dies, the question it has become the fashion with a nervous generation to ask is the question, ‘Will he live?’” (Memento vom 3. September 2014 im Internet Archive) als pdf-Dokumente frei verfügbar.
== Weblinks ==
Literatur von und über Robert Louis Stevenson im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Robert Louis Stevenson in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Robert Louis Stevenson bei Perlentaucher
Robert Louis Stevenson in der Internet Speculative Fiction Database (englisch)
Robert Louis Stevenson Edinburgh House
Werke von Robert Louis Stevenson im Projekt Gutenberg-DE
GR 70 – Robert Louis Stevensonweg
Kurzbiografie des WDR
Biografie, Inhalt von Treasure Island, Dr. Jekyll and Mr. Hyde, Kidnapped (englisch)
Rolf Cantzen: Dr. Jekyll, Mr. Hyde und die Schatzinsel – Robert Louis Stevenson. Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 30. Juni 2020 (Podcast)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Louis_Stevenson |
Afrikanischer Strauß | = Afrikanischer Strauß =
Der Afrikanische Strauß (Struthio camelus) ist eine Vogelart aus der Familie der Strauße und ist nach dem eng verwandten Somalistrauß der größte lebende Vogel der Erde. Während er heute nur noch in Afrika südlich der Sahara heimisch ist, war er in früheren Zeiten auch in Westasien beheimatet. Für den Menschen war der Strauß wegen seiner Federn, seines Fleisches und seines Leders seit jeher von Interesse, was in vielen Regionen zur Ausrottung des Vogels führte.
== Merkmale ==
Die Männchen des Straußes sind bis zu 250 Zentimeter hoch und haben ein Gewicht bis zu 135 Kilogramm. Weibchen sind kleiner: Sie sind 175 bis 190 Zentimeter hoch und 90 bis 110 Kilogramm schwer.
Die Männchen, Hähne genannt, haben ein schwarzes Gefieder. Davon setzen sich die Schwungfedern der Flügel und der Schwanz weiß ab. Die Weibchen, Hennen genannt, tragen dagegen ein erdbraunes Gefieder; Flügel und Schwanz sind bei ihnen heller und haben eine weißlichgraue Farbe. Das Jugendkleid ähnelt dem Aussehen des Weibchens, ohne die charakteristische Absetzung von Flügeln und Schwanz. Frisch geschlüpfte Küken sind dagegen rehbraun, ihr Daunenkleid weist dunkle Tupfen auf. Die Daunen des Rückengefieders sind igelartig borstig aufgestellt. Die nackten Beine sowie der Hals sind je nach Unterart grau, graublau oder rosafarben. Beim Männchen leuchtet die Haut während der Brutzeit besonders intensiv.
Der Strauß hat einen langen, überwiegend nackten Hals. Der Kopf ist in Relation zum Körper klein. Die Augen sind mit einem Durchmesser von 5 Zentimetern die größten aller Landwirbeltiere. Das Becken der Strauße ist ventral durch eine Schambeinfuge (Symphysis pubica) geschlossen. Dies ist nur bei straußenartigen Vögeln so. Es wird von den drei spangenartigen Beckenknochen (Darmbein, Sitzbein, Schambein) gebildet, zwischen denen große Öffnungen bestehen, die durch Bindegewebe und Muskulatur verschlossen sind. Der Strauß hat sehr lange Beine mit einer kräftigen Laufmuskulatur. Seine Höchstgeschwindigkeit beträgt etwa 70 km/h; eine Geschwindigkeit von 50 km/h kann der Strauß etwa eine halbe Stunde halten. Als Anpassung an die hohe Laufgeschwindigkeit besitzt der Fuß, einzigartig bei Vögeln, nur zwei Zehen (Didactylie). Zudem können die Beine als wirkungsvolle Waffen eingesetzt werden: Beide Zehen tragen Krallen, von denen die an der größeren, inneren Zehe bis zu 10 cm lang ist.
== Skelett ==
Das Brustbein trägt wie bei allen Straußenartigen keinen Brustbeinkamm. Dadurch wirkt es platt und flach wie ein Floß (lateinisch Ratis), weshalb diese Vogelgruppe auch als Ratiten bezeichnet wird. Wie alle Vögel besitzt der Strauß einen vollständigen Schultergürtel. Eine Besonderheit ist die starke Verschmelzung von Rabenbein (Os coracoideum) und Schlüsselbein (Clavicula), zwischen denen lediglich ein ovales Loch offen bleibt. Die Flügel sind für Laufvögel recht groß, aber wie bei allen Laufvögeln nicht zum Fliegen geeignet. Das Eigengewicht eines Straußes liegt weit über dem Gewicht, das es einem Vogel noch ermöglichen würde, sich in die Luft zu erheben. Die Flügel dienen stattdessen zur Balz, zum Schattenspenden und zum Halten des Gleichgewichts beim schnellen Laufen. Als einziger rezenter Vogel hat der Strauß an allen drei Fingern Krallen.
== Stimme ==
Zu den typischsten Lautgebungen des Straußes gehört ein Ruf des Männchens, der dem Brüllen eines Löwen ähnelt. Ein tiefes „bu bu buuuuu huuu“ wird mehrmals wiederholt. Der Laut wird bei der Balz und beim Austragen von Rangstreitigkeiten ausgestoßen. Daneben sind Strauße beiderlei Geschlechts zu pfeifenden, schnaubenden und knurrenden Lauten in der Lage. Nur junge Straußenküken geben auch melodischere Rufe von sich, die dazu dienen, das Muttertier auf sich aufmerksam zu machen.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Das natürliche Verbreitungsgebiet des Straußes ist Afrika, insbesondere Ost- und Südafrika. Ausgestorben ist er auf der Arabischen Halbinsel, in Westasien sowie in Afrika nördlich der Sahara.
Strauße leben in offenen Landschaften wie Savannen und Wüsten. Sie bevorzugen Habitate mit kurzem Gras und nicht zu hohem Baumbestand; wo das Gras höher als einen Meter wächst, fehlen Strauße. Gelegentlich dringen sie in Buschland vor, bleiben dort aber nicht lange, da sie an schneller Fortbewegung gehindert werden und dort nicht weit blicken können. Reine Wüsten ohne Vegetation eignen sich nicht als ständiger Lebensraum, werden aber auf Wanderungen durchquert. Weil Strauße ihren gesamten Flüssigkeitsbedarf aus der Nahrung beziehen können, benötigen sie keinen Zugang zum Wasser, und lange Trockenperioden sind ebenfalls kein Problem für sie.
Afrikanische Strauße wurden erstmals 1869 nach Australien eingeführt, weitere Importe folgten in den 1880er Jahren. Mit den importierten Straußen sollten in Australien Farmen für die Belieferung der Modeindustrie mit Federn aufgebaut werden. Bereits vor der Jahrhundertwende gab es verwilderte Strauße, deren Ansiedlung auf einigen Farmen gezielt gefördert wurde. 1890 lebten 626 Strauße in der Nähe von Port Augusta und der Stadt Meningie, 1912 betrug die Zahl 1.345 Individuen. Nachdem die Nachfrage nach Straußenfedern nach Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbrach, kam es zu weiteren Freilassungen, die Zahl der ausgewilderten Strauße ist jedoch nicht bekannt. Im australischen Bundesstaat Western Australia konnten sich Strauße freilebend nicht etablieren, in New South Wales vermehrten sich in den Regionen, in denen Strauße ausgewildert wurden, diese Strauße in den ersten Jahren, der Bestand blieb dann über einige Zeit stabil und nahm dann stetig ab. In vielen Regionen, in denen Strauße über mehrere Jahre lebten, waren sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder verschwunden. Nördlich von Port Augusta gab es in den 1970er Jahren noch einen Bestand von 150 bis 200 Straußen. Während der langanhaltenden Dürre von 1980 bis 1982 starben die meisten dieser Vögel. Nach 1982 wurden dort nur noch 25 bis 30 Strauße gezählt.Mit der Unterart Struthio camelus camelus wurden im 20. Jahrhundert in Vorderasien partiell Aussiedlungsversuche unternommen. Eine Population lebt im Mahazat-as-Sayd-Schutzgebiet in Saudi-Arabien, eine weitere im Reservat Hai Bar in Israel.
== Lebensweise ==
Strauße sind tagaktive Vögel, die besonders in den Dämmerungsstunden aktiv sind. In Zeiten mit knappem Nahrungsangebot müssen sie große Wanderungen unternehmen und sind in der Lage, in der Mittagssonne zu wandern. Nachts ruhen sie, wobei sie für gewöhnlich die Hälse aufrecht und die Augen geschlossen halten. Nur für kurze Tiefschlafphasen werden Hals und Kopf auf das Rückengefieder oder auf den Boden gebettet.
Außerhalb der Brutzeit leben Strauße für gewöhnlich in lockeren Verbänden, die zwei bis fünf, in manchen Gegenden aber auch hundert und mehr Tiere umfassen können. In Wüstengegenden sammeln sich bis zu 680 Tiere um Wasserlöcher. Der Zusammenhalt der Straußenverbände ist locker, denn die Mitglieder der Gruppe kommen und gehen nach Belieben. Oft sieht man auch einzelne Strauße. Trotzdem gibt es innerhalb der Gruppen klare Hierarchien. Rangstreitigkeiten werden meistens durch Drohlaute und Drohgebärden geregelt; dabei werden Flügel und Schwanzfedern aufgestellt und der Hals aufrecht gehalten. Der rangniedrigere Vogel zeigt seine Unterwerfung, indem er den Hals U-förmig biegt und den Kopf nach unten hält; auch Flügel und Schwanz zeigen nach unten. Selten kann eine Rangstreitigkeit auch in einen kurzen Kampf münden.
Zur Fortpflanzungszeit lösen sich die losen Verbände auf und geschlechtsreife Männchen beginnen mit dem Sammeln eines Harems.
=== Ernährung ===
Strauße sind vorwiegend Pflanzenfresser, nehmen gelegentlich aber auch Insekten und andere Kleintiere zu sich. Vorwiegend fressen sie Körner, Gräser, Kräuter, Blätter, Blüten und Früchte. Insekten, wie Raupen und Heuschrecken, sind nur Beikost. Bevorzugt wird Nahrung, die vom Boden aufgepickt werden kann. Nur ausnahmsweise werden Blätter oder Früchte von Sträuchern oder Bäumen abgelesen. Strauße können ihre Nahrung optimal verwerten, wofür ein 14 Meter langer Darm sorgt. Der Muskelmagen kann bis zu 1300 Gramm Nahrung aufnehmen. Um die Zerkleinerung der Nahrung zu fördern, schlucken Strauße Sand und Steine (Gastrolithen) und haben die Neigung, alle möglichen kleinen Objekte aufzupicken, die ähnliche Zwecke erfüllen könnten. In Straußenmägen wurden daher schon Münzen, Nägel und ähnliche Gegenstände gefunden. Bis zu 45 Prozent des Muskelmagen-Inhalts können solche als Verdauungshilfe geschluckten Materialien betragen.
=== Feinde ===
Die wichtigsten Feinde des Straußes sind Löwen, Leoparden und Geparde. Indem sich Strauße meistens in Gruppen aufhalten, schützen sie sich durch gemeinsame Beobachtung vor der Gefahr. Dadurch verringert sich für den einzelnen Vogel das Risiko, als Beute auserwählt zu werden; zudem hat jedes Gruppenmitglied mehr Zeit zum Fressen. In den Savannen schließen sich Strauße oft den Herden von Zebras und Gazellen an, da diese Tiere wachsam nach denselben Raubtieren Ausschau halten.
== „Kopf im Sand“ ==
Eine alte Redensart besagt, dass der Strauß bei Bedrohung durch Feinde „den Kopf in den Sand steckt“. Tatsächlich rettet sich der Strauß, der sehr schnell laufen kann, meist durch Davonlaufen. Er ist aber auch in der Lage, sich mit einem gezielten Tritt zu verteidigen, der einen Löwen oder einen Menschen zu töten vermag. Vor allem brütende Strauße legen sich jedoch bei nahender Gefahr oft auf den Boden und halten Hals und Kopf dabei gerade ausgestreckt. Da aus der Ferne der flach am Boden liegende Hals nicht mehr zu sehen ist, könnte dieses Verhalten zu der Legende geführt haben. Denkbar wäre auch, dass man bei der Beobachtung von Straußen auf größere Distanz durch flirrende Luft über heißem Steppenboden einer optischen Täuschung erlegen ist. Bei diesem Effekt „verschwindet“ der Kopf grasender Strauße optisch für den entfernten Betrachter.
== Fortpflanzung ==
=== Revier, Balz, Begattung und Gelege ===
Die Paarungszeit ist in unterschiedlichen Regionen Afrikas sehr verschieden. In den Savannen Afrikas fällt sie in die Trockenzeit zwischen Juni und Oktober. In trockeneren Gegenden, zum Beispiel in der Wüste Namib, dauert die Fortpflanzungszeit hingegen das ganze Jahr an. Die Hähne werden in der Paarungszeit territorial. Sie verteidigen dann ein Revier mit einer Fläche zwischen 2 und 15 Quadratkilometern. Die Größe des Reviers ist dabei abhängig vom Nahrungsangebot. Je fruchtbarer der Landstrich ist, in dem sich das Revier befindet, desto kleiner ist es. Zur Revierverteidigung zählen revieranzeigende Rufe sowie ein Patrouillieren des Reviers. Andere Männchen werden vom territorialen Hahn durch Drohgebärden aus dem Revier vertrieben, Weibchen jedoch mit einem Balzritual empfangen.
Obwohl es auch monogame Paare gibt, hat in der Regel ein Hahn einen ganzen Harem. Eines der Weibchen ist dabei eindeutig als Haupthenne auszumachen. Es bleibt mit dem Hahn oft über mehrere Jahre zusammen und hat, ebenso wie der territoriale Hahn, ein eigenes Territorium mit einer Größe von bis zu 26 Quadratkilometern.
Daneben gibt es mehrere meist recht junge rangniedrige Weibchen, die sogenannten Nebenhennen.
Strauße haben einen Penis, der zur Begattung ausgestülpt wird, aber auch immer dann sichtbar ist, wenn sich der Hahn erleichtert. Denn dabei stört der Penis, der meist in dem Kanal der Kloake ruht. Viele Vogelarten pressen bei der Begattung nur die Kloakenöffnungen aufeinander; aber Enten, Gänse und auch die Straußenverwandtschaft verfügt über einen ausstülpbaren Penis.Der Hahn paart sich zunächst mit der Haupthenne, dann mit den Nebenhennen. Der Paarung geht ein Balzritual voraus, bei dem der Hahn seine Flügel präsentiert und sie abwechselnd auf und ab schwingt. Gleichzeitig bläst er seinen farbigen Hals auf und lässt ihn ebenfalls abwechselnd nach links und rechts pendeln. Mit stampfenden Füßen geht der Hahn in dieser Position auf die Henne zu. Das Weibchen zeigt seine Paarungsbereitschaft mit einer „Demutsgeste“, bei der es den Kopf und die Flügel hängen lässt. Im Anschluss an die Paarung wählt die Haupthenne eine der Nestgruben, die der Hahn zuvor angelegt hat. Dies sind mit den Füßen in die Erde gekratzte Kuhlen mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Die Nebenhennen legen ihre Eier in dasselbe Nest und werden nach dem Legen von der Haupthenne vertrieben. Oft gehen sie danach in das Revier eines anderen Straußenhahns, mit dem sie sich ebenfalls paaren.
Die Haupthenne legt durchschnittlich acht, selten bis zu zwölf Eier. Hinzu kommen je Nebenhenne zwei bis fünf Eier. In den großen Gemeinschaftsnestern liegen am Ende bis zu 80 Eier. Die Eier sind glänzend weiß, bis zu 1.900 Gramm schwer und haben einen Durchmesser von 15 Zentimetern, ihr Inhalt entspricht dem von 24 Hühnereiern. Die Eierschale ist 2 bis 3 mm dick. Damit zählen sie absolut gesehen zu den größten Eiern der Welt, in Relation zur Körpergröße des ausgewachsenen Tiers sind sie jedoch die kleinsten. Das unbefruchtete Ei besteht zuerst aus einer einzigen Zelle.
=== Brutpflege und Aufzucht der Jungvögel ===
Nur das eigentliche Paar verbleibt schließlich am Nest und sorgt gemeinsam für die Brut. Da ein Vogel mit seinem Körper nur maximal 20 Eier bedecken kann, entfernt die Haupthenne zuvor die überschüssigen Eier der inzwischen vertriebenen Nebenhennen. In der Mitte des Nestes werden die eigenen Eier platziert, die von der Haupthenne offenbar an Größe und Gewicht erkannt werden. Obwohl die eigenen Eier also bevorzugt werden, ist immer noch Raum für zehn bis fünfzehn Eier von Nebenhennen, die mit ausgebrütet werden. Doch nicht nur die Nebenhennen profitieren von dieser Verhaltensweise: Wird das Gelege von Eierräubern angegriffen, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit die außen liegenden Eier der Nebenhennen betroffen, was die Eier der Haupthenne zusätzlich schützt. Für gewöhnlich werden die Eier bei Tage von der Henne und bei Nacht vom Hahn bebrütet. Zahlreiche Raubtiere, vor allem Schakale, Hyänen und Schmutzgeier, versuchen immer wieder, die brütenden Vögel vom Nest fortzulocken, um an die Eier zu gelangen. Nur zehn Prozent aller Gelege werden erfolgreich ausgebrütet.Nach sechs Wochen schlüpfen die Küken. Sie tragen bereits ein hellbraunes Daunenkleid und sind Nestflüchter. Die Elternvögel fahren mit der Brutpflege fort, indem sie ihre Flügel über den Jungen ausbreiten, um sie so vor Sonne und Regen zu schützen. Im Alter von nur drei Tagen verlassen die Küken erstmals das Nest und folgen den Eltern überallhin. Gelegentlich treffen zwei Straußenpaare aufeinander. Dabei kommt es zu Drohgebärden und oft zu Kämpfen, bei denen ein Paar siegreich ist und anschließend die Jungen des unterlegenen Paares übernimmt. Auf diese Weise kann ein starkes Paar etliche Junge anderer Paare um sich sammeln. In einem Fall wurde ein Straußenpaar mit 380 Küken beobachtet. Dieses Verhalten führt, wie das Ausbrüten der Eier der Nebenhennen, wiederum dazu, dass bei einem Angriff von Raubtieren mit höherer Wahrscheinlichkeit die fremden und nicht die eigenen Küken betroffen sind. Trotzdem vollenden nur etwa 15 Prozent der Küken ihr erstes Lebensjahr.Mit drei Monaten wechseln die Jungen vom Daunen- zum Jugendkleid. Nach einem Jahr sind sie so groß wie die Elternvögel. Geschlechtsreif werden weibliche Strauße mit zwei Jahren. Männliche Jungstrauße tragen das Federkleid adulter Hähne bereits mit zwei Jahren. Fortpflanzungsfähig sind sie jedoch erst mit drei bis vier Jahren. Afrikanische Strauße haben eine Lebenserwartung von etwa 30 bis 40 Jahren; in Zoos werden sie auch bis über 50 Jahre alt.
== Systematik ==
Der Afrikanische Strauß ist eine Art der Strauße (Struthionidae), von denen neben dem Somalistrauß (Struthio molybdophanes) ansonsten nur fossile Arten bekannt sind. Welche andere Familie als Schwestergruppe der höheren Gruppe der Struthioniformes ausgemacht werden kann, ist umstritten. Diskutiert werden die erst in jüngerer Zeit ausgestorbenen Elefantenvögel Madagaskars und die Nandus; bei Letzteren sind viele Zoologen davon überzeugt, dass sie ihre Ähnlichkeit zum Strauß in konvergenter Evolution erworben haben. Eine neuerdings wieder diskutierte Hypothese sieht als Schwestergruppe des Straußes ein gemeinsames Taxon von Nandus und Steißhühnern. Oft wird der Strauß als basales Taxon an der Wurzel der Laufvögel eingeordnet; hier gibt es jedoch auch zahlreiche andere Ansätze (Näheres siehe Laufvögel).
Vier Unterarten werden für gewöhnlich unterschieden:
Der Nordafrikanische Strauß (Struthio camelus camelus) lebt in den Savannen Westafrikas und ist über die Sahelzone bis ins westliche Äthiopien verbreitet; nördlich der Sahara ist er ausgestorben.
Der Massai-Strauß (Struthio camelus massaicus) lebt in Kenia und Tansania.
Der Südafrikanische Strauß (Struthio camelus australis) findet sich im südlichen Afrika.
Der heute ausgestorbene Arabische Strauß (Struthio camelus syriacus) lebte in Westasien.Populationen der Westsahara wurden bisweilen als sechste Unterart abgetrennt, die Zwergstrauß (Struthio camelus spatzi) genannt wurde. Sie sind im Schnitt kleiner, und ihre Eierschalen haben eine andere Struktur. Von der Fachwelt wird diese Unterart größtenteils abgelehnt. Der ebenfalls ursprünglich als Unterart geführte Somalistrauß wird aufgrund von DNA-Analysen heute als eigenständige Art (Struthio molybdophanes) betrachtet.
Unterschieden sind die einzelnen Unterarten vor allem durch die Farben der Hautpartien von Hals und Beinen der Hähne. Die Hennen der Unterarten sind dagegen kaum voneinander zu unterscheiden. Hals und Beine sind beim Nordafrikanischen Strauß, beim Massaistrauß und beim Südafrikanischen Strauß rosafarben, beim Somali-Strauß blaugrau. Die Intensität des Rosatons ist bei jeder Unterart verschieden. Der Nordafrikanische Strauß hat zudem einen Halsring aus weißen Federn; etwas weniger stark ausgeprägt findet man diesen auch beim Massai-Strauß. Er fehlt beim Somali-Strauß und beim Südafrikanischen Strauß.
== Fossilgeschichte ==
Der Ursprung der Familie der Straußenvögel ist bisher wenig geklärt. Als ältester Vertreter gilt manchen Fachleuten die Gattung Palaeotis, deren Fossilien aus dem Mittleren Eozän in der Grube Messel und im Geiseltal gefunden wurden. Diese Vertreter größerer Laufvögel zeigen allerdings anderen Bearbeitern zufolge mehr Ähnlichkeiten mit den Nandus und könnten als deren Schwestergruppe eingestuft werden. Neueren Untersuchungen zufolge steht aber Palaeotis an der Basis der Entwicklung der Gruppe der Laufvögel und ist somit ein entfernter Vorfahre des Afrikanischen Straußes.Vögel, die unbestritten zu den Straußen gehören, sind seit dem Miozän belegt. Damit ist Struthio eine sehr alte Vogelgattung. Struthio orlovi aus dem Miozän der Republik Moldau ist die älteste bekannte Art. Im Pliozän lebten mehrere Arten in Asien, beispielsweise in der Mongolei und in Ostasien (Struthio chersonensis, Struthio mongolicus, Struthio wimani). Der Asiatische Strauß (Struthio asiaticus) lebte im Pleistozän in den Steppen Zentralasiens. Im Pleistozän tauchte der heute lebende Afrikanische Strauß auf, dessen Verbreitungsgebiet während der letzten Eiszeit auch Spanien und Indien umfasste. An der Fundstätte Dmanissi, wo sich die ältesten menschlichen Fossilien außerhalb Afrikas fanden, entdeckte man 1983 und 2012 je einen Oberschenkelknochen des Riesenstraußes (Struthio dmanisensis).Erste Erkenntnisse über das Vorkommen von Straußen in Indien gehen in die 1880er Jahre zurück. Damals fanden sich Knochen in den Siwaliks am Südabfall des Himalaya. 1958 entdeckte Dr. Sali die ersten Eierschalen. Das Britische Museum in London hat die Richtigkeit des Fundes bestätigt. Seit einigen Jahren sind auch Bruchstücke von Straußeneierschalen aus China nachgewiesen. Weiter nördlich finden sich Abbildungen von Straußen in der Felsbildkunst der Inneren Mongolei. Durch den Wechsel von trockenem Klima zum feuchten Monsunklima am Ende der Eiszeit wurde den asiatischen Straußen die Lebensgrundlage entzogen.
== Geschichte, mythologische und magische Aspekte ==
In der sogenannten Apollo-11-Höhle in Namibia fanden Archäologen künstliche Perlen aus Straußenei, die aus dem 9. Jahrtausend v. Chr. stammen. Bei archäologischen Ausgrabungen fanden sich gravierte Straußeneier möglicherweise aus dem Capsien (um 6500 v. Chr. oder früher). Ebenso gibt es Fragmente verzierter Straußeneier aus dem Epipaläolithikum aus der nördlichen Sahara. Diese sind mit geometrischen Mustern geschmückt, wie sie auch naturalistische Darstellungen von der Natur geben. Auf diesen, ebenso wie auf Steinplaketten derselben Zeit, sind unter anderem auch Strauße abgebildet. In Indien sind über 40 Fundstellen mit Bruchstücken von Straußeneierschalen entdeckt worden. Sie liegen in den westlichen und zentralen Bundesstaaten Uttar Pradesh, Maharastra, Madhya Pradesh und Rajasthan. Radiocarbonuntersuchungen belegen, dass einige vor 25.000 bis 40.000 Jahren mit Gravierungen versehen wurden. Zusammen mit den Eischalen wurde eine Steinindustrie des Oberen Paläolithikums (Altsteinzeit) gefunden.
Im Alten Ägypten waren Strauße wichtige Zucht- und Jagdtiere, die als Eier-, Fleisch- und Federlieferanten große Bedeutung hatten. Die Jagd auf Strauße war bis ins Neue Reich ein besonderes gesellschaftliches Vergnügen. Die großen, weißen Schmuckfedern galten aufgrund ihrer ebenmäßigen und symmetrischen Bewimperung und eleganten Gestalt als Symbol des Lichts und der Gerechtigkeit und schmückten königliche Standarten und Prunkwedel. Aus dem antiken Griechenland und Syrien sind Strauße als Zug- und sogar Reittiere belegt.Straußeneier dienten als Grabschmuck mit kultischer Funktion: Die ältesten Funde stammen aus der altägyptischen Stadt Abydos und werden auf etwa 1800 v. Chr. datiert, punische Gräber bei Karthago und Gräber in Fessan waren ebenso mit Straußeneiern geschmückt. 1771 wurde von Straußeneiern an einem muslimischen Grab bei Palmyra berichtet. In Europa fanden sich Straußeneier als Grabbeigabe in Mykene und mehrfach in antiker Zeit in Italien.In vielen Regionen Schwarzafrikas haben Strauße Eingang in Rituale, Märchen und Fabeln gefunden. Einen praktischen Nutzen haben die Eier für die Khoisan, die sie als Trinkgefäße verwenden oder Halsbänder und Armreife aus den Schalen fertigen.
Auf der Arabischen Halbinsel fanden Archäologen an zahlreichen Stellen bemalte Straußeneierschalen aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr., die als Behälter verwendet wurden. Es bestand vermutlich ein Jagdverbot auf die Vögel in Gegenden, wo man sie als Gottheiten ansah. Im Unterschied zum alten Mesopotamien wurde ihr Fleisch offensichtlich nicht verzehrt. In der islamischen Zeit dienten die Eierschalen besonders in den Moscheen als Öllampen. Richard Francis Burton schilderte sie Mitte des 19. Jahrhunderts als beliebtes Souvenir von Mekka-Pilgern. Dass es ein Verbot gab, Straußeneier während der Pilgerreise zu zerschlagen, lässt sich als Hinweis auf eine gewisse Verehrung des Vogels deuten.Im islamischen Volksglauben Nordafrikas hat sich der magische Aspekt des Straußenvogels mancherorts noch erhalten. So krönen fünf (zur Zahl vergleiche Hamsa) Straußeneierschalen das Minarett von Chinguetti in Mauretanien.Eine ebensolche beschützende Funktion sollen Straußeneier haben, die sehr häufig an den Dachspitzen äthiopisch-orthodoxer Kirchengebäude befestigt sind oder über den Türen zum Altarraum hängen. Analog wie der Strauß stets seine Eier bewacht, beschirmen diese nun das Gotteshaus. Ein anderer Bezug zum Strauß verweist auf seine Vorbildfunktion: So wie der Vogel seine im Sand vergrabenen Eier nicht aus dem Blick verliert, möge der Gläubige beim Gebet seine ungeteilte Aufmerksamkeit Gott zukommen lassen.Im christlichen europäischen Mittelalter konnte dasselbe Bild gegenteilig interpretiert werden, indem der Strauß seine vergrabenen Eier vergisst und so zum Sünder wird, der seine Pflichten gegenüber Gott vernachlässigt. Eine sprichwörtlich negative Vorstellung ist auch der Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt.Im Christentum war der Strauß ebenso wie das Einhorn ein Symbol für die Jungfräulichkeit. Es wurden Vorstellungen des Physiologus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. aufgegriffen, wonach der Vogel seine Eier von der Sonne ausbrüten lässt oder die Eier nur anzuschauen braucht, damit sie bebrütet werden. Ab dem 16. Jahrhundert wurde der Strauß zu einem der Attribute der Gerechtigkeit (Iustitia). Aus den Schalen von Straußeneiern wurden prunkvolle, reichverzierte Trinkgefäße und Pokale gefertigt.
Das exotische, kostbare Material wurde in Fassungen aus Edelmetall montiert und als Reliquiar oder profanes Prunkstück in den Kirchenschätzen oder Kunst- und Wunderkammern Europas aufbewahrt.Im Iran gilt der Strauß, persisch shotor-morgh (shotor „Kamel“, morgh „Vogel“), als Sinnbild eines Drückebergers: Fordert man ihn auf zu fliegen, behauptet er ein Kamel zu sein, will man ihm aber Lasten aufladen, gibt er an, ein Vogel zu sein. Daher lautet das persische Sprichwort: Entweder sei ein Vogel und fliege, oder sei ein Kamel und trage! Das bedeutet „Entscheide dich!“ oder „Übernimm Verantwortung!“.
== Nutzung ==
Als im 18. Jahrhundert Straußenfedern als Hutschmuck der reichen Damenwelt Europas in Mode kamen, begann die Jagd auf die Vögel solche Ausmaße anzunehmen, dass sie den Bestand der Art bedrohte. In Westasien, Nordafrika und Südafrika wurde der Strauß restlos ausgerottet. Im 19. Jahrhundert begann man, Strauße in Farmen zu züchten, da frei lebende Strauße extrem selten geworden waren. Die erste dieser Farmen entstand 1838 in Südafrika. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr Straußenfarmen auch in Europa und Nordamerika eröffnet. In Teilen Südamerikas erlebt die Straußenzucht seit einigen Jahren einen Boom. Vor allem in Brasilien, Kolumbien, Peru und Bolivien gelten die Farmen als lukrative alternative Erwerbsquelle.
Heute spielen die Federn in der Straußenzucht kaum noch eine Rolle. Man züchtet die Strauße nun vor allem wegen ihres Fleisches und der graublauen Haut, aus der man Leder herstellt. Das Fleisch des Straußes hat einen ganz eigenen Geschmack, der am ehesten mit Rindfleisch oder dem des Bison zu vergleichen ist. Aus den Schalen der Eier fertigt man Lampenschirme und Schmuckgegenstände.
In Südafrika (Weltmarktanteil: 75 %) werden je 45 % der Einnahmen aus der Straußenzucht durch Fleisch und Haut erzielt, 10 % durch Federn. In Europa wird durch Fleisch 75 % und die Haut 25 % eingenommen.Als Reit- und Zugtiere werden Strauße erst in jüngerer Zeit als Touristenattraktion genutzt. Dies hat jedoch nirgendwo eine kulturelle Tradition.
Der Umgang mit Straußen ist nicht ungefährlich. Vor allem die Hähne sind während der Brutzeit angriffslustig. Eindringlinge werden dabei mit Fußtritten traktiert. Die Wucht und vor allem die scharfen Krallen können dabei zu schweren Verletzungen oder gar zum Tode führen.
Der Arabische Strauß wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerottet. Diese Unterart war in Palästina und Syrien noch bis zum Ersten Weltkrieg recht häufig, wurde dann aber durch motorisierte Jagden mit Schusswaffen vernichtet. Das letzte wild lebende Tier starb 1966 in Jordanien. 1973 wurden Strauße in der Wüste Negev in Israel freigesetzt, wodurch sie dort inzwischen wieder heimisch sind. Es handelt sich jedoch um Nordafrikanische Strauße, also eine andere Unterart.
Die Art insgesamt ist nicht bedroht, da sie vor allem in Ostafrika noch häufig ist. Regional ist der Strauß jedoch selten, so in Westafrika.
== Etymologie ==
Das Wort Strauß stammt vom altgriechischen strouthiōn (στρουθίον), was so viel wie ‚großer Spatz‘ bedeutet. Die Griechen bezeichneten den Strauß auch als ‚Kamelspatz‘ (στρουθοκάμηλος strouthokamēlos), was den wissenschaftlichen Namen der Art, Struthio camelus, erklärt.
Auffallend ist, dass der Strauß in verschiedenen Sprachen den verdeutlichenden Zusatz Vogel trägt. Dem deutschen Vogel Strauß entspricht so der niederländische struisvogel und der schwedische fågeln struts. Die englische Bezeichnung ostrich, das französische autruche und das portugiesische und spanische avestruz gehen alle gleichermaßen auf das lateinische avis struthio zurück – avis bedeutet ebenfalls ‚Vogel‘.
== Literatur ==
Monika Baur-Röger: Prähistorische Straußenei-Artefakte aus der Ostsahara. In: Archäologische Informationen Bd. 12 Nr. 2 (1989) S. 262
Josep del Hoyo: Ostrich to Ducks. Lynx, Barcelona 1992, ISBN 84-87334-10-5 (Handbook of the Birds of the World. Band 1.)
Stephen J. Davies: Ratites and Tinamous. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-854996-2.
Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients. Beck, Hamburg 2009, ISBN 978-3-406-58465-7.
Caesar Rudolf Boettger: Die Haustiere Afrikas. Ihre Herkunft, Bedeutung und Aussichten bei der weiteren wirtschaftlichen Erschliessung des Kontinents. Fischer, Michigan 1958.
Burchard Brentjes: Die Haustierwerdung im Orient – Ein archäologischer Beitrag zur Zoologie. Ziemsen, Trier 1965
== Weblinks ==
Struthio camelus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: BirdLife International, 2008. Abgerufen am 18. Dezember 2008.
Afrikanische Strauß (Struthio camelus) auf eBird.org, abgerufen am 23. Juni 2023.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Afrikanischer_Strau%C3%9F |
Osmium | = Osmium =
Osmium () ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Os und der Ordnungszahl 76; im Periodensystem der Elemente steht es in der 8. Gruppe, der Eisengruppe. Es ist ein hartes, sprödes, stahlblaues Übergangsmetall und gehört zu den Platinmetallen. Osmium besitzt mit 462 GPa den höchsten Kompressionsmodul aller Elemente, lediglich übertroffen von aggregierten Diamant-Nanostäbchen, und mit 22,6 g/cm3 die höchste Dichte.
Biologische Funktionen von Osmium sind weder im menschlichen noch in anderen Organismen bekannt. Technisch wird Osmium wegen seines hohen Preises nur verwendet, wenn Haltbarkeit und Härte ausschlaggebend sind.
== Geschichte ==
Osmium, das schwerste Homologe der 8. Gruppe im Periodensystem, wurde 1804 von Smithson Tennant zusammen mit Iridium im Rückstand von in Königswasser aufgelöstem Platin entdeckt. Der Name „Osmium“ entstammt dem rettichartigen Geruch (altgriechisch ὀσμή osmē „Geruch, Gestank“) seines in geringer Konzentration vorhandenen flüchtigen Tetroxids. Die zwei französischen Chemiker Louis-Nicolas Vauquelin und Antoine-François de Fourcroy entdeckten zur selben Zeit dieses Metall in Platin und benannten es ptène.
Die erste wichtige Anwendung des Metalls war am Anfang des 20. Jahrhunderts seine Verwendung als Material für Glühfäden in Glühlampen durch Carl Auer von Welsbach. Der Name der Firma Osram leitet sich von den dazu eingesetzten Metallen Osmium und Wolfram ab. In der Anwendung hatte die Verwendung von Osmium jedoch einige Nachteile. Neben dem hohen Preis war vor allem die schwierige Verarbeitung ein Problem. Osmium ist spröde und kann nicht zu Fäden gezogen werden. Daher wurden die Glühfäden durch Spritzen einer osmiumhaltigen Paste und anschließendes Verglühen der organischen Bestandteile hergestellt. Die so erhaltenen Fäden waren allerdings zu dick für hohe Spannungen und außerdem empfindlich gegenüber Erschütterungen und Spannungsschwankungen. Nach kurzer Zeit wurden sie zunächst durch Tantal und schließlich durch Wolfram ersetzt.
== Vorkommen ==
Osmium ist mit einem Anteil von 1 · 10−8 an der Erdkruste sehr selten. Es ist fast immer mit den anderen Platinmetallen Ruthenium, Rhodium, Iridium, Palladium und Platin vergesellschaftet. Osmium kommt häufig gediegen, aber auch gebunden als Sulfid, Selenid oder Tellurid vor.
Bei den Osmiumvorkommen wird zwischen primären und sekundären Lagerstätten unterschieden. Primäre Lagerstätten sind Kupfer-, Nickel-, Chrom- oder Eisenerze, in denen geringe Mengen an Platinmetallen in gebundener Form enthalten sind. Es gibt keine eigenständigen Osmiumerze.
Neben diesen Erzen existieren sekundäre Lagerstätten oder Seifenlagerstätten, in denen Osmium und die anderen Platinmetalle gediegen vorkommen. Dabei wurden die Metalle nach Verwitterung vom Wasser ausgewaschen und haben sich – bedingt durch ihre hohe Dichte – an geeigneten Stellen angereichert (vgl. Gold). Osmium kommt dabei vor allem in den natürlichen Legierungen Osmiridium und Iridosmium vor, die neben Osmium vor allem Iridium enthalten und nach ihrem überwiegenden Bestandteil unterschieden werden.
Die wichtigsten Vorkommen sind die platinmetallreichen Nickelerze in Kanada (Sudbury, Ontario), Russland (Ural) und Südafrika (Witwatersrand). Sekundäre Lagerstätten befinden sich am Fuß des Urals, in Kolumbien, Äthiopien und auf Borneo.
== Osmium als Mineral ==
Seit der 1991 erfolgten Neudefinition der Platingruppen-Elementminerale und -legierungen durch Donald C. Harris und Louis J. Cabri werden innerhalb des ternären Systems Os-Ir-Ru alle hexagonalen Legierungen mit Os als Hauptelement als Osmium angesprochen. Die früher parallel verwendeten Mischkristall-Mineralnamen Iridosmin, Osmiridium und Rutheniridosmium sind entsprechend diskreditiert und gelten nun als Varietäten von Osmium.Osmium ist seit dieser Neudefinition von der International Mineralogical Association (IMA) als eigenständiges Mineral anerkannt. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Osmium unter der System-Nr. 1.AF.05 (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Platin-Gruppen-Elemente (PGE) – Rutheniumgruppe) (8. Auflage: Osmium-Reihe I/A.05a) eingeordnet. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. 01.02.02.01.Insgesamt sind weltweit bisher mehr als 200 Fundorte für gediegenes Osmium und seine Varietäten bekannt (Stand 2017).
== Gewinnung und Darstellung ==
Die Herstellung von Osmium ist aufwendig und erfolgt im Zuge der Gewinnung anderer Edelmetalle wie Gold oder Platin. Die dazu verwendeten Verfahren nutzen die unterschiedlichen Eigenschaften der einzelnen Edelmetalle und ihrer Verbindungen, wobei nach und nach die Elemente voneinander getrennt werden.
Als Ausgangsmaterial dienen edelmetallhaltige Erze oder Anodenschlamm aus der Nickel- oder Goldgewinnung. Das Erz wird zunächst in Königswasser gelöst. Dabei gehen Gold, Palladium und Platin in Lösung, die anderen Platinmetalle und Silber bleiben zurück. Das Silber reagiert zunächst zu unlöslichem Silberchlorid, das mit Bleicarbonat und Salpetersäure (Bildung von Silbernitrat) entfernt werden kann. Durch Schmelzen mit Natriumhydrogensulfat und anschließendem Auslaugen kann Rhodium als Rhodium(III)-sulfat gelöst und abgetrennt werden. Danach wird der verbleibende Rückstand mit Natriumperoxid geschmolzen, wodurch Osmium und Ruthenium gelöst werden und das unlösliche Iridium zurückbleibt. Wenn diese Lösung mit Chlor behandelt wird, entstehen die flüchtigen Stoffe Rutheniumtetroxid und Osmiumtetroxid. Bei Zugabe von alkoholischer Natronlauge löst sich nur Osmiumtetroxid und kann auf diese Weise vom Ruthenium abgetrennt werden. Das Osmium wird mit Ammoniumchlorid als Komplex ausgefällt und schließlich mit Wasserstoff zu metallischem Osmium reduziert:
[
OsO
2
(
NH
3
)
4
]
Cl
2
+
3
H
2
⟶
Os
+
4
NH
4
+
+
2
Cl
−
+
2
OH
−
{\displaystyle {\ce {[OsO2(NH3)4]Cl2 + 3 H2 -> Os + 4 NH4^+ + 2 Cl^- + 2 OH^-}}}
Osmium wird nur in sehr geringen Mengen gewonnen, die Produktionsmenge liegt weltweit bei ca. 100 kg pro Jahr.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Metallisches Osmium ist ein auch bei höheren Temperaturen glänzendes Schwermetall von stahlblauer Farbe. Es kristallisiert in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 273,5 pm, c = 431,9 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle.Osmium ist vor Iridium das Element mit der höchsten Dichte. Kristallographische Berechnungen ergeben für Osmium 22,59 g/cm3 und für Iridium 22,56 g/cm3 im natürlichen Isotopenverhältnis. Damit ist Osmium das dichteste auf der Erde natürlich vorkommende Element.
Osmium besitzt von allen Platinmetallen den höchsten Schmelzpunkt und den niedrigsten Dampfdruck. Sein Kompressionsmodul von 462 GPa ist unter den höchsten aller bekannten Elemente und Verbindungen; damit ist es sogar weniger komprimierbar als Diamant mit 443 GPa, nur aggregierte Diamant-Nanostäbchen sind noch härter (bis zu 491 GPa). Unterhalb der Sprungtemperatur von 0,66 K wird Osmium zum Supraleiter.
=== Chemische Eigenschaften ===
Osmium gehört zu den Edelmetallen und ist damit reaktionsträge. Es reagiert direkt nur mit den Nichtmetallen Fluor, Chlor und Sauerstoff. Eine Reaktion von Sauerstoff und kompaktem Osmium findet erst bei Rotglut statt. Je nach Reaktionsbedingungen entsteht Osmiumtetroxid (weniger hohe Temperaturen, hoher Sauerstoffdruck) oder Osmiumtrioxid (nur in der Gasphase stabil). Feinverteiltes Osmium bildet schon bei Raumtemperatur in Spuren hochgiftiges Osmiumtetroxid.
In nichtoxidierenden Mineralsäuren ist Osmium unlöslich, selbst Königswasser kann Osmium bei niedrigen Temperaturen nicht auflösen. Starke Oxidationsmittel wie konzentrierte Salpetersäure und heiße Schwefelsäure sowie alkalische Oxidationsschmelzen wie Natriumperoxid- und Kaliumchloratschmelzen können Osmium jedoch angreifen.
== Isotope ==
Von Osmium sind insgesamt 34 Isotope und 6 Kernisomere bekannt, davon kommen die sieben Isotope mit den Massen 184, 186, 187, 188, 189, 190 und 192 natürlich vor. 192Os ist mit einem Anteil von 40,78 % des natürlichen Osmiums das häufigste Isotop, 184Os mit 0,02 % das seltenste. Als einziges der natürlichen Isotope ist 186Os radioaktiv, jedoch mit über 2 Billiarden Jahren Halbwertszeit nur schwach. Neben diesen gibt es noch weitere 27 kurzlebige Isotope von 162Os bis 196Os, die wie die kurzlebigen Kernisomere nur künstlich herstellbar sind.
Die zwei Isotope 187Os und 189Os können für kernspintomographische Untersuchungen verwendet werden. Von den künstlichen Nukliden werden 185Os (Halbwertszeit 96,6 Tage) und 191Os (15 Tage) als Tracer verwendet. Das Verhältnis von 187Os zu 188Os kann in Rhenium-Osmium-Chronometern zur Altersbestimmung in Eisenmeteoriten benutzt werden, da 187Re langsam zu 187Os zerfällt (Halbwertszeit: 4,12 · 1010 Jahre).
== Verwendung ==
Für das Element gibt es wegen seiner Seltenheit, seines komplizierten Herstellungsverfahrens und des damit einhergehenden hohen Preises von ca. 400 US$ pro Unze (Osmium, Stand 2018) verhältnismäßig wenige technische Anwendungen. Aufgrund der hohen Giftigkeit der Oxide wird Osmium selten in reinem Zustand verwendet. In abrasiven und verschleißenden Anwendungen wie in Spitzen von Füllfederhaltern, phonographischen Abtastnadeln, Wellen und Zapfen im Instrumentenbau sowie elektrischen Kontakten kommen harte osmiumhaltige Legierungen der Platinmetalle zum Einsatz. Eine Legierung aus 90 % Platin und 10 % Osmium wird zu medizinischen Implantaten und künstlichen Herzklappen verarbeitet sowie in Herzschrittmachern verwendet. Manchmal wird Osmium als Katalysator für Hydrierungen benutzt. Osmium wurde auch in Legierung mit Wolfram in den Glühfäden der Osram-Glühlampen verwendet.
== Nachweis ==
Mögliche Nachweise von Osmium können über das Osmiumtetroxid erfolgen. Ein einfacher, aber wegen der Giftigkeit nicht empfehlenswerter Nachweis wäre über den charakteristischen Geruch des Osmiumtetroxids. Es sind aber auch chemische Nachweise möglich. Dabei wird eine osmiumhaltige Probe auf Filterpapier mit Benzidin- oder Kaliumhexacyanoferratlösung zusammengebracht. Mit Benzidin verfärbt sich das Papier bei Anwesenheit von Osmiumtetroxid violett, mit Kaliumhexacyanoferrat hellgrün.In der modernen Analytik sind diese Nachweise nicht mehr von Bedeutung; heute kann Osmium mittels instrumenteller Verfahren wie Neutronenaktivierungsanalyse, Voltammetrie, Atomspektrometrie oder Massenspektrometrie nicht nur nachgewiesen, sondern mit hoher Genauigkeit quantitativ bestimmt werden. Die NMR-Spektroskopie und Röntgenbeugung ermöglichen die Strukturanalytik von organischen und anorganischen Osmiumverbindungen.
== Sicherheitshinweise ==
Metallisches Osmium ist harmlos.Osmiumtetroxid ist giftig. Stäube können eine Lungenreizung mit Hyperämie bis zum Lungenödem hervorrufen sowie zu Haut- oder Augenschäden führen. Da an der Luft aus pulverförmigem metallischem Osmium stets geringe Mengen Osmiumtetroxid entstehen, ist auch bei dieser Form des Elements Vorsicht geboten.
Metallisches Osmium ist als fein verteiltes Pulver oder Staub leichtentzündlich, in kompakter Form aber nicht brennbar. Zum Löschen von Osmiumbränden müssen Metallbrandlöscher (Klasse D) oder Löschpulver verwendet werden, keinesfalls darf Wasser verwendet werden, wegen der Explosionsgefahr durch entstehenden Wasserstoff.
== Verbindungen ==
Es sind Verbindungen und Komplexe in den Oxidationsstufen von −II bis +VIII bekannt, die stabilste Oxidationsstufe ist +IV. Osmium zählt zusammen mit Ruthenium und Xenon zu den wenigen Elementen, die die Oxidationsstufe +VIII erreichen. Lediglich Iridium weist eine höhere Oxidationsstufe von +IX auf. Osmium bildet mit den meisten Nichtmetallen Verbindungen wie Oxide, Halogenide, Sulfide, Telluride, und Phosphide.
=== Osmiumtetroxid ===
Osmiumtetroxid OsO4 ist die bekannteste Verbindung des Osmiums und eine der wenigen stabilen Verbindungen, in der Osmium die Oxidationsstufe +VIII besitzt. Die Verbindung bildet sich durch Einwirkung von Oxidationsmitteln wie Salpetersäure auf metallisches Osmium. Es ist ein leichtflüchtiger Feststoff, der sehr stark oxidierend wirkt. Im Unterschied zu vielen anderen Oxidationsmitteln kann die Reaktion unter stereochemischer Kontrolle ablaufen. Aufgrund dieser Eigenschaften hat die Verbindung trotz der hohen Toxizität und des hohen Preises einige Anwendungen gefunden. Osmiumtetroxid wird häufig nur in katalytischen Mengen eingesetzt.
Es wird zur Fixierung und Kontrastverstärkung von Lipiden (Fetten) und Zellmembranen in der Elektronenmikroskopie und bei der Spurensicherung (Fingerabdrücke) eingesetzt. In der Organischen Chemie dient es als Oxidationsmittel zur cis-Hydroxylierung von Alkenen zu vicinalen Diolen und bei der Jacobsen-Katsuki-Reaktion bzw. bei der Sharpless-Epoxidierung zur stereoselektiven Epoxidierung.
=== Weitere Osmiumverbindungen ===
Mit Sauerstoff bildet Osmium weitere Verbindungen, die Oxide Osmiumtrioxid OsO3 und Osmiumdioxid OsO2. Osmiumtrioxid ist nur in der Gasphase stabil, Osmiumdioxid dagegen ein stabiler, hochschmelzender Feststoff in Rutil-Struktur.
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod sind eine Vielzahl von Verbindungen bekannt. Die möglichen Oxidationsstufen des Osmiums reichen dabei von +VII bei Osmium(VII)-fluorid bis +I bei Osmium(I)-iodid.
Des Weiteren sind Verbindungen mit Arsen und Schwefel bekannt, die auch in der Natur vorkommen und als Minerale Erlichmanit (OsS2), Osarsit (OsAsS) und Omeiit (OsAs2) anerkannt sind.
=== Komplexverbindungen ===
Neben diesen Verbindungen sind zahlreiche Komplexverbindungen bekannt. Vom Osmiumtetroxid leiten sich die Osmate, anionische Komplexe des Osmiums ab. Auch mit anderen Liganden, wie Ammoniak, Kohlenstoffmonoxid, Cyanid und Stickstoffmonoxid sind viele Komplexe in verschiedenen Oxidationsstufen bekannt. Mit organischen Liganden, wie Cyclopentadien kann der Osmiumkomplex Osmocen, der zu den Metallocenen gehört, gebildet werden. Neben klassischen Komplexen, bei denen jede Metall-Ligand-Bindung eindeutig bestimmt werden kann, existieren auch nicht-klassische Komplexe. Bei diesen liegen Metallcluster aus mehreren Osmiumatomen vor. Ihre konkrete Gestalt kann mit Hilfe der Wade-Regeln bestimmt werden.
== Literatur ==
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1.
Hans Breuer: dtv-Atlas Chemie. Band 1, 9. Auflage. München 2000, ISBN 3-423-03217-0.
Michael Binnewies: Allgemeine und Anorganische Chemie. 1. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-0208-5.
N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9.
Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3.
== Weblinks ==
Mineralienatlas:Osmium (Wiki)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Osmium |
Simon Petrus | = Simon Petrus =
Simon Petrus (* in Galiläa; † um 65–67, möglicherweise in Rom) war nach dem Neuen Testament einer der ersten Juden, die Jesus Christus in seine Nachfolge berief. Er wird dort als Sprecher der Jünger bzw. Apostel, erster Bekenner, aber auch Verleugner Jesu Christi, Augenzeuge des Auferstandenen und einer der Leiter („Säulen“) der Jerusalemer Urgemeinde dargestellt. Hinzu kommen deutlich spätere Notizen bei diversen Kirchenvätern, wonach Petrus erster Bischof von Antiochien sowie Gründer und Haupt der Gemeinde von Rom gewesen sei und dort das Martyrium erlitten habe.
Simons Historizität wird aufgrund übereinstimmender Angaben in den frühesten Textbestandteilen der Evangelien und archäologischer Funde angenommen. Das Neue Testament überliefert jedoch nur wenige als zuverlässig geltende biografische Details über ihn. Spätere Notizen werden vielfach als legendarisch angesehen. Ein Aufenthalt Petri in Rom wird in der Bibel nicht erwähnt.
Die römisch-katholische Kirche führt den Primatsanspruch des Papsttums über die Gesamtkirche auf die Tradition zurück, Petrus sei der erste Bischof von Rom gewesen und Christus habe Petrus und dieser den folgenden Bischöfen von Rom einen Vorrang als Leiter, Lehrer und Richter aller Christen gegeben. Die Päpste werden daher auch als „Nachfolger Petri“ bezeichnet. Die übrigen Kirchen lehnen diesen Anspruch ab. Historisch gab es im 1. Jahrhundert noch keinen Monepiskopat, das heißt, die christliche Gemeinde wurde nicht von einem einzelnen römischen Bischof geleitet. Dennoch gilt Petrus auch für die altorientalischen, orthodoxen, altkatholischen sowie die anglikanischen Kirchen als erster Bischof von Rom und als Heiliger. Die evangelischen Kirchen erinnern mit einem Gedenktag an ihn.
== Quellenlage ==
Alle Quellen zu Simon Petrus stammen aus der christlichen Überlieferung. Mögliche biografische Informationen finden sich vor allem in den Evangelien, den Paulusbriefen, weiteren Apostelbriefen und der Apostelgeschichte des Lukas. Diese Quellen berichten im Kontext ihrer missionarischen und theologischen Verkündigungsabsichten von Petrus. Sie werden von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft quellenkritisch untersucht.
Zusätzliche Angaben zu Simon Petrus finden sich vor allem im Ersten Clemensbrief, bei den Kirchenvätern Irenäus und Eusebius wie auch bei Tertullian. Diese Quellen stammen aus dem 2. bis 4. Jahrhundert und verdanken ihre Entstehung, Verbreitung und Überlieferung nicht zuletzt den kirchenpolitischen Interessen der Autoren und Tradenten, die in der Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen innerhalb des frühen Christentums den Bibelkanon, das monarchische Bischofsamt und die Idee der apostolischen Sukzession entwickelten. Sie betonen zum einen die Bedeutung Petri für die Vorrangstellung Roms vor den übrigen Patriarchaten und stellen ihn zum anderen als Beispiel für einen „sündigen Heiligen“ dar, dessen Verleugnung und anschließende Reue und Bekehrung zeige, dass allen Menschen das Heil offensteht.Apostelakten zu Simon Petrus werden in der Regel als Legenden beurteilt, die weitgehend ahistorische Erzählungen beinhalten.
Archäologische Zeugnisse für eine Petrusverehrung in Rom stammen aus dem 1. Jahrhundert. Ob sie seinen Aufenthalt und sein Begräbnis dort belegen, ist stark umstritten.
== Angaben im Neuen Testament ==
=== Name ===
Alle Evangelien kennen den Jünger unter dem Namen Simon; Jesus redet ihn bis auf eine Ausnahme (Lk 22,34 ) immer so an. Es handelt sich um die griechische Form des biblischen Namens Simeon (hebräisch Schim’on), dem Tanach zufolge einer der Söhne Jakobs und Stammvater eines der zwölf Stämme Israels. Patriarchennamen waren unter palästinischen Juden dieser Zeit besonders beliebt und wurden häufig auch in der griechischen Übersetzung verwendet. Da auch Simons Bruder Andreas einen griechischen Namen trägt, scheint diese Namensform die ursprünglichere zu sein. Apg 15,14 und 2 Petr 1,1 nennen ihn Symeon, eine Gräzisierung der hebräischen Namensform.
In Mt 16,17 nennt Jesus seinen Jünger mit Vatersnamen Simon Barjona („Simon, Sohn des Jona“). Zu möglichen politischen Konnotationen dieser Anrede und zu der Frage, ob der Vater der beiden Apostel Jona oder, wie es an anderer Stelle im Neuen Testament heißt, Johannes (hebräisch Jochanan) geheißen haben kann, gibt es verschiedene Theorien (siehe unten, Abschnitt „Herkunft und Berufung“).
Paulus von Tarsus nennt den Apostel meist Kephas (Κηφᾶς), eine gräzisierte Form des auch in den Evangelien überlieferten Beinamens Kefa (Kēp’, in hebräischen Buchstaben כיפא), ein aramäisches Wort, das als Eigenname kaum belegt ist und eigentlich „Stein“ bedeutet. Gal 2,7–8 übersetzt den Namen zweimal ins Griechische zu Πέτρος (Pétros), was ebenfalls „Stein“ bedeutet und mit dem griechischen Wort für „Fels“ (πέτρα) verwandt ist. Im Hebräischen hat das Wort kēp (כֵּף) ebenfalls die Grundbedeutung „Fels“ oder „Stein“. Sowohl das semitische als auch das griechische Wort bezeichnen einen gewöhnlichen Naturstein (Wurfstein, Bruchstein, Kieselstein), im Hebräischen auch einen Felsen (zum Beispiel Jer 4,29 ), im Aramäischen kann (seltener) ebenfalls ein Felsen, Felsbrocken oder eine Felsenspitze gemeint sein.
Jesus selbst soll Simon den Beinamen Kefa verliehen haben; wo und wann, überliefern die Evangelien unterschiedlich. Einige Exegeten nahmen an, Simon habe den Beinamen erst als Apostel der Urgemeinde angenommen, und dies sei nachträglich auf Jesus zurückgeführt worden (vgl. Joh 1,42). Die meisten Forscher (darunter Peter Dschulnigg, Joachim Gnilka, Martin Hengel, John P. Meier, Rudolf Pesch) gehen jedoch davon aus, dass Simon diesen Beinamen bereits im ersten Jüngerkreis trug, da Kephas in einigen der ältesten NT-Schriften als eigentlicher Name (Gal 2,9 ) oder von Anfang an verwendeter Beiname (Mk 3,16 ; Mt 4,18; 10,2) des Apostels erwähnt ist. Auch wird zumeist angenommen, dass ihm der Beiname tatsächlich von Jesus gegeben wurde. John P. Meier weist darauf hin, dass die Evangelien eine Nennung des Namens Petrus oder Kephas im Munde Jesu an vielen Stellen auffällig vermeiden; er hält es für denkbar, dass dieser Name für den Gebrauch im Verhältnis unter den Jüngern, aber nicht im Verhältnis zu Jesus bestimmt war.Vermutet wurde auch, der ursprüngliche Sinn des Namens erschließe sich aus der angenommenen Wortbedeutung „Edelstein“ im Aramäischen, was die besondere Rolle Simons als Wortführer der Erstberufenen hervorheben könnte. Die Sinnverschiebung zu „Fels“ als Fundament der Kirche sei dann als nachösterliche Umdeutung zu verstehen. Die im Anschluss an Rudolf Pesch vermutete Übersetzung von kefa als „Schmuckstein“ oder „Edelstein“ zur (auszeichnenden) Benennung einer Person ist vom Aramäischen her jedoch nicht hinreichend zu belegen, da der Gebrauch der aramäischen Wurzel kp als Personenname nicht nachgewiesen ist und überhaupt kaum Beispiele einer Verwendung des Wortes in der Bedeutung „Edelstein“ bekannt sind, in denen dieses Verständnis nicht durch Zusammensetzungen, attributive Zusätze (etwa „guter Stein“ im Sinne von „edel“ oder „wertvoll“) oder einen eindeutigen Kontext nahegelegt würde.
Der protestantische Heidelberger Judaist und Talmud-Übersetzer Reinhold Mayer (1926–2016) vermutete, der Namensgebung durch Jesus liege neben dem Gedanken an den Grundstein des Jerusalemer Tempels eine ironische Anspielung auf den ungewöhnlichen Namen des zu seiner Zeit amtierenden Hohenpriesters Kajaphas (קיפא) zugrunde. Die in griechischer Umschrift verschieden vokalisierten Namen Kaiphas und Kephas unterscheiden sich in hebräischer Schrift nur in den anlautenden Konsonanten (Koph bei Qajfa statt Kaph bei Kefa), die sehr ähnlich klingen. Damit wohne dem Namen ein (möglicherweise durchaus ernst gemeinter) Anspruch auf die Ablösung des Hohenpriesters durch den Führer der Zwölfergruppe um Jesus inne, der selbst im Rahmen seines Messianismus den Königstitel für sich beanspruchte. Der erst durch die Jerusalemer Inschriftenfunde von 1990, mit denen der Name des Hohepriesters erstmals in hebräischen Schriftzeichen belegbar wurde, ins Bewusstsein der Forschung getretene „verblüffende Gleichklang des Beinamens des Simon mit dem des höchsten Amtsinhabers am Jerusalemer Tempel“ wirft auch für den katholischen Exegeten Martin Ebner ein neues Licht auf den viel umrätselten Beinamen des Simon Petrus. Falls Absicht dahinterstecke, hätte „Jesus mit dieser delikaten Spitznamenwahl eine symbolische Enteignung vorgenommen“.Ähnlich wie Jesus Christus wurde auch Simon Petrus spätestens mit der lateinischen Bibelübersetzung Vulgata (um 385) zum Eigennamen.
=== Herkunft und Berufung ===
Simon stammte wie Jesus aus Galiläa und war nach Aussage des Markusevangeliums an seiner Sprache als Galiläer erkennbar (Mk 14,70 par.). Er gehörte zu den ersten Jüngern, die Jesus in seine Nachfolge berief. Die Überlieferungen beschäftigen sich praktisch nur mit der Zeit nach dieser Berufung; Angaben über Alter und Geburt des Simon sowie über die Herkunft und den sozialen Status seiner Familie gibt es keine.
Nach Joh 1,42 hieß Simons Vater Johannes. In Mt 16,17 spricht Jesus ihn als Simon Barjona an, aramäisch „Sohn des Jona“. Jona dürfte hier als Kurzform von Johannes aufzufassen sein. Als Adjektiv bedeutet barjona allerdings auch „impulsiv“ oder „unbeherrscht“. Darin sahen manche Ausleger Hinweise auf eine mögliche frühere Zugehörigkeit Simons zu den Zeloten, da im späteren Talmud jüdische Freiheitskämpfer als barjonim (Plural) bezeichnet wurden.Simon hatte einen Bruder namens Andreas, der wohl jünger als Simon war, da alle Apostellisten diesen zuerst nennen. Beide waren Fischer am See Genezareth. Nach Mk 1,16 traf Jesus sie am Seeufer beim Auswerfen ihrer Fischernetze und forderte sie auf, ihm nachzufolgen. Daraufhin hätten sie die Netze verlassen und seien ihm gefolgt. Bei der Berufung der übrigen zehn habe Jesus Simon dann den Beinamen „Petrus“ gegeben (Mk 3,16 ).
Simon war verheiratet; den Namen seiner Frau erfährt man nicht. Er wohnte zusammen mit ihr, ihrer Mutter und seinem Bruder Andreas in einem eigenen Haus in Kafarnaum (Mk 1,21.29 f.; Lk 4,38; Mt 8,14). Auf dessen Überresten könnten Urchristen eine ihrer ersten Pilgerstätten errichtet haben. Dies vermuten einige Archäologen, da unter einer byzantinischen achteckigen Kirche aus dem 5. Jahrhundert Mauerreste aus dem 1. Jahrhundert ausgegraben wurden. Der einzige klare Hinweis auf ein Petrushaus, das früh als Hauskirche genutzt worden sein könnte, sind allerdings Kalkinschriften, die Jesus mit Hoheitstiteln sowie Petrus nennen und Spuren kultischer Zusammenkünfte zeigen. Sie stammen frühestens aus dem 3. Jahrhundert.Nach Mk 1,31 heilte Jesus Simons Schwiegermutter, worauf diese die Jünger bewirtete. Zwar forderte Jesus den Simon wie auch die übrigen Jünger aus seinem engsten Nachfolgerkreis grundsätzlich auf, ihre Familien zu verlassen (Mk 10,28 f.). Eine Ablehnung der Ehe als solche findet sich in den Evangelien jedoch nicht. Die auffälligste Besonderheit der Lehren Jesu über die Ehe bestand darin, dass er die Ehescheidung verbot (Mt 5,32). Petrus lebte nach dem Zeugnis des Paulus wie auch andere Apostel und Verwandte Jesu um das Jahr 39 mit seiner Ehefrau zusammen und nahm sie auf Reisen mit (1 Kor 9,5). Einige Frauen aus Galiläa sollen auch bereits während des öffentlichen Wirkens Jesu mit ihm und seinen Anhängern umhergezogen sein (Mk 15,41; Lk 8,2).
Nach Lk 5,1–11 wurde Simon zum „Menschenfischer“ berufen, nachdem Jesus seine Antrittspredigt in der Synagoge von Kafarnaum gehalten und Simons Schwiegermutter geheilt hatte. Die Berufung folgt einem unerwartet großen Fischfang, nach dem Simon bekennt: „Herr, gehe von mir fort! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Hier nennt Lukas ihn erstmals Petrus, dann auch bei der Auswahl der Zwölf (Lk 6,14). Er erklärt den Beinamen ebenso wenig wie Markus. Nach Apg 10,14.28 beachtete Simon zunächst die jüdischen Speisevorschriften und verkehrte nicht mit Nichtjuden.
Auch nach Mt 4,18 wird Simon ab seiner Berufung beiläufig „Petrus“ genannt. Matthäus stellt den Beinamen erst heraus, nachdem Simon Jesus als den Messias bekannt hatte und dieser ihm daraufhin zusagte, er werde seine Kirche auf „diesen Felsen“ bauen (Mt 16,16 ff.).
Nach Joh 1,44 kamen Petrus und sein Bruder aus Bethsaida. Ob hier der Geburts- oder nur ein früherer Wohnort gemeint ist, bleibt offen. Andreas soll als Jünger Johannes des Täufers Jesus zuerst getroffen, ihn als Messias erkannt und dann seinen Bruder Simon zu ihm geführt haben. Jesus habe diesem sofort, als er ihn sah, den Beinamen „Kephas“ verliehen (Joh 1,35–42).
Nach allen Evangelien war Simon Petrus im Jüngerkreis eine Führungsfigur. Er steht in allen Apostellisten des NT an erster Stelle; auch dort, wo er mit Jakobus dem Älteren und Johannes zusammen genannt wird. Er gehörte demnach zu den drei Jüngern aus dem engsten Kreis der Jesusnachfolger, die Jesus besonders nahestanden. Sie gelten nach Mk 9,2–13 (Verklärung des Herrn) als die Einzigen unter den Zwölfen, denen die Göttlichkeit und indirekt auch die künftige Auferstehung Jesu bereits vor dessen Tod offenbart wurde. Sie begleiteten Jesus zudem in seinen letzten Stunden im Garten Getsemani (Mk 14,33).
=== Christusbekenner ===
Nach Mk 8,29 ff. beantwortet Petrus Jesu Frage an seine Jünger, für wen sie ihn halten, mit dem Glaubensbekenntnis: „Du bist der Christus!“ Dieser Titel erscheint hier das erste und einzige Mal im Munde eines der Apostel, gefolgt vom Schweigegebot Jesu an sie alle, niemandem etwas über ihn zu sagen (V. 30). Petrus spricht hier also stellvertretend für alle Erstberufenen.
Doch gleich darauf, nachdem Jesus den Jüngern erstmals seinen vorherbestimmten Leidensweg ankündigte, „nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen“ (V. 32). Er habe also versucht, Jesus von diesem Weg ans Kreuz abzubringen. Daraufhin habe Jesus ihn schroff zurechtgewiesen (V. 33):
„Satan“ bedeutet im Hebräischen „Gegner“ oder „Widersacher“. Petrus wird hier mit dem Versucher Jesu in der Wüste verglichen, der den Sohn Gottes ebenfalls von seinem Leidensweg abhalten wollte (Mt 4,1–11); er wird auch an anderen Stellen des NT in die Nähe des Satans gerückt (Lk 22,31).
In der matthäischen Variante (Mt 16,16) antwortet Simon:
Damit wiederholt er hier das Bekenntnis aller Jünger zur Gottessohnschaft Jesu, das diese nach Jesu Stillung des Sturms ablegen (Mt 14,33). Wie bei Markus folgt auch hier kein weiteres Christusbekenntnis der Jünger, sondern später Jesu eigene Bejahung der Messiasfrage im Verhör durch den Sanhedrin (Mk 14,62; Mt 26,63).
=== Empfänger der Felsenzusage ===
Nach Mt 16,18 beantwortete Jesus Simons Christusbekenntnis mit einer besonderen Zusage:
Dieser Vers ist im NT einmalig. Umstritten ist bis heute unter anderem, ob es sich um ein echtes Jesuswort handelt, wann und warum es entstanden ist, woher die einzelnen Ausdrücke stammen und was sie hier bedeuten.
Das in der altgriechischen Literatur selten anzutreffende Wort petros bezeichnete wie das aramäische kefa in der Regel einen einzelnen Naturstein, runden Kiesel oder Brocken, nicht dagegen einen als Baugrund geeigneten Fels; petra hingegen bedeutet Felsen (als einzelner Felsen oder als Felsgrund, unter Umständen kann auch der in eine Mauer eingefügte, behauene Steinblock bezeichnet sein). Unter den Sprüchen von der Nachfolge findet sich in Mt 7,24 das Gleichnis von dem Mann, der sein Haus „auf den Felsen“ (epi tän pétran) gebaut hat, was üblicherweise generisch mit „auf Fels gebaut“ wiedergegeben wird. An dieses Jesuswort könnte auch Mt 16,18 angelehnt sein, falls es sich um eine nachträgliche Bildung handelt.
Der Ausdruck „Stein“ lässt jüdische Metaphern anklingen: So war der „heilige Stein“ im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels in der biblischen Zionstradition zugleich Eingang zur Himmelswelt, Verschlussstein gegen die Sintflut und die Totenwelt (zum Beispiel Jes 28,14–22). Jedoch wurde dieser Stein nicht „Felsen“ genannt und nie als Baufundament dargestellt.
Evangelikale Ausleger, die eine Grundlegung des Petrusamtes im Felsenwort ablehnen, vertreten daher häufig die Meinung, in Mt 16,18 beziehe sich nur der Name Petros („Stein“) auf Simon Petrus selbst, während sich das Wort petra („Felsen“) auf Christus beziehe, der selbst das Fundament seiner Kirche ist. Diese Ausleger untermauern ihr Verständnis mit Verweis auf andere Bibelstellen, in denen sich Jesus mit einem Eckstein (kephalé gōnías, „Haupt der Ecke“ nach Ps 118,22 ) oder Baustein (lithos) vergleicht (Mt 21,42 par) oder als solcher bezeichnet wird (1Petr 2,4). Von der Syntax der Aussage in Mt 16,18 her ist diese Deutung allerdings nicht nachvollziehbar, da der Ausdruck „dieser Felsen“ im zweiten Teilsatz eindeutig auf den zuvor genannten Petros bezogen ist und nicht auf den Sprecher (Jesus) selbst. Der semantisch nicht bruchlose Übergang vom Eigennamen Petros (übersetzt „Stein“) zu petra („Felsen“) und dessen Bezeichnung als Baugrund stellt sich vielmehr als Wortspiel dar, das die nahe Verwandtschaft der beiden Wörter thematisiert, ohne den Bezug zu der angesprochenen Person aufzugeben. Ob dieses Wortspiel bzw. eine doppelsinnige Verwendung des Begriffs kefa auch im Aramäischen möglich ist, was die Voraussetzung dafür wäre, um das Wort für ursprünglich jesuanisch zu halten, ist strittig.
Ekklesia (wörtlich „die Herausgerufene“, von dem griechischen Verb kalein, „rufen“) bezeichnete im profanen Griechisch die einberufene Versammlung von Bürgern. In der Septuaginta wird der hebräische Begriff kahal mit ekklesia ins Griechische übersetzt, was in der Zusammensetzung mit Gott (Kyrios) das erwählte Gottesvolk Israel meint, wobei das Motiv der Sammlung Israels („Rückrufung“ aus dem Exil) begrifflich durchscheint. Im Kontext von Mt 16,14 f. ist der Ausdruck auf den Zwölferkreis bezogen, die erstberufenen zwölf Jünger Jesu, die in den Evangelien die Nachkommen der Zwölf Stämme Israels repräsentieren, das heißt das endzeitlich versammelte Israel als Ganzes. In den frühen Briefen des NT wird das Wort zunächst als Bezeichnung der einzelnen Christengemeinde verwendet, wiewohl in 1 Kor 12,28 ein weiteres Verständnis bereits bei Paulus anzuklingen scheint. Ausdrücklich als Bezeichnung für die Gesamtheit der Christen (Universalkirche) wird der Ausdruck erst in den vermutlich später entstandenen deuteropaulinischen Briefen (Kol 1,18 , Eph 5,23 ) benutzt.
Der Ausdruck „meine ekklesia“ ist nur an dieser Stelle als Ausspruch Jesu überliefert. Dies ist ein Hauptargument gegen die Echtheit des Logions, denn es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass der historische Jesus eine Bezeichnung zur Charakterisierung seiner Gefolgschaft verwendet haben könnte, die sich im Griechischen mit ekklesia wiedergeben ließe. Zudem erscheint der Vers redaktionsgeschichtlich als Einschub in die Vorlage Mk 8,27–30. Der Ekklesia-Begriff verweist nach Karl Ludwig Schmidt ursprünglich auf eine Sondergemeinschaft innerhalb des Gottesvolks, die sich (ähnlich wie die Qumran-Gemeinschaft) als „Auserwählte“ in dem erwarteten Endgericht (Mk 13,20 ff.) bzw. Ausgesonderte („Heilige“, vgl. Apg 9,13.32.41 u. a.) begriffen haben könnte, zugleich aber Teil des Judentums blieb und die Toragebote und den Tempelkult nicht aufgab. Demnach wäre eine Entstehung im judenchristlichen Umfeld denkbar.
„Tore des Hades“ war im Hellenismus eine feste Redewendung für den Ort, an den Gestorbene gelangten. Hinter jedem Sterblichen („Fleisch und Blut“) schlossen sie sich unwiderruflich (Jes 38,10).
Für Hans Conzelmann stammt der Vers aus einer von Petrus gegründeten Gemeinde in Syrien oder Kleinasien, die Jesus das Wort nach Petri Tod in den Mund gelegt habe. Denn hier würden die „Pforten der Unterwelt“ der Auferstehung der Christusbekenner und Fortdauer ihrer Gemeinschaft über den Tod des Einzelnen hinaus gegenübergestellt.Ulrich Luz deutet „meine ekklesia“ als das gesamte Christentum, da Jesus nur eine Gemeinde bauen könne und die Zusage an das verbreitete biblische Bild vom Hausbau des Gottesvolks anschließe (Mt 7,21). Der Vers sei ein griechisches Wortspiel, kein ins Griechische übersetzter aramäischer Satz. Der frühe Beiname Simons, Kefa, den Jesus ihm gegeben haben könnte, werde hier im Rückblick auf sein schon abgeschlossenes Wirken als Apostel gedeutet. Da auch andere NT-Stellen (Eph 2,20; Offb 21,14) von Aposteln als Baufundament der Kirche sprechen, sei der Vers wahrscheinlich nachösterlich in einer griechischsprechenden Gemeinde entstanden. Die Zusage Jesu, dass die ekklesia nicht „überwältigt“ werde, versteht Luz im Anschluss an Karl Barth als eine vergleichende Aussage: Die Tore der Unterwelt, Inbegriff des Totenreichs, das kein Sterblicher von sich aus wieder verlassen kann, sind diesem Logion zufolge nicht stärker als die auf den Felsen gebaute Kirche. Dieser wird Bestand bis zum Weltende verheißen, da Jesus ihr seine Gegenwart auch in der Zukunft (nach Tod und Auferstehung) verspricht (Mt 28,20).
=== Christusverleugner ===
Dem Christusbekenntnis des Petrus und seiner Zurechtweisung folgt Jesu Jüngerbelehrung (Mk 8,34 ):
Diese Einladung zur Kreuzesnachfolge ist Hintergrund für das spätere Versagen des Petrus im Verlauf der Passion Jesu, als er, um sein Leben zu retten, nicht sich, sondern Jesus verleugnet (Mk 14,66–72).
Der Widerspruch zwischen Reden und Handeln zeigte sich bei Petrus schon in Galiläa: Einerseits vertraute er dem Ruf Jesu in die Nachfolge („Komm her!“), andererseits schwand sein Glaube beim ersten Gegenwind, so dass nur Jesus ihn vor dem Versinken im Meer retten konnte (Mt 14,29 ff.). Laut Joh 13,6–9 wollte er sich nicht die Füße von Jesus waschen lassen. Diese Handlung war damals ein typischer Sklavendienst: Petrus wehrte sich also dagegen, sich von Jesus als seinem Herrn wie von einem Sklaven bedienen zu lassen. Die Fußwaschung war jedoch symbolische Anteilgabe am Heil und mit dem Auftrag Jesu an alle Jünger verbunden, einander ebenso zu dienen.
Jesus kündigte Petrus auf dem Weg zum Ölberg (nach Lk beim letzten Mahl Jesu) an, er werde ihn noch in derselben Nacht dreimal verleugnen. Dies wies er wie alle übrigen Jünger weit von sich (Mk 14,27–31 par.):
Doch kurz darauf schlief er ein, als Jesus in Getsemani den Beistand der Jünger besonders nötig brauchte und erbat (Mt 26,40.43 f.). Dann soll er nach Joh 18,10 mit Waffengewalt Jesu Verhaftung zu verhindern versucht haben: Er wird hier mit jenem namenlosen Jünger identifiziert, der einem Soldaten der Tempelwache laut Mk 14,47 ein Ohr abhieb. Sein Versagen gipfelt in der Verleugnung Jesu, während dieser sich vor dem Hohen Rat als Messias und kommender Menschensohn bekannte und sein Todesurteil empfing (Mk 14,62). Als das Krähen eines Hahnes im Morgengrauen Petrus an Jesu Vorhersage erinnerte, habe er zu weinen begonnen (Mk 14,66–72).
Petrus fehlte demnach die Kraft, seinem Glauben gemäß zu handeln, als es darauf ankam. Erst nach Pfingsten trat er laut Apg 5,29 vor dem Hohen Rat als todesmutiger Bekenner auf, der die Sendung des Heiligen Geistes als Missionar und Leiter der Urgemeinde vorbildlich erfüllte. Paulus dagegen berichtet, dass Petrus aus Furcht vor den Judenchristen um Jakobus die Tischgemeinschaft mit Heiden aufgab und vor einigen Juden Gesetzestreue „heuchelte“, statt nach der „Wahrheit des Evangeliums“ zu wandeln (Gal 2,11–14).
Einige Exegeten schließen daraus auf seinen ambivalenten Charakter. Andere sehen Petrus als Beispiel für das Verhalten aller Jünger, die Jesus angesichts seines bevorstehenden Todes verließen (Mk 14,50). Er steht im NT für das dichte Beieinander von Glauben und Unglauben, Zeugendienst und schuldhaft verweigerter Kreuzesnachfolge in der ganzen Kirche.
=== Zeuge des Auferstandenen ===
Petrus ist im Neuen Testament einer der Ersten, dem der auferstandene Jesus begegnet. In einer Liste, die er möglicherweise aus der Jerusalemer Urgemeinde übernommen hat, nennt Paulus den Kephas im Ersten Korintherbrief als den ersten Osterzeugen überhaupt (1 Kor 15,5 PA):
Auch das Lukasevangelium überliefert einen Bekenntnissatz, der vielleicht aus der frühesten Osterüberlieferung der Urchristen stammt und Simon als den maßgeblichen Zeugen benennt (Lk 24,34 ):
Im lukanischen Erzählkontext sprechen diesen Satz die in Jerusalem versammelten Jünger, bevor der Auferstandene auch ihnen erscheint.
Das Markusevangelium nennt Petrus neben den anderen Jüngern als Adressaten einer angekündigten Jesuserscheinung in Galiläa (Mk 16,7 ).
Dem Johannesevangelium zufolge sah nicht Petrus, sondern Maria Magdalena den Auferstandenen zuerst. In Joh 20,1–10 entdeckt sie zunächst das leere Grab und berichtet Petrus und dem Lieblingsjünger davon. Daraufhin laufen die beiden Männer um die Wette zum Grab, doch obwohl der Lieblingsjünger schneller ist und als Erster ankommt, betritt er die Grabkammer zunächst nicht, sondern lässt Petrus den Vortritt. Im leeren Grab sehen die Jünger die Leinenbinden und das aufgewickelte Schweißtuch des Gekreuzigten (Joh 20,3–6 ). Danach gehen sie wieder „nach Hause“. Diese Episode („Wettlauf zum Grab“) wird meist als Reflex auf die zur Abfassungszeit der Geschichte bereits virulenten Auseinandersetzungen um die Hierarchie der Auferstehungszeugen und den Vorrang des Petrus gedeutet, der im Johannesevangelium formal anerkannt, aber durch die Darstellung Maria Magdalenas als Erstzeugin und des Lieblingsjüngers als desjenigen, der das Gesehene als Erster begreift und zum Glauben gelangt, subtil in Frage gestellt wird. Anschließend erzählt Joh 20,11–18 von der Erscheinung vor Maria Magdalena, bei der es sich um die einzige narrativ ausgestaltete neutestamentliche Christophanie vor einer Einzelperson handelt. Laut Joh 20,19–23 erschien der Auferstandene den versammelten Jüngern erst am Abend desselben Tages.
Der sogenannte „unechte“ (da nachträglich angefügte) Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) versucht, die verschiedenen Erscheinungsberichte in eine harmonische Abfolge zu bringen. Der Text folgt Joh 20 und nennt Maria von Magdala als erste Augenzeugin des Auferstandenen. Aus den Unterschieden in den Ostertexten der Evangelien schließen NT-Historiker, dass die Erscheinungen Jesu (Christophanien) und die Entdeckung seines leeren Grabes ursprünglich unabhängig voneinander überlieferte Erzählungen waren, die dann auf verschiedene Weise kombiniert wurden.Das (vermutlich ebenfalls spät hinzugefügte) Schlusskapitel des Johannesevangeliums (Joh 21) berichtet, Jesus sei dem Petrus und sechs weiteren Jüngern aus dem Zwölferkreis in Galiläa nochmals erschienen. Analog zu seiner Berufungsgeschichte, als Petrus nach einem wunderbaren Fischzug in die Nachfolge Jesu berufen wurde (Lk 5,1–11 ), wird er auch diesmal durch einen übergroßen Fischfang gewahr, dass der Mann am Ufer der auferstandene Jesus ist. So wie er Jesus dreimal verleugnet hatte, fragt ihn dieser nun dreimal: „Liebst du mich?“, was er jedes Mal bejaht. Daraufhin erhält Petrus dreimal den Befehl: „Weide meine Schafe!“ und den erneuten Ruf „Folge mir nach“ (Joh 21,15–19 ). Diese späte Erscheinungsgeschichte und den mit ihr verbundenen Dialog zwischen Petrus und dem Auferstandenen deuten Exegeten als Hinweis darauf, dass die Verleugnung Jesu durch Petrus noch viele Jahrzehnte nach seinem Tod bei den Lesern Anstoß erregte und theologisch verarbeitet werden musste.
=== Missionar der Urgemeinde ===
Fast alle Nachrichten vom nachösterlichen Wirken des Petrus stammen aus der Apostelgeschichte des Lukas. Nach Apg 1,2 ff. im Anschluss an Lk 24 entstand die Jerusalemer Urgemeinde durch die Erscheinung des auferstandenen Jesus Christus vor den versammelten elf Jüngern in Jerusalem und das Wirken des Heiligen Geistes im Pfingstwunder. Nach Apg 1,4.13 hielten sich die Jünger in Jerusalem versteckt, bis sie nach Apg 2,1 ff. der Heilige Geist überkam. Darauf folgt erste öffentliche Predigt Petri in Jerusalem. Sie legt Jesu Erscheinen als Gottes vorherbestimmte Erfüllung der Geistverheißung in Israels Heilsgeschichte aus und gipfelt in der Aussage (Apg 2,36 ):
Daraufhin sollen sich am selben Tag 3000 Menschen zum neuen Glauben bekannt haben. Diese erste Gemeinde der Christen soll nach Apg 2,5 Angehörige verschiedener Völker und Sprachen umfasst haben.
Petrus geriet jedoch bald in Konflikt mit den Jerusalemer Behörden und musste sich vor dem Hohen Rat verantworten (Apg 4,8 ff.; 5,29). Dabei soll er seinen Glauben diesmal nicht verleugnet, sondern freimütig bekannt haben; begründet mit dem Satz (Apg 4,20 ):
Diese Formulierung ist eine der Wurzeln der in der Kirchengeschichte häufig verwendeten Phrase Non possumus. Petrus wird zunächst als ein Vertreter der Israelmission geschildert, die der universalen Völkermission vorausging (Gal 2,8; Mt 10,5; vgl. Lk 24,47). Nach der Hinrichtung des Stephanus und Verfolgung seiner Anhänger in der Urgemeinde missionierten Petrus und andere Apostel auch außerhalb Jerusalems. Laut Apg 8,14–25 kam er dabei auch nach Samaria, um bereits Neugetauften den Heiligen Geist zu spenden. Dies unterstreicht seine Autorität über die Urgemeinde hinaus.
Von Petrus werden auch Spontanheilungen und Totenerweckungen analog zu den Heilungswundern Jesu berichtet, etwa in Lydda und Joppe (Apg 9,32–43). Dies betont die Kontinuität zwischen dem Heilwirken Jesu und dem der Urchristen, das zu ihrem Auftrag gehörte (Mk 16,15–20; Mt 10,8).
Als Jude, der die Auferstehung Jesu als Erfüllung jüdischer Verheißungen verkündete, hielt Petrus nach Apg 10,13 f. an den religiösen Speise- und Reinheitsgeboten fest. Doch in einem Traum soll er Gottes Auftrag zur Tischgemeinschaft mit dem Hauptmann Kornelius, einem „gottesfürchtigen“ Römer, erhalten haben. Somit begann Petrus nach lukanischer Darstellung die urchristliche Heidenmission. Sie löste Konflikte mit anderen Judenchristen aus, die von Nichtjuden das Einhalten jüdischer Gebote verlangten. Nach Apg 10,47 und 11,17 f. verteidigte Petrus die Taufe der Nichtjuden und seine Tischgemeinschaft mit ihnen damit, dass auch sie zuvor den Heiligen Geist empfangen hätten. Dies sollen seine Jerusalemer Kritiker dann anerkannt haben.
Nachdem Pontius Pilatus als Statthalter Judäas abgesetzt worden war (36), verfolgte der jüdische König Herodes Agrippa I. (41–44) die Jerusalemer Urgemeinde und ließ einen ihrer Apostel, Jakobus den Älteren, enthaupten. Anschließend ließ er nach Darstellung der Apostelgeschichte auch Petrus verhaften und in einer Gefängniszelle angekettet zwischen zwei Bewachern festhalten. Nachts soll er durch einen Engel auf wunderbare Weise von den Fesseln befreit und aus dem Gefängnis herausgeführt worden sein, worauf er Jerusalem verließ und seine Mission außerhalb der Stadt fortsetzte (Apg 12,1–19).
Paulus besuchte die Urgemeinde nach Gal 2 erstmals um 36 und traf dort zunächst nur mit Petrus zusammen. Beim zweiten Besuch (um 48) habe er Petrus, den Herrenbruder Jakobus und Johannes als „Säulen“ (Leiter oder Älteste) der Urgemeinde angetroffen (Gal 2,9). Eine solche Zusammenkunft schildert auch die Apostelgeschichte anlässlich des sogenannten Apostelkonzils, auf dem die Heidenmission des Paulus anerkannt worden sei. Petrus trat dabei nach Apg 15,7–11 als Fürsprecher des Paulus auf, wodurch der Einklang zwischen den beiden Missionaren in dieser Frage betont wird.
Paulus berichtet im Galaterbrief jedoch von einem Konflikt mit Petrus bei einem weiteren Treffen in Antiochia am Orontes (Gal 2,11–14): Petrus habe dort als Vertreter der Urgemeinde zunächst die Tischgemeinschaft mit den neugetauften Nichtjuden geübt, also ihre Taufe anerkannt (vgl. Apg 9,32). Dann aber hätten aus Jerusalem eingetroffene Anhänger des Jakobus dies kritisiert (vgl. Apg 11,3). Daraufhin sei Petrus vor ihnen zurückgewichen und habe die Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden beendet. Dafür habe er, Paulus, ihn öffentlich gerügt und an den zuvor erreichten Konsens erinnert, Heidenchristen die Einhaltung der Speise- und Reinheitsvorschriften zu erlassen.
Paulus zeichnet damit ein anderes Bild von Petrus als Lukas. Für ihn war er ein Vertreter des „Evangeliums an die Juden“, der Nichtjuden nach der Taufe nicht als gleichwertige Gemeindeglieder akzeptiert. Dies sehen einige Exegeten als Hinweis auf Spannungen, die auch nach dem Apostelkonzil fortbestanden und die Lukas zu beschönigen versucht.
=== Notizen zum Ende ===
Zum Wirken des Petrus nach dem Apostelkonzil macht das Neue Testament keine Angaben. Fest steht nach dem Zeugnis des Galaterbriefes nur, dass er sich bald danach in der aus Juden und Heiden bestehenden Gemeinde Antiochias aufhielt und dort bei dem von Paulus geschilderten Zusammenstoß eine stärkere Stellung als dieser besaß. Die von Paulus erwähnte „Kephas-Partei“ in Korinth (1 Kor 1,12) zeigt, dass sein Einfluss über Syrien hinausreichte. Bei Paulus’ letztem Besuch in Jerusalem, der mit seiner Gefangennahme und anschließenden Abschiebung nach Rom endete, war Petrus nicht mehr dort.Das Neue Testament beschreibt weder eine Romreise des Petrus noch seinen Tod. Zwar sagt Jesus in der synoptischen Tradition (unter anderem Mk 10,39; 13,9–13) allen Jüngern Verfolgung und Tod voraus; gerade auch Petrus erklärt seine Bereitschaft dazu (Lk 22,33; Joh 13,37). Aber nur Joh 21,18 f. deutet sein besonderes Ende an:
Joachim Gnilka deutet das „Gürten“ als ein Fesseln der ausgestreckten Hände und das Führen – wörtlich „Schleppen“ – an den unerwünschten Ort als Gang des an ein Querholz Gefesselten zur Kreuzigung. Auch Jesu Kreuzestod werde im Evangelium nach Johannes als Verherrlichung gedeutet, so dass die Ankündigung (Joh 13,36) und mehrfache Aufforderung Petri zur Nachfolge (Joh 21,19.22) sich auf ein gleichartiges Martyrium beziehe. Wo dieses stattfand, sagt das Neue Testament nicht.
Udo Schnelle hält die Passage im Nachtragskapitel 21 des Evangeliums für eine Korrektur der Herausgeber, um die das Johannesevangelium im Übrigen prägende Vorrangstellung des „Lieblingsjüngers“ gegenüber Petrus zu relativieren, was den stetig wachsenden Einfluss der Petrus-Gestalt in der christlichen Tradition dokumentiere: „Wahrscheinlich mussten die johanneischen Traditionen unter die Autorität des Petrus gestellt werden, um weiter als legitime Interpretation des Christusgeschehens zu gelten.“Paulus weist im Römerbrief (um 56–60) auf Verfolgungen der dortigen Christen hin (Röm 12) und grüßt einige von ihnen namentlich; der Name Petrus fehlt allerdings. Die Apostelgeschichte, die zwar keine lückenlose Chronologie enthält, den Übergang von der Judenmission der Jerusalemer Apostel zur Heidenmission des Paulus aber ausführlich darstellt, berichtet zuletzt über dessen ungehinderte Missionstätigkeit in Rom (Apg 28,17–31). Nach Ansicht vieler Neutestamentler hätte der Verfasser der Apostelgeschichte eine Anwesenheit des Petrus in Rom sicherlich vermerkt, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre.
== Petrus zugeschriebene Schriften ==
=== Petrusbriefe ===
Das Neue Testament enthält zwei Gemeindebriefe, die Petrus als Verfasser nennen. Der 1. Petrusbrief, den der Apostel dem Briefschluss zufolge einem „Silvanus“ diktiert haben soll (1 Petr 5,12), enthält Ermutigungen für „Christen“, die sich in einer akuten, offenbar aber noch lokal begrenzten Verfolgungssituation befinden, und schließt mit einem „Gruß aus Babylon“ (1 Petr 5,13). Er galt deshalb schon im 3. Jahrhundert als in Rom verfasst, da „Babylon“ in jüdischer wie auch christlicher Literatur als Tarnname für „Rom“ im Sinne einer Chiffre für eine besonders verdorbene, sündige Weltstadt vorkommt (etwa in Offb 14,8; 16,19; 17,5.9 und anderswo). Der Brief wurde mehrheitlich auf die Zeit um 90 datiert, nicht selten unter Hinweis auf eine mögliche Verfolgung unter Kaiser Domitian (81–96); auch Graham Stanton nimmt deshalb die Jahre kurz nach dem Regierungsantritt Domitians als Abfassungszeit an. Ausmaß und Historizität dieser Verfolgung werden allerdings seit den 1970er Jahren zunehmend angezweifelt. Dietrich-Alex Koch vermutet daher die Zeit der ersten gesetzlich geregelten Christenverfolgungen unter Kaiser Trajan als Briefsituation (nach 100 bis ca. 115); Marlis Gielen hält im Gefolge von Koch die Amtszeit des Plinius als Statthalter Trajans in Kleinasien 112/113 für den terminus post quem und vermutet als Entstehungskontext des Briefes die Reisen des Kaisers Hadrian nach Kleinasien um 130. Udo Schnelle hält dagegen eine Entstehung des Schreibens in der Spätphase der Regierungszeit Domitians weiterhin für plausibel und macht sie an den zunehmend judenfeindlichen Maßnahmen des Herrschers fest, von denen „auch vereinzelt Judenchristen betroffen“ gewesen sein könnten. Ausleger, die eine Abfassung durch den Apostel Petrus selbst annehmen, datieren den Brief auf die Zeit um oder auch vor 60.Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam die – vereinzelt noch heute vertretene – biblizistische Interpretation auf, Petrus habe sich wirklich in Babylon aufgehalten, als er den Brief schrieb. Allerdings war die mesopotamische Stadt im ersten Jahrhundert schon länger zerstört. Anderweitige Hinweise auf eine Missionsreise des Petrus in die jüdischen Siedlungsgebiete des (in jüdischer Tradition auch „Babylonien“ genannten) Partherreichs gibt es nicht. Die im Grußvers 5,13 erwähnte „Miterwählte“ wird zuweilen mit der Ehefrau des Apostels gleichgesetzt, und der vom Verfasser als „mein Sohn“ bezeichnete (mit dem Evangelisten Markus identifizierte) Markus als deren leiblicher Nachkomme betrachtet. Eine unmittelbare biografische Auswertung der Angaben im Briefschluss des 1. Petrusbriefes für das Leben des Apostels Petrus gilt jedoch bibelwissenschaftlich als unergiebig, da die „Miterwählte“ auch die Gemeinde bezeichnen kann und „Babylon“ und „mein Sohn“ genauso gut in übertragener Bedeutung gebraucht sein können. Möglicherweise drangen die Namen Markus und Silvanus/Silas auch aus der paulinischen in die petrinische Überlieferung ein.Der 2. Petrusbrief ist als „Testament“ des Petrus kurz vor seinem Tod (2 Petr 1,13–15) gestaltet und bestätigt ausdrücklich die Lehren des Paulus (2 Petr 3,15). Er wird aufgrund seiner vermuteten Abhängigkeit vom Judasbrief, dessen Text fast vollständig übernommen ist, frühestens zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Apostels datiert, in der Regel aber nicht vor 110. Hinweise auf den Entstehungsort gibt der 2. Petrusbrief nicht. Die Aufnahme des Briefes in den Kanon des Neuen Testaments war wegen der ungewissen Autorschaft des Petrus lange ungeklärt und noch zu Zeiten des Kirchenhistorikers Eusebius von Caesarea nicht allgemein anerkannt.
=== Markusevangelium ===
Papias von Hierapolis (wohl um 130) führte das Markusevangelium auf einen Johannes Markus zurück, der im Neuen Testament zuerst in Jerusalem (Apg 12), dann im Umkreis von Barnabas und Paulus (Apg 15; Kol 4,10; 2 Tim 4,11; Phlm 1,24) genannt wird. Nur in 1 Petr 5,13 erscheint ein Markus als Begleiter des Petrus. Möglicherweise hat die Papiastradition hier ihren Ausgangspunkt. Papias zufolge diente Markus dem Petrus in Rom als Dolmetscher und schrieb nach den Berichten und Lehrreden des Apostels sein Evangelium auf, so dass Petrus dessen eigentliche Quelle sei. Auch bei Clemens von Alexandria († um 215) findet sich eine ähnliche Angabe. Als historisch glaubwürdig ist die Papiastradition zu Markus-Petrus nach herrschender Meinung nicht einzustufen, zumal sich keine spezifisch „petrinische“ Theologie im Markusevangelium wiederfinde. Bedeutende Gelehrte wie Martin Hengel, der 2008 erneut für die historische Zuverlässigkeit der Papiasüberlieferungen plädierte, halten dementgegen an einer petrinischen Prägung des Evangeliums fest.Die Berichte des Papias und Clemens wurden durch den Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea in seiner Kirchengeschichte im 4. Jahrhundert nach Christus überliefert und von anderen frühchristlichen Autoren wie dem Kirchenvater Hieronymus aufgegriffen. Auf diese Weise ging die Vorstellung vom Markusevangelium als einer durch Petrus autorisierten Überlieferung in die hagiographische Tradition des Christentums ein.
=== Apokryphen ===
Hinzu kommen einige Petrus zugeschriebene oder über ihn erzählende Apokryphen, die die Alte Kirche nicht in das NT aufnahm:
das Kerygma Petri (nur bruchstückhaft bekannt)
das Petrusevangelium
die Offenbarung des Petrus
die Petrusakten
die Pseudo-Klementinen. Sie enthalten eine Grundschrift aus dem 2. Jahrhundert, die als Kerygmata Petrou bezeichnet wird.Die ersten vier dieser Schriften lehnten Eusebius von Cäsarea und das Decretum Gelasianum als häretisch und nichtkanonisch ab. Dennoch waren sie vor allem im östlichen Mittelmeerraum beliebt und regten dort weitere legendarische und apokryphe Petrusschriften an. Dazu gehörten:
die Taten des Paulus und Petrus (auch: Pseudo-Marcellus-Akten)
die Taten des Petrus und Andreas
eine syrische Lehre des Simon Kepha in Rom
eine syrische Geschichte des Heiligen Petrus und Paulus
eine altslawische Vita Petri
ein lateinisches Martyrium beati Petri apostoli a Lino conscriptum
ein Auszug aus dem lateinischen Josephus (De excidio urbis Hierosolymitanae)und weitere Martyrienlegenden über Petrus, die meist auf den Petrusakten aufbauten und bis ins Mittelalter hinein ergänzt wurden.
Unter den koptischen Handschriften aus Nag Hammadi wurden zudem aufgefunden:
die Taten des Petrus und der zwölf Apostel
ein Brief des Petrus an Philippus
eine weitere Apokalypse des Petrus.Die in diesen Schriften enthaltenen Angaben über Petrus gelten meist als ahistorische, legendarische Motive, die sich weithin auf schon vorliegende Petrustexte des NT stützten und diese fiktiv ausmalten oder ihnen bewusst widersprachen.
== Möglicher Aufenthalt von Petrus in Rom ==
=== Martyrium in Rom ===
Der Erste Clemensbrief, der nach überwiegender Ansicht zwischen 90 und 100 während der Regentschaft Kaiser Domitians in Rom entstand, stellt in Kapitel 5 und 6 das vorbildliche Leiden des Petrus und Paulus heraus, dem viele Christen gefolgt seien:
Das deutet erstmals einen gewaltsamen Tod des Petrus an, ohne Rom als Ort oder die genauen Umstände zu nennen. „Zeugnis ablegen“ und dann „zur Herrlichkeit gelangen“ waren typische Motive judenchristlicher Märtyrertheologie. Die Notiz erscheint als Rückblick des Bischofs Clemens von Rom. Da es vor Domitian keine gesamtstaatlichen Christenverfolgungen gab, wird sie meist auf die auf Rom begrenzte Verfolgung unter Nero im Jahr 64 bezogen. Der katholische Neutestamentler Joachim Gnilka sieht im Briefkontext folgende Angaben von einer „großen Menge Auserwählter“, darunter Frauen, und deren „grausamen und abscheulichen Misshandlungen“ als Detailkenntnisse von Augenzeugen und schließt daraus auf eine lokale Überlieferung von der neronischen Verfolgung.Diese geschah nach Tacitus (Annales 15, 38–44) als plötzliche Reaktion auf den Bevölkerungszorn wegen des damaligen Großbrands in Rom, ohne Gerichtsverfahren und meist nicht als langwieriges Kreuzigen, sondern Ausliefern der Christen an Raubtiere, Verbrennen bei lebendigem Leib oder Ertränken. Erst danach soll Nero nach Sulpicius Severus Gesetze gegen die Christen in Rom erlassen und ihren Glauben verboten haben. Da Clemens als Motiv „Eifersucht und Neid“ und „viele Mühen“ nennt und Petrus Paulus zur Seite stellt, der als römischer Bürger rechtmäßig an den Kaiser appelliert hatte und ein Einzelverfahren erhielt, nehmen manche Forscher eher eine spätere Hinrichtung des Petrus um 67 an.
Als älteste Quelle für einen Aufenthalt von Petrus in Rom verwies Eusebius von Caesarea auf die nicht direkt überlieferte Aussage des Bischofs Dionysios von Korinth (um 165–175) über Petrus und Paulus:
Er überliefert auch die erstmals in den apokryphen Petrusakten im 2. Jahrhundert überlieferte Legende, dass Petrus auf eigenen Wunsch mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sei.
=== Erster Bischof ===
Die späteren Patriarchate von Alexandrien, Antiochien und Rom, später auch Jerusalem und Konstantinopel, führten ihre Gründung direkt oder indirekt auf Petrus zurück und beanspruchten ihn als ersten Bischof ihrer Gemeinde, um ihren Rang im Konkurrenzkampf der Patriarchate um die kirchliche Führung zu erhöhen. Das NT stützt keine dieser Bischofsansprüche, die daher als ahistorisch gelten. So widerspricht die etwa einjährige Lehrtätigkeit des Paulus in Antiochia (Apg 13,16 ff.) und sein dortiger Konflikt mit Petrus (Gal 2,11–14) dessen angeblichem Führungsamt in dieser Gemeinde.
Irenäus von Lyon (um 135–202) berichtet, die Apostel hätten die Kirche in der ganzen Welt „gegründet und festgesetzt“. Um diese Zeit wurde die schon bestehende Tradition eines Romaufenthalts von Petrus erweitert zu der Ansicht, er habe die Gemeinde in Rom als Bischof gegründet und geleitet. Dies dürfte ahistorisch sein, weil Petrus noch in Jerusalem wirkte, als Paulus nach Apg 18,1 in Korinth Christen aus Rom traf (um 50). Demnach bestand dort bereits eine von keinem der beiden gegründete christliche Gemeinde.Um 405 fasste Hieronymus (348–420) alle damals umlaufenden Apostellegenden in seiner Schrift Über berühmte Männer zusammen: darunter Romaufenthalt, Bischofsamt und gleichzeitigen Märtyrertod von Petrus und Paulus unter Nero, bei Petrus als Kreuzigung mit dem Kopf zur Erde. Er behauptete eine 25-jährige römische Amtszeit des Petrus vom Amtsantritt des Kaisers Claudius (40) bis zum Ende der Kaiserzeit Neros (68) und widersprach damit den Angaben des NT, wonach Petrus mindestens bis zum Apostelkonzil (um 48) ein Leiter der Jerusalemer Urgemeinde war (Apg 15,7) und danach in Antiochia wirkte (Gal 2,11–14). Seine Konstruktion sollte bereits Führungsansprüche des römischen Bischofs stützen.
Eusebius zitiert in seiner Kirchengeschichte (II. 1) Clemens von Alexandria (150–215):
Demnach sollen die drei „Säulen“ der Urgemeinde Jakobus den Gerechten schon früh zum alleinigen Leiter der Urgemeinde ernannt haben. Nach Hieronymus soll schon Hegesippus (90–180) davon gewusst haben. Diese Amtsübergabe hätte eine Romreise des Petrus ermöglicht. Doch wie die Nachwahl des Matthias (Apg 1,26) zeigt, sollte der Zwölferkreis anfangs als gemeinsames Leitungsorgan erhalten bleiben. Nicht Apostel, sondern die Vollversammlung aller Mitglieder der Urgemeinde wählte laut Apg 6,5 und Apg 15,22 neue Führungspersonen. Jakobus trat später nach Apg 21,15 ff. mit den „Ältesten“ zusammen als Leiter der Urgemeinde auf. Das Testimonium Flavianum überliefert, dass er im Jahr 62 vom Hohen Rat gesteinigt wurde. Seine Enkel sollen nach Zitaten Hegesipps bei Eusebius unter Kaiser Domitian verhaftet und verhört worden sein: Dann hatten sie noch zwei Generationen später eine Führungsrolle im Christentum.
Eine Führungsdynastie war den Urchristen der ersten Generation unbekannt und widersprach ihrem Selbstverständnis: Alle Christen waren gemäß Jesu Gebot des gemeinsamen Dienens ohne Rangordnung gleichermaßen die „Heiligen“ (Röm 15,25). Evangelientexte vom Rangstreit der Jünger (unter anderem Mk 10,35–45) lehnen ein Führungsprivileg für einzelne der von Jesus Berufenen ab und kritisieren den Wunsch danach als Verleugnung der Selbsthingabe Jesu. Zwar hatten die Zeugen der Ostererscheinungen Jesu die unumstrittene Autorität (1 Kor 15,3–8) als Missionare: Doch nicht sie, sondern Gemeindesynoden trafen Entscheidungen für alle (Apg 15,28 und anderswo).
Das monarchische Bischofsamt entstand nach 100; die damals geschriebenen Ignatiusbriefe kennen es noch nicht. Es setzte sich parallel zur Kanonbildung des NT bis 400 allmählich durch und prägte die orthodoxe und später katholische Staatskirche. Es reagierte auf das Wachstum des Christentums und übernahm römische Verwaltungsstrukturen.Seit etwa 1850 zweifelten Kirchenhistoriker altkirchliche Petrusnotizen zunehmend als ahistorisch an. Karl Heussi bestritt 1955 sämtliche Notizen, die einen Romaufenthalt und ein Bischofsamt des Petrus nahelegen, stieß aber bei dem ebenfalls protestantischen Kollegen Kurt Aland auf Widerspruch. Uta Ranke-Heinemann griff Heussis Kritik auf. Dagegen hält Joachim Gnilka eine Leitungsfunktion des Petrus in der Christengemeinde in Rom und seinen Tod unter Nero für möglich, ohne zugleich sein Bischofsamt und eine Bischofsnachfolge anzuerkennen. Otto Zwierlein bestreitet sämtliche literarischen Anhaltspunkte für diese These und betrachtet die gesamte altkirchliche Überlieferung dazu als fiktional. Widerspruch erhielt Zwierleins These sowohl seitens des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft als auch seitens der Sektion für Altertumswissenschaft der Görres-Gesellschaft. Die Kritikpunkte wurden wiederum von Zwierlein als unberechtigt zurückgewiesen.
=== Petrusgrab ===
Seit etwa 200 wird eine bestimmte Stelle auf dem vatikanischen Hügel als Petrusgrab verehrt. Kaiser Konstantin der Große ließ von 315 bis 349 darüber die Petersbasilika bauen, die 1507 abgerissen und durch den Bau des Petersdoms ersetzt wurde. Dabei wurde dessen Altar über dem angenommenen Petrusgrab platziert. Die Reste des Grabmonuments sind heute hinter dem Christusmosaik der Palliennische in der Confessio unter dem Papstaltar verborgen.
Das früheste mögliche Zeugnis von Grabstätten des Petrus und Paulus in Rom sah Eusebius in einem Zitat des römischen Presbyters Gaius (Kirchengeschichte II. 25,5–7):
Der griechische Ausdruck Tropaion bezeichnete allerdings meist ein Denkmal oder Siegesmal. Gaius kannte offenbar eine solche bauliche Struktur, die eventuell die angenommenen Hinrichtungsorte beider Apostel markierte, deren Märtyrertod als Sieg gedeutet wurde. Erst Eusebius deutete das Zitat 100 Jahre später als Hinweis auf Grabstätten.Pius XII. gab die Grotten unter dem Altar des Petersdoms 1940 bis 1949 erstmals für archäologische Grabungen frei. Sie ergaben, dass dort zwei parallele Grabreihen in West-Ost-Richtung am Hang eines Hügels lagen. Sie wurden beim Baubeginn der ersten Petrusbasilika zugeschüttet – ein Vorgang, den nur der römische Kaiser selbst befehlen konnte –, und die Aufschüttung wurde mit Mauern abgestützt: Dieser Aufwand sollte offenbar den Grundriss der Basilika mit einem bestimmten Punkt der Nekropole zur Deckung bringen. Unter ihrem Altar fanden sich Reste eines kleinen Säulenmonuments mit einem Vordach und einer kleinen Nische in der Wand dahinter in einem größeren Grabhof, der auf etwa 160 datiert wurde. Das Grabungsteam gab diese Funde 1951 als Entdeckung des Petrusgrabes bekannt, stieß damit unter Archäologen aber wegen mangelhafter Dokumentation und methodischer Fehler beim Graben auf Ablehnung. Daraufhin erlaubte der Vatikan von 1953 bis 1958 und nochmals 1965 weitere Grabungen, deren Ergebnisse breiter als zuvor dokumentiert und diskutiert wurden, aber auch keine Gewissheit über das Grab Petri brachten.Man fand unter dem Säulenmonument ein schlichtes Erdgrab aus dem späten 1. Jahrhundert ohne Knochen. Nur dicht um das leere Grab angeordnete Erdgräber von Christen enthielten Knochen von Personen verschiedenen Alters und Geschlechts. Die Anordnung gilt einigen Forschern als Hinweis auf eine Verehrung dieser Stelle als Petrusgrab um 150. Vermutet wird, dass die Nische seit etwa 140 einen runden Gedenkstein – cippus genannt – enthielt, der den Ort des Petrusmartyriums markieren sollte und das von Gaius erwähnte Tropaion war. Die Archäologin Margherita Guarducci deutete Inschriften in der Mauer hinter dem Säulenmonument, darunter die Buchstabenfolge PETR… EN I, als Bezeichnung von Petrusreliquien, fand damit aber kaum wissenschaftliche Zustimmung. An anderen Ausgrabungsorten in Rom fanden sich ähnliche Graffiti, die dort ein Gedenken von Christen an Petrus und Paulus als Märtyrer belegen.Die Kopfreliquien der Apostel Petrus und Paulus wurden im frühen Mittelalter in der Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateranpalast aufbewahrt, bevor sie 1367 durch Urban V. in die Lateranbasilika überführt wurden, wo sie sich bis heute im Ziborium über dem Hauptaltar befinden.
== Bedeutung ==
=== Innerhalb des Christentums ===
==== Entwicklung des Petrusprimats ====
Nach römisch-katholischer Auffassung ist Petrus der Stellvertreter Christi und als erster Bischof von Rom Leiter aller Ortsbischöfe (episcopus episcoporum). Er besetze also ein einzigartiges, durch Christus verliehenes Führungsamt über alle übrigen Ortskirchen, das auch ein Richteramt und ein autoritatives Lehramt einschließe. Er habe diese Vollmacht allen seinen Nachfolgern weitergegeben, so dass jeder römische Bischof rechtmäßiger Vorsteher (Papst) der „universalen Kirche“ sei. Diese Auffassung beruft sich primär auf das „Felsenwort“ (Mt 16,18) und das „Schlüsselwort“ (Mt 16,19), in Bezug auf das Lehramt auch auf Lk 22,32 („stärke deine Brüder“) und Joh 21,15 ff. („weide meine Lämmer“). Christus verwende beim „Schlüsselwort“ absichtlich die Wortwahl aus der Amtseinsetzung Eljakims (Jes 22,20 ff. ). So werde Petrus als Vater der Kirche („wird zum Vater“, vgl. Heiliger Vater) mit entsprechender Autorität eingesetzt. Das „Felsenwort“ sichere Petrus dabei – im Vergleich zu Eljakim – eine ungleich größere Beständigkeit seines Amtes zu.
Tertullian verstand Mt 16,18 um 220 als erster als Einsetzung in ein Bischofsamt, betonte aber, Jesus habe dieses nur Petrus persönlich gegeben, nicht allen Bischöfen oder dem Bischof Roms. Cyprian von Karthago (Über die Einheit der Kirche 4; vgl. 59. Brief) deutete den Vers um 250 als Einsetzung des Petrus zum Leiter der Kirche. Jeder Bischof, nicht nur der Roms, folge ihm in diesem Amt. Solche juristischen Deutungen blieben für Jahrhunderte seltene Ausnahmen.
Origenes und Ambrosius bezogen „dieser Felsen“ auf die angeredete Person und deuteten „Tore des Hades“ als Metapher für „Tod“. So werde Simon hier verheißen, dass er nicht vor Jesu Wiederkunft sterben werde. Dieser Deutung widersprach Hieronymus. Er bezog den Vers auf das Glaubensbekenntnis Petri, das die Kirche auch nach seinem Tod gegenüber feindlichen Mächten und Bedrängnissen, etwa Häresien, bis zu Jesu Wiederkunft vor dem Untergang schütze. Auch Johannes Chrysostomos (54. Homilie zu Matthäus, um 407) vertrat diese Deutung:
Auch Augustinus von Hippo deutete die Zusage typologisch als Vorbildfunktion für alle Gläubigen, nicht als Vollmacht für ein erbliches Führungsamt.
Calixt I. erhob als erster römischer Bischof einen gesamtkirchlichen Führungsanspruch in einzelnen Streitfragen wie dem Osterdatum, ohne diesen mit dem Felsenwort zu begründen. Den Petrusprimat vertrat um 400 erstmals der römische Bischof Damasus I., nachdem kirchliche Bezirksaufsichtsämter (Metropolitanverfassung) entstanden waren.
Die vollständige Primatsidee, die auch die „Schlüsselgewalt“ (das höchste Richteramt im Christentum) und Lehrautorität umfasste, vertrat als erster Leo I. (440–461). Petrus war für ihn nicht nur princeps apostulorum (Apostelführer), sondern auch vicarius (Stellvertreter Christi) für die gesamte Kirche. Dies galt für ihn ebenso dem successor Petri, also allen folgenden römischen Bischöfen, die die Petrusprivilegien nach antikem Erbrecht so erbten, als seien sie mit dem Erblasser identisch. Dieser Anspruch setzte sich auch nach dieser theoretischen Entfaltung nur langsam im mittelalterlichen Christentum durch.Historisch gesehen ist der Petrusprimat aus der Idee der apostolischen Sukzession hervorgegangen, die nicht mit spezifischen Bibelstellen, sondern mit kirchenhistorischen Gegebenheiten und altkirchlichen Bischofslisten wie der von Irenäus von Lyon (um 300) begründet wurde.
Während das Erste Vatikanische Konzil 1869–1870 den Petrusprimat noch um das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ergänzte, hat das Zweite Vatikanische Konzil diesen Führungsanspruch zwar bestätigt, aber durch die Idee der Bischofskollegialität relativiert. So stellte der Codex Iuris Canonici 1983 fest:
==== Reformatorische Auslegung ====
Die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen und anglikanischen Kirchen lehnen wie die orthodoxe Kirche die Lehre eines „Petrusamtes“ und damit den Führungsanspruch des Papstes und seiner Kirche ab.
Martin Luther widersprach dem Doppelanspruch des Papsttums auf ein höchstes kirchliches Richter- und Lehramt erstmals 1519 exegetisch und theologisch in einer eigenen Schrift. 1520 wies er die römisch-katholische Auslegung von Mt 16,18 f. mit Bezug auf Joh 18,36 und Lk 17,20 f. erneut zurück:
In Mt 18,18 und Joh 20,22 f. habe Christus das Amt der Schlüssel (Beichte) allen Jüngern zugesprochen und damit Mt 16,18 f. selbst so ausgelegt,
Die Schlüsselzusage begründe weder eine Sondervollmacht Petri noch eine Regierungsmacht der Apostel, sondern umfasse nur das Bußsakrament (Beichte). Sie schenke allen gläubigen Sündern Christi Trost und Gnade, die sie einander weitergeben sollten. Auch Joh 21,15 ff. („Weide meine Lämmer!“) begründe keine Herrschaft in der Christenheit, sondern beauftrage und ermutige mit Petrus alle Prediger, gegen alle Widerstände nur Christus allein zu verkünden. Dem müsse sich auch der Papst beugen. Mit seiner Anmaßung, das Petrusamt als Regierungs- und Lehramt zu deuten, stelle er sich über Gottes Wort, um es als Machtmittel zu missbrauchen. Menschen zu Ketzern zu erklären, nur weil sie dem Papst nicht gehorchten, sei gegen die Heilige Schrift gerichtet. Paulus selbst betone in 1. Korinther 3,11 : „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
Petrus ist auch nach evangelischem Verständnis ein besonderer Jünger Jesu, aber nur als Ur- und Vorbild aller gläubigen Menschen, die trotz ihres Bekenntnisses zu Christus immer wieder versagen und trotz ihres Versagens von Gottes Zusage der gegenwärtigen Vergebung und zukünftigen Erlösung erhalten. Auch der Glaube ist nach evangelischem Verständnis keine Eigenleistung des Petrus, sondern reines Gnadengeschenk der stellvertretenden Fürbitte Jesu, des Gekreuzigten (Lk 22,31 ff):
Dieses Gebet Jesu sei, so eine verbreitete evangelische Exegese, mit der Versöhnung des auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern und der dadurch bewirkten Neukonstituierung des Jüngerkreises nach Ostern in Erfüllung gegangen. Die Kirche basiere daher nicht auf einer historischen Amtsnachfolge einzelner Petrusnachfolger. Sondern alle, die wie Petrus zu Jüngern Jesu werden, seien seine Nachfolger und damit Teil der Gemeinschaft, die Christus berufen habe, seine Zeugen zu sein. Gott sei in Christus allen Menschen gleich nahe, so dass außer Christus keine weiteren Mittler nötig und möglich seien. Dieses „Priestertum aller Gläubigen“ verbot für Luther jeden Rückfall in das seit dem stellvertretenden Sühnopfer des Gekreuzigten überwundene hierarchisch-sakrale, aus dem Tempelkult des Judentums stammende Amtsverständnis.
Besonders das Matthäusevangelium lasse keinen Zweifel daran, dass die christliche Gemeinde nur auf dem Glaubensgehorsam aller ihrer Mitglieder erbaut sein könne. Denn dort wird die Bergpredigt Jesu mit dem Zuspruch eröffnet (Mt 5,14 ):
Sie endet mit dem Anspruch (Mt 7,24 ):
Demgemäß habe Petrus auch keine eigene Erstvision, sondern mit allen Jüngern gemeinsam den Auftrag des Auferstandenen erhalten, alle Getauften aus den Völkern das Befolgen der Gebote Jesu zu lehren: Die damit verbundene Zusage der Geistesgegenwart Christi sei der eigentliche „Fels“, auf dem die Kirche gebaut sei (Mt 28,19 f.). Das Wirken des Heiligen Geistes lasse sich nicht erneut in menschliche Formen und Rituale zwängen und „festnageln“.
So betont Manfred Kock für die Evangelische Kirche in Deutschland:
==== Gedenktage ====
Der Gedenktag von Petrus und Paulus ist der 29. Juni, und zwar für alle bedeutenden christlichen Kirchen wie die evangelischen, die anglikanischen, die römisch-katholische, die orthodoxen, die armenische oder die koptische. Petrus und Paulus zu Ehren ist in der orthodoxen Kirche ein leichtes Fasten, das sogenannte Apostelfasten, das eine Woche nach dem Pfingstfest beginnt und bis zu diesem Tag dauert, üblich.
Ein weiterer Gedenktag gilt dem oben erwähnten Christusbekenntnis des Petrus. Dieser Tag wird von verschiedenen christlichen Kirchen am 18. Januar begangen. Ebenfalls am 18. Januar wurde seit dem 6./7. Jahrhundert im heutigen Frankreich Kathedra Petri gefeiert, bis Papst Johannes XXIII. es im Jahr 1960 mit dem Kathedra-Petri-Fest am 22. Februar zusammenlegte. Kathedra Petri, auch Petri Stuhlfeier genannt, erinnert an die Berufung des Simon Petrus als Apostelfürst (vgl. Mt. 16,17–19 ).
Ebenfalls auf einer biblischen Episode basiert das Fest St. Peter in Ketten. Es erinnert an die wundersame Befreiung des Simon Petrus aus dem Gefängnis, in welches er nach Absetzung von Pontius Pilatus geworfen worden war (siehe (Apg 12,1–19 )).
==== Patronanzen, Schutzheiliger und Anrufung ====
Petrus ist einer der wichtigsten katholischen Heiligen und gilt als Schutzpatron
der Päpste
und der Städte Rom, Trier, Regensburg, Worms, Bremen und Posen.Weltweit sind wie der Petersdom im Vatikan zahlreiche Orte (St. Peter) und Kirchen (Peterskirche) nach Petrus benannt. Des Weiteren wurde nach ihm, dem Namenspatron des damaligen Zaren Peter I., die neu gegründete Stadt Sankt Petersburg benannt.
Petrus ist auch Schutzheiliger der Berufe Metzger, Glaser, Schreiner, Schlosser, Schmied, Gießer, Uhrmacher, Töpfer, Maurer, Ziegelbrenner, Steinhauer, Netzweber, Tuchweber, Walker, Fischer, Fischhändler, Schiffer. Außerdem schützt er die Reuigen, Büßenden, Beichtenden, Jungfrauen und Schiffbrüchigen.
Katholische Gläubige rufen Petrus als Heiligen an gegen: Besessenheit, Fallsucht, Tollwut, Fieber, Schlangenbiss, Fußleiden und Diebstahl.
==== Petrus in Volksglauben und Brauchtum ====
Allgemein verbreitet ist, Petrus als den Türsteher des Himmels anzunehmen, das bezieht sich auf den biblischen Spruch der „Schlüssel zum Himmelreich“, die auch sein Heiligenattribut bilden: Mit seinen Schlüsseln wird er als Himmelpförtner vorgestellt, der die anklopfenden Seelen der Verstorbenen abweist oder einlässt.
Im Volksglauben wird er auch für das Wetter, insbesondere das Regenwetter verantwortlich gemacht.
==== Ikonographie und Heiligenattribute ====
Petrus wird gewöhnlich als alter Mann mit lockigem Haar und Bart (Erzvater) mit den Attributen Schlüssel, Schiff, Buch, Hahn oder umgedrehtem Kreuz dargestellt. Besonders der oder die Schlüssel Petri sind sein Hauptattribut; sie erscheinen häufig als heraldisches Symbol im Papstwappen, dem Wappen der Vatikanstadt wie auch zahlreicher kirchlicher Institutionen mit Petruspatrozinium (zum Beispiel Erzbistum Bremen, Bistum Minden, Bistum Osnabrück, Erzstift Riga, Kloster Petershausen bei Konstanz, Kloster St. Peter auf dem Schwarzwald) oder aus ihnen hervorgegangener Städte, Gemeinden oder Bundesländer (zum Beispiel Bremen und Regensburg). Das Wappen der Stadt Trier zeigt ihn ebenfalls (Blasonierung): „In Rot der stehende, nimbierte und golden gekleidete St. Petrus mit einem aufrechten, abgewendeten goldenen Schlüssel in der Rechten und einem roten Buch in der Linken.“
Das Gesicht wird auch auf dem Wappen von Trzebnica (Trebnitz) abgebildet.
In der Kirchenkunst wird Petrus oft als Papst dargestellt, der die dreifache Tiara auf seinem Haupt trägt, einen Kreuzstab in der einen Hand und ein aufgeschlagenes Evangelium mit der anderen Hand hält. Nicht ungewöhnlich ist die Darstellung mit zwei Schlüssel für Binden und Lösen auf Erden und im Himmel (Matthäus 16,19 ).
Ungewöhnlich ist das Bild des Petrus mit dem Fischernetz im Gewände des Westportals der Liebfrauenkirche in Trier. Die 1991/92 geschaffene Statue ist ein Werk des Bildhauers Theo Heiermann.
=== Außerhalb des Christentums ===
Im haitianischen Voodoo wird Simon Petrus synkretistisch mit der Figur des Loa Legba gleichgesetzt, einem beliebten Loa, der als „Schlüssel zur spirituellen Welt“ (daher die Identifikation) verehrt und häufig als Papa Legba bezeichnet wird.
=== Petrus in der Kunst ===
Die bedeutendsten Petrusdarstellungen der Renaissance, die den gotischen Typus aufgreifen, stammen wohl von Raffael, etwa links in der oberen Zone der Disputa (Fresko, 1509, Stanza della Segnatura, Palazzo Vaticano) und gleich zwei Mal in Raffaels Verklärung Christi (Transfiguration, 1516–1518, Pinacoteca Vaticana) in der Mitte unter dem Verklärten und breit im linken Eck der unteren Zone sitzend, hier aber nicht mit den Himmelsschlüsseln, sondern mit dem Buch des Lebens in der Hand. Auch die apokryphe Offenbarung des Petrus spielt in den Vorzeichnungen zu dem kürzlich von Gregor Bernhart-Königstein als Weltgericht erkannten letzten Gemälde Raffaels eine bedeutende Rolle.
Bekannte Abbildung:
Das Abendmahl von Leonardo da Vinci
In der Musikgeschichte gibt es einige Werke, die sich auf Simon Petrus beziehen oder in denen er als Figur vorkommt. Hierzu gehört die Messevertonung Missa Tu es Petrus von Giovanni Pierluigi da Palestrina, die auf der auch von Palestrina stammenden Motette Tu es Petrus basiert. Ebenfalls aus der Spätrenaissance stammt die Madrigal-Sammlung Lagrime di San Pietro von Orlando di Lasso. In den Oratorien Le Reniement de Saint Pierre von Marc-Antoine Charpentier und I Penitenti al Sepolcro del Redentore von Jan Dismas Zelenka sowie in der Kantate Il pianto di San Pietro von Giovanni Battista Sammartini hat die Figur Petrus tragende Rollen. Zudem kommt Petrus in Passionsvertonungen vor.
Die Petruslegenden fanden ihre literarische Verarbeitung etwa im Roman Quo Vadis von 1895 sowie dessen gleichnamiger Verfilmung von 1951.
== Literatur ==
=== Grundwissen ===
Dietfried Gewalt: Petrus (Apostel). In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 7, Bautz, Herzberg 1994, ISBN 3-88309-048-4, Sp. 305–320.
Otto Böcher, Karlfried Froelich: Petrus. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 26, de Gruyter, Berlin/New York 1996, ISBN 3-11-015155-3, S. 263–278.
Peter Dschulnigg: Simon Petrus / Petros (des Johannes; Kephas). In: Josef Hainz u. a. (Hrsg.): Personenlexikon zum Neuen Testament. Patmos, Düsseldorf 2004, ISBN 3-491-70378-6, S. 281–285.
=== Petrus im NT und Frühchristentum ===
Oscar Cullmann: Petrus. 3. Auflage, TVZ Theologischer Verlag Zürich, Zürich 1985 (Erstausgabe Auflage 1952), ISBN 3-290-11095-8.
Rudolf Pesch: Simon-Petrus. Geschichte und geschichtliche Bedeutung des ersten Jüngers Jesu Christi. Hiersemann, Stuttgart 1980, ISBN 3-7772-8012-7.
Raymond Edward Brown, Paul J. Achtemeier, Karl P. Donfried, John Reumann: Der Petrus der Bibel. Eine ökumenische Untersuchung. Katholisches Bibelwerk / Calwer, Stuttgart 1982, ISBN 3-7668-0492-8.
Carsten Peter Thiede (Hrsg.): Das Petrusbild in der neueren Forschung. Brockhaus, Wuppertal 1987, ISBN 3-417-29316-2.
Peter Dschulnigg: Petrus im Neuen Testament. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 1996, ISBN 3-460-33122-4.
Lothar Wehr: Petrus und Paulus – Kontrahenten und Partner: die beiden Apostel im Spiegel des Neuen Testaments, der apostolischen Väter und früher Zeugnisse ihrer Verehrung (= Neutestamentliche Abhandlungen, NF, Band 30). Aschendorff, Münster 1996, ISBN 3-402-04778-0 (Habilitationsschrift Universität München 1995, VII, 416 Seiten).
Wilhelm Lang: Die Petrus-Sage. Reinwaschungen und Legendenbildungen des frühen Judentums und Christentums. Wissenschaftlicher Verlag, Schutterwald / Baden 1998, ISBN 978-3-928640-40-4.
Timothy J. Wiarda: Peter in the Gospels: Pattern, Personality and Relationship (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Band 2). Mohr Siebeck, Tübingen 2000, ISBN 3-16-147422-8 (englisch).
John P. Meier: A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus. Band 3: Companions and Competitors. New York, NY 2001, S. 221–245.
Joachim Gnilka: Petrus und Rom: das Petrusbild in den ersten zwei Jahrhunderten. Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 2002, ISBN 3-451-27492-2.
Martin Hengel: Der unterschätzte Petrus: zwei Studien. Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-148895-4.
Mathis Christian Holzbach: Die textpragmatische Bedeutung der Kündereinsetzungen des Simon Petrus und des Saulus Paulus im lukanischen Doppelwerk. In: Linus Hauser (Hrsg.): Jesus als Bote des Heils. Heilsverkündigung und Heilserfahrung in frühchristlicher Zeit. Detlev Dormeyer zum 65. Geburtstag. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2008, S. 166–172.
Jürgen Becker: Simon Petrus im Urchristentum, Biblisch-theologische Studien 105, Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 2009, ISBN 978-3-7887-2394-1.
Otto Zwierlein: Petrus in Rom. Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 96). 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Walter de Gruyter, Berlin / New York, NY 2009/2010, ISBN 3-11-024058-0.
Otto Zwierlein: Kritisches zur Römischen Petrustradition und zur Datierung des Ersten Clemensbriefes. In: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 13 (2010), S. 87–157 (online, PDF-Datei, 854 kB).
Stefan Heid (Hrsg.), mit Raban von Haehling u. a.: Petrus und Paulus in Rom. Eine interdisziplinäre Debatte. Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 2011, ISBN 978-3-451-30705-8.
Christian Gnilka, Stefan Heid, Rainer Riesner: Blutzeuge. Tod und Grab des Petrus in Rom. 2. Auflage. Schnell & Steiner, Regensburg 2015, ISBN 978-3-7954-2414-5.
John P. Meier: Petrine Ministry in the New Testament and in the Early Patristic Traditions. In: James F. Puglisi et al.: How Can the Petrine Ministry be a Service to the Unity of the Universal Church? Cambridge 2010.
Otto Zwierlein: Petrus und Paulus in Jerusalem und Rom. Vom Neuen Testament zu den apokryphen Apostelakten. De Gruyter, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-030341-4.
=== Auslegung und Bedeutung ===
Peter Berglar: Petrus: vom Fischer zum Stellvertreter. Geleitwort von Joseph Kardinal Ratzinger, Langen Müller, München 1991, ISBN 3-7844-2375-2 (römisch-katholisch).
Raul Niemann (Hrsg.): Petrus. Der Fels des Anstoßes. Kreuz Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-7831-1303-2.
Helene Hoerni-Jung: Unbekannter Petrus: Schlüssel zum Menschsein. Kösel, München 1997, ISBN 3-466-36471-X.
Christfried Böttrich: Petrus. Fischer, Fels und Funktionär. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2001, ISBN 3-374-01849-1.
Johannes Brosseder, Wilm Sanders: Der Dienst des Petrus in der Kirche. Orthodoxe und reformatorische Anfragen an die katholische Theologie. Lembeck, 2002, ISBN 3-87476-414-1.
John F. MacArthur: Petrus – Der Apostel mit dem voreiligen Mundwerk. In: John F. MacArthur: Zwölf ganz normale Menschen. 2. Auflage. Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld 2005, ISBN 3-89397-959-X, S. 43–75 (Text online PDF; 1,1 MB).
Katja Wolff: Der erste Christ. WfB, Bad Schwartau 2005, ISBN 978-3-930730-03-2.
=== Archäologie ===
Michael Hesemann: Der erste Papst. Archäologen auf der Spur des historischen Petrus. Pattloch, München 2003, ISBN 3-629-01665-0.
Engelbert Kirschbaum: Die Gräber der Apostelfürsten St. Peter und St. Paul in Rom. Nachtragskapitel von Ernst Dassmann. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1974 (Erstausgabe: Scheffler, Frankfurt am Main 1957), DNB 750148462.
=== Kunst ===
Gregor Bernhart-Königstein: Raffaels Weltverklärung. Das berühmteste Gemälde der Welt. Imhof, Petersberg 2007, ISBN 978-3-86568-085-3 (Dissertation Universität Wien 2006, 191 Seiten, illustriert Inhaltsverzeichnis, Inhalt – Verlagstext).
== Weblinks ==
QuellenBibleserver.com: Neutestamentliche Petrustexte zum Nachlesen, über 40 aktuelle und historische ÜbersetzungenLiteraturLiteratur von und über Simon Petrus im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Historische PetruskommentareGrabHelmut Bouzek (Wien): Das Grab des Petrus
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Simon_Petrus |
Heraklit | = Heraklit =
Heraklit von Ephesos (griechisch Ἡράκλειτος ὁ Ἐφέσιος Hērákleitos ho Ephésios, latinisiert Heraclitus Ephesius; * um 520 v. Chr.; † um 460 v. Chr.) war ein vorsokratischer Philosoph aus dem ionischen Ephesos.
Heraklit beanspruchte eine von allen herkömmlichen Vorstellungsweisen verschiedene Einsicht in die Weltordnung. Daraus ergibt sich seine nachhaltige Kritik der oberflächlichen Realitätswahrnehmung und Lebensart der meisten Menschen. Ein wiederkehrendes Thema seines Philosophierens ist neben dem auf vielfältige Weise interpretierbaren Begriff des Logos, der die vernunftgemäße Weltordnung und ihre Erkenntnis und Erklärung bezeichnet, der natürliche Prozess beständigen Werdens und Wandels. In späterer Zeit wurde dieser Wandel auf die populäre Kurzformel panta rhei („Alles fließt“) gebracht. Des Weiteren setzte sich Heraklit mit dem Verhältnis von Gegensätzen auseinander, wie etwa von Tag und Nacht, Wachsein und Schlafen, Eintracht und Zwietracht. Diese Gegensätze sah er in einer spannungsgeladenen Einheit stehend.
Überliefert sind von Heraklits Werk nur Zitate aus späteren Texten anderer Autoren. Diese Zitate bestehen oft nur aus einem Satz und enthalten zahlreiche Aphorismen, Paradoxien und Wortspiele. Die stilistischen Eigenheiten, die fragmentarische Überlieferung und der Umstand, dass die Echtheit einiger Fragmente strittig ist, erschweren eine präzise Erfassung seiner Philosophie. Seine Thesen waren und sind daher Gegenstand kontroverser Interpretationsversuche. Wegen der nicht leicht zu entschlüsselnden Botschaften verlieh man ihm bereits in der Antike den Beinamen „der Dunkle“ (ὁ Σκοτεινός ho Skoteinós). Seine genauen Lebensumstände sind – wie der Aufbau seines Werkes – ungeklärt, da sich die Forschung lediglich auf Informationen von nicht zeitgenössischen, teils sehr späten Autoren stützen kann, deren Glaubwürdigkeit umstritten und in manchen Fällen offensichtlich gering ist.
== Leben und Legendenbildung ==
Heraklit wurde um 520 v. Chr. in der griechischen Kolonie Ephesos in Ionien geboren, das bis in das 5. Jahrhundert unter der Herrschaft der Perser stand. Als Sohn eines gewissen Blyson oder Herakon, worüber bereits in der Antike Uneinigkeit herrschte, stammte Heraklit aus dem alten Königsgeschlecht von Ephesos. Auf das Priesteramt des Basileus, das in der Familie vererbt wurde, verzichtete er zugunsten seines Bruders. Das wurde teils als Zeichen seiner hohen Sinnesart betrachtet, teils, bei negativer Deutung der Quellenaussage, als Zeichen seines Hochmuts. Zu seinen Mitbürgern nahm Heraklit auch politisch eine deutlich ablehnende Haltung ein, wie ein Zitat zeigt, welches sich auf die Verbannung eines prominenten Lokalpolitikers bezieht: „Recht täten die Ephesier, wenn sie sich alle Mann für Mann aufhängten und den Unmündigen ihre Stadt hinterließen, sie, die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt haben mit den Worten: ‚Von uns soll keiner der Wackerste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei andern.‘“ Trotz seiner Abneigung gegen seine Mitbürger scheint er seine Heimatstadt nie verlassen zu haben.
Nur wenige der zu seinem Leben überlieferten Einzelheiten können als gesichert gelten, darunter aber immerhin die Mitteilung, dass er sein Werk ursprünglich im Artemistempel von Ephesos hinterlegte. Die spärlichen biographischen Angaben sind – beispielsweise bei Diogenes Laertios – ansonsten untrennbar mit Anekdoten verbunden, deren Wahrheitsgehalt umstritten und in manchen Fällen höchst zweifelhaft ist. Ein Großteil der angeblichen Begebenheiten wurde anscheinend in späterer Zeit aus seinen vielfältig deutbaren Sentenzen hergeleitet und zielte darauf, ihn postum der Lächerlichkeit preiszugeben. In diesem Sinne spiegeln manche Anekdoten verzerrte Aspekte seiner Äußerungen wider: Dem Fragment B 52, welches das Leben mit den unvorhersehbaren Zügen eines im Brettspiel unerfahrenen Knaben vergleicht, wird eine Episode gegenübergestellt, wonach Heraklit eine Beteiligung an der Gesetzgebung in Ephesos ablehnte, weil er das Spiel mit Kindern im Artemistempel vorzog. Ebenso ist Heraklits Tod um 460 v. Chr. von der Legende umrankt, dass er aufgrund seiner rein pflanzlichen Nahrung während seines zurückgezogenen Lebens in den Bergen um Ephesos an Wassersucht erkrankt sei. Mit seiner gewohnt rätselhaften Ausdrucksweise habe er sich den Ärzten nicht verständlich machen können. Daraufhin habe er versucht, sich selbst zu kurieren, indem er sich unter einen Misthaufen gelegt habe, um seinen wassersüchtigen Körper auszutrocknen. Diese Schilderung angeblicher Umstände seines Ablebens dürfte ihren Ursprung in Versatzstücken der Lehre Heraklits haben, wonach es für die Seele den Tod bedeutet, zu Wasser zu werden.Trotz der lokalen und zeitlichen Nähe zu Milet und seinen Naturphilosophen ist eine direkte Bezugnahme Heraklits auf die Milesier weder für Thales noch für Anaximander oder Anaximenes überliefert. Weder stand er in einem Schülerverhältnis zu einem von ihnen, noch begründete er selbst eine kontinuierliche Tradition oder eigene Lehrrichtung. Umstritten ist sein Verhältnis zu Parmenides; die Vermutung, dass er das Werk des Parmenides kannte, ist spekulativ. Sein Philosophieren, das er als Selbstsuche charakterisierte, steht somit außerhalb aller Einteilungen in Schulen und Richtungen. Philosophiegeschichtlich wurde Heraklit daher kontrovers als materieller Monist oder Prozess-Philosoph, als wissenschaftlicher Kosmologe, metaphysischer oder hauptsächlich religiöser Denker, Empirist, Rationalist oder Mystiker bezeichnet, seinem Gedankengut revolutionäre oder geringe Bedeutung zugesprochen und sein Werk als Grundlage der Logik oder als Widerspruch in sich beurteilt.
== Werk ==
Heraklit verfasste eine Schrift, die er – damaligem Brauch folgend – ohne Titel beließ; erst in späterer Zeit wurde sie als Περὶ φύσεως (Perì phýseōs, „Über die Natur“) betitelt. Sie wurde spätestens im Jahr 478 v. Chr. vollendet. Das Werk als Ganzes ist verloren, die heute vorliegenden Bruchstücke stammen aus der fragmentarischen Überlieferung bei antiken und byzantinischen Autoren. Die Vermutungen über den Umfang des Originaltextes schwanken zwischen dem Fünffachen und dem Anderthalbfachen des Fragmentbestands. Werke von griechischen und römischen Autoren wie Platon, Aristoteles, Clemens von Alexandria, Hippolyt von Rom und Diogenes Laertios enthalten meist sinngemäße, selten wörtliche Zitate aus der ursprünglichen Schrift Heraklits. Aus diesen indirekten Quellen sammelte Hermann Diels 137 Fragmente sowie mehrere Äußerungen zu Heraklits Leben. Dieses Material veröffentlichte er 1901 unter dem Titel Herakleitos von Ephesos sowie ab 1903 als Teil seines Werks Die Fragmente der Vorsokratiker. Nach dieser Ausgabe werden Heraklits Fragmente gewöhnlich zitiert. Allerdings gelten nach heutigem Forschungsstand von den Fragmenten ein bis drei Dutzend als unecht, zweifelhaft oder als lediglich schwache Paraphrasen ursprünglicher Zitate.Wegen dieser Überlieferungslage kann die ursprüngliche Konzeption des heraklitischen Werkes nicht zuverlässig rekonstruiert werden. Bereits die Frage nach der Gestalt der Schrift wurde und wird kontrovers beurteilt: So nehmen manche Philologen an, dass das Werk Heraklits eine geschlossene philosophische Konzeption sowie „einen durchkomponierten Charakter“ aufwies und „von bestimmten Grundgedanken getragen war, die ihm systematischen Zusammenhang verliehen“, auch wenn sich der ursprünglich kohärente Zusammenhang der Fragmente nicht wiederherstellen lässt. Vertreter einer gegensätzlichen Forschungsrichtung sehen die Fragmente hingegen als Überreste eines Buches, das als Aneinanderreihung von Sinnsprüchen, sogenannten Gnomen, gestaltet war, „einer vielleicht auch erst im Laufe der Zeit zusammengekommenen Sammlung knapper, pointierter, mit höchster Kunst stilisierter Aussprüche.“ Nach Gigon weisen die einzelnen Fragmente „größte Intensität und Selbstständigkeit“ auf, sodass lediglich das Anfangsfragment einen sachlichen und textlichen Anschluss anderer Sprüche erlauben würde. Geoffrey Kirk erwog sogar die Möglichkeit, dass es sich bei den bekannten Fragmenten um eine erst nach Heraklits Tod durch einen Schüler zusammengestellte Sammlung von Aussprüchen handelt; diese Hypothese fand in der Forschung jedoch kaum Anklang.
Theophrast bezeichnete – wie Diogenes Laertios berichtet – das Werk Heraklits als halbfertig und in unterschiedlichen Stilen verfasst, was er auf die Melancholie des Autors zurückführte. Diogenes Laertios merkte an, die Schrift Heraklits sei in drei Abschnitte über Kosmologie, Politik und Theologie aufgeteilt gewesen. Eine Zuordnung der einzelnen Fragmente zu diesen Teilen ist heute jedoch nicht mehr möglich, sodass die tatsächliche Form des Werkes letztlich unbekannt bleibt.
== Sprache ==
Heraklit verfasste sein Werk in ionischem Griechisch. Die Fragmente beziehen sich, oft in poetischer Ausdrucksweise, auf Erscheinungen der natürlichen Umwelt wie Sonne, Erde und Luft oder auf Aspekte der Zeit wie Tag und Nacht, Morgen und Abend; sie erläutern philosophische Gedanken anhand von Naturvorgängen (Flussfragmente), Verhaltensmustern von Tieren oder menschlichen Tätigkeiten. Heraklits Sprache ist zugleich voller Aphorismen, Paradoxien und Wortspiele, welche seine Textstücke verdichten und ihre Ergründung erschweren, sodass ihm bereits in der Antike der Beiname „der Dunkle“ verliehen wurde. Zudem bedient sich Heraklit einer Sprache, die je nach individueller Lesart vielschichtig gedeutet werden kann. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits ist die Folge einer für ihn „charakteristischen doppelbödigen Ausdrucksweise […], die der Doppelbödigkeit seiner Gleichnisse entspricht.“Beispielhaft zeigt sich das etwa im ersten Fragment der Diels-Edition (B 1): „Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis […].“ Bereits Aristoteles kritisierte, dass dabei das tatsächlich nur einmal vorkommende Wort „immer“ (ἀεί aeí) nicht eindeutig auf das davor stehende Partizip von „sein“ (ἐόντος eóntos) oder das folgende „unvernünftig“ oder „ohne Verständnis“ (ἀξύνετοι axýnetoi) bezogen ist, und warf Heraklit Ausdrucksschwäche vor. Moderne Übersetzer stehen hier vor einem Dilemma, da sie sich für eine der Möglichkeiten oder eine Kombination beider Varianten entscheiden müssen. So übersetzt beispielsweise Rapp den Begriff Logos allgemein mit „Darstellung“ oder „Erklärung“ und akzentuiert dessen allgemeine Gültigkeit: „Obwohl die hier gegebene Erklärung (lógos) immer gilt, werden die Menschen sie nicht verstehen […].“Die knappen Sprüche vereinen gelegentlich unterschiedliche Bedeutungen eines Wortes. So bedeutet beispielsweise das griechische Wort bios bei verschiedener Betonung sowohl „Leben“ (βίος bíos) als auch „Bogen“ (βιός biós), was in Fragment 48 zu einem Wortspiel genutzt wird: „Der Name des Bogens ist Leben, sein Tun Tod.“ Solche sprachlichen Entgegensetzungen und doppeldeutigen Anspielungen, gefügt in die Einheit eines Satzes, werden bisweilen auch als gewollte Spiegelungen der verborgenen Struktur des Logos interpretiert, der sich dergestalt als verschränkte Einheit von Gegensätzen erweist.Die literaturgeschichtliche Einordnung der Fragmente Heraklits hängt von teilweise konträren Einschätzungen möglicher Beziehungen zur Ausdrucksweise anderer Autoren ab. Manche Forscher vergleichen die Sprache Heraklits mit antiken Orakelsprüchen, deren Inhalt nicht eindeutig formuliert, sondern chiffriert in oft antithetischen oder paradoxen Wendungen präsentiert wird. Andere finden in der archaischen Prosa kein Vorbild für Heraklits vielseitigen Gebrauch von Stilmitteln. Ferner sind die linguistischen Merkmale seiner Sprache mit den Chorliedern der klassischen Tragödie verglichen worden.
== Philosophischer Horizont ==
Die Philosophie Heraklits wurde – etwas einseitig – bereits in der Antike monistisch dergestalt verstanden, dass alle Dinge aus einem vernünftigen Weltfeuer hervorgehen. Aus dem Feuer entsteht nach Heraklit die Welt, die in allen ihren Erscheinungsformen eine den meisten Menschen verborgene vernunftgemäße Fügung gemäß dem Weltgesetz des Logos erkennen lässt. Alles befindet sich in einem ständigen, fließenden Prozess des Werdens, welches vordergründige Gegensätze in einer übergeordneten Einheit zusammenfasst. Aus dieser Auffassung entstand später die verkürzende Formulierung „Alles fließt“ (πάντα ῥεῖ pánta rheî).
=== Erfahrung und Erkenntnis ===
Ein zentraler Aspekt der heraklitischen Philosophie ist die Unterscheidung von lebensweltlichen Erfahrungen, wie sie die Masse der Menschen (οἱ πολλοί hoi polloí, „die Vielen“) macht, und tiefer gegründeten Zugängen zur Lebenswirklichkeit, die allein zu Erkenntnis im Sinne des Logos führen. „Die Vielen“ stehen bei Heraklit in einer bestimmten Hinsicht für den Menschen, der sich nicht wahrer Philosophie widmet und daher nicht zu tieferer Erkenntnis vordringen kann. Der facettenreich wiederholte Ausgangsgedanke des heraklitischen Philosophierens, der an vielen Stellen des Werkes aufscheint, ist demnach „die Bekämpfung und zugleich kritische Charakterisierung der Denk- und Verhaltensart der Vielen“ und die Überwindung ihrer nur partiellen Erfahrungen und Teilwahrheiten in einer Gesamtsicht. In scharfer Abgrenzung gegenüber der „vor- und außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart“ derer, die die Realität nicht erkennen, beansprucht Heraklit, den Logos erkannt zu haben.Die Aussagen zu diesem Grundthema sind teils belehrender, teils polemischer Art. In dem üblicherweise als Einleitung zum Werk aufgefassten Fragment B 1, das im Stil eines Proömiums verfasst ist und das längste von allen Fragmenten darstellt, spricht Heraklit diesen Zusammenhang an:
Trotz eines prinzipiell möglichen Zugangs zu Erkenntnis sind für Heraklit die meisten seiner Mitmenschen somit Unbelehrbare, die ihre trügerische Realitätswahrnehmung selbst dann nicht hinterfragen, wenn sie mit dem Logos in Berührung gekommen sind. So wie im Schlaf die Realität verlassen und eine individuelle Welt betreten wird, konstruieren sie untereinander verschiedene Erklärungen der Wirklichkeit, ohne deren Beschaffenheit zu begreifen. Wahre menschliche Erkenntnis setzt für Heraklit voraus, den Logos als Denk- und Weltgesetz zu erkennen und das eigene Handeln und Denken an ihm auszurichten. Erst durch das Hinhören auf die Natur erschließt sich das Naturgemäße und steht so als Maßstab des Handelns in Verbindung mit dem durch den Logos vorgegebenen Vernunftgemäßen.
Die große Anzahl der Fragmente, in denen sich Heraklit um eine Abgrenzung von allgemein verbreiteten Ansichten bemüht, deutet darauf hin, dass hierin ein Kern seines Werkes liegt. Allein 13 Fragmente thematisieren das nicht-philosophische Denken anderer direkt, 14 weitere heben ausdrücklich den Unterschied zwischen dem Denken und Verhalten der „Vielen“ und demjenigen der „Wenigen“ hervor. In sechs Fragmenten richtet Heraklit zudem seine Polemik gegen Dichter und Philosophen, deren Äußerungen für ihn den Standpunkt der breiten Masse repräsentieren.
=== Werden und Vergehen ===
Seit Platon wird bei der Deutung der Philosophie Heraklits oft betont, dass die Struktur der Realität darin nicht als statisch, sondern als prozesshaft aufgefasst wird. Demnach ist die alltägliche Erfahrung von Stabilität und Identität irreführend. Die scheinbare Stabilität bildet nur die Oberfläche und ist nicht die ganze Wahrheit. Vielmehr ist Stabilität die Funktion von Bewegung. Das Grundprinzip des Kosmos ist nach Heraklit nicht – wie etwa für Parmenides von Elea – ein statisches, gleichbleibendes Sein, sondern das Werden. Während Parmenides das Nicht-Sein und damit das Werden radikal leugnet, betont Heraklit das gegensätzliche, aber in untrennbarer Einheit verschränkte Verhältnis von Sein und Werden.Die so genannten Flussfragmente, die das metaphorische Bild des Flusses mehrfach variieren, stehen für diese Gesamtheit von Werden und Wandel, die Natur und Weltgeschehen als eigentliches Seinsgesetz konstituiert:
Die spezielle ontologische und terminologische Bedeutung des Flusses ergibt sich aus einer Doppelkonstellation: Seine Identität als Objekt verdankt der Fluss dem festen Flussbett mit seinen begrenzenden Ufern, ohne die er nicht ein bestimmbares Ganzes wäre. Anderseits würde die spezifische Eigenschaft eines Flusses fehlen, wenn das Wasser sich nicht in ständiger Bewegung befände. Heraklit beschreibt somit bildlich „Selbigkeit als Beständigkeit einerseits, Herbeikommen von anderem und immer anderem andererseits“. Das Werden zerstört die Konstanz nicht, es ist vielmehr eine notwendige Bedingung dafür.
Andere Interpreten sehen in den Flussbildern eine Metapher für die Zeit, deren unwandelbarer periodischer Übergang von Tag und Nacht, Sommer und Winter vom gleichbleibenden Flussbett symbolisiert wird; wie die fließenden Wasser geht sie dahin, ohne die höher stehende konstante Ordnung zu verlassen. Die so gedeutete Zeitvorstellung vereinigt das lineare Zeitbild des ständig fortlaufenden Stromes mit periodischen Elementen, die in den topographischen Konstanten des Flusses enthalten sind. Die Beständigkeit des Flusslaufes und die Ruhelosigkeit seines Fließens, das heißt die Kombination von Konstanz und Variabilität, stellt zudem ein Beispiel für die „Einheit der Gegensätze“ dar, die ein weiteres Kernelement der heraklitischen Lehre bildet.
=== Gegensatz und Einheit ===
Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die ineinander umschlagen und sich von einem Pol zum anderen wandeln. Was auf den ersten Blick Vielfalt oder Gegensatz ist, womöglich weit auseinanderklaffend, so Christian Meier, wird von Heraklit mit aller Kraft zusammengedacht, „auf eine Weise, die man später als dialektisch verstehen konnte“, als „gegenstrebige Fügung“ oder als Abfolge ständigen Umschlagens. Die Gegensatzpaare folgen dabei nicht nur einem äußerlichen Prozess, sondern sind als Gegensätze schon ineinander verschränkt. Das Umschlagen der Gegensätze geschieht dabei wohl „gemäß Streit und Notwendigkeit“ im Spannungsverhältnis der jeweiligen Bezugspole. So stellt Heraklit etwa Tag und Nacht einander gegenüber: Sie schlagen ineinander um, indem der Tag sich in der Abenddämmerung dem Ende zuneigt und damit das Einsetzen der Nacht bedingt. Im gegenläufigen Prozess der Morgendämmerung geht aus dem Rückgang der Dunkelheit der Tag wiederum hervor.Die Pole eines Gegensatzes sind nur im Kontrast zueinander überhaupt erfahrbar und daher zeitlich nicht getrennt, sondern bestehen in Form einer logischen wechselseitigen Verschränkung zugleich. Wesentlich durch den jeweiligen Gegensatz sind manchen Fragmenten Heraklits zufolge einzelne Begriffe definiert, denn erst „Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Überfluss, Mühe die Ruhe“; Götter werden erst im Kontrast zu Menschen denkbar. Gerade im Gegensatz zeigt sich somit Einheit in Form der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen.
Etwas anders gewendet ist die von den Vielen verkannte Einheit des scheinbar Gegenstrebigen in Fragment B 51:
Das gemeinsame Merkmal von Bogen und Leier besteht in den einander gegenüberliegenden Schenkeln eines rundgebogenen Holzes, zwischen denen eine oder mehrere Saiten gespannt sind. Obwohl die jeweiligen Enden auseinander streben, bilden sie doch in beiden Fällen eine funktionsgerichtete Einheit. Andere Fragmente nennen als Beispiele von sich zur Einheit fügenden Gegensatzpaaren etwa den Kreis, auf dem Anfang und Ende zusammenfallen, oder die identische Strecke beim Auf- und Abstieg. In einem weiteren Fragment weist Heraklit auf die gegensätzliche Bedeutung des Meerwassers hin, das für Fische die Lebensgrundlage, für Menschen jedoch ungenießbar und tödlich ist. Zugespitzt begegnet dieser Gedanke in Fragment B 88:
=== Kosmos und Feuer ===
Der Begriff Kosmos steht auch im vorphilosophischen Sprachgebrauch bereits im Gegensatz zur Unordnung. Grundsätzlich kann er jede Art von Aufstellung, beispielsweise eines Heeres, oder von Gestaltung, etwa einer Sozialordnung, bezeichnen; seit den Milesiern steht der Ausdruck im philosophischen Sinn speziell für die Ordnung der Welt als eines harmonischen Ganzen. Heraklits Kosmologie ist nur schwer zu rekonstruieren. Jedenfalls spielt in seiner Vorstellung von der kosmischen Ordnung die Feuer-Theorie eine maßgebliche Rolle. In Fragment B 30 entwickelt Heraklit diese Theorie abseits der traditionellen Göttervorstellungen, wobei er von der Annahme eines Weltfeuers ausgeht. In Fragment B 31 knüpft er daran an und beschreibt den Kosmos wie folgt:
Heraklit sieht in Fragment B 30 den Kosmos als materielle Ausformung des Weltfeuers, nicht im Sinne eines Schöpfungsmythos geschaffen und von ewigem Fortbestand. Das Weltfeuer selbst schlägt dabei Fragment B 31 zufolge materiell in andere Elemente um, aus denen sich der sichtbare Kosmos zusammensetzt. Dabei wird schrittweise das heiße und trockene Weltfeuer zunächst in sein Gegenteil verwandelt, in feuchtes und kaltes Wasser. Darin verlöscht das Weltfeuer gänzlich, sodass das Wasser in diesem Stadium das einzige kosmische Element darstellt. Später geht das Meer in andere gegenteilige Qualitäten über, teils in Erde und teils in Glutwind. Der Glutwind lässt die Gestirne als sichtbares Himmelsfeuer aus verdunstetem Wasser entstehen, das von der Erde aufsteigt, sich wie in einem umgestülpten Nachen fängt und sich in Form der wahrnehmbaren Himmelskörper entzündet. Der gesamte Vorgang läuft auch in der umgekehrten Richtung ab. Dadurch entzündet sich das Feuer erneut und der Zyklus des Kosmosgeschehens kann neu einsetzen. Während aller Veränderungen bewahrt der Kosmos so wie der Fluss in den Fluss-Fragmenten ein Gleichgewicht der transformierten Anteile.
Indem Heraklits Lehre bestimmte Gestalten und Prozesse mit der Spannung von Gegensätzlichem und Gegenläufigem verbindet und in einem dynamischen Gleichgewicht aufgehoben sieht, erschließt sich auch sein metaphysisches Interesse am Feuer: „Deshalb wurde das ‚nach Maßen’ entflammende und nach gleichen Maßen verlöschende Feuer in Analogie zur bewegenden und belebenden Kraft der psyche zu einem sinnlichen Symbol für einen in sich bewegten und geordneten Kosmos und für eine Natur, die sich selbst individuell organisierte und gestaltete.“ Das aus dem Mythos geläufige Bild von der Sonne als kreisförmig sich bewegendem Feuerball konnte als sichtbares Zeichen einer unermesslichen Kraftquelle gedeutet werden, „die gleichwohl an sich hielt, und ohne die das kosmische und terrestrische Geschehen nicht zu begreifen war.“Feuer (πῦρ pŷr), das in der Tradition der ionischen Naturphilosophen als Urstoff (Arché) fungiert, ist bei Heraklit auch als Metapher für den Logos zu verstehen, dessen Dynamik die Welt durchwaltet und dessen Wandlung ihr Seinsprinzip bildet. So charakterisiert er das Feuer als „ewig lebendig“ (ἀείζωον aeízōon) und „vernünftig“ (φρόνιμον phrónimon). Heraklits Feuer-Theorie steht außerdem auch für die Vorstellung, dass sich „alles in einem“ finde, da aus allem Feuer und aus Feuer alles andere hervorgehen soll. Feuer als die kosmologisch-physikalische Form des Logos anzusehen sei denen unmittelbar einsichtig, die im Logos ein aktiv wirkendes Prinzip sehen: Wie das Feuer habe auch der Logos das Weltgeschehen zu steuern.
=== Logos und Seele ===
Der heraklitische Logos hat einen universalen, allgemein gültigen Charakter und steht allen Menschen als gemeinsame „Denkform“ und „Denkverfahren“ offen. Somit beinhaltet er sowohl einen objektiven Bedeutungsgehalt als Regelungsprinzip im Sinne eines „Weltgesetzes“, einer „Weltvernunft“ oder eines „Sinns“ als auch einen subjektiven und allgemeineren wie „Wort“, „Rede“, „Darlegung“, „Lehre“. Dadurch ist Heraklits Vortrag auch sprachlich eng mit dem Inhalt dieses Begriffs verbunden. Dieser Logos ist nach Heraklit aufgrund seiner Allgemeinheit erfahrbar wie auch in den eigenen Worten Heraklits vermittelt. Denken im heraklitischen Sinne hat daher Erkenntnis und Vollzug des Logos zum Ziel. Dennoch verlieren sich die meisten Menschen in eigenen Meinungen, ohne den allen gemeinsamen Logos begreifen zu wollen. Ob der Logos aber tatsächlich erkannt wird, ist für Heraklit nicht entscheidend, da er stets außerhalb des menschlichen Verstandes existiert und in Übereinstimmung mit ihm alle Prozesse verlaufen, wodurch im Logos „alles eins ist“ (ἓν πάντα εἶναι hén pánta eînai):
Ähnlich dem Kosmos ist auch die Seele (ψυχή psychḗ) vom Logos bestimmt und unterliegt vergleichbaren Umwandlungsprozessen. Da die Seele Anteil am Logos besitzt und dieser sie als überindividuelles, allen gemeinsames und ewiges Gesetz beherrscht und durchwirkt, kann er durch „Selbsterforschung“ erfahren werden. Damit weist Heraklit der Seele eine gewisse „intellektuelle Funktion“ zu, die weit über den älteren Sinn des Wortes hinausgeht. Allerdings ist eine „Barbarenseele“ nicht fähig, den Logos unverfälscht wahrzunehmen. Das Verständnis des überindividuellen und ewigen Gesetzes des Logos beginnt somit in der individuellen Seele, deren Gestalt, Umfang oder Potential zu bestimmen oder auszuloten sich aber als vergeblich erweisen muss:
Die Seelenlehre Heraklits lässt sich aus den wenigen einschlägigen Fragmenten nicht exakt erschließen; doch ergibt sich daraus, dass die Seele den gleichen Umschlagprozessen wie der Kosmos unterworfen ist. So wird die Seele in das gleiche zyklische Verhältnis zu den Elementen Erde und Wasser gesetzt, in dem laut Fragment B 31 das kosmische Weltfeuer zu den übrigen Elementen steht:
Dieses Fragment behandelt die Seele zwar als sterblich; da Heraklit sie jedoch zum Weltfeuer, das trotz des Umwandlungsgeschehens in seiner Gesamtheit unvergänglich ist, in Analogie setzt, scheint er ihr auch einen Unsterblichkeitsaspekt zuzuweisen. Einigen Interpreten zufolge spricht Heraklit der Seele nur in jenem Maße Unsterblichkeit zu, in dem sie sich dem Denken und damit dem Logos zuwendet, eine „bedingte Unsterblichkeit“ gewissermaßen. Für diese Deutung sprechen einige Fragmente. Möglicherweise lehrte Heraklit ähnlich wie Hesiod, dass „die Tapferen nach dem Tode mit einem neuen Leben als heroische Wächter über die Lebenden belohnt werden“. Darauf spielen vielleicht einige Fragmente an, die einem ehrenvollen Leben einen unsterblichen Lohn verheißen. Andere Interpreten meinen, dass die Seelen der Besten im Gegensatz zu denen der Vielen nicht in Wasser aufgelöst werden, sondern zunächst als körperlose Geister bestehen bleiben, bevor sie – letztlich im Sinne von Sterblichkeit – im Weltfeuer aufgehen. Eine abschließende Antwort auf diese Frage ist jedoch kaum möglich.
=== Polis und Nomos ===
Hinweise auf Heraklits politisches Denken sind in den Fragmenten nur spärlich zu finden. Dennoch sehen manche Interpreten weniger die Kosmologie, sondern gerade „das Ganze des menschlich-politischen Lebens“ als den Kern der Philosophie Heraklits. So deuten einige Fragmente an, dass Heraklits Lehre wesentlich auf die Natur des Menschen und auf die daraus sich ergebenden Gestaltungsaufgaben des sozialen Miteinanders zielte; so betont Heraklit etwa in einem Fragment, dass „seine eigene Art […] dem Menschen sein Daimon“ sei. Daimon steht dabei für das Schicksal des Menschen, das dieser nach herkömmlicher Vorstellung von den Göttern und somit von einer äußeren Instanz empfängt. Heraklit verbindet hingegen die Lebensführung des Menschen mit dessen Schicksal: „Was traditionell als Gegensatz von Göttlichem und Menschlichem, Fremdem und Eigenem erscheint, wird von Heraklit – sprachlich und gedanklich – im Menschen als Mitte zusammengefügt: Daimon und Ethos sind eins und dasselbe.“ Der Auffassung Heraklits zufolge tritt somit „an die Stelle der göttlichen Autorität das menschliche Selbst als neue Instanz.“Zugleich ist Heraklits Philosophie nicht nur auf den einzelnen Menschen gerichtet, sondern wesentlich auch auf das Gemeinwesen, wie es in B 2 als das allen „Gemeinsame“ bezeichnet wird: „Drum ist’s Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Logos allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.“ Elementare Bedeutung im politischen Leben hat damit für Heraklit das allgemein gültige Gesetz, der Nomos, als die rechtliche Grundordnung der Polis. Er stellt sie auf eine Stufe mit der militärischen Verteidigungsbereitschaft des Gemeinwesens nach außen: „Kämpfen muß das Volk für den Nomos wie für die Stadtmauer.“
Fragment B 114 setzt die Bedeutung des Nomos für die Polis ebenfalls als grundlegend voraus, wobei der Vergleich hier wiederum die Gesamtausrichtung des Denkens auf das allen Gemeinsame unterstreichen soll, das aus dem göttlichen Allgesetz folgt. Wie die Polis Stärke gewinnt aus der Orientierung der Bürger am Nomos, so gewinnt das Denken an Ergiebigkeit, wenn es sich auf das Gemeinsame bezieht.
In Fragment B 114 unterscheidet Heraklit auch zwischen der Gerechtigkeit der menschlichen Gesetze und dem göttlichen Gesetz, obwohl sie für ihn wesensmäßig zusammenhängen. Damit wird erstmals eine rationale Naturrechtslehre gedanklich vorbereitet, die über Anaximanders Postulat der Einheit von Sein und rechter Ordnung hinausgeht.Konkrete Vorstellungen Heraklits zur idealen Polis-Verfassung sind den Fragmenten nicht zu entnehmen. Wenn es in B 33 heißt, dass Gesetz auch besagen könne, „dem Willen eines einzigen zu gehorchen“, so bietet die zeitgenössische griechische Poliswelt dafür verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten: In herausgehobener Funktion mit gesetzgebungsartigen Kompetenzen tätig waren neben den Vertretern der älteren Tyrannis auch die in der Großen Kolonisation als Gründer fungierenden Oikisten und die bei inneren Poliskonflikten als Streitschlichter berufenen Aisymneten, so im Falle Solons von Athen. Welche politische Sonderrolle der von Heraklit offenbar hochgeschätzte Hermodoros in Milet gespielt hat, der nach Fragment B 121 von den Milesiern ins Exil gezwungen wurde, bleibt ebenfalls offen.
=== Gott und Mensch ===
Die theologischen Aussagen der erhaltenen Fragmente Heraklits lassen sich kaum zu einer kohärenten Lehre vereinen. Daher eröffnet sich in der Heraklit-Forschung ein weites Spektrum oft konträrer Deutungen der heraklitischen Theologie; bisweilen wird Heraklits Philosophie als radikale Kritik einer überkommenen Religion gesehen, andere Interpreten deuten sein Denken „als eine Bestätigung und Artikulation der religiösen Überlieferung“. Zu berücksichtigen ist dabei der Hintergrund seiner Unterscheidung von außerphilosophischer Ansicht und tieferer Einsicht; die Einsicht hat er möglicherweise als „Zurückführung der Überlieferung auf ihre Wahrheit“ aufgefasst.Heraklits Gottesvorstellung oder Götterbild wird in den überlieferten Fragmenten vor allem in Verhältnisgleichungen mit den Größen Affe, Kind, Mann und Gottheit fassbar:
Wie ein menschenähnlicher Affe hinter dem Menschen zurückbleibt, wird am Maßstab der göttlichen Weisheit selbst das relativiert, was dem Menschen als im höchsten Maße weise gilt, und stößt an seine Grenze; jedoch leugnet Heraklit damit nicht die Existenz Gottes oder mehrerer Götter.
Weitere Einschätzungen des Verhältnisses von Göttern und Menschen enthalten die beiden folgenden Fragmente:
Die transitive Verwendung von „leben“ und „sterben“ deutet nach Held an, dass Heraklit das gesamte Leben als Sterben auffasst, wobei die menschliche Sterblichkeit zur göttlichen Unsterblichkeit in Kontrast tritt, sie als ihr Gegenteil erst bedingt und damit vollzieht oder erst denkbar macht. Das eigentliche Verhältnis von Gott und Mensch zeigt sich in diesem Verständnis des einen Status verleihenden Kampfes, aus dem sich der „Rangunterschied zwischen Göttern und Menschen […] ergibt: Offenbar lassen sich diese Gruppen nur durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu dem Tod, mit dem sie im Kampfe konfrontiert werden, unterscheiden. Die Götter gehen aus dem Kampfe als die wesenhaft vom Tode nicht Betroffenen hervor; die Menschen hingegen erweisen sich als die Sterblichen […].“ Daher findet auch jede Erkenntnis des Menschen an seiner Sterblichkeit ihre Grenze und unterscheidet sich somit von göttlicher Weisheit, mit der sie Heraklit generell parallelisiert oder zumindest vergleicht.Wenngleich der heraklitische Gottesbegriff oft in unbestimmter Weise formuliert ist, führt doch ein weiteres Fragment zu einem konkreteren Verständnis der Theologie Heraklits:
Held sieht in diesem Fragment einen Ausdruck des typisch griechischen Gottesbildes als Prädikatsbegriff, also der Vorstellung, dass das Göttliche unterschiedliche Situationen durchdringt und sich dadurch für den Menschen erfahrbar macht, wodurch „Tag“ und „Nacht“ und andere lebensweltliche Umstände jeweils zu „dem Gott“ werden. Diese sind dabei Erscheinungsweisen des einen Gottes, der als Substrat unverändert bleibt, jedoch in einer anderen Situation erscheint und durch unterschiedliche Wahrnehmungsweisen aufgefasst wird. Die Pluralität der jeweiligen Göttergestalten beruht daher auf der Erfahrung des einen Gottes in vielfältigen Situationen, indem das Göttliche selbst gerade in seiner Differenz und Überlegenheit, die sich aus den menschlichen Eigenschaften ergibt, erfahren wird.
=== Weisheit und Unverstand ===
In der Interpretation Klaus Helds geht aus zahlreichen Fragmenten hervor, dass Heraklit Weisheit in vollkommener Form nur den Göttern zuschreibt. „Das allein Weise“ (τὸ σοφόν μοῦνον to sophón moúnon) ist das höchste Denkbare; sein Rang ist allenfalls der herausragenden Stellung des Zeus in der griechischen Volksreligion vergleichbar. Theoretisch ist es zwar „allen Menschen […] gegeben, sich selbst zu erkennen und klug zu sein“, doch gelingt es nur wenigen, Weisheit zu erlangen:
Wenn das Eine Weise sich dagegen sträubt, Zeus genannt zu werden, liege das daran, vermutet Christian Meier, dass mit dem Namen eine Einschränkung verbunden sein könnte. Meier weist darauf hin, dass Heraklit an anderer Stelle sagt, das Weise als das Eine bestehe darin, das Denken zu verstehen, „das alles durch alles steuert; offenbar eine Intelligenz, die verschiedenen Kräften derart innewohnt (oder sie derart bestimmt), daß sie sich gegenseitig lenken, wohin sie sollen“:
Das Weise, folgert Christian Meier, das nach Heraklit jedenfalls dem alles umfassenden Gott eigen sei, könne, „wenn sie dessen Intelligenz verstehen, offenbar auch den Menschen eigen sein.“ Tatsächlich ist Weisheit unter Menschen für Heraklit allerdings ein rares Gut.
Bei seiner Kritik falsch verstandener Weisheit wendet sich Heraklit auch gegen bekannte Persönlichkeiten; so wirft er Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios vor, ohne Verstand lediglich „Vielwisserei“ (πολυμαθίη polymathíē) betrieben zu haben, statt zu wahrem Wissen vorzudringen. Zwar bescheinigt er seinem Zeitgenossen Pythagoras, mehr Studien betrieben zu haben als irgendein anderer Mensch; jedoch beschuldigt er ihn der „Künstelei“ und nennt ihn spöttisch einen „Oberschwindler“ (kopídōn archēgós). Den „Lehrer der meisten“, Hesiod, trifft die Kritik, die elementare Einheit der Gegensätze Tag und Nacht nicht erkannt zu haben. Ein Lob spendet Heraklit neben Hermodoros einzig dem Staatsmann Bias von Priene, mit dem er die Geringschätzung der breiten Masse teilt. Ein auf Bias gestütztes Zitat findet sich in Fragment B 104, in dem Heraklit polemisch über die Aöden und späteren Rhapsoden spottet:
Insbesondere von Homer distanziert sich Heraklit scharf. Der Dichter habe es ebenso wie Archilochos verdient, aus musischen Wettbewerben hinausgeworfen und verprügelt zu werden. Der Hintergrund dieser Polemik erschließt sich mit Blick auf den Ilias-Vers „Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen“, gegen den Heraklit ausdrücklich Stellung bezieht.
== Rezeption ==
Im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte wurden die Gedanken Heraklits nicht bloß überliefert, sondern häufig auch von denen, die sich auf ihn beriefen, für eigene philosophische oder theologische Zwecke herangezogen, umgedeutet und dadurch verzerrt. Manche späteren Denker betonten einseitig einen speziellen Aspekt seiner Lehre, um ihn so zum Vorläufer ihrer eigenen Philosophie zu machen. So gilt Heraklit seit Platon als Vertreter eines eigenständigen philosophischen Systems, das alle Phänomene auf einen steten Wandel reduziere und als neue Errungenschaft ein Prinzip postuliere, welches unterschiedlichste Gegensätze vereine. Er stehe für die Idee eines vernunftbegabten Feuers als Ursprung aller Dinge. Man sieht ihn als ersten europäischen Philosophen an, der von physikalischen Theorien auf metaphysische, epistemologische und ontologische Sachverhalte geschlossen und in allem seine Theorie der dauernden Spannung von Gegensätzen zur Geltung gebracht habe.
=== Antike und Mittelalter ===
Für den Ruf des „Dunklen“, den Heraklit bereits in der Antike besaß, steht als erster Anhaltspunkt eine Äußerung des Sokrates bei Diogenes Laertios. Zu seinen Heraklit-Studien befragt, soll Sokrates geantwortet haben: „Was ich verstanden habe, ist ausgezeichnet – ich glaube auch das, was ich nicht verstanden habe, jedoch bedürfte es dazu eines delischen Tauchers“. Damit meinte er besonders geübte Taucher der Insel Delos und spielte zugleich auf das dortige Orakel des Apollon an. Die Deutungsprobleme, die Heraklit aufwirft, ergeben sich also nicht allein aus der fragmentarisch-ungeordneten Überlieferungssituation der Neuzeit, sondern bestanden bereits in der Antike, als Heraklits Werk als eine von wenigen vorsokratischen Schriften wenigstens bis in die mittlere Kaiserzeit im Original zugänglich war.
Die Umdeutung und Einbeziehung heraklitischer Elemente in eigenes philosophisches Gedankengut setzt bereits bei Platon und Aristoteles ein. Während Aristoteles in Heraklit einen Vorläufer seiner Metaphysik sah, nahm Platon ihn für die Vorgeschichte seiner Ideenlehre in Anspruch und charakterisierte Heraklits Denken als ein auf ewiges Werden und Fließen gerichtetes, womit eine Deutungstradition begründet wurde, die noch bei Nietzsche nachklingt:
Der erste Teil dieses Zitats aus Platons Dialog Kratylos gilt als unecht. Der zweite Abschnitt ist entweder eine platonische Umdeutung oder basiert auf einem anderweitig nicht bezeugten Spruch.
Im Kratylos werden zudem Philosophen erwähnt, die „mit Heraklit geglaubt haben, alles Seiende gehe, und es bleibe nichts fest.“ Ähnlich spricht Platon im Theaitetos von „Freunden des Heraklit“ oder „Herakliteern“; jedoch ist kaum glaubhaft, dass es sich hierbei um einen Schülerkreis im engeren Sinne gehandelt hat.
In der römischen Kaiserzeit wurde Heraklit oft erwähnt und zitiert, wobei sich Authentisches mit Erfundenem mischte. Mehrere fingierte Briefe von ihm und an ihn, die sich damals im Umlauf befanden, lassen erkennen, dass Kyniker versuchten, aus ihm einen Vorläufer ihrer Richtung zu machen. Stoiker wie Seneca, Neupythagoreer, Platoniker (besonders Plutarch) und der frühe Kirchenvater Clemens von Alexandria beriefen sich auf ihn. Da es keine einheitliche Traditionslinie oder Schule Heraklits gab, konnten unterschiedliche Strömungen ihn für ihre Anliegen in Anspruch nehmen, doch entstand aus derartigen einzelnen Rückgriffen keine Kontinuität. Lukian von Samosata sah Heraklit als „weinenden Philosophen“, der die Torheit der Menschen beklagt habe, im Gegensatz zu Demokrit als dem über die menschliche Ignoranz „lachenden Philosophen“. Der Skeptiker Sextus Empiricus kritisierte Heraklit und warf ihm „dogmatische“ Aussagen vor.Im Mittelalter kannte man nur noch einzelne Legenden und Fragmente. Während man im Byzantinischen Reich gerne das wenige, was man von Heraklit wusste, zitierte, insbesondere in Scholien zu Werken antiker Autoren, war er der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Westens jahrhundertelang so gut wie unbekannt; erst im 12. Jahrhundert taucht bei Bernardus Silvestris ein Heraklit-Zitat auf. Im 13. Jahrhundert begannen sich jedoch die scholastischen Gelehrten für ihn zu interessieren; Albertus Magnus und Thomas von Aquin verfügten bereits über einige Kenntnis heraklitischer Ideen und setzten sich damit auseinander. Ferner erwähnte Dante Heraklit zusammen mit anderen antiken Philosophen in der Divina commedia.Im 15. Jahrhundert entwickelte Nikolaus von Kues die theologische und erkenntnistheoretische Formel der coincidentia oppositorum, des Zusammenfalls der Gegensätze, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Gegensatzdenken Heraklits oft mit diesem in Zusammenhang gebracht wird. Nikolaus erwähnt jedoch Heraklit nicht, und für die Vermutung, dass er von ihm beeinflusst sei, gibt es kein konkretes Indiz.
=== Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert ===
Indirekt fand heraklitisches Gedankengut Aufnahme in den Deutschen Idealismus, zumeist gestützt auf erste Versuche einer Sammlung der Fragmente, wie beispielsweise die Poesis philosophica des Henricus Stephanus von 1573, nach der auch noch Hegel Heraklit zitierte. Den von Lessing in Bezug auf Spinozas Philosophie geprägten Begriff des Ἕν καὶ Πᾶν (hén kaì pân, etwa: „Eins und Alles“), übernahm Hölderlin als Ausdruck des Pantheismus. In der letzten Fassung des Hyperion formulierte er das Ineinander komplementärer Gegensätze „als simultane Verbundenheit des Widerstreitenden“. Dabei berief er sich auf „das große Wort, das ἑν διαφερον ἑαυτῳ, das Eine in sich selber unterschiedne, des Heraklit“: „Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.“ Die seit Platon gängige Interpretation Heraklits als eines Denkers, der hauptsächlich das Werden und den Prozess der Veränderung thematisierte, wirkte auch bei Hegel und Nietzsche im 19. Jahrhundert nach. So sah Hegel in Heraklit den Protagonisten eines in der Hegelschen Dialektik gründenden Bewegungsgesetzes und bekannte: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“Zugleich erschienen neue Textausgaben. So publizierte Friedrich Schleiermacher 1808 seine damals wegen ihrer Vollständigkeit geschätzte Arbeit Herakleitos der dunkle, die 73 Fragmente enthält. Er bemühte sich darum, Heraklits Philosophie „aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“ zu rekonstruieren, und gab das Ermittelte heraus, „soviel man davon wissen und nachweisen kann“.Auch bei Goethe spiegelt sich von der Zeit des Werther bis in das Spätwerk der Einfluss Heraklits wider. Sprachlich äußert er sich in metaphorischem Umgang mit dem Gegensatzprinzip in Oxymora wie „fern und nah“, „lebeloses Leben“ oder „geeinte Zwienatur“. Inhaltlich nähert sich Goethe Heraklit vor allem in dem Bestreben, Naturbildungen als Phänomene zu begreifen, die auf eine verborgene Gesetzlichkeit verweisen. Auch in der Vereinigung konstruktiver wie destruktiver Elemente seines Naturbildes lässt Goethe Werther Gedanken formulieren, die an die Flussfragmente erinnern:
Nietzsche meinte in Heraklit einen „Vorfahren“ zu erkennen, „in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst“ und dessen Gedankengut er als „das mir Verwandteste“ anerkannte, „was bisher gedacht worden ist.“ In einem geplanten Philosophenbuch, dessen tatsächlich realisierte Passagen er in das Fragment Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen übernimmt, zeigt Nietzsche gerade zur Persönlichkeit Heraklits eine Nähe, die besonders in der Schrift Also sprach Zarathustra in eine Identifikation mündet. Nietzsche identifiziert sich mit dem Protagonisten Zarathustra, dessen Persönlichkeit und Auftreten stark unter dem Einfluss Heraklits steht. Im Zarathustra greift er zahlreiche Motive Heraklits auf; keine andere Quelle schöpft er dort so intensiv aus wie diese. In der Wahl der Metaphern sind deutliche Parallelen erkennbar, beispielsweise in der Lehre vom Übermenschen, die analog zur Affe-Mensch-Gott-Proportion der heraklitischen Fragmente entwickelt wird:
Philosophiehistorisch ist Nietzsche der gängigen Meinung der Philologie seiner Zeit verhaftet, die Heraklit in platonischer Tradition als Philosophen des Werdens, der periodischen Weltuntergänge und des Kampfes der Gegensätze interpretierte. „Im Zuge der Umwertung und Umstülpung der unter platonischem Vorzeichen stehenden Metaphysik“ stellt Nietzsches Hermeneutik „das Werden über das starre, einer fundamentalen Illusion entspringende Sein“ und sieht „Heraklit als die Vorweg-Widerlegung Platons“ an. Zugleich rezipiert Nietzsche die von Platons Einfluss umgestaltete Flusslehre und verbindet sie mit der aus anderen antiken Traditionen stammenden Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die ihm heraklitisch erscheint und die er mit der Lehre seines Zarathustra in Einklang zu bringen versucht. Nach Nietzsches Interpretation verleugnet der heraklitische Begriff des Werdens die „eigentliche Existenz“ des Seienden; die Dinge sind lediglich „das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs, im Kampf der entgegengesetzten Qualitäten.“ So lässt er Heraklit ausrufen:
Heraklits Bedeutung als Impulsgeber der Philosophiegeschichte betonten Hegel und Nietzsche aus unterschiedlicher Perspektive. So erscheint Heraklit bei Hegel „als der früheste Vorläufer der gegenwärtig erreichten, abschließenden höchsten Vollendung des Denkens“, bei Nietzsche jedoch „als der früheste Vorbote seiner tiefsten Krise; die Vollendung beruht auf dem vollständigen Erscheinen des von Heraklit ahnungsweise Angedeuteten, die Krise auf seiner vollständigen Vergessenheit im gegenwärtigen Zeitalter.“
=== 20. und 21. Jahrhundert ===
==== Martin Heidegger ====
Martin Heidegger studierte Heraklit intensiv und stellte ihn in den Zusammenhang seiner eigenen Philosophie. In den 1930er Jahren bestimmte Heidegger „Logik“ im Sinne des Logos-Begriffs Heraklits, der „das Sein des Seienden“ bezeichne. Heidegger führt seinen Begriff von Wahrheit als alétheia (Unverborgenheit) auf Heraklit zurück und sieht die diesem Wort entspringende „Grunderfahrung“ bei Platon bereits „im Schwinden“. Für Heidegger „gab es vor Sokrates noch keine Metaphysik; das Denken des Heraklit und Parmenides ist ‚Physik‘ im Sinne eines Erdenkens des Wesens der physis als des Seins des Seienden“. Heidegger wendet sich gegen „die auch von Nietzsche selbst in Umlauf gebrachte“ Interpretationshypothese, „das Sein ‚sei‘ das ‚Werden‘“. In seiner Heraklit-Deutung wollte Heidegger über den Dualismus von Werden und Sein hinausgelangen. Demnach beruht seine Heraklit-Rezeption wesentlich auf der Logos-Interpretation als einer Auslegung der phýsis: „Im ursprünglichen Gebrauch des Wortes phýsis ist nach Heidegger noch etwas von dem Verhältnis zu hören, das in dem Wort a-létheia, Un-verborgenheit, von den Griechen zwar benannt, aber nicht eigens bedacht wurde.“ Die Entbergung des Verborgenen ist somit Heraklits Leistung, die er ja auch selbst beanspruchte. Heidegger war der Meinung, dass „der Beginn der Denkgeschichte mehr war als ein später überholter Ausgangspunkt, nämlich der Anfang als arché, d. h. als stiftender und damit bleibender Anfangsgrund“. In Heraklits Aussage (B 123), dass die Natur sich gern verbirgt, sei das Entwicklungsgesetz des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens bereits enthalten. Dies begründe die einzigartige Position Heraklits: „Sein Denken hat eine ‚Sache‘ zum Thema, deren Verfassung zugleich das gesamte geschichtliche Schicksal des Denkens überhaupt prägt.“
==== Erich Fromm ====
Der Psychoanalytiker Erich Fromm analysierte 1956 in Die Kunst des Liebens Positionen Heraklits, dessen paradoxe Logik er als Alternative zur aristotelischen widerspruchsfreien Logik betrachtete. Er zog auch einen Vergleich mit der Lehre Zhuangzis.
==== Hans-Georg Gadamer ====
Das Spektrum der modernen Heraklit-Deutungen ist weit. In der deutschsprachigen Literatur gehört diejenige Hans-Georg Gadamers zu den profiliertesten. Für ihn stehen Denken und Werk Heraklits entschieden nicht in der Tradition der Ionischen Naturphilosophie. Gadamer weist darauf hin, dass schon in der Antike die Deutung vorgeschlagen wurde, dass Heraklits Schrift weniger auf die Natur und die kosmologischen Zusammenhänge ziele als vielmehr auf den Bürgerverband, auf die politeia und ihre mentale Ausrichtung. Diese Auffassung stützt sich auf die Beobachtung, dass Heraklits naturbezogene Aussagen oft so naiv wirken, dass ihnen nicht die hauptsächliche Bedeutung zuzukommen scheint. So urteilte schon der Grammatiker Diodot, der diesen Äußerungen Heraklits lediglich einen paradigmatischen, beispielhaft veranschaulichenden Charakter zuwies und die Verfassung des Staates für das eigentliche Thema seiner Schrift hielt.Als Ausgangspunkt seiner Interpretation wählt Gadamer die Formel „Eins ist das Weise“ (ἓν τὸ σοφὸν hen to sophón), denn er deutet das Bestreben, Unterschiedliches in einer Einheit zu denken, als die in mehreren Fragmenten wiederholte zentrale Botschaft Heraklits. Für das Gegensatzpaar „wachen und schlafen“ stellt das Individuum selbst als Wachender oder Schlafender das Eine bzw. den Einen dar, der „am Leben ist“. In Fragment B 26 wird dieses Einssein mit dem Feuer verbunden: „Der Mensch in der Nacht zündet sich ein Licht an, wenn die Augen erloschen sind. Lebend rührt er an den Toten, erwacht rührt er an den Schlafenden.“ Dieses Anzünden des Lichts in der Nacht interpretiert Gadamer als ein Erwachen des Bewusstseins, wenn man die „volle Aussagekraft“ des Logos darin sieht, dass „nicht das Licht des Traumes, sondern die Helligkeit, die wir ‚Bewusstsein’ nennen, hier gemeint ist“. Dieses Entfachen des Vernunftfeuers als „Zu-sich-Kommen“ des Bewusstseins ist nach Gadamer kein rein individueller Vorgang, sondern ein kollektiver „Weg zur Teilhabe am gemeinsamen Tage und der gemeinsamen Welt.“
==== Klaus Held ====
Die Gegenüberstellung von Ansicht und Einsicht als „kritische Selbstunterscheidung des Denkens von der vor- und außerphilosophischen Denk- und Verhaltensart“ ist für Klaus Held „der Grundgedanke Heraklits, von dem her sich alle seine weiteren Gedanken entfalten lassen“ und der „im Wesen seiner Auffassung vom Denken begründet“ ist. Als philosophiegeschichtlichen Standort Heraklits bestimmt er eine Mittelposition zwischen dem vorphilosophischen Denken des archaischen Griechentums einerseits, wie es in manchen Fragmenten wie B 24 und B 25 mit der Behandlung von Tod und Ehre nachhalle, und dem metaphysischen Denken Platons andererseits, bei dem der Mensch über seine unsterbliche Seele Anteil an der Ewigkeit der Ideen erlangen kann.Ein spezifisches Moment der phänomenologischen Heraklit-Interpretation Helds liegt in der Verknüpfung mit der von Husserl und Heidegger philosophisch reflektierten subjektiven lebensweltlichen Zeiterfahrung. Den Ansatzpunkt dafür bei Heraklit bilde das Umschlagen (μεταπίπτειν) der Gegensätze. Eine Erwartung oder Erinnerung habe selbst den Charakter der Gegenwart, der noch ausstehenden oder der schon entschwundenen: „Es ist die Erfahrung von der einen und einzigen Gegenwart, in der beständig verbleibend ich alle meine Erfahrungen mache. Zu der Weise, wie ich mir dieser Gegenwart bewusst bin, gehört immer ein unthematisches Miterfassen des Kommens und Gehens der Gegenwart.“Als weiteren Schwerpunkt der heraklitischen Lehre nennt Held die Auseinandersetzung mit dem „lebensverfallene(n) und todesvergessene(n) Verhalten der Vielen“. Das Leben als Verlauf zwischen Geburt und Tod sei nicht nur von diesen zeitlichen Grenzen bestimmt, sondern „in jeder seiner Phasen gebürtig und sterblich“. Wachen und Schlafen, Jugend und Alter stellten über das landläufige Verständnis hinaus „Abwandlungen derjenigen beiden Grundweisen des Lebend-sich-Befindens dar, die bereits durch die Ausdrücke ‚Leben’ und ‚Tod’ bezeichnet werden. […] Alle drei Gegensatzpaare variieren den Grundgegensatz des Erneuernd-sich-Öffnens und des Absterbend-sich-Verschließens.“
==== Jürgen-Eckardt Pleines ====
Im Gegensatz zu Held betrachtet Jürgen-Eckardt Pleines den heraklitischen Logos nicht als nur für eine Elite erkennbar, sondern betont, dass ein allgemein zugängliches Wissen gemeint sei. Philosophiehistorisch sieht Pleines in der Konzeption Heraklits Parallelen zur modernen Spieltheorie und hält sie für den Entwurf einer „in sich gespannten Systemtheorie“, die auf dem Widerspruch als einem konstitutiven „Prinzip alles gegenständlichen und gedachten Seins“ aufbaue.
Pleines geht in seiner Interpretation vom Begriff der Harmonie aus, der bei Heraklit das „wechselseitige Verhältnis […] an sich selbstständiger und entgegengesetzter Momente, die sich in einem ausbalancierten, aber ebenso ambivalenten Gleichgewicht“ halten, bezeichne. Harmonie beschreibe somit bei Heraklit das ausgewogene Verhältnis von konträren Kräften in einem ständigen Widerstreit (eris) der Dinge. Diesem „relationalen Seinsverständnis“ entspreche auch die Spanne zwischen beiden Polen, „der harmos, der als ‚Fuge’ genauso wie der logos eine verbindende Gegenbewegung in der Sache wie im Denken signalisierte“. Demgemäß galt das Augenmerk des Philosophen besonders Aussagen über Objekte oder Phänomene, die Kennzeichen ihrer gegenseitigen Beziehung und Gegensätzlichkeit aufweisen und über diese vermittelnde Differenz, bei Pleines „Intervall“ genannt, definiert werden. Für das Verständnis von Harmonie als Ausdruck innerer Spannung verweist Pleines auf die Welt des Klangs. Töne können stets als untereinander differenziert wahrgenommen werden, doch eine in ihre Einzelbestandteile aufgelöste Melodie ist nicht mehr als solche erkennbar. Diese Auffassung der Tonkunst als Widerstreit von Momenten innerhalb eines dem Wandel unterworfenen Gefüges sei von Heraklit auf alles vernunftgemäße Wissen übertragen worden.Heraklits Denkart habe nicht nur mit den herkömmlichen Schöpfungsvorstellungen gebrochen, sondern „widersetzte sich auch jenen Erklärungsversuchen der Welt, die allein mit einer Folge von Zeitmomenten rechneten, um mit ihrer Hilfe Kausalgesetze oder Finalreihen zu formulieren“. Die bereits bei Anaximander angelegte Neuorientierung des Denkens habe zu einer Abkehr von der Suche nach einem Urelement geführt und in der Metaphysik das Augenmerk auf das Problem der Verhältnisse unter den Objekten gelenkt.
==== Deutungen der Lehre Heraklits vom Krieg und Streit ====
Die Thesen Heraklits, der Krieg sei „Vater“ und „König“ aller und alles geschehe auf rechte Weise „gemäß dem Streit“, sind in der Forschung unterschiedlich gedeutet worden. Olof Gigon bezog in seiner 1935 veröffentlichten Basler Dissertation diese Aussagen konkret auf militärische Auseinandersetzungen; es gehe um Verherrlichung des Heldentums. Für Heraklit habe der Krieg Bewegung – im Gegensatz zu der von Homer gewünschten Ruhe – bedeutet. „Das wahre Leben ist das Hin und Her und Durcheinander des Krieges, das andere ist nur Wahn, es zu wünschen verhängnisvollste Torheit, da man damit die Zersetzung, das Verderben wünscht.“ Auch William K. C. Guthrie hob den Gegensatz zwischen Ruhe und Bewegung hervor. Heraklit habe Ruhe mit dem Ende der Anstrengung, die sich im beständigen Kampf der Gegensätze zeige, mit Tod und Zerfall verbunden. Daher habe er gemeint, das Ausruhen im Frieden solle man den Toten überlassen. Aus dieser Sicht habe er gegen das Ideal einer friedlichen und harmonischen Welt rebelliert, das er als wirklichkeitsfremde Verkennung des Weltcharakters betrachtet habe. Karl Popper fasste den „Krieg“ ebenso wie Gigon im wörtlichen Sinne auf. Er meinte, Heraklit habe als „typischer Historizist“ „im Urteil der Geschichte ein moralisches Urteil“ gesehen; daher habe er behauptet, dass „das Ergebnis des Krieges immer gerecht sei“. Er habe einen ethischen Relativismus vertreten, was ihn jedoch nicht gehindert habe, „eine romantische Stammesethik“ zu entwerfen und die „Überlegenheit des großen Mannes“ zu verkünden.Die Alternative zu einer militaristischen Auslegung ist die kosmische, naturphilosophische Deutung von Heraklits „Krieg“. Sie hat in der Forschung zahlreiche Befürworter gefunden. Nach dem Verständnis von Hermann Fränkel ist mit dem „Krieg“ die Kraft gemeint, die alles erzeugt und verordnet, und das ist die Gegensätzlichkeit an sich. Für diese habe Heraklits Sprache kein Wort gehabt, daher habe er den Ausdruck „Krieg“ gewählt. Gregory Vlastos hielt Heraklits Aussagen über Krieg und Streit für dessen Antwort auf die Lehre Anaximanders, der Streit mit Ungerechtigkeit assoziiert und die Gerechtigkeit mit der Beseitigung des vom Streit erzeugten Unrechts gleichgesetzt hatte. Anaximander hatte gemeint, es gebe trotz der Konflikte eine gerechte Ordnung. Ein solches Nebeneinander von Recht und Unrecht sei für Heraklit ein unannehmbarer „Kompromiss“ gewesen. Sein einheitliches Verständnis der Natur habe ihn zwangsläufig zur Annahme geführt, dass alles entweder gerecht oder ungerecht sein müsse. Daher habe er den Streit, den er für ein universelles Prinzip hielt, im Gegensatz zu Anaximander positiv bewertet und mit der Gerechtigkeit gleichgesetzt. Auch für Charles H. Kahn ist Heraklits Sichtweise eine Frucht seines monistischen Weltbilds. Seine Polemik richte sich gegen die Position Hesiods, der einen „guten“ Streit – kreativen Wettstreit – und einen „schlechten“, der zu Krieg, Gesetzlosigkeit und Verbrechen führe, unterschieden habe. Dieser Auffassung habe Heraklit sein „kosmisches“ Modell entgegengesetzt, in dem Konflikt nicht manchmal gut und manchmal schlecht, sondern die alles hervorbringende und umfassende Ursächlichkeit sei. Wolfgang Schadewaldt wies darauf hin, dass die Charakterisierung des Krieges als Vater und König „oft zitiert, aber nicht immer verstanden“ sei. Der Krieg oder Streit herrsche als die Instanz, die „Abscheidungen trifft, Unterschiede setzt“. Dies sei die „große Leistung“ des Streits. Durch diese „unterschiedsetzende Kraft“ werde der Streit für Heraklit zu einem so bedeutenden Seinsprinzip. Man müsse ihn als metaphysisches Prinzip verstehen. Nach der Ansicht von Geoffrey S. Kirk ist Streit oder Krieg Heraklits bevorzugte Metapher für die Vorherrschaft der Veränderung in der Welt. Mit dem allen Ereignissen zugrundeliegenden „Krieg“ sei die Aktion und Reaktion zwischen entgegengesetzten Substanzen gemeint. Wenn dieser Streit jemals durch den Sieg einer Seite beendet würde, wäre dies nach Heraklits Überzeugung gleichbedeutend mit der Zerstörung der Welt.Für eine nicht metaphysische, sondern ethische Interpretation plädierten hingegen Dieter Bremer und Roman Dilcher im Heraklit-Kapitel der Neubearbeitung von Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Sie befanden, der Krieg komme in dem berühmten Fragment nicht als kosmisches Prinzip zur Sprache, sondern als „Hervorbringung von Unterscheidungen hinsichtlich dessen, was im Krieg auf dem Spiel steht – nämlich das Leben“. Heraklits Hinweis darauf, dass der Krieg die einen zu Freien, die anderen zu Sklaven macht, sei nicht nur im buchstäblichen Sinn zu verstehen. Vielmehr gehe es darum, dass der, der den Tod scheut und an seinem Leben festhält, eben dadurch der Unterlegene sei und verknechtet werde. Die „Freien“ hingegen seien für Heraklit diejenigen, „die ihr Leben aufs Spiel gesetzt und darin ihre eigene Sterblichkeit bewusst erfahren haben“. In der Möglichkeit, den Tod freiwillig auf sich zu nehmen, konkretisiere sich „auf existenzielle Weise die Einsicht in die Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen“.
==== Astronomie ====
Der Mondkrater Heraclitus ist nach dem Philosophen benannt.
== Ausgaben und Übersetzungen ==
Jean Bollack, Heinz Wismann: Héraclite ou la séparation. Editions de minuit, Paris 1972 (griechischer Text mit französischer Übersetzung und Kommentar).
Marcel Conche: Héraclite: Fragments. 3. Auflage. Presses Universitaires de France, Paris 1991 (griechischer Text mit französischer Übersetzung und Kommentar).
Carlo Diano, Giuseppe Serra: Eraclito: I frammenti e le testimonianze. Mondadori, Mailand 1980.
Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Band 1. Hildesheim 2004 (unveränderte Neuauflage der 6. Auflage von 1951), ISBN 3-615-12201-1 (griechischer Originaltext teilweise mit deutscher Übersetzung)
Francesco Fronterotta: Eraclito: Frammenti. Rizzoli, Mailand 2013 (online).
Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 284–369 (Quellen und Fragmente mit deutscher Übersetzung, Erläuterungen sowie Einführung zu Leben und Werk).
Charles H. Kahn (Hrsg.): The Art and Thought of Heraclitus. An Edition of the Fragments with Translation and Commentary. Cambridge University Press, Cambridge 1981, ISBN 0-521-28645-X (PDF).
Jaap Mansfeld (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Band 1, Reclam, Stuttgart 1987, ISBN 3-15-007965-9, S. 231–283 (griechischer Originaltext mit deutscher Übersetzung).
Serge Mouraviev (Hrsg.): Heraclitea. Édition critique complète des témoignages sur la vie et l'œuvre d’Héraclite d’Éphèse et des vestiges de son livre et de sa pensée. Academia, Sankt Augustin 1999 ff. (20 Bände geplant, bisher 10 Bände erschienen).
Jean-François Pradeau: Héraclite: Fragments. Flammarion, Paris 2002.
Bruno Snell (Hrsg.): Heraklit: Fragmente. 14. Auflage. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-03506-5 (griechischer Originaltext mit deutscher Übersetzung).
Thomas M. Robinson: Heraclitus: Fragments. University of Toronto Press, Toronto 1987.
== Literatur ==
Übersichts- und Gesamtdarstellungen
Dieter Bremer, Roman Dilcher: Heraklit. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 1), Halbband 2, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 601–656
Miroslav Marcovich: Herakleitos. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Supplementband X, Stuttgart 1965, Sp. 246–320.
Serge Mouraviev: Héraclite d'Éphèse. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 3, CNRS Éditions, Paris 2000, ISBN 2-271-05748-5, S. 573–617Untersuchungen
Karl-Martin Dietz: Metamorphosen des Geistes, Band 3: Heraklit von Ephesus und die Entwicklung der Individualität. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004, ISBN 3-7725-1273-9.
Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. 3., durchgesehene Auflage, Beck, München 1968, S. 237–283.
Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-009756-8, S. 17–100.
Thomas Hammer: Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus (= Epistemata. Reihe Philosophie, Band 90). Königshausen & Neumann, Würzburg 1991, ISBN 3-88479-591-0.
Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung. Berlin/New York 1980, ISBN 3-11-007962-3.
Ewald Kurtz: Interpretationen zu den Logos-Fragmenten Heraklits (= Spudasmata, Band 17). Olms, Hildesheim 1971, ISBN 3-487-04047-6
Wolfgang H. Pleger: Der Logos der Dinge. Eine Studie zu Heraklit (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 20, Band 226). Lang, Frankfurt a. M. 1987, ISBN 3-8204-1007-4.
Jürgen-Eckardt Pleines: Heraklit. Anfängliches Philosophieren (= Studienbücher Antike, Band 9). Hildesheim 2002, ISBN 3-487-11476-3
Martin Thurner: Der Ursprung des Denkens bei Heraklit (= Ursprünge des Philosophierens, Band 1). Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-016883-5
Martin Thurner: Heraklit: Die ,bathyphysische' Denkform. In: Enrica Fantino, Ulrike Muss, Charlotte Schubert, Kurt Sier (Hg.), Heraklit im Kontext (Studia Praesocratica 8), Berlin u. a. 2017. S. 287–302.Bibliographien
Francesco De Martino, Livio Rossetti, Pierpaolo Rosati: Eraclito. Bibliografia 1970–1984 e complementi 1621–1969. Neapel 1986.
Evangelos N. Roussos: Heraklit-Bibliographie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971, ISBN 3-534-05585-3.
== Weblinks ==
Literatur von und über Heraklit im Katalog der Deutschen NationalbibliothekFragmente
Hermann Diels: Herakleitos von Ephesos, griechisch und deutsch, Berlin 1901
Egon Gottwein: Textauswahl
William Harris: Heraclitus: The Complete Fragments (PDF; 154 kB), Internet Archive, griechisch und englisch.
Randy Hoyt: The Fragments of Heraclitus, griechisch nach Diels-Kranz und englisch nach John Burnet 1912 mit kleinen Modifikationen, 2002
Samuel Béreau: 139 Fragments, griechisch nach Diels und englisch nach John Burnet 1912
Fragmente (griechische Originaltexte mit englischen und französischen Übersetzungen; PDF-Datei, 213 kB)Quelle
Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen IX 1–17 (englisch)Literatur
Daniel W. Graham: Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und Parameter 3 und nicht Parameter 2
Daniel W. Graham: Eintrag in J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Günter Wohlfart: Heraklit von Ephesos. In: UTB-Online-Wörterbuch Philosophie
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Heraklit |
Tamil Nadu | = Tamil Nadu =
Tamil Nadu (Tamil தமிழ் நாடு Tamiḻ Nāṭu [ˈt̪amɨɻˌnaːɖɯ] ), bis 1969 Madras, ist ein Bundesstaat Indiens. Er liegt im südlichsten Teil des Subkontinents und hat rund 72 Millionen Einwohner (Volkszählung 2011) auf einer Fläche von 130.058 Quadratkilometern. Damit ist er gemessen an der Einwohnerzahl der siebtgrößte, der Fläche nach der zehntgrößte Bundesstaat Indiens. Die Hauptstadt Tamil Nadus ist Chennai (Madras).Die Hauptsprache Tamil Nadus ist das Tamil, nach dessen Sprachgrenzen der Bundesstaat 1956 gebildet wurde. Zunächst trug der Bundesstaat den Namen Madras, erst 1969 erhielt er seinen heutigen Namen Tamil Nadu, der als „tamilisches Land“ oder als „Land der tamilischen Sprache“ übersetzt werden kann. Tamil Nadu besitzt ein reiches eigenständiges Kulturerbe, das sich in der über 2000 Jahre zurückreichenden Literaturgeschichte des Tamil und der Architektur der großen Tempelanlagen des Bundesstaates äußert.
== Geografie ==
=== Lage und Ausdehnung ===
Tamil Nadu ist der südlichste Bundesstaat Indiens. Er nimmt den südlichen Zipfel der indischen Halbinsel ohne den Küstenstreifen im Westen ein. Mit einer Fläche von 130.058 Quadratkilometern ist Tamil Nadu Indiens zehntgrößter Bundesstaat und etwa so groß wie Griechenland. Nachbarbundesstaaten sind Kerala im Westen, Karnataka im Nordwesten und Andhra Pradesh im Norden. An der Ostküste schließt Tamil Nadu die beiden zum Unionsterritorium Puducherry gehörigen Enklaven Puducherry (Pondicherry) und Karaikal ein. Im Osten und Süden grenzt der Bundesstaat an den Indischen Ozean, beziehungsweise dessen Nebenmeere, den Golf von Bengalen im Osten und den Golf von Mannar im Südosten. Die Palkstraße trennt Tamil Nadu vom südöstlich gelegenen Inselstaat Sri Lanka. Die Küste ist 1076 Kilometer lang. Tamil Nadus südlichster Punkt, das Kap Komorin, ist zugleich der südlichste Punkt des indischen Festlandes.
=== Landschaftsgliederung ===
Tamil Nadu lässt sich grob in zwei Naturräume einteilen. Im Westen und Nordwesten bestimmen Berg- und Hügelländer das Landschaftsbild. Entlang der Westgrenze mit Kerala erheben sich die Kardamomberge, ein südlicher Ausläufer der Westghats. Sie fallen besonders im äußersten Süden schroff ab. Ein weiterer Ausläufer, die Palani-Berge, ragt in die östlich vorgelagerte Tiefebene hinein. Auch die durch das Palghat-Tal und das Coimbatore-Plateau abgetrennten Nilgiriberge im äußersten Nordwesten sind eine Nebenkette der Westghats. Der höchste Gipfel der zerklüfteten Nilgiriberge, der 2636 Meter hohe Doddabetta, ist zugleich die höchste Erhebung Tamil Nadus. Im Norden gehen die Nilgiriberge in die Javadi- und die höheren, bis auf 1500 Meter reichenden Shevaroy-Berge, beide Nebenketten der Ostghats, über.
Östlich des Berglandes erstreckt sich eine breite Ebene, die von mehreren Strömen durchflossen wird. Im Süden teilen die Palani-Berge das Tiefland in die Ebene von Madurai und die in West-Ost-Richtung verlaufende Kaveriebene im mittleren Teil Tamil Nadus. Der Küstenstreifen nördlich des Mündungsdeltas des Kaveri heißt Koromandelküste. Das Hinterland der Koromandelküste wird durch die Ebene von Arcot geprägt.
=== Gewässer ===
Die Küstenebene Tamil Nadus wird von den Strömen Palar, Ponnaiyar, Kaveri, Vaigai und Thamirabarani durchflossen, die allesamt in den niederschlagsreichen Ost- oder Westghats entspringen und daher ganzjährig Wasser führen. Daneben gibt es eine Vielzahl kleinerer, zum Teil aber nur periodischer Flüsse. Der 760 Kilometer lange Kaveri ist der größte und wichtigste Fluss. Er durchquert von Karnataka kommend und in südlicher Richtung fließend die Ostghats, um südlich von Erode nach Osten abzubiegen. Rund 200 Kilometer vor der Mündung in den Golf von Bengalen fächert er sich zu einem großen Delta mit unzähligen Nebenarmen.
Tamil Nadu ist arm an natürlichen größeren Seen. Zu Energiegewinnungs- und Bewässerungszwecken sind an wasserreichen Flüssen allerdings mehrere große Stauseen angelegt worden. Der größte von ihnen ist der Stanley-Stausee am Kaveri bei Mettur im Distrikt Erode, wird außerdem als Fischgrund genutzt, der im Durchschnitt 93 Quadratkilometer, während der Regenzeit 153 Quadratkilometer umfasst. Es gibt zehn weitere große Stauseen mit einer maximalen Fläche von mehr als 10 Quadratkilometern. In vielen Trockengebieten bestehen so genannte tanks, künstlich angelegte Wassersammelbecken, die als Trinkwasservorräte oder für den Bewässerungsfeldbau genutzt werden. Insgesamt gibt es knapp 39.000 solcher tanks in Tamil Nadu.
=== Klima ===
Das Klima Tamil Nadus ist tropisch. Die Temperatur schwankt im Jahresverlauf nur geringfügig und liegt im Jahresdurchschnitt um 29 Grad Celsius im Tiefland, wo das Thermometer selten unter 20 Grad fällt, in den heißesten Monaten der Trockenzeit aber auf über 40 Grad klettern kann. In den Höhenlagen erreichen die Temperaturen 13 bis 24 Grad im Sommer und 3 bis 20 Grad im Winter.
Die Niederschlagsverhältnisse werden maßgeblich vom Monsun beeinflusst. Im Gegensatz zum größten Teil Indiens ist die Hauptniederschlagszeit in Tamil Nadu der Wintermonsun zwischen September und Dezember. Während dieser Zeit nehmen die nordöstlichen Winde über dem Golf von Bengalen Feuchtigkeit auf und bringen ergiebigen Monsunregen mit sich. Auch während des Sommermonsuns von Juli bis September kommt es zu Regenfällen, doch bleibt die Niederschlagsmenge geringer, weil Tamil Nadu durch die Westghats vor den südwestlichen Winden abgeschirmt wird. Im Bergland sowie im äußersten Süden kommt es auch während dieser Zeit zu ergiebigen Regenfällen. Während der Trockenzeit zwischen Januar und Juni regnet es kaum.
Für die Ebenen sind jährliche Regenmengen von 900 bis 1200 mm normal. Die niedrigsten Jahresniederschlagsmengen werden mit 700 bis 850 mm in der im Regenschatten der Westghats gelegenen Tiefebene von Madurai sowie um Coimbatore verzeichnet. Allgemein ist das Klima Tamil Nadus trockener als das des westlichen Nachbarbundesstaates Kerala, da die Westghats, wo bis zu 4000 mm Jahresniederschlag fallen, als Wetterscheide wirken. Die Luftfeuchtigkeit ist jedoch ganzjährig hoch.
=== Vegetation ===
Rund 18 Prozent der Fläche Tamil Nadus sind bewaldet. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in den Tiefländern finden sich größere, zusammenhängende Waldgebiete jedoch fast nur noch im Bergland. In den Lagen über 1500 Meter der Nilgiri-, Palani- und Kardamomberge erstrecken sich immergrüne tropische Regenlaubwälder mit der für solche Wälder typischen Stufengliederung. Die oberste Stufe kennzeichnen hohe, schlanke Bäume, die teils mehr als 40 Meter hoch aufragen. Darunter gedeihen niedrigere Bäume, am Boden schließlich Sträucher und krautige Pflanzen. In den niedrigeren Lagen herrschen Mischlandschaften aus Grasland und – je nach Niederschlagsmenge – immergrünem oder laubabwerfendem Feuchtwald vor. Für die Übergänge in die Tiefebenen sind laubabwerfende Trockenwälder kennzeichnend.
Im Tiefland dominieren savannenartige Grasländer, die größtenteils in Acker- und Kulturland umgewandelt wurden. Reste der ursprünglichen Trockenwaldvegetation finden sich nur vereinzelt an Flussläufen und in unebenem Gelände. Immergrüne Trockenwälder waren einst die kennzeichnende Vegetationsform für einen schmalen Streifen entlang der Koromandelküste. Heute sind sie bis auf verstreute Haine, die weniger als ein Prozent der ursprünglichen Waldfläche ausmachen, zerstört oder zumindest stark degradiert. In den Lagunen im Mündungsdelta des Kaveri, am Golf von Mannar sowie zwischen Ennur und Pulicat nördlich von Chennai gibt es noch Mangroven, die jedoch durch Eingriffe des Menschen immer weiter zurückgedrängt und in ihrer Artenvielfalt eingeschränkt werden.
=== Tierwelt ===
Tamil Nadu verfügt über eine reiche Tierwelt, die allerdings durch die starke Zersiedelung und die damit verbundene Zerstörung natürlicher Lebensräume bedroht ist. Die teils noch dicht bewaldeten Bergregionen im Westen und Norden sind Rückzugsgebiete für Asiatische Elefanten und Großkatzen wie Königstiger und Leoparden. Andere Säugetiere umfassen unter anderem Hirsche (z. B. Sambar, Axishirsch, Muntjak), Gaure, Wildschweine, Streifenhyänen, Goldschakale, Rothunde, Lippenbären, Schuppentiere, Languren, Hutaffen sowie zahlreiche Nagetier- und Fledermausarten. Insgesamt kommen mehr als 100 verschiedene Säugetierarten in Tamil Nadu vor. Mit rund 280 erfassten Spezies weitaus artenreicher sind Vögel, darunter Drongos, Bülbüls, Tauben, Pirole, Pfauen. An der Küste und in Feuchtgebieten findet man unzählige Wasservögel, beispielsweise Flamingos. Verbreitet sind auch Kriechtiere mit über 140 Arten, unter denen Schlangen und kleinere Echsen vorherrschen. Zwei Krokodilarten kommen vor: das Süßwasser bewohnende Sumpfkrokodil sowie das seltenere, an der Küste beheimatete Leistenkrokodil.
Auch die Küstengewässer Tamil Nadus weisen eine große Vielfalt an Meeresbewohnern auf. Die Korallenriffe im Golf von Mannar zählen zu den artenreichsten unterseeischen Lebensräumen im Indischen Ozean. Zum Schutz dieser einzigartigen, durch kommerziellen Fischfang, Verschmutzung, Aquakulturen und Perlentaucher jedoch bedrohten Meereslandschaft wurde 1980 der Gulf of Mannar Marine National Park als erster Unterwassernationalpark Indiens eingerichtet.
=== Städte ===
Die mit Abstand größte Stadt Tamil Nadus ist die Hauptstadt Chennai (Madras). An der Küste im äußersten Nordosten des Bundesstaates gelegen, hat Chennai 4,7 Millionen Einwohner in der eigentlichen Stadt und 8,7 Millionen in der Agglomeration. Damit ist Chennai die sechstgrößte Stadt Indiens und Zentrum des viertgrößten Ballungsraums des Landes. Außer Chennai überschreiten noch die Industriestadt Coimbatore im Westen Tamil Nadus und das im Süden gelegene Madurai, das auf eine reiche über zweitausendjährige Geschichte zurückblicken kann, die Eine-Million-Einwohner-Marke. Weitere wichtige Städte sind Tiruchirappalli (Trichy) im Zentrum des Bundesstaates und Salem im nördlichen Binnenland.
Die größten Städte Tamil Nadus nach der Volkszählung 2011 sind:
== Bevölkerung ==
=== Demografie ===
Laut der indischen Volkszählung 2011 beträgt die Einwohnerzahl Tamil Nadus 72.138.958. Damit ist Tamil Nadu gemessen an der Einwohnerzahl Indiens sechstgrößter Bundesstaat. Die Bevölkerungsdichte liegt mit 555 Einwohnern pro Quadratkilometer über dem gesamtindischen Durchschnitt (382 Einwohner pro Quadratkilometer). 48,5 Prozent der Einwohner leben in Städten. Damit weist der Staat eine der höchsten Verstädterungsraten Indiens auf.
Die Bevölkerung Tamil Nadus wächst etwas langsamer als in anderen Landesteilen Indiens. Von 2001 bis 2011 verzeichnete Tamil Nadu ein Bevölkerungswachstum von 15,6 Prozent, während der Landesdurchschnitt 17,6 Prozent beträgt.
Die Bevölkerung wird vorwiegend von Tamilen gebildet. Vor allem im Großraum Chennai leben viele Zuwanderer aus anderen indischen Bundesstaaten. Etwa ein Prozent der Bevölkerung gehört den Adivasi an, der indigenen Stammesbevölkerung, die vor allem im Norden Tamil Nadus und in den Nilgiribergen lebt.Im Zeitraum von 2010 bis 2014 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 70,6 Jahre (der indische Durchschnitt betrug 67,9 Jahre). Die Fertilitätsrate betrug 1,67 Kinder pro Frau (Stand: 2016) während der indische Durchschnitt im selben Jahr bei 2,23 Kinder lag.
==== Bevölkerungsentwicklung ====
Zensusbevölkerung von Tamil Nadu seit der ersten Volkszählung im Jahr 1951.
=== Sprachen ===
Die Hauptsprache Tamil Nadus und alleinige Amtssprache des Bundesstaates ist das von knapp 90 Prozent der Bevölkerung gesprochene Tamil, nach dessen Sprachgrenzen der Bundesstaat 1956 gebildet wurde. Das Tamil gehört zur dravidischen Sprachfamilie und kann auf eine mindestens 2000-jährige Literaturgeschichte zurückblicken. Die größte der Minderheitensprachen ist das Telugu, dessen Sprecher knapp 6 Prozent der Gesamtbevölkerung Tamil Nadus ausmachen. Es wird an vielen Orten von alteingesessenen telugusprachigen Gemeinschaften, daneben von Teilen der Bevölkerung in der Grenzregion zum Nachbarbundesstaat Andhra Pradesh gesprochen. Auch in den Grenzgebieten zu Karnataka und Kerala sind teilweise Kannada und Malayalam, die Sprachen der jeweiligen Bundesstaaten, verbreitet. Ein Teil der muslimischen Minderheit vor allem im Norden Tamil Nadus spricht Urdu, die meisten Muslime sind aber tamilsprachig. In verschiedenen Städten Tamil Nadus (u. a. Madurai) leben Sprecher des Saurashtri, einer eng mit dem in Nordwestindien gesprochenen Gujarati verwandten Sprache. In den offiziellen Statistiken werden die rund 240.000 Saurashtri-Sprecher unter der Zahl der Gujarati-Sprecher subsumiert. Von der Stammesbevölkerung in den Bergregionen des Nordwestens und Nordens werden verschiedene kleinere Minderheitensprachen gesprochen, vor allem Irula, Badaga und Kurumba. Kota und Toda haben jeweils nur wenige tausend Sprecher in den Nilgiribergen, wo die größte Sprachenvielfalt herrscht. Englisch hat, wie auch in anderen Regionen Indiens, einen besonderen Status als Bildungs- und Wirtschaftssprache.
=== Religionen ===
Hindus stellen mit 88 Prozent (Volkszählung 2011) die deutliche Mehrheit der Bevölkerung Tamil Nadus. Der hinduistische Bevölkerungsanteil in Tamil Nadu liegt damit über dem Landesdurchschnitt (80 Prozent). Der Shivaismus ist die am weitesten verbreitete hinduistische Glaubensströmung. Der Hinduismus in Tamil Nadu weist einige regionale Charakteristika auf, so gehört der Gott Murugan (Skanda), der in Nordindien praktisch keine Rolle spielt, unter den Tamilen zu den populärsten Gottheiten.
Auf die verschiedenen christlichen Konfessionen entfallen 6 Prozent. In absoluten Zahlen beherbergt Tamil Nadu mit 4,4 Millionen Christen nach Kerala die zweitgrößte christliche Population aller indischen Bundesstaaten. Das Christentum soll bereits von Apostel Thomas, der angeblich um 70 n. Chr. auf dem St. Thomas Mount bei Chennai starb, nach Südindien gebracht worden sein. Die größte christliche Konfession in Tamil Nadu ist die römisch-katholische Kirche, gefolgt von der anglikanischen Church of South India. Einen besonders hohen Bevölkerungsanteil stellen die Christen im südlichsten Distrikt Kanyakumari. Mit der Marienbasilika von Velankanni befindet sich der wichtigste christliche Wallfahrtsort Indiens in Tamil Nadu.
Der Islam fand in Tamil Nadu nie eine so große Verbreitung wie in weiten Teilen Nordindiens. Heute sind knapp 6 Prozent der Einwohner des Bundesstaates Muslime, zum größten Teil Sunniten. Der Islam wurde schon im 9. Jahrhundert durch arabische Händler ins Land gebracht und entwickelte daher eine Ausprägung, die sich teilweise deutlich vom nordindischen Islam unterscheidet. So ist neben der unter den indischen Muslimen vorherrschenden hanafitischen Rechtsschule auch die schafiitische verbreitet. Eines der wichtigsten Zentren islamischer Gelehrsamkeit in Tamil Nadu ist der Ort Kilakkarai ungefähr 15 Kilometer südlich von Ramanathapuram. Hier bestehen zwei islamische Hochschulen, die im frühen 19. Jahrhundert gegründete Jāmiʿa ʿArūsīya und die 1995 gegründete Jāmiʿa Sayyid Hamīda.
== Geschichte ==
=== Frühgeschichte ===
Die Gegend des heutigen Tamil Nadu wurde vermutlich vor rund 300.000 Jahren erstmals besiedelt. Archäologische Funde bestätigen, dass schon um 1200 v. Chr. eine hoch entwickelte Gesellschaft existierte. Die brahmanische Kultur Nordindiens breitete sich schon in vorchristlicher Zeit auch in den Süden des Subkontinents und damit ins heutige Tamil Nadu aus. Dessen frühgeschichtliche Entwicklung konzentrierte sich vor allem auf die Küstenebene. Aufschluss über diese Epoche geben neben der Archäologie die alttamilische Sangam-Literatur, verschiedene lokale und nordindische Inschriften, ceylonesische Chroniken sowie Berichte griechischer und römischer Gelehrter. Enge Handelsbeziehungen mit dem Römischen Reich bestanden bereits zur Zeit des Kaisers Augustus, wie zahlreiche Münzfunde sowie die Existenz einer römischen Handelsniederlassung in Arikamedu südlich von Puducherry beweisen. Mit zunehmendem Niedergang Roms im 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert nahm Südostasien dessen Bedeutung als Handelspartner ein. Von der tamilischen Koromandelküste aus wurden im Mittelalter große Teile Südostasiens kolonialisiert.
Drei Dynastien prägten Tamil Nadu im Altertum. Die Chola hatten ihr Kerngebiet im Kaveridelta, die Chera herrschten über die westlichen Teile des heutigen Tamil Nadu und die Malabarküste, während der Süden unter der Herrschaft der Pandya stand. Vom Reichtum letzterer berichtete der griechische Historiker Megasthenes, der um 300 v. Chr. am Hofe des nordindischen Maurya-Herrschers Chandragupta weilte. Auch in der alttamilischen Sangam-Dichtung finden die Pandya Erwähnung. Der früheste überlieferte Herrschername ist hingegen der des legendären Chola-Königs Karikala (um 190 n. Chr.), der die vereinten Heere der Pandya und der Chera besiegte sowie die Ufer des Kaveri befestigen ließ. Die im 4. Jahrhundert vom Dekkan her eindringenden Kalabhra beendeten die Herrschaft der Chola und Pandya abrupt. Über ihre eigene Herrschaft ist allerdings nur wenig bekannt.
=== Pallava (6. bis 9. Jahrhundert) ===
Am Ende des 6. Jahrhunderts besiegten die aus Andhra kommenden Pallava, vermutlich frühere Vasallen der Shatavahana, die Kalabhra und stiegen zur beherrschenden Macht in Tamil Nadu auf. Zu ihrer Hauptstadt machten sie Kanchipuram. Die größte Bedrohung für die Pallava stellten die Chalukya dar, die seit dem frühen 7. Jahrhundert einen erbitterten Kampf um die Vormachtstellung im Süden Indiens führten. Nachdem Mahendra Varman I. (reg. etwa 610 bis 630) die drohende Einnahme Kanchipurams durch die Chalukya abwenden konnte, gelang seinem Sohn Narasimha Varman (reg. etwa 630 bis 668) im Jahre 642 die Eroberung der feindlichen Hauptstadt Badami. Der Erfolg blieb von kurzer Dauer, denn schon nach 670 sahen sich die Pallava erneut ihren wiedererstarkten Feinden gegenüber. Eingeleitet durch die Plünderung Kanchipurams im Jahr 740, begann im 8. Jahrhundert der Niedergang der Pallava-Dynastie, die noch bis ins späte 9. Jahrhundert herrschte.
Unter den Pallava war in Tamil Nadu erstmals ein starkes Regionalreich entstanden, das auch herausragende Beiträge zur kulturellen Entwicklung leistete. Die Pallava-Hauptstadt Kanchipuram wurde zu einem der bedeutendsten kulturellen Zentren Südindiens. Obwohl die Pallava dem Hinduismus anhingen, trat es auch als wichtige buddhistische Lehrstätte in Erscheinung. Die Universität von Kanchipuram wurde zur wichtigen Wirkungsstätte großer Tamil- und Sanskritgelehrter und zahlreicher bildender Künstler. Aus der Pallava-Epoche stammen auch die Felsentempel von Mamallapuram, Vorreiter der hinduistischen Tempelarchitektur Südindiens, aber auch Südostasiens.
=== Chola und Pandya (9. bis 14. Jahrhundert) ===
Nachfolger der Pallava wurden die Chola, die bis Mitte des 9. Jahrhunderts als Vasallen gedient hatten. Um 850 erlangten sie ihre Unabhängigkeit zurück und machten Thanjavur im Kaveridelta zur Hauptstadt. König Aditya (reg. 871 bis 907) besiegte die Pallava um 897 endgültig. Nach dem Untergang des zentralindischen Rashtrakuta-Reiches schwangen sich die Chola im 11. Jahrhundert zur mächtigsten Dynastie Südindiens auf. Besonders hervorzuheben sind die Könige Rajaraja I. (reg. 985 bis 1014) und Rajendra I. (reg. 1014 bis 1044, als Mitregent schon ab 1012), welche nicht nur als Eroberer, sondern auch als Förderer der Künste und Wissenschaften großen Ruhm erlangten. Rajaraja I. besiegte die Chera an der Malabarküste und dehnte sein Reich auf den südlichen Dekkan, Ceylon und die Malediven aus. Sein Sohn Rajendra zog die Andhraküste hinauf bis nach Bengalen. Dort schlug er den Pala-Herrscher vernichtend, woraufhin er seine neue Hauptstadt Gangaikonda Cholapuram („Stadt des Chola, der die Ganga besiegte“) mit Gangeswasser segnen ließ. Außerdem etablierte er das Chola-Reich als Seemacht und drang über den Golf von Bengalen bis ins südostasiatische Srivijaya-Reich (Sumatra, Malaya, Java) vor. Kein anderes südindisches Herrscherhaus vor oder nach den Chola vermochte seine Macht auf ein derart weitläufiges Gebiet auszudehnen. Die Zeit der Chola-Könige Rajaraja I. und Rajendra I. gilt daher als Hochzeit Südindiens und somit auch Tamil Nadus.
1070 starb Rajendras Linie aus. Kulottunga, ein Prinz der östlichen Chalukya, bestieg nun den Thron des Reiches. Trotz einiger Gebietsverluste, darunter Ceylon, blieben die Chola bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts hinein die dominierende Dynastie Südindiens. Gleichwohl gab es bereits in den Jahrzehnten nach dem Tod Kulothungas I. im Jahre 1120 Anzeichen eines schleichenden Niedergangs. Vor allem die Auseinandersetzung mit den südlichen Vasallen der Pandya kostete die Chola einen Teil ihrer Autorität und verhalf den Pandya zu größerer Selbstständigkeit. Nach dem Tod des Chola-Königs Kulothunga III. 1218 konnten die Pandya, mit Madurai als Machtzentrum, ihre volle Unabhängigkeit allmählich wiederherstellen. Jatavarman Sundara (reg. 1251 bis 1268) war schließlich stark genug, die Chola anzugreifen. Sein Nachfolger besiegte 1279 den letzten Chola-König Rajendra IV. Die Pandya übernahmen nun die beherrschende Stellung der Chola in Tamil Nadu und konnten ihr Reich erneut bis zum Godavari und auf den Norden Ceylons erweitern. Thronfolgestreitigkeiten im frühen 14. Jahrhundert schwächten das Pandya-Reich zusehends.
=== Muslimische Herrschaft, Vijayanagar und Kleinstaaten (14. bis 18. Jahrhundert) ===
1311 überfielen muslimische Truppen aus dem nordindischen Sultanat von Delhi unter dem Kommando des Generals Malik Kafur die Pandya-Hauptstadt Madurai, eroberten und plünderten sie. Erstmals stand Tamil Nadu unter muslimischer Herrschaft. Das 1334 aus einer Provinz des Delhi-Sultanats hervorgegangene Sultanat von Madurai, der südlichste muslimische Staat auf indischem Boden, war jedoch nur kurzlebig. Schon 1370 fiel der Sultan im Kampf gegen das hinduistische Vijayanagar-Reich.
Das Kernland Vijayanagars lag im Süden des heutigen Karnataka. Nach dem Sieg über den Madurai-Sultan umfasste es fast ganz Südindien, einschließlich Tamil Nadu. Vijayanagars Ausdehnung nach Osten bis an die Küste Andhras forderte Kapilendra, den König des an der Ostküste gelegenen Orissa, heraus, der 1463 entlang der Nordostküste Tamil Nadus bis ins Kaveridelta vorstieß. Schon nach wenigen Jahren musste er sich jedoch wieder zurückziehen. Schwache Herrscher leiteten im 15. Jahrhundert den Niedergang Vijayanagars ein. Als sich seine Erzfeinde, die aus dem Bahmanidenreich hervorgegangenen Dekkan-Sultanate, zusammenschlossen und Vijayanagar 1565 in der Schlacht von Talikota vernichtend schlugen, zerfiel das Reich innerhalb kürzester Zeit in mehrere Einzelreiche.
Nach dem Zerfall Vijayanagars füllten die Militärstatthalter seiner Distrikte, die sogenannten Nayaks, das entstandene Machtvakuum in Tamil Nadu, und machten sich selbstständig. Die mächtigsten von ihnen waren die Nayaks von Madurai und Thanjavur. Trotz ihrer relativen politischen und militärischen Bedeutungslosigkeit erlebten diese Reiche ein Aufblühen der spätdravidischen Kunst. Im 17. Jahrhundert begannen Kriegszüge verschiedener indischer Großreiche gegen die Kleinstaaten Tamil Nadus. Zunächst drang Mohammed Adil Shah, der Sultan von Bijapur, in den Norden Tamil Nadus ein, wo er unter anderem den Nayak von Gingee besiegte. Sowohl Madurai als auch Thanjavur wurden Bijapur tributpflichtig. In den 1670er Jahren führte ein Streit zwischen Madurai und Thanjavur zum Eingreifen der Marathen auf Seiten Thanjavurs. Doch die Truppen des Marathenherrschers Venkaji wandten sich alsbald gegen den Nayak von Thanjavur und besetzten dessen Reich. Nachdem der Großmogul Aurangzeb 1686 Bijapur unterworfen hatte, geriet der Norden Tamil Nadus unter die Kontrolle des Mogulreichs und wurde von den Nawabs von Arcot als Vasallen der Moguln beherrscht. Thanjavur blieb jedoch eine Besitzung der Marathen; Madurai bestand noch bis zur britischen Eroberung 1781.
=== Vordringen der Europäer und Kolonialherrschaft (17. Jahrhundert bis 1947) ===
Als erste europäische Großmacht versuchte Portugal im frühen 16. Jahrhundert an der Koromandelküste Fuß zu fassen, allerdings ohne Erfolg. Den Portugiesen folgten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Niederländer, Engländer und Dänen sowie in den 1660er Jahren die Franzosen. Die europäischen Handelsmächte strebten zunächst nicht nach Landgewinn, sondern nach möglichst hohen Profiten aus dem Tuchhandel. Zu diesem Zwecke erwarben sie Küstenstützpunkte und errichteten Manufakturen. Um 1700 bestanden mehrere niederländische Handelsstützpunkte an der Küste Tamil Nadus, unter anderem in Pulicat, Nagapattinam und Tuticorin. Die Engländer hatten sich in Madras, die Franzosen in Pondicherry und die Dänen in Tranquebar niedergelassen.
Zur bedeutsamsten europäischen Großmacht an der Koromandelküste stiegen im 18. Jahrhundert die Briten auf. Als ihr größter Konkurrent erwiesen sich die Franzosen, die in den Karnatischen Kriegen mit den Briten um die Vorherrschaft in Südindien rangen und 1746 sogar für drei Jahre Madras eingenommen hatten. 1760 wurden die Franzosen aber in der Schlacht von Wandiwash vernichtend geschlagen und mussten ihre Ambitionen in Indien aufgeben. Die hoch verschuldete Niederländische Ostindien-Kompanie schied nach dem vierten niederländisch-englischen Krieg von 1780 bis 1784 als Widersacher der Briten in Indien aus.
Madras wurde neben Kalkutta und Bombay zu einem Hauptausgangspunkt der britischen Kolonialisierung Indiens. Die Stadt war Verwaltungszentrum der Präsidentschaft Madras, einer von drei Präsidentschaften der Britischen Ostindien-Kompanie. Die Briten dehnten ihren Einfluss ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf weite Teile Tamil Nadus aus: Im Dritten und Vierten Mysore-Krieg (1790 bis 1792 bzw. 1798/99) rangen sie dem Königreich Mysore den Großteil von dessen Besitzungen ab, darunter den Norden und Westen des heutigen Tamil Nadus. Nach der vollständigen Niederlage Mysores 1799 war die Vormachtstellung der Ostindien-Gesellschaft in ganz Südindien endgültig besiegelt. 1799 wurden die Marathen-Könige von Thanjavur zur Übergabe ihrer Besitzungen gezwungen. Zwei Jahre später musste der Nawab von Arcot, der das Küstenhinterland kontrollierte, sein gesamtes Territorium an die Briten übergeben. Die Eroberung Tamil Nadus war damit abgeschlossen. Lediglich das kleine Fürstentum Pudukkottai blieb als formal unabhängiger Fürstenstaat unter britischer Oberherrschaft bestehen. 1858 wurde die Ostindien-Kompanie infolge des Aufstandes in Nordindien entmachtet, und die Regierungsgewalt über all ihre Besitzungen unmittelbar auf die britische Regierung übertragen. Madras wurde damit zu einer der Provinzen Britisch-Indiens.
Parallel zur im ausgehenden 19. Jahrhundert erwachten gesamtindischen Unabhängigkeitsbewegung unter Führung des Indischen Nationalkongresses entstand in den tamilsprachigen Teilen von Madras die sogenannte Dravidische Bewegung, die sich gegen die angebliche Vormachtstellung der Brahmanen richtete und eine eigenständige Identität der Tamilen als „Draviden“ im Gegensatz zu den „Ariern“ Nordindiens postulierte. E. V. Ramasami (Periyar) gründete 1925 die Selbstachtungsbewegung (Self-Respect Movement), die er 1944 mit der anti-brahmanischen Justice Party zur Organisation Dravidar Kazhagam (Bund der Draviden; DK) vereinigte. Die DK vertrat eine radikale Agenda und forderte die Abschaffung des Kastensystems und der Hindu-Religion sowie die Gründung eines unabhängigen Staates Dravida Nadu für die „Draviden“ Südindiens.
=== Entwicklungen seit 1947 ===
Nach der Entlassung Britisch-Indiens in die Unabhängigkeit im Jahr 1947 wurde der Staat Madras zu einem Gliedstaat der Indischen Union. Er umfasste neben dem heutigen Tamil Nadu große Teile des heutigen Bundesstaats Andhra Pradesh sowie Teile von Karnataka und Kerala. Erster Chief Minister wurde P. S. Kumaraswamy Raja vom Indischen Nationalkongress (1950 bis 1952). Auf ihn folgten seine Parteikollegen C. Rajagopalachari (1952 bis 1954), K. Kamaraj (1954 bis 1963), der sich vor allem um die Verbesserung des Bildungssystems und die Bekämpfung des Analphabetismus verdient machte, und M. Bakthavatsalam (1963 bis 1967). Im Zuge des States Reorganisation Act wurden 1956 die indischen Bundesstaaten nach den Sprachgrenzen neu geordnet. Der Bundesstaat Madras wurde dabei auf die tamilischsprachigen Gebiete begrenzt. Eine kleine Grenzkorrektur zu Andhra Pradesh folgte im Jahr 1959. Damit erhielt der Bundesstaat die Grenzen des heutigen Tamil Nadu, behielt aber zunächst den Namen Madras bei.
Derweil hatte sich 1949 aus der DK eine neue Partei namens Dravida Munnetra Kazhagam (DMK; „Bund für den Fortschritt der Draviden“) unter der Führung von C. N. Annadurai formiert. Sie unterstützte anfangs ebenfalls die Sezessionsforderung, gab diese aber Anfang der 1960er Jahre auf und ersetzte sie durch die Forderung nach politischer und kultureller Autonomie der Bundesstaaten innerhalb der Indischen Union. Die DMK nahm 1957 erstmals an Wahlen in Madras teil und stieg bald zur wichtigsten Oppositionspartei auf. 1967 konnte sie unter der Führung Annadurais erstmals die Wahlen zum Regionalparlament für sich entscheiden. Die neue DMK-Regierung beschloss die Umbenennung von Madras in Tamil Nadu („Land der Tamilen“), die 1969 in Kraft trat. Nach Annadurais Tod übernahm M. Karunanidhi die Führung der DMK. 1972 spaltete sich unter dem populären Filmschauspieler M. G. Ramachandran (MGR) die AIADMK von der DMK ab. Seitdem hat stets eine der beiden Regionalparteien die Regierung Tamil Nadus gestellt. Die AIADMK konnte zum ersten Mal 1977 die Wahlen gewinnen. M. G. Ramachandran wurde zum neuen Chief Minister und blieb es bis zu seinem Tod 1987. Seit den 1990er Jahren wurde die Politik Tamil Nadus geprägt von der Konkurrenz zwischen M. Karunanidhi (Chief Minister von 1969 bis 1976, 1989 bis 1991, 1996 bis 2001 sowie 2006 bis 2011) und der ehemaligen Schauspielerin J. Jayalalithaa, die die Nachfolge M. G. Ramachandrans an der Spitze der AIADMK übernahm und von 1991 bis 1996, mit Unterbrechungen von 2001 bis 2006 und erneut mit Unterbrechungen 2011 bis zu ihrem Tod 2016 das Amt des Chief Ministers innehatte.
In den 1980er Jahren nutzten die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), die für die Unabhängigkeit der überwiegend von Tamilen bewohnten Teile Sri Lankas kämpfen, Tamil Nadu als Rückzugsort und Stützpunkt für ihre Aktivitäten in Sri Lanka. Die Regierung billigte dieses Vorgehen aus Rücksichtnahme auf die Sympathien der Bevölkerung Tamil Nadus für die unterdrückten Tamilen Sri Lankas zunächst. Mehrere von LTTE-Separatisten verübte Attentate auf indischem Boden zerstörten jedoch das Vertrauen der indischen Tamilen in die LTTE. Am 21. Mai 1991 wurde der ehemalige indische Premierminister Rajiv Gandhi während einer Wahlkampfveranstaltung in Sriperumbudur nahe Kanchipuram von einer der LTTE zugerechneten Selbstmordattentäterin ermordet. Heute wird die LTTE von der indischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestuft.
== Politik ==
=== Politisches System ===
Bis 1986 bestand das Parlament Tamil Nadus aus zwei Kammern. Seitdem ist die auf fünf Jahre gewählte Tamil Nadu Legislative Assembly das einzige gesetzgebende Organ. Von den 234 Abgeordnetensitzen sind 42 Sitze benachteiligten Kasten und 3 Sitze der Stammesbevölkerung (Adivasi) vorbehalten. Zusätzlich kann der Gouverneur des Staates einen Vertreter der englischsprachigen Minderheit ernennen, wenn er der Meinung ist, dass diese nicht ausreichend im Parlament repräsentiert ist. Der Chief Minister, der Regierungschef Tamil Nadus, wird von den Abgeordneten gewählt. An der Spitze des Bundesstaats steht jedoch der vom indischen Präsidenten ernannte Gouverneur (Governor). Seine Hauptaufgaben sind die Ernennung des Chief Ministers und dessen Beauftragung mit der Regierungsbildung. Die Minister werden auf Empfehlung des Chief Ministers ebenfalls vom Gouverneur in ihr Amt eingeführt. Zudem obliegt dem Gouverneur die Auflösung des Parlaments am Ende der Legislaturperiode oder bei einer Regierungskrise. In diesem Falle kann er den Bundesstaat unter die unmittelbare Verwaltung des indischen Präsidenten („President’s rule“) stellen.
Höchster Gerichtshof Tamil Nadus ist der Madras High Court, in dessen Zuständigkeitsbereich auch das Unionsterritorium Puducherry fällt. Den Vorsitz führt der Chief Justice. Seit 2004 besteht eine Zweigstelle in Madurai.
=== Parteien ===
Die Politik Tamil Nadus wird von den beiden tamilisch-nationalistischen Regionalparteien Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) und All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) geprägt. Seit 1967 wird der Bundesstaat ununterbrochen von einer dieser beiden Parteien regiert. Ihre Wurzeln liegen in der Organisation Dravidar Kazhagam (DK), von der sich die DMK 1949 abspaltete. 1972 entstand wiederum die AIADMK nach innerparteilichen Auseinandersetzungen durch Abspaltung von der DMK und etablierte sich in der Folge als deren stärkster Konkurrent. Die ursprünglich von der DK vertretenen Forderungen nach einem separaten Dravidenstaat und radikaler Sozialreform hat die DMK weitgehend gegen die Beschwörung der Größe der tamilischen Kultur und Sprache und die Forderung nach politischer und kultureller Autonomie der Bundesstaaten eingetauscht. Die AIADMK profiliert sich dagegen vor allem durch eine populistische Wohlfahrtspolitik.
Neben den beiden großen Parteien existieren weitere Regionalparteien: Die vom Filmschauspieler Vijayakanth gegründete Desiya Murpokku Dravida Kazhagam (DMDK), die tamilisch-nationalistische Marumalarchi Dravida Munnetra Kazhagam (MDMK) sowie die kastenbasierten Parteien Pattali Makkal Katchi (PMK) und Viduthalai Chiruthaigal Katchi (VCK). Überregionale Parteien spielen in Tamil Nadu nur eine untergeordnete Rolle: Der Indische Nationalkongress und die beiden kommunistischen Parteien Communist Party of India (CPI) und Communist Party of India (Marxist) (CPI(M)) sind weit von der Mehrheitsfähigkeit entfernt, die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) ist im Parlament des Bundesstaates nur gering vertreten. Ohnehin ist die Hindutva-Bewegung in Tamil Nadu weniger stark als in anderen Teilen Indiens, auch wenn sie auch seit den 1980er Jahren mit der Gründung der Organisationen Hindu Munnani und Hindu Makkal Katchi einen gewissen Auftrieb erlebt hat.
Durch das herrschende Mehrheitswahlrecht kann eine kleine Gruppe von Wechselwählern große Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben. So kam es, dass sich in den 1990er und 2000er Jahren die DMK und die AIADMK nach jeder Wahl an der Regierung abwechselten. Bei der letzten Bundesstaatswahl 2016 gelang es der AIADMK erstmals seit 27 Jahren, diesen Trend zu brechen. Die AIADMK gewann knapp 41 % der Stimmen und 134 der 234 Wahlkreise. Die rivalisierende DMK kam auf knapp 32 % und 89 Mandate, während die Kongresspartei mit 6,4 % und 8 Mandaten weit abgeschlagen landete. Die BJP kam auf 2,4 % der Stimmen und kein Mandat. Bei der folgenden Wahl zum Bundesstaatsparlament 2021 war wieder die DMK erfolgreich. Sie gewann 37,7 % der Stimmen und 133 Mandate. Die AIDMK kam auf 33,3 % und 66 Mandate.Obwohl die tamilischen Regionalparteien nur in Tamil Nadu und Puducherry zur Wahl antreten, konnten sie auf gesamtindischer Ebene bei der Regierungsbildung in Delhi häufig als Zünglein an der Waage eine wichtige Rolle spielen. Sie schlossen sich oft Parteienbündnissen unter Führung einer der landesweit großen Parteien an. Die DMK und die AIADMK, aber auch kleinere Regionalparteien wie die MDMK und die PMK, waren so mehrfach an gesamtindischen Regierungen beteiligt. Zuletzt war die DMK von 2004 bis zu ihrem Austritt 2013 Teil der von der Kongresspartei geführten Regierung Manmohan Singhs. Bei der gesamtindischen Parlamentswahl 2014 schlossen sich DMK und AIADMK keinem der landesweiten Parteienbündnisse an und waren auch nicht an der anschließend gebildeten BJP-geführten Regierung in Delhi beteiligt. Bei der indischen Wahl 2019 schloss die AIADMK mit der BJP ein Wahlbündnis, war aber anschließend ebenfalls nicht Regierungspartner in Delhi.
== Verwaltungsgliederung ==
Tamil Nadu ist in 38 Distrikte eingeteilt (Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte nach der Volkszählung 2011).
*) Nach der Volkszählung 2011 verkleinert.**) Nach der Volkszählung 2011 neu gegründet, Zahlen liegen nicht vor.***) Nach der Volkszählung 2011 vergrößert.
== Wirtschaft ==
Tamil Nadu ist nach Maharashtra, Uttar Pradesh und Andhra Pradesh die fünftgrößte Volkswirtschaft der 28 Bundesstaaten Indiens und zudem einer der fortgeschrittensten Bundesstaaten des Landes, der von den 1991 eingeleiteten wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen überdurchschnittlich profitiert hat. Seitdem haben sich zahlreiche ausländische Großunternehmen in Tamil Nadu angesiedelt. 2010 betrug das nominale Bruttoinlandsprodukt Tamil Nadus 4.640 Milliarden Indische Rupien (umgerechnet 98 Milliarden US-Dollar). Damit erbrachte Tamil Nadu über 7 Prozent der gesamten indischen Wirtschaftsleistung. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag mit 1.358 US-Dollar deutlich höher als der indische Durchschnitt von 1.087 US-Dollar.
=== Landwirtschaft ===
Obwohl Tamil Nadu zu den am höchsten industrialisierten Bundesstaaten Indiens zählt, ist die Landwirtschaft nach wie vor der wichtigste Arbeitgeber. Rund 45 Prozent der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt. Tamil Nadus Landwirtschaft ist eine der fortschrittlichsten Indiens. Die Ertragsraten liegen weit über dem indischen Durchschnitt. Seit der Einführung der „Grünen Revolution“ Mitte der 1960er Jahre, als dessen „Vater“ der aus Tamil Nadu stammende Agrarwissenschaftler M. S. Swaminathan gilt, wurden die Bewässerungsflächen beträchtlich ausgeweitet, sodass heute etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche künstlich bewässert wird. Dennoch ist der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt aufgrund wesentlich höherer Wachstumsraten in anderen Bereichen rückläufig. 2004 betrug er nur noch 14,2 Prozent.
Als Nahrungsmittel werden vor allem Reis, Erdnüsse, Mais, Sorghum, Fingerhirse, Perlhirse, Hülsenfrüchte sowie verschiedene Obstsorten wie Bananen und Mangos angebaut. Das mit Abstand wichtigste kommerzielle Anbauprodukt ist Zuckerrohr. Dagegen hat die Bedeutung von Baumwolle seit den 1980er Jahren stark abgenommen. In geringerem Maße werden außerdem Gewürze, Kaffee, Tabak und Tee angepflanzt.
=== Bodenschätze und Bergbau ===
80 Prozent der bekannten indischen Braunkohlevorkommen befinden sich in Tamil Nadu, hauptsächlich im Umland der Stadt Neyveli im Distrikt Cuddalore. Im Süden und Südosten des Bundesstaates werden Mineralsande abgebaut, aus denen seltene Mineralien wie Titaneisen, Granat, Zirkon, Rutil und Monazit gewonnen werden. Im Nordosten gibt es Vorkommen von Magnesit. Zudem werden Granit, Kalkstein, Quarz und Quarzsande, Feldspat, Magneteisenstein, Bauxit und Graphit abgebaut. Vor der Küste des Distriktes Nagapattinam wird in geringen Mengen Erdöl gefördert.
=== Industrie ===
Tamil Nadu ist einer der höchstindustrialisierten Bundesstaaten Indiens. 2004 erwirtschaftete die Industrie 29,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der wichtigste Industriezweig ist nach wie vor die Textilindustrie, die für fast ein Drittel der gesamten indischen Baumwollgarnproduktion aufkommt. Die Lederindustrie hat sogar einen Anteil von 70 Prozent. Neben diesen traditionellen Branchen nehmen die Fahrzeugindustrie und deren Zuliefererbetriebe einen besonderen Stellenwert ein. Neben inländischen Automobilfirmen lassen auch Ford, Hyundai, BMW und Mitsubishi in Tamil Nadu produzieren. Andere wichtige Industriezweige sind die metallverarbeitende, chemische, Mineralöl-, pharmazeutische, elektrotechnische, Software-, Fahrrad-, Lebensmittel-, Zement- und pyrotechnische Industrie sowie der Maschinenbau. Avadi bei Chennai ist einer der wichtigsten Standorte der indischen Rüstungsproduktion, unter anderem auch der einzige Produktionsstandort für Arjun-Panzer in ganz Indien.
Räumlich ballt sich die Industrieproduktion in drei Großräumen. Der mit Abstand wichtigste Industrieraum ist das Ballungsgebiet Chennai, wo nahezu alle bedeutsamen Industriezweige vertreten sind. Im mittleren Tamil Nadu zieht sich eine Industrieachse vom Kaveridelta durch die Ebene des Flusses mit den Standorten Tiruchirappalli (Metallverarbeitung, Textilien, Zement) und Salem-Mettur (Stahl, Aluminium, Textilien, Zement, Kunststoffe, Chemikalien) bis ins westliche Hochland, wo mit Coimbatore und Tiruppur zwei bedeutende Textilzentren liegen. Coimbatore ist jedoch längst nicht mehr nur eine Textilhochburg, was ihm einst den Spitznamen „Manchester Südindiens“ eingebracht hat, sondern hat sich darüber hinaus zum zweitwichtigsten Industriestandort Tamil Nadus nach Chennai entwickelt. Besonders der Maschinenbau hat eine Vorrangstellung erlangt. Die dritte große Industrieregion ist der Ballungsraum Madurai im Süden.
=== Dienstleistungen und Fremdenverkehr ===
Der Dienstleistungsbereich, mittlerweile der Hauptantriebsmotor der wirtschaftlichen Entwicklung, hatte 2004 einen Anteil von 56,2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Besonders hohe Wachstumsraten verzeichnet die Informationstechnologie. Zudem gewinnen die Telekommunikations- und die Biotechnologiebranche an Bedeutung. Viele ausländische Firmen, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, lagern Unternehmensteile wie Callcenter oder Buchhaltung nach Tamil Nadu aus.
Auch der Fremdenverkehr hat sich seit den 1990er Jahren rasant entwickelt. 2011 besuchten 137 Millionen einheimische und 3,3 Millionen ausländische Besucher Tamil Nadu – ein Zuwachs von 42 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Beliebte Reiseziele sind neben der Hauptstadt Chennai vor allem der Strandort Mamallapuram (Mahabalipuram) mit seinen Bauten aus der Pallava-Zeit sowie die alten Tempelstädte Madurai, Thanjavur, Kanchipuram, Chidambaram, Tiruvannamalai und Rameswaram die auch viele Pilger anziehen. Die drei „großen Tempel der Chola-Dynastie“ in Thanjavur, Gangaikonda Cholapuram und Darasuram gehören zum Weltkulturerbe der UNESCO, ebenso der Tempelbezirk von Mamallapuram und die Nilgiri-Bergeisenbahn. Die in der britischen Kolonialzeit erschlossenen hill stations in den Westghats, wie Udagamandalam (Ooty) und Kodaikanal, werden dank der landschaftlich reizvollen Umgebung sowie des angenehm kühlen Klimas als Urlaubsziele geschätzt. Naturliebhaber kommen in einem der fünf Nationalparks, unter denen der Mudumalai-Nationalpark aufgrund seiner Artenvielfalt besonders hervorragt, auf ihre Kosten. Immer beliebter vor allem bei ausländischen Gästen wird der Gesundheitstourismus, etwa in Form von Ayurveda-Kuren. Der Badetourismus ist dagegen trotz geeigneter Strände wenig ausgeprägt.
=== Infrastruktur ===
Der wichtigste Verkehrsweg in Tamil Nadu ist die Straße. Insgesamt umfasst das Straßennetz knapp 200.000 Kilometer, wovon drei Viertel asphaltiert sind (Stand 2007/08). Die National Highways machen mit einer Gesamtlänge von 4.500 Kilometern nur einen kleinen Teil des Straßennetzes aus, machen aber 40 % des Verkehrsaufkommens aus. Die tamilischen Streckenabschnitte der National Highways von Chennai nach Mumbai und Kalkutta – zusammen rund 340 Kilometer – wurden im Rahmen des Projektes „Golden Quadrilateral“ („Goldenes Viereck“) zu vierspurigen Autobahnen ausgebaut. Weitere Ausbauten sind geplant, um des wachsenden Verkehrsaufkommens Herr zu werden: Die Anzahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge nimmt jedes Jahr über 10 % zu. Die staatliche Busgesellschaft Tamil Nadu State Transport Corporation und private Unternehmen bieten zahlreiche Busverbindungen zwischen den Städten des Bundesstaates an.
Alle größeren Städte Tamil Nadus sind an das Schienennetz angeschlossen. Es untersteht der Regionalgesellschaft Southern Railway der indischen Staatsbahn. Die Gesamtlänge des Schienennetzes in Tamil Nadu beträgt 3941 Kilometer (Stand 2007/08). Die Hauptlinien, die etwas über die Hälfte des Eisenbahnnetzes ausmachen, sind breitspurig ausgebaut, allerdings nur zum Teil elektrifiziert. Die restlichen Schienenwege sind meterspurig. Die Hauptstadt Chennai verfügt über eine Vorortbahn, eine U-Bahn ist im Bau.
Chennai besitzt einen großen internationalen Flughafen, den Chennai International Airport. Nach Mumbai und Delhi ist er der drittwichtigste Flughafen Indiens. Daneben gibt es zwei kleinere internationale Flughäfen in Tiruchirappalli und Coimbatore sowie Inlandsflughäfen in Madurai, Salem, und Thoothukudi.
Drei der zwölf Hauptseehäfen Indiens liegen in Tamil Nadu: Chennai, Thoothukudi und Ennur. Der Hafen von Chennai hatte 2007/08 eine Güterumschlagmenge von knapp 57 Millionen Tonnen. Damit sind Chennai und Thoothukudi neben Navi Mumbai in Maharashtra die wichtigsten Containerhäfen des Landes. Darüber hinaus existieren 15 kleinere Häfen in Tamil Nadu, die jedoch nur für die Küstenschifffahrt von Bedeutung sind.
Als einer der wenigen indischen Bundesstaaten erzeugt Tamil Nadu einen Elektrizitätsüberschuss, den es an benachbarte Bundesstaaten weiterleitet. Strom wird vor allem aus Wärme- (Braunkohle, Erdgas), Wasser-, Kern- und Windenergie gewonnen. Bei letzterer nimmt Tamil Nadu eine Führungsposition innerhalb Indiens ein, da es für mehr als die Hälfte der indischen Windenergieerzeugung aufkommt.
Ende 2016 wurde mit dem Solarpark Tamil Nadu der zu diesem Zeitpunkt leistungsstärkste Solarpark der Welt in Betrieb genommen. Er verfügt über eine Leistung von 648 MW und liefert im Jahresschnitt genügend elektrische Energie für ca. 150.000 Haushalte.
== Soziales und Bildung ==
=== Soziales ===
Im Vergleich zu anderen Regionen Indiens ist Tamil Nadu verhältnismäßig wohlhabend. Extreme Armut ist daher nicht ganz so häufig anzutreffen wie etwa in Nordindien. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2006/07 bei 32.733 Rupien und damit etwas über dem Landesdurchschnitt von 29.642 Rupien. 2015 wurde für Tamil Nadu ein Index der menschlichen Entwicklung von 0,694 gegenüber einem Wert von 0,624 für ganz Indien ermittelt. Auch Gesundheitsindikatoren wie die Lebenserwartung von 64,6 Jahren (Männer: 63,7 Jahre, Frauen: 65,7 Jahre) gegenüber 61,7 Jahren im Landesdurchschnitt (Männer: 60,8 Jahre, Frauen: 62,5 Jahre; Stand jeweils 1999) und die Säuglingssterblichkeit von 41 auf 1000 Lebendgeburten gegenüber 60 im Landesdurchschnitt (Stand jeweils 2003) weisen auf Tamil Nadus relative Bessergestelltheit innerhalb Indiens hin.
Dennoch bestehen auch in Tamil Nadu weiterhin gravierende soziale Probleme und Ungleichheiten. So sind die außerhalb des Kastensystems stehenden Dalit, die in Tamil Nadu einen überproportional hohen Bevölkerungsanteil von etwa einem Fünftel haben, nach wie vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und wirtschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt. Viele von ihnen müssen sich ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner in der Landwirtschaft verdienen. Kinderarbeit ist noch immer ein weitverbreitetes Problem; auffällig ist dabei der hohe Anteil von Mädchen – ein Indiz für das geringere Ansehen von Mädchen und Frauen in der Gesellschaft. Fast die Hälfte aller Kinder ist unterernährt. Hohe Arbeitslosigkeit stellt vor allem in den Städten eine große Herausforderung dar.
=== Bildung ===
Tamil Nadu weist im Vergleich zu anderen Teilen Indiens gute Bildungsindikatoren auf. Die Alphabetisierungsrate liegt mit 80,3 Prozent (Männer: 86,8 Prozent, Frauen: 73,9 Prozent) deutlich über dem gesamtindischen Durchschnitt von 74,0 Prozent (Männer: 82,1 Prozent, Frauen: 65,5 Prozent; Stand: jeweils Volkszählung 2011). Es besteht Schulpflicht ab einem Alter von 6 Jahren. Tatsächlich werden 98,3 Prozent aller Kinder Tamil Nadus eingeschult, wobei sich die Einschulungsraten von Jungen und Mädchen kaum unterscheiden. Im Gegensatz dazu besuchen nur 42,8 Prozent aller Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren eine höhere Schule. Insgesamt verfügt der Staat über knapp 50.000 Grund- und weiterführende Schulen, in denen Tamil als erste Unterrichtssprache dient. An Hochschulen wird dagegen ein großer Teil der Lehrveranstaltungen in englischer Sprache durchgeführt.
In Tamil Nadu gibt es 21 Universitäten. Darüber hinaus existieren hunderte von privaten und staatlichen Colleges für Fach-, Berufs- und Allgemeinbildung. Das Indian Institute of Technology (IIT) in der Hauptstadt Chennai ist eine von nur sieben Einrichtungen dieser Art in Indien. Es zählt zu den Elitehochschulen im Bereich Technologie und Ingenieurwesen.
== Kultur ==
Die tamilische Kultur ist Teil der gesamtindischen Kulturtradition, hat aber in vielerlei Hinsicht ein eigenständiges Angesicht bewahrt, das sich deutlich vom Rest Indiens unterscheidet. Das wichtigste Bindeglied der tamilischen Kultur ist die tamilische Sprache, die zum zentralen Identifikationsmerkmal erhoben und bisweilen geradezu vergöttlicht wird. Das Tamil gehört zur Familie der in Südindien gesprochenen dravidischen Sprachen und ist somit nicht mit den Sprachen Nordindiens verwandt. Es kann auf eine über 2000-jährige eigenständige Literaturgeschichte zurückblicken und zählt daher als klassische Sprache. Viele Tamilen betonen stolz das hohe Alter und die Eigenständigkeit der tamilischen Sprache.
=== Literatur ===
Die tamilische Literatur besitzt ein Alter von rund 2000 Jahren und hat damit die älteste durchgängige Tradition aller modernen indischen Sprachen. Auch beruht sie nicht auf der Sanskrit-Literatur, sondern hat einen weitgehend eigenständigen Ursprung. Die früheste Schicht der tamilischen Literatur ist die wahrscheinlich aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. stammende Sangam-Literatur. Das Tolkappiyam, eine Grammatik des Tamil, beschreibt die Ästhetik der klassischen Dichtung. Sie wird nach subjektiven Inhalten (akam), wie Liebe und Sexualität, sowie objektiven Themen (puram), wie Krieg und Staatswesen, unterschieden, die jeweils bildhaft dargestellt werden. Im Gegensatz zur nordindischen Sanskritliteratur spielen religiöse Themen in der frühen Tamil-Literatur kaum eine Rolle. Der Korpus der Sangam-Literatur wird unterteilt in die Sammlungen Ettuttogai („Acht Anthologien“) und Pattuppattu („Zehn Lieder“). Aus der Nach-Sangam-Zeit stammen die „Fünf Großen Epen“, darunter das Silappadigaram.
Gegen Ende der Sangam-Periode machten sich verstärkt die Einflüsse der sanskritischen Kultur bemerkbar, die unter anderem in umfangreichen buddhistischen und jainistischen Schriften zum Ausdruck kamen. Neue Themen wie Moral und Ethik traten in den Vordergrund, etwa in Tiruvalluvars belehrender Verssammlung Tirukkural. Mit dem Entstehen der hinduistischen Bhakti-Bewegung im 7. Jahrhundert erlebte die fromme Hindulyrik in Form von Preisliedern auf Shiva und Vishnu eine Blüte. In der Chola-Zeit wurde das Epos zum beliebtesten Genre. Hervorzuheben ist hier besonders Kamban mit seinem Kambaramayanam, einer Version des Ramayana.
Umwälzende Veränderungen erlebte die tamilische Literatur infolge westlicher Einflüsse während der europäischen Kolonialherrschaft. Neue Genres, wie Roman, Essay und Kurzgeschichte, setzten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch und prägen die moderne tamilische Literatur bis heute. Als Begründer der tamilischen Moderne gilt der Dichter Subramaniyam Bharati (1882–1921). Kalki (1899–1954) verarbeitete in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem historische Stoffe. Pudhumaipithan (1906–1948) erlangte durch seine sozialkritischen Werke große Anerkennung.
=== Architektur ===
In architektonischer Hinsicht sticht in Tamil Nadu die Tempelbaukunst hervor. An zahlreichen Orten des Bundesstaates finden sich große Tempelanlagen im südindischen Dravida-Stil. Charakteristisch sind die hohen, meist mit reichem Figurenschmuck verzierten Gopurams (Tortürme) und der Aufbau des weitläufigen Tempelkomplexes, der sich über mehrere Hektar erstrecken kann, um den zentralen Hauptschrein herum. In den klassischen Tempelstädten wie Madurai, Srirangam, Chidambaram, Rameswaram und Tiruvannamalai bildet das Heiligtum den Mittelpunkt der Stadt, deren Stadtgrundriss den Umrissen des Tempels folgt.
In Tamil Nadu finden sich einige der herausragendsten Beispiele frühmittelalterlicher hinduistischer Tempelbaukunst. Die monolithischen Felsentempel aus der Pallava-Zeit (7. und 8. Jahrhundert) in der ehemaligen Hafenstadt Mamallapuram sind Frühformen des südindischen Dravida-Stils und sind durch einen pyramidenförmig gestuften Tempelturm (Vimana) über dem Allerheiligsten gekennzeichnet. Dem Vimana ist üblicherweise eine Säulenhalle vorgelagert. Im 8. Jahrhundert setzte sich der in Mamallapuram begonnene Tempelbaustil in der alten Pallava-Hauptstadt Kanchipuram fort. Die Chola entwickelten die Vimanas der Pallava-Zeit zu gewaltigen Stockwerkpyramiden weiter, deren Geschosse mit aufgesetzten Scheinzellen verziert wurden. Dieser Entwicklung erreichte mit dem Brihadishvara-Tempel in Thanjavur im frühen 11. Jahrhundert ihren Höhepunkt.
Unter den späten Chola und insbesondere unter den sie ablösenden Pandya und der Nayak-Dynastien vollzog sich eine bauliche Akzentverlagerung vom Vimana auf den Torturm (Gopuram) des den eigentlichen Sakralbau umgebenden Tempelbereiches. Während der Vimana kleiner und unauffälliger ist, nimmt der Gopuram nun dessen Größe und künstlerische Ausgestaltung an. Durch die Ergänzung zusätzlicher Säulenhallen sowie mit Gopurams geschmückter Mauerzüge wuchsen viele Tempelbezirke zu weitläufigen Komplexen heran. Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Minakshi-Tempel in Madurai, der seine heutige Gestalt im Wesentlichen im 16.–17. Jahrhundert erhielt.
Unter europäischer Herrschaft erlebte die zuvor weitgehend unbeachtete Profanarchitektur einen Aufschwung. Besonders in Chennai entstanden monumentale Verwaltungs- und Repräsentationsgebäude wie der High Court sowie zahlreiche Museumsbauten im indo-sarazenischen Stil, der europäische, indische und islamische Einflüsse in sich vereinte.
=== Musik und Tanz ===
Der klassische Musikstil Tamil Nadus ist die karnatische Musik, eine der beiden Hauptrichtungen der klassischen indischen Musik neben der in geringem Umfang von persischen Traditionen beeinflussten hindustanischen Musik Nord- und Zentralindiens. In der klassischen Musik und häufig auch in den Volksmusikstilen bilden Ragas eine tonale Ordnung und sind mit rhythmischen Zyklen (Talas) verbunden. Die klassische Musik ist melodisch und im Wesentlichen vokal. Die am häufigsten verwendeten Melodieinstrumente der karnatischen Musik sind die gezupfte Langhalslaute Sarasvati vina, die Violine, die kurze Querflöte pullankuzhal (zur Unterscheidung vom Doppelrohrblattinstrument kuzhal, auch venu, entspricht der längeren bansuri in Nordindien) und das lange Doppelrohrblattinstrument nadaswaram. Die gottuvadyam ist eine waagrecht wie eine Zither gespielte Langhalslaute. Für den Rhythmus sorgen die zweifellige Doppelkonustrommel mridangam, der Tontopf ghatam und die Rahmentrommel kanjira. Die nadaswaram wird von der zweifelligen Fasstrommel tavil begleitet. Bekannte karnatische Vokalisten sind M. S. Subbulakshmi (1916–2004), Ramnad Krishnan (1918–1973), D. K. Pattammal (1919–2009), M. L. Vasanthakumari (1928–1990) und Sudha Ragunathan (* 1956).
Die ältesten religiösen Gesänge gehen auf das Ende des 1. Jahrtausends zurück und sind in den beiden um 1000 n. Chr. zusammengestellten tamilischen Verssammlungen Tevaram mit Hymnen an Shiva und Naalayira Divya Prabhandham mit Hymnen an Vishnu enthalten. Sie werden von einer Gruppe von Tempelsängern (oduvar) in den jeweiligen Hindutempeln vorgetragen. Bei der religiösen Ritualmusik an Tempeln und für Prozessionen werden als mangala vadyam („segenbringende Musikinstrumente“) geltende Blasinstrumente verwendet, zu denen neben der Kombination von nadaswaram und tavil die gebogene Trompete kombu und die seltene gerade Trompete tirucinnam gehören.
Zur dörflichen religiösen Musik oder Volksmusik gehören die Doppeltrommel pambai, die kurze Kegeloboe mukhavina, die kleine Sanduhrtrommel udukai und die seltene kleine Kesseltrommel dhanki. Die religiöse Volksliedgattung Villu Pattu wird von der niedrigstehenden Kastengruppe Pulluvan mit einem besonderen Musikbogen viladi vadyam und Trommeln begleitet.
Bestandteile klassischer karnatischer Musik finden sich auch in der modernen tamilischen Popmusik wieder, häufig Filmmusiken beliebter Kinostreifen. Der erfolgreichste Komponist moderner Musik aus Tamil Nadu ist A. R. Rahman. In der Hauptstadt Chennai findet jedes Jahr im Dezember ein großes Musikfestival statt (Chennai Music Season), bei dem einige der anerkanntesten Virtuosen der karnatischen Musik und Darsteller südindischer Tanzformen auftreten.
Tänze dienen seit jeher als Ausdrucksformen religiöser Verehrung oder zur Darstellung mythologischer Themen. Schon im Altertum wurden sie von Tempeldienerinnen (Devadasis) dargeboten. Der Bharatanatyam, heute einer der sieben führenden klassischen Tanzstile Indiens, hat seinen Ursprung in Tamil Nadu. Er wurde in den 1930er Jahren von Rukmini Devi Arundale wiederbelebt und weiterentwickelt und wird heute unter anderem an der von ihr gegründeten Kalakshetra-Akademie in Chennai gelehrt. Er umfasst rein tänzerische sowie dramatische Elemente. Als Einzeltanz kann er sowohl von Frauen als auch von Männern dargeboten werden. Darüber hinaus existieren zahlreiche, für Tamil Nadu spezifische Volkstanz- und Tanzdramatraditionen, darunter das religiöse Straßentheater Kattaikkuttu und das auf die Umgebung von Thanjavur beschränkte Ritualtheater Bhagavata Mela.
=== Film ===
Das tamilische Kino trägt in Anspielung auf Hollywood und Bollywood, die Filmindustrie in Mumbai, auch den Namen „Kollywood“. Der Anfangsbuchstabe weist auf Kodambakkam hin, den Stadtteil Chennais, auf den die tamilische Filmproduktion konzentriert ist. Der erste Spielfilm entstand in Kodambakkam 1916 unter der Regie von R. Nataraja Mudaliar. Als erster Tonfilm folgte 1931 Kalidas von H. M. Reddy. Heute gehört der tamilische Film mit derzeit 150 bis 200 Produktionen pro Jahr neben dem Hindi-Film und dem Telugu-Film zu den drei größten indischen Regionalfilmindustrien, die alle schon die Spitzenposition der meisten produzierten Filme innehatten (Tamil erstmals 1979 mit 139 Produktionen).
In Konzeption und Thematik ähneln die meisten tamilischen Produktionen denen des Hindi-Films, grenzen sich aber durch die Verwendung der tamilischen Sprache ab. Wie auch in Bollywoodfilmen kommt Musik- und Tanzeinlagen eine hohe Bedeutung zu, allerdings finden sich mehr komische und Kampfkunstelemente. Erfolgreiche Tamil-Filme werden oft in leicht abgewandelter Form und mit anderer Besetzung in Bollywood neuverfilmt, seltener auch umgekehrt. Bekannte Regisseure des gegenwärtigen tamilischen Films sind beispielsweise S. Shankar, Mani Ratnam, Linguswamy, AR. Murugadoss und Gautham Vasudev Menon, die mittlerweile auch an zahlreichen anderssprachigen Produktionen mitgewirkt haben und als herausragende indische Regisseure gelten. Der gegenwärtige „Superstar“ ist der erfolgreiche Schauspieler Rajinikanth, welcher in der Vergangenheit sehr viele kommerzielle Erfolge durch seine Filme erzielen konnte.
Eine Besonderheit ist die außergewöhnliche hohe, zuweilen abgöttische Verehrung, die Schauspielern und Schauspielerinnen entgegengebracht wird. In keinem anderen Bundesstaat Indiens waren ehemalige Filmschaffende politisch so erfolgreich wie in Tamil Nadu. Die enge Verbindung von Politik und Filmindustrie begann in den 1950er-Jahren als die DMK-Partei den tamilischen Film zu einem Vehikel ihrer Propaganda machte („DMK-Film“). Seit 1967 sind alle politischen Führer Tamil Nadus – die Drehbuchautoren C. N. Annadurai und M. Karunanidhi sowie die Schauspieler M. G. Ramachandran und J. Jayalalithaa – Filmpersönlichkeiten gewesen.
=== Sport ===
Wie in ganz Indien ist die mit Abstand beliebteste Sportart in Tamil Nadu Cricket, gefolgt von Hockey. Die Chennai Veerans sind der erfolgreichste Hockeyverein Tamil Nadus. Die First-Class Cricket-Auswahl des Bundesstaates spielt in der Ranji Trophy, einem der wichtigsten nationalen Cricketwettbewerbe, und trägt ihre Spiele im 50.000 Zuschauer fassenden M. A. Chidambaram Stadium in Chennai aus. Das Jawaharlal Nehru Stadium mit 40.000 Plätzen, ebenfalls in der Hauptstadt, wird für Leichtathletikveranstaltungen und Fußballspiele genutzt. Es ist Heimspielstätte des erfolgreichsten Fußballvereins von Tamil Nadu, Indian Bank RC, der 1996 Gründungsmitglied der National Football League war, derzeit (Spielzeit 2010/11) aber nur noch zweitklassig ist.
Drei der international bekanntesten indischen Sportler kommen aus Tamil Nadu: Viswanathan Anand (Schachweltmeister 2007–2013), sowie die ehemaligen Formel-1-Rennfahrer Narain Karthikeyan und Karun Chandhok.
=== Küche ===
Die als besonders pikant geltende tamilische Küche zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Vielfalt an vegetarischen Gerichten aus. Fleischspeisen sind aus religiösen Gründen von untergeordneter Bedeutung, allerdings werden gelegentlich Fisch oder Meeresfrüchte verwendet. Als Grundnahrungsmittel dient Reis. Eine typische Hauptmahlzeit besteht aus Reis, der mit Linsen, verschiedenem Gemüse, Sambar (einer Soße auf Linsen- und Tamarindenbasis), Rasam (einer dünnen Pfeffersoße) und Joghurt verzehrt wird. Bei der Zubereitung der Soßen kommt eine Vielzahl an Gewürzen zum Einsatz, darunter Tamarinde, Curryblätter, Koriander, Ingwer, Chili, Knoblauch, Pfeffer, Kardamom, Kreuzkümmel, Zimt, Muskatnuss und Gewürznelken.
Als Zwischenmahlzeiten beliebt sind Dosai, eine Art Pfannkuchen aus Reis- und Urdbohnenmehl, Idli, gedämpfte Küchlein, die ebenfalls aus Reis- und Urdbohnenmehl gefertigt werden, und Vadai, frittierte Küchlein aus Urdbohnen. Dazu reicht man Sambar und Chutneys aus Kokosfleisch oder Tomaten. Die Speisen werden für gewöhnlich auf einem Bananenblatt serviert. Gegessen wird traditionell mit der rechten Hand.
Noch vor dem in ganz Indien beliebten Tee ist in Tamil Nadu Kaffee das wichtigste Getränk. Er wird als Filterkaffee mit viel Milch und Zucker zubereitet und in Edelstahlbechern serviert.
=== Feste ===
Neben den überregional verbreiteten Feiertagen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften gilt das Erntedankfest Pongal als das wichtigste aller tamilischen Feste. Es wird vom ersten Tag des tamilischen Monats Tai (Mitte Januar) an vier Tage lang gefeiert. Am ersten Tag werden symbolisch alte Gegenstände weggeworfen. Der wichtigste Tag ist der zweite, an dem man eine Art Milchreis kocht, der ebenfalls Pongal heißt. Das Gericht muss dabei überkochen, was den Wunsch nach einer guten Ernte, Wohlstand und Überfluss zum Ausdruck bringen soll. Am dritten Tag dankt man den Kühen und Büffeln für ihre Dienste. Dabei findet vielerorts ein Jallikattu genannter Wettkampf statt, bei dem junge Männer versuchen, einen Bullen niederzuringen. Am vierten Tag klingt das Pongal-Fest mit Familienbesuchen aus.
Das tamilische Neujahrsfest findet Mitte April statt. Unter den religiösen Festen der Hindus ragt das Lichterfest Diwali heraus, im Tamilischen Dipavali genannt. In den Tempelstädten Tamil Nadus werden im jährlichen Rhythmus große Tempelfeste gefeiert, bei denen die Götterbilder in aufwändigen Prozessionen auf großen Tempelwagen durch die Straßen gezogen werden.
== Persönlichkeiten ==
Aus Tamil Nadu kommen mehr Träger der höchsten zivilen Auszeichnung Indiens, des Bharat Ratna, als aus jedem anderen Bundesstaat. Zu den acht tamilischen Trägern des zuletzt 2001 verliehenen Ordens gehören der Politiker C. Rajagopalachari (1878–1972), Indiens zweiter Präsident S. Radhakrishnan (1888–1975), der Physiker und Nobelpreisträger C. V. Raman (1888–1970), der Politiker und ehemalige Chief Minister K. Kamaraj (1903–1975), der Schauspieler und langjährige Chief Minister M. G. Ramachandran (1917–1987), der Raketeningenieur und ehemalige indische Präsident A. P. J. Abdul Kalam (geb. 1931), die Sängerin M. S. Subbulakshmi (1916–2004) sowie der maßgeblich an der Durchführung der „Grünen Revolution“ beteiligte Politiker C. Subramaniam (1910–2000). Als eigentlicher Vater der „Grünen Revolution“ gilt der Agrarwissenschaftler M. S. Swaminathan (geb. 1925). Auch der Mathematiker S. Ramanujan (1887–1920) und der Physiker und Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar (1910–1995) waren tamilischer Abstammung. Der spirituelle Lehrer und Vorgänger der Satsang-Bewegung Ramana Maharshi (1879–1950) wurde ebenfalls in Tamil Nadu geboren.
siehe auch: Liste bekannter Tamilen
== Literatur ==
Joachim K. Bautze: Indien und seine Bundesstaaten. Komet Verlag, Köln 2006, ISBN 3-89836-527-1.
Fritjof Capra, Jacqueline Capra: Die Seele Indiens. Tamil Nadu. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 1984, ISBN 3-922294-37-5.
R. Nagaswami: Art and Culture of Tamil Nadu. Sundeep Prakashan, Delhi 2004, ISBN 81-7574-015-9.
George Michell: Temple Towns of Tamil Nadu. Marg Publications, Mumbai 2003, ISBN 81-85026-21-1.
Frédéric Landy: Tamil Nadu, eine Landschaft der Gegensätze. In: M. D. Muthukumaraswamy u. a. (Hrsg.): Von Liebe und Krieg, tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt. Sandstein, Dresden 2022, ISBN 978-3-95498-669-9, S. 22–32.
== Weblinks ==
Offizielle Webpräsenz der Regierung von Tamil Nadu (englisch)
Die dravidischen Parteien Tamil Nadus von Eric Töpfer bei suedasien.info
Die Tempelstädte von Tamil Nadu und ihre Architektur (von Dr. Bernhard Peter)
Wirtschaftliches Profil Tamil Nadus (englisch, PDF; 1,21 MB)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Tamil_Nadu |
Konstantin der Große | = Konstantin der Große =
Flavius Valerius Constantinus (* an einem 27. Februar zwischen 270 und 288 in Naissus, Moesia Superior; † 22. Mai 337 in Anchyrona, einer Vorstadt von Nikomedia), bekannt als Konstantin der Große (altgriechisch Κωνσταντῖνος ὁ Μέγας) oder Konstantin I., war von 306 bis 337 römischer Kaiser. Ab 324 regierte er bis zu seinem Tod als alleiniger Augustus.
Konstantins Aufstieg zur Macht vollzog sich im Rahmen der Auflösung der römischen Tetrarchie („Viererherrschaft“), die Kaiser Diokletian errichtet hatte. 306 trat Konstantin das Erbe seines Vaters Constantius I. an, nachdem dessen Soldaten ihn zum Kaiser ausgerufen hatten. Bis 312 hatte sich Konstantin im Westen, 324 auch im Gesamtreich durchgesetzt. Folgenreich war seine Regierungszeit vor allem aufgrund der von ihm eingeleiteten konstantinischen Wende, mit der der Aufstieg des Christentums zur wichtigsten Religion im Imperium Romanum begann. Seit 313 garantierte die Mailänder Vereinbarung im ganzen Reich die Religionsfreiheit, womit sie auch das noch einige Jahre zuvor verfolgte Christentum erlaubte. In der Folgezeit privilegierte Konstantin das Christentum. 325 berief er das Erste Konzil von Nicäa ein, um innerchristliche Streitigkeiten (arianischer Streit) beizulegen. Im Inneren trieb Konstantin mehrere Reformen voran, die das Reich während der weiteren Spätantike prägten. Außenpolitisch gelang ihm eine Sicherung und Stabilisierung der Grenzen.
Nach 324 verlegte Konstantin seine Residenz in den Osten des Reiches, in die nach ihm benannte Stadt Konstantinopel („Konstantinsstadt“). Viele Einzelheiten seiner Politik sind bis heute umstritten, besonders Fragen, die sein Verhältnis zum Christentum betreffen.
== Das Römische Reich zur Zeit Konstantins ==
Das Imperium Romanum war im 3. Jahrhundert in eine Krisenzeit geraten (Reichskrise des 3. Jahrhunderts), in der die innenpolitische Instabilität und der Druck auf die Grenzen zunahmen. An Rhein und Donau sorgten verschiedene Germanenstämme bzw. neue gentile Großverbände wie die Franken, Alamannen und Goten für Unruhe. Mehrmals drangen Gruppen von „Barbaren“ auf römisches Gebiet vor und plünderten römische Städte, die zuvor fast zwei Jahrhunderte lang weitgehend von Angriffen verschont geblieben waren. Im Osten war 224/226 das Sāsānidenreich entstanden, das zum gefährlichsten Rivalen Roms wurde (siehe Römisch-Persische Kriege). Im Inneren des Imperiums stützten sich zahlreiche Usurpatoren und Usurpationsversuche vor allem auf die großen Heeresverbände, die nun die Kaisermacht legitimierten (Soldatenkaiser), so dass endlose Bürgerkriege das Imperium erschütterten. Wenngleich nicht alle Lebensbereiche und Provinzen von der Krise hart betroffen waren und diese keineswegs ununterbrochen andauerte, erwies sie sich doch als eine schwere Belastungsprobe für das Reich.
Kaiser wie Aurelian leiteten daher seit den 270er Jahren Reformen ein, doch erst dem 284 an die Macht gekommenen Diokletian gelang es, das Reich auf ein neues Fundament zu stellen. Er betrieb weitreichende Reformen und gestaltete das Reich grundlegend um. Diokletian führte unter anderem ein neues Steuersystem (Capitatio-Iugatio) ein und ordnete das Heer durch Aufteilung in Comitatenses als mobiles Feldheer und Limitanei als Grenztruppen neu. Die Krise wurde endgültig überwunden, das Reich trat in die Spätantike ein. Als Reaktion auf die gleichzeitigen militärischen Belastungen an den verschiedenen Grenzen und die ständigen Usurpationen ehrgeiziger Generäle wurde ein Mehrkaisertum eingeführt, die Tetrarchie, in der Diokletian als senior Augustus mit drei ihm untergeordneten Mitkaisern fungierte. Dieses System beruhte auf Ernennung von Nachfolgern statt dynastischer Erbfolge und diente vor allem der Verhinderung von Usurpationen. In Diokletians letzten Regierungsjahren kam es zu einer Christenverfolgung. 305 trat Diokletian freiwillig zurück und zwang seinen Mitkaiser Maximian, diesem Beispiel zu folgen, so dass nunmehr die bisherigen Unterkaiser Constantius I. (als Ersatz für Maximian im Westen) sowie Galerius (als Ersatz für Diokletian im Osten) als Seniorkaiser (Augusti) nachfolgten. Dennoch setzte sich bald entgegen Diokletians Absicht wieder das dynastische Prinzip durch (siehe Auflösung der römischen Tetrarchie). Ein jahrelanger blutiger Bürgerkrieg entbrannte, an dessen Ende Konstantin Alleinherrscher des Imperiums war.
== Leben ==
=== Jugendzeit und Erhebung zum Kaiser (bis 306) ===
Konstantin wurde am 27. Februar eines unbekannten Jahres in der Stadt Naissus (heute Niš in Serbien) geboren. Sein Alter zum Zeitpunkt seines Todes (337) wird in den Quellen sehr unterschiedlich angegeben. Daher variieren in der Forschung die Ansätze für das Geburtsjahr zwischen 270 und 288, wobei eine frühe Datierung als plausibler gilt. Seine Eltern waren Constantius und Helena. Helena soll den Quellen zufolge von sehr niedriger Herkunft gewesen sein. Ambrosius von Mailand zufolge war sie Stallmagd (stabularia). Dies ist inzwischen teils dahingehend interpretiert worden, dass ihr Vater ein Beamter des Cursus publicus gewesen sei (Stallmeister); demnach wäre sie durchaus von hoher Geburt gewesen. In späteren Jahren wurde sie jedenfalls Christin, angeblich unter dem Einfluss ihres Sohnes. Sie ist am Hof Konstantins belegt, hat Pilgerreisen unternommen und spielte in der späteren christlichen Legende um das „Wahre Kreuz Christi“ eine wichtige Rolle.
Constantius stammte wie viele römische Militärs aus dem Illyricum und war in einfachen Verhältnissen herangewachsen. Er neigte zum Henotheismus und verehrte vermutlich den Sonnengott Sol. Constantius war wohl unter den Kaisern Aurelian und Probus Offizier gewesen, gelangte aber erst unter Diokletian zu politischer Bedeutung. Dass er von Kaiser Claudius Gothicus abstammte, wie später behauptet wurde, gilt meist als Erfindung. Er war offenbar ein fähiger Militär und errang etwa 288/89 einen Sieg über die Franken. Wie lange die Beziehung zwischen Constantius und Helena hielt, ist unklar. Eine legitime Ehe ist, obwohl in manchen Quellen angedeutet, angezweifelt worden; in der Forschung ist diese Frage jedoch umstritten. Eine eventuell illegitime Herkunft wäre aus Legitimationsgründen problematisch gewesen, doch bekannte sich Constantius offenbar zu seinem Sohn und kümmerte sich um dessen Erziehung. Konstantin hatte noch sechs Halbgeschwister aus der spätestens 289 geschlossenen Ehe seines Vaters mit Theodora, einer Stieftochter Kaiser Maximians: die Brüder Julius Constantius, Flavius Dalmatius und Flavius Hannibalianus sowie die Schwestern Constantia, Eutropia und Anastasia.
Sonst ist über Konstantins Kindheit und Jugend kaum etwas bekannt, zumal bereits früh die Legendenbildung um Konstantin einsetzte. Nachdem Constantius 293 in Diokletians Tetrarchie westlicher Caesar (Unterkaiser) unter Maximian geworden war, lebte Konstantin zuerst am Hof des Seniorkaisers Diokletian im Osten. Dort erhielt er eine formale, auch literarische Ausbildung, so dass er als recht gebildeter Mann gelten konnte. Vermutlich kam er auch in Kontakt mit dem gebildeten Christen Lactantius, der am Hof Diokletians tätig war. Lactantius legte dann zu Beginn der diokletianischen Christenverfolgung im Jahr 303, die das Ende eines seit 40 Jahren bestehenden Religionsfriedens markierte, sein Amt nieder. Ob Konstantin an dieser Verfolgung beteiligt war, ist unbekannt; es spricht aber nichts dafür. Er machte Karriere im Militär, bekleidete wohl den Posten eines Militärtribuns und zeichnete sich unter Galerius bei Kämpfen gegen die Sarmaten an der Donau aus.305 stieg sein Vater Constantius zum Augustus (Oberkaiser) des Westens auf, nachdem Diokletian und Maximian ihr Amt niedergelegt hatten. Im gleichen Jahr schickte Galerius, nun ebenfalls Augustus des Ostens, Konstantin zurück zu Constantius nach Gallien. Nach der Origo Constantini, einem Geschichtswerk aus dem 4. Jahrhundert, das zuverlässige Informationen enthält, wurde Konstantin am Hof als Geisel festgehalten. Ähnliches berichten auch andere Quellen, so Aurelius Victor, Philostorgios und der byzantinische Geschichtsschreiber Johannes Zonaras. Konstantins Biograf Praxagoras von Athen hingegen erklärt diesen Aufenthalt mit einer dortigen Ausbildung. Es ist aber durchaus plausibel, dass zunächst Diokletian, der keine dynastische Nachfolge wünschte, und später Galerius Konstantin unter Aufsicht stellten. Ob Galerius dann jedoch 305 wirklich, wie mehrere Quellen berichten, Konstantin gezielt in Lebensgefahr brachte, bevor dieser nach einer dramatischen Reise seinen Vater erreichte, ist wegen des tendenziösen Charakters dieser Berichte zweifelhaft. Dass Galerius Konstantin fortgehen ließ, mag auf eine vorherige Vereinbarung mit Constantius zurückzuführen sein, dessen Sohn als Caesar in die Tetrarchie aufzunehmen, doch sind die genauen Hintergründe unbekannt. In der Forschung ist umstritten, ob Konstantin ein Usurpator war.
Konstantin traf seinen Vater in Bononia an und begleitete ihn nach Britannien, wo Pikten und Skoten in die römische Provinz eingedrungen waren. Constantius führte einen erfolgreichen Feldzug gegen die Invasoren und warf sie zurück. Als er überraschend am 25. Juli 306 im Lager von Eboracum (heute York) verstarb, wurde Konstantin sogleich von den anwesenden Soldaten zum Kaiser ausgerufen. Die Hintergründe sind unbekannt, doch hatte Constantius seinen Sohn sehr wahrscheinlich systematisch als Nachfolger aufgebaut. Die Soldaten zogen offensichtlich die dynastische Nachfolge innerhalb eines ihnen vertrauten Geschlechts dem tetrarchischen Konzept vor; auch Konstantin selbst betonte dieses Element seiner Legitimation in den folgenden Jahren sehr und wandte sich damit von der Ideologie der Tetrarchie ab. Aber auch seine möglicherweise bereits bewiesenen militärischen Fähigkeiten sprachen wohl für ihn. Angeblich kam die Kaisererhebung durch Einflussnahme eines Alamannenfürsten namens Crocus zustande.
=== Das Ende der Tetrarchie (306–312) ===
Mit der Kaisererhebung Konstantins im Jahr 306, die im Grunde eine Usurpation darstellte, war die mühsam errichtete tetrarchische Ordnung Diokletians durchbrochen. Sie konnte trotz einiger zaghafter Restaurierungsbemühungen nicht wiederhergestellt werden (siehe Auflösung der römischen Tetrarchie). Die dynastische Idee, der die Soldaten mehrheitlich anhingen, gewann nun wieder an Boden. Die Lage blieb für Konstantin angespannt, da sein Kaisertum faktisch illegitim war, doch konnte er darauf vertrauen, dass das gallische Heer loyal zu ihm stand und seine Herrschaft nicht direkt bedroht wurde. Gallien und Britannien befanden sich fest in seiner Hand. Galerius, nach dem Tod des Constantius der ranghöchste Kaiser, verweigerte Konstantin die Anerkennung als Augustus, doch fehlten ihm die Mittel, gegen den Usurpator vorzugehen, zumal Konstantins Usurpation nicht die einzige war. Ende Oktober 306 war Maximians Sohn Maxentius von der Prätorianergarde und stadtrömischen Kreisen in Rom zum Kaiser erhoben worden und behauptete nun Italien und Africa. Schließlich ernannte Galerius Severus zum neuen Augustus des Westens und Konstantin zu dessen Caesar, womit sich Konstantin vorläufig begnügte.Maximian, der 305 nur widerwillig zurückgetreten war, hatte möglicherweise die Erhebung seines unerfahrenen Sohnes Maxentius begünstigt. Er trat 307 ebenfalls wieder als Kaiser auf und kooperierte mit Maxentius. Sie konnten 307 den Angriff des Severus, der als neuer regulärer Augustus des Westens die Usurpation im Auftrag des Galerius niederschlagen sollte, abwehren. Severus wurde schließlich gefangen und später hingerichtet. Im gleichen Jahr besuchte Maximian Konstantin in Gallien und traf mit ihm eine Vereinbarung: Konstantin trennte sich von Minervina, der Mutter seines Sohnes Crispus (305–326), und heiratete stattdessen Maximians Tochter Fausta. Mit Fausta, die 326 starb, hatte Konstantin die drei Söhne Konstantin II., Constantius II. und Constans, die später seine Nachfolger als Kaiser wurden, sowie die beiden Töchter Constantina und Helena. Mit der neuen Heirat besiegelte Konstantin ein Bündnis mit Maximian. Ohne dazu berechtigt zu sein, ernannte Maximian Konstantin sogar zum Augustus, was die Einbindung Konstantins in Maximians tetrarchische „herculische Dynastie“ unterstrich, wovon Konstantin sich wohl zusätzliche Legitimation erhoffte. Damit wurde die Übereinkunft mit Galerius allerdings hinfällig.
Anschließend zerstritt sich Maximian jedoch mit Maxentius. Vermutlich beanspruchte der ehemalige Kaiser die ganze Macht für sich; jedenfalls spielte Maxentius bei der Vereinbarung mit Konstantin anscheinend keine Rolle. Allerdings hatte Maxentius in der Zwischenzeit einen Angriff des Galerius abgewehrt und lehnte daher die Rücktrittsforderung seines Vaters selbstbewusst ab. Auf der sogenannten Kaiserkonferenz von Carnuntum im Jahr 308, auf der Diokletian noch einmal politisch in Erscheinung trat, wurde Maximian zum Rücktritt gezwungen. Konstantin wurde der Augustus-Titel entzogen, er reihte sich aber als Caesar wieder in die tetrarchische Ordnung ein und war somit im Gegensatz zu Maxentius kein Usurpator. Konstantins Mitkaiser in der dritten Tetrarchie war neben den Ostkaisern Galerius (293/305–311) und Maximinus Daia (305/310–313) noch Licinius (308–324), der als neuer Augustus im Westen vorgesehen war. Maximinus Daia fand sich allerdings nicht damit ab, dass Licinius, der nie die Caesar-Würde bekleidet hatte, im Rang nun über ihm stand. Auch Konstantin war nicht bereit, in die zweite Reihe zurückzutreten, während Licinius nicht über die Mittel verfügte, seine Oberherrschaft im Westen durchzusetzen und Maxentius zu besiegen. Galerius versuchte zu vermitteln und ernannte sowohl Konstantin als auch Maximinus Daia zu „Söhnen der Augusti“, doch sah er sich kurz darauf gezwungen, auch die Augustus-Würde der beiden anzuerkennen. Somit hatte auch die Kaiserkonferenz keine stabilisierende Wirkung entfaltet und den späteren Konflikt nur verschoben.
Über die innenpolitischen Maßnahmen Konstantins in seinem Reichsteil (Britannien und Gallien, wozu noch vor 312 Hispanien kam) ist nur wenig bekannt. Den Christen, denen schon sein Vater nicht feindlich gegenübergestanden hatte (die diokletianische Christenverfolgung war in Westeuropa weitaus weniger stark ausgeprägt gewesen als im übrigen Reich), gestattete Konstantin wieder den Gottesdienst. Galerius hingegen ließ die Christen im östlichen Reichsteil noch bis 311 verfolgen. Erst als die erhoffte Zurückdrängung des Christentums ausblieb, beendete er die Verfolgungen mit seinem Toleranzedikt. Konstantin residierte damals vornehmlich in Augusta Treverorum, dem heutigen Trier, das er prachtvoll ausbauen ließ. Zahlreiche neue Gebäudekomplexe entstanden, darunter repräsentative Gebäude wie die Konstantinbasilika und die Kaiserthermen. Trier war außerdem als späterer Sitz der gallischen Präfektur der verwaltungstechnische Mittelpunkt der westlichen Provinzen (außer Italien und Africa). Daneben initiierte Konstantin auch in anderen gallischen Städten Bauprogramme und kümmerte sich intensiv um die Grenzsicherung, vor allem am Rhein. Militärisch war er sehr erfolgreich und sicherte wieder die Rheingrenze. Bisweilen ging er dabei sehr brutal vor; so wurden die gefangenen Frankenkönige Ascaricus und Merogaisus 307 zur Feier eines Sieges in der Arena lebendig wilden Tieren vorgeworfen. 309 ließ Konstantin in Trier an Stelle des Aureus, der im 3. Jahrhundert massiv an Feingehalt und somit Wert verloren hatte, den Solidus als neues „solides“ Münznominal prägen. Als solches blieb er bis zur Eroberung von Konstantinopel (1453) im Umlauf.
Maximian, inzwischen aller Machtmittel beraubt, begab sich 308 zu seinem Schwiegersohn Konstantin, der ihn in Gallien freundlich aufnahm, aber keine politische Rolle spielen ließ. Mit einem Leben als Privatmann gab sich Maximian jedoch nicht zufrieden. 310 intrigierte er gegen Konstantin, der an der Rheinfront durch die Abwehr germanischer Angreifer gebunden war. Das Komplott scheiterte, und Maximian suchte in Massillia Zuflucht. Er wurde schließlich von seinen Truppen ausgeliefert und beging kurz darauf Suizid. Danach nahm Konstantin offiziell und endgültig den Augustustitel an. Zudem nahm er Abstand von der faktisch zerbrochenen tetrarchischen Ordnung und der Legitimation durch die mit Hercules assoziierte Dynastie Maximians. Auf Münzprägungen favorisierte Konstantin in dieser Zeit deutlich den Sonnengott Sol. Er konstruierte nun eine Abstammung von Claudius Gothicus, einem Soldatenkaiser des 3. Jahrhunderts, der in der senatorischen Geschichtsschreibung überaus positiv beschrieben wurde. Damit schuf sich Konstantin eine neue Legitimation und postulierte offiziell eine eigene Dynastie.
Die Lage blieb auch nach dem Tod des Galerius 311 angespannt. Es gab immer noch vier Kaiser, im Westen Konstantin und Maxentius, im Osten Licinius und Maximinus Daia, die sich dort um das Erbe des Galerius stritten. Maxentius wird in den Quellen zumeist einseitig sehr negativ geschildert. Er hatte durchaus militärische Erfolge aufzuweisen, darunter die Niederschlagung eines Aufstands in Africa (Usurpation des Domitius Alexander). Auch in Rom war er wohl recht populär und seine Religionspolitik war tolerant. Maxentius und Maximinus Daia traten in Verhandlungen. Dadurch wurde Licinius im Osten bedroht. Er suchte daher eine Annäherung an Konstantin, der bereits einen Feldzug nach Italien vorbereitete. 311 oder 312 verlobte sich Licinius mit Constantia, einer Halbschwester Konstantins. Zwischen Maxentius und Konstantin hingegen kam es endgültig zum offenen Bruch, als Konstantin des Mordes an Maximian beschuldigt wurde.
=== Göttliche Vorzeichen? Die Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312 ===
Im Frühjahr 312 marschierte Konstantin, nachdem er bereits Hispanien seinem Herrschaftsbereich angeschlossen hatte, in Italien ein. Maxentius war darauf allerdings gut vorbereitet, er hatte mehrere Städte in Norditalien zusätzlich befestigen lassen. Zahlenmäßig waren seine Truppen wohl überlegen; nach einem nicht namentlich bekannten Panegyriker verfügte er über 100.000 Mann, wovon sich ein Teil in Oberitalien im Raum von Turin, Verona und Segusio versammelt hatte. Konstantin hingegen konnte dieser Quelle zufolge wegen der Gefährdung der Rheingrenze nur ein Viertel seines Gesamtheeres mitführen, also etwa 40.000 Mann. Sein Heer aus britannischen, gallischen und germanischen Truppen war wesentlich kampferprobter als das italische. Konstantin rückte schnell vor und überraschte damit offenbar den Gegner. Er siegte bei Turin, Brescia und schließlich in der Schlacht von Verona, wo der Prätorianerpräfekt des Maxentius, Ruricius Pompeianus, fiel. Mehrere Städte öffneten Konstantin kampflos die Tore, darunter die wichtige Residenzstadt Mailand.
Nun traf Maxentius eine schwer nachvollziehbare Entscheidung, die sich bereits Zeitgenossen nicht erklären konnten. Anstatt in der befestigten Stadt Rom, die Konstantin nicht hätte erstürmen können, abzuwarten, suchte er die Feldschlacht. Sein Motiv ist unklar. Lactantius berichtet von Unruhen in Rom und einer günstigen Prophezeiung, die Maxentius zum Angriff ermutigt habe. Dies mögen topische Motive sein. Möglicherweise meinte Maxentius, er müsse sich nach Konstantins Anfangserfolgen als Feldherr profilieren. Jedenfalls zog er am 28. Oktober 312 Konstantin entgegen. Nördlich von Rom, an der Milvischen Brücke, kam es zur Entscheidungsschlacht. Die Brücke hatte man zuvor einreißen lassen und daneben eine Hilfsbrücke errichtet. Einige Kilometer nördlich kam es zu Vorhutgefechten, in denen die Truppen des Maxentius unterlagen, woraufhin sie zur Hilfsbrücke flüchteten. Diese Flucht scheint schließlich in offene Panik umgeschlagen zu sein, denn am Tiber selbst kam es wohl zu keiner Schlacht im eigentlichen Sinne. Vielmehr drängten die Soldaten des Maxentius nach Süden, viele ertranken im Fluss. So erging es auch Maxentius, dessen Heer sich damit auflöste.
Vielleicht hatte Maxentius Konstantin in eine Falle locken wollen; dies legt zumindest der Bericht des Praxagoras nahe, wo von einem Hinterhalt des Maxentius, dem er selbst zum Opfer fiel, die Rede ist. Maxentius könnte geplant haben, Konstantins Truppen durchbrechen zu lassen, um sie dann zwischen der Stadt Rom, dem Tiber und den nördlich von Rom stehenden Verbänden einzukesseln; er könnte mit diesem Plan aber gescheitert sein, als seine Truppen ungeordnet flohen.In den Quellen ist von einem göttlichen Zeichen die Rede, das Konstantin vor der Schlacht zuteilgeworden sein soll. Der Bericht des Lactantius ist sehr zeitnah verfasst, während Eusebios von Kaisareia seine Darstellung, die wahrscheinlich auf Äußerungen Konstantins gegenüber Bischöfen beruht, erst mehrere Jahre später niederschrieb. Lactantius berichtet von einer Traumerscheinung, in der Konstantin angewiesen wurde, das himmlische Zeichen Gottes auf die Schilde der Soldaten malen zu lassen; daraufhin habe er dort das Christusmonogramm anbringen lassen. Eusebios erzählt von einer Himmelserscheinung in Form eines Kreuzes mit den Worten „Durch dieses siege!“ und erwähnt kurz darauf das Christusmonogramm. Eine „pagane Variante“ der Legende bietet der Panegyricus des Nazarius aus dem Jahr 321, während der anonyme Panegyriker von 313 den Sieg auf den Beistand einer ungenannten Gottheit zurückführt.In der Forschung werden diese Berichte seit langem intensiv diskutiert. Erzählungen über göttliche Erscheinungen sind in der Antike nicht selten, zumal alle römischen Kaiser für sich göttlichen Beistand in Anspruch nahmen. Die legendenhaft wirkenden Berichte über Konstantins Vision sind als Teil seiner propagandistischen Selbstdarstellung anzusehen. In der Forschung wird ein realer Kern jedoch nicht ausgeschlossen, etwa ein Naturphänomen wie ein Halo, bei dem unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen Sonnenlicht gebrochen wird und dadurch Kreis- und Kreuzstrukturen sichtbar werden. In diesem Sinne könnte etwa das in einer anderen Quelle überlieferte „Wunder von Grand“ in Gallien aus dem Jahr 310 einzuordnen sein, das Konstantin sah: eine Himmelserscheinung, die ein anonymer Panegyriker als göttliches Zeichen (hier noch mit Bezug auf Apollon) deutete, was wahrscheinlich in Abstimmung mit dem Kaiserhof geschah.
Aus historischer Sicht kommt es weniger darauf an, was Konstantin womöglich tatsächlich sah, als auf das, was er gesehen zu haben glaubte bzw. behauptete. Unter christlichem Einfluss mag er geglaubt haben, ihm stehe der Gott der Christen zur Seite und er erfülle eine göttliche Bestimmung. Daher stellt die Erzählung des Eusebios eine Nachricht von hohem Wert dar, denn sie gibt wahrscheinlich die offizielle Sichtweise des Hofes wieder, wenngleich aus späterer Zeit, als Konstantin auf die Stilisierung im christlichen Sinne Wert legte. Allerdings ist das von Eusebios an anderer Stelle erwähnte Labarum erst für 327/28 eindeutig belegt, wenngleich es in anderer Form möglicherweise bereits vorher existierte. Das Kreuzzeichen ist als christliches Symbol bereits vor 312 mehrmals belegt; beispielsweise weist im 3. Jahrhundert Cyprian von Karthago darauf hin. Die Kreuzesverehrung begann aber erst in konstantinischer Zeit. Auf Münzen erscheint das Kreuz zum ersten Mal in den 330er Jahren.Elisabeth Herrmann-Otto geht davon aus, dass für Konstantin die Sonnenvision von 310 entscheidend gewesen sei. Demnach verbanden sich zunächst in seiner Vorstellung Sol und Christengott, bevor er die Erscheinung bei Grand definitiv auf den christlichen Gott zurückführte und „solare Elemente“ zurücktraten. Klaus Martin Girardet zufolge brachte Konstantin die Erscheinung im Jahr 310 ebenfalls zuerst mit Sol, der für einige Jahre auf seinen Münzen sehr präsent ist, in Verbindung. Kurz darauf (311) habe der Kaiser die Erscheinung dann aber auf den Gott der Christen bezogen, zumal Jesus in der Spätantike oft als die „Sonne der Gerechtigkeit“ galt und somit eine Neuorientierung nicht schwerfiel. Da all dies noch deutlich vor der Schlacht an der Milvischen Brücke geschah, sei es in deren Vorfeld nicht zu einer Vision gekommen. Klaus Rosen plädiert in seiner aktuellen Konstantinbiographie dafür, dass der Kaiser seinen Sieg auf den Beistand einer höchsten Gottheit zurückführte, was aber nicht mit einem christlichen Bekehrungserlebnis gleichgesetzt werden darf.Sicher ist, dass Konstantin schließlich seinen Sieg an der Milvischen Brücke 312 auf den Beistand des Christengottes zurückführte und nun uneingeschränkt im Westen herrschte. Nach dem Sieg zog er feierlich in Rom ein, wobei der abgetrennte Kopf des Maxentius der Bevölkerung präsentiert wurde. Dem Senat der Stadt trat Konstantin mit Achtung entgegen; umstritten ist seit langem, ob der Kaiser danach ein Opfer für Jupiter vollzog. Der Senat erkannte den Sieger als ranghöchsten Augustus an, Maxentius hingegen wurde nun zu einem Tyrannen und Usurpator stilisiert und schließlich sogar von der konstantinischen Propaganda ahistorisch als Christenverfolger dargestellt. Die Prätorianergarde, das militärische Rückgrat des Maxentius, wurde aufgelöst. Als Symbol seines Sieges ließ Konstantin eine überlebensgroße Statue von sich anfertigen. 315 wurde auch der Konstantinsbogen eingeweiht.
=== Konstantin und Licinius: Der Kampf um die Alleinherrschaft (313–324) ===
Nachdem Konstantin die Alleinherrschaft im Westen errungen hatte, traf er sich Anfang 313 in Mailand mit Licinius, der Konstantins Schwester Constantia nun heiratete. Die beiden Kaiser verabschiedeten dort die sogenannte Mailänder Vereinbarung. Diese wird oft auch als Toleranzedikt von Mailand bezeichnet, was aber nicht korrekt ist, da die Absprache nicht in einem reichsweiten Edikt verkündet wurde. In der Vereinbarung wurde den Christen ebenso wie allen anderen Religionen im ganzen Reich Kultfreiheit zugesichert. Es handelte sich nicht um eine Privilegierung des Christentums, sondern nur um Gleichstellung mit den anderen Religionen. Wichtig war für die Christen auch, dass die beiden Kaiser die Kirche als Korporation anerkannten, also als eine Institution des öffentlichen Rechts mit allen Rechten und Privilegien. Für den rigorosen Christenverfolger Maximinus Daia, der das Toleranzedikt des Galerius faktisch widerrufen hatte, war die Vereinbarung eine Bedrohung, zumal da in seinem östlichen Reichsteil die meisten Christen lebten. Nur notgedrungen schwenkte er auf die neue Linie ein, rüstete aber gleichzeitig zum Krieg gegen Licinius. Ende April 313 unterlag er Licinius in Thrakien und starb nur wenige Monate später auf der Flucht. Die östlichen Christen begrüßten Licinius als Befreier. Tatsächlich betrieb er zunächst eine tolerante Religionspolitik. Der gebildete Christ Lactantius, der im Auftrag Konstantins als Erzieher von dessen Sohn Crispus in Trier tätig war, betrachtete Licinius ebenso wie Konstantin als von Gott gesandten Retter der Christen. Erst aufgrund der späteren Entwicklungen wurde Licinius dann in christlichen Quellen negativ dargestellt.
Nun gab es nur noch zwei Kaiser im Reich, doch entstanden bald Spannungen zwischen ihnen. Anscheinend missfiel Licinius, dass Konstantin ihn bei wichtigen Entscheidungen wie der Besetzung Italiens, der Heiratsabsprache und der Mailänder Vereinbarung überging. Vor allem galt Konstantin auch im Osten als der eigentliche Schutzherr der Christen, wodurch sich Licinius bedroht sehen konnte. Diese Rolle übernahm Konstantin offenbar bewusst, denn 313 wurden Festprägungen hergestellt, die ihn mit dem Christusmonogramm auf dem Helm abbilden, und er griff in innerkirchliche Angelegenheiten wie den 312/13 entbrannten Donatistenstreit ein.
Der Kompromiss, wieder zu einer tetrarchischen Ordnung zurückzukehren, wobei der mit Konstantin verschwägerte Senator Bassianus Italien regieren sollte, schlug fehl. Wohl im Jahr 316 kam es zum offenen Konflikt. Den Hintergrund bildete eine Verschwörung gegen Konstantin, die wohl von einem Offizier des Licinius namens Senecio angezettelt wurde, einem Bruder des Bassianus, der selbst aktiv darin verwickelt war. Nach der Aufdeckung des Komplotts weigerte sich Licinius, Senecio auszuliefern. Damit setzte er sich dem Verdacht aus, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein oder sie gebilligt zu haben. Der Origo Constantini zufolge stellten die Verweigerung der Auslieferung und die angeblich von Licinius angeordnete Zerstörung von Bildern und Statuen Konstantins in der Stadt Emona den Kriegsgrund dar. Jedenfalls waren beide Seiten bereit, die Machtfrage militärisch zu entscheiden. Konstantin marschierte mit seinen gallisch-germanischen Truppen, etwa 20.000 Mann, in das Illyricum ein und rückte rasch vor. Licinius trat ihm bei Cibalae (heute Vinkovci) mit 35.000 Mann entgegen und unterlag. Er musste in aller Eile nach Thrakien fliehen, wo weitere Truppen standen, doch endete die dortige Schlacht (in der Nähe von Adrianopel) unentschieden. Am Ende einigten sich Konstantin und Licinius vorläufig; Licinius musste die gesamte Balkanhalbinsel räumen. Zwei Söhne Konstantins sowie der einzige legitime Sohn des Licinius wurden zum 1. März 317 zu Caesaren erhoben.
Die Spannungen zwischen Konstantin und Licinius blieben auch nach 316 bestehen. Seit 318 hielt sich Konstantin, der den Grenzschutz am Rhein seinem Sohn Crispus und dessen Offizieren überließ, vor allem in den neu gewonnenen Gebieten auf dem Balkan auf. Ab 321 datierten beide Reichshälften nicht mehr einheitlich nach den gleichen Konsuln und bereiteten sich immer offensichtlicher auf den Krieg vor. 322 residierte Konstantin in Thessaloniki, also unmittelbar an der Grenze beider Machtbereiche, was Licinius als offene Provokation auffassen musste. Licinius ergriff außerdem gegen die Christen, denen er in Anbetracht von Konstantins Religionspolitik offenbar misstraute, feindselige Maßnahmen. Es soll zu Versammlungsverboten, Konfiskationen und erzwungenen Opferungen gekommen sein, auch von einer geplanten Verfolgung ist in christlichen Quellen die Rede. Licinius wurde zu einem Tyrannen stilisiert, dem schwere Vorwürfe gemacht wurden (Schändungen, steigender Steuerdruck, ungerechtfertigte Einkerkerungen etc.). Derartige Vorwürfe sind allerdings insofern problematisch, weil der topische Charakter recht offensichtlich ist. Letztendlich sind die Details der von Licinius ergriffenen Maßnahmen unbekannt. Aufgrund der politischen Lage ist es aber durchaus möglich, dass er das Christentum in seinem Herrschaftsbereich einzuschränken versuchte. Konstantin konnte sich in diesem Zusammenhang als Retter der Christen im Osten stilisieren und somit seine christenfreundliche Politik auch machtpolitisch nutzen.
Als Konstantin mit seinen Eliteverbänden in Licinius’ Balkanprovinz eindrang, um die bedrohte Bevölkerung vor Übergriffen durch die Goten zu schützen, protestierte Licinius lautstark. Es folgte ein letztlich ergebnisloser diplomatischer Notenwechsel, 324 kam es zum entscheidenden Konflikt. Beide Seiten waren gerüstet und führten starke Armeen mit jeweils deutlich über 100.000 Mann ins Feld. Konstantin beabsichtigte wohl eine kombinierte Land- und Seeoperation durchzuführen, doch hatte sich Licinius mit seinen Truppen in Adrianopel in Thrakien verschanzt, von wo aus sie Konstantins Versorgungslinien gefährden konnten. Konstantin gelang es aber, Licinius im Frühsommer 324 bei Adrianopel in Thrakien zu schlagen. Licinius war nach der Niederlage zunächst in das stark befestigte Byzantion geflohen. Nachdem aber Konstantins ältester Sohn Crispus die feindliche Flotte in der Seeschlacht bei Kallipolis vernichtet hatte, drohte er abgeschnitten zu werden und floh weiter nach Kleinasien. Im September 324 unterlag er dann endgültig in der Schlacht von Chrysopolis. Er musste kapitulieren, wobei Konstantin versprach, sein Leben zu schonen. Licinius, der wie Konstantin recht rücksichtslos gegen seine Gegner vorgegangen war (so ließ er die Familien des Galerius, des Maximinus Daia und des Severus ermorden), wurde dennoch im Jahr 325 auf Befehl Konstantins und wohl aus machtpolitischem Kalkül hingerichtet, bald darauf auch sein Sohn Licinianus Licinius. Konstantin war nun unbestritten der alleinige Herrscher des Römischen Reiches, was (allerdings nur vorerst) ein Ende der blutigen Bürgerkriege bedeutete.
=== Reichspolitik als Alleinherrscher (324–337) ===
==== Die Gründung Konstantinopels ====
Nach dem Sieg über Licinius verlegte Konstantin die Hauptresidenz in den Osten. Dieser Schritt war nicht neuartig, denn bereits in der Zeit der Tetrarchie hatten die Kaiser unterschiedliche Residenzstädte gewählt. Konstantin soll zunächst mehrere Orte in Betracht gezogen haben, entschied sich dann jedoch für die alte griechische Kolonie Byzanz. Die Stadt lag sehr verkehrsgünstig in einer strategisch wichtigen Region und war an drei Seiten von Wasser umgeben; bereits während des Feldzugs gegen Licinius hatte Konstantin die Vorteile dieser Lage erkannt. Kurz darauf ließ er die Stadt stark erweitern und prächtig ausbauen.Die neue Residenzstadt wurde Konstantinopel („Konstantinsstadt“) genannt. Mit der Benennung nach seinem Namen folgte Konstantin einer Tradition hellenistischer Könige und früherer römischer Kaiser. Die Befestigungen des erweiterten Areals, das nun mehr als sechsmal so groß war wie die alte Stadt, wurden verbessert. Ebenso entstand eine Vielzahl neuer Gebäude. Dazu gehörten unter anderem Verwaltungsgebäude, Palastanlagen, Bäder und repräsentative öffentliche Anlagen wie ein Hippodrom und das Augusteion. Letzteres war ein großer rechteckiger Platz, an dem sich ein Senatsgebäude sowie der Zugang zum Palastviertel befand. Von dort aus führte eine Straße zum runden Konstantinsforum, wo auf einer Säule das Standbild des Kaisers platziert war und ein zweites Senatsgebäude stand. Zahlreiche Kunstgegenstände aus dem griechischen Raum wurden in die Stadt gebracht, darunter die berühmte Schlangensäule aus Delphi. Konstantin ließ die Stadt am 11. Mai 330 feierlich einweihen, doch waren die umfangreichen Bauarbeiten noch lange nicht beendet.
Die neue Residenz hatte den großen Vorteil, dass sie im wirtschaftlich wichtigen Osten des Reiches lag. In der nun vergrößerten Stadt wurden Kirchen gebaut, es waren aber auch noch einige Tempel und viele pagane architektonische Elemente vorhanden, die der Stadt ein klassisches Aussehen gaben. Wie das Ausmaß der aufwendigen Planungen zeigt, war sie als Gegenstück zum „alten Rom“ gedacht, wenngleich der Kaiser auch dort Baumaßnahmen durchführen ließ. In Rom hatte Konstantin noch 315 seine Decennalien gefeiert, er ließ dort auch 326 die Vicennalien (sein 20. Regierungsjubiläum), die er zuvor im Osten in Nikomedia begangen hatte, nachfeiern.
Rom war schon seit Jahrzehnten nur noch pro forma Hauptstadt und verlor durch den neuen Regierungssitz immer weiter an Bedeutung, wenn es auch weiterhin ein wichtiges Symbol für die Romidee blieb. Konstantinopel wurde Rom in vieler Hinsicht gleichgestellt, es erhielt etwa einen eigenen, dem römischen jedoch untergeordneten Senat und unterstand nicht der Provinzverwaltung, sondern einem eigenen Prokonsul. Zusätzlich sorgte Konstantin für Anreize, sich in seiner neuen Residenz niederzulassen. Hofrhetorik und Kirchenpolitik erhoben die Stadt dann sogar in den Status eines neuen Roms. Konstantinopel, dessen Stadtgebiet später noch nach Westen erweitert wurde, entwickelte sich zu einer der größten und prächtigsten Städte des Reiches und im 5. Jahrhundert sogar zur Hauptstadt Ostroms.
==== Die Verwandtenmorde von 326 ====
326 befahl Konstantin die Ermordung seines ältesten Sohns Crispus und kurz darauf die seiner Frau Fausta. Der Hof hat dieses dunkle Kapitel in der Biografie Konstantins gezielt unterdrückt. Eusebios erwähnt die Vorgänge mit keinem Wort, in anderen Quellen wird darüber nur spekuliert.
Der um 360 schreibende Aurelius Victor berichtet nur knapp von der Ermordung des Crispus, die Konstantin aus einem unbekannten Grund befohlen habe. In der Epitome de Caesaribus wird erstmals der Tod des Crispus mit dem Faustas verknüpft: Weil seine Mutter Helena Crispus, den sie sehr schätzte, betrauerte, habe der Kaiser auch seine Ehefrau hinrichten lassen. Von dieser Kernerzählung ausgehend schmückten spätere Autoren die Geschichte aus. So präsentiert im frühen 5. Jahrhundert der arianische Kirchenhistoriker Philostorgios Einzelheiten einer Skandalgeschichte: Fausta soll Crispus sexuell begehrt haben und, als er ihre Avancen ablehnte, aus Rache ihren Mann dazu bewogen haben, den Stiefsohn zu töten. Als Fausta dann bei einer anderen Gelegenheit untreu geworden sei, habe der Kaiser auch sie töten lassen. Dem paganen Geschichtsschreiber Zosimos zufolge wurde Crispus beschuldigt, ein Verhältnis mit Fausta gehabt zu haben. Daraufhin habe Konstantin seinen Sohn ermorden lassen und, als sich seine Mutter Helena darüber bestürzt zeigte, auch Fausta beseitigt, indem er sie im Bad ersticken ließ. Da sich der Kaiser von diesen Taten nicht reinwaschen konnte, sei er Christ geworden, da er annahm, dass im Christentum alle Sünden getilgt werden könnten. Der um 500 schreibende Zosimos (bzw. seine Vorlage Eunapios von Sardes) hatte aber offenbar keine genaueren Informationen über die Vorgänge; so wurde Crispus nicht, wie Zosimos berichtet, in Rom, sondern sehr wahrscheinlich in Pula ermordet. Zosimos nutzte die Gelegenheit, den Kaiser und seine Bevorzugung des Christentums in ungünstigem Licht darzustellen. Er stimmt mit Philostorgios hinsichtlich der Todesumstände Faustas überein, was wohl den wahren Kern beider Berichte darstellt.
Die verworrenen und teils erkennbar tendenziösen Berichte der Quellen gestatten keine zuverlässige Rekonstruktion der Vorgänge, die modernen hypothetischen Erklärungsversuche variieren. Die Skandalgeschichten tragen topische Züge und ihre Glaubwürdigkeit ist sehr fraglich, denn Crispus residierte bis 326 vor allem in Trier und hatte daher schwerlich Kontakt zu Fausta. Die spätantiken Berichterstatter bzw. ihre Quellen können kaum Zugang zu zuverlässigen Informationen über Vorgänge im Palast gehabt haben.
Plausibler als persönliche sind politische Hintergründe. Seit 324 trugen Helena und Fausta den Augusta-Titel. Nach Erringung der Alleinherrschaft konnte sich Konstantin der Absicherung seiner Dynastie zuwenden. Crispus empfahl sich durch mehrere militärische Erfolge. Als möglicher künftiger Herrscher kann er das Opfer einer Intrige rivalisierender Kräfte um Fausta geworden sein; die Aufdeckung der Intrige hätte dann zum Vorgehen gegen Fausta geführt. Denkbar ist auch, dass Crispus ehrgeizig und mit seiner Stellung unzufrieden war und sich daher in einen Machtkampf verwickeln ließ, den er verlor, da Konstantin seine legitimen Kinder für die Nachfolge favorisierte. Nach den Regeln der Tetrarchie, die einst Diokletian eingeführt hatte, hätte ein Kaiser nach zwanzig Jahren eigentlich zurücktreten müssen; es ist denkbar, dass Crispus und seine Unterstützer daher gefordert hatten, dass Konstantin dem Caesar spätestens 327 den Aufstieg zum Augustus ermöglichen solle. Unerklärt bleibt dann aber der Mord an Fausta, der in diesem Fall wohl in einen anderen Zusammenhang gehört. Jedenfalls handelte es sich um dramatische, wahrscheinlich politische Konflikte am Hof, die anschließend vertuscht wurden.
==== Innenpolitik ====
===== Neuordnung der Verwaltung =====
Konstantin hielt allgemein an Diokletians innenpolitischem Kurs fest. Er trieb zahlreiche Reformen voran, welche die Grundlagen des spätrömischen Staates schufen. Militärische und zivile Ämter wurden strikt getrennt. Der Kaiser richtete einen Kronrat (consistorium) und mehrere neue Zivilämter ein. Darunter war das Amt des magister officiorum, des Leiters der Hofverwaltung und der Kanzlei (wohl kurz nach 312 sowohl in Konstantins Herrschaftsbereich als auch im Osten unter Licinius) und das des quaestor sacri palatii, der für Rechtsfragen zuständig war. Dem magister officiorum unterstanden auch die Leibwache und die agentes in rebus, die als kaiserliche Bevollmächtigte in den Provinzen agierten und die Verwaltung überwachten. Für die Einnahmen und Ausgaben des Staates wurde das Amt des comes sacrarum largitionum geschaffen. Große Bedeutung kam den seit 312 rein zivilen Prätorianerpräfekten zu. In der Zeit der konstantinischen Dynastie fungierten sie als enge zivile Berater der Kaiser. Sie hatten aber wohl zunächst eher thematisch und regional begrenzte Amtsbefugnisse. Erst nach dem Tod Konstantins entwickelten sie sich zu Leitern der territorial abgegrenzten zivilen Verwaltungsdistrikte des Reiches mit einem entsprechenden Verwaltungsapparat, der aber nach modernen Maßstäben sehr bescheiden ausgestattet war. Bereits Diokletian hatte Provinzen verkleinert und mehrere Provinzen in Diözesen zusammengefasst, verwaltet von einem Vikar. Konstantin setzte zusätzlich in einigen Diözesen comites ein, deren genaue Zuständigkeiten unklar sind. Insgesamt wurde die Verwaltung zentralisiert, doch wäre es übertrieben, deswegen wie in der älteren Forschung von einem „spätantiken Zwangsstaat“ zu sprechen.
===== Herrschaftsrepräsentation =====
Das Kaisertum wurde wie schon unter Diokletian sakral legitimiert, was sich in der Kaisertitulatur und im Hofzeremoniell niederschlug. Das Fundament dafür bildete neben dem herkömmlichen zunehmend auch christliches Gedankengut, so dass schließlich die Idee eines weltlichen Statthalters Gottes aufkam und das Kaisertum zunehmend verchristlicht wurde. Die Vorstellung des „allerchristlichsten Kaisers“ (Imperator Christianissimus) gehörte spätestens unter den Söhnen Konstantins zum Herrschermodell. Explizit christliche Herrschaftssymbole, die später verstärkt herausgestellt wurden, traten vereinzelt bereits unter Konstantin auf. Kennzeichnend für seine Regierungszeit ist eine allgemeine Bezugnahme auf eine höchste Gottheit und wachsende Distanz zu paganer Symbolik, ohne dass die Anhänger traditioneller Kulte unnötig provoziert wurden. Der pagane Beiname Invictus wurde durch den unverfänglicheren Victor ersetzt. Die Bezugnahme auf den paganen Sonnenkult blieb jedoch unter Konstantin noch einige Zeit erhalten (siehe unten). So stellte Konstantin sich auf Münzen und auf der verlorenen Statue der Konstantin-Säule als Repräsentant des Sonnengottes dar, wenngleich die Sol-Prägungen immer seltener wurden und schließlich eingestellt wurden. Die bei Eusebios von Kaisareia fassbare Herrscherideologie reflektierte zwar weitgehend die vom Hof gewünschte öffentliche Selbstdarstellung, interpretierte sie allerdings eventuell unzutreffend eindeutig christlich. Einige traditionelle pagane Herrschaftsvorstellungen wurden christlich umgeformt. Der christliche Kaiser wurde als konstantinisches Herrscherideal propagiert. Betont wurde spätestens seit 310 (Erfindung der Verwandtschaft mit Claudius Gothicus) das dynastische Herrschaftsmodell. Endgültig wurde es 317 nach dem ersten Krieg gegen Licinius und der Ernennung von Crispus und Konstantin II. zu Caesaren unter Konstantin verbindlich. Die Hofhaltung entfaltete sich zunehmend prächtiger, wobei sich wohl hellenistisch-orientalische Einflüsse bemerkbar machten. Konstantin trug etwa kostbare Roben sowie ein prachtvolles Diadem und saß auf einem Thronsessel. Zur Herrschaftsrepräsentation gehörten auch zahlreiche Bauvorhaben im ganzen Reich, vor allem in Rom, Konstantinopel und den Verwaltungssitzen.
===== Baupolitik =====
Zu den zentralen Aufgaben eines römischen Kaisers gehörte die Baupolitik, vor allem im öffentlichen Bereich. Konstantin nutzte die damit verbundenen Gelegenheiten zur Herrschaftsrepräsentation. Ein frühes Beispiel ist die Konstantinbasilika in Trier. Die Empfangshalle gehört zu den wenigen erhaltenen römischen Palastbauten und ist das größte erhaltene Bauwerk aus konstantinischer Zeit nördlich der Alpen. Ebenfalls in Trier begann er mit der Errichtung des Doms. Die Reste einer Wandmalerei fand man bei Ausgrabungen im Dom; sie sind heute im „Museum am Dom“ zu sehen. Ebenso begann Konstantin mit der Errichtung der Kaiserthermen, die allerdings nie in ihrer geplanten Größe vollendet wurden. Der Kaiser leitete auch in Südgallien sowie nach 312 in Italien in mehreren Städten neue Bauprojekte ein, besonders in Rom, wo unter anderem eine Thermenanlage entstand. Vor allem nach der Erringung der Alleinherrschaft trieb Konstantin zahlreiche Bauprojekte voran, von denen das umfangreichste die neue Hauptresidenz Konstantinopel war. Der Kaiser förderte christliche Bauvorhaben massiv, was nicht ohne Wirkung bei der Bevölkerung blieb, u. a. die Grabeskirche in Jerusalem und die Geburtskirche in Bethlehem. Diese Patronage erstreckte sich auf mehrere Städte in Italien, aber auch in anderen Reichsteilen wie Gallien, Nordafrika und Palästina. In Rom wurde eine Monumentalbasilika auf dem Areal des heutigen Lateran in der Nähe der kaiserlichen Palastanlage und der Vorgängerbau des Petrusdoms erbaut.
===== Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik =====
Zum Senat unterhielt Konstantin recht gute Beziehungen. Er beendete die Marginalisierung dieses Gremiums und verschaffte den Senatoren wieder Zugang zu höheren Ämtern, wenngleich nur in der Zivilverwaltung. Einen zweiten Senat richtete Konstantin in Konstantinopel ein. Der Senatorenstand wurde erheblich erweitert und umfasste bald einen großen Teil der Oberschicht, weshalb unterschiedliche Rangklassen eingerichtet wurden (viri clarissimi, spectabiles und illustres, wovon die letztere die höchste war). Manche Senatoren verlegten ihren Stammsitz in die Provinzen, wo es später zur Bildung einer provinziellen Senatsaristokratie kam (siehe Gallorömischer Senatsadel). Die unteren Ränge der Ritter (equites) hingegen verloren zunehmend an Bedeutung. Ein allgemeines Problem war die hohe finanzielle Belastung der städtischen Eliten, die ehrenamtlich Verwaltungsposten bekleideten (Kurialen). Manche Kurialen versuchten sich dem zu entziehen, etwa durch eine kirchliche Laufbahn, die nun ebenfalls viel Prestige versprach. Konstantin wirkte dieser „Kurialenflucht“ durch seine Gesetzgebung entgegen.
Die Bindung der Bauern an den Boden (Kolonat) wurde seit Diokletian vorangetrieben. Die Kolonen waren immer noch Freie, aber mit eingeschränkter Freizügigkeit. Die gesellschaftliche Mobilität war jedoch in der Spätantike insgesamt sehr hoch; in der Forschung wird sie sogar als die höchste in der gesamten römischen Geschichte angesehen. So ist der neueren Forschung zufolge keine soziale Erstarrung und auch kein wirtschaftlicher Niedergang festzustellen, vielmehr scheint die Produktivität im 4. Jahrhundert gestiegen zu sein. Schwerpunktmäßig war die Wirtschaft immer noch stark agrarisch geprägt, doch profitierten mehrere Provinzen erheblich vom Handel. Die spätrömischen Handelsbeziehungen reichten im Osten nach Persien, in den südarabischen Raum und bis nach Indien (siehe Indienhandel), im Norden bis in die Germania magna. Manche Städte prosperierten und profitierten von der kaiserlichen Baupolitik. Gegen die Inflation, deren Diokletian nicht Herr geworden war, erwies sich Konstantins Münzreform als wirksam, da nun mit dem Solidus eine neue stabile Währung vorhanden war. Damit konnte wohl auch der Gefahr einer zunehmenden Naturalwirtschaft begegnet werden. Im Steuerwesen behielt Konstantin die von Diokletian eingeführte kombinierte Grund- und Kopfsteuer (Capitatio-Iugatio) bei, verlängerte aber den Festsetzungszyklus von fünf auf fünfzehn Jahre. Der Anteil der Sklavenarbeit ging zurück, was etwa an den deutlich steigenden Sklavenpreisen ablesbar ist.
===== Gesetzgebung =====
Konstantin erließ ungewöhnlich viele – in den späteren Rechtskodifikationen nur fragmentarisch erhaltene – Gesetze, was nicht nur positiv auffiel. Zu spätklassischen Juristen bezog Konstantin uneinheitlich Stellung. Einerseits kassierte er 321 beispielsweise alle notae (schriftsatzliche Rechtskritiken) von Paulus und Ulpian, soweit sie im Zusammenhang mit den Gutachtensammlungen (responsae) Papinians standen. Andererseits dekretierte er sieben Jahre später eine Paulus untergeschobene Schrift als echt. In der neueren Forschung wird betont, dass der Kaiser keinen direkten Umgang mit Juristen pflegte. Die Delegierung war aber problematisch und förderte auch Unregelmäßigkeiten. Es kam zu zahlreichen Strafverschärfungen: Die Anwendung der Todesstrafe wurde ausgeweitet (auch in Form der Tötung durch wilde Tiere), andere teils sehr brutale Strafen kamen hinzu, darunter das Abhacken von Gliedmaßen bei Korruption oder die Wiedereinführung der alten Strafe des „Säckens“ bei Verwandtschaftsmorden. Auch Kreuzigungen kamen noch vereinzelt vor. Andere Strafen (wie Brandmarkungen) wurden abgemildert. In der Strafgesetzgebung gibt es nur wenige Hinweise auf christliche Einflüsse. Christlichen Forderungen entsprachen hingegen das 331 erlassene Verbot der freien Ehescheidung, die Stärkung der Witwen und Waisen sowie die zusätzlichen Befugnisse für Bischöfe. Außerdem wurde die seit Augustus geltende Strafe für Kinderlose und Unverheiratete aufgehoben, was dem oft zölibatär lebenden Klerus entgegenkam. Verbindungen zwischen freien Frauen und Sklaven wurden geächtet. Ein erheblicher Teil der Neuerungen betraf das Familien- und Erbrecht, wobei vor allem standesrechtliche und finanzielle Aspekte eine Rolle spielten. Das zunehmende Eindringen der Rhetorik in die Gesetzestexte beeinträchtigte deren Klarheit. Betont wurde das monarchische Prinzip.
Konstitutionen der späten Regierungsjahre Konstantins sind in den Constitutiones Sirmondianae untergebracht. Handschriften Konstantins finden sich zu Vorschriften der Emanzipation und zu Änderungen des Kaufrechts in den Fragmenta Vaticana.
==== Militär- und Außenpolitik ====
Die schon von Diokletian vorangetriebene Heeresreform wurde unter Konstantin weitgehend abgeschlossen. Es gab nun ein Bewegungsheer (Comitatenses) und ein Grenzheer (Limitanei), wobei der Kaiser den Anteil mobiler Verbände deutlich erhöhte. Zwar kritisieren einige pagane Geschichtsschreiber diesen Schritt, doch ermöglichte er eine nachhaltige Stabilisierung der Grenzregionen, da Feinde nach einem Grenzdurchbruch nun leichter abgefangen werden konnten. Die Stärke der einzelnen Legionen wurde immer weiter reduziert (schließlich auf rund 1.000 Mann), dafür wurden zusätzliche Legionen sowie unabhängig operierende Eliteverbände aufgestellt, darunter die sogenannten auxilia palatina. Der Anteil der berittenen Truppenverbände, die man nun vexillationes nannte, nahm zu. Die Umstellung schuf Flexibilität, da Truppen nun ohne zu starke Entblößung der Grenzen rasch verlegt werden konnten. Verstärkte Rekrutierung unter Nicht-Reichsangehörigen (vor allem Germanen) war zur Deckung des Personalbedarfs erforderlich. Manche Geschichtsschreiber wie Ammianus Marcellinus missbilligten diese Entwicklung, doch war die Germanenpolitik Konstantins recht erfolgreich. Das den Kaiser begleitende Hauptheer (comitatus) wurde bei Bedarf durch Gardeverbände ergänzt. Neu aufgestellt wurde die Gardetruppe der scholae palatinae, die später mehrere Einheiten umfasste. Auch die Befehlsstruktur wurde verändert. Im Grenzraum war für die Sicherheit einer Provinz der dux verantwortlich, während die zivile Administration delegiert wurde. Das Kommando über das Bewegungsheer wurde dem neu geschaffenen Heermeisteramt zugewiesen. Es gab einen magister peditum für die Infanterie und einen magister equitum für die Reiterei, doch faktisch kommandierte jeder Heermeister Verbände beider Truppengattungen. Im Rang standen sie über den duces. Nach Konstantins Tod wurde das Feldheer regional aufgeteilt, so dass es mehrere Heermeister in den wichtigsten Grenzregionen gab, vor allem in Gallien und im Osten.
318/19 ging Konstantins Sohn Crispus erfolgreich gegen die Franken und wohl auch Alamannen am Rhein vor. Münzprägungen aus den Jahren 322 und 323 legen nahe, dass auch in dieser Zeit Feldzüge gegen die Germanen im Rheingebiet unternommen wurden. Die Bürgerkriegsgefahr war gebannt; die Usurpation des Calocaerus auf Zypern 334 war nur ein unbedeutendes lokales Ereignis. Die Rhein- und Donaugrenze war stabilisiert. Den Höhepunkt der Sicherungsmaßnahmen an der Donau stellte der Brückenbau bei Oescus im Jahr 328 dar. Dort wurde ein befestigter Brückenkopf errichtet. Von außen war das Reich bis zum Beginn des Perserkriegs keiner ernsthaften Bedrohung mehr ausgesetzt; es war nun gesichert und militärisch stark wie seit dem 2. Jahrhundert nicht mehr.328 wurden in Gallien Alamannen zurückgeschlagen. 332 schlug Konstantin die Goten und sicherte durch einen Vertrag (foedus) die Donaugrenze ab. Entgegen älteren Überlegungen war damit aber noch keine Erhebung der Goten zu reichsangehörigen Foederaten verbunden. Vielmehr verpflichtete der Vertrag, der sich an den üblichen Rahmenbedingungen römischer Germanenpolitik orientierte, die Donaugoten nur zur Waffenhilfe und schaltete eine potentielle Bedrohung wirksam aus. 334 gingen römische Truppen erfolgreich gegen die Sarmaten vor.
=== Religionspolitik ===
==== Konstantin und das Christentum ====
===== Von Sol zu Christus =====
Konstantins Religionspolitik, insbesondere sein Verhältnis zum Christentum, wird bis heute in der Forschung kontrovers diskutiert. Die Spezialliteratur dazu hat einen kaum überschaubaren Umfang angenommen, und in kaum einem Punkt herrscht wirklich Einigkeit.Unklar ist, warum Konstantin das Christentum relativ früh förderte. Bis zu seiner Zeit wurde das Christentum im Römischen Reich zeitweilig geduldet, zeitweilig verfolgt. Es unterschied sich von den paganen (heidnischen) Kulten vor allem durch seinen Monotheismus und seinen Anspruch auf Alleinbesitz einer zur Erlösung führenden religiösen Wahrheit. Im frühen 4. Jahrhundert waren die Christen bereits eine relativ starke Minderheit. Die in den paganen Kulten seit dem 3. Jahrhundert hervortretende Tendenz zum Henotheismus (Konzentration auf eine einzige höchste Gottheit) zeugt von wachsender Empfänglichkeit für monotheistisches Denken. Im östlichen Teil des Reiches waren die Christen zahlreicher als im Westen, in Kleinasien waren manche Städte bereits völlig christianisiert. Die Schätzungen für den Anteil der Christen an der Reichsbevölkerung schwanken stark, maximal 10 % dürften realistisch sein. Dabei ist allerdings zu beachten, dass zu dieser Zeit keineswegs jeder, der den christlichen Gott verehrte, dies exklusiv tat; noch viele Jahrzehnte gab es zahlreiche Menschen, die lediglich unter anderem Christen waren: Nicht jeder, der sich damals als Christ verstand, war dies auch nach späterem Verständnis, das einen strikten, exklusiven Monotheismus fordert. Dies ist auch zu bedenken, wenn man Konstantins Verhältnis zu nichtchristlichen Kulten betrachtet.
Vor der Schlacht an der Milvischen Brücke verehrte der wohl seit seiner Jugend zum Henotheismus neigende Konstantin insbesondere den Sonnengott Sol Invictus. Das Christentum war ihm damals zumindest oberflächlich bekannt. Ab 312 begünstigte er es immer mehr, wobei ihn Bischof Ossius von Córdoba als Berater beeinflusste. Diese neue Richtung in der Religionspolitik des Kaisers wird als konstantinische Wende bezeichnet. Offen bleibt dabei die Frage, inwieweit sich der Kaiser mit dem Glauben identifizierte, zumal die neuere Forschung, wie gesagt, betont, dass im frühen 4. Jahrhundert durchaus noch nicht so eindeutig wie heute definiert war, was unter einem Christen und dem Christentum zu verstehen sei. Wenn Konstantin etwa seinen Sieg von 312 auf göttlichen Beistand zurückführte, bewegte er sich damit durchaus noch in traditionellen Bahnen und wählte lediglich einen anderen Schutzgott als seine Vorgänger. Mehrere Quellen legen zwar schon für diese Zeit eine persönliche Nähe zum Christentum nahe, doch ist die Auswertung der überlieferten Nachrichten wegen des tendenziösen Charakters sowohl der christlichen als auch der paganen Quellen schwierig.
Auch pagane Autoren wie Eunapios von Sardes stellen nicht in Abrede, dass Konstantin sich zum Christengott bekannte. Eusebios von Kaisareia zeichnet in seiner Lebensbeschreibung Konstantins das Bild eines überzeugten Christen, das sicherlich auch auf der Selbstinszenierung des Kaisers basiert. Auf dem Konstantinsbogen, der Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke feiert, kommen von den sonst üblichen paganen Motiven nur die Siegesgöttin Victoria und der Sonnengott vor; eindeutig christliche Symbole fehlen. Dies lässt sich unterschiedlich interpretieren. Konstantin mag den Sieg einer obersten Gottheit (dem summus deus) zugeschrieben haben, die er nicht unbedingt und ausschließlich mit dem Christengott gleichsetzte. Möglich ist aber auch, dass er aus Rücksicht auf die pagane Mehrheit im Westen auf christliche Motive verzichtete. Vermutlich spielten pagane Elemente in Konstantins religiösem Denken damals noch eine Rolle; diese Phase wird daher auch als „Heiden-Christentum“ bezeichnet. Die Sonnenmotive am Triumphbogen lassen sich aber auch christlich deuten; es ist anzunehmen, dass eine Mehrdeutigkeit religionspolitisch erwünscht und daher beabsichtigt war.
Sol-Münzen wurden anscheinend ab 317 nur noch selten geprägt, auch pagane Inschriften auf Münzen verschwinden in dieser Zeit. Um 319 wurde die Prägung von Münzen mit paganen Motiven eingestellt. Die letzte bekannte Sonderprägung mit einer Darstellung Sols erfolgte 324/25, sie hängt wahrscheinlich mit dem Sieg über Licinius zusammen. Das Sol-Motiv verschwand aber nicht restlos, denn Konstantin wurde auch weiterhin in Anlehnung an Helios dargestellt. So wie Christus in der Spätantike als „die wahre Sonne“ galt, so konnte auch Konstantin an die Symbolik der Helios-Verehrung anknüpfen. Den paganen Beinamen Invictus legte er 324 demonstrativ ab. 321 erklärte Konstantin den dies solis („Sonnentag“) zum Feier- und Ruhetag; er verfügte die Schließung der Gerichte am verehrungswürdigen „Tag der Sonne“. Zuvor hatte der Sonntag zwar für Christen wie für Pagane bereits eine Bedeutung gehabt, aber nicht als Ruhetag gegolten. In der neueren Forschung wird der christliche Aspekt dieser Maßnahme Konstantins betont.„Solarer Monotheismus“ und christlicher Glaube galten zu Konstantins Zeit in manchen Kreisen als einander nahestehende religiöse Richtungen. Keine Selbstaussage Konstantins deutet auf ein einzelnes Bekehrungserlebnis hin, doch ist es gut möglich, dass er sich bereits frühzeitig als Christ gefühlt hat. Die Quellenlage gestattet kaum definitive Aussagen darüber, was Konstantin unter „seinem Gott“ verstand. Anfangs mag es sich um eine Vermischung verschiedener Traditionen und Lehren (Synkretismus), darunter auch neuplatonische Elemente, gehandelt haben. Es gibt aber auch eine Forschungsrichtung, der zufolge Konstantin schon 312 im eigentlichen Sinne Christ war. Konstantins „Weg zum Christentum“ war wohl ein Prozess, bei dem er über den Sonnengott nach einer Zeit des „Schwebezustands“ schließlich zum christlichen Glauben gelangte.
Nach Ansicht der meisten Forscher war Konstantins christliches Bekenntnis zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt ernst gemeint, unabhängig von den offenen Deutungsfragen habe es seiner persönlichen Überzeugung entsprochen. Sicher ist, dass er nach 312 die paganen Kulte nicht mehr förderte und pagane Motive zunehmend vermied. Bereits im Panegyricus von 313 wurde auf die Erwähnung einer paganen Gottheit verzichtet. Die Mailänder Vereinbarung von 313 privilegierte das Christentum zwar noch nicht, doch förderte Konstantin fortan die christliche Kirche aktiv – zunächst im Westen, später im Gesamtreich –, auch indem er die Stellung der Bischöfe stärkte. Bereits für den Zeitraum 312/14 finden sich christliche Selbstzeugnisse des Kaisers. Aus dem Jahr 315 stammt das sogenannte Silbermedaillon von Ticinum mit dem Christusmonogramm sowie möglicherweise ein Kreuzzepter (bei dem es sich allerdings auch um eine Lanze handeln könnte). Hinzu kam die frühe Förderung des Baus der Lateran-Basilika. Nach Erringung der Alleinherrschaft gab Konstantin deutlicher als zuvor seine Bevorzugung des Christengottes zu erkennen. Seine Zuwendungen an die Kirche sollten teils auch zur Erfüllung der wachsenden karitativen Aufgaben der christlichen Gemeinden beitragen. Eine entscheidende Weichenstellung war, dass Konstantin seine Söhne im christlichen Glauben erziehen ließ. Zunehmend wurden Christen mit wichtigen Ämtern betraut.
Spätestens nach der Erringung der Alleinherrschaft 324 bekannte sich der Kaiser offen zum Christentum; genauer gesagt: Er präsentierte sich als Anhänger und Begünstigter des christlichen Gottes. Wahrscheinlich betrachtete er den Christengott als den Garanten militärischen Erfolgs und allgemeinen Wohlergehens. Konstantin konnte sich nun durch seine Förderung der Kirche auf eine solide Organisationsstruktur stützen, die sich teils parallel zu den nach heutigen Maßstäben eher schwach ausgestalteten staatlichen Verwaltungsstrukturen entwickelt hatte. Zudem ermöglichte das Christentum, dessen Repräsentanten auch philosophisch argumentierten und damit gebildete Kreise ansprechen konnten, dem Herrscher eine religiöse Untermauerung seines Machtanspruchs: Die Alleinherrschaft war in Rom seit ihrer Begründung durch Augustus stets hinterfragbar und prekär gewesen; der christliche Monotheismus bot mit seiner bereits früh formulierten Position, wie im Himmel, so solle auch auf Erden nur einer alleine herrschen, eine neue Basis für die monarchische Herrschaftslegitimation. Schließlich ließ sich Konstantin sogar als Isapostolos („den Aposteln gleich“) bezeichnen. Sein sakrales Kaisertum war aber nicht mit dem expliziten Anspruch verbunden, dass der Herrscher über dem Recht stehe. Seine Nachfolger schritten auf diesem Weg zum Gottesgnadentum weiter.
===== Der Kaiser als Schlichter: Donatistenstreit und arianischer Streit =====
Für Konstantin ergaben sich im Zusammenhang mit seiner neuen Religionspolitik einige Schwierigkeiten: Bereits 313 war der Kaiser mit den Problemen der Kirche in Africa konfrontiert worden, wo sich die Donatisten von der orthodoxen Kirche abgespalten hatten. Hintergrund war die vorausgegangene Verbrennung christlicher Bücher während der diokletianischen Christenverfolgung. Einige Kleriker hatten christliche Schriften und Kultgegenstände ausgeliefert, um der Todesstrafe zu entgehen. Die Frage war nun, wie mit diesen sogenannten Traditoren umgegangen werden sollte. Kurz nachdem in Karthago Caecilianus zum Bischof geweiht worden war, traten afrikanische Bischöfe zusammen und erklärten die Weihe für ungültig, da an ihr ein angeblicher Traditor namens Felix beteiligt gewesen war. Stattdessen wurde als neuer Bischof von Karthago Maiorinus gewählt, dessen Nachfolger 313 Donatus wurde. Allerdings unterstützten zahlreiche Bischöfe außerhalb Africas Caecilianus und vor Ort kam es zu einer Kirchenspaltung. Die sogenannten Donatisten beharrten darauf, dass die Traditoren Verräter an der Kirche und ihre Weihen sowie Sakramente ungültig seien. Als nun 312 verfügt wurde, dass die während der diokletianischen Verfolgung beschlagnahmten Güter den Kirchen zurückzuerstatten seien, eskalierte der Streit: Welche Gruppe repräsentierte die „richtige“ Kirche Karthagos und hatte daher Anspruch auf Geld und Privilegien?Verschiedene Einzelfragen des Donatistenstreits, darunter die genaue Zielrichtung der Donatisten, sind wegen der unbefriedigenden Quellenlage in der Forschung umstritten. Jedenfalls griff Konstantin als Schutzherr des Christentums und Bewahrer des inneren Friedens ein. Er lud bereits 314 mehrere Bischöfe nach Arles zu einer Beratung über strittige Fragen ein. Das Konzil beschloss im Anschluss an die Entscheidungen, die Jahrzehnte zuvor im Ketzertaufstreit getroffen worden waren, dass eine Priesterweihe unabhängig von der persönlichen Würdigkeit des Weihenden, und sei er auch ein Traditor, gültig sei, und entschied den Konflikt damit zugunsten Caecilians. Die Streitigkeiten in Nordafrika waren damit aber keineswegs beendet. 321 erklärte Konstantin im Vorfeld des Endkampfs mit Licinius die Duldung der Donatisten, doch schon bald ging er gegen sie vor, um eine Beendigung des Konflikts zu erzwingen, allerdings ohne Erfolg. Die Donatisten behaupteten sich noch lange Zeit in Nordafrika und stellten wohl zeitweise sogar die Mehrheit der nordafrikanischen Christen.
Wahrscheinlich erkannte Konstantin nicht immer die volle Tragweite der komplexen theologischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen, die auch seinen Nachfolgern viele Probleme bereiten sollten. Das Konfliktpotential, das den dogmatischen Streitigkeiten innewohnte, unterschätzte er. Vielmehr scheint er den religiösen Aspekt seines Kaisertums nach einem einfachen herkömmlichen Muster aufgefasst zu haben, wobei dem Christengott die Funktion des persönlichen Schutzgottes des Herrschers zufiel, die früher Iuppiter oder der Sonnengott ausgefüllt hatte. Allerdings sind Konstantins theologische Kenntnisse auch nicht allzu niedrig zu veranschlagen; im Donatistenstreit war er zunächst wohl schlecht unterrichtet, doch später eignete er sich offenbar einige Sachkenntnis an. Sein Vorgehen in dieser schwierigen Auseinandersetzung, in der sich theologische mit politischen Motiven vermischten, zeigt sein – wenn auch letztlich vergebliches – Bemühen um eine tragfähige Lösung.Auch den zweiten großen innerchristlichen Konflikt seiner Zeit, den sogenannten Arianischen Streit, versuchte Konstantin beizulegen. Diese Auseinandersetzung belastete seine Religionspolitik noch schwerer als der Donatistenstreit, da sie die reichsten und wichtigsten Provinzen des Reiches ergriff.Arius, ein Presbyter aus Alexandria, hatte erklärt, dass es eine Zeit gegeben habe, in der Jesus nicht existiert habe; folglich konnten Gott-Vater und Sohn nicht wesensgleich sein. Diese Frage zielte auf einen Kernpunkt des christlichen Glaubens, die Frage nach dem „wahren Wesen Christi“, und wurde keineswegs nur von Theologen diskutiert. Vielmehr ergriff der Streit in der Folgezeit breitere Bevölkerungsschichten und wurde teils sehr verbissen geführt; in Alexandria stellte sich vor allem Alexander von Alexandria gegen Arius. Allerdings ist die Quellenüberlieferung bezüglich vieler damit verbundener Fragen problematisch und teils sehr tendenziös: So sind weder die Schriften des gelehrten Theologen Arius noch die späteren Konzilsakten von 325 erhalten geblieben. Erschwerend kommt hinzu, dass der oft gebrauchte Sammelbegriff „Arianismus“ bzw. „Arianer“ sehr unscharf ist, da darunter teils äußerst unterschiedliche theologische Überlegungen verstanden wurden.
Nach Erringung der Alleinherrschaft sah sich der Kaiser gezwungen, sich mit dem Konflikt um Arius und mit seinen Ansichten auseinanderzusetzen, denn der zunächst lokal begrenzte Konflikt in Ägypten hatte sich rasch ausgeweitet und wurde im Osten des Reiches lebhaft diskutiert. Mehrere einflussreiche Bischöfe traten für Arius ein, darunter auch der Kirchengeschichtsschreiber Eusebios von Kaisareia. Im Auftrag des Kaisers sollte der bereits erwähnte Ossius die Lage sichten und eine Einigung erzielen, doch ist seine genaue Rolle während der Synode von Nikomedia umstritten. Diese Synode, auf der der zuvor exkommunizierte Arius wieder in die Kirche aufgenommen wurde, erreichte aber ohnehin keine tragfähige Lösung.
Das Eingreifen Konstantins im Streit mit Donatisten und Arianern ist ein deutliches Zeichen für dessen neues Selbstverständnis, eine Art von Schutzfunktion über die Kirche auszuüben und dementsprechend als Schlichter bei innerchristlichen Streitigkeiten aufzutreten. Nachdem das Reich nach 324 wieder politisch geeint war, sollte nun auch die religiöse Einheit der von Konstantin favorisierten Religion sichergestellt werden. Konstantin machte Gebrauch von seiner neuen kaiserlichen Synodalgewalt und berief 325 ein allgemeines Konzil in die Stadt Nicäa (Nikaia) ein.
===== Das Konzil von Nicäa und seine Folgen =====
Das Konzil von Nicäa, das im Mai 325 zusammentrat, war das erste ökumenische Konzil. Anwesend waren über 200 Bischöfe, vor allem aus dem griechischsprachigen Osten. Sie befassten sich – nach Ansicht mehrerer Forscher unter dem Vorsitz Konstantins – vor allem mit dem arianischen Streit. Daneben ging es unter anderem auch um die Festsetzung des Ostertermins, der sich zu einem Osterfeststreit ausgeweitet hatte. Die Mehrheit der Konzilsteilnehmer scheint extremen Positionen abgeneigt gewesen zu sein. Am Ende wurde das sogenannte Bekenntnis von Nicäa verabschiedet, dem zufolge der Logos Jesus’ aus dem Wesen Gottvaters entstanden ist und nicht, wie Arius meinte, aus dem Nichts. Er sei „wahrer Gott vom wahren Gott“, gezeugt, nicht geschaffen. Die zentrale Glaubensformel für die Natur Christi lautete nun homoousios. Dies bedeutet „wesenseins“ oder „wesensgleich“; die Unschärfe dieser Formel hatte wohl den Zweck, einen Konsens zu ermöglichen. Die Mehrheit der Bischöfe entschied sich gegen die Lehre des Arius, rehabilitierte aber manche seiner Anhänger. Arius selbst, der die Unterschrift verweigerte, wurde exkommuniziert und verbannt. Da die Beschlüsse mehrdeutig waren, wurden bald Nachverhandlungen zur Klärung strittiger Punkte erforderlich.
Arius wurde 327/28 rehabilitiert. Ob er 333 erneut verurteilt wurde, ist in der neueren Forschung umstritten. Konstantin agierte in der komplizierten Lage flexibel und vermied es, sich genau festzulegen. In dieser Auseinandersetzung kam es zu zahlreichen Intrigen und Verleumdungen auf beiden Seiten. Schließlich änderte der Kaiser seine Position, wobei ihn der arianische Bischof Eusebios von Nikomedia beeinflusste. Arius hatte dem Kaiser ein Bekenntnis vorgelegt, in dem er die in Nicäa verurteilten Aussagen vermied. Nun gerieten seine Gegner in die Defensive; mehrere von ihnen, darunter ihr prominenter Wortführer Athanasios, der Bischof von Alexandria, wurden verbannt. Damit schien die arianische Seite im Vorteil zu sein, doch starben Arius und Konstantin kurz darauf (336 bzw. 337). Der arianische Streit dauerte fort, bis am Ende des 4. Jahrhunderts die Arianer endgültig unterlagen.
==== Konstantin und die traditionellen Kulte ====
Die konstantinische Wende hatte Konsequenzen für das Verhältnis Konstantins zu den traditionellen paganen Kulten, die keineswegs eine Einheit darstellten, sondern äußerst heterogen waren. Als Pontifex maximus war der Kaiser weiterhin für die bisherige römische Staatsreligion verantwortlich und die Mehrheit der Reichsbevölkerung war noch pagan. Konstantins Protektion der Christen löste zahlreiche Bekehrungen bei Hofe aus. Dennoch sind kaum Anzeichen dafür erkennbar, dass der Kaiser plante, die traditionellen Kulte zu benachteiligen oder gar zu verbieten; die gegenteiligen Behauptungen bei Eusebios sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit. Eusebios berichtet zwar von einem generellen Verbot paganer Opferdienste im Jahr 324 und später bezog sich Constantius II. auf ein einschlägiges Gesetz seines Vaters, doch ist der Wahrheitsgehalt dieser Angaben sehr umstritten. In der sonstigen Überlieferung findet sich kein Hinweis darauf und der pagane Redner Libanios hält ausdrücklich fest, dass Konstantin zwar Güter konfisziert, Kulthandlungen aber nicht eingeschränkt habe. Mehrere moderne Forscher lehnen die Aussage des Eusebios denn auch ab. Offenbar übertrieb Eusebios in seiner Darstellung der Maßnahmen Konstantins, um die christliche Stilisierung des Kaisers zu verstärken. Möglicherweise hat Konstantin nur blutige Opfer, die er offenbar ablehnte, im staatlichen Bereich verboten.Während die großen Kulte (vor allem der Mithras- und Sonnenkult), die im Heer und in der Reichsverwaltung weiterhin zahlreiche Anhänger hatten, unbehelligt blieben, ging Konstantin mit staatlicher Gewalt vereinzelt gegen pagane Einrichtungen vor und ließ einige wenige Tempel schließen oder gar abreißen. Die Hintergründe dafür erfordern eine differenzierte Betrachtung. Die wenigen belegten Vorfälle betreffen den Asklepiostempel in Aigeai sowie in erster Linie den mit Tempelprostitution verbundenen Aphroditekult, so in Aphaka in Phönizien und in Heliopolis. Für Christen mochte die Schließung dieser Tempel eine antipagane Haltung des Kaisers belegen, doch ist zu beachten, dass der Aphroditekult auch für viele Pagane anstößig war und die Schließung anscheinend auf keinen Widerstand stieß. Den einzigen belegten Fall eines Vorgehens Konstantins gegen pagane Kulteinrichtungen zugunsten der Christen stellt die Überbauung einer paganen Kultstätte bei der Errichtung der Grabeskirche in Jerusalem dar.Konstantin ging zwar teilweise recht rigoros gegen christliche Häretiker vor, gefährdeten diese doch die Einheit der von ihm favorisierten und privilegierten Religion, die pagane Kultausübung hingegen blieb weitgehend ungestört. So konnten pagane Opfer in der Regel auch weiterhin durchgeführt werden. Allerdings wurden beispielsweise private Haruspizien und bestimmte als magisch verstandene Rituale verboten. Konstantin gestattete noch 334/35 der Stadt Hispellum in Umbrien, ganz in der Tradition früherer Kaiser, einen dem Kaiserhaus gewidmeten Tempel zu errichten. Er legte aber Wert auf bestimmte Einschränkungen der kultischen Verehrung; so durften keine Götteropfer zu seinen Ehren stattfinden. Obwohl Konstantinopel als christliche Stadt geplant war, erlaubte er dort den Bau paganer Kultgebäude. Von einer Diskriminierung paganer Beamter aufgrund ihres Glaubens ist nichts überliefert. Im staatlichen Bereich wurden die paganen Elemente allerdings möglichst reduziert: So ließ der Kaiser zunehmend Bildnisse von sich entfernen, verbot Opfer bei hoheitlichen Akten und schaffte möglicherweise sogar in der Armee, in der das Sonnentagsgebet eingeführt wurde, die Opferpraxis ab, wohl um so vermehrt Christen für den Militärdienst zu gewinnen. Die Erhebung des Sonnentags zum gesetzlichen Feiertag 321 zeigt womöglich auch eine Gratwanderung des Kaisers, der sowohl den Christen als auch den Paganen noch als einer der ihren erscheinen wollte.Allgemein lässt sich festhalten, dass Konstantin das Christentum förderte, ohne dabei konfrontativ gegen andere Religionen vorzugehen oder diese zu unterdrücken. Erkennbar ist eine spätestens seit 324 distanzierte, teils auch kritische Haltung gegenüber den paganen Kulten. Anders als der bei Eusebios beschriebene Konstantin war der historische Kaiser wohl ein stark nach politischen Zweckmäßigkeitserwägungen handelnder Politiker. Dennoch hat die von ihm initiierte Privilegierung des Christentums die paganen Kulte hart getroffen. Zuvor hatten sie sich keineswegs in einem Niedergang befunden, allerdings war der Trend immer mehr zum Henotheismus oder zu einem „paganen Monotheismus“ gegangen.
==== Judentum ====
Das Judentum behielt unter Konstantin die Privilegien, die es seit Beginn der Kaiserzeit genoss. Konstantins Politik gegenüber den Juden war recht differenziert. Er hat angeblich einen neuen Tempelbau in Jerusalem verhindert. Sicher ist, dass er zum Christentum konvertierte Juden gesetzlich vor Repressalien durch ihre jüdischen Mitbürger schützte und verbot, dass nichtjüdische Sklaven von ihren jüdischen Besitzern beschnitten wurden. Konversionen zum Judentum wurden erschwert. Andererseits durften Juden nun anscheinend in die städtischen Kurien eintreten (wie ein kaiserliches Dekret aus dem Jahr 321 belegt). Mehrere jüdische Geistliche wurden sogar von Dienstpflichten entbunden.
=== Vorbereitung eines Perserkriegs und Tod des Kaisers ===
In der Spätantike war das neupersische Sāsānidenreich der große Rivale Roms im Osten. Zuletzt war es unter Diokletian zu schweren Kämpfen gekommen, die erst im Frieden von Nisibis 298/299 vorerst beigelegt werden konnten (siehe Römisch-Persische Kriege). Die konstantinische Wende wirkte sich auch auf das Verhältnis zwischen den beiden Großmächten aus, vor allem im stets umstrittenen Kaukasusraum. Diese Region war zunehmend unter christlichen Einfluss geraten, wovon sich der persische König Schapur II. offenbar bedroht fühlte, da er nun mit einer Parteinahme seiner christlichen Untertanen für Rom rechnen musste. Schapur marschierte 336 in Armenien ein, vertrieb den christlichen König Trdat III. und setzte seinen eigenen Bruder Narseh als neuen Herrscher ein. Konstantin sandte seinen Sohn Constantius nach Antiochia und seinen Neffen Hannibalianus nach Kleinasien und bereitete für das Jahr 337 einen großen Perserfeldzug vor.Unklar ist, was Konstantin für den Fall eines Sieges plante. Hannibalianus sollte wohl als rex regum et Ponticarum gentium Klientelkönig von Armenien werden. Vielleicht beabsichtigte Konstantin sogar das ganze Perserreich zu erobern und es zu einem römischen Klientelstaat zu machen. Der Krieg diente vorgeblich zum Schutz der Christen in Persien. Möglicherweise spielte in Konstantins Denken aber auch die Alexander-Imitatio eine Rolle. Jedenfalls erforderte der persische Vorstoß eine Antwort. Ammianus Marcellinus gibt als Kriegsgrund die sogenannten „Lügen des Metrodoros“ an. Dieser unglaubhaften Episode zufolge kam ein aus Persien stammender Philosoph namens Metrodoros, der längere Zeit in Indien gelebt hatte, mit wertvollen Geschenken indischer Fürsten zu Konstantin. Er behauptete, die Perser hätten ihm mehrere Geschenke abgenommen. Als Schapur die Geschenke nicht herausgab, rüstete Konstantin zum Krieg.Mitten in den Kriegsvorbereitungen erkrankte der Kaiser und starb bald darauf am Pfingstfest 337 bei Nikomedia. Auf dem Totenbett wurde er vom „arianischen“ Bischof Eusebios von Nikomedeia getauft. Eine späte Taufe war nicht unüblich; sie hatte den Vorteil, dass man so möglichst sündenfrei sterben konnte. Nach seinem Tod wurde Konstantin im Sinne der römischen Tradition – und wie mehrere explizit christliche Kaiser nach ihm – zum divus erhoben. Nach seiner Divinisierung wurden Münzen geprägt, die auf der Vorderseite sein verschleiertes Porträt zeigen. Ein verschleiertes Porträt war neben der Bezeichnung DIVVS seit Jahrhunderten das auffälligste Merkmal für einen nach seinem Tod divinisierten Kaiser. Auf der Rückseite wird Konstantin die Hand Gottes entgegen gereicht. Diese Münzen nehmen damit auf der einen Seite noch auf traditionell polytheistische Göttervorstellungen Bezug, während sie auf der Rückseite mit der dem Kaiser deutlich übergeordneten Hand Gottes (manus dei) bereits christliche Symbolik übernehmen.
Seine drei Söhne Konstantin II., Constantius II. und Constans hatte Konstantin schon früh zu Caesaren ernannt. Diesen Titel erhielt 335 auch sein Neffe Dalmatius. Vielleicht hatte Konstantin für seine Nachfolge eine dynastische Viererherrschaft favorisiert, in der Konstantin II. und Constantius II. als Seniorkaiser fungiert hätten. Nach seinem Tod kam es jedoch zu einem Blutbad in der Familie und zu einem Bruderkrieg unter seinen Söhnen (siehe Morde nach dem Tod Konstantins des Großen). Constantius II., der im Osten Konstantins Nachfolge antrat, übernahm die Abwehr der Perser.
== Nachwirkung ==
=== Spätantike Urteile ===
Konstantin zählt zu den bedeutendsten, aber auch umstrittensten Personen der Geschichte. Bereits in der Spätantike variierte die Beurteilung seiner Person und seiner Politik ganz erheblich, was großenteils vom religiösen Standpunkt des jeweiligen Betrachters abhing. Für die Christen war die Herrschaft Konstantins ein entscheidender Wendepunkt, sie waren dem Kaiser daher überaus dankbar. Lactantius brachte in seinem Werk De mortibus persecutorum (um 315) noch eher allgemein und durchaus mit antipaganer Polemik verknüpft seine Freude über das Ende der Christenverfolgung zum Ausdruck. Die Erhebung Konstantins zum Kaiser führte er direkt auf das Walten Gottes zurück. Der etwas später schreibende Eusebios von Kaisareia lobte in seiner Kirchengeschichte sowie vor allem in seiner Lebensbeschreibung Konstantins den Kaiser explizit und überschwänglich. Er beschrieb ihn als überzeugten Christen, der durch die „Vision“ vor der Schlacht an der Milvischen Brücke eine dramatische Bekehrung erlebte. Das von Eusebios vermittelte tendenziöse und überzeichnete Konstantinbild war sehr wirkungsmächtig, zumal es den Kaiser zum idealen christlichen Herrscher stilisiert. Das Werk vermittelt aber auch wichtige Informationen, ohne die keine Geschichte Konstantins geschrieben werden könnte.
Die allgemein positive christliche Einschätzung setzte sich in den diversen spätantiken Kirchengeschichten fort, so bei Sokrates Scholastikos, Sozomenos und Theodoret, später auch etwa bei Gelasios von Kyzikos. Sie griffen das von Eusebios vermittelte Bild auf und schilderten Konstantin als frommen christlichen Herrscher. Dieses Konstantinbild wirkte auch in der byzantinischen Geschichtsschreibung stark nach. Nur vereinzelt finden sich kritische Stimmen wie in der Chronik des Hieronymus. Im Zusammenhang mit dem arianischen Streit kam es außerdem bei Athanasios und einigen ihm folgenden Autoren zu einer partiell kritischen Beurteilung. Trotz einer überwiegend positiven Darstellung wurde Konstantins zuletzt eher proarianische Politik missbilligend vermerkt. Der im frühen 5. Jahrhundert tätige Kirchengeschichtsschreiber Philostorgios, ein „radikaler Arianer“, dessen Werk Spuren der Verarbeitung paganer Quellen zeigt, bietet eine von der vorherrschenden Sichtweise etwas abweichende Beurteilung des Kaisers.Der zeitgenössische pagane Geschichtsschreiber Praxagoras lobte den Kaiser panegyrisch; er hat vermutlich auch Konstantins Beinamen „der Große“ eingeführt. Ansonsten fielen die Urteile der erhaltenen paganen Geschichtsschreiber überwiegend negativ aus. Konstantins Neffe Julian, der letzte pagane Kaiser (361–363), kritisierte ihn scharf und machte das Christentum für die blutigen Ereignisse des Jahres 337 verantwortlich. Libanios und Themistios beklagten hohe Steuern und damit verbunden eine angebliche Geldgier Konstantins, doch sind derartige Vorwürfe in der antiken Literatur gängige Topoi und nicht besonders aussagekräftig. Gegen die Religionspolitik Konstantins polemisierende pagane Autoren schoben ihm auf unterschiedliche Weise die Schuld an mancherlei negativen Ereignissen zu. In den diversen Breviarien (kurzgefassten Geschichtswerken) des 4. Jahrhunderts findet die Privilegierung des Christentums keine Erwähnung, allerdings erscheint hier Konstantin durchaus als tüchtiger Herrscher, der militärische Erfolge vorweisen konnte. Die Konstantin betreffenden Passagen im großen Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus (Ende des 4. Jahrhunderts) sind nicht überliefert, doch in den erhaltenen Teilen finden sich Spuren einer antikonstantinischen Polemik. Besonders scharf attackierten die Geschichtsschreiber Eunapios von Sardes (um 400) und Zosimos (um 500) den Kaiser; für sie war er „geradezu der Totengräber des Reiches“. Zosimos hebt vor allem die Familienmorde von 326 hervor und erklärt damit – historisch falsch – die Hinwendung Konstantins zum Christentum. Für die Zeit vor 324 stellt er ihn als fähigen Herrscher dar, der nur mit göttlichem Beistand seine Erfolge feiern konnte und dessen schlechte Seiten noch nicht zutage traten. Zum christlichen Glauben habe er sich erst spät bekannt, anschließend sei er ein Tyrann geworden.
=== Mittelalter ===
Der dauerhafte Sieg des Christentums hatte zur Folge, dass das von den christlichen Autoren tradierte Bild des Kaisers bis heute vorherrscht. Im Byzantinischen Reich galt Konstantin als das Ideal eines frommen, gerechten und starken Herrschers und wurde als Gründer der Hauptstadt gewürdigt – er war „der Kaiser“ schlechthin. Nach ihm trugen zehn byzantinische Kaiser seinen Namen. Nicht zuletzt aus Legitimationsgründen nahm man auf ihn Bezug. Programmatisch war die Bezeichnung eines Kaisers als „neuer Konstantin“, was bereits für mehrere spätantike Kaiser belegt ist. In der griechischen Literatur wurde Konstantin intensiv behandelt und lobend hervorgehoben, wie auch seine wiederholte Erwähnung in der Bibliotheke des byzantinischen Gelehrten Photios I. im 9. Jahrhundert zeigt: so in hagiografischen Schriften, anonymen Viten oder in den diversen byzantinischen Weltchroniken, z. B. bei Johannes Malalas, Theophanes und Johannes Zonaras.
Wenngleich das idealisierte Herrscherbild im griechischen Osten präsenter war als im lateinischen Westen, wurde der Kaiser im Mittelalter auch dort überwiegend positiv betrachtet. Besonders von kirchlicher Seite wurde er im Hinblick auf die (gefälschte) konstantinische Schenkung als Idealherrscher stilisiert. Der Schenkung zufolge war Konstantin von Papst Silvester I. getauft worden und hatte diesem und damit der römischen Kirche zum Dank zahlreiche materielle und immaterielle Privilegien zugesprochen. Die Fälschung wurde im 8./9. Jahrhundert angefertigt. Sie wurde zwar schon 1001 von Kaiser Otto III. verworfen, blieb aber bis über das Ende des Mittelalters hinaus Bestandteil des Kirchenrechts, obwohl schon um 1440 Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla die Fälschung nachgewiesen hatten.
Auch unter weltlichen Gesichtspunkten spielte Konstantin während des Mittelalters im Westen eine Rolle. Einige römisch-deutsche Kaiser beriefen sich auf ihn, beispielsweise in Erlassen. Die historischen Detailkenntnisse über ihn wurden allerdings zusehends verwischt.Wegen der Tolerierung der paganen Kulte war Konstantin nach mittelalterlichen Maßstäben nicht in jeder Hinsicht vorbildlich. Dieser Umstand wurde ebenso wie die verschiedenen religiösen Auseinandersetzungen nicht herausgestellt. Die überwiegend von Geistlichen stammenden mittelalterlichen Geschichtsdarstellungen behandeln auch Konstantins intensive Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten und seine manchen fragwürdig erscheinende Abstammung zurückhaltend. So wurde ein einseitiges, unvollständiges Bild propagiert. Einige mittelalterliche Erzählungen sind auch stark legendär ausgeschmückt. In der lateinischen Literatur ist der Kaiser allgemein sehr präsent, etwa in verschiedenen Epen, Chroniken und Dichtungen; allerdings fehlen umfangreichere Epen über ihn. In der fiktiven Erzählung der Kaiserchronik wird er gar vom Papst selbst gekrönt, womit westlich-mittelalterliche Vorstellungen auf die spätantike Kaiserzeit projiziert werden. Im Spätmittelalter wurde das Bild des christlichen Idealkaisers Konstantin wieder etwas stärker rezipiert.
=== Neuzeit ===
In der Neuzeit war Konstantin allgemein ein beliebtes Thema in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Im Renaissance-Humanismus war das Konstantinbild recht negativ gefärbt, seiner neuen Politik wurde ahistorisch die Schuld für den Beginn des „finsteren Mittelalters“ gegeben. Doch auch spätere, stärker christlich beeinflusste Autoren gingen nicht immer freundlich mit dem Kaiser um. Das „Bündnis zwischen Staat und Kirche“ galt als unvorteilhaft im Sinne der Religion: Der Staat sei klerikalisiert, die Kirche politisiert worden. Dieser Vorwurf wurde etwa von evangelischen Theologen erhoben, beginnend bereits mit Gottfried Arnold Ende des 17. Jahrhunderts. Dennoch war die Rezeption Konstantins bis ins 18. Jahrhundert überwiegend positiv; dies verschob sich erst mit dem Beginn der Aufklärung. Auch im Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts spielte der Kaiser eine Rolle. Richard Wagner warf Konstantin die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke vor; auch der Dichter Franz Grillparzer kritisierte ihn und die Christianisierung des Reiches, was für einen Skandal sorgte. Selbst in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung war das Bild des Kaisers ambivalent. In neuester Zeit vertritt vor allem Karlheinz Deschner eine populär-kritische Sichtweise. In der Malerei wurden die Kreuzesvision und die Schlacht an der Milvischen Brücke wiederholt thematisiert, so unter anderem von Raffael oder Johann Lingelbach. Verfilmungen wurden nur selten versucht (so in Italien 1961: kommerziell und konzeptionell wenig erfolgreich).
In neuerer Zeit findet vor allem eine mediale Rezeption Konstantins statt, die aber weniger ausgeprägt ist als bei anderen berühmten römischen Kaisern wie etwa Augustus. Dies mag an einer kritischeren Grundhaltung liegen, denn Konstantin wird heute trotz der Würdigung seiner Leistungen gewöhnlich nicht als „Lichtgestalt“ gesehen und seine Schattenseiten im persönlichen Bereich finden mehr Beachtung. Eine Rolle spielt auch die stärker kirchenkritische Sichtweise in der Moderne, wobei auf Missstände in der Reichskirche hingewiesen wird. Dies mag im Einzelfall allerdings zu überzogenen Urteilen führen, die sich mit den Ergebnissen der historischen Forschung nicht decken. Einen Höhepunkt erreichte die Konstantin-Rezeption mit dem Jubiläumsjahr 2006/2007, in dem zwei große Ausstellungen (in Trier und in York) stattfanden. Dieses Ereignis wurde von zahlreichen Dokumentationen im Fernsehen (ARD, ZDF, Arte und 3Sat), Rundfunk sowie in populären Printmedien begleitet. Im Anschluss daran erschienen zahlreiche neue wissenschaftliche Darstellungen zum Leben und zur Religionspolitik des Kaisers (siehe unten).
In der Orthodoxen Kirche wird Konstantin als Heiliger verehrt. In der römisch-katholischen Kirche ist er zwar im Heiligenkalender aufgeführt, wird aber nur von den orientalischen unierten Kirchen verehrt. Die Gedenktage sind:
evangelisch: 21. Mai im Evangelischen Namenkalender der EKD sowie im Kalender der LCMS
orthodox: 21. Mai, außerdem 29. Januar (angebliche Erscheinung des Kreuzes am Himmel)
armenisch: 21. Mai, gefeiert am 4. Dienstag nach Pfingsten
koptisch: 24. März, außerdem 5. August (Antritt der Alleinherrschaft) und 4. Juni (Schreiben zur Schließung der Tempel und Öffnung der Kirchen)
== Beurteilung in der Forschung ==
In der historischen Forschung sind seit dem 19. Jahrhundert viele Punkte umstritten. Die Einschätzung Konstantins wird durch die Quellenlage erschwert: Oft sind die Berichte verworren und widersprüchlich und die Selbstinszenierung des Kaisers ist schwer zu durchschauen.
Das Bild Konstantins in Edward Gibbons großem Werk Decline and Fall of the Roman Empire spiegelt die zwiespältige Beurteilung in den spätantiken Quellen. Konstantin erscheint als fähiger Militär und Politiker, der aber gemäß Gibbons These vom Verfall des Reichs durch die Christianisierung korrumpiert worden sei. Doch war Gibbons Charakterisierung in der Forschung nicht besonders wirkungsmächtig. Hinsichtlich Konstantins Hinwendung zum Christentum sprechen manche Forscher von einem machtpolitisch kalkulierten Akt oder schenken den christlich tradierten Berichten keinen bzw. wenig Glauben.
Am einflussreichsten war diesbezüglich der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, dessen Ende 1852 erstmals erschienene Darstellung Die Zeit Constantins des Großen bis heute viel von ihrem Wert behalten hat, wenngleich einige Aspekte überholt sind, beispielsweise seine scharfe Trennung von Politik und Religion in der Spätantike. Burckhardts Konstantin ist ein „großer Mann“, aber auch ein rücksichtsloser und unreligiöser Egoist. Er habe die Bedeutung des Christentums erkannt und beschlossen, dies für seine Zwecke zu nutzen und das Reich zu einen. Otto Seeck zog die Visionserlebnisse nicht in Zweifel. Für ihn war Konstantin ein durchaus fähiger Kaiser, der aber zu leichtsinnig und zu sehr von Ratschlägen seiner Vertrauten abhängig gewesen sei. Den Übertritt zum Christentum erklärte er mit einer echten Überzeugung. An Burckhardts Urteil schloss Henri Grégoire an, der Konstantins Privilegierung des Christentums aus reinem Machtkalkül zu erklären versuchte. Für Grégoire (dessen Thesen kaum rezipiert wurden) war letztendlich Licinius im Osten der eigentliche Förderer des Christentums, von ihm sei auch die Mailänder Vereinbarung ausgegangen.Jochen Bleicken beurteilt Konstantins Hinwendung zum Christentum differenzierter. Diese sei erst ab 315 erfolgt, nicht 312, wobei Bleicken strikt zwischen der „Wende“ in der Religionspolitik und der persönlichen Religiosität Konstantins trennt. Zwar glaubt er, dass sich Konstantin schließlich aus religiösen Gründen dem Christentum zuwandte, doch verwirft er die Berichte über das „Bekehrungserlebnis“ von 312. Vielmehr seien politische Gründe für Konstantins neue Religionspolitik nach dem Sieg über Maxentius ausschlaggebend gewesen, wobei Bleicken vor allem an die Auseinandersetzung mit Licinius denkt, in dessen Reichsteil die Christen stärker vertreten waren. Bleickens Interpretation wurde jedoch etwa von Klaus Bringmann angegriffen. Klaus Rosen wiederum sieht einen 312 beginnenden langsamen Entwicklungsprozess, der erst in den 320er Jahren abgeschlossen war, und führt anderslautende Aussagen bei Eusebios auf spätere Interpolationen zurück. Rosen hat 2013 auch eine recht umfangreiche Konstantin-Biographie vorgelegt, in der er an diese Deutung anknüpft.Heinz Kraft hat 1955 in seiner Studie Kaiser Konstantins religiöse Entwicklung festgestellt, dass von einem Bekehrungserlebnis nicht die Rede sein könne, dass aber Konstantins christlicher Glaube nicht ernsthaft bestritten werden könne. Beginnend vor allem mit Norman Hepburn Baynes und Andreas Alföldi nehmen viele Forscher Konstantins religiöse Motivation ernst (etwa Joseph Vogt, Timothy D. Barnes, Bruno Bleckmann, Klaus Martin Girardet, Hartwin Brandt, Paul Veyne und Elisabeth Herrmann-Otto). Diese Meinung herrscht momentan vor, wobei allerdings Unterschiede in der Gewichtung von Einzelaspekten vorhanden sind. Während Barnes, der mehrere einflussreiche Arbeiten zur konstantinischen Zeit verfasst hat, von einer tiefen religiösen Überzeugung ausgeht, hält beispielsweise Brandt Konstantin für einen geschickten Taktiker, der zwar schon 312 Christ wurde, aber religionspolitisch vor allem pragmatisch und rational regierte. Girardet geht neuerdings sogar von einer Hinwendung im Jahr 311 aus. Einen neuen Weg geht Martin Wallraff, der einen „monotheistischen Sonnenkult“ annimmt und auf solare Elemente im spätantiken Christentum hinweist, was eine Position mit synkretistischen Aspekten ermöglicht habe.Von Konstantins persönlicher Religiosität weitgehend unabhängig ist die Frage, ob Konstantin das Christentum machtpolitisch dazu genutzt habe, seine rechtlich anfechtbare Herrschaft (als Usurpator) sowie die Kriege gegen seine Mitkaiser und gegen äußere Gegner zu legitimieren. Konstantin glaubte, dass „sein“ Gott (zunächst Sol, dann Christus) ihm militärisch und politisch zur Seite stehe, und bemühte sich daher wohl zunehmend, den ihm helfenden Gott seinerseits zu unterstützen.
Wiederholt wurde in der Forschung festgestellt, wie ausgezeichnet sich der Kaiser auf Propaganda und Inszenierung verstand. Dennoch lassen sich Aspekte seiner schwer deutbaren historischen Persönlichkeit erkennen. Sein Charakter wird ebenso wie seine Politik sehr unterschiedlich bewertet: Vom rational handelnden bis hin zum eher impulsiv agierenden Herrscher sind verschiedene Bewertungen vorzufinden. Konstantins Militär- und Außenpolitik wird in der neueren Forschung ganz überwiegend gelobt, wenngleich die Germanisierung des Heeres zunahm. Die militärischen und administrativen Reformen Konstantins bewährten sich offenbar in der Folgezeit. Er war zweifellos einer der militärisch erfolgreichsten Kaiser und konnte auf die längste Regierungszeit seit Augustus zurückblicken. Zusammen mit Diokletian war er der Architekt des spätantiken römischen Staates, der noch einmal stabilisiert wurde.
== Quellen ==
Die Quellenlage für die Zeit Konstantins ist relativ ungünstig, da keine zeitgenössische profangeschichtliche Darstellung vollständig überliefert ist. Timothy D. Barnes, einer der besten Kenner der diokletianisch-konstantinischen Zeit, beklagt, dass in der neueren Forschung die Schwierigkeiten, die sich aus der komplizierten Quellenlage ergeben, oft unterschätzt werden. Es sei unmöglich, die politische Geschichte des letzten Drittels der Herrschaftszeit Konstantins detailliert zu rekonstruieren; die Zeit von 324 bis 337 sei quellenmäßig eine „wirklich dunkle Periode“, wenngleich die Grundlinien der Herrschaftszeit Konstantins allgemein gut erkennbar seien.Mehrere Werke, welche die Zeit Konstantins behandelten, sind nicht oder nur in Fragmenten erhalten. Dazu zählen die Biografien des Bemarchios und des Praxagoras von Athen, die beide im 4. Jahrhundert schrieben. Praxagoras behandelte wahrscheinlich nur die Zeit bis 324 (so jedenfalls nach der Zusammenfassung des byzantinischen Gelehrten Photios). Sein Werk wurde wohl von späteren Geschichtsschreibern benutzt. Es ist davon auszugehen, dass Konstantin in anderen heute verlorenen antiken Geschichtswerken ausführlich behandelt wurde: sicher in den verlorenen Büchern des Ammianus Marcellinus, wahrscheinlich auch von Virius Nicomachus Flavianus (falls dieser die Kaiserzeit behandelt hat). Eventuell wirkten noch andere Geschichtsschreiber in konstantinischer Zeit, wie das Beispiel Onasimos zeigt.
Unter den Autoren erhaltener Werke kommt Eusebios von Kaisareia große Bedeutung zu, der eine Biografie Konstantins verfasste, die sogenannte Vita Constantini. Eusebios war ein Bewunderer des Kaisers und stellte ihn als überzeugten Christen dar, sodass das tendenziöse Werk mit entsprechender Vorsicht behandelt werden muss. Allerdings ist die neuere Forschung zu einer positiveren Bewertung gelangt als die ältere. Aufgrund der beigeordneten Aktenstücke (wie schon in Eusebios’ Kirchengeschichte), die mehrheitlich sehr wahrscheinlich authentisch sind, ist die Biografie von großem Wert und vermittelt trotz panegyrischer Überzeichnung wichtige Informationen. Eusebios überliefert auch eine christliche Rede Konstantins, die sogenannte Oratio ad sanctorum coetum, die in der neueren Forschung als authentisches Selbstzeugnis des Kaisers gilt. Von Bedeutung sind zudem die Bücher acht bis zehn der Kirchengeschichte des Eusebios. Auch spätere Kirchenhistoriker wie Theodoret, Sokrates Scholastikos und Sozomenos behandeln Konstantins Zeit.
Eine wichtige Quelle stellt die Origo Constantini dar, ein anonymes Werk aus dem 4. Jahrhundert, in dem vorzügliches Material verarbeitet wurde. Verschiedene Panegyrici vermitteln trotz der genrespezifischen Überzeichnung wichtige Informationen. Lactantius bietet in seinem Werk De mortibus persecutorum neben antipaganer Polemik auch wertvolle Informationen zum Ende der Tetrarchie. Hinzu kommen mehrere Breviarien (Aurelius Victor, Eutropius, Rufus Festus, Epitome de Caesaribus), die knapp, aber weitgehend zuverlässig sind und größtenteils auf einer gemeinsamen Quelle fußen (Enmannsche Kaisergeschichte). Der pagane Geschichtsschreiber Zosimos behandelt Konstantin im zweiten Buch seiner um 500 verfassten Historia Nea, wobei er sich auf die verlorenen Historien des Eunapios von Sardes stützt. Zosimos ist, wie bereits seine Quelle Eunapios, Konstantin gegenüber extrem feindlich eingestellt und oft wenig zuverlässig.
Auch in anderen Werken finden sich verstreute, teils sehr wertvolle Informationen, so etwa bei Ammianus Marcellinus, Petros Patrikios und Johannes von Antiochia. Ebenfalls von Bedeutung sind spätere byzantinische Autoren wie Georgios Kedrenos und vor allem Johannes Zonaras; letzterer konnte auf heute verlorene (teils pagane) Werke zurückgreifen. Aufschlussreich sind außerdem die (allerdings nur als Epitome überlieferte) Kirchengeschichte des Arianers Philostorgios und ein anonym überliefertes Geschichtswerk (siehe Gelasios von Kyzikos).
Hinzu kommen zahlreiche nicht erzählende Quellen, darunter Gesetze, Inschriften, Bauten und Münzen, die auch der Selbstinszenierung dienten.
== Quellensammlungen und Übersetzungen ==
Volkmar Keil (Übersetzer): Quellensammlung zur Religionspolitik Konstantins des Großen (Lateinisch/Griechisch/Deutsch). Texte zur Forschung, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-02249-1.
Samuel N. C. Lieu, Dominic Montserrat: From Constantine to Julian: Pagan and Byzantine Views. A Source History. Routledge, New York 1996, ISBN 0-415-09336-8.
Charles E. Nixon, Barbara S. Rodgers: In Praise of Later Roman Emperors: The Panegyrici Latini. Introduction, Translation, and Historical Commentary with the Latin Text of R[oger] A. B. Mynors. UCP, Berkeley u. a. 1994, ISBN 0-520-08326-1.
== Literatur ==
Die folgenden Angaben stellen nur einen Auszug aus der sehr umfangreichen Fachliteratur zu Konstantin dar, die aufgrund des Jubiläums 2006/07 noch einmal beachtlich angewachsen ist. Weitere Literatur ist leicht anhand der dortigen Bibliografien erschließbar.
Biographien
Bruno Bleckmann: Konstantin der Große. Rowohlt, Reinbek 1996, ISBN 3-499-50556-8 (knappe, problemorientierte Einführung mit vielen Abbildungen).
Hartwin Brandt: Konstantin der Große. Der erste christliche Kaiser. 3. Auflage. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61809-3.
Manfred Clauss: Konstantin der Grosse und seine Zeit. 4. Auflage. C. H. Beck, München 2009 (1. Auflage 1996), ISBN 978-3-406-59627-8.
Elisabeth Herrmann-Otto: Konstantin der Große. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-15428-9 (Gestalten der Antike; besonders hinsichtlich strukturgeschichtlicher Fragen informative und aktuelle Darstellung; fachwissenschaftliche Besprechung).
David Potter: Constantine the Emperor. Oxford University Press, Oxford u. a. 2013, ISBN 978-0-19-975586-8.
Klaus Rosen: Konstantin der Große. Kaiser zwischen Machtpolitik und Religion. Klett-Cotta, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-608-94050-3 (neuere Biographie; Besprechung)
Oliver Schmitt: Constantin der Große (275–337). Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2007, ISBN 978-3-17-018307-0 (berücksichtigt besonders die politische Geschichte, doch sind einige Einzelbewertungen Schmitts kaum haltbar; fachwissenschaftliche Besprechung).
Joseph Vogt: Constantin der Große und sein Jahrhundert. 2., neubearbeitete Auflage. Bruckmann, München 1960; Neuauflage: König, München 1973, ISBN 3-8082-0046-4 (älteres Standardwerk).Herrschaft
Jonathan Bardill: Constantine, Divine Emperor of the Christian Golden Age. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-521-76423-0.
Timothy D. Barnes: Constantine. Dynasty, Religion and Power in the Later Roman Empire. Wiley-Blackwell, Chichester 2011, ISBN 978-1-4051-1727-2 (Rezension bei H-Soz-Kult).
Timothy D. Barnes: Constantine and Eusebius. Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1981, ISBN 0-674-16530-6.
Jacob Burckhardt: Die Zeit Constantin’s des Großen. Herausgegeben von Hartmut Leppin, Manuela Keßler und Mikkel Mangold. C. H. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-62978-5 (kritische Edition der Ende 1852 publizierten klassischen, noch heute wertvollen Studie, die Konstantin eher negativ als Machtmensch bewertete; Text der älteren Ausgabe bei Gutenberg-DE).
Raymond Van Dam: The Roman Revolution of Constantine. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-88209-5.
Alexander Demandt, Josef Engemann (Hrsg.): Konstantin der Große. Imperator Caesar Flavius Constantinus. Philipp von Zabern, Mainz 2007, ISBN 978-3-8053-3688-8 (reich bebilderter Katalog zur Konstantinausstellung in Trier mit Beiträgen namhafter Forscher).
Alexander Demandt, Josef Engemann (Hrsg.): Konstantin der Große. Geschichte – Archäologie – Rezeption (= Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier. Band 32). Rheinisches Landesmuseum, Trier 2006, ISBN 3-923319-67-3 (Kolloquiumsband zur Ausstellung).
Stanislav Doležal: The Reign of Constantine, 306–337: Continuity and Change in the Late Roman Empire. Palgrave Macmillan, Cham 2022.
Kay Ehling, Gregor Weber (Hrsg.): Konstantin der Große. Zwischen Sol und Christus. Philipp von Zabern, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-8053-4292-6.
Andreas Goltz, Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsg.): Das Zeitalter Diokletians und Konstantins. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Festschrift für Alexander Demandt. Böhlau, Wien/Köln 2022, ISBN 978-3412525187.
Andreas Goltz, Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsg.): Konstantin der Große. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten. Böhlau, Köln u. a. 2008, ISBN 978-3-412-20192-0.
Noel Lenski (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Age of Constantine. Überarbeitete Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-521-81838-4 (Aufsatzsammlung, die einen guten Überblick über die Materie verschafft).
Karen Piepenbrink: Konstantin der Große und seine Zeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-15499-1 (Geschichte kompakt; knappe Einführung).Religion
Klaus Martin Girardet: Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Denken und in der Religionspolitik Konstantins des Großen. De Gruyter, Berlin/New York 2010 (aktuelle und originelle Studie zur Religionspolitik Konstantins; Besprechung [PDF; 140 kB] im Göttinger Forum für Altertumswissenschaft).
Ekkehard Mühlenberg (Hrsg.): Die konstantinische Wende (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Band 13). Kaiser, Gütersloh 1998, ISBN 3-579-01814-0 (Aufsatzsammlung mit Überlegungen zu den geistigen Grundlagen der Religionspolitik Konstantins).
Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsg.): Konstantin und das Christentum. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-20778-7 (Aufsatzsammlung aus der Reihe Neue Wege der Forschung).
Martin Wallraff: Sonnenkönig der Spätantike: Die Religionspolitik Konstantins des Großen. Herder, Freiburg im Breisgau 2013, ISBN 978-3-451-30708-9 (Besprechung).
== Weblinks ==
Literatur von und über Konstantin der Große im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Konstantin der Große in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Hans A. Pohlsander: Kurzbiografie (englisch) bei De Imperatoribus Romanis (mit Literaturangaben)
Konstantin der Große im Portal Rheinische Geschichte
Enciclopedia Costantiniana
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantin_der_Gro%C3%9Fe |
Flusspferd | = Flusspferd =
Das Flusspferd (Hippopotamus amphibius), auch Großflusspferd genannt, ist eine Säugetierart aus der Familie der Flusspferde und der Ordnung der Paarhufer. Innerhalb der Gattung Hippopotamus gilt es inzwischen als einziges Mitglied. Nach den Elefanten und neben einigen Vertretern der Nashörner und der Giraffen zählt es zu den größten landbewohnenden Tieren. Besondere Kennzeichen stellen der große, fassförmige und weitgehend haarlose Körper, die kurzen Gliedmaßen und der massige Kopf mit einem breiten Maul dar, in dem die Schneidezähne und vor allem die unteren Eckzähne vergrößert sind. Als Anpassung an eine teils wasserbewohnende Lebensweise liegen die Ohren, die Augen und die Nasenlöcher sehr weit oben am Kopf. Das Verbreitungsgebiet des Flusspferdes umfasst das Afrika südlich der Sahara und ist teils stark fragmentiert. Als hauptsächliche Lebensräume fungieren offene Landschaften und Waldgebiete, jedoch fehlt es weitgehend im tropischen Regenwald. Ursprünglich kam das Flusspferd auch entlang des Nils bis zu seinem Mündungsdelta vor, woher der gebräuchliche Name Nilpferd rührt. Am gesamten Unterlauf des Nils ist es heute ausgestorben, am Weißen und am Blauen Nil existieren noch Bestände.
Die Tiere halten sich am Tag in Gewässern auf. Ihre hauptsächlichen Aktivitäten beginnen zur Dämmerungszeit oder nachts, wenn sie die Ruheplätze verlassen und zu ihren Weidegründen an Land gehen. Sie sind überwiegend Pflanzenfresser und ernähren sich von unterschiedlichen Grasarten, seltener von Wasserpflanzen und von geplünderten Kulturpflanzen. Unter Umständen fressen sie auch fleischliche Ressourcen. Das Flusspferd zeigt ein komplexes Sozialverhalten. Es kommen verschiedene, jedoch zumeist instabile Gruppenbildungen vor. So formieren sich Verbände aus weiblichen Tieren mit ihrem Nachwuchs, Gruppen aus männlichen Individuen sowie gemischte Zusammenschlüsse. Einzelgängerische männliche Tiere sind häufig territorial gebunden und verteidigen ihr Paarungsvorrecht, solange sie sich in ihrem Revier aufhalten. Die Kommunikation ist vielfältig und besteht aus einem Repertoire an Gesten, von denen das weit geöffnete Maul die bekannteste ist, und Lautäußerungen. Letztere sind bisher nur wenig erforscht. Die Tiere verwenden sie sowohl unter Wasser als auch an Land. Die Paarung und die Geburt des meist einzelnen Jungtieres finden ausschließlich im Wasser statt, ebenso das Säugen. Zwischen dem Geschlechtsakt und der Niederkunft des weiblichen Tieres vergehen rund acht Monate. Durch sein Gruppenleben und den langen Zeitraum, den es im Wasser verbringt, aber auch sein Nahrungsverhalten hat das Flusspferd einen großen ökologischen Einfluss auf seine direkte Umgebung.
Vertreter der Gattung Hippopotamus traten vermutlich im Unteren Pliozän vor rund 5 Millionen Jahren erstmals auf. Der Ursprung liegt in Afrika, wo sie über einen reichhaltigen Fossilbericht mit zahlreichen Arten verfügt. Im Laufe ihrer Stammesgeschichte erreichte sie zudem Vorderasien und Europa. Letzteres besiedelte die Gattung wahrscheinlich mehrfach, da von hier neben einzelnen ursprünglicheren Formen auch Reste des eigentlichen Flusspferdes vorliegen. Die Anwesenheit der Tiere war aber weitgehend auf die Warmzeiten des Pleistozäns beschränkt. Auf einigen Inseln des Mittelmeeres bildeten sich Zwergformen heraus, gleichfalls sind verzwergte Flusspferde von Madagaskar überliefert. Insgesamt wird die Systematik der fossilen Formen von Hippopotamus als überarbeitungsbedürftig eingeschätzt.
Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Flusspferdes als Art und Gattung erfolgte im Jahr 1758. Zuvor wurde es überwiegend in Reiseberichten erwähnt. Eine Haltung in der modernen westlichen Welt ist nicht vor 1850 belegt. Es sind aber zahlreiche Berichte antiker Gelehrter überliefert, die wenigstens bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. In vorgeschichtlicher Zeit dienten die Tiere als Nahrungs- und Rohstoffquelle. Von ihrer Bedeutung zeugen vor allem seit dem ausgehenden Pleistozän und dem Holozän zahlreiche Felsmalereien im nördlichen und südlichen Afrika. Im Alten Ägypten wurde das Flusspferd im Form der Göttin Taweret verehrt. Dem Tier wohnten nach damaligem Glauben fürsorgliche und zerstörerische Kräfte inne. Zu dieser Zeit entstanden zahlreiche Statuetten, die zu den Verstorbenen in die Gräber gelegt wurden.
Der Bestand des Flusspferdes, der schätzungsweise 115.000 bis 130.000 Tiere umfasst, gilt als gefährdet. Hauptbedrohungen sind die Lebensraumzerstörung und die teils intensive Jagd. Es besteht außerdem ein intensiver Handel mit den Zähnen der Tiere. Die Abhängigkeit des Flusspferdes vom Wasser führt darüber hinaus zu Konflikten mit der örtlichen Bevölkerung. Nach einer weit verbreiteten Meinung zählt das Flusspferd zu den gefährlichsten Tieren für den Menschen, wofür es aber keine statistische Grundlage gibt. Außerhalb des angestammten Verbreitungsgebietes des Flusspferdes in Afrika besteht seit den 1990er Jahren eine Population am Río Magdalena in Südamerika, die aus einer aufgegebenen Tierhaltung hervorgegangen ist.
== Merkmale ==
=== Habitus ===
Das Flusspferd ist ein großer und schwerer Vertreter der Paarhufer. Mehrere Untersuchungen wurden an einzelnen Populationen durchgeführt. So ergab sich an über 190 Tieren aus dem Kruger-Nationalpark in Südafrika eine Kopf-Rumpf-Länge von 259 bis 350 cm, eine Schulterhöhe von 110 bis 172 cm und ein Gewicht von 955 bis 1999 kg. Männliche Individuen sind in der Regel größer als weibliche. Die Maße ersterer lauten im Durchschnitt 312 cm, 150 cm und 1546 kg, die letzterer 299 cm, 144 cm und 1385 kg. In Uganda beträgt das Gewicht männlicher Tiere nach Messungen in den 1960er Jahren im Mittel 1536 kg mit einem Maximalwert von 2065 kg, das weiblicher 1386 kg beziehungsweise 1716 kg. Ähnliche Angaben liegen für Untersuchungen an rund 440 Tieren im Murchison-Falls-Nationalpark in Uganda aus den 1950er Jahren vor. Hier wiesen männliche Individuen ein Durchschnittsgewicht von 1475 kg und ein Maximalgewicht von 1895 kg auf, weibliche von 1360 kg und 2018 kg. Für mehrere hundert Tiere aus dem Flussgebiet des Luangwa in Sambia, die in den 1970er Jahren untersucht wurden, betrug die Schulterhöhe bei männlichen Individuen 130 bis 147 cm bei einem Gewicht von 1027 bis 1799 kg, bei weiblichen entsprechend 123 bis 151 cm und 891 bis 1565 kg. Das größte bekannte Individuum, ein Bulle, wog 2660 kg. Der Körper besitzt eine charakteristisch fassartige Form mit einem Rumpfumfang von gut 300 cm, die Gliedmaßen sind kurz und kräftig. Sie enden in jeweils vier nach vorn ragenden Zehen, die mit breiten Hufen ausgestattet und mit teilweise ausgebildeten Schwimmhäuten verbunden sind. Der Schwanz ist kurz und breit, seine Länge wird mit 40 bis 56 cm angegeben. Der Kopf zeigt sich massig und breit. Als typische Anpassung an ein semi-aquatisches Leben befinden sich die Ohren, Augen und Nasenöffnungen sehr weit oben am Kopf. Im Vergleich zum großen Kopf sind die Ohren sehr klein. Die Nasenlöcher können durch muskulöse Klappen verschlossen werden. Die Körperfärbung variiert zwischen dunkel rötlichbraun am Rücken und fleischfarben auf der Unterseite, sie ist jedoch individuell sehr verschieden. Die scheinbar nackte Haut ist von kurzen Haaren bedeckt, ihre Dichte liegt bei 20 bis 30 je 100 cm² am Rücken, sie dünnt auf etwa die Hälfte an den Seiten aus, am Bauch ist die Haarbedeckung noch spärlicher. Ein dünner Haarflaum ist auch jeweils an den Kopfseiten, den Lippen und am Nacken ausgebildet. Einige borstenartig dickere Haare finden sich am Maul und Schwanz.
=== Schädel- und Gebissmerkmale ===
Der Schädel des Flusspferdes ist groß und wuchtig. Er wird bei männlichen Tieren 63,5 bis 77,0 cm lang und an den Jochbögen 36,8 bis 48,3 cm breit. Der Hirnschädel ist zwischen 17,4 und 22,2 cm hoch. Bei weiblichen Tieren fallen die Maße etwas geringer aus und lauten entsprechend 57,7 bis 69,0 cm, 32,7 bis 41,1 cm sowie 16,7 und 20,2 cm. Der gesamte vordere Schädelabschnitt mit dem Rostrum ist umfangreicher ausgebildet als der hintere. Das Rostrum verbreitert sich nach vorn deutlich, was durch die Zahnfächer der Eckzähne bedingt ist. Auf Höhe der Prämolaren schnürt es wiederum markant ein. Dahinter setzt sich der kleine, rundliche Hirnschädel ab. Das breite Rostrum, die starke Verengung im mittleren Abschnitt und der etwas verbreiterte hintere Teil geben dem Schädel in Aufsicht die Form einer Sanduhr. Auf dem Oberschädel treten kräftige Knochenrippeln auf, dazu zählen der Scheitelkamm und die Überaugenwülste. Ersterer ist massiv und steigt, bedingt durch die Form des Hirnschädels, auf. Beim Zwergflusspferd (Choeropsis liberiensis) hingegen ist er abwärts gerichtet. Letztere werden durch die hohe Lage der Orbitae auf knöchernen Sockeln hervorgerufen. Dadurch befindet sich der obere Rand der Augenhöhle deutlich oberhalb der Stirnlinie, der Abstand kann bis zu 5,5 cm betragen, während er beim Zwergflusspferd geringer ist. Zudem findet sich am vorderen Rand der Orbitae eine markante Grube, die zu den definierenden Merkmalen der Gattung Hippopotamus zählt. Als weiteres wichtiges Merkmal hat das Stirnbein keinen Kontakt mit dem Nasenbein, da sich ein stark vergrößertes Tränenbein dazwischen schiebt. Der weit auskragende Jochbogen dient als Ansatzstelle für eine massive Masseter- und Temporalis-Muskulatur.
Auch der Unterkiefer ist äußerst robust gestaltet und als eine einzigartige Besonderheit schwerer als der Schädel. Seine Länge variiert von 39,8 bis 62,0 cm, seine Höhe unterhalb des zweiten Mahlzahns von 10,9 bis 14,3 cm. Auffallend ist die extrem weit nach hinten verlagerte Position des Gelenkfortsatzes, der nahe dem Hinterhaupt mit dem Schädel artikuliert. Dies ermöglicht die weite Maulöffnung der Tiere bis zu 150°. Der Winkelfortsatz am hinteren Ende des Unterkiefers zieht nach unten hakenförmig aus. Das Gebiss besteht aus 36 bis 40 Zähnen und zeigt folgende Zahnformel:
2.1.3
−
4.3
2.1.3
−
4.3
{\displaystyle {\frac {2.1.3-4.3}{2.1.3-4.3}}}
. Das innere Schneidezahnpaar ist größer als das äußere. In der oberen Zahnreihe besitzen die Schneidezähne einen rundlichen, in der unteren einen dreieckigen Querschnitt. Die Eckzähne haben eine hauerartige Gestalt, die unteren sind größer und können eine Gesamtlänge von 70 cm erreichen (von denen 30 cm aus dem Zahnfleisch ragen), der größte Zahn wurde bei einem Tier aus dem Kongogebiet mit fast 164 cm Gesamtlänge registriert. Ihr dreieckiger Umriss weist mit der flachen Seite nach hinten und der spitzen nach vorn. An den oberen Eckzähnen ist hinten eine längsgerichtete, flache Rille ausgebildet. Die Innenseite der unteren Eckzähne wird durch den Kontakt mit den oberen Gegenstücken bei geschlossenem Maul glattgerieben. Der dicke Zahnschmelz der Eckzähne faltet sich zu markanten Rippeln, die an den unteren konvergent verlaufen. Sowohl die Schneide- als auch die Eckzähne haben keine Wurzeln und wachsen lebenslang. Der jährliche Zuwachs beträgt für die unteren Eckzähnen etwa 28 bis 30 mm bei jüngeren und 13 bis 14 mm bei älteren Individuen. Die Wachstumsrate der Eckzähne verlangsamt sich mit einem Alter von 20 bis 25 Jahren, sie ist bei weiblichen Tieren generell geringer als bei männlichen, so dass die Eckzähne bei ersteren nur halb so schwer werden wie bei letzteren. Gleiches gilt für die Schneidezähne. Die vorderen Zähne dienen nicht der Nahrungsaufnahme, sondern erfüllen „repräsentative“ Zwecke. Die Prämolaren verfügen in der Regel über einen Höcker, die Molaren weisen zwei Paar Höcker auf, nur der hinterste drei. Die vorderen Backenzähne stehen parallel zueinander oder konvergieren leicht. Generell sind die Backenzähne stark hochkronig (hypsodont), so dass die Höhe in der Regel ihre Weite übertrifft. Die Länge der Backenzahnreihe des Unterkiefers reicht von 23,2 bis 29,8 cm, die des Oberkiefers von 21,3 bis 27,8 cm.
== Verbreitung ==
Das Flusspferd kommt derzeit in Afrika südlich der Sahara vor (Subsahara-Afrika). Das Verbreitungsgebiet reicht vom Senegal und Gambia im Westen ostwärts bis in den Sudan sowie Äthiopien beziehungsweise Somalia und südwärts bis in das nördliche Südafrika und bis nach Botswana. Die Tiere bewohnen überwiegend offene Graslandschaften und Miombo-Waldgebiete, die in jedem Fall mit Gewässern in Form von Strömen, Flüssen oder Seen verbunden sind. Abseits von großen Flussgebieten treten sie nicht in tropischen Regenwäldern auf. In Westafrika ist das Flusspferd auch an den Unterläufen von Strömen anzutreffen und dringt teilweise in küstennahe Meeresgewässer vor. Einzelne Bestände wurden im 19. und 20. Jahrhundert von der Insel Mafia rund 17 km vor der ostafrikanischen Küste berichtet, die eventuell bis in die Gegenwart überdauern. Erreicht haben die Tiere die Insel über die Mündung des Rufiji. Für die Nachbarinseln Sansibar und Pemba liegen keine Belege vor. Die Höhenverbreitung reicht dementsprechend vom Meeresspiegel bis auf 2000 m Gebirgslage. Für die höheren Lagen bemerkenswert ist das Vorkommen des Flusspferdes im Ngorongoro in Tansania, wozu die Tiere längere Strecken über trockene Landschaften und die Ersteigung der mehrere hundert Meter hohen Kraterwand absolviert haben müssen. Vergleichbares gilt für die mittlerweile verschwundenen Bestände in einigen Seen im Hanang-Gebiet von Tansania, das zu den trockensten der Region zählt.Insgesamt ist das Flusspferd in 29 Ländern vertreten. Die größten Populationen finden sich im südlichen und im östlichen Afrika mit rund 60.000 beziehungsweise 50.000 Individuen. Den größten Anteil daran haben Sambia mit 40.000 bis 45.000, Tansania mit bis zu 20.000 und Uganda mit bis zu 10.000 Individuen. Im westlichen Afrika ist die Art selten und die Population auf eine Reihe kleinerer Gruppen aufgeteilt, die insgesamt rund 7500 Tiere in 19 Ländern umfassen. In einigen Regionen wie in der Republik Kongo oder in Gambia werden nur einige Dutzend Tiere vermutet. In historischer Zeit kam das Flusspferd zudem in Nordafrika vor, hauptsächlich im Niltal, wo es um 1700 noch im Deltagebiet und am Unterlauf nachgewiesen war. Dort verschwand es Anfang des 19. Jahrhunderts durch Bejagung. Ebenso wurde es in der Kapregion im südlichen Afrika ausgerottet. Hohe Populationsdichten sind aus dem Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda und der Luangwa-Region Sambias bekannt mit 28 bis 42 Individuen je Quadratkilometer.
== Lebensweise ==
=== Territorial- und Sozialverhalten ===
==== Anpassungen und Physiologie ====
Das Flusspferd lebt semi-aquatisch und ist gut an dieses Milieu angepasst. Zu den begünstigenden Merkmalen hierfür gehören die sehr weit oben am Kopf positionierten Nase, Augen und Ohren, so dass die Tiere sie beim Schwimmen über der Wasserlinie halten können. Beim Tauchen verschließt ein Reflex die schlitzartigen Nasenlöcher und die Ohren, zum Atmen muss ein Tier in Abständen von etwa sechs Minuten auftauchen. Die kurzen Gliedmaßen sind als eine funktionale Modifikation anzusehen, ebenso wie die kompakten und teils verdichteten Knochen, deren Markröhren mit spongiosem Material gefüllt sind. Die massiver ausgebildeten Vorderbeine tragen den größeren Teil des Körpergewichts, was unter anderem der Fortbewegung im Wasser zugutekommt. Allerdings fehlen dem Flusspferd auch einige typische Kennzeichen wie eine Stromlinienform, zudem zeigen Vorder- und Hinterläufe nur bedingt besondere Schwimmeigenschaften etwa in Form der partiell ausgebildeten Schwimmhäute.Die Epidermis der Haut ist sehr dünn, teilweise nur rund 1 mm wie am Rücken. Durch zahlreiche Nerven weist sie eine hohe Sensibilität auf. Sie kann durch Äste und Zweige von Büschen sehr leicht verletzt werden, heilt jedoch recht schnell. Außerdem bricht sie durch Trocknung an Land rasch und muss daher feucht gehalten werden. Die Dermis dagegen ist sehr dick. Am Rücken und an den Seiten erreicht sie 60 mm, am Kopf, Nacken und Bauch wird sie dünner. Insgesamt wiegt die Haut rund 270 kg, was rund 18 % des Körpergewichts eines Individuums ausmacht, und bedeckt eine Fläche von 10 m².Es sind keine Schweißdrüsen ausgebildet, allerdings sondern spezielle subdermale Hautdrüsen eine alkalische Flüssigkeit mit einem pH-Wert von 8,5 bis 10,5 ab, die die Tiere vor der Austrocknung schützt. Diese Ausscheidungsorgane verteilen sich in einem dichten Netz von einer Drüse je Quadratzentimeter über die Körperoberfläche, haben einen linsenförmigen Umriss und besitzen jeweils zwei Drüsenkanäle. Die zunächst farblose Flüssigkeit verfärbt sich innerhalb von ein paar Minuten rötlich und später bräunlich. Bestandteil dieser Flüssigkeit sind zwei nicht-benzoide, aromatische Pigmente, ein rotes, das als Hipposudorinsäure, und ein orangefarbenes, das als Norhipposudorinsäure bezeichnet wird. Beide wirken sowohl als Sonnenschutz, indem sie UV-Strahlen absorbieren, als auch antibiotisch gegen verschiedene Krankheitserreger. Das rötliche Schimmern hat früher zu der Vermutung geführt, das Flusspferd würde Blut schwitzen.Eine weitere Funktion des Sekrets betrifft die Thermoregulation, die überwiegend über die Haut erfolgt. Sie findet über die Wasserverdunstung statt, die im Vergleich zu anderen Säugetieren beim Flusspferd sehr intensiv ausfällt, insbesondere wenn die Haut nass und mit den Drüsenflüssigkeiten bedeckt ist. Die Körpertemperatur liegt bei rund 36 °C und schwankt nur sehr wenig an Land. In der Regel vermeiden die Tiere Hitzestress und halten sich deshalb tagsüber im Wasser auf. Allerdings schließt dies auch verschiedene Sonnenbäder ein, die je nach Jahreszeit und Umgebungstemperatur unterschiedlich lang ausfallen können.
==== Aktivitätsrhythmus ====
Das Flusspferd ist weitgehend dämmerungs- und nachtaktiv. Es verbringt praktisch den ganzen Tag schlafend bzw. ruhend im Wasser oder in Gewässernähe, was mehr als zwölf Stunden in Anspruch nehmen kann. Bevorzugte Wassertiefen für die Ruheplätze reichen von 1,3 bis 1,5 m. Größere Aktivitäten im Gewässer entfalten sich am späten Nachmittag und frühen Abend zwischen 16:00 und 19:00 Uhr. Bei Dämmerung begeben sich die Tiere an Land und wandern zu ihren Weidestellen. Die Nahrungsaufnahme dauert bis zu sechs Stunden. Der Rhythmus ist weitgehend abhängig vom Wetter und von der Jahreszeit, da die Tiere unter feuchteren Bedingungen auch länger außerhalb der Gewässer verweilen und mitunter in ihren Weidegründen rasten oder diese mehrfach aufsuchen. Für Tiere aus den Boye-Feuchtgebieten bei Jimma in Äthiopien ergab sich eine Verteilung der Aktivität auf 51,2 % Ruhe, 34,2 % Wanderung, 19,6 % Nahrungsaufnahme und 3,7 % Paarung. Bullen rasten durchschnittlich länger als Kühe, die mehr Zeit in Wanderung und Ernährung investieren.
==== Sozialorganisation und Raumnutzung ====
Ausgedehnte Studien zur Sozialstruktur des Flusspferdes fanden unter anderem im Queen-Elizabeth-Nationalpark in Uganda, im Masai Mara in Kenia oder im Okavangodelta in Botswana statt. Das Sozialverhalten des Flusspferdes ist variabel. Nach Untersuchungen im Masai Mara setzte sich eine 2800-köpfige Population zu 8 % aus Bullen, zu 36 % aus Kühen und zu 56 % aus Jungtieren zusammen, hier entfielen fast je eine Hälfte auf nahezu ausgewachsene Individuen und auf Neugeborene. Das Flusspferd tritt einzelgängerisch auf oder mehrere Individuen schließen sich zu einer Gruppe zusammen, deren durchschnittliche Größe im Masai Mara bei rund einem Dutzend Tiere liegt. Dabei gibt es verschiedene Formen der Gruppenbildung, einerseits solche aus weiblichen Tieren mit ihrem Nachwuchs, andererseits Junggesellengruppen mit männlichen Individuen. Allerdings sind die Grenzen nicht eindeutig festgelegt, da sich häufig auch Vertreter des anderen Geschlechts in den jeweiligen Gruppen aufhalten können. Keiner der Verbände ist stabil, es handelt sich eher um lose Verbände von Tieren an begünstigten Plätzen. Sie können je nach Attraktivität des Gebietes bis zu 200 Individuen umfassen. In Regenzeiten teilen sich bestehende Gruppen häufig auf, so dass sich weniger Tiere in einer Gruppe finden als in Trockenzeiten. Die einzige dauerhafte Beziehung ist die zwischen der Mutter und ihrem Nachwuchs, die mehrere Jahre anhält.Einzelgängerische Bullen etablieren in der Regel ein eigenes Revier, ihre soziale Organisation beruht auf Territorialität. Die Territorien umfassen häufig die Uferlinien von Flüssen und Seen. Sie können sich über 50 und 100 m wie am Fluss Ishasha oder 250 bis 500 m wie am Eduardsee, beides im Queen-Elizabeth-Nationalpark, ausdehnen. Die Grenzen verschieben sich über das Jahr, da eine Abhängigkeit von der Populationsdichte einer Region besteht. Außerdem spielen natürliche Faktoren wie die Änderung der Wasserführung eines Flusses oder der Verlauf des Seeufers infolge von Dürren oder Regenfällen beziehungsweise Überflutungen eine Rolle. Häufig beansprucht ein Individuum sein Territorium über eine lange Zeit. Einzelne Beobachtungen erfolgten über viereinhalb bis zwölf Jahre, teilweise wird vermutet, dass ein einzelnes Tier sein Revier während seines gesamten Lebens besetzt. Die Grenzen eines Territoriums schließen einen oder mehrere Aktionsräume gruppenlebender Individuen ein. Dabei sind Territorien und Aktionsräume nicht identisch. Im Ruaha-Nationalpark in Tansania nutzen größere, fast ausgewachsene Jungtiere weitaus ausgedehntere Aktionsräume, die die Größe der Territorien dominanter Bullen um das Dreifache übertreffen. Die dafür erforderlichen Wanderungen von teils mehr als 4 km werden wohl daher unternommen, um innerartlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen, vor allem zu den Trockenzeiten, wenn die einzelnen Gruppen enger zusammenrücken.
Der Anspruch auf ein Revier wird durch die Anwesenheit des männlichen Tieres, seinem Dominanzgebaren und durch Defäkation ausgedrückt. Der Kot, den ein Bulle durch Wackeln mit dem Schwanz verteilt, häuft sich zu größeren Hügeln mit einer Fläche von mehreren Quadratmetern auf. Diese Hügel markieren aber nicht die eigentlichen Reviergrenzen, sondern dienen vielmehr als Orientierungspunkte. Sie verhindern auch nicht das Eindringen fremder Bullen in ein Territorium, mitunter stimulieren sie ein anderes Individuum, dort ebenfalls seine Fäkalien abzulegen. Benachbarte Bullen defäkieren teilweise ritualisiert zur gleichen Zeit im Wasser und schauen sich dabei an oder in die entgegengesetzte Richtung mit hoch gehobenen Kopf und nach vorn orientierten Ohren, was jeweils Dominanz bedeutet.
Wie andere Flusspferde begibt sich ein Bulle nachts zur Nahrungssuche landeinwärts und verlässt damit sein Revier. Überschreitet ein Bulle seine eigenen Reviergrenzen, verliert er seine dominante Stellung und erlangt den Status eines untergeordneten Tieres im Verhältnis zum Eigentümer des anderen Territoriums. Generell ist das Flusspferd aber friedfertig gegenüber allen Artgenossen, was auch Bullen einschließt, sofern sie das Zeugungsvorrecht des dominanten Tieres anerkennen. Mitunter können sich dadurch auch Junggesellengruppen mit einer Individuengröße von bis zu 100 Tieren im Revier eines territorialen Bullen aufhalten. Eine dichtere Drängung der Tiere an einzelnen Wasserstellen, wie häufig in der Trockenzeit, kann zu einer erhöhten Aggression führen, die sich gegen jedes Geschlecht und jede Altersstufe richtet, meist aber wenig Körpereinsatz mit sich bringt. Kämpfe zwischen benachbarten Tieren sind ritualisiert und werden frontal geführt. Sie sind teilweise verbunden mit dem Aufspritzen von Wasser, was eine Grenze anzeigen soll. Echte Kämpfe hingegen finden in seitlicher Position statt. Jedes Tier versucht dann, mit Hilfe der großen Eckzähne die Seite des Gegenübers zu treffen. Trotz der insgesamt dicken Haut kann dies zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen.Die vorwiegend in der Nacht aufgesuchten Weideflächen liegen teils mehrere Kilometer von den angestammten Wasserstellen entfernt. Im Gegensatz zu den Territorien der Bullen sind die Nahrungsgründe nicht monopolisiert. Sie werden daher gemeinsam genutzt und unterliegen keiner Verteidigung. Der Gang zu den Weideflächen und die Nahrungsaufnahme finden einzeln oder in Mutter-Jungtier-Gruppen statt. Mit Ausnahme letzterer kommt es dabei kaum zu sozialen Interaktion, so dass jedes Individuum für sich allein frisst. Im Masai Mara entfernen sich die Tiere dafür bis zu 1350 m von ihrer Wasserstelle, im Kruger-Nationalpark in Südafrika kann der Abstand bis zu 4,5 km betragen. Die Entfernungen sind meist abhängig von der Produktivität einer Landschaft.
==== Fortbewegung und Kommunikation ====
Obwohl das Flusspferd einen Großteil seines Lebens im Wasser verbringt, ist es kein guter Schwimmer. Meistens läuft es auf dem Grund eines Gewässers entlang oder lässt sich vom Wasser tragen; die Fortbewegungsart wird manchmal als „Schwimmlaufen“ bezeichnet. Dabei nutzt das Flusspferd eine Art Galopp mit relativ ausgedehnten Sprungphasen, die länger dauern als die Kontaktphasen mit dem Grund. Bei jedem Sprung legt ein Tier zwischen 1,0 und 2,4 m zurück. Die erreichten Geschwindigkeiten liegen bei 0,2 bis 0,6 m je Sekunde. Tauchgänge können eine Dauer von 30 Minuten erreichen. An Land bewegt sich das Flusspferd hingegen bei niedrigen Geschwindigkeiten in einer Art Passgang vorwärts, bei dem zumeist drei Füße gleichzeitig den Boden berühren und so den massigen Körper stabilisieren. Lediglich in einer kurzen Sequenz kommt es zu einer bipedalen Phase. Höhere Geschwindigkeiten werden durch einen Trab mit diagonaler Beinbewegung erreicht. Maximale Geschwindigkeiten bei Flucht oder Angriff betragen rund 30 Kilometer pro Stunde. Das Flusspferd ist trotz seines massiven Körperbaus dadurch relativ agil.
Die innerartliche Kommunikation des Flusspferds ist vielfältig. Hierzu gehören vor allem die Körpersprache und Gestik. Dominante Bullen sind häufig an vorgestellten Ohren erkennbar, Kühe und untergeordnete Tiere an zurückgelegten. Verbunden ist das Dominanzgebaren mit einem erhobenen Kopf und gekrümmtem Rücken, was eine größere Massivität ausdrückt. Zu den bekanntesten Gesten gehört das aufgerissene Maul. Hierbei wird der Kopf zurückgeworfen, so dass die Stirnlinie im rechten Winkel zum Rücken steht. Dominante Tiere halten diese Gebärde bis zu acht Sekunden lang. Allerdings wird das aufgerissene Maul von fast allen Mitgliedern einer Gruppe einschließlich der Jungtiere praktiziert und findet in größerem Maße abends vor dem Landgang statt. Eventuell ist dieses Verhalten ein Ausdruck der Aufregung. Bei Angriffen öffnen die Tiere ihr Maul nur teilweise. Unterwürfiges Verhalten zeigt sich durch einen gesenkten Kopf, Schwanzwedeln und Lippenschmatzen. Es beginnt an Land bereits in rund 100 m Entfernung zum Kontrahenten, manchmal kriechen untergeordnete Tiere die letzten Meter und schnüffeln dann an der Genitalregion des territorialen Bullen. Im Wasser spielen Nasenkontakte eine Rolle, mitunter verharrt das untergeordnete Individuum über Stunden in der Umgebung des dominanten Tieres. Teilweise kommt es auch zur Defäkation, wobei die Bedeutung hier nicht eindeutig ist.Über die Lautgebung des Flusspferdes liegen wenige Informationen vor. Am häufigsten ist sie zur Zeit der stärksten Aktivitäten im Wasser wahrnehmbar, die am späten Nachmittag stattfindet. An Land ist sie nur selten zu sehen. Als semi-aquatisch lebendes Tiere ist das Flusspferd befähigt, sich sowohl an Land als auch unter Wasser mittels Vokalisation mit Artgenossen zu verständigen. Normalerweise stößt eine Kommunikation, die über beide Medien gleichzeitig erfolgt, auf Schwierigkeiten, da Schallwellen an den Grenzen brechen. Nur rund 4 % aller Lautgebungen erfolgen ausschließlich durch die Luft. Dem gegenüber erzeugt das Flusspferd fast zwei Drittel seiner Vokalisationen unter Wasser. Sie sind an der Oberfläche schwer wahrnehmbar und benötigen kaum Luft für ihre Modulation. Die Funktion der Töne ist nicht in allen Fällen eindeutig. Weinlaute, die nur kurz dauern und teilweise mit einzelnen Klicklauten kombiniert werden, stehen möglicherweise mit Aggressoren in Verbindung. Dagegen werden Krächzlaute bei genereller Alarmbereitschaft oder Aufmerksamkeit ausgestoßen, beziehungsweise dienen als Kontaktrufe, etwa in trübem Wasser. Sie bestehen aus einer Serie von etwa einem halben Dutzend Pulsen, die jeweils meist 2 Millisekunden anhalten und Frequenzen von 600 bis 1800 Hz, im Maximum auch 9000 Hz erreichen. Dabei kann die Tonlage gleich bleiben oder sich ändern, was möglicherweise variable Motivationen ausdrückt. Während sozialer Interaktionen werden Klicklaute ausgestoßen, die sehr variantenreich sein können und sowohl im Breitband- als auch im Schmalbandbereich stattfinden. Auch diese setzen sich aus mehreren Pulsen zusammen, die kürzer sind als bei den Krächzlauten. Breitbandklicks erfolgen in Frequenzen bis 7800 Hz, Schmalbandklicks hingegen übersteigen nur selten 2000 Hz. Ein Tier vermag dabei Laute individuell zu unterscheiden. Untersuchungen aus dem Jahr 2022 ergaben, dass Rufe aus der eigenen Gruppe nur wenige Reaktionen auslösen. Dagegen intensiviert sich die Aktivität bei Rufen gruppenfremder Artgenossen. Verbunden ist dies dann teilweise mit einem gesteigerten Markierungsverhalten.Nahezu ein Drittel der Laute des Flusspferdes ist amphibischer Natur und breitet sich demnach durch das Wasser und die Luft aus. Für diese Form der Kommunikation befinden sich die Tiere in halb abgetauchter Position mit den Augen und den Nasenlöchern über, dem Maul und der Kehle unter Wasser. Die hierfür benötigte Luft wird für die Überwasserkommunikation mittels des Rachens durch die Nase gepresst, für die Unterwasserkommunikation aktiviert der Kehlkopf die Haut- und Fettgewebe der Kehle. In völlig abgetauchter Position sind die Lautmodulationen teilweise mit einer aufsteigenden Luftblase verbunden. Die Wahrnehmung erfolgt für die luftgestützten Laute mittels der Ohren, für die wassergestützten wohl über die Knochenleitung des Unterkiefers. Die Schallwellen breiten sich aufgrund der variierenden Dichte der Medien unterschiedlich schnell aus und haben eine sehr unterschiedliche Reichweite. In der Luft sind sie langsamer mit niedrigeren Maximalfequenzen (um 210 Hz), im Wasser schneller und mit höheren Maximalfrequenzen (über 2000 Hz). Außerdem ist der Schalldruck im Wasser stärker, die höhere Dichte des feuchten Mediums führt aber zu einer geringeren Intensität der Laute. Amphibische Laute werden von den Tieren meist bei Störungen eingesetzt, etwa bei einem Kampf oder bei Anwesenheit von Löwen, die eine Gefahr für Jungtiere sind. Neben dem bereits erwähnten Krächzen, Klicken und Weinen können Flusspferde auch Schrei- sowie variable Knurr-, Grunz- und Schnaublaute ausstoßen, einschließlich eines Nasenflatterns. In der Regel ruft zuerst der dominante Bulle. Die Gruppe beantwortet dieses Signal und stimuliert damit benachbarte Ansammlungen. Durch die Luft können sich die Antworten über mehrere Territorien erstrecken bis zu einer Distanz von 3,2 km. Unter Wasser bleiben in der Regel die benachbarten Gruppen involviert, so dass die größte Ausbreitung rund 500 m beträgt.
=== Ernährung ===
Das Flusspferd ist ein Pflanzenfresser. Es nimmt hauptsächlich Gräser zu sich. Bei Studien in den Boye-Feuchtgebieten in Äthiopien ließen sich 26 Arten bestimmen, unter denen Eriochloa mit einem Anteil von fast 12 %, Rohrkolben und Hühnerhirsen mit jeweils über 9 % sowie Hundszahngräser mit über 8 % zu den favorisierten Pflanzen zählen. Im Masai Mara sind rund ein Dutzend Grasarten als Nahrung des Flusspferdes belegt. Hierzu gehören Themada, Sporobolus und Andropogon sowie Liebesgräser. Im Queen-Elizabeth-Nationalpark konnten über 30 verschiedene Grasarten identifiziert werden, die von den Tieren konsumiert werden. Bedeutung haben vor allem Hundszahngräser, aber auch Gattungen wie Chloris, Heteropogon, Sporobolus und Themada sind mit einem hohen Anteil vertreten. Gelegentlich frisst das Flusspferd einzelne krautige Pflanzen wie Angehörige der Gattung Alternanthera. Dies gilt auch für Früchte wie solche vom Leberwurstbaum. Teilweise fressen die Tiere zusätzlich verschiedene Wasserpflanzen, darunter Wassersalat. Ähnliches wurde im südlichen Afrika beobachtet, wo unter anderem Seerosen, Salden und Laichkräuter zum Nahrungsspektrum gehören. Aus dem zentralen und westlichen Afrika liegen bisher nur wenige Untersuchungen zur Ernährungsweise des Flusspferds vor. Im Nationalpark Loango in Gabun ließen sich bei Feldstudien insgesamt neun Pflanzenarten feststellen, von denen das Süßgras Paspalmum mit 81 % den höchsten Anteil aufwies, gefolgt von Axonopus und Stenotaphrum. Daneben sind einzelne Schmetterlingsblütler und Wasserpflanzen wie Wassernabel dokumentiert. Mit rund neun bevorzugten Pflanzen im Nationalpark W im Niger ist die Zahl ähnlich gering. Hier dominieren Tagblumen, Hühnerhirsen und Reis. Tiere suchen regelmäßig Ackerflächen mit Reis, Mais oder Teff, teilweise auch Bananenplantagen auf und plündern dadurch Nutzpflanzen. Isotopenuntersuchungen an Individuen aus den unterschiedlichen Regionen Afrikas stimmen weitgehend mit den Beobachtungen überein. Demnach besteht ein Großteil der Nahrung aus C4-Pflanzen, in Regionen mit geschlossener Vegetation wie im zentralen Afrika kommen höhere Mengen an C3-Pflanzen hinzu. Darüber hinaus kann die Zusammensetzung den Daten zufolge regional sowie saisonal schwanken mit einem hohen Anteil an C4-Pflanzen in den trockenen Jahresabschnitten und mit einer gemischten Kost aus C3- und C4-Pflanzen in den feuchten Gebieten. Einzelnen Berichten zufolge frisst das Flusspferd gelegentlich Aas und Fleisch von Tieren, das es selbst getötet hat, was auch eigene Artgenossen einschließt. Es wurde zwar selten beobachtet, grundsätzlich jedoch ist ihm das Verdauen von Fleisch möglich.Generell ist das Flusspferd ein opportunistischer Pflanzenfresser, der zwar einzelne Pflanzen bevorzugt, diese aber ohne Vorauswahl bestimmter vegetativer Teile konsumiert. Das große und dicklippige Maul und die spezielle Unterkieferaufhängung verhindern eine feine Selektion der Nahrung. Deshalb suchen die Tiere Bereiche mit häufigem Vorkommen ihrer favorisierten Pflanzen und fressen dann umfangreichere Flächen leer. Die Menge der konsumierten Pflanzen ist umso höher, je weiter die Weideplätze von den Wasserstellen entfernt liegen. Insgesamt unterscheidet sich die Ernährungsstrategie des Flusspferdes mit der Beschränkung auf einen bestimmten Tagesabschnitt und Entfernung von den angestammten Aktionsräumen und Territorien von der anderer großer Pflanzenfresser wie den Elefanten oder Nashörnern, die über lange Zeit auf Nahrungssuche gehen und dabei weit umherschweifen. In der Regel wird das Gras zwischen die Lippen gepresst und mit einer Kopfbewegung abgerissen. Die Schneide- und Eckzähne haben bei der Nahrungsaufnahme keine Funktion, erstere werden aber teilweise zum Graben eingesetzt. Die Nahrungsaufnahme findet zumeist nachts statt und kann mehrere Stunden beanspruchen. Bei schlechter Pflanzenqualität frisst das Flusspferd auch tagsüber. Pro Tag nimmt ein Tier zwischen 20 und 45 kg Nahrung zu sich. Bezogen auf die Trockenmasse entspricht dies 0,9 bis 1,3 % des Körpergewichts. Der Magen fasst durchschnittlich 34,9 kg bei männlichen und 37,4 kg bei weiblichen Individuen, was 12,8 beziehungsweise 15,2 % des Körpergewichts ausmacht. Das Flusspferd hat einen konvergent zu den Wiederkäuern entwickelten vierkammerigen Magen. Dieser weist zwei Blindsäcke auf, in denen die Nahrung durch Mikroorganismen zersetzt wird. Sie käuen aber nicht wieder. Die Passagezeit der Nahrung ist relativ lang, was eine effiziente Verwertung der eher nährstoffarmen Gräser ermöglicht.
=== Fortpflanzung ===
Die Paarung erfolgt das gesamte Jahr über. Sie findet im Wasser statt, dabei ist das Weibchen die meiste Zeit untergetaucht und kommt nur zum Luftholen an die Oberfläche. Es können bis zu sechs Begattungen pro Nacht stattfinden. Manchmal sucht die Kuh nach erfolgreicher Verpaarung noch zwei oder mehr Territorien für weitere Paarungsaktivitäten auf. Die Tragzeit beträgt rund 227 bis 240 Tage. Zumindest in manchen Regionen lässt sich eine Saisonalität bei der Fortpflanzung erkennen. So fallen in Uganda die meisten Geburten in die Monate Oktober und April, die Jahresabschnitte mit dem meisten Regen. Auch in Südafrika kommt die überwiegende Zahl der Jungtiere in den feuchten Monaten Oktober bis März zur Welt. Ähnliches wurde in Sambia beobachtet.Kurz vor der Niederkunft trennt sich das werdende Muttertier von der Gruppe. Die Geburt vollzieht sich in seichtem Wasser, bei Störungen sucht die Kuh tieferes Wasser auf. Üblicherweise kommt ein einzelnes Jungtier zur Welt, Zwillinge sind selten. Neugeborene wiegen zwischen 25 und 55 kg und können sofort nach der Geburt laufen und sich vom Wassergrund zur Oberfläche abstoßen. Gesäugt wird im Wasser, der Nachwuchs aktiviert dabei mit seiner Zunge die Milchdrüsen des Muttertiers. Vermutlich spritzt die Mutter einen Teil der Muttermilch durch Muskelkontraktion in das Maul des Jungen, ähnlich wie es bei Walen bekannt ist. Das Muttertier ist sehr fürsorglich. Es lässt den Nachwuchs in tieferem Wasser auf dem Rücken reiten und verteidigt ihn vehement gegen Fressfeinde und Artgenossen. Besonders aggressiv geschieht dies in den ersten zehn Tagen. Während dieser Zeit nimmt die Mutter kaum Nahrung zu sich. Erst danach beginnt sie tagsüber am Flussufer zu fressen, während das Junge in der Nähe ruht. Nach mehreren Wochen wandern Mutter und Junges gemeinsam in der Nacht zu den weiter entfernten Weidegründen. Das Junge bleibt im Gebüsch versteckt, während die Mutter weidet. Die erste feste Nahrung konsumieren die Jungtiere mit rund sechs bis acht Wochen. Nach rund sechs bis acht, teilweise auch erst nach zwölf Monaten wird der Nachwuchs entwöhnt. Die Wachstumsphase ist bei beiden Geschlechtern anfangs gleich, ab rund 24 Lebensjahren verlangsamt sie sich bei weiblichen Tieren, während männliche Individuen ihr gesamtes Leben lang an Größe zunehmen können.Die Geschlechtsreife tritt bei männlichen Individuen mit sieben bis acht Jahren ein, ermittelt an der Größe der Hoden, allerdings kann die Spermienbildung bereits mit zwei Jahren einsetzen. Bei weiblichen Tieren liegt der Zeitraum aufgrund der Größe der Follikel in der Regel bei etwa sieben Jahren, einzelne Individuen erreichten dies jedoch bereits mit drei Jahren. Die erste Fortpflanzung findet zumeist deutlich später statt. Im Kruger-Nationalpark wurde sie mit rund elf Jahren ermittelt, in Uganda und Sambia teilweise auch erst mit 20 Jahren. Die Unterschiede sind wohl in der Populationsdichte und in der Qualität des Nahrungsangebots begründet. Tiere in menschlicher Gefangenschaft können sich mitunter schon im Alter von etwas mehr als zwei Jahren fortpflanzen. Männliche Tiere sind während ihres gesamten Lebens sexuell aktiv.Das Geburtsintervall beträgt rund zwei bis drei Jahre. Der Sexualzyklus dauert etwa 50 Tage, mit einem zwei bis drei Tage anhaltenden Östrus. Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt beträgt 1:1. Es gibt Hinweise darauf, dass Kühe kurz nach der Geburt wieder geschlechtsreif sind (Postpartum-Östrus), da rund 25 % der untersuchten weiblichen Tiere sowohl trächtig als auch milchgebend waren. Die Geburt eines neuen Jungen unterbricht nicht die bestehende Verbindung zum älteren Nachwuchs. Einige weibliche Tiere wurden mit bis zu drei Jungen unterschiedlichen Alters beobachtet. In der Marschordnung folgt das jüngste Tier direkt der Mutter, das älteste bildet den Schluss. Teilweise kommt es zum Infantizid an Jungtieren durch Bullen. Unter Umständen geschieht dies, wenn ein dominantes Tier ein neues Territorium übernimmt und so seinen Fortpflanzungserfolg garantieren will, ähnlich wie es bei Löwen bekannt ist. Andererseits sind Tötungen von Jungtieren häufig in der Trockenzeit beobachtet worden, so dass auch äußerer Stress einen wichtigen Faktor darstellen könnte. Jungtiere sind dadurch bis zu einem Lebensalter von 50 Tagen gefährdet. Nach einzelnen Beobachtungen beschäftigen sich Muttertiere noch mehrere Stunden mit einem toten Jungen, verteidigen es gegen Beutegreifer und bringen es an Land. Das Flusspferd gehört zu den wenigen Huftieren, die ein solches Verhalten zeigen. Wild lebende Flusspferde werden 30 bis 40 Jahre alt. Tiere in Gefangenschaft können über 50 Jahre erreichen, das höchste bekannte Alter eines Tieres betrug 61 Jahre.
=== Fressfeinde, Kommensalen und Parasiten ===
Ein ausgewachsenes Flusspferd hat kaum natürliche Feinde; gelegentlich erbeuten Löwen ein Alttier, doch haben diese sporadischen Aktionen keinen Einfluss auf die lokale Population. Jungtiere fallen gelegentlich Hyänen oder ebenfalls Löwen zum Opfer. In der Regel verteidigen Muttertiere ihren Nachwuchs äußerst aggressiv. Das Nilkrokodil vermag ebenfalls Jungtiere und unter Umständen auch ausgewachsene Individuen zu reißen. In einem gemeinsam genutzten Gewässer tolerieren Flusspferdgruppen zumeist keine Krokodile in der unmittelbaren Umgebung von 2 m. Andererseits meiden Krokodile wiederum Flusspferde und tauchen in unmittelbarer Nähe ab. Nach Beobachtungen am Runde in Simbabwe vertreiben Flusspferde Krokodile auch von ihren Sonnenbädern. Ausnahmen stellen hier die größeren Exemplare ab Längen von 3,5 m dar, die wiederum von den Flusspferden gemieden wurden. In der Regel aber dominieren Flusspferdgruppen solche der Krokodile.Häufig tritt das Flusspferd in Vergesellschaftung mit verschiedenen Vogelarten auf. Bekannt dafür sind die Madenhacker, vor allem der Gelbschnabel-Madenhacker findet sich in nächster Umgebung zu den Tieren. Nach Untersuchungen aus dem Jahr 2018 konnte er in 11,3 % aller Beobachtungen nachgewiesen werden. Ebenfalls wären der Kuhreiher, der Lappenstar, der Piapia und das Blaustirn-Blatthühnchen zu nennen. Während die Madenhacker überwiegend vom parasitischen Befall ihrer Wirtstiere profitieren, ist das häufige Vorkommen der Kuhreiher wohl auf die Überschneidung der gemeinsam genutzten Lebensräume in Wassernähe zurückzuführen. Im Wasser übernehmen Karpfenfische wie etwa Angehörige der Gattung Labeo die Rolle der Madenhacker und fressen Algenbestände von der Haut des Flusspferdes.Parasiten sind beim Flusspferd zahlreich belegt. Bedeutende äußere Schmarotzer finden sich vor allem in Zecken wie etwa Cosmiomma. Eine Besonderheit bildet der Plattwurm Oculotrema, der sich in den Augen festsetzt. Mitunter können zwei Dutzend Individuen an einem Auge und bis zu drei Dutzend an einem Flusspferd parasitieren, auch treten verschiedene Generationen an einem Wirtstier auf. Als innere Parasiten sind beispielsweise Pärchenegel und die Gattung Fasciola belegt, beide gehören zu den Saugwürmern und befallen das Blut beziehungsweise die Leber. Fadenwürmer sind unter anderem mit Toxocara, Stephanofilaria, Cobboldina und Hippopotamenema vertreten. Außerdem ist das Flusspferd anfällig für die Rinderpest und für Milzbrand. Ein Milzbrandausbruch im Jahr 1987 in Sambia kostete über 4000 Tiere das Leben, einem weiteren im Jahr 2004 in Uganda fielen 300 Individuen zum Opfer. Andere krankheitsbildende Mikroorganismen sind Kokzidien wie Eimeria, Bakterien wie Brucellen oder Salmonellen sowie Flagellaten wie Trypanosomen.
=== Ökologischer Einfluss ===
Als großer Pflanzenfresser übt das Flusspferd nachhaltigen Einfluss auf seine unmittelbare Umgebung aus. Es steht in Nahrungskonkurrenz mit einigen anderen grasfressenden Säugetieren, wodurch es zu ökologischen Wechselwirkungen kommen kann. Im Queen-Elizabeth-Nationalpark nimmt die Zahl der Wasserböcke ab, wenn das Flusspferd zahlreich ist, und steigt wieder, wenn die Bestandsdichte des Flusspferds sinkt. Die Tiere weiden häufig an kurzhalmigen Gräsern und fördern dadurch Grasarten, die von ihnen bevorzugt gefressen, von Wasserböcken jedoch gemieden werden. Durch die Bevorzugung kürzerer Gräser und deren massenweises Abgrasen entsteht ein typischer, räumlich eng begrenzter „Hippo-Rasen“. In Verbindung mit Übergrasung und Übertrampelung der Fläche führen Regenfälle teils zu massiver Erosion, besonders an den Uferhängen der Flüsse. Dies gilt auch für die Pfade, die durch die sich täglich wiederholenden Wanderungen des Flusspferdes entstehen, die sogenannten „Hippo Trails“. Diese schneiden manchmal bis zu 1 m in den Untergrund der Fluss- und Seeufer ein oder sind an steileren Hängen auch schluchtartig. Häufig werden diese von anderen, kleineren Tieren genutzt. Im Okavango-Delta aber ebenso im Ngorongoro entstehen auf diese Weise teils neue Wasseradern.Durch die Weidetätigkeit des Flusspferds und anderer großer Pflanzenfresser wie Elefanten und Nashörnern kann es bei entsprechend dichter Population zu einem starken Rückgang der lokalen Vegetation kommen, was Erosion zur Folge hat. Das künstliche Offenhalten der Landschaften mindert den Waldbewuchs und befördert die vom Flusspferd bevorzugten Gräser. Allerdings entsteht unter Umständen bei einem Zusammenbruch der Populationen ein Rückkopplungseffekt. Beobachtet wurde dies im Queen-Elizabeth-Nationalpark, wo, ausgelöst durch zivile Unruhen und einer damit verbundenen intensiveren Bejagung, zwischen den Jahren 1960 und 2000 ein Großteil der ansässigen Großsäuger verschwand. Dies verursachte eine stärkere Ausbreitung von Wald- und Buschgemeinschaften. Den lokal verbliebenen Flusspferden standen damit nicht mehr genug Gräser zur Verfügung, weswegen sie vermehrt auf krautige Pflanzen umstiegen. Im Zuge dieses Prozesses nahm ihr Anteil von weniger als 20 % in der Nahrungsmenge in den 1960er auf teils bis zu 45 % in den 1980er und 1990er Jahren zu.Das häufige Absetzen von Kot und Urin in die Gewässer ändert mitunter auch deren chemische Zusammensetzung. Dies hat Einfluss auf die Fischgemeinschaft, die durch den Eintrag von Nährstoffen profitiert. So ernährt sich die Karpfenfischgattung Labeo nicht nur von Algen auf der Haut des Flusspferdes, sondern auch von dessen herabfallenden Exkrementen. Ebenso wirkt sich dies positiv auf die Bestände verschiedener Buntbarschgattungen (zum Beispiel Oreochromis, Sarotherodon und Tilapia) aus. Vor allem in der Trockenzeit bei niedrigem Wasserstand und hoher Flusspferddichte treten aber teilweise eine starke Übersättigung und Sauerstoffmangel ein. Dies hat dann häufig einen Rückgang der lokalen Fisch- und Insektenfauna zur Folge, was sowohl die Gesamtzahl als auch die Diversität betrifft. Beobachtet wurde dies unter anderem im Ruaha-Nationalpark und im Masai Mara. Der hohe Bedarf an Pflanzen und die Defäkation im Wasser bewirken außerdem, dass das Flusspferd einen großen Beitrag zum Siliziumkreislauf leistet. In den Mara-Fluss bringen die Tiere täglich rund 400 kg Silizium ein, was wohl rund drei Viertel der Gesamtmenge ausmacht. Silizium ist bedeutend für zahlreiche Kieselalgen in den tropischen Seen Afrikas, die einerseits wichtige Kohlenstoffspeicher und Sauerstoffproduzenten darstellen, andererseits auch die Basis der Nahrungskette bilden.
== Systematik ==
Das Flusspferd ist eine Art aus der Gattung Hippopotamus und der Familie der Flusspferde (Hippopotamidae). Innerhalb der Gattung bildet die Art den gegenwärtig einzig anerkannten Vertreter, wodurch diese monotypisch ist. Zur Familie wird rezent lediglich noch die Gattung Choeropsis gezählt, welche das Zwergflusspferd (Choeropsis liberiensis) enthält. Je nach Auffassung ist für Choeropsis auch eine Aufteilung in zwei rezente Arten möglich. Äußerlich kennzeichnen sich die Flusspferde durch ihren plumpen, walzenförmigen Körper mit kurzen Beinen und durch den großen Kopf mit stark entwickelten Schneide- und Eckzähnen. Die beiden Gattungen Hippopotamus und Choeropsis können neben den allgemeinen Körpergrößenunterschieden unter anderem anhand des Aufbaus des vorderen Gebisses unterschieden werden. Erstere besitzt jeweils vier Schneidezähne im oberen und unteren Gebiss (tetraprotodont), letztere sechs (hexaprotodont). Die Familie der Flusspferde wird traditionell in die Ordnung der Paarhufer (Artiodactyla) eingeordnet. Molekulargenetische und biochemische Untersuchungen sowie Fossilfunde haben jedoch zu der Erkenntnis geführt, dass die Wale (Cetacea) die nächsten lebenden Verwandten der Flusspferde darstellen. Aus kladistischer Sicht formen die Paarhufer und Wale somit eine gemeinsame Abstammungslinie, die als Cetartiodactyla zusammengefasst wird. Die engere Verwandtschaftsgruppe aus Walen und Flusspferden trägt dementsprechend die Bezeichnung Cetancodonta (manchmal auch Whippomorpha). Den genetischen Daten zufolge trennten sich die Flusspferde und Wale vor rund 54 Millionen Jahren, also am Beginn des Unteren Eozäns. Eine stärkere Diversifizierung der Flusspferde begann aber nicht vor dem Oberen Miozän vor rund 8 Millionen Jahren. Der Ursprung der Flusspferde ist nicht ganz eindeutig, fossil treten sie erstmals im Unteren Miozän in Erscheinung. Die große zeitliche Lücke zwischen der Abspaltung von den Walen und dem Erscheinen der Flusspferde lässt mehrere Interpretationen zu. Häufig favorisiert wird eine Herleitung der Gruppe von den Anthracotheriidae, einer ausgestorbenen Formengemeinschaft flusspferdähnlicher Paarhufer aus dem Eozän bis Pliozän Afrikas und Eurasiens. Andere Autoren bevorzugen dagegen eine Abstammung von den Palaeochoeridae, schweineartigen Tieren, die vom Eozän bis Miozän in Eurasien vorkamen.Es werden mehrere Unterarten des Flusspferdes unterschieden, ihre genaue Anzahl ist unbekannt. Nach Hans Klingel, veröffentlicht im Jahr 2013 im Sammelwerk Mammals of Africa, sind es insgesamt fünf:
H. a. amphibius Linnaeus, 1758; Nominatform, von Gambia ostwärts bis zum Sudan und nach Äthiopien sowie südwärts über den Norden der Demokratischen Republik Kongo, Tansania bis nach Mosambik; wahrscheinlich auch im Niltal, dort allerdings ausgestorben; am Schädel ist die Einschnürung vor den Augen relativ moderat, lange Symphyse des Unterkiefers und große Backenzähne
H. a. capensis Desmoulins, 1825; Sambia bis Südafrika; Schädel flacher als in H. a. tschadensis, so dass er an den Orbitae breiter als hoch ist
H. a. constrictus Miller, 1910; südliche Demokratische Republik Kongo, Angola und Namibia; Schädel leichter als in der Nominatform und tiefe Einschnürung vor den Orbitae; Rostrum weniger breit, Symphyse kurz und Backenzähne kleiner
H. a. kiboko Heller, 1914; Kenia und Somalia; Schädel mit breiten Nasenbeinen und geringer Einschnürung vor den Orbitae, Orbitae runder als in H. a. capensis und prominenter als in H. a. constrictus
H. a. tschadensis Schwarz, 1914; Tschad und Nigeria; vergleichbar der Nominatform, aber mit prominenteren Orbitae, im Vergleich zu H. a. capensis kürzeres und breiteres Rostrum und eher vorwärtsgerichtete OrbitaeDem gegenüber unterscheidet Rebecca Lewison im Jahr 2011 im zweiten Band des Standardwerkes Handbook of the Mammals of the World insgesamt drei Unterarten:
H. a. amphibius Linnaeus, 1758
H. a. capensis Desmoulins, 1825
H. a. kiboko Heller, 1914In diesem Fall stellt H. a. tschadensis ein Synonym zu H. a. amphibius und H. a. constrictus zu H. a. capensis dar. Eine ähnliche Gliederung hatten auch Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder im Jahr 2005 vorgenommen.
Neben dem rezenten Flusspferd werden noch verschiedene ausgestorbene Arten innerhalb der Gattung Hippopotamus geführt. Diese waren ursprünglich nicht nur auf Afrika beschränkt, sondern kamen auch im westlichen Eurasien und auf Madagaskar vor:
afrikanische Formen:aff. Hippopotamus aethiopicus Coryndon & Coppens, 1975
aff. Hippopotamus afarensis (Gèze, 1985)
aff. Hippopotamus coryndonae Gèze, 1985
aff. Hippopotamus dulu (Boisserie, 2004)
aff. Hippopotamus karumensis Coryndon, 1977
aff. Hippopotamus protamphibius Arambourg, 1944
Hippopotamus gorgops Dietrich, 1926 (Hippopotamus behemoth Faure, 1986 ?)
Hippopotamus kaisensis Hopwood, 1926
Hippopotamus sirensis Pomel, 1896eurasische FormenHippopotamus antiquus Desmarest, 1822 (Hippopotamus georgicus Vekua, 1976 ?) (Festland)
Hippopotamus creutzburgi Boekschoten & Sondaar, 1966 (Kreta)
Hippopotamus melitensis Major, 1902 (Malta)
Hippopotamus minor Desmarest, 1822 (Zypern)
Hippopotamus pentlandi Meyer, 1832 (Sizilien, Malta)
Hippopotamus tiberinus Mazza, 1991 (Festland)madagassische Formen:Hippopotamus guldbergi Fovet, Faure & Guérin, 2011 (Hippopotamus madagascariensis Guldberg, 1883)
Hippopotamus laloumena Faure & Guérin, 1990
Hippopotamus lemerlei Grandidier, 1868Ein Großteil der afrikanischen Formen (aff. H. aethiopicus, aff. H. coryndonae, aff. H. karumensis, aff. H. protamphibius) wurde ursprünglich zur Gattung Hexaprotodon verwiesen, aff. H. afarensis wiederum stand in der eigenständigen Gattung Trilobophorus. Eine phylogenetische Studie aus dem Jahr 2005 durch Jean-Renaud Boisserie beschränkte Hexaprotodon jedoch weitgehend auf die asiatischen Flusspferde und sah die afrikanischen Vertreter näher mit dem eigentlichen Flusspferd verwandt. Allerdings ist für mehrere Formen die genaue taxonomische Position noch nicht gesichert. Dies gilt auch für das zypriotische Flusspferd H. minor, dass zumeist als zur Gattung Phanourios gehörig betrachtet wird. Andere Autoren stufen Phanourios jedoch als direkten Abkömmling von Hippopotamus ein. Genetisch trennte sich das zypriotische Flusspferd von der Linie des heutigen Flusspferdes vor rund 1,58 bis 1,36 Millionen Jahren ab.Verschiedene aus Eurasien benannte Formen und teils gebrauchte Namen müssen als Synonyme betrachtet werden. So ist bei den jüngeren Formen H. incognitus (Europa) mit H. amphibius gleichzusetzen. Bei den älteren Vertretern gilt H. major (Europa) als identisch mit H. antiquus, was wahrscheinlich auch für H. georgicus (Kaukasus) anzunehmen ist. Manche Wissenschaftler fassen dies auch für H. tiberinus (Europa) auf. Für die afrikanischen Flusspferde besteht die Möglichkeit, dass H. sirensis (Nordafrika) und H. gorgops (Ostafrika) nur Variationen einer Art sind und letzteres dann gemäß der Prioritätsregel in ersteres aufgehen müsste. Die meisten Wissenschaftler ziehen dies auch für H. behemoth aus Vorderasien in Betracht. Häufig wird zudem vermutet, dass das afrikanische H. gorgops die Vorgängerform des eurasischen H. antiquus darstellt, beide zeigen deutliche Übereinstimmungen. Somit könnten beide auch als konspezifisch aufgefasst werden, womit der gesamte Artname auf H. antiquus fallen würde. Allerdings sind bisher nördlich der Taurus-Zagros-Gebirgskette keine afrikanischen Formen angenommen worden. Prinzipiell mahnen Wissenschaftler eine umfassende Revision der eurasischen und afrikanischen Flusspferde an.Für die mediterranen Flusspferde bildet H. minutus ein Teilsynonym zu H. melitensis. Das madagassische Flusspferd H. madagascariensis wurde ursprünglich von Gustav Adolf Guldberg eingeführt, entspricht aber in seinem Typusexemplar weitgehend H. lemerlei. Ein im Jahr 1902 von Charles Immanuel Forsyth Major ebenfalls unter H. madagascariensis vorgestelltes Skelett weicht deutlich ab. Als Konsequenz daraus wurde im Jahr 2011 H. madagascariensis mit H. lumerlei synonymisiert und H. guldbergi als Ersatzname für Majors Skelett vorgeschlagen. Die Umbenennung ist aber nicht vollständig anerkannt.
== Stammesgeschichte ==
=== Entwicklung in Afrika ===
Die Gattung Hippopotamus trat in Afrika vermutlich schon während des Unteren Pliozäns auf. Fast alle frühen Funde kamen im nordöstlichen und östlichen Teil des Kontinents zu Tage. Für die meisten frühen Formen ist eine direkte Zuweisung aber momentan noch problematisch. Ihre nahe Verwandtschaft mit Hippopotamus drückt sich jedoch durch den teils stärker ausladenden Unterkiefer aus, bei denen die Zahnfächer der Eckzähne deutlich abstehen, was weniger an andere frühe Gruppen wie Hexaprotodon und Archaeopotamus erinnert. Dies betrifft unter anderem den Schädel und Unterkiefer von aff. Hippopotamus dulu aus der Sagantole-Formation im Gebiet des Awash im Afar-Dreieck in Äthiopien, der mit einem Alter von 5,2 bis 4,9 Millionen Jahren zu den frühesten Resten gehört. Insgesamt zeigt er noch deutliche Reminiszenzen an urtümlichere Vertreter wie Archaeopotamus, etwa im Bau der Unterkiefersymphyse. Aus der gleichen Region, jedoch aus der mit 3,4 bis 2,3 Millionen Jahren etwas jüngeren Hadar-Formation, wurden aff. Hippopotamus afarensis und aff. Hippopotamus coryndonae beschrieben. Für beide standen jeweils Schädelreste zur Verfügung. Hippopotamus afarensis besaß ein massives Rostrum, das in etwa dem des heutigen Flusspferdes glich, während aff. Hippopotamus coryndonae deutlich kleiner war. In diesem Merkmal ähnelte die Form aff. Hippopotamus protamphibius. Im Unterschied aber zu aff. Hippopotamus coryndonae und ebenfalls zu den beiden anderen vorher genannten Arten, die jeweils über sechs Schneidezähne im oberen und unteren Gebiss verfügten und somit hexaprotodont waren, zeichnete sich aff. Hippopotamus protamphibius wie das heutige Flusspferd durch nur vier Schneidezähne aus, gehörte also zum tetraprotodonten Typus. Allerdings scheint dieses Merkmal bei aff. Hippopotamus protamphibius eher variabel gewesen zu sein, da einige Schädel auch jeweils sechs Incisiven aufweisen. Die Form ist über zahlreiches Fundmaterial aus dem Tal des Omo im südwestlichen Äthiopien überliefert. Dort verteilt es sich auf mehrere Gesteinseinheiten, von der Mursi- über die Usno- bis zur Shungura-Formation, und besitzt so eine zeitliche Reichweite von etwa 4,0 bis 1,9 Millionen Jahren. Allein die Shungura-Formation erbrachte über 8000 Flusspferdreste. Das reichhaltige Fundmaterial ermöglicht Einblicke in die Lebensweise. Hierbei zeigte sich, dass, offensichtlich gesteuert durch klimatische Veränderungen, vor rund 2,8 Millionen Jahren ein Wechsel von eher blatthaltiger zu stärker grashaltiger Nahrung erfolgte. Weitere Funde sind aus der bedeutenden Koobi-Fora-Formation vom Turkana-See im nördlichen Kenia dokumentiert, die zwischen 2,0 und 1,4 Millionen Jahre alt ist. Von einzelnen Fundstellen am Turkana-See wurden mit aff. Hippopotamus karumensis und aff. Hippopotamus aethiopicus noch zwei weitere Formen eingeführt, die beide als tetraprotodont angesehen werden. Allerdings wies erstere Art manchmal nur zwei Schneidezähne im Unterkiefer auf. Bei ihr handelt es sich um einen insgesamt großen Vertreter, ähnlich dem heutigen Flusspferd. Die letztere Form erwies sich mit einer Größe vergleichbar zum rezenten Zwergflusspferd als eher klein.Im Übergang vom Pliozän zum Pleistozän vor rund 2,5 Millionen Jahren traten dann auch erstmals eindeutige Angehörige der Gattung Hippopotamus auf, die sich neben dem massiven Unterkiefer durch ihre gerippten unteren Eckzähne als typisches, mit der Gattung verbundenes Kennzeichen hervorheben. Aus der Kaiso-Formation in Uganda wurde Hippopotamus kaisensis berichtet, von dem unter anderem ein Schädel vorliegt. Insgesamt ist die Form nur wenig untersucht und es bestehen mitunter Abgrenzungsprobleme zum eigentlichen Flusspferd. Dies zeigen unter anderem Funde aus den Lusso Beds am oberen Semliki im Zentralafrikanischen Graben von Uganda. Die zahlreichen Zahnfunde ähneln stark denen des heutigen Flusspferdes und könnten so ein bereits sehr frühes Auftreten der Art schon vor rund 2,3 Millionen andeuten. Allerdings lassen sich auch Überschneidungen mit Hippopotamus gorgops feststellen. Dieses sehr große Tier, das die rezenten Vertreter deutlich übertraf, ist von zahlreichen Fundstellen überliefert. Die wahrscheinlich frühesten Reste kamen am Turkana-See zu Tage und sind rund 2,5 Millionen Jahre alt. Den weitaus bedeutendsten Fundort bildet die auch für die frühmenschliche Entwicklung wichtige Olduvai-Schlucht im nördlichen Tansania. Dort ist die Art im Alt- und Mittelpleistozän über einen Zeitraum von vor 1,9 bis 0,6 Millionen Jahren belegt. Sie tritt dort relativ häufig auf, neben unzähligen Knochen sind auch teils gut erhaltene Skelette und selten fossilisierte Trittsiegel aufgefunden worden, letzte formen eine Art „Hippo trail“. Anhand der Knochenfunde aus der Olduvai-Schlucht kann für Hippopotamus gorgops eine auffallende stammesgeschichtliche Veränderung im Schädelbau nachvollzogen werden. Waren die frühesten Vertreter noch dem heutigen Flusspferd ähnlich, so entwickelten sich spätere Formen zu extremen Spezialisten im Bezug auf die amphibische Lebensweise. Die Schnauze verlängerte sich deutlich, wodurch sich auch das Diastema zwischen dem zweiten und dritten Prämolaren des Unterkiefers streckte. Der hintere Schädel hingegen wurde kürzer und der Kamm des Hinterhauptsbeins verlagerte sich nach oben, wie auch allgemein der Schädel abflachte. Des Weiteren kam es zu einer zusätzlichen Aufschiebung der Augenhöhle, die so extrem periskopartig wirkte und woher auch der wissenschaftliche Artname herstammt (von griechisch γοργός (gorgos) für „schrecklich“ und ὤψ (ops) für „Gesicht“ oder „Antlitz“). Hippopotamus gorgops erreichte eine weite Verbreitung im östlichen Afrika und ist an Fundstellen wie Olorgesailie in Kenia oder Buia in Eritrea aufgefunden worden. Letztere erbrachte zahlreiche Gebissfragmente aus dem Zeitraum von vor etwa 1 Million Jahren. Außerdem ist es der wahrscheinlich erste Vertreter der Gattung Hippopotamus, der das südliche Afrika erreichte. Funde liegen hier unter anderem mit einem rund 69 cm langen Schädel aus Cornelia in der südafrikanischen Provinz Freistaat vor. Er datiert in das Mittelpleistozän. Bereits im frühen Altpleistozän erscheint Hippopotamus sirensis in Nordafrika. Die große Form ist dort von verschiedenen Fundstellen dokumentiert, so unter anderem von Tighénif (Ternifine) in Algerien oder Thomas Quarry in Marokko, die beide wegen ihrer Funde von Homo erectus von Bedeutung sind. Hippopotamus sirensis kam dort in den damals feuchten Landschaften recht zahlreich vor.Abseits von den bereits erwähnten problematischen Funden vom Semliki gilt ein Teilskelett aus Gafalo in der Gobaad-Ebene von Dschibuti als der derzeit älteste Nachweis des eigentlichen Flusspferdes, das damit im Altpleistozän vor rund 1,6 Millionen Jahren eindeutig fassbar ist. Der Kadaver von Hippopotamus amphibius wurde dort gemeinsam mit dem Skelett des Elefantenvertreters Palaeoloxodon recki aufgefunden. Weitere frühe Funde kamen in den oberen Abschnitten der Shungura-Formation im Omo-Tal zum Vorschein. Ihr Alter beträgt rund 1,38 Millionen Jahre. Ein vergleichbares Alter weisen die Funde aus Nariokotome am westlichen Turkanasee auf. Bereits in das frühe Mittelpleistozän gehört ein Oberkiefer aus Asbole im Awash-Tal. Ebenfalls aus der Region wurden in Gombore rund 700.000 Jahre alte Trittsiegel beschrieben, die teils 30 cm in den einst schlammigen Untergrund eingetieft sind und mitunter noch die vier Zehen erkennen lassen. Andere nennenswerte Fossilreste verteilen sich auf die Fundstellen Lainyamok, Isenya und Kapthurin, allesamt Kenia. Im südlichen Afrika ist Hippopotamus amphibius unter anderem mit mehr als 200 Knochenresten von rund einem Dutzend Individuen in Elandsfontein vertreten. Die Fundstelle liegt im Südwesten von Südafrika und hat eine mittelpleistozäne Zeitstellung.
=== Vorderasiatische Funde ===
Vertreter der Gattung Hippopotamus wanderten mehrfach aus Afrika aus. Der Migrationsweg erfolgte wahrscheinlich über die Levante. Von hier ist umfangreiches Fossilmaterial unter anderem aus 'Ubeidiya in Israel belegt, das auf etwa 1,4 Millionen Jahre datiert. Die Zuweisung der Funde ist nicht ganz eindeutig, da diese wahlweise als Hippopotamus gorgops, Hippopotamus antiquus oder als Lokalform Hippopotamus behemoth angesprochen werden. Wenig später treten Flusspferde auch in Latamne in Syrien auf. Hier sind die Altersdaten uneinheitlich, da sowohl eine alt- wie auch ein mittelpleistozäne Stellung in Frage kommt. Im Mittelpleistozän erreichte auch Hippopotamus amphibius die Region, das eventuell schon in Gesher Benot Ya’aqov in Israel anwesend war. Die Fundstelle datiert zwischen 700.000 und 500.000 Jahren. Die Bestimmung des Fundmaterials erweist sich als häufig schwierig, da es überwiegend stark fragmentiert ist. Die Art verblieb hier aber noch bis in das Holozän und besiedelte die Flusstäler, möglicherweise aber mit einer Unterbrechung während der kühleren Abschnitte der letzten Kaltzeit. Von der Levante breitete sich das Flusspferd bis auf die Arabische Halbinsel aus, wie dies eine größere Sammlung an Funden aus Khall Amayshan in der Nefud in Saudi-Arabien belegt. Hier bestanden während der letzten Warmzeit vor gut 110.000 Jahren einzelne Seen, an denen sich eine reichhaltige Fauna aufhielt. Eine weitere Ostexpansion des Flusspferdes erfolgte nicht. Möglicherweise wurde dies dadurch verhindert, dass im südlichen und östlichen Asien eine vergleichbare ökologische Nische bereits durch Vertreter der Gattung Hexaprotodon besetzt war.
=== Europa und die Inseln des Mittelmeers ===
In Europa sind Flusspferde wenigstens seit dem Altpleistozän nachgewiesen, die frühen Formen werden zumeist Hippopotamus antiquus zugewiesen. Einer der frühesten Funde stammt mit einem oberen Schneidezahn von der Fundstelle Coste San Giacomo südöstlich von Rom im mittleren Italien. Der Fundstelle wird ein Alter von rund 2 Millionen Jahren zugesprochen. Andere alte Hinweise fanden sich in Spanien, Frankreich und Griechenland, in ersteren unter anderem mit einer rund 1,6 Millionen Jahre alten Zahnreihe aus Venta Micena bei Granada. Von hoher Bedeutung sind mehrere Teilskelette aus Untermaßfeld in Thüringen, die möglicherweise bei einer katastrophalen Flussüberschwemmung vor gut 1,07 Millionen Jahren angeschwemmt wurden. Von insgesamt über 320 Knochenresten, die zu etwa 20 Individuen gehören, erwiesen sich hier mehr als die Hälfte als zu Jungtieren gehörend. Weitere bedeutende Funde sind aus Collecurti auf der halben Strecke zwischen Rom und Florenz, wiederum Italien, belegt. Auch diese kamen in Flussablagerungen zu Tage und setzen sich aus rund 400 Knochenelementen von rund einem Dutzend Individuen zusammen. Ihr geologisches Alter ist nahezu entsprechend zu dem der Untermaßfelder Flusspferde. Dies gilt auch für einzelne Zähne aus der Westbury Cave in Somerset in England, die zu den ältesten Nachweisen von Flusspferden auf den Britischen Inseln gehören. Eine Besonderheit stellen die Fossilreste von Het Gat dar, da sie vom Grund der Nordsee etwa in der Mitte zwischen den Niederlanden und England aufgefischt wurden. Nach Osten drang die Form vermutlich bis in die Kaukasusregion vor, da wiederum Reste aus der rund 700.000 Jahre alten georgischen Fundstelle Achalkalaki stammen. Hippopotamus antiquus war ein gewaltiges Tier, wahrscheinlich das größte Flusspferd, das in Europa auftrat. Die Längenmaße seiner einzelnen Skelettelemente sind zumeist um 106 bis 126 % größer als die Werte der rezenten Tiere. Anhand der Funde aus Untermaßfeld und Collecurti kann auf ein Gewicht von 2100 bis 3200 kg geschlossen werden, andere Angaben reichen bis 4200 kg, was etwa dem Doppelten des heutigen Flusspferdes entspricht. Gegen Ende des Altpleistozäns ist dann noch Hippopotamus tiberinus nachweisbar. Dessen Reste sind aber weitaus spärlicher, belegt ist die Form unter anderem aus La Maglianella in Italien und eventuell aus Mosbach in Deutschland. Beide Formen haben möglicherweise eine nähere Verbindung zum afrikanischen Hippopotamus gorgops, was sich unter anderem an einzelnen Schädelmerkmalen zeigt. So erweist sich der Schädel als schlanker und länger im Vergleich zum eigentlichen Flusspferd und die Augenhöhlen treten prominenter hervor.Sowohl das letzte Auftreten der früheren europäischen Flusspferde und das erste Erscheinen des klassischen Flusspferdes Hippopotamus amphibius in Europa lässt sich momentan kaum bestimmen. Ursprünglich wurde die Art bereits aus dem frühen Mittelpleistozän berichtet. Als einzelne Hinweise galten einige Zahnfunde aus Isernia la Pineta in der Region Molise in Mittelitalien, die aber heute zu Hippopotamus antiquus gestellt werden. Eines der jüngsten Vorkommen von Hippopotamus tiberinus ist aus dem spätmittelpleistozänen Castel di Guido, wiederum im Mittelitalien, zu verzeichnen. Eine recht häufige Präsenz hat Hippopotamus amphibius während der Eem-Warmzeit vor circa 126.000 bis 115.000 Jahren. Wichtig in diesem Zusammenhang sind einige Fundstellen im Rheinland, an denen die Art gemeinsam mit dem Europäischen Waldelefanten und dem Wasserbüffel auftrat. Extrem weit nördliche Nachweise wurden bei Barrington in Cambridgeshire zu Tage gefördert, von wo umfangreiches Material von Hippopotamus amphibius bekannt ist. Einzelne Zähne und Wirbelreste stammen auch vom Ufer des Severn bei Gloucester in Gloucestershire, beide Fundstellen liegen in England. Die in Barrington aufgefundenen Individuen erreichten mit einem geschätzten Körpergewicht von bis zu 3000 kg fast wieder die Ausmaße von Hippopotamus antiquus. Die Besiedlung der mittel- und westeuropäischen Gebiete weit nördlich der Alpen während der letzten Warmzeit setzt einzelne ökologische Bedingungen voraus. Womöglich war das Klima damals stärker maritim beeinflusst mit warmen Sommern und vor allem milden, wenig frostigen Wintern. Dadurch fehlt die Art auch in den stärker kontinental geprägten Bereichen Mittel- und Osteuropas und zog sich zum Ende der Eem-Warmzeit wieder aus diesen nördlichen Refugien zurück. Im südlichen Europa, so auf der Balkan-, Apennin- und Iberischen Halbinsel hielt sich Hippopotamus amphibius vermutlich noch bis in die frühe Weichsel-Kaltzeit. Exemplarisch genannt sei hier die Grotta Romanelli bei Lecce in Süditalien.
Im Verlauf ihrer Fossilgeschichte in Europa erreichten die Flusspferde verschiedene Inseln des Mittelmeers, was für Hippopotamus antiquus wie auch für Hippopotamus amphibius gilt. Dort bildeten sich jeweils verzwergte Formen heraus. Zu den forschungsgeschichtlich frühesten Funden gehören jene auf Sizilien und Malta. Hier werden in der Regel mit Hippopotamus pentlandi und Hippopotamus melitensis zwei Arten unterschieden, die sich bezüglich ihrer Körpergröße voneinander absetzen. Die größere Form, die rund 1100 kg auf die Waage brachte, wird durch Hippopotamus pentlandi gestellt und war auf beiden Inseln präsent. Sie gehört dem ausgehenden Mittel- und dem frühen Jungpleistozän an. Vor allem auf Sizilien finden sich zahlreiche Fundstellen, wie etwa bei Messina im Nordosten oder bei San Vito lo Capo im Nordwesten. Hippopotamus melitensis hingegen ist weitgehend nur von Malta belegt und bildet mit einem Durchschnittsgewicht von etwa 900 kg die kleinere Form. An einzelnen Fundstellen wie der Għar Dalam tritt sie gemeinsam mit Hippopotamus pentlandi auf. Ihre genauere geologische Zeitstellung ist vielfach wenig geklärt. Beide Arten stellen möglicherweise unterschiedliche Stadien der Inselverzwergung dar, die bei letzterer durch die kleinere Inselfläche und stärkeren Endemismus weiter fortgeschritten ist. Sie werden jedoch aufgrund der Schädelmorphologie jeweils auf Hippopotamus amphibius als Ausgangsform zurückgeführt. Auf Kreta kamen Funde von Flusspferden ebenfalls bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zu Tage. Ein größerer Teil stammt aus dem östlichen Inselbereich, so etwa von der Lasithi-Hochebene oder der Karoumes-Bucht bei Sitia. Weitere Fossilreste konnten auch von Akrotiri an der Nordwestküste geborgen werden. Sie stehen weitgehend in einem alt- bis mittelpleistozänen Zusammenhang, was unter anderem durch die Beifunde von Kritimys ausgedrückt wird. Es handelt sich um einen kleinen Vertreter der Flusspferde, der im Jahr 1966 mit Hippopotamus creutzburgi seinen Namen erhielt. Der Ursprung dieser Form war lange Zeit in Diskussion, heute gilt zumeist Hippopotamus antiquus als Vorfahr. Gegenüber diesen war Hippopotamus creutzburgi mit einem Gewicht von knapp 400 kg deutlich verzwergt. Der kleinste Angehörige der mediterranen Flusspferde ist von Zypern bekannt und wird unter der wissenschaftlichen Bezeichnung Hippopotamus minor geführt. Rekonstruiert wurden die Tiere nur rund 132 kg schwer. Die Form erfuhr die stärksten Überprägungen im Schädelbau. So ist der Scheitelkamm nicht mehr ausgebildet, ebenso wie die hintersten Prämolaren fehlen. Die deutlichen Abweichungen von den festländischen Vertretern führen auch zu einem Verweis in eine eigene Gattung unter der Bezeichnung Phanourios. Zusätzlich wird dadurch die phylogenetische Ableitung erschwert, so dass der direkte Vorfahr bisher nicht bestimmt werden konnte. Es sind mehrere Dutzend Fundstellen auf der Insel bekannt, die sowohl Höhlen und Abris als auch Freilandplätze umfassen. Eine der bedeutendsten findet sich im Süden auf der Halbinsel Akrotiri, wo in der eingestürzten Höhle Aetokremnos mehr als 218.000 Flusspferd-Reste von mehr als 500 Individuen dokumentiert sind. Sie repräsentieren mehr als 90 % des gesamten faunistischen Fundmaterials. Die immense Ansammlung von Flusspferdresten, das Fehlen größerer Beutegreifer auf der Insel und ursprüngliche Radiokarbonmessungen, die den Funden ein Alter von rund 11.800 Jahren vor heute und damit eine Stellung am Ende des Pleistozäns gaben, führten zu der Ansicht, dass frühe menschliche Siedler dafür verantwortlich seien. Aufgrund fehlender Nachweise menschlicher Manipulation wurde diese Ansicht aber teils kritisch gesehen. Neuere Datierungen verweisen für die untersten Schichtabschnitte mit dem höchsten Aufkommen an Flusspferden auf ein Alter von rund 12.500 Jahren vor heute. Sie liegen damit außerhalb der Zeit des ersten Auftretens des Menschen auf Zypern, womit die Knochenansammlungen wohl als natürlich zu werten sind.
=== Flusspferde Madagaskars ===
Neben den verschiedenen Inseln des Mittelmeers erreichte das Flusspferd auch Madagaskar, welches sich wenigstens 400 km östlich von Afrika befindet. Dort bildeten sich ebenfalls mehrere Zwergformen aus. Wann die Art die Insel erstmals betrat ist unklar. Die bisher ältesten Funde sind aus der Höhle Belobaka im Nordwesten der Insel überliefert und weisen ein Alter von rund 20.600 Jahren auf, sie stammen somit aus der Hochphase der Letzten Kaltzeit. Es handelt sich lediglich um einzelne Zähne und Fußknochen eines Jungtieres. Diese frühen Vertreter waren allerdings noch nicht verzwergt, sondern kamen bezüglich ihrer Größe der afrikanischen Ausgangsform nahe. Sie werden der Art Hippopotamus laloumena zugewiesen. Beschrieben wurde die Art anhand eines Unterkiefers aus Mananjary an der Ostküste, der allerdings möglicherweise nur 2500 Jahre alt ist. Neben dieser Form gehören mit Hippopotamus lemerlei und Hippopotamus guldbergi noch zwei weitere Arten zu den madagassischen Flusspferden, die deutlich kleiner waren und mit jeweils einem Gewicht von etwa 374 beziehungsweise 393 kg dem heutigen Zwergflusspferd entsprachen. Beide madagassischen Formen unterscheiden sich etwa in der Position der Augenhöhle relativ zur Schädellinie, den Verdickungen der Höhlenränder und in ihren Gliedmaßenproportionen. So hat erstere Art erhöhte Orbitae mit verdickten Rändern, bei letzterer zeigt sich ein längeres Schienbein und ein kürzerer Oberschenkelknochen. Die Variationen sind wohl Ausdruck einer abweichenden Lebensweise. Der bisher früheste Nachweis für Hippopotamus guldbergi kommt aus der Umgebung von Tsaramody im Sambaina-Becken im zentralen Hochland von Madagaskar. Er datiert mit einem Alter von 17.600 Jahren vor heute in das Ende der letzten Kaltzeit. Gefunden wurden mehrere Teile des Bewegungsapparates. Hippopotamus lemerlei ist mit einem Schädel vom Fluss Ihazofotsy im südlich-zentralen Hochland des Isalo-Gebirges aus dem Beginn des Holozäns vor rund 11.000 Jahren belegt. An mehreren Stellen wurden beide Arten gemeinsam aufgefunden und hatten somit wohl ein teils sympatrisches Auftreten. Zu diesen gemeinsamen Vorkommen gehören Ampoza und Taolambiby im Südwesten Madagaskars sowie Belo Sur Mer an der Westküste. Das Alter der Fundstellen reicht von 1220 bis 2713 Jahren vor heute. Einige der aufgefundenen Flusspferdknochen tragen Marken, die teilweise als Schnittspuren verursacht durch den Menschen interpretiert werden. Die Ansicht ist nicht vollständig akzeptiert, da einerseits Ähnlichkeiten zu Nagespuren von Beutegreifern bestehen, andererseits manche absoluten Altersdaten außerhalb der frühesten Besiedlung der Insel liegen, die in einer traditionellen Sichtweise auf den Zeitraum um 500 v. Chr. angesetzt wird. Zu den jüngsten Funden von Flusspferden, die direkt datiert wurden, zählen jene von Itampolo an der Südwestküste, die rund 1000 Jahre alt sind. Möglicherweise überlebten aber noch einzelne Restpopulationen bis zum Kontakt mit den Europäern im 16. und 17. Jahrhundert oder darüber hinaus, was einzelne Erwähnungen und folkloristische Elemente annehmen lassen.
=== Ausbreitung der Flusspferde und Konsequenzen der Inselverzwergung ===
Die Untersuchungen zur Fortbewegung des Flusspferdes und seine nur begrenzten Schwimmfähigkeiten in tieferem Wasser warfen die Frage auf, wie die Tiere die unter Umständen entfernten Inseln erreicht haben könnten. Im Fokus standen vor allem Inseln wie Zypern, Kreta oder Madagaskar, die im Verlauf der jüngeren erdgeschichtlichen Vergangenheit während der Tiefststände der Meere im Zuge der verschiedenen Kaltphasen des Pleistozäns nicht mit dem Festland verbunden waren. Nach Paul P. A. Mazza konnte das Flusspferd demnach nur über potentielle Landbrücken oder bei seichtem Wasser während maximaler Vereisungsphasen entfernte Inseln erreichen. Allerdings haben diese Umstände im Fall der drei genannten Inseln im Pliozän und Pleistozän nicht bestanden. Alexandra van der Geer und Kollegen führen daher an, dass es verschiedene Ausbreitungsszenarien gäbe. Hier könnten auch mehr oder weniger zufällige Ereignisse greifen, etwa katastrophale Begebenheiten wie Tsunamis oder Überflutungen, wodurch Flusspferdgruppen ins Meer gelangten. Ebenso könnten, wenn auch untergeordnet, Brandungsrückströmungen oder driftende Pflanzen eine Rolle spielen. Die spezielle Beschaffenheit der Haut des Flusspferdes und der langsame Metabolismus verhelfen den Tieren solche Extremsituationen zu überleben. Hinzu kompensiert der Auftrieb im salzigen Meerwasser den schweren Knochenbau. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum heute das Flusspferd auf Central Island im Turkana-See vorkommt. Die Insel liegt rund 9 km vom Festland entfernt und ist von 50 m tiefem, jedoch stark salzhaltigem Wasser umgeben. Außerdem sind Jungtiere deutlich bessere Schwimmer als ausgewachsene Individuen und erhöhen dadurch die Chancen auf ein Weiterbestehen der Gruppe als solche. Letztendlich vermochten auch andere große Säugetiere wie Elefanten entfernte Inseln zu erreichen.Die Besiedlung verschiedener Inseln führte zur Inselverzwergung der einzelnen Formen. Daraus resultierten allgemein eine Verschlankung des Skelettbaus und Kürzungen im Gesichtsschädel, was wiederum Veränderungen in der Gebissstruktur zur Folge hatte. Dieser Prozess hat auf den kleineren Mittelmeerinseln eventuell einen anderen Hintergrund als auf dem wesentlich größeren Madagaskar. Bedingt durch die Größe trägt Madagaskar zahlreiche unterschiedliche Habitate. Möglicherweise unterlagen die Tiere daher diversen evolutiven Zwängen und bildeten die vergleichsweise große Diversität aus. Hippopotamus guldbergi zeigt deutlich weniger Anpassungen an eine semi-aquatische Lebensweise als Hippopotamus lemerlei und war wohl eher terrestrisch aktiv. Jedoch auch auf den Mittelmeerinseln entstanden in ihrer Lebensweise abweichende Formen verglichen mit dem eigentlichen Flusspferd. Ein Teil davon ist dem zumeist steinigen Untergrund und wahrscheinlich auch dem merklich trockeneren Klima geschuldet. Einige Zwergformen des Flusspferdes entwickelten kurze Handwurzelknochen und Phalangen. Letzteres wird teilweise mit dem Verlust der breiten Hufe erklärt, womit sich die Tiere stärker als Zehenspitzengänger fortbewegt haben könnten, ähnlich den Ziegen. Durch eine überwiegend in Längsrichtung orientierte Hand- und Fußbewegung mit verminderten seitlichen Ausschermöglichkeiten erschlossen sich die Tiere so die felsigen Habitate und waren befähigt, entlang an Steilhängen und auf Klippen zu laufen. Auch nutzten sie Höhlen als Unterschlupf oder eventuell als Ressource für mineralhaltige Wässer. Eine weitere auffallende Veränderung betrifft die Gehirngröße, die sich nicht im gleichen Maße wie die Körpergröße reduzierte. Das heutige Flusspferd besitzt ein Gehirnvolumen von 800 bis 955 cm³. Für die madagassischen Zwergflusspferde lag dieses rekonstruiert bei 305 bis 485 cm³, was der Variationsbreite beim Zwergflusspferd entspricht. Hippopotamus minor als kleinstes verzwergtes Flusspferd wies ein 218 cm³ großes Gehirn auf. Der Enzephalisationsquotient stieg somit von 0,41 beim heutigen Flusspferd auf 0,58 bei Hippopotamus minor. Generell besitzt das Flusspferd im Vergleich mit anderen Huftieren ein sehr kleines Gehirn. Der Trend zu einer relativen Gehirngrößenzunahme ist aber auch bei Zwergelefanten belegt.
== Forschungsgeschichte ==
=== Erwähnungen in antiker Literatur ===
Einzelne antike Autoren widmeten sich bereits sehr früh dem Flusspferd. Die älteste Beschreibung stammt von Hekataios von Milet aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Er gab an, dass das Tier gespaltene Hufe habe, aber in Schwanz, Mähne und Stimme dem Pferd gleiche. Dies wurde von zahlreichen späteren Gelehrten übernommen, so auch von Herodot, der in seinen Historien im 5. Jahrhundert v. Chr. schrieb:
Ebenso berichtete Aristoteles vom Flusspferd und vermerkte in seiner Historia animalium aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. die Ähnlichkeit der inneren Organe mit denen der Esel und Pferde, beim Schwanz glich es jedoch eher den Schweinen. Andere Autoren wie Zenobios und Aelian hoben die Gefährlichkeit und Gewalttätigkeit der Tiere hervor. In der Naturalis historia gibt Plinius der Ältere im ersten nachchristlichen Jahrhundert ein genaues Abbild der Lebensweise des Flusspferdes wieder, wobei er aber Teile von Herodot übernahm. Jedoch erwähnte er bereits die charakteristisch roten Hautausscheidungen. Des Weiteren ist seinem Werk zu entnehmen, dass um 58 v. Chr. ein Flusspferd in einer römischen Arena eingesetzt wurde. In der Folgezeit ließen diverse römische Herrscher Flusspferde nach Rom schaffen, um diese bei Spielen auftreten zu lassen, so etwa Nero und Antoninus Pius. Allein Commodus soll nach Cassius Dio sechs Flusspferde bezwungen haben. Doch bereits im 4. Jahrhundert musste Themistios resümieren, dass das Flusspferd in Unterägypten ausgerottet war, da es Pflanzungen zerstörte, das Verschwinden der Tiere aber negative Auswirkungen auf die Spiele in Rom habe. Ähnlich äußerte sich Ammianus Marcellinus im etwa gleichen Zeitraum, der zusätzlich angab, dass die Tiere weiter im Süden bei den Blemmyern in Nubien zu finden seien.
=== Frühe Neuzeit und Erstbeschreibung ===
Eine der ältesten Beschreibungen des Flusspferdes in der westlichen Welt erstellte der französische Naturforscher Pierre Belon im Jahr 1553, in der er sich auf mehreren Seiten dem Tier widmete. Darin präsentierte er auch mehrere Abbildungen, unter anderem eine, auf dem das Flusspferd kämpfend mit einem Krokodil zu sehen ist. Belons Abhandlung ist Bestandteil seiner Reiseberichte, die basierend auf seinen Expeditionen durch die Inselwelt des Mittelmeers, den Vorderen Orient und Ägypten in den Jahren 1547 und 1549 entstanden. Im Jahr 1598 begab sich Christoph Harant von Polschitz und Weseritz ebenfalls in die Region und schrieb seine Erlebnisse nieder, die aber erst gut 80 Jahre später auf Deutsch erschienen. Seine Ausführungen zum Flusspferd sind stark von den antiken Autoren beeinflusst. In der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert berichtet der italienische Arzt Federico Zerenghi von seinen Unternehmungen nach Oberägypten, auf denen er nach eigenen Aussagen zwei Flusspferde erlegt und deren Häute mit in seine Heimat gebracht hatte. Seine Publikation wurde im Jahr 1603 veröffentlicht, versehen mit einer Darstellung des Flusspferdes. Die Häute wurden später in Venedig ausgestopft. Die dadurch entstandenen Präparate beinhalten jedoch einige anatomisch Abweichungen, etwa im Bereich des Kopfes und der Füße, letztere erhielten ein Aussehen, das eher an Hundepfoten erinnert. Eines der beiden Präparate gelangte vermutlich in das Museum La Specola in Florenz, wo es unter der Bezeichnung Ippopotamo di Boboli ausgestellt ist. Der Name rührt daher, dass angeblich in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert unter Cosimo III. ein Flusspferd im Boboli-Garten frei herumlief, worüber es allerdings keine Aufzeichnungen gibt. Der Verbleib des zweiten Präparats ist momentan ungeklärt. Im weiteren Verlauf des 17. und im 18. Jahrhundert erwähnen auch mehrere Erforscher des südlichen Afrikas das Flusspferd, darunter Étienne de Flacourt, der Gouverneur von Madagaskar, in seinen Reisebeschreibungen aus dem Jahr 1658. Johann Schreyer, der von 1668 bis 1674 das südliche Afrika bereiste, schildert im Jahr 1681 eindringlich die amphibische Lebensweise der Tiere und ihre nächtlichen Wanderungen von den Rastplätzen am Wasser zu den Weidegründen, er bezeichnet sie allerdings als „See-Kühe“. Ähnlich äußerte sich nur wenig später Simon van der Stel, der erste Gouverneur der Kapprovinz, der zwischen 1685 und 1686 das Namaqualand im Südwesten Afrikas auf der Suche nach Kupferlagerstätten erkundete und am Fluss Verlorevlei, seinem Zeekoejen-valey („Seekuh-Tal“), Flusspferde sichtete.
Neben diesen Forschungsreisenden beschäftigten sich auch die Gelehrten Europas schon früh mit dem Flusspferd, bekamen aber kaum ein lebendes Exemplar zu Gesicht. Im Jahr 1606 veröffentlichte der italienische Naturforscher Fabio Colonna in seiner Ekphrasis einen längeren Abschnitt über das Flusspferd, dem er auch eine Abbildung beisteuerte. Diese wirkt im Bezug auf Körper-, Kopf- und Fußgestaltung wie schon bei Belon zuvor etwas unrealistisch. Seine Angaben zu dem Tier hatte Colonna weitgehend von Plinius dem Älteren übernommen. Er erwähnte allerdings auch Zerenghi, so dass vermutet wird, dass sein Bild vom Flusspferd durch eine der ausgestopften Häute des Arztes beeinflusst worden war. Colonnas Porträt des Flusspferdes sollte in der Nachfolgezeit starken Einfluss auf das Bild des Tieres in Europa haben. Teilweise zu erkennen ist dies auch in dem Gemälde „Die Nilpferdjagd“ von Peter Paul Rubens, das im 1615 entstand und das Flusspferd mit ähnlicher Kopf- und Fußgestaltung zeigt. Darüber hinaus entstanden auch deutliche Abwandlungen, die dem Tier ein stärker pferdeartiges- bis rinderartiges Aussehen gaben. Die weitaus genaueste und umfassendste Abhandlung jener Zeit zum Flusspferd verfasste Georges-Louis Leclerc de Buffon im Jahr 1764. Sie erschien im zwölften Band seines zusammen mit Louis Jean-Marie Daubenton herausgegebenen Werkes Histoire naturelle, générale et particulière. Buffon hatte zwar auch kein lebendes Tier gesehen, doch standen ihm für seine Arbeiten neben den bereits publizierten Aufsätzen von Belon, Zerenghi, Colonna und anderen, die er umfangreich zitiert und kritisch beurteilt, auch ein Fötus, mehrere Schädel und Fußknochen zur Verfügung. Diese befanden sich im Cabinet du roi, dem Naturalienkabinett des französischen Königs und späteren Muséum national d’histoire naturelle in Paris. Dem Fötus widmet er in seinem Werk einen Kupferstich mit einem ausgewachsenen Tier im Hintergrund, das eine Kopie von Colonnas Tier ist und Buffon très-défectueuse („ungemein fehlerhaft“) vorkommt. Seine ausführlichen Beschreibungen stellen nicht nur den Fötus genau vor, auch erklärt er die inneren Organe und die Nabelschnur. Gleiches erfolgt zu den Schädeln und Fußknochen in Wort und Bild.
Noch bevor Buffon seine umfassenden Ausarbeitungen zum Flusspferd aufsetzte, stellte Linnaeus im Jahr 1758 die wissenschaftliche Erstbeschreibung sowohl von Gattung als auch Art im Rahmen der 10. Ausgabe seines für die binominale Nomenklatur bedeutenden Werkes Systema Naturae vor. Als charakteristisch für die Gattung Hippopotamus benannte er die Struktur des Gebisses. Hierin wies er Belons Abhandlung von 1553 als seine Hauptquelle aus. Mit habitat in Nilo et bambolo Africae et ad ostia fluviorum Asiae gab Linnaeus den Nil, den Senegal und die Flussmündungen Asiens als Typusgebiet an. Oldfield Thomas beschränkte dies im Jahr 1911 auf den Nil. Neben dem Flusspferd führte Linnaeus noch den Flachlandtapir (Tapirus terrestris) innerhalb der Gattung Hippopotamus. Beide Formen differenzierte er anhand der Zehenanzahl, sie sind aber nicht näher miteinander verwandt.Im 19. Jahrhundert wurden dann erstmals auch ausgestorbene Flusspferde wissenschaftlich eingeführt. Georges Cuvier beschrieb im Jahr 1804 mehrere Formen aus Europa, ohne diese dabei wissenschaftlich zu benennen. Er unterschied einzelne Größenvarianten, darunter eine große, die über Fossilfunde aus der Toskana und der Umgebung von Paris vorlag, sowie eine kleine mit Resten unbekannter Herkunft, für die Cuvier aber aufgrund der Gesteinsbrekzie, in der sie eingelagert waren, einen mediterranen Ursprung annahm. Basierend auf Cuviers Arbeit vergab dann Anselme Gaëtan Desmarest im Jahr 1822 verschiedene wissenschaftliche Namen. Von diesen sind mit Hippopotamus antiquus für die große Form und mit Hippopotamus minor für die kleine zwei Vertreter bis heute anerkannt. Nur zehn Jahre später folgte Hermann von Meyer mit der Beschreibung von Hippopotamus pentlandi anhand von zahlreichen Knochenresten aus einer Höhle aus der Umgebung von Palermo, Sizilien. Es sollte dann wiederum rund dreieinhalb Jahrzehnte dauern, bis Alfred Grandidier 1868 mit Hippopotamus lemerlei Reste ausgestorbener Flusspferde von Madagaskar vorstellte.
=== Etymologie ===
Bei der Bezeichnung Hippopotamus für das Flusspferd handelt es sich um eine Lehnübersetzung und latinisierte Form des griechischen Wortes ἱπποπόταμος (hippopótamos), welche sich aus den Teilen ἵππος (hippos) für „Pferd“ und ποταμός (potamos) für „Fluss“ zusammensetzt. Verwendet wurde sie bereits seit der Antike. So findet sie sich unter anderem bei Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr., der damals allerdings noch ἵππος ποτάμιος (hippos potamios) angab, was so viel wie „Pferd aus dem Fluss“ bedeutet. Des Weiteren nutzten sie Nikandros aus Kolophon im 2. Jahrhundert v. Chr. und Strabon um die Zeitenwende. Das Artepitheton amphibius ist ebenfalls griechischen Ursprungs (ἀμφίβιος) und bezieht sich auf die amphibische Lebensweise im Wasser und an Land. Darauf wiesen gleichfalls bereits einzelne Autoren des Altertums hin, etwa Plinius der Ältere.
== Flusspferd und Mensch ==
=== Einflüsse in der menschlichen Geschichte und Kultur ===
==== Vorgeschichtliche Nutzung ====
Die Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Flusspferd begannen bereits im Pliozän. Sie bestehen hauptsächlich aus der Nutzung der Kadaver der Tiere durch den Menschen. Ob das Flusspferd als ein großes und gefährliches Lebewesen zu diesem Zeitpunkt auch gejagt wurde, ist ungewiss. Die ältesten Hinweise auf die Verwendung der Tiere finden sich in Schnittmarken auf Knochen oder in zerschlagenen beziehungsweise aufgebrochenen Skelettelementen. Beobachtet wurden solche anthropogenen Einwirkungen unter anderem an zwei Skelettindividuen des Flusspferdes in Nyayanga auf der Homa-Halbinsel des Victoriasees in Kenia. Die Reste sind zwischen 2,6 und 3,1 Millionen Jahre alt und waren mit Steinartefakten des Oldowan assoziiert, stehen damit also in einem altpaläolithischen Kontext. Die Fundstelle erbrachte zusätzlich Zähne von Paranthropus, eine robust gebaute Vorform des Menschen, die einen Seitenzweig in der Entwicklung zur Gattung Homo darstellt. Ungeklärt ist bisher, ob Paranthropus auch für die Steinwerkzeuge und die Schnittmarken verantwortlich ist. Ähnliche Konstellationen ergaben sich in den unteren Schichten der Olduvai-Schlucht (FLK site) in Tansania sowie in Koobi Fora in Kenia, zudem auch in El Kherba in Algerien. Sie sind jeweils zwischen 1,8 und 1,5 Millionen Jahre alt und gehören damit in das Altpleistozän. In der Regel handelt es sich um einzelne Funde, die eine gelegentliche Nutzung der Flusspferd.-Reste andeuten. Dies bleibt in der darauf folgenden Zeit bestehen, so dass das Flusspferd wohl ein regelmäßiges, wenn auch seltenes Element der Nahrungs- und Rohstoffversorgung des Menschen repräsentiert. Auch hier liegen Beispiele aus Olduvai (BK site und SHK site) vor, zusätzlich etwa von Buia in Eritrea. An keiner dieser im Zusammenhang mit menschlichen Hinterlassenschaften stehenden Fundstellen tritt das Flusspferd in nennenswert hoher Anzahl auf. Teilweise wurden die vom Menschen abgetrennten Körperteile später durch Raubtiere weitergenutzt, wie dies ein Schulterblatt aus Gombore in Äthiopien dokumentiert. Eine Besonderheit in der Hinsicht der Nutzung von Flusspferd-Resten als Rohmaterial bildet ein aus einem Oberschenkelknochen gefertigter, etwa 12,8 cm langer Faustkeil von der rund 1,4 Millionen Jahre alten Fundstelle Konso, ebenfalls in Äthiopien. Auch in Europa lässt sich das Flusspferd gelegentlich im Zusammenhang mit archäologischen Fundplätzen nachweisen, so etwa in Marathousa auf der Peloponnes in Griechenland, wobei auch hier in der Regel Einzelfunde vorliegen.Einen deutlich höheren Anteil weist das Flusspferd an einigen Fundstellen im Affad-Becken am Mittellauf des Nils im Sudan auf, die in das ausgehende Jungpleistozän vor rund 15.000 Jahren gehören und auf Menschen des späten Mittelpaläolithikums zurückgehen. Hier wurden unter anderem eine Knochenkonzentration aus über 180 Skelettelementen des Flusspferdes gefunden, was gut 19 % des bestimmbaren Faunenmaterials entspricht. Allerdings ist an keinem der Knochen eine direkte Manipulation feststellbar. Mit der nachfolgenden Sesshaftwerdung des Menschen bildeten sich verschiedene neolithische Kulturen heraus. Vor allem im Niltal wurden in dieser Zeit unter anderem die Zähne des Flusspferdes zur Herstellung verschiedener Gegenstände verwendet. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das Gräberfeld von Kadruka auf der Höhe des dritten Kataraktes des Nils. Hier wurde in einem Grab ein aus einem Eckzahn gefertigter Kosmetikbehälter, bucrania genannt (eigentlich ein Zierelement aus einem Rinderhorn), gefunden. Zeitlich gehört die Fundstelle dem frühen bis mittleren Neolithikum des 5. vorchristlichen Jahrtausends an. Ein weiteres Beispiel ist das ebenfalls im neolithischen Kontext stehende und etwa gleichalte Gräberfeld von Kadero nordöstlich von Khartum. In einigen der mehr als 240 Gräber fanden sich verschiedentlich Objekte aus den Eckzähnen des Flusspferdes gefertigt. Aber auch andere Körperpartien fanden Einzug in die materielle Kultur des Menschen. So barg das Grab 244 von Kadero neben mehreren Gefäßen, Armreifen und Muschelschalen zusätzlich einzelne langschmale Objekte mit Ausmaßen von rund 5 × 30 cm. Nach Gebrauchspurenuntersuchungen stellen sie wohl Schrapinstrumente dar, gefertigt aus den Rippen eines Flusspferdes. Bemerkenswert an Kadero ist, dass die Flusspferdfunde häufig in Verbindung mit Männer- oder Kinderbestattungen stehen und teilweise sehr reich ausgestattet sind. Einige Forscher vermuten daher, dass zu jener Zeit die Jagd auf die Tiere einer bestimmten Gruppe von Menschen vorbehalten war.Außerhalb Afrikas sind im Neolithikum und im Chalkolithikum die Zähne des Flusspferdes auch in der Levante vom Menschen verarbeitet worden. Möglicherweise bilden die dichtere Struktur und die deutlichere weiße Farbgebung die ausschlaggebenden Gründe für die Verwendung von Flusspferd-Elfenbein gegenüber etwa Elefanten-Elfenbein. Ähnliches kann zum ägäischen Raum gesagt werden. Dort diente Elfenbein zur Herstellung von Siegeln, Intarsien oder Plaketten beziehungsweise Belägen, die, da die Rohstoffe eingeführt werden mussten, zumeist Luxusgegenstände repräsentieren. Dies hielt bis wenigstens zur mykenischen Zeit an. Zwar fanden hierbei überwiegend die Stoßzähne der Elefanten Verwendung, doch bestehen einzelne Objekte auch aus Flusspferd-Zähnen. Als Herkunftsorte für die Flusspferd-Zähne kommen der Vordere Orient und das Niltal in Nordafrika in Betracht, möglicherweise mit einem Transport über das Mittelmeer. Dies lässt unter anderem das Schiff von Uluburun annehmen, das vor rund 3400 Jahren vor dem heutigen Kaş im Südosten der Türkei unterging und in den 1980er Jahren untersucht wurde. Es enthielt neben zahlreichen wertvollen Objekten aus Gold, Bronze und Glas sowie verschiedensten Keramikformen auch Elefanten-Stoßzähne und Zähne von Flusspferden.
==== Künstlerische Darstellungen ====
Neben der Nutzung des Flusspferdes als Nahrungs- und Rohmaterialressource in vorgeschichtlicher Zeit fand es auch Einzug in die darstellende Kunst. Hiervon zeugen unter anderem mehrere tausend Jahre alte Felsmalereien, wie sie unter anderem im Tassili-n'Ajjer-Gebirge in Algerien gefunden wurden. Die Gebirgskette, die durch den rund 80.000 km² großen Tassili-n'Ajjer-Nationalpark geschützt wird, birgt schätzungsweise rund 15.000 Einzelbilder, von denen einige auch dem Flusspferd gewidmet sind. So findet sich die Abbildung eines Jungtieres in der Schlucht Oued Djerat im Norden des Gebirges. Von großer Bedeutung ist die Big hippo site in der Oued Afar rund 20 km südlich der Oued Djerat, wo allein 22 Abbildungen des Flusspferdes entdeckt wurden, die größte darunter 4,62 m lang. Die Darstellungen sind recht einfach gehalten und geben den Umriss der Tiere einschließlich des charakteristischen Kopfes mit Schnauze, Augen und Ohren wieder, ohne weitere Einzelheiten erkennen zu lassen. In der Regel werden einzelne Individuen, in manchen Fällen auch mehrere abgebildet. Eine szenische Darstellung wiederum zeigt ein Flusspferd einem Bogenschützen gegenüber stehend. Ein Teil der Abbildungen im Tassili-n'Ajjer mit der Wiedergabe von Wildtieren wie dem Flusspferd, aber auch von Giraffen, Elefanten, Nashörnern und anderen entstand wohl in der Frühphase der Felskunst der Region, als durch die klimatischen Bedingungen noch feuchtere Bedingungen herrschten. Die Phase der Felskunst wird lokal als „Phase der Großwildfauna“ bezeichnet und datiert zwischen 12.000 und 6.000 Jahren vor heute. Mit der zunehmenden Austrocknung der Landschaften verschwanden die großen Tiere. Die bildlichen Darstellungen gingen daher verstärkt zu Nutztieren über, weswegen hier auch von der „Pastoralen Phase“ gesprochen wird. Weitere Felsbilder von Flusspferden sind unter anderem aus dem Messak Settafet in Libyen dokumentiert, so im Wadi Taleschout mit allein 15 Einzeldarstellungen. Abseits der nordafrikanischen Felskunst können auch verschiedentlich Porträts von Flusspferden im südlichen Teil des Kontinents genannt werden. Als herausragendes Beispiel etwa gelten jene des Matopo-Gebirges, das durch den Matobo-Nationalpark im Westen von Simbabwe eingeschlossen wird. Darüber hinaus sind Abbildungen aus dem Mashonaland im Norden des Staates bekannt. Im letzteren Gebiet zeigt beispielsweise eine Darstellung zwei Tiere mit sich bewegenden Menschen drumherum, die möglicherweise eine Art Regentanz aufführen und so der Affinität des Flusspferdes zu Wasser Bedeutung verleihen.
Durch seine Präsenz am Nil war das Flusspferd auch im Alten Ägypten bekannt. Bereits aus der Badari- und der Naqada-Kultur der prädynastischen Zeit sind verschiedenste Objekte mit flusspferdartigem Umriss bekannt. Sie hatten variierende Funktionen und umfassen Gefäße, Anhänger oder Figurinen. Als Materialien wurde Elfenbein, Chrysopras und ähnliches verwendet. Mehrere dieser Objekte kamen in Gräbern zum Vorschein, wie etwa auf dem großen Bestattungsareal von Mostagedda. In einigen Fällen sind die Objekte sehr deutlich als Flusspferd erkennbar, manchmal ist auch nur der Kopf dargestellt, in anderen wirken sie eher abstrakt. Die Bedeutung der Objekte ist nicht eindeutig, standen aber eventuell in einem magischen Kontext. Im Alten Reich ließ sich Pepi II. auf einem Relief in seinem Totentempel in Sakkara bei der Flusspferdjagd darstellen. Hierbei harpuniert der Pharao in einer Szene das Tier, in einer anderen wird es auf einem Schlitten abtransportiert. Nach geläufiger Ansicht war die Jagd im Alten Reich nicht als Sport zu verstehen, sondern symbolisierte den Sieg der Ordnung, verbildlicht durch den Herrscher, über das Chaos, repräsentiert durch das Wildtier. Wesentlich intimer waren Flusspferddarstellungen im Mittleren und Neuen Reich. Nicht nur, dass die Jagd auf die Tiere auf Skarabäen und privaten Siegelamuletten verbildlicht wurde, auch kamen in dieser Zeit zahlreiche kleine Figurinen aus Fayence auf, allein aus dem Mittleren Reich sind rund 50 bis 60 solcher Figurinen belegt. Häufig gelangten sie als Beigaben in Grablegungen. Eventuell ersetzten sie hier gleichwertig die Tempelreliefs und hatten dann eine vergleichbare Funktion. Darstellungen von Flusspferden standen aber möglicherweise auch mit der ägyptischen Göttin Taweret in Zusammenhang, der als Herrin des Haushalts der Schutz über schwangere Frauen oblag und die als Mischwesen den Kopf eines Flusspferdes trug, mitunter ist auch der Körper flusspferdartig gestaltet. Sie erlangte im Neuen Reich eine größere Bedeutung, zuvor wurde ihre Position von anderen, teils auch mit dem Flusspferd verbundenen Göttinnen wie Ipet und Reret eingenommen. Im altägyptischen Glauben besaß das Flusspferd jedoch nicht nur protektive Eigenschaften, da es in Gefolgschaft von Seth, dem Gott des Verderbens und des Chaos sowie Tawarets Gemahl, auch zerstörerische Kräfte entwickelte. Letztere Attribute erhielt es aber weitgehend erst im Neuen Reich mit der Verfemung des Seth.
==== Weitere kulturelle Bezüge ====
Die Göttin Tawaret beziehungsweise ihre älteren Inkarnationen standen nach Meinung einiger Wissenschaftler Pate für den „Minoischen Genius“, eine Art dämonischer Kreatur, die während der mittelminoischen Zeit im zweiten Jahrtausend v. Chr. aufkam und bei religiösen Festen und Zeremonien von Bedeutung war. In der Anfangsphase ähnelte der „Minoische Genius“ noch stark seinem ägyptischen Gegenstück, trug einen flusspferd- oder löwenartigen Kopf und besaß den Körper einer schwangeren Frau. In späteren Zeiten veränderten sich aber seine äußeren Attribute, sie wurde löwenhafter mit männlichem Körper bis hin zu einem insektoiden Erscheinungsbild. In dieser Abwandlung erreichte er dann auch das griechische Festland. Bisher ungeklärt ist der Weg der Verbreitung dieser mythischen Figur. Während einige Wissenschaftler eine direkte Herkunft aus Ägypten sehen, favorisieren andere einen Umweg über die Levante, wo in der gleichen Zeit ähnliche Figuren in Erscheinung treten. Abseits des Transfers mythischer Figuren fanden sich in einigen antiken Stätten des Mittelmeers Knochenreste von Zwergflusspferden. Anders als bei den Zwergelefanten, die teilweise mit den Kyklopen der griechischen Mythologie in Verbindung gebracht wurden, gibt es für die Zwergflusspferde kein entsprechendes Äquivalent. In jüngerer Zeit hielt man die Knochen eher für Reste von Drachen oder Heiligen und zermahlte sie zu Pulver für medizinische Zwecke.Das aus dem jüdischen Umfeld bekannte Ungeheuer Behemoth wird teilweise als Flusspferd gedeutet. Im Buch Hiob findet sich eine detailliertere Beschreibung des Behemoth, die ihn als großes und kräftiges Wesen darstellt, das im Wasser oder Schlamm liegt und mit geöffnetem Maul den Fluss verschlingt. Außerdem würde es Gras wie ein Rind fressen. Der Vergleich des Behemoth mit dem Flusspferd wird aber nicht in jedem Fall geteilt. Nichtsdestoweniger hatte dies Einfluss auf die Benennung des Tieres in verschiedenen Sprachen: so wird das Flusspferd auf Russisch, Belarussisch und Ukrainisch als бегемот (transkribiert Begemot beziehungsweise Behemot) bezeichnet, was auch Eingang in die kasachische, aserbaidschanische und die tadschikische Sprache (Баҳмут, Bachmut) gefunden hat.
==== Mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Elfenbeinhandel ====
Die Verwendung von Elfenbein als Rohmaterial unabhängig seines Ursprungs von Elefanten oder vom Flusspferd, ist in Afrika wie aufgezeigt seit prähistorischer Zeit nachweisbar. Die Tradition wurde auch in späterer Zeit fortgesetzt. Vor allem vom 10. bis 14. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft bestand ein reger Handel von West- nach Nordafrika, der teilweise auch das südliche Europa erreichte. Bedeutende Handwerksstätten fanden sich beispielsweise im Maghreb. Die arabischen Gelehrten der damaligen Zeit unterschieden aber selten in der Herkunft des Rohmaterials, so dass nur selten auf das Flusspferd direkt verwiesen wird. Als Ursache wird teils angenommen, dass ihnen die Elefanten zwar vertraut, das Flusspferd aber weitgehend unbekannt war. Dadurch kam es auch zu Verwechslung der Tiere wie etwa bei der Reise von Ibn Battūta durch Mali im 14. Jahrhundert. Auf die wohl große Bedeutung des Flusspferd-Elfenbeins verweist allerdings ein im Jahr 1993 entdeckter Hortfund aus Gao in Mali, der in das 11. Jahrhundert datiert und aus wenigstens 53 Zähnen besteht, die in einer Grube abgelegt worden waren. Größere Dimensionen erhielt der Elfenbeinhandel während der europäischen Kolonialzeit. So verschifften die Portugiesen beispielsweise Stoßzähne von Elefanten von der südostafrikanischen Küste nach Indien und tauschten sie gegen Gewürz ein. Dass sich darunter auch Zähne von Flusspferden befanden, zeigt der Fund eines Wracks aus dem 17. Jahrhundert vor der Küste des indischen Bundesstaates Goa, das insgesamt neun Exemplare enthielt.
=== Ein Neozoon in Südamerika ===
Die einzige freilebende Flusspferdpopulation außerhalb Afrikas existiert in Südamerika in Seen im Einzugsgebiet des Río Magdalena in Kolumbien. Im Jahr 1981 hatte Pablo Escobar, Anführer des Medellín-Kartells, vier aus einem Zoo in den USA stammende Tiere (drei weibliche und ein männliches) eingeführt. Anfangs lebten sie gemeinsam mit anderen Arten im Privatzoo des Drogenhändlers auf der Hacienda Nápoles bei Puerto Triunfo und rund 13,5 km westlich des Río Magdalena. Mit dem Tod Escobars im Jahr 1993 wurden die meisten Tiere in Zoos verteilt, die Flusspferde, die schwer zu transportieren waren, verblieben jedoch auf der Hacienda Nápoles, die nach und nach verfiel. Dreizehn Jahre später, nachdem das Gelände in einen touristischen Freizeitpark umgestaltet worden war, lebten bereits 16 Flusspferde in der Umgebung, die aus verschiedenen Sumpf- und Feuchtgebieten (ciénagas), künstlichen Seen und kleinen Flussläufen besteht. Bereits im Jahr 2009 fanden sich einzelne Individuen in einer Region rund 75 km weiter nördlich. Im Jahr darauf wurde erstmals ein Flusspferd im Río Magdalena beobachtet und drei Jahre später im Río Cocorná, einem Nebenfluss.Schätzungen zufolge lebten im Jahr 2020 in der Region zwischen 65 und 80 Individuen, einzelne Sichtungen erfolgten in bis zu 150 km Entfernung vom Ursprungsort. Bei einer konservativen Annahme einer Fortpflanzungsrate von 7 bis 8 %, was etwa der des Flusspferdes in Afrika entspricht, könnte die Population bis zum Jahr 2050 auf 400 bis 800 Individuen anwachsen, unter günstigen Umständen mit einer Wachstumsrate von 11 % – die Tiere haben in Südamerika keine natürlichen Feinde und die Sterberate der Jungtiere ist sehr gering – auch auf bis zu 5000. Wie in Afrika sorgen die Tiere für einen erheblichen Nährstoffeintrag in ihre Wohngewässer, indem sie an Land grasen und im Wasser ihre Ausscheidungen abgeben, was zu einer Blüte des Phytoplanktons und infolgedessen auch zu einer starken Vermehrung des Zooplanktons führt.Nach Auffassung einiger Forscher sind die Auswirkungen aber wenig dramatisch, da es sich möglicherweise um die Herstellung eines ursprünglichen Zustands handelt, der bis zum Aussterben der Megafauna am Ende des Pleistozäns im Zuge der Quartären Aussterbewelle vorgeherrscht hatte. Demnach nimmt das Flusspferd in Südamerika die Position ein, die damals ebenfalls semiaquatisch lebende Vertreter der ausgestorbenen Südamerikanischen Huftiere wie etwa Trigonodops im Ökosystem südamerikanischer Flüsse innehatten. Andererseits leben in der Region mit dem Karibik-Manati und dem Capybara zwei größere aquatisch bis semi-aquatisch angepasste Säugetiere, so dass durch das Flusspferd für diese zusätzliche Konkurrenz entsteht. Daher plädieren andere Wissenschaftler für eine Ausrottung des Flusspferd-Bestandes, sei es durch Sterilisation oder durch gezielte Tötung.Im Oktober 2021 begannen die kolumbianischen Behörden mit der Sterilisation der Flusspferde. Zwei Dutzend Tieren wurde das Immunokastrationsmittel GonaCon verabreicht, das die Flusspferde über einen begrenzten Zeitraum sterilisiert. Bei elf weiteren Tieren erfolgte eine herkömmliche Sterilisation. Da das Vorhaben allerdings scheiterte, wurden die Tiere im Jahr 2022 von kolumbianischen Behörden zur invasiven Art erklärt und zur Jagd freigegeben.
=== Bedrohung und Schutz ===
Die IUCN stuft das Flusspferd in seinem Gesamtbestand als „gefährdet“ (vulnerable) ein. Nach Schätzungen aus dem Jahr 2016 leben weltweit rund 115.000 bis 130.000 Tiere. Frühere Angaben für den Gesamtbestand von bis zu 148.000 Individuen, die die IUCN im Jahr 2008 veröffentlicht hatte, werden auf eine Überschätzung einzelner regionaler Populationen zurückgeführt. Insgesamt erwies sich dadurch der Bestand des Flusspferdes als relativ stabil. Regional und lokal können dabei aber Schwankungen auftreten. So nahm die Anzahl der Tiere im Masai Mara entlang des Mara-Flusses und angrenzender Gebiete von 2330 Individuen im Jahr 1984 auf 4170 im Jahr 2006 zu, was möglicherweise mit den begünstigenden Landschaftsverhältnissen der Region zusammenhängt. In anderen Gebieten wie im Gonarezhou-Nationalpark in Simbabwe kam es in einem vergleichbaren Zeitraum zu einem Rückgang des Bestandes, teilweise ausgelöst durch Dürrephasen. Im Bereich seines Vorkommens ist das Flusspferd in zahlreichen Schutzgebieten präsent, teilweise kann die Art auch außerhalb angetroffen werden. Allerdings ist sie in einigen Teilen auch ausgestorben oder sehr selten geworden.Als ein großer Bedrohungsfaktor wird der Verlust an Lebensraum angesehen, was häufig mit der Ausbreitung land- und viehwirtschaftlich genutzter Flächen oder wasserregulierender Maßnahmen einhergeht. Die Abhängigkeit des Flusspferdes von Wasser führt dabei zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. In Kenia wurden in dem Zeitraum von 1997 und 2008 fast 4500 Mensch-Flusspferd-Konflikte registriert, die unter anderem in Zeiten größerer Dürre zunahmen. Zudem wurden aber auch häufiger Plünderungen von Feldern durch Flusspferde beobachtet. Im westlichen und zentralen Afrika spielen auch die Zersplitterung der Populationen des Flusspferdes in kleine Einheiten eine Rolle, die dann häufig auf einzelne, mitunter schlecht verwaltete Reservate beschränkt sind. Einen weiteren bestandsgefährdenden Einfluss nimmt die illegale Jagd ein, die unter anderem in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre zu starken Einbrüchen im Bestand des Flusspferdes führte. Das Fleisch bildet einerseits eine Nahrungsressource, etwa in Burkina Faso, Burundi, in der Elfenbeinküste oder im Südsudan, andererseits wird das Elfenbein der Zähne intensiv gehandelt. Vor allem in Ländern mit anhaltenden zivilen Unruhen oder Bürgerkriegen kann letzteres stark ansteigen. So brach die Flusspferdpopulation in der Demokratischen Republik Kongo Anfang des 21. Jahrhunderts infolge von achtjährigen Unruhen um 95 % ein, in Mosambik sank zwischen 1980 und 1992 während des Bürgerkrieges der Bestand um rund 70 %. Der Handel mit Flusspferd-Elfenbein stieg des Weiteren auch mit dem Verbot von Elefanten-Elfenbein im Jahr 1989 massiv an. Allein zwischen 1991 und 1992 wurden in Uganda rund 27 t an Eckzähnen des Flusspferdes gehandelt, in den zwei Jahren zuvor waren es noch 12 t. Ein Großteil des Austausches findet über Hongkong statt, in 75 % der Fälle sind Uganda und Tansania die Herkunftsländer. Teilweise werden in Hong Kong aber mehr Flusspferdzähne ein-, als offiziell aus den Ursprungsländern ausgeführt. Nach Untersuchungen des CITES betraf dies für den Zeitraum von 1995 bis 2013 insgesamt 14,2 t, was umgerechnet ungefähr 2700 Flusspferd-Individuen oder rund 2 % des Gesamtbestandes betrifft. Dadurch hat neben der Landschaftserhaltung auch die Reduzierung der illegalen Jagd eine große Bedeutung für den Schutz des Flusspferdes.Im Gegensatz zu anderen Großtieren wie den Elefanten oder den Nashörnern erregte das Flusspferd relativ spät Aufmerksamkeit in der westlichen Welt. Das erste in jüngerer Zeit in einem Zoo gehaltene Tier war ein Individuum namens „Obaysch“, das 1850 in den Londoner Zoo kam und für eine regelrechte „Hippomania“ sorgte. Auch anderenorts avancierten Flusspferde später zu beliebten Zootieren, beispielsweise „Knautschke“ im Berliner Zoo. Heute ist die Art relativ häufig in zoologischen Einrichtungen anzutreffen. Allein in Deutschland gibt es mehr als ein halbes Dutzend Haltungen, zahlreiche zusätzliche kommen europaweit und im Nahen Osten hinzu.
=== Gefährlichkeit für den Menschen ===
Es besteht die weite Auffassung, das Flusspferd sei eines der gefährlichsten Großtiere Afrikas und würde mehr Todesfälle als etwa Krokodile oder Großkatzen verursachen. Die Tiere können trotz ihres behäbigen Aussehens sehr aggressiv sein, insbesondere Mütter mit Jungtieren und bedrängte oder verwundete Individuen. Viele Berichte betreffen Fischer, die mit ihren Booten zu nah an oder in Flusspferdgruppen gelangten und bei etwaigen Angriffen kenterten sowie verletzt oder getötet wurden. Auch nachts an Land kann es zu gefährlichen Situationen kommen, wenn Menschen in Flusspferdgruppen geraten, die auf dem Weg zu ihren Weidegründen sind. Allerdings gibt es über die tatsächliche Anzahl und den Verlauf derartiger Begegnungen keine Statistiken. Häufig tolerieren die Tiere Menschengruppen bis hin zu gewissen Entfernungen.
== Literatur ==
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9
Hubert Hendrichs: Artiodactyla (Paraxonia), Paarhufer. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-0307-3 (Spezielle Zoologie. Teil 2)
Hans Klingel: Hippopotamus amphibius Common Hippopotamus. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume VI. Pigs, Hippopotamuses, Chevrotain, Giraffes, Deer and Bovids. Bloomsbury, London, 2013, S. 68–78
R. L. Lewison: Family Hippopotamidae (Hippopotamuses). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hoofed Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, ISBN 978-84-96553-77-4, S. 318
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen ==
== Weblinks ==
Literatur von und über Flusspferd im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Hippopotamus amphibius in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2017. Eingestellt von: R. L. Lewison & J. Pluháček, 2016. Abgerufen am 9. Oktober 2020.
Flusspferd auf ultimateungulate.com (englisch) | https://de.wikipedia.org/wiki/Flusspferd |
Québec | = Québec =
Québec (deutsche Schreibweise auch Quebec ohne Akzent; französisch Québec [keˈbɛk], englisch Quebec [kwɨˈbɛk] oder [kəˈbɛk], ursprünglich Algonkin Kebec für „wo der Fluss enger wird“) ist die flächenmäßig größte Provinz Kanadas (das flächenmäßig größere Nunavut ist keine Provinz, sondern ein Territorium) und jene mit dem größten frankophonen Bevölkerungsanteil. Mit ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihren Institutionen stellt sie eine eigenständige nationale Gemeinschaft innerhalb Kanadas dar.Québec liegt im Osten Kanadas zwischen der Hudson Bay und der Grenze zu den Vereinigten Staaten entlang des Sankt-Lorenz-Stroms (französisch Fleuve Saint-Laurent).
Die Bevölkerung umfasst 8,52 Millionen Einwohner, die Quebecer (französisch Québécois) und ist damit die zweit-bevölkerungsreichste Provinz Kanadas nach Ontario. Québec ist die einzige Region des nordamerikanischen Festlandes mit einer französischsprachigen Mehrheit. Obwohl in Kanada sowohl die englische als auch die französische Sprache Amtssprachen sind, ist die ausschließliche Amtssprache der Provinz Québec das Französische. Die Hauptstadt der Provinz heißt ebenfalls Québec; die größte Stadt ist Montreal. 2006 wurden die Quebecer offiziell als „Nation in einem vereinten Kanada“ anerkannt. Eine Nation kann sich auf das Völkerrecht berufen, das häufig als „internationales Recht“ bezeichnet wird, eine ethnische Gruppe hingegen nur auf Minderheitenschutz. Ebenfalls als Nationen (First Nations/Premières Nations) werden im offiziellen Sprachgebrauch ein Teil der Ureinwohner Kanadas bezeichnet.
Die Québecer Politik ist von einer permanenten Debatte um die Rolle der Frankophonie im mehrheitlich anglophonen Kanada geprägt, aus der viele Bemühungen um eine größere Souveränität Québecs hervorgehen, die von erweiterten Kompetenzen über eine Assoziation mit Kanada bis hin zu einer vollständigen Sezession reichen. 1980 und 1995 hielt die Provinz Referenden über eine Unabhängigkeit ab, die allerdings beide knapp scheiterten.
Zur indigenen Bevölkerung Québecs zählen 39 anerkannte First Nations (Indianer), die sprachlich zu den Gruppen der Irokesen (wie etwa Mohawk, Wyandot) und Algonkin (Cree, Mi'kmaq) zählen, sowie die Inuit mit der Sprache Inuktitut.
== Geographie ==
Québec liegt im Osten Kanadas und grenzt im Westen an die Provinz Ontario und die Hudson Bay, im Osten an die Provinzen Neufundland und Labrador und New Brunswick sowie den Sankt-Lorenz-Golf, im Süden an die Vereinigten Staaten (Bundesstaaten Maine, New Hampshire, Vermont, New York) sowie im Norden an der Hudsonstraße an Nunavut. Die Provinz ist sehr ausgedehnt – etwa dreimal so groß wie Frankreich – und sehr dünn besiedelt. Höchster Punkt ist der Mont D'Iberville (1652 m bzw. 5420 Fuß), bei den englischsprachigen Kanadiern als Mount Caubvick bekannt, der in den Torngatbergen auf der Grenze zwischen Quebec und Neufundland und Labrador gelegen ist. Auf der Seite von Quebec liegt allerdings lediglich der etwa 30 cm niedrigere Nebengipfel mit 5419 Fuß Höhe, während sich der 5420 Fuß hohe eigentliche Gipfel des Mount Caubvick circa 10 Meter nordöstlich von der Provinzgrenze Quebecs befindet und damit vollständig auf dem Gebiet von Labrador liegt.Der Sankt-Lorenz-Strom, der die Provinz in großem Maße prägt, gehört als Ausfluss der Großen Seen zu den mächtigsten Flüssen der Welt. Im 17. und 18. Jahrhundert ermöglichte er den französischen Forschern und Siedlern einen leichten Zugang vom Atlantischen Ozean ins Landesinnere. Seit 1959 bildet er einen Teil des Sankt-Lorenz-Seewegs. Nordöstlich der Provinzhauptstadt Québec weitet sich der Fluss zum weltweit größten Ästuar aus und mündet schließlich in den Sankt-Lorenz-Golf. Die größte Insel in diesem Golf und größte Insel der Provinz ist Anticosti nördlich der Gaspésie-Halbinsel.
Die mit Abstand am dichtesten besiedelte Region ist das Sankt-Lorenz-Tiefland, das sich vom Südwesten entlang des Stroms in Richtung Nordosten über Montreal und Trois-Rivières bis zum Ballungsgebiet der Stadt Québec erstreckt. Die Landschaft ist flach und tief gelegen, mit Ausnahme einiger felsiger Hügel aus magmatischen Gestein bei Montréal, die als Montérégie-Hügel bezeichnet werden. Die jüngsten Sedimentablagerungen entstanden vor rund 14.000 Jahren, als am Ende der Würmeiszeit das seichte Champlainmeer aufgefüllt wurde. Die Kombination aus fruchtbarem Boden und dem mildesten Klima der Provinz machen das Tal zur landwirtschaftlich am meisten genutzten Region.
Mehr als vier Fünftel der Fläche Québecs liegen auf der Labrador-Halbinsel, die zum Kanadischen Schild gehört. Die Landschaft ist überwiegend unwirtlich und sehr dünn besiedelt, weist aber reiche Vorkommen an Bodenschätzen und große Wasserkraftressourcen auf. Der am nördlichsten gelegene Teil, die Region Nunavik auf der Ungava-Halbinsel, besteht aus arktischer Tundra. Weiter südlich schließt sich ein mehrere hundert Kilometer breiter Streifen mit borealem Nadelwald an. Die Begrenzung des Schilds bilden die Laurentinischen Berge, einer der ältesten Gebirgszüge der Welt. An der südöstlichen Grenze der Provinz erstrecken sich die Appalachen, die von Mischwäldern bedeckt sind.
=== Klima ===
Québec besitzt drei klimatische Hauptregionen. Der Süden und Westen mit den größten Ballungsgebieten wird von einem feuchten Kontinentalklima (Effektive Klimaklassifikation Dfb) mit warmen, feuchten Sommern und langen, kalten Wintern geprägt. Die bedeutendsten klimatischen Beeinflussungen kommen aus West- und Nordkanada sowie den südlichen und zentralen Vereinigten Staaten. Infolge des Einflusses von Sturmsystemen aus dem Herzen Nordamerikas und dem Atlantik fallen das ganze Jahr über reichliche Niederschläge. In den meisten Gebieten fällt pro Jahr mehr als 1000 mm Niederschlag, davon 300 mm Schnee. Im Sommer sind extreme Wettersituationen wie Tornados und Gewitter weit weniger verbreitet als etwa im südlichen Ontario, treten aber auch hier gelegentlich auf.
Ein Großteil des zentralen Provinzgebietes hat ein boreales Klima (Klasse Dfc). Die Winter sind hier lang und zählen zu den kältesten in Kanada, während die Sommer warm, aber aufgrund der hohen Breitenlage und des Einflusses arktischer Luftmassen nur kurz sind. Die Niederschlagsmenge ist außer auf den höheren Erhebungen etwas niedriger als im Süden.
Die nördlichen Regionen der Provinz haben ein Polarklima (Klasse ET) mit sehr kalten Wintern und kurzen, weitaus kühleren Sommern. Die wichtigsten klimatischen Einflüsse üben Strömungen des Arktischen Ozeans (wie zum Beispiel der Labradorstrom) und kontinentale Luftmassen aus der Arktis aus.
=== Verwaltungsgliederung ===
Québec ist in 17 Verwaltungsregionen (frz. régions administratives) untergliedert. Diese wiederum setzen sich aus regionalen Grafschaftsgemeinden (municipalités régionales de comté, MRC) zusammen, die gewisse überregionale Verwaltungsaufgaben übernehmen. Dazu gehören die Erstellung eines Flächennutzungsplanes, die Wasserversorgung sowie die Abfallwirtschaft. 14 kreisfreie Städte führen die Aufgaben der MRC selber aus. In den Ballungsgebieten Québec und Montréal gibt es als zusätzliche Ebene den Metropolverband (communauté métropolitaine, CM). Diese Gliederung ersetzt seit den 1980er Jahren die frühere Unterteilung in Grafschaften (comtés).
Die unterste Ebene der kommunalen Selbstverwaltung schließlich bilden die Gemeinden. Als Gemeindeformen gibt es in Québec die Stadt (ville), die Gemeinde (municipalité), das Dorf (village), den Sprengel (paroisse), die Kantonsgemeinde (canton) sowie die nordischen, Cree- und Naskapi-Dörfer (villages nordique, cri et naskapi).
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte und europäische Erforschung ===
Québec war ursprünglich das Siedlungsgebiet indigener Völker wie Inuit, Mohawks, Cree, Algonkin, Innu, Atikamekw, Mi’kmaq, Wyandot, Abenaki, Maliseet und Naskapi. Während die meisten Völker im Kanadischen Schild und in den Appalachen ein nomadisches Leben als Jäger, Sammler und Fischer führten, waren die Sankt-Lorenz-Irokesen sesshaft und betrieben Landwirtschaft.
Baskische Walfänger und Fischer kamen ab etwa 1525 regelmäßig an die ostkanadische Küste und stießen bis zum Ästuar des Sankt-Lorenz-Stroms vor. Der erste europäische Entdecker, der ins Innere Québecs gelangte, war der Franzose Jacques Cartier. Er erreichte 1534 Gaspé und befuhr im darauf folgenden Jahr den Strom. Pierre Chauvin gründete 1600 einen ersten Handelsposten in Tadoussac an der Mündung des Flusses Saguenay.
=== Neufrankreich ===
1608 gründete Samuel de Champlain die Stadt Québec, die zur Hauptstadt der Kolonie Neufrankreich ernannt wurde. Es bildeten sich Handelsbeziehungen und schließlich militärische Bündnisse mit den Algonkin und den Wyandot. Pelze wurden nach Frankreich exportiert, im Gegenzug erhielten die Indianer Metallwaren, Schusswaffen und Alkohol. Von der Stadt Québec aus erforschten Waldläufer (coureurs des bois) und katholische Missionare das Innere des nordamerikanischen Kontinents. Weitere Ansiedlungen wurden entlang des St. Lorenz-Stromes (Fleuve St. Laurent) noch im 17. Jahrhundert gegründet (Montréal 1648).
Der Name „Québec“, das in der Algonkin-Sprache „wo der Fluss sich verengt“ bedeutet, bezog sich ursprünglich auf das Gebiet um die Stadt Québec, wo der Sankt-Lorenz-Strom sich durch eine von steilen Felsen begrenzte Engstelle zwängt. Frühe Variationen der Schreibweise des Namens sind Québecq (1601) und Kébec (1609).1627 gewährte König Ludwig XIII. der Compagnie de la Nouvelle-France das Monopol auf den Pelzhandel, führte ein halb-feudales Landvergabesystem (régime seigneurial) ein und verbot die Ansiedlung von Nichtkatholiken. Sulpizianer und Jesuiten gründeten Missionen, um die Algonkin und Wyandot zu bekehren. Da die Kolonialisierung unter der Leitung der Compagnie nur sehr schleppend vorankam, wurde Neufrankreich 1663 unter Ludwig XIV. eine königliche Kolonie. Im Rahmen des King William’s War wurde Québec erstmals von Neuengland aus angegriffen. Daraufhin wurden die Stadtbefestigungen verstärkt. Im Verlaufe der nächsten hundert Jahre stieg die Zahl der französischen Siedler, die sich Canadiens nannten, um das Zwanzigfache auf etwa 60.000 an. Wegen der Weigerung der Krone, den Hugenotten die Ansiedlung zu erlauben, blieb die Bevölkerungszahl weit hinter jener der Dreizehn Kolonien zurück.
1753 begann Frankreich mit dem Bau von Forts im Ohiogebiet, um den Einfluss Großbritanniens zurückzudrängen. Im darauf folgenden Jahr begann mit einem Scharmützel beim Fort Duquesne in der Nähe des heutigen Pittsburgh der Franzosen- und Indianerkrieg, der einen Teilkonflikt des Siebenjährigen Krieges bildete. Auf Seiten der Franzosen kämpften die Wyandot, während sich die Briten mit den Irokesen verbündeten. 1759 wurden die Franzosen in der Schlacht auf der Abraham-Ebene besiegt. Durch den Pariser Frieden 1763 fiel Neufrankreich an Großbritannien. Mit der Königlichen Proklamation wurde die Kolonie im selben Jahr in Provinz Québec umbenannt.
=== Britische Herrschaft ===
Da die Assimilation der überwiegend französischsprachigen Bevölkerung gescheitert war, verabschiedete das britische Parlament 1774 den Quebec Act. Dieses Gesetz erkannte das französische Rechtssystem, Religionsfreiheit sowie die französische Sprache und Kultur an. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Quebecer sich den aufständischen Dreizehn Kolonien anschlossen.
Allerdings verärgerte das Gesetz auch die Dreizehn Kolonien, da es die Grenzen Québecs ins Ohiogebiet und in das Illinois Country verschob. Es war eines jener Intolerable Acts, die zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs führten. 1775 konnte die Invasion Québecs zurückgeschlagen werden. Zehntausende von Loyalisten flohen in das heutige Kanada. Mit dem Frieden von Paris wurden die Gebiete südlich der Großen Seen an die Vereinigten Staaten abgetreten.
Um den geflohenen Loyalisten entgegenzukommen, verabschiedete das britische Parlament das Verfassungsgesetz von 1791, das die Provinz Québec in das französischsprachige Niederkanada und das englischsprachige Oberkanada teilte und beiden Kolonien ein gewähltes Parlament gewährte. Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien entluden sich im Britisch-Amerikanischen Krieg, der von 1812 bis 1814 dauerte, letztlich aber ergebnislos endete.
Wie im benachbarten Oberkanada bildeten Louis-Joseph Papineau und Robert Nelson im Jahr 1837 eine Rebellenbewegung, deren Ziel es war, die britische Kolonialherrschaft zu beenden (→ Rebellionen von 1837). Die britische Armee war zunächst völlig unvorbereitet, konnte den Aufstand jedoch niederschlagen. Gestützt auf einen Bericht von Lord Lambton, der die Ursachen des Aufstands untersucht hatte, wurden Nieder- und Oberkanada 1840 zur Provinz Kanada vereinigt. 1848 erhielt diese das Recht zur Selbstverwaltung und die erste demokratisch gewählte Regierung.
=== Kanadische Provinz ===
In den 1860er Jahren begannen Delegierte verschiedener Kolonien, in Britisch-Nordamerika über eine Vereinigung zu verhandeln. Schließlich entstand am 1. Juli 1867 mit dem Inkrafttreten des British North America Act das Dominion Kanada, und die bisherige Provinz Kanada wurde in die Provinzen Ontario (das frühere Oberkanada) und Québec (das frühere Niederkanada) geteilt. Kanada als Ganzes war zwar mehrheitlich englischsprachig, in Québec jedoch bildeten die Frankophonen die Mehrheit.
1870 hatte die kanadische Bundesregierung Ruperts Land von der Hudson’s Bay Company erworben und die Nordwest-Territorien geschaffen. Während der nächsten Jahrzehnte trat die Bundesregierung große Teile dieser Territorien an bestehende Provinzen ab oder schuf neue Provinzen. In zwei Schritten konnte Québec seine Fläche um mehr als das Dreifache erweitern (siehe auch Territoriale Entwicklung Kanadas). Am 13. Juni 1898 erfolgte die erste Erweiterung bis zur Küste der James Bay. Ein zweites Gesetz schlug am 15. Mai 1912 den Ungava-Distrikt im Norden der Labrador-Halbinsel der Provinz zu. Am 11. März 1927 entschied das Justizkomitee des britischen Privy Councils in einem Grenzkonflikt zugunsten des damals eigenständigen Dominions Neufundland, woraufhin Québec einen Gebietsstreifen abtreten musste.
Hatte sich die Industrialisierung zunächst auf die Stadt Montreal beschränkt, so setzte diese ab dem späten 19. Jahrhundert auch in der übrigen Provinz ein. Damit einher ging eine rasche Urbanisierung der Provinz, verbunden mit einer hohen Geburtenrate. Vor allem im ländlichen Teil übte die Römisch-katholische Kirche einen großen Einfluss auf die Gesellschaft aus und dominierte das Erziehungswesen, während in den Städten eine kleine englischsprachige Elite das wirtschaftliche Geschehen kontrollierte. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzte auch in den ländlichen Regionen die Industrialisierung ein, die auf der Weiterverarbeitung der natürlichen Ressourcen basierte.
Zwei ideologische Strömungen waren vorherrschend: Auf der einen Seite waren die Liberalen, welche die Modernisierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen forderten und im Wirtschaftswachstum und dem Ausbau des Bildungswesens die einzige Möglichkeit sahen, die Provinz in die Zukunft zu führen. Ihnen gegenüber standen konservative Nationalisten, die einen isolationistischen Kurs verfolgten, der auf den Werten des Katholizismus und des ländlichen Traditionalismus beruhte.
Bis Ende der 1950er Jahre wandte sich die Union nationale mit Maurice Duplessis an der Spitze konsequent gegen Reformen. Als jedoch 1960 die Parti libéral du Québec von Jean Lesage an die Macht kam, setzte sie einen Reformkurs in Gang, der die Gesellschaft und das Staatswesen Québecs von Grund auf modernisierte und als Stille Revolution (révolution tranquille) bekannt wurde. Die Regierung drängte unter dem Schlagwort Maître chez nous („Herr im eigenen Haus“) den Einfluss der römisch-katholischen Kirche zurück. Darüber hinaus verstaatlichte sie Hydro-Québec, einen Energiekonzern, dessen Erschließung der örtlichen Energiereserven die „Grundlage für eine durchgreifende Industrialisierung“ legte.
=== Separatismus ===
Die Stille Revolution brachte aber auch eine neue Art des Nationalismus hervor, der nicht mehr auf den traditionellen Werten beruhte. Es entstanden mehrere, zum Teil militante, separatistische Bewegungen. Die Front de libération du Québec (FLQ) verübte zwischen 1963 und 1970 mehr als 200 Bombenanschläge und Banküberfälle, mit dem Ziel, aus der Provinz einen marxistischen Staat zu machen. Die Terrorwelle gipfelte in der Oktoberkrise und der kurzzeitigen Verhängung des Ausnahmezustands durch die Bundesregierung. In der Folge wurde die FLQ zerschlagen.
Hingegen versuchte die Parti Québécois von René Lévesque, Québec mit friedlichen Mitteln in die Unabhängigkeit zu führen. Ab 1976 bildete sie erstmals die Provinzregierung. Schon zwei Jahre zuvor war das Französische zur alleinigen Amtssprache erklärt worden, doch mit der 1977 erlassenen Charta der französischen Sprache wurde der Einfluss des Englischen auch im Alltag endgültig zurückgedrängt. Beim Québec-Referendum 1980 stimmten am 20. Mai 1980 59,6 % der Wähler nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Überlegungen gegen eine Loslösung vom kanadischen Staatenverband. Andererseits hat die Provinz nach wie vor nicht die von Pierre Trudeau initiierte Verfassung von 1982 ratifiziert.
Bemühungen der Bundesregierung, Québec mit dem Meech Lake Accord und dem Charlottetown Accord als „sich unterscheidende Gesellschaft“ anzuerkennen, scheiterten 1989 bzw. 1992. Die Parti Québécois gelangte 1994 wieder an die Macht und setzte ein zweites Unabhängigkeitsreferendum an. Das Québec-Referendum 1995 scheiterte äußerst knapp mit 50,58 % Nein gegen 49,42 % Ja. Später wurde publik, dass die Föderalisten neunmal so viel Geld für die Abstimmungskampagne ausgegeben hatten wie die Separatisten, darunter auch Staatsgelder. Die Bundesregierung hatte durch eine erhöhte Anzahl an Einbürgerungen vor der Abstimmung ebenfalls Einfluss auf die Wahlen genommen. 1998 legte der Oberste Gerichtshof Kanadas in seiner Entscheidung Renvoi relatif à la sécession du Québec fest, dass eine Provinz sich nicht einseitig für unabhängig erklären könne.
Auf Initiative des konservativen Premierministers Stephen Harper erkannte das kanadische Unterhaus die Quebecer am 27. November 2006 als „Nation innerhalb eines geeinten Kanadas“ an. Harper sagte, dass dies Kanadas Einheit nicht in Frage stellt.
== Bevölkerung ==
Im Jahre 1608, im Gründungsjahr der Stadt, zählte Québec mit den ersten Kolonisten unter Samuel de Champlain lediglich 28 Einwohner, die ausschließlich Männer waren. Die ersten Frauen kamen erst ab 1617 nach Neu-Frankreich. Nach der allerersten Volkszählung auf dem amerikanischen Kontinent, die Intendant Jean Talon am 12. September 1665 begann vorzunehmen und die ein volles Jahr dauerte, hatte die Stadt Québec gerade einmal 547 Einwohner erreicht. Die wichtigste Erkenntnis dieser Volkszählung bestand daraus, dass der männliche Bevölkerungsanteil doppelt so hoch war wie der weibliche. Die größeren Ansiedlungen wie Trois-Rivières, Montréal und Québec sowie die dünne Landbevölkerung hatten zusammengenommen 3.215 Einwohner. Dabei stand die Umgegend der Hauptstadt von Neu-Frankreich Québec mit über 2.000 Einwohnern an der Spitze. 1754, zwei Jahre vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, waren es bereits 55.009 Einwohner. Im Jahr 1806 schließlich war die Einwohnerzahl von 250.000 erreicht.
Die zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer lag 2021 bei 1,58. Damit war sie höher als in Kanada insgesamt, wo die Fertilitätsrate im selben Jahr bei 1,43 lag, aber auch weit unter der Reproduktionsziffer von 2,1. Dies steht im Gegensatz zu der Rate vor 1960, als sie zu den höchsten innerhalb aller Industriegesellschaften zählte. Trotz des Rückgangs der Fruchtbarkeit war die Geburtenziffer 2020 mit 9,6 ‰ immer noch höher als die Sterbeziffer mit 7,9 ‰. Die Lebenserwartung lag 2020 bei 80,61 für Männer und bei 84,05 Jahren für Frauen (insgesamt 82,34 Jahre).
Bei der Volkszählung 2001 bezeichneten sich 68,7 % der Bevölkerung als „Kanadier“. 29,6 % waren französischer, 4,1 % irischer, 3,5 % italienischer, 3,1 % englischer und 2,2 % schottischer Abstammung (Mehrfachantworten möglich). Der Anteil der statistisch erfassten Ureinwohner ist gering (1,8 % First Nations, 0,3 % Métis, 0,1 % Inuit). Allerdings verweigern zahlreiche Stämme aus politischen Gründen die Teilnahme an Volkszählungen, solange ihr Status rechtlich nicht endgültig geklärt ist.
=== Sprache ===
Québec ist die einzige kanadische Provinz, deren Amtssprache ausschließlich Französisch ist. 79,0 % gaben bei der Volkszählung 2001 an, französischer Muttersprache zu sein. Der Anteil der englischen Muttersprachler betrug 7,7 %. Allerdings gaben 40,8 % an, fließend zweisprachig (Französisch und Englisch) zu sein. Im Großraum Montréal ist der Anteil der französischen Muttersprachler mit 65 % merklich geringer als im Rest der Provinz. Die sogenannten „Allophonen“, deren Muttersprache weder Französisch noch Englisch ist, machen 11,9 % der Bevölkerung aus. Den größten Anteil hat das Italienische mit 1,8 %, gefolgt von Arabisch (1,6 %) und Spanisch (1,5 %).43.665 Personen (0,6 %) gaben 2011 an, eine Sprache der Ureinwohner zu sprechen. 2008 sprachen 47 % aus der Gesamtzahl der First Nations von 71.000 eine Sprache der Ureinwohner als Muttersprache. Dies sind insbesondere Cree und andere Algonkin-Sprachen sowie Inuktitut.
Das gesprochene Französisch in Québec variiert diatopisch, diastratisch und diaphasisch, das heißt mit dem geographischen Ort, mit der sozialen Schicht und der Sprechsituation. Das Spektrum ist fließend zwischen internationalem Französisch (zum Beispiel in den Medien) mit einigen lexikalischen Québecismen einerseits und für Fremde fast unverständlichen, stark durch andere Sprachen (vor allem Englisch) beeinflussten Dialekten („Joual“) andererseits. Die Umgangssprache liegt dazwischen, als ein in Aussprache und Vokabular stark gefärbtes Französisch.
=== Religion ===
Québec ist mit seinem hohen Anteil katholischer Christen einzigartig in Kanada. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in der Kolonie Neufrankreich anfangs nur Katholiken angesiedelt wurden, später auch auf die Einwanderung von Iren. Als Schutzpatron Québecs gilt Johannes der Täufer.
90,2 % der Bevölkerung bezeichneten sich bei der Volkszählung 2001 als Christen (83,4 % Katholiken, 4,7 % Protestanten, 1,4 % Orthodoxe und 0,8 % andere Christen). Der Anteil der Muslime lag bei 1,5 %, jener der Juden bei 1,3 %. Zum Buddhismus bekannten sich 0,6 %, zum Hinduismus 0,3 %. Keine Angaben machten 5,8 %.
=== Größte Städte nach Einwohnerzahl ===
Quelle: Statistics Canada
== Politik ==
Das politische System Québecs basiert auf dem Westminster-System, mit einem Einkammerparlament, der Nationalversammlung von Québec (Assemblée nationale du Québec). Diese besteht aus 125 Mitgliedern, die in ebenso vielen Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt werden. Der Vizegouverneur kann in Absprache mit dem Premierminister innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens (spätestens nach fünf Jahren) das Parlament vorzeitig auflösen und Neuwahlen ansetzen, der britischen Parlamentstradition entsprechend. Premierminister ist stets der Vorsitzende derjenigen Partei, welche die meisten Sitze errungen hat. Bis 1968 existierte ein Oberhaus mit ernannten Mitgliedern, der Legislativrat.
Seit dem 18. Oktober 2018 hat François Legault von der Coalition Avenir Québec das Amt des Premierministers inne; seine Partei bildet mit 74 Sitzen eine Mehrheitsregierung. Ebenfalls in der Nationalversammlung vertreten sind die separatistische Parti Québécois, die Parti libéral du Québec und die linksalternative Québec solidaire. Amtierender Vizegouverneur ist J. Michel Doyon.
Québec stehen zurzeit 75 Sitze im Unterhaus und gemäß der kanadischen Verfassung 24 Sitze im Senat von Kanada zu. Wie in Kanada üblich, wird auch diese Provinz auf Bundesebene von Parteien vertreten, die nicht in der Provinzpolitik involviert sind. Seit der Unterhauswahl am 2. Mai 2011 hält die Neue Demokratische Partei 59 Sitze und der separatistische Bloc Québécois nur noch vier Sitze, daneben entsendet Québec sieben Vertreter der Liberalen Partei und fünf Vertreter der regierenden Konservativen Partei.
In einigen Staaten unterhält die Regierung von Québec Auslandsvertretungen. In Deutschland befindet sie sich in München (Bayern unterhält gleichsam eine Vertretung in Montréal) mit einem Büro in Berlin, direkt nördlich vom Brandenburger Tor, unweit der Französischen Botschaft.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
Québecs Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach gewandelt.
=== Energie und Rohstoffe ===
Seit 1971 treibt die Provinzregierung den Bau von Wasserkraftwerken im Einzugsbereich der James Bay voran, vor allem am Fluss La-Grande, mit einer Länge von 893 km. Das Baie-James-Wasserkraftprojekt wird von Hydro-Québec betrieben, die sich in Provinzbesitz befindet. Heute produzieren die Kraftwerke in dieser Region pro Jahr bereits über 83 Terawattstunden (TWh) an Energie.
Das Gebiet von Québec erweist sich als besonders reich an natürlichen Ressourcen mit seinen Seen, Flüssen, riesigen Wäldern. Infolgedessen gehören die Papier- und Holzindustrie sowie die Gewinnung elektrischer Energie aus Wasserkraft zu den wichtigsten Industrien der Provinz.
=== Landwirtschaft ===
Das Tal des Sankt-Lorenz ist eine sehr fruchtbare Region; man baut Obst, Gemüse und Getreide an. Auch ist Québec der wichtigste Lieferant von Ahornsirup. Daneben wird Viehzucht betrieben.
=== Industrie ===
In den großen Städten findet man auch zahlreiche andere Industrieunternehmen. Zu den größten Industriebereichen zählen Luft- und Raumfahrt, Informationstechnologie, Software und Multimedia.
=== Tourismus ===
Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftszweig in der Provinz mit etwa 28 Millionen Besuchern im Jahr 2011. Von ihm sind 400.000 Arbeitsplätze direkt und ca. 48.000 indirekt abhängig. Neben kanadischem Binnentourismus kommen die meisten Touristen (in dieser Reihenfolge) aus den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Mexiko und Japan.
== Umwelt ==
Das kanadische Umweltministerium Environment Canada verwaltet über Parcs Canada zwei Nationalparks in der Provinz, die zusammen eine Fläche von 781 km² aufweisen; hinzu kommt eine sogenannte Réserve de parc national mit 150 km², sowie eine Aire marine nationale de conservation, der Parc marin du Saguenay–Saint-Laurent mit 1246 km². Dieses Schutzgebiet wird zusammen mit dem Québecer Ministerium verwaltet. Als Schutzgebiet gilt schließlich auch die Grosse-Île-et-le-Mémorial-des-Irlandais, die allerdings eher von historischer Bedeutung ist. Für das Ministerium verwaltet der Service canadien de la faune 8 gesonderte Tierschutzgebiete (Réserves nationales de faune) mit 58 km² und 27 Schutzgebiete für Zugvögel mit zusammen 518 km² Fläche. Schließlich kommen noch 71 Réserves écologiques hinzu, mit insgesamt 950 km² Fläche. Zu 67 von ihnen ist der Zugang strikt verboten. 21 Parcs nationaux kommen hinzu, deren irreführender Name zu Verwechslungen mit den kanadischen Nationalparks führt, doch entspricht ihr Status eher dem eines Provinzparks. Zur Unterscheidung werden sie als Parcs nationaux du Québec im Unterschied zu den echten Nationalparks bezeichnet, die Parcs nationaux du Canada heißen. Die Québecer Schutzgebiete sind ganz überwiegend klein, und ihre Bedeutung für den Erhalt von Tierarten wie dem Karibu ist eher gering. Mit dem 2009 eingerichteten Parc national Kuururjuaq im Norden Labradors ist erstmals ein großer Park von über 4000 km² entstanden.
Einer gesonderten Commission de la capitale nationale, die dem Ministerium für Transport, Infrastruktur und Gesellschaften untersteht, untersteht der Parc de la Gatineau und der Parc du Lac-Leamy, die eine Fläche von 364 km² aufweisen.
== Bildung und Forschung ==
Québec verfügt über 18 Hochschulen bzw. Universitäten, die international gut aufgestellt sind. In einigen Universitäten wird in französischer Sprache, in anderen auf Englisch gelehrt. Zu den größten Universitäten der Provinz gehören die Universität Montreal mit rund 55.000 Studenten in fünfzehn Fachbereichen, die Concordia University mit 43.000 Studenten in sechs Fachbereichen und die Université du Québec à Montréal, an der über 41.000 Studenten in sieben Fachbereichen immatrikuliert sind. Von größerer internationaler Bedeutung ist darüber hinaus die englischsprachige Montrealer Universität McGill. Daneben befinden sich mehrere mittelgroße staatliche Hochschulen sowie kleinere private Einrichtungen, die auch Programme auf Englisch anbieten. In der Regel bieten alle Hochschulen staatlich anerkannte Abschlüsse auf Bachelor-, Master und Promotionsebene an.
== Siehe auch ==
Bremer Institut für Kanada- und Québec-Studien
Musée de l’Amérique francophone, historisches Museum in der Stadt Québec
== Literatur ==
Alain Gagnon, Ingo Kolboom, Boris Vormann (Hrsg.): Québec. Staat und Gesellschaft. Synchron, Heidelberg 2011 ISBN 978-3-939381-35-8
Daniel Chartier: Littérature, immigration et imaginaire au Québec et en Amérique du Nord. L'Harmattan, Paris 2006 ISBN 2-296-00264-1
Christian Dufour: Le défi français – regards croisés sur la France et le Québec, Éditions du Septentrion, Sillery, QC 2006 ISBN 2-89448-459-3
Kristina Eichhorst: Ethnisch-separatistische Konflikte in Kanada, Spanien und Sri Lanka (= Kieler Schriften zur politischen Wissenschaft, Bd. 15). Lang, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-631-54069-8.
Christian Lammert: Nationale Bewegungen in Québec und Korsika 1960–2000. Campus, Frankfurt 2004 ISBN 3-593-37466-8
Yves Bourdon, Jean Lamarre: Histoire du Québec. Laval, Québec 1998 ISBN 2-7616-0753-8
Victor Armony: Le Québec expliqué aux immigrants. VLB Éditeur, Montréal 2007 ISBN 978-2-89005-985-6
in Deutsch: Leben in Québec. Soziokulturelle Betrachtungen eines Zugewanderten. Übers. Regine Scheffer. Synchron, Heidelberg 2010 ISBN 978-3-939381-34-1
Helga Bories-Sawala: Découvrir le Québec. Une Amérique qui parle français. Reihe: Einfach Französisch, Textausgaben für die Schulpraxis. Schöningh, Braunschweig 2010 ISBN 3-14-046270-0 (in frz. Sprache, mit dt. Vokabeln)
dies., gleicher Titel, Reihe: Unterrichtsmodelle, ebd. 2011 ISBN 3-14-046271-9
Hans-Jürgen Lüsebrink: "Le livre aimé du peuple". Les almanachs québécois de 1777 à nos jours. Reihe: Cultures québécoises, Abt. Histoire. Presses de l'Université Laval, 2014 ISBN 978-2-7637-1680-0 ebook beim Verlag
Benoît Dupont, Émile Pérez: Les polices au Québec. Reihe: Que sais-je ? PUF, Paris 2011
Henri-Bernard Jean, Claire Jean, Real Bosa: Histoire des communautés religieuses au Québec. Bibliographie. Bibliothèque nationale du Québec, Montréal 1984
Manuel Meune: 1664-2008: de l’oubli du fait allemand à l’émergence d’une mémoire germano-québécoise, Zeitschrift für Kanada-Studien ZKS, Jg. 28 no.2, 2008, S. 9–27 (in Französisch, Abstract in Engl, Dt.) Deutschsprachige in Quebec, Volltext
== Weblinks ==
Québec. In: The Canadian Encyclopedia. Abgerufen im 1. Januar 1 (englisch, français).
Website der Regierung Québecs (französisch, englisch)
Vertretungen der Regierung von Québec im Ausland
Deutschsprachige Länder, Vertretung für Deutschland, Österreich und die Schweiz, in deutscher Sprache
Die maritime Strategie. Québec, ein Partner in Nordamerika. Über Quebec als Hafen von kontinentaler Bedeutung, einschl. angenommener eisfreier Nordwestpassage. In Deutsch
Geographische Informationen
Statistisches Institut der Provinz Québec
Sterben auf Französisch, Der Spiegel, 1983
Association Québécoise en Allemagne, Deutsch-Quebecer Vereinigung, Seite von Quebecern in Deutschland und deutschen Interessierten, mit jährlichen Aktivitäten zum Cabane à sucre (Hüttenfest) des Ahornsirups im Februar, zum Quebecer Nationalfeiertag im Juni, auch Fest Johannes des Täufers genannt, und zum Erntedankfest, ursprünglich speziell auf die Maisernte bezogen, im September.
L’identité québécoise expliquée aux Allemand.e.s : le discours suscité dans les manuels de culture étrangère, in Trajectoires. Travaux des jeunes chercheurs du CIERA. Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne, 2016, Hors série n° 1, von Sophie Dubois
Québec und die Zerbrechlichkeit Kanadas, von Wilfried von Bredow, Alfred Pletsch. "Ahornblätter. Marburger Beiträge zur Kanada-Forschung", 11. Marburg 1998. Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 84 (mit einem historischen Abriss der britisch-französischen Rivalität in Nordamerika)
La disparition de l’écrivain catholique au Québec 1945-2015, von Denis Saint-Jacques, Contextes 23, 2019
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Qu%C3%A9bec |
Tellur | = Tellur =
Tellur [tʰɛˈluːɐ̯] (lat. tellus „Erde“) ist ein seltenes chemisches Element mit dem Elementsymbol Te und der Ordnungszahl 52. Im Periodensystem steht es in der sechsten Hauptgruppe, bzw. der 16. IUPAC-Gruppe, und 5. Periode und zählt damit zu den Chalkogenen. Seine Häufigkeit entspricht ungefähr der von Gold, mit dem es auch verschiedene Verbindungen eingeht, die in der Natur als Minerale auftreten. Kristallines Tellur ist ein silberweißes, metallisch glänzendes Halbmetall, das im Aussehen Zinn und Antimon ähnelt. Es reagiert spröde auf mechanische Belastung und kann daher leicht pulverisiert werden. In chemischen Verbindungen mit Nichtmetallen steht es in seinem Verhalten Schwefel und Selen nahe, in Legierungen und intermetallischen Verbindungen zeigt es jedoch sehr ausgeprägte (halb-)metallische Eigenschaften.
== Geschichte ==
Tellur wurde 1782 von dem österreichischen Chemiker und Mineralogen Franz Joseph Müller von Reichenstein (1740–1825) bei Untersuchungen von Gold-Erzen aus der Grube Mariahilf am Berg Faczebaja bei Zlatna (dt. Klein Schlatten, ung. Zalatna) nahe Sibiu (dt. Hermannstadt, Siebenbürgen, Rumänien) entdeckt, die eine geringere Goldausbeute als erwartet erbrachten. Er war durch die wissenschaftliche Abhandlung Nachricht vom gediegenen Spiesglaskönig in Siebenbürgen – Spiesglaskönig bezeichnet gediegen Antimon, Spiesglas ist eine alte Bezeichnung für das Mineral Stibnit (Amntimonit, Grauspießglanz Sb2S3) – von Ignaz von Born (1742–1791) auf die Erze aufmerksam geworden. Von Born hielt das gediegene Metall in den Golderzen für Antimon und führte die geringe Ausbeute auf eine Verbindung des Goldes mit Antimon zurück. Müller von Reichenstein widersprach dieser Ansicht und hielt es zunächst für „geschwefelten Wismuth“. Nach weiteren Untersuchungen, deren Ergebnisse er zwischen 1783 und 1785 in einer vierteiligen Abhandlung publizierte, schloss er jedoch auch Bismut aus, da das Metall, im Gegensatz zu Antimon und Bismut, praktisch nicht mit Schwefelsäure reagierte. Er verlieh der metallischen Phase den Namen metallum problematicum (auch aurum problematicum beziehungsweise aurum paradoxum). Nach heutiger Erkenntnis besteht es neben gediegenem Tellur aus den Mineralen Nagyágit (Blättererz, AuPb(Pb,Sb,Bi)Te2–3S6) und Sylvanit (Schrifttellur, (Au,Ag)Te2). Müller von Reichenstein vermutete, dass metallum problematicum „…vielleicht ein neues bisher noch nicht gekanntes Halbmetall seye?“, wollte seine Befunde jedoch erst von dem schwedischen Mineralogen und Chemiker Torben Olof Bergman (1735–1784) bestätigen lassen. Im Jahr 1783 schickte er Proben des Erzes zur Begutachtung an Bergman, jedoch erhielt er keine definitiven Antworten. Bergman verstarb 1784 und die Untersuchungen an metallum problematicum wurden 1785 vorerst eingestellt.
Erst zwölf Jahre später, im Jahr 1797, erhielt Martin Heinrich Klaproth (1743–1817) in Berlin Proben der Erze von Müller von Reichenstein. Klaproth bekräftigte die Schlussfolgerungen aus Müller von Reichensteins Untersuchungen und sah genügend Hinweise für die Entdeckung eines neuen Elements. Im Januar 1798 würdigte Klaproth die Verdienste Müller von Reichensteins in einem Vortrag und schrieb ihm die Entdeckung des neuen Elements zu. Da Müller von Reichenstein dem Element keinen Namen gegeben hatte, entschied sich Klaproth für den Namen Tellur (lat. tellus: „Erde“):
Die originalen Handstücke des Probenmaterials von der Typlokalität Zlatna, das Klaproth zur Verfügung hatte, befinden sich heute im Museum für Naturkunde in Berlin.
Unabhängig von Müller von Reichenstein und Klaproth entdeckte 1789 der ungarische Chemiker und Botaniker Paul Kitaibel (1757–1817) das Tellur bei Untersuchungen von Golderzen aus dem Bergbauort Nagybörzsöny (Deutsch-Pilsen) in Ungarn. Klaproth erwähnte in seinem veröffentlichten Vortrag jedoch nur Müller von Reichenstein, obwohl er seit 1796 durch ein Manuskript Kitaibels auch Kenntnis von seinen Untersuchungen hatte. In einem Brief an Kitaibel erklärte Klaproth, der Inhalt des Manuskripts sei ihm entfallen und er habe bei den Untersuchungen der Erze Müller von Reichensteins keinen Zusammenhang mit seiner Arbeit gesehen. Klaproth überzeugte Kitaibel schließlich, dass die Entdeckung des Tellurs allein Müller von Reichenstein zugeschrieben werden sollte, da dieser bereits einige Jahre früher dieselben Beobachtungen an dem neuen Element machte.
Das Elementsymbol „Te“ wurde 1814 von Jöns Jakob Berzelius (1779–1848) vorgeschlagen und wird bis heute verwendet. Die erste Strukturaufklärung von kristallinem Tellur mit Hilfe der Röntgenbeugung an Pulverproben erfolgte 1924 in Manchester.
== Vorkommen ==
Tellur ist ein selten vorkommendes Element; sein Anteil an der Erdkruste beträgt ca. 0,01 ppm (g/t). Mit Gold, untergeordnet auch mit Silber, Kupfer, Blei und Bismut sowie den Platinmetallen kommt es selten gediegen, also in elementarer Form in der Natur, vor.
Gediegen Tellur gehört als Mineral zur Gruppe der Elemente, genauer der Halb- und Nichtmetalle und wird in der Systematik der Minerale nach Strunz unter der Nummer I/B.03-40 (8. Auflage) bzw. 1.CC.10 (9. Auflage), und nach Dana unter der Nummer 1.3.4.2 geführt.
Spuren bis hin zu größeren Mengen an Selen können in gediegen Tellur enthalten sein (Selentellur). Obwohl es sich bei Tellur um ein seltenes Element handelt, ist eine relativ große Anzahl von Mineralen bekannt, denn Tellur bildet eigene Minerale, weil es nur selten in Sulfiden oder Seleniden beziehungsweise Sulfaten oder Selenaten eingebaut wird; für diese Kristallgitter der leichteren Homologen ist es zu groß. Umgekehrt dagegen vertreten die beiden leichteren Homologen häufiger das Tellur auf seinen Gitterplätzen in Kristallstrukturen tellurhaltiger Minerale.
Tellur zeigt von allen Elementen die höchste Affinität zu Gold und findet sich daher in der Natur häufig in Form von Gold-Telluriden, Mineralen mit Tellurid- (Te2−) beziehungsweise Ditellurid-Anionen (Te22−). Neben Gold und anderen Edelmetallen bilden vor allem Blei und Bismut weitere natürliche Telluride, oft begleitend (Paragenesen) zu den gediegenen Metallen und Gold-Erzen.
Seltener sind Minerale mit Te4+-Kationen in der Kristallstruktur, wobei auch das wichtigste Oxid des Tellurs, das Tellurdioxid TeO2 in zwei Modifikationen als tetragonaler Paratellurit (α-TeO2) und orthorhombischer Tellurit (β-TeO2) in der Natur auftritt. Bei den weiteren Mineralen mit Tellur(IV)-Kationen handelt es sich um Oxotellurate(IV) (Tellurite), die komplexe [TeO3]2−- oder [TeO4]4−-Anionen enthalten. Minerale mit Te6+-Kationen in Form von oktaedrischen [TeO6]6−-Komplexanionen sind äußerst selten, es sind 21 Minerale bekannt, die größtenteils Kupfer und Blei enthalten. Neben den genannten Mineralen existieren in der Natur auch gemischtvalente Tellurminerale, darunter das Calcium-Oxotellurat(IV,VI) Carlfriesit CaTe3O8 mit einem Te4+:Te6+-Verhältnis von 2:1. Bei den Mineralen mit Te4+ und Te6+-Kationen handelt es sich um Sekundärminerale, die aus der Verwitterung von gediegen Tellur und Telluriden entstanden sind.
Tellurhaltige Minerale sind für die technische Gewinnung von Tellur ohne Bedeutung, da sie zu selten vorkommen und praktisch keine abbauwürdigen Lagerstätten existieren. Zu den bekannten Fundorten von gediegen Tellur beziehungsweise tellurhaltiger Minerale zählen neben der Typlokalität Zlatna (Siebenbürgen, Rumänien) auch Moctezuma (Mexiko), Cripple Creek (Colorado), Kalgoorlie (Australien) und Calaveras (Kalifornien). Bisher (Stand: 2012) sind 154 tellurhaltige Minerale bekannt, von denen allerdings fünf (Dilithium, Imgreit, Kurilit, Sztrokayit, Protojoseit) bisher noch nicht von der International Mineralogical Association (IMA) als eigenständige Minerale anerkannt bzw. als solche diskreditiert wurden. Eine Auswahl bekannter Minerale mit Tellur in verschiedenen Oxidationsstufen ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt.
== Gewinnung und Darstellung ==
Tellur wird zusammen mit Selen industriell ausschließlich aus Nebenprodukten der großtechnischen elektrolytischen Kupfer- und Nickel-Herstellung gewonnen. In den anfallenden Anodenschlämmen sind wasserunlösliche Edelmetall-Telluride und -Selenide der allgemeinen Formel M2Ch (M = Cu, Ag, Au; Ch = Se, Te) enthalten, die bei Temperaturen oberhalb 500 °C unter Luftsauerstoff (O2) mit Soda (Natriumcarbonat Na2CO3) zur Reaktion gebracht werden. Die Edelmetall-Kationen (M+) werden dabei zu elementaren Metallen (M) reduziert, die Tellurid-Anionen zu Oxotelluraten(IV) (TeO32−) oxidiert:
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{\displaystyle \mathrm {{\overset {+I}{M_{2}}}{\overset {-II}{Te}}\ +\ {\overset {0}{O}}_{2}\ +\ Na_{2}C{\overset {-II}{O}}_{3}\ \longrightarrow \ Na_{2}{\overset {+IV}{Te}}{\overset {-II}{O}}_{3}+\ 2\ {\overset {0}{M}}\ +C{\overset {-II}{O}}_{2}\uparrow } }
Alternativ kann diese Umsetzung auch mit Salpeter (Natriumnitrat NaNO3) unter Luftausschluss und Bildung von Stickoxiden (NO und NO2) erfolgen:
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↑
{\displaystyle \mathrm {{\overset {+I}{M_{2}}}{\overset {-II}{Te}}\ +\ 2\ Na{\overset {+V}{N}}O_{3}\ \longrightarrow \ Na_{2}{\overset {+IV}{Te}}O_{3}+\ 2\ {\overset {0}{M}}\ +\ {\overset {+IV}{N}}O_{2}\uparrow \ +\ {\overset {+II}{N}}O\uparrow } }
Das entstandene Natriumtellurat(IV) Na2TeO3 wird anschließend in Wasser gelöst, wo es basisch reagiert und Hydrogentellurat(IV)-Ionen HTeO3− bildet. Die Abtrennung der Tellurate(IV) von den ebenfalls entstandenen Selenaten(IV) in der basischen Lösung erfolgt durch Neutralisation unter Zugabe von Schwefelsäure (H2SO4), wodurch in Wasser nahezu unlösliches Tellurdioxid TeO2 ausfällt:
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{\displaystyle \mathrm {2\ HTeO_{3}^{-}+\ H_{2}SO_{4}\ \longrightarrow \ 2\ TeO_{2}\downarrow \ +\ SO_{4}^{2-}\ +\ 2\ H_{2}O} }
Das Tellurdioxid kann entweder in Laugen durch Elektrolyse oder auf chemischem Weg durch Lösung in konzentrierten Mineralsäuren und Einleitung von Schwefeldioxid SO2 zu elementarem Tellur reduziert werden, wobei der Schwefel aus den SO2-Molekülen (bzw. den daraus in der Lösung gebildeten Sulfit-Ionen SO32−) oxidiert wird und Sulfat-Ionen (SO42−) entstehen:
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H
+
{\displaystyle \mathrm {{\overset {+IV}{Te}}O_{2}+\ 2\ {\overset {+IV}{S}}O_{2}\ +\ 2\ H_{2}O\ \longrightarrow \ {\overset {0}{Te}}\ +\ 2\ {\overset {+VI}{S}}O_{4}^{2-}\ +\ 4\ H^{+}} }
Zur Gewinnung von hochreinem Tellur (> 99,9 %) wird das Zonenschmelzverfahren angewendet.
Die Weltjahresproduktion von Tellur ist von 430 Tonnen im Jahr 2017 um 28 % auf 549 Tonnen im Jahr 2021 gestiegen und lag bei durchschnittlich 529,8 Tonnen pro Jahr (t/a), wobei das Maximum bei 620 Tonnen im Jahr 2019 lag. Zu den Hauptproduzenten zählen China (∅ 357,6 t/a), Japan (∅ 58,2 t/a), Russland (∅ 50,2 t/a), Schweden (∅ 40,8 t/a), Kanada (∅ 19,4 t/a) und Bulgarien (∅ 3,6 t/a). Eine Übersicht der Produktionsmengen der einzelnen Länder ist in der Tabelle dargestellt. Weitere Industrienationen wie Deutschland und Belgien produzieren wahrscheinlich ebenfalls Tellur, es liegen jedoch keine Zahlen vor. Der United States Geological Survey (USGS) schätzt die weltweit verfügbaren Reserven von Tellur im Jahr 2022 auf rund 31.000 Tonnen. Tellur wird 2022 von den USA als kritischer Rohstoff eingestuft, von der EU jedoch nicht.
== Modifikationen ==
=== Kristallines Tellur ===
Bei Standardbedingungen ist von Tellur nur ein kristallines Allotrop (Te-I oder α-Te(llur)) bekannt, das als kristallines, metallisches oder graues Tellur bezeichnet wird. Es ist isotyp zu grauem Selen, das heißt, es hat die gleiche Kristallstruktur. Tellur kristallisiert trigonal in der Raumgruppe P3121 (Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152 mit den Gitterparametern a = 445,6(1) pm und c = 592,1(2) pm (c/a = 1,33) sowie drei Formeleinheiten in der Elementarzelle.
Die nach der Hermann-Mauguin-Symbolik beschriebene Raumgruppe P3121 (Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152 erläutert die Zentrierung des Gitters sowie die vorhandenen Symmetrieelemente und deren räumliche Orientierung. „P“ bedeutet, dass das Bravais-Gitter primitiv zentriert ist. Auf die Angabe der Zentrierung folgen die vorhandenen Symmetrieelemente der Raumgruppe: „31“ beschreibt eine 31-Schraubenachse (Vervielfältigung eines Teilchens durch Drehung um 120° und Parallelverschiebung (Translation) um 1⁄3 in Richtung der Drehachse) parallel zur kristallographischen c-Achse ([001]), „2“ beschreibt eine 2-zählige Drehachse (Vervielfältigung durch Drehung um 180°) parallel zu den kristallographischen a-Achsen (<100> = [100], [010]), „1“ das Symmetrieelement der 1-zähligen Drehachse oder Identität (Vervielfältigung durch Drehung um 360°, das Teilchen bildet sich also auf sich selbst ab) parallel der sechs symmetrieäquivalenten Richtungen <120> (= [120], [210], [110], [120], [210], [110]). Für die Beschreibung kristallographischer Richtungen, siehe Millersche Indizes.
Die Kristallstruktur enthält nur ein kristallographisch unterscheidbares Telluratom mit den Lagekoordinaten x = 0,2636(1), y = 0 und z = 1⁄3, das sich in spezieller Lage auf der Wyckoff-Position 3a befindet. „Spezielle Lage“ bedeutet, dass die Atomlage mit einem Symmetrieelement der Raumgruppe zusammenfällt, das Telluatom befindet sich hierbei auf der 2-zähligen Drehachse (Lagesymmetrie: .2.). Alle weiteren Telluratome in der Kristallstruktur können durch die Symmetrieelemente der Raumgruppe aus diesem Atom erzeugt bzw. auf dieses zurückgeführt werden.
Da sich das Telluratom in seiner Lage auf der 2-zähligen Drehachse der Raumgruppe (P3121 (Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152) befindet, wird es primär durch die 31-Schraubenachse vervielfältigt. Dadurch entstehen spiralförmige Ketten aus kovalent gebundenen Telluratomen parallel zur c-Achse. Die Bindungslänge zwischen den Telluratomen innerhalb der Kette beträgt 284 pm, der Bindungswinkel liegt bei 103,1°. Die kovalenten Bindungen innerhalb der Kette sind in den Abbildungen rot hervorgehoben.
Jeweils eine Kette ist in den Abbildungen zur Verdeutlichung blau dargestellt, wobei sich das dunkelblaue Atom auf z = 1⁄3, das mittelblaue auf z = 2⁄3 und das hellblaue auf z = 1 beziehungsweise z = 0 befindet. Jedes dritte Atom innerhalb der Kette ist also deckungsgleich.
Jede Kette wird von sechs weiteren Ketten umgeben. Zwischen den Ketten existieren Van-der-Waals-Bindungen mit Te–Te-Abständen von 349 pm (grün gestrichelt), die durch die Unterschreitung des Van-der-Waals-Radius (2 · 206 pm = 412 pm) der Telluratome zustande kommen. Für ein einzelnes Telluratom ergibt sich dabei eine Koordinationszahl von 6, genauer 2+4, da 2 Atome aus der gleichen Kette stammen und damit einen geringeren Abstand als die weiteren 4 aus den Nachbarketten aufweisen. Als Koordinationspolyeder ergibt sich damit jeweils ein verzerrtes Oktaeder (gelb hervorgehoben).
Tellur kann auch in der Raumgruppe P3221 (Nr. 154)Vorlage:Raumgruppe/154 anstatt P3121 (Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152 mit denselben Gitterparametern kristallisieren. Die 32-Schraubenachse vervielfältigt ein Atom ebenfalls durch Drehung um 120°, anschließend wird es jedoch um 2⁄3 (anstatt 1⁄3) in Richtung der Drehachse verschoben. Dadurch entstehen ebenfalls spiralförmige Ketten, die sich jedoch im Uhrzeigersinn statt im Gegenuhrzeigersinn (bei der 31-Schraubenachse) entlang der c-Achse winden. Die Kristallstruktur in der Raumgruppe P3221 (Nr. 154)Vorlage:Raumgruppe/154 („Linksform“) ist somit das Spiegelbild der Struktur in der Raumgruppe P3121 (Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152 („Rechtsform“). Das Auftreten von spiegelbildlichen Kristallformen wird in der Kristallographie als Enantiomorphie bezeichnet.
Das Kristallsystem von Tellur wird – vor allem in englischsprachiger Literatur – zum Teil auch als hexagonal angegeben. Dem hexagonalen und trigonalen Kristallsystem liegt dasselbe Gittersystem zugrunde, da beide der hexagonalen Kristallfamilie angehören. Eine hexagonale Symmetrie würde jedoch zwingend das Vorhandensein eines Symmetrieelements mit Drehung um 60° – d. h. eine 6-zählige Dreh- (6), Drehinversions- (6) oder Schraubenachse (6n) – voraussetzen. Die Kristallstruktur von Tellur beinhaltet jedoch nur eine 31- oder 32-Schraubenachse mit jeweils Drehung um 120° und gehört damit zweifelsfrei in das niedriger symmetrische trigonale Kristallsystem.
==== Hochdruck-Modifikationen des Tellurs ====
In Hochdruckexperimenten mit kristallinem Tellur (Te-I oder α-Tellur) konnten weitere Modifikationen beschrieben werden. Die Angaben zu den Druckbereichen für die Stabilität sowie die Raumgruppen der Hochdruck-Modifikationen variieren zum Teil in der Literatur:
Te-II kristallisiert monoklin im Druckbereich von 4 bis 6,6 GPa. Als mögliche Raumgruppen werden in der Literatur P21 (Nr. 4)Vorlage:Raumgruppe/4 oder C2/m (Nr. 12)Vorlage:Raumgruppe/12 genannt.
Te-III soll orthorhombisch kristallisieren und im Druckbereich oberhalb 6,6 GPa stabil sein. Für diese Modifikation existiert jedoch nur eine theoretische Berechnung in der Raumgruppe Imma (Nr. 74)Vorlage:Raumgruppe/74.
Te-IV kristallisiert trigonal in der Raumgruppe R3m (Nr. 166)Vorlage:Raumgruppe/166 und entspricht der β-Struktur des höheren Homologen Polonium. Es ist im Druckbereich von 10,6 bis 27 GPa stabil. Die Abstände der Telluratome innerhalb der Ketten und zu benachbarten Ketten sind in dieser Modifikation gleich und betragen jeweils 300 pm, wodurch sich die höhere Symmetrie im Vergleich zu Te-I erklärt.
Te-V soll oberhalb von 27 GPa stabil sein. Für diese Modifikation wird ein kubisch-raumzentriertes Gitter (Raumgruppe Im3m (Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229) angenommen.
=== Amorphes Tellur ===
Die unbeständige amorphe Modifikation ist ein braunes Pulver und kann aus Telluriger Säure (H2TeO3) durch Reaktion mit Schwefliger Säure (H2SO3) beziehungsweise Sulfit-Ionen (SO32−) dargestellt werden. Die Sulfit-Ionen werden dabei zu Sulfat-Ionen (SO42−) oxidiert während die Te4+-Kationen zu elementarem Tellur reduziert werden:
H
2
T
e
+
I
V
O
3
+
2
S
+
I
V
O
3
2
−
⟶
T
e
0
↓
+
2
S
+
V
I
O
4
2
−
+
H
2
O
{\displaystyle \mathrm {H_{2}{{\overset {+IV}{Te}}O_{3}\ +\ 2\ {\overset {+IV}{S}}O_{3}^{2-}\longrightarrow \ {\overset {0}{Te}}\downarrow \ +\ 2\ {{\overset {+VI}{S}}O_{4}^{2-}}\ +\ H_{2}O}} }
Amorphes Tellur wandelt sich unter Standardbedingungen langsam in die thermodynamisch stabile – oben beschriebene – kristalline Modifikation Te-I um.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Kristallines Tellur ist ein intrinsischer direkter Halbleiter mit einer Bandlücke von 0,334 eV. Die elektrische Leitfähigkeit lässt sich wie bei allen Halbleitern durch Temperaturerhöhung oder Belichtung steigern, dies führt bei Tellur jedoch nur zu einem geringen Anstieg. Die elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit verhält sich bei Tellur richtungsabhängig, das heißt anisotrop. Kristallines Tellur ist ein weiches (Mohshärte 2,25) und sprödes Material, das sich leicht zu Pulver verarbeiten lässt. Durch Druckerhöhung wandelt sich Tellur in weitere kristalline Modifikationen um. Oberhalb von 450 °C geht Tellur in eine rote Schmelze über, bei Temperaturen über 990 °C liegt Tellur als gelbes diamagnetisches Gas aus Te2-Molekülen vor. Bei Temperaturen über 2000 °C zerfallen die Te2-Moleküle in einzelne Atome.
=== Chemische Eigenschaften ===
Kristallines Tellur ist unlöslich in Wasser und schlecht löslich in den Mineralsäuren Salzsäure und Schwefelsäure sowie in Laugen. Gut löslich ist es hingegen in Salpetersäure, da diese ein sehr starkes Oxidationsmittel ist und elementares Tellur zu Telluraten mit der stabilen Oxidationsstufe +IV oxidiert. Tellurschmelzen greifen Kupfer, Eisen und rostfreien Edelstahl an.
In Verbindungen mit Nichtmetallen verhält sich Tellur wie das leichtere Gruppenmitglied Selen. An Luft verbrennt es in einer grün gesäumten, blauen Flamme zu Tellurdioxid TeO2:
T
e
+
O
2
⟶
T
e
O
2
{\displaystyle \mathrm {Te\ +\ O_{2}\longrightarrow \ TeO_{2}} }
Tellur reagiert spontan mit Halogenen unter Bildung von Tellurhalogeniden. Bemerkenswert ist hierbei, dass Tellur im Gegensatz zu den leichteren Homologen Selen und Schwefel auch thermodynamisch stabile Iodide bildet, darunter Telluriodid TeI mit der Oxidationsstufe +I. Mit unedlen Metallen wie zum Beispiel Zink reagiert es heftig zu den entsprechenden Telluriden.
== Isotope ==
Von Tellur sind Isotope mit Massenzahlen zwischen 105 und 142 bekannt. Natürliches Tellur ist ein Mischelement, das aus acht Isotopen besteht, von denen fünf (122Te, 123Te, 124Te, 125Te, 126Te) stabil sind. Das Isotop 123Te sollte theoretisch unter Elektroneneinfang zu 123Sb zerfallen. Dieser Zerfall wurde jedoch noch nicht beobachtet; die untere Grenze für seine Halbwertszeit beträgt 9,2 · 1016 Jahre (92 Billiarden Jahre). Das Isotop 120Te geht über den doppelten Elektroneneinfang direkt in 120Sn über. Die Isotope 128Te und 130Te wandeln sich durch Emission von Betastrahlung (Doppelter Betazerfall) in 128Xe beziehungsweise 130Xe um.
Den größten Anteil an natürlichem Tellur bildet zu ungefähr einem Drittel das Isotop 130Te mit einer Halbwertszeit von 7,9 · 1020 Jahren, gefolgt vom Isotop 128Te. Die durchschnittliche Atommasse der natürlichen Tellur-Isotope beträgt daher 127,60 und ist damit größer als die des im Periodensystem folgenden Reinelements Iod mit 126,90. 128Te gilt als das Isotop mit dem langsamsten Zerfall aller nichtstabilen Isotope sämtlicher Elemente. Der äußerst langsame Zerfall mit einer Halbwertszeit von 7,2 · 1024 Jahren (7 Quadrillionen Jahren, d. h. in 1 Kilogramm zerfällt alle 18 Monate ein Atom) konnte nur aufgrund der Detektion des Zerfallsproduktes (128Xe) in sehr alten Proben natürlichen Tellurs festgestellt werden.Von den übrigen Isotopen hat das Kernisomer 121mTe mit 154 Tagen die längste Halbwertzeit. Auch bei den Isotopen 127Te und 129Te liegen die Halbwertszeiten der Isomere über denen des Grundzustands. Als Tracer wird am häufigsten das Isotop 127Te verwendet, gefolgt von 121Te. Die Isotope 127Te und 129Te treten auch als Spaltprodukte bei der Kernspaltung in Atomreaktoren auf.
→ Siehe auch: Liste der Tellur-Isotope
== Verwendung ==
Tellur ist ein technisch weniger bedeutendes Element, da es teuer in der Herstellung ist und in der Verwendung häufig andere Elemente beziehungsweise Verbindungen gleichwertig sind. 2016 wurde für elementares, polykristallines und dotiertes Tellur thermoelektrisches Verhalten mit einer hohen Gütezahl im Bereich zwischen Raumtemperatur und 400 °C nachgewiesen. Elementares Tellur wird in der Metallindustrie unter anderem als Zusatz (< 1 %) für Stahl, Gusseisen, Kupfer- und Blei-Legierungen sowie in rostfreien Edelstählen verwendet. Es fördert die Korrosionsbeständigkeit und verbessert die mechanischen Eigenschaften sowie die Bearbeitbarkeit. Als Halbleiter wird reines Tellur bisher nur wenig eingesetzt, meist wird Tellur in II-VI-Verbindungshalbleitern verwendet. Cadmiumtellurid CdTe wird z. B. in Fotodioden und Dünnschicht-Solarzellen zur Stromerzeugung aus Licht verwendet.
Bismuttellurid Bi2Te3 wird in Thermoelementen zur Stromerzeugung in thermoelektrischen Generatoren (z. B. in Radionuklidbatterien) bzw. in Peltier-Elementen zur Kühlung eingesetzt.
Kombinationen aus Germanium- GeTe und Antimon-Telluriden Sb2Te3 werden in Phasenwechselmaterialien als Bestandteil optischer Speicherplatten (z. B. CD-RW) oder in neuartigen Speichermaterialien wie Phase Change Random Access Memory verwendet.
Gläser aus Tellurdioxid TeO2 werden aufgrund der hohen Brechungsindices anstelle von Kieselglas SiO2 in Lichtwellenleitern eingesetzt.
In der Mikrobiologie wird mit farblosem Kaliumtellurat(IV) K2TeO3 versetzter Agar als selektives Nährmedium zum Nachweis von Staphylokokken und Corynebacterium diphtheriae benutzt. Die Bakterienkolonien erscheinen dabei als kleine schwarze Kugeln, da sie die Te4+-Kationen zu elementarem Tellur reduzieren und in ihre Zellen einlagern.
Medizinische Verwendung fand Tellur (bzw. Kaliumtellurat) erstmals 1890 zur Behandlung von nächtlichen Schweißausbrüchen bei an Tuberkulose erkrankten Patienten.Weiterhin werden geringe Mengen von Tellur zur Vulkanisierung von Gummi, in Sprengkapseln und zum Färben von Glas und Keramik verwendet. Die Salze des Tellurs werden teilweise zur Erzeugung einer grasgrünen Farbgebung bei Feuerwerken verwendet.
== Sicherheitshinweise und Toxizität ==
Tellur ist in löslicher Form ein für den menschlichen Organismus giftiges Element und wurde daher in der Vergangenheit als giftig eingestuft. Da elementares Tellur jedoch sehr schlecht in Wasser und körpereigenen Säuren löslich ist, wurde es auf gesundheitsschädlich herabgestuft. Studien der Niederländischen Organisation für Angewandte Naturwissenschaftliche Forschung (TNO) zeigten, dass der LD50 (oral)-Wert für Ratten bei > 5000 mg/kg liegt. Der in vielen Sicherheitsdatenblättern angegebene Wert von 83 mg/kg aus dem Buch Toxicometric Parameters of Industrial Toxic Chemicals under single Exposure von N.F. Ismerow, der aus dem Jahr 1982 stammt, gilt nur für leichtlösliche Tellurverbindungen. Trotzdem verwenden verschiedene Hersteller für elementares Tellur (Pulver) weiterhin den alten LD50-Wert und die Einstufung giftig in Verbindung mit dem H-Satz 301 („Giftig beim Verschlucken“).Tellur ist nicht so giftig wie das Selen. Dies steht in Analogie zu den benachbarten Elementen der 5. Hauptgruppe, wo das Antimon ebenfalls weniger giftig als das Arsen ist. Gelangt Tellur vor allem in Form von leichtlöslichen Tellurverbindungen wie Alkalimetall-Tellurate (zum Beispiel Na2TeO3) durch Verschlucken (peroral) in den Körper, bildet sich durch Reduktion giftiges Dimethyltellurid (Me2Te: H3C–Te–CH3), das zur Schädigung von Blut, Leber, Herz und Nieren führen kann. Da leichtlösliche Tellurverbindungen dabei weit mehr Tellur freisetzen, werden diese auch als gefährlicher eingestuft. Tellurvergiftungen machen sich durch einen intensiven, zuerst 1824 von Christian Gottlob Gmelin (bei seinen erstmals vorgenommenen Untersuchungen der Wirkung von Tellur auf Lebewesen) beschriebenen Knoblauchgeruch der Atemluft bemerkbar, der durch das Dimethyltellurid hervorgerufen wird. Dieser entfernt sich erst nach mehreren Wochen und entfaltet sich selbst bei sehr geringen Mengen, die noch keine schwerwiegenden Vergiftungen hervorrufen. Dieser Knoblauchgeruch kann, im Gegensatz zu echtem Knoblauch, nicht durch Zähneputzen entfernt werden. Auch setzt dieser sich in einem Raum fest und entfernt sich erst nach mehreren Stunden. Es wird ebenfalls über die Haut langsam ausgeschieden.
Tellurstäube können sich in Luft selbst entzünden und fein verteilt in entsprechender Konzentration auch explosiv reagieren, wobei sich jeweils Tellurdioxid TeO2 bildet. Wie andere Metallstäube kann Tellurpulver auch mit Interhalogenverbindungen wie Brompentafluorid BrF5 explosiv reagieren. Eine Maximale Arbeitsplatz-Konzentration (MAK) für Tellur ist nicht festgelegt.
== Nachweis ==
Elementares Tellur kann in heißer konzentrierter Schwefelsäure (H2SO4) durch Oxidation des Tellurs unter Bildung des roten Te42+-Kations (Tetratellur-Dikation) nachgewiesen werden. Ein Teil der Schwefelsäure wird bei der Reaktion zu Schwefliger Säure (H2SO3) reduziert, die aufgrund der hohen Temperaturen in Wasser (H2O) und ihr Anhydrid Schwefeldioxid (SO2) zerfällt, welches als Gas entweicht:
4
T
e
+
3
H
2
S
O
4
⟶
T
e
4
2
+
+
2
H
2
O
+
S
O
2
↑
+
2
H
S
O
4
−
{\displaystyle \mathrm {4\ Te\ +\ 3\ H_{2}SO_{4}\longrightarrow \ Te_{4}^{2+}\ +\ 2\ H_{2}O+\ SO_{2}\uparrow \ +\ 2\ HSO_{4}^{-}} }
Die Farbe des quadratisch-planar aufgebauten Te42+-Kations kommt durch sechs delokalisierte π-Elektronen zustande, die einen Teil des sichtbaren Lichts absorbieren. Die übrigen, nicht absorbierten Wellenlängen des Lichts ergeben die Komplementärfarbe Rot.
Tellurat und Tellurit können mittels Polarographie speziiert, d. h. selektiv nebeneinander bestimmt werden. Während die Stufe des Tellurats bei −1,66 V liegt, erscheint diejenige des Tellurits bei −1,22 V (gegen SCE, 0,1 M Natronlauge). Beide Tellurspezies werden dabei in einem Schritt zum Tellurid reduziert. Spuren von 0,03 % Tellurat bzw. 0,003 % Tellurit sind auf diese Weise erfassbar. Wesentlich nachweisstärker sind die Methoden der Atomspektroskopie. Während man mit der Flammen-AAS eine Nachweisgrenze von 20 µg/l erreicht, liegt dieser Wert bei der Graphitrohr-AAS (0,2 µg/l) sowie der Hydridtechnik (0,02 µg/l) noch wesentlich niedriger.
== Tellurverbindungen ==
In Verbindungen tritt Tellur am häufigsten in den Oxidationsstufen −II (Telluride) und +IV (Tetrahalogenide, Tellurdioxid und Tellurate(IV), veraltet Tellurite) auf. Seltener sind die Oxidationsstufen +VI (Tellurate(VI)) und +II (Dihalogenide) sowie −I (Ditelluride) und +I (Monohalogenide, nur bekannt als TeI).
=== Wasserstoffverbindungen ===
Tellurwasserstoff H2Te ist ein farbloses, sehr giftiges Gas, das durch Reaktion von Telluriden (MxTey) mit starken Säuren, zum Beispiel Salzsäure HCl, entsteht. Aus den Elementen (Wasserstoff und Tellur) ist die Verbindung als stark endotherme Verbindung nur bei Temperaturen über 650 °C darstellbar. In Wasser gelöst (Tellurwasserstoffsäure) reagiert es sauer, wobei die Säurestärke in etwa der Phosphorsäure entspricht. An der Luft zersetzt sich die wässrige Lösung umgehend zu Wasser und elementarem Tellur.
=== Sauerstoffverbindungen ===
Tellurdioxid (Tellur(IV)-oxid) TeO2 ist ein farbloser kristalliner Feststoff und das wichtigste Oxid des Tellurs. Es entsteht bei der Verbrennung von elementarem Tellur mit Luft. Es ist das Anhydrid der schwach amphoteren und unbeständigen Tellurigen Säure H2TeO3. Tellurdioxid existiert in einer orthorhombischen (Tellurit) und einer tetragonalen (Paratellurit) Modifikation, die in der Natur auch als Minerale auftreten.
Tellurtrioxid (Tellur(VI)-oxid) TeO3 ist ein gelber, trigonal/rhomboedrisch kristallisierender Feststoff und das Anhydrid der Orthotellursäure H6TeO6. Es entsteht bei der Entwässerung der Orthotellursäure durch starke Temperaturerhöhung. Die gelbe Farbe kommt durch Elektronenübertrag des Sauerstoffs auf das Tellur („Charge-Transfer“) zustande.
Tellurmonoxid (Tellur(II)-oxid) TeO ist ein weiteres, bei Standardbedingungen jedoch instabiles Oxid des Tellurs. Es wird als schwarzer amorpher Feststoff beschrieben und reagiert in feuchter Luft mit Sauerstoff zum stabileren Tellurdioxid TeO2.
Ditellurpentoxid (Tellur(IV)-Tellur(VI)-oxid) ist ein gemischtes Telluroxid mit Te4+- und Te6+-Kationen. Es ist neben Tellurtrioxid ein weiteres Produkt bei der thermischen Zersetzung der Orthotellursäure und kristallisiert im monoklinen Kristallsystem.
Tellurate sind die Salze der Orthotellursäure H6TeO6 und Metatellursäure H2TeO4 mit den Anionen [TeO6]6− beziehungsweise [TeO4]2−. Die Salze der Tellurigen Säure H2TeO3 mit dem Anion [TeO3]2− werden als Tellurate(IV) (veraltet Tellurite) bezeichnet.
=== Halogenverbindungen ===
Tetrahalogenide TeX4 mit Tellur in der Oxidationsstufe +IV sind die häufigsten Tellur-Halogenide. Diese sind mit allen Halogenen (Fluor, Chlor, Brom und Iod) bekannt. Bei allen Verbindungen handelt es sich um kristalline Feststoffe.
Dihalogenide TeX2 mit Tellur in der Oxidationsstufe +II sind nur mit Chlor, Brom und Iod bekannt, sie existieren nur in der Gasphase.
Monohalogenide TeX existieren von Tellur nur mit Iod als Telluriodid TeI. Es ist das einzig bekannte thermodynamisch stabile Mono-Iodid der Chalkogene und ein dunkler kristalliner Feststoff. Tellur hat in dieser Verbindung die ungewöhnliche Oxidationsstufe +I.
Subhalogenide enthalten Te mit einer Oxidationsstufe, die kleiner als +I ist. Stabile Vertreter sind Te2I, Te2Br und Te3Cl2.
Hexahalogenide TeX6 mit Tellur in der Oxidationsstufe +VI sind nur als Tellurhexafluorid TeF6 oder Tellurpentafluoridchlorid TeF5Cl bekannt. Beides sind farblose Gase. Tellurhexafluorid ist das reaktivste Chalkogenhexafluorid (neben Schwefelhexafluorid SF6 und Selenhexafluorid SeF6) und wird als einziges in Wasser hydrolysiert.
Weiterhin existieren von Tellur in der Oxidationsstufe +IV in wässriger Lösung auch Komplexverbindungen [TeX6]2− (X = F−, Cl−, Br−, I−) mit allen Halogenid-Ionen. Mit Ausnahme des Hexafluoro-Komplexes sind alle anderen perfekt oktaedrisch aufgebaut und können auch als Salze aus der Lösung gefällt werden (zum Beispiel gelbes Ammonium-hexachloridotellurat(IV) (NH4)2[TeCl6], rotbraunes Ammonium-hexabromidotellurat(IV) (NH4)2[TeBr6] oder schwarzes Cäsium-hexaiodidotellurat(IV) Cs2[TeI6]).
=== Organotellur-Verbindungen ===
Tellur bildet eine Reihe von metallorganischen Verbindungen. Diese sind aber sehr instabil und werden in der organischen Synthese wenig verwendet. Als reine Tellurorganyle sind Verbindungen der Form R2Te, R2Te2, R4Te und R6Te (R jeweils Alkyl-, Aryl-) bekannt.Daneben sind noch Diorganotellurdihalogenide R2TeX2 (R = Alkyl-, Aryl-; X = F, Cl, Br, I) und Triorganotellurhalogenide R3TeX (R = Alkyl-, Aryl-; X = F, Cl, Br, I) bekannt.
=== Tellurpolykationen ===
Durch vorsichtige Oxidation von Tellur können neben dem schon erwähnten Te42+ zahlreiche Tellurpolykationen Tenx+ dargestellt und mit einem geeigneten Gegenion kristallisiert werden. Das Gegenion muss eine schwache Lewis-Base sein, da die Tellurpolykationen verhältnismäßig starke Lewissäuren sind. Geeignete Oxidationsmittel sind häufig Halogenide der Übergangsmetalle, die bei Temperaturen von typischerweise 200 °C direkt die gewünschte Verbindung ergeben:
8
T
e
+
2
U
B
r
5
⟶
T
e
8
[
U
2
B
r
10
]
{\displaystyle \mathrm {8\ Te\ +\ 2\ UBr_{5}\longrightarrow \ Te_{8}[U_{2}Br_{10}]} }
Häufig ist die Kristallisation unter den Bedingungen des chemischen Transports erfolgreich, bisweilen müssen aber wasserfreie Lösungsmittel wie Zinn(IV)-chlorid oder Siliciumtetrabromid verwendet werden. Auch Salzschmelzen stellen in Einzelfällen geeignete Reaktionsmedien dar.
Ist das Metallhalogenid kein geeignetes Oxidationsmittel, wie das bei Halogeniden der Hauptgruppenelemente in der Regel der Fall ist, können die entsprechenden Tellurtetrahalogenide als Oxidationsmittel verwendet werden:
13
T
e
+
T
e
C
l
4
+
4
B
e
C
l
2
⟶
2
T
e
7
[
B
e
2
C
l
6
]
{\displaystyle \mathrm {13\ Te\ +\ TeCl_{4}\ +\ 4\ BeCl_{2}\longrightarrow \ 2\ Te_{7}[Be_{2}Cl_{6}]} }
Durch Variation des Gegenions und des Reaktionsmediums konnte eine große Vielfalt von Polykationen dargestellt werden; auch gemischte Selen-Tellurpolykationen sind durch entsprechende Wahl der Reaktanten der Synthese zugänglich. Neben den gezeigten ketten- bzw. bandförmigen Polykationen gibt es auch isolierte Polykationen wie Te62+, Te64+ und Te84+.
== Literatur ==
Allgemeines und VerbindungenFrank Hoffmann: Faszination Kristalle und Symmetrie – Einführung in die Kristallographie. 1. Auflage. Springer Spektrum, Berlin 2016, ISBN 978-3-658-09581-9, S. 173–174.
A. F. Holleman, N. Wiberg: Anorganische Chemie. 103. Auflage. 1. Band: Grundlagen und Hauptgruppenelemente. Walter de Gruyter, Berlin / Boston 2016, ISBN 978-3-11-049585-0, S. 692–728 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Eberhard Schweda (Hrsg.): Jander/Blasius – Anorganische Chemie I. 19. Auflage. Hirzel, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-7776-3009-0, S. 261–262. Entdeckung und GeschichteE. Diemann, A. Müller, H. Barbu: Die spannende Entdeckungsgeschichte des Tellurs (1782–1798) – Bedeutung und Komplexität von Elemententdeckungen. In: Chemie in unserer Zeit. Band 36, Nr. 5, 2002, S. 334–337, doi:10.1002/1521-3781(200210)36:5<334::AID-CIUZ334>3.0.CO;2-1.
Tomas Kron, Eckehard Werner: Kurze Geschichte des Elements Tellur in Biologie und Medizin. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 8, 1990, S. 279–288.
Sonderheft zum 250. Geburtstag von Franz Joseph Müller von Reichenstein und der Entdeckung des Elements Tellur. In: Montanhistorischer Verein für Österreich (Hrsg.): res montanarum. Band 5, 1992.
== Weblinks ==
Informationen zu Tellur und Fundorten auf mindat.org (englisch)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Tellur |
Zirconium | = Zirconium =
Zirconium, häufig auch Zirkonium, ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Zr und der Ordnungszahl 40. Sein Name leitet sich vom Zirkon, dem häufigsten Zirconium-Mineral, ab. Im Periodensystem steht es in der 5. Periode; es ist das zweite Element der 4. Gruppe (veraltet 4. Nebengruppe) oder Titangruppe. Zirconium ist ein sehr korrosionsbeständiges Metall. Biologische Funktionen sind nicht bekannt; es kommt in geringen Mengen (4 mg/kg) im menschlichen Organismus vor und ist nicht toxisch. Aufgrund des geringen Wirkungsquerschnitts für Neutroneneinfang ist Zirconium Hauptbestandteil der Hüllrohre von Kernbrennstoff. Hierbei ist die Trennung von Zirconium und dem chemisch sehr ähnlichen Hafnium nötig, welche für andere Anwendungen nicht erforderlich ist.
== Geschichte ==
Das wichtige zirconiumhaltige Mineral Zirkon (Zr[SiO4]) ist als Schmuckstein bereits seit der Antike bekannt. Zirconium als Element wurde 1789 von Martin Heinrich Klaproth in einer aus Ceylon stammenden Probe des Minerals Zirkon entdeckt und nach diesem benannt. Erstmals dargestellt wurde das Metall 1824 von Jöns Jakob Berzelius durch Reduktion von K2ZrF6 mit Kalium. Dazu erhitzte er „ein Gemenge aus flusssaurem Zirkon-Kali mit Kalium in einer eisernen Röhre“. Nach Behandlung mit Wasser, Trocknen und längerem Erhitzen mit verdünnter Salzsäure erhielt Berzelius ein „klumpiges Pulver, welches wie Kohle schwarz“ war und erst „durch Zusammendrücken mit dem Polierstahl eine dunkelgraue Farbe und Glanz“ erhielt. Die korrekte Atommasse konnte dagegen erst 1924 bestimmt werden, da – neben Fehlern bei der Durchführung der Experimente – nicht bekannt war, dass Zirconium stets geringe Mengen Hafnium enthält. Ohne diese Information ergaben Messungen immer eine etwas zu hohe Atommasse. Die erste praktische Anwendung von Zirconium war der Einsatz als rauchloses Blitzlichtpulver.
== Vorkommen ==
Zirconium kommt in der Erdkruste mit einem Gehalt von ca. 0,016 % vor. In der nach Häufigkeit geordneten Liste der Elemente steht Zirconium an 18. Stelle und ist häufiger als die bekannteren Elemente Chlor und Kupfer. Es ist zwar sehr weit verbreitet, findet sich aber meist nur in sehr geringen Mengen und in sehr kleinen Kristallen (typischerweise um 0,1 mm). Darum wurde Zirconium in früherer Zeit als selten angesehen. Zirconium wird vor allem in silikatischen Intrusivgesteinen wie Granit gefunden. Es kommt nicht gediegen, sondern nur in einigen Mineralen, vor allem als Zirkon (ZrSiO4) und Baddeleyit (ZrO2) sowie dem selteneren roten Eudialyt (Na4(CaCeFeMn)2ZrSi6O17(OHCl)2) gebunden vor. Es ist fast immer mit Hafnium vergesellschaftet, meist im typischen Verhältnis von 36:1. Zirkon ist wegen seines hohen Schmelzpunktes von 2550 °C, seiner großen Härte und geringen Reaktivität das älteste auf der Erde auffindbare Mineral und kann auf Grund eingelagerter Uran- und Thoriumisotope für radiometrische Altersbestimmungen verwendet werden.
Als Rohstoffe dienen meist sekundäre Lagerstätten, so genannte Seifenlagerstätten. Diese entstehen, wenn das umliegende Gestein verwittert und nur der besonders verwitterungsresistente Zirkon zurückbleibt. Weitere solche Lagerstätten können durch Wasserströmungen entstehen, die Zirkonkristalle ausspülen und an anderen Stellen anspülen. Primäre Lagerstätten haben dagegen meist einen für den rentablen Abbau zu geringen Zirconium-Gehalt.
Die wichtigsten Zirconium-Lagerstätten liegen in Australien, den USA und Brasilien. Bei abbauwürdigen Reserven von 70 Millionen Tonnen (als ZrO2) lag die Weltjahresförderung von Zirconiummineralen 2020 bei 1,2 Millionen Tonnen (Bruttogewicht). Davon werden nur etwa 5 % zu Metall und Legierungen weiterverarbeitet. Die wichtigsten Förderländer waren 2020 Australien, Südafrika, China und Mosambik. Die Preise für Zirkon lagen 2012 bei 2.650 USD je Tonne und 2013 bei 1.050 USD je Tonne. Zirconium steht in den USA auf der Liste kritischer Rohstoffe, in der EU nicht.
== Gewinnung und Darstellung ==
Zirkon als häufigster Zirconium-Rohstoff muss vor der Weiterverarbeitung erst in Zirconiumdioxid umgewandelt werden. Dazu wird der Zirkon in einer Natriumhydroxid-Schmelze gekocht (alkalischer Aufschluss). Das Zirconiumdioxid wird danach mit Koks im Lichtbogen zu Zirconiumkarbonitrid (Kohlenstoff- und stickstoffhaltiges Zirconium) und anschließend mit Chlor zu Zirconiumtetrachlorid umgesetzt.
Z
r
O
2
+
2
C
+
2
C
l
2
→
900
∘
C
Z
r
C
l
4
+
2
C
O
{\displaystyle \mathrm {ZrO_{2}\ +2\ C+2\ Cl_{2}\ {\xrightarrow {900^{\circ }C}}\ ZrCl_{4}+\ 2\ CO} }
Eine direkte Reduktion von Zirconiumdioxid mit Kohlenstoff (wie im Hochofenprozess) ist nicht möglich, da die hierbei entstehenden Carbide sehr schwer vom Metall zu trennen sind. Stattdessen wird Zirconiumtetrachlorid im so genannten Kroll-Prozess mit Magnesium in einer Helium-Atmosphäre zu Zirconiummetall reduziert.
Z
r
C
l
4
+
2
M
g
⟶
Z
r
+
2
M
g
C
l
2
{\displaystyle \mathrm {ZrCl_{4}\ +2\ Mg\ \longrightarrow \ Zr+\ 2\ MgCl_{2}} }
Um reineres Zirconium gewinnen zu können, wird das Van-Arkel-de-Boer-Verfahren angewendet. Dabei reagiert während des Erhitzens unter Vakuum zunächst das Zirconium mit Iod zu Zirconium(IV)-iodid. Dieses wird an einem heißen Draht wieder zu Zirconium und Iod zersetzt:
Z
r
+
2
I
2
⇌
Z
r
I
4
{\displaystyle \mathrm {Zr+2\ I_{2}\ \rightleftharpoons \ ZrI_{4}} }
Zirconiumtetraiodid bildet sich bei 200 °C aus Zirconium und Iod; es zerfällt wieder bei 1300 °C.
Zirconium und Hafnium sind auf einfache chemische Art nicht zu trennen. Deshalb enthält auch dieses hochreine Zirconium noch immer Hafnium. Da es für viele Anwendungen in der Reaktor-Technik wichtig ist, dass das Zirconium kein Hafnium mehr enthält, spielen Trennverfahren für diese beiden Metalle eine wichtige Rolle. Eine Möglichkeit sind Extraktionsverfahren, in denen die unterschiedliche Löslichkeit von Zirconium- und Hafniumverbindungen in speziellen Lösungsmitteln ausgenutzt wird. Häufig werden die Thiocyanate und ihre unterschiedliche Löslichkeit in Methylisobutylketon ausgenutzt. Weitere Möglichkeiten bieten Ionenaustauscher oder die fraktionierte Destillation von geeigneten Verbindungen.
Der USGS gibt als US-Importpreise für Zirconium 75 USD je kg im Jahre 2013 an.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Zirconium ist ein silbrig-glänzendes Schwermetall (Dichte 6,501 g/cm3 bei 25 °C), es ähnelt äußerlich Stahl. Das Metall kristallisiert in zwei unterschiedlichen Modifikationen, in die es durch Temperaturänderung überführt werden kann. Unterhalb von 870 °C kristallisiert α-Zirconium im hexagonalen Kristallsystem (hexagonal-dichteste Kugelpackung, Magnesium-Typ) in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 323 pm und c = 514 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Bei 870 °C ändert sich die Kristallstruktur zur kubisch-innenzentrierten β-Struktur (Wolfram-Typ) mit der Raumgruppe Im3m (Nr. 229)Vorlage:Raumgruppe/229 und dem Gitterparameter a = 361 pm.Zirconium ist relativ weich und biegsam. Es lässt sich gut durch Walzen, Schmieden und Hämmern verarbeiten. Durch geringe Verunreinigungen von Wasserstoff, Kohlenstoff oder Stickstoff im Metall wird es aber spröde und schwer zu verarbeiten. Die elektrische Leitfähigkeit ist nicht so hoch wie die anderer Metalle. Sie beträgt nur etwa 4 % von der des Kupfers. Bezogen auf seine schlechte elektrische Leitfähigkeit ist Zirkonium ein relativ guter Wärmeleiter. Im Vergleich zum leichteren Homologen Titan sind Schmelz- und Siedepunkt etwas höher (Schmelzpunkt: Titan: 1667 °C, Zirconium: 1857 °C). Auch die elektrische und Wärmeleitfähigkeit sind besser. Unterhalb von 0,55 K wird Zirconium supraleitend.
Die Eigenschaften des Zirconiums und des schwereren Homologen Hafnium ähneln sich auf Grund der Lanthanoidenkontraktion sehr. Diese bedingt ähnliche Atomradien (Zr: 159 pm, Hf: 156 pm) und damit ähnliche Eigenschaften. Die beiden Metalle unterscheiden sich allerdings erheblich in ihrer Dichte (Zr: 6,5 g/cm3, Hf: 13,3 g/cm3).
Eine wichtige Eigenschaft, wegen der Zirconium eine große Bedeutung im Reaktorbau erlangt hat, ist sein geringer Einfangquerschnitt für Neutronen. In dieser Eigenschaft unterscheidet sich Zirconium ebenfalls sehr vom Hafnium. Dies macht die aufwändigen Trennverfahren für diese Anwendungen nötig.
=== Chemische Eigenschaften ===
Zirconium ist ein unedles Metall, welches besonders unter hoher Temperatur mit vielen Nichtmetallen reagiert. Vor allem als Pulver verbrennt es mit weißer Flamme zu Zirconiumdioxid, bei Anwesenheit von Stickstoff auch zu Zirconiumnitrid und Zirconiumoxinitrid. Kompaktes Metall reagiert erst bei Weißglut mit Sauerstoff und Stickstoff. Bei erhöhtem Druck reagiert Zirconium auch bei Raumtemperatur mit Sauerstoff, da das gebildete Zirconiumoxid im geschmolzenen Metall löslich ist. Bei der Verbrennung von Zirconium in Sauerstoff wird eine Temperatur von ca. 4660 °C erreicht.Zirconium ist an der Luft durch eine dünne, sehr dichte Zirconiumoxidschicht passiviert und deshalb reaktionsträge. Es ist darum in fast allen Säuren unlöslich, lediglich Königswasser und Flusssäure greifen Zirconium schon bei Raumtemperatur an. Wässrige Basen reagieren nicht mit Zirconium.
== Isotope ==
Vom Zirconium sind viele Isotope zwischen 78Zr und 110Zr bekannt. Dabei ist natürliches Zirconium ein Mischelement, das aus insgesamt fünf Isotopen besteht. Dies sind 90Zr, das mit einem Anteil von 51,45 % des natürlichen Zirconiums am häufigsten vorkommt, sowie die schwereren Isotope 91Zr (11,32 %), 92Zr (17,19 %), 94Zr (17,28 %) und 96Zr mit 2,76 % Anteil. 96Zr ist als einziges natürliches Isotop schwach radioaktiv, es zerfällt mit einer Halbwertszeit von 24 · 1018 Jahren unter doppeltem Betazerfall zu 96Mo. Das Isotop 89Zr wird zur Herstellung langlebigerer Radioliganden für die Positronen-Emissions-Tomographie verwendet. Das Isotop 91Zr kann mit Hilfe der NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden.
88Zr besitzt einen sehr großen Einfangquerschnitt für thermische Neutronen. Insgesamt handelt es sich nach 135Xe um den zweitgrößten bisher bestimmten Wirkungsquerschnitt für den Einfang thermischer Neutronen. Der Wert ist etwa 80.000-mal größer als die theoretische Vorhersage nahelegt.→ Liste der Zirconium-Isotope
== Verwendung ==
Eine wichtige Verwendung für Zirconium sind die aus Zircaloy hergestellten Hüllen der Uran-Brennelemente in Kernkraftwerken. Diese Legierung besteht aus ca. 90 % Zirconium und geringen Anteilen an Zinn, Eisen, Chrom oder Nickel, darf jedoch kein Hafnium enthalten. Der Grund für die Wahl dieses Elements ist der schon oben beschriebene geringe Einfangquerschnitt für thermische Neutronen bei gleichzeitig großer Korrosionsbeständigkeit, die es auch als Baumaterial für chemische Anlagen, vor allem für spezielle Apparateteile wie Ventile, Pumpen, Rohre und Wärmeaustauscher geeignet macht. Als Legierungszusatz zu Stahl erhöht es ebenfalls die Korrosionsbeständigkeit. Aus entsprechenden Legierungen werden unter anderem chirurgische Instrumente hergestellt. Da die Wärmeleitfähigkeit von Urandioxid relativ niedrig ist, metallisches Plutonium jedoch einen vergleichsweise niedrigen Schmelzpunkt hat, ist plutoniumhaltiger metallischer Kernbrennstoff (zum Beispiel zum Einsatz in Reaktoren mit schnellen Neutronen) zumeist eine Legierung mit Zirconium um einen höheren Schmelzpunkt zu erreichen, ohne die neutronenphysikalischen Eigenschaften zu verschlechtern. Alternativ können auch MOX-Brennelemente verwendet werden, welche allerdings eine schlechte Wärmeleitfähigkeit aufweisen.
Da Zirconium mit geringen Mengen Sauerstoff und Stickstoff reagiert, kann es als Gettermaterial in Glühlampen und Vakuumanlagen zur Aufrechterhaltung des Vakuums genutzt werden. Diese Eigenschaft wird auch in der Metallurgie ausgenutzt, um Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel aus Stahl zu entfernen.
Wegen seiner Eigenschaft, beim Verbrennen ein sehr helles Licht auszusenden, wurde es neben Magnesium als Blitzlichtpulver verwendet. Im Gegensatz zu Magnesium hat Zirconium den Vorteil, rauchfrei zu sein. Diese Eigenschaft wird ebenso in Feuerwerkskörpern und Signallichtern ausgenutzt.
Zirconium sendet beim Aufprall auf Metalloberflächen einen Funkenschwall ab und ist brennbar. Dieses nutzt das Militär in einigen Munitionssorten wie der Schrotflinten-Spezialmunition Dragon’s Breath und der US-amerikanischen Allzweck-Streumunition BLU-97 aus. In der Filmtechnik wird dieser Effekt für nicht-pyrotechnische Aufpralleffekte von beispielsweise Gewehrkugeln auf Metalloberflächen benutzt.
Zirconium-Niob-Legierungen sind supraleitend und bleiben dies auch, wenn starke Magnetfelder angelegt werden. Sie wurden daher früher für supraleitende Magnete verwendet.Zirconium wird in den 2010er Jahren auch als Bestandteil von Gelenkprothesen eingesetzt. Ferner wird es für Zahnkronen und -brücken verwendet.
Das Radioisotop 89Zr wird für die Positronen-Emissions-Tomographie verwendet und ermöglicht durch seine vergleichsweise lange Halbwertszeit von 3,5 Tagen PET-Aufnahmen bis zu 2 Wochen nach der Applikation.
Zirconium wird in Beimengungen von 10–40 % Zirconiumdioxid zur Herstellung von Zirkonkorund per Lichtbogenofenschmelze verwendet. Zirkonkorund ist ein hochzähes Schleifmittel für industrielle Schleifanwendungen bei hohen Drücken.
Bei der Lambdasonde zur geregelten, katalytischen Abgasreinigung von Kraftfahrzeugen spielt Zirconium auch eine wichtige Rolle. Es wird dort entweder als Zirconiumdioxid, oder als YSZ (Yttrium-stabilisiertes Zirconium) eingesetzt.
== Sicherheitshinweise ==
Es sind keine toxischen Effekte von Zirconium und seinen Verbindungen bekannt. Wegen der dichten Oxidschicht ist kompaktes Zirconium nicht brennbar. In Pulverform kann es dagegen beim Erhitzen an der Luft anfangen zu brennen. Zirconiumbrände sind sehr gefährlich, da zum Löschen weder Wasser (heftige Reaktion unter Wasserstoffbildung) noch Kohlenstoffdioxid oder Halon verwendet werden können. Zirconiumbrände müssen mit Metallbrandlöschern (Klasse D) oder trockenem Sand gelöscht werden.
== Nachweis ==
Mit Alizarinrot-S bildet Zirconium im Sauren eine charakteristische rot-violette Verbindung (Farblack), welche bei Zugabe von Fluoridionen unter Bildung des Zirconium-Fluorokomplexes wieder verschwindet. Diese Reaktion kann als qualitativer Nachweis sowohl von Zirconium als auch von Fluor dienen. Da schon geringe Mengen Fluorid (und anderer Anionen) stören, ist dieser Nachweis für Mineralanalysen ungeeignet. Daneben sind einige andere organische Verbindungen, wie Tannin, Kupferron, Phenylarsonsäure, Oxin oder Xylenolorange, als Nachweisreagenz geeignet. Eine weitere charakteristische Verbindung ist Zirconiumoxidchlorid ZrOCl2 · 8 H2O, die in typischen Nadeln kristallisiert. In der modernen Analytik kann Zirconium über Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) oder Massenspektrometrie (auch anhand des Isotopenmusters) nachgewiesen werden.Eine Möglichkeit zur quantitativen Analyse ist die Fällung von schwerlöslichem Zirconium(IV)-hydroxid mit Ammoniak und anschließendem Verglühen zu Zirconiumdioxid.
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+
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{\displaystyle \mathrm {Zr^{4+}+4\ NH_{3}+4\ H_{2}O\ \longrightarrow \ Zr(OH)_{4}\downarrow +\ 4\ NH_{4}^{+}} }
Fällung des Hydroxids
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(
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{\displaystyle \mathrm {Zr(OH)_{4}\longrightarrow \ ZrO_{2}+\ 2\ H_{2}O} }
Umsetzen zur Wägeform
== Verbindungen ==
→ Kategorie:Zirconiumverbindung
Zirconium bildet als unedles Metall eine Vielzahl von Verbindungen. Die meisten Zirconiumverbindungen sind Salze. Häufig sind sie sehr stabil und besitzen einen hohen Schmelzpunkt. Die Oxidationsstufe +IV ist bevorzugt und am stabilsten. Es sind aber auch Verbindungen in den Oxidationsstufen +III bis +I, bei Komplexen sogar in den Stufen 0, −I und −II bekannt.
=== Zirconiumdioxid ===
Die wichtigste Zirconiumverbindung ist Zirconiumdioxid ZrO2, ein sehr stabiles und hochschmelzendes Oxid. Zirconiumdioxid dient zur Herstellung feuerfester Auskleidungen in Tiegeln und Öfen. Um es hierfür zu verwenden, muss es aber zur Stabilisierung der kubischen Hochtemperaturphase mit Calcium, Yttriumoxid oder Magnesiumoxid stabilisiert werden. Zirkoniumdioxid-verstärktes Aluminiumoxid (ZTA, Zirconia Toughened Aluminum Oxide) wird als Technische Keramik für hohe Temperaturen eingesetzt.Zirconiumdioxid-Kristalle sind farblos und besitzen einen hohen Brechungsindex. Darum dienen sie unter dem Namen Zirkonia als künstlicher Schmuckstein und Ersatz für Diamanten. Daneben wird Zirconiumdioxid als Schleifmittel und wegen der weißen Farbe als Weißpigment für Porzellan genutzt.
Wird Zirconiumoxid mit Yttriumoxid dotiert, ergeben sich weitere Anwendungsmöglichkeiten. Bei drei Prozent Yttriumoxid-Gehalt wird das ZrO2 in einer verzerrten Fluorit-Struktur stabilisiert. Dadurch wirkt es bei Temperaturen von über 300 °C als Leiter für Sauerstoff-Ionen. Eine wichtige Anwendung hierfür ist die Lambdasonde in Autos, die zum Messen des Sauerstoffgehaltes in Abgasen für den Katalysator dient. Bei 15 % Yttriumoxidgehalt sendet Zirconiumoxid bei 1000 °C ein sehr helles, weißes Licht aus. Dieses findet in der so genannten Nernst-Lampe Anwendung. Da Yttrium-Zirconium-Keramiken eine extrem hohe Bruchzähigkeit besitzen, werden sie beispielsweise in der Zahntechnik als hochstabiles Kronen- und Brückengerüst, in künstlichen Hüftgelenken und Zahnimplantaten oder als Verbindungselement bei Teleskopen verwendet. Dabei lösen sie zunehmend Gold und andere Metalle in der Funktion ab.
Zirconiumoxid wird zudem oft für Kugellager verwendet. Vor allem für die Laufringe der Lager hat ZrO2 den großen Vorteil, dass der Wärmeausdehnungskoeffizient nahe dem von Stahl ist. Andere technische Keramiken wie Siliciumnitrid haben üblicherweise einen erheblich geringeren Wärmeausdehnungskoeffizienten.
=== Halogenide ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Zirconium mehrere Reihen von Verbindungen. Es sind von allen Halogenen Verbindungen der Formen ZrX4, ZrX3 und ZrX2 bekannt. Dazu kommen noch die Chloride, Bromide und Iodide der Form ZrX. Am stabilsten sind dabei die Tetrahalogenide der Form ZrX4. Von keinem der Zirconiumhalogenide sind wichtige Anwendungsbereiche bekannt, wobei Zirconiumchloride als Zwischenprodukte bei der Herstellung von reinem Zirconium entstehen.
=== Weitere Zirconiumverbindungen ===
Zirconiumsilicat, ZrSiO4, besser bekannt unter dem Mineralnamen Zirkon, ist die in der Natur häufigste Zirconium-Verbindung. Es stellt die wichtigste Quelle für Zirconium und seine Verbindungen dar. Daneben wird Zirkon als Schmuckstein verwendet.
Organische Zirconiumverbindungen sind meist instabil. Von Bedeutung sind vor allem organische Zirconiumkomplexe, sog. Zirconocene, mit Resten wie Cyclopentadienyl. Sie sind technisch wichtig als Katalysator bei der Polymerisation von Alkenen, insbesondere für die Herstellung von Polypropylen.
Eine weitere Anwendung einer organischen Zirconium-Verbindung besteht in der Hydrozirconierung. Dabei werden Alkene mit Hilfe des Schwartz-Reagenzes Cp2ZrHCl (Cp = Cyclopentadienyl) in Alkohole oder Halogenkohlenwasserstoffe überführt. Bei der Reaktion von terminalen Alkinen mit dem Schwartz-Reagenz entstehen bei der Hydrozirconierung trisubstituierte Doppelbindungen, die weitere Umsetzung mit einem elektrophilen Reagenz führt zu trans-funktionalisierten Alkenen in hoher stereochemischer Reinheit.
Aluminium-Zirconium-Komplexe können als Antitranspirant verwendet werden. Kaliumhexafluoridozirconat(IV) K2ZrF6 (CAS-Nummer: 16923-95-8) kann zur Trennung von Zirconium von Hafnium eingesetzt werden.
Zirconiumcarbonat liegt als basischer Komplex vor. Es wird unter anderem in der Papierindustrie verwendet.
Zirkoniumsalze werden – neben aluminiumhaltigen Alaunen – bei der „Weißgerbung“ von Fellen eingesetzt.Blei-Zirkonat-Titanat-Keramiken (PZT-Keramiken) werden für Piezoelemente verwendet.
Natrium-Zirconium-Cyclosilicat ist ein nicht-resorbierbares Pulver mit mikroporöser Struktur, das Kalium im Austausch gegen Wasserstoff und Natrium-Kationen aufnehmen kann. Es wird daher medizinisch als oral verfügbarer Kaliumbinder verwendet.
== Literatur ==
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1.
Hans Breuer: dtv-Atlas Chemie. Band 1, 9. Auflage. dtv-Verlag, 2000, ISBN 3-423-03217-0.
Michael Binnewies: Allgemeine und Anorganische Chemie. 1. Auflage. Spektrum Verlag, 2004, ISBN 3-8274-0208-5.
N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH Verlagsgesellschaft, 1988, ISBN 3-527-26169-9.
== Weblinks ==
kristallines Zirkonium als Abbildung in der Elementansammlung von Heinrich Pniok
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Zirconium |
Indium | = Indium =
Indium ist ein chemisches Element mit dem Symbol In und der Ordnungszahl 49. Im Periodensystem der Elemente steht es in der 5. Periode und ist das vierte Element der 3. Hauptgruppe, der 13. IUPAC-Gruppe, oder Borgruppe. Indium ist ein seltenes, silberweißes und weiches Schwermetall. Seine Häufigkeit in der Erdkruste ist vergleichbar mit der von Silber. Indium ist für den menschlichen Körper nicht essentiell, genauso wenig sind toxische Effekte bekannt. Das Metall wird heute zum größten Teil zu Indiumzinnoxid verarbeitet, das als transparenter Leiter für Flachbildschirme und Touchscreens eingesetzt wird. Seit der Jahrtausendwende hat die damit verbundene gestiegene Nachfrage zu einem deutlichen Anstieg der Indiumpreise und zu Diskussionen über die Reichweite der Vorkommen geführt.
== Geschichte ==
Indium wurde 1863 von den deutschen Chemikern Ferdinand Reich und Theodor Richter an der Bergakademie Freiberg entdeckt. Sie untersuchten eine in der Umgebung gefundene Sphalerit-Probe nach Thallium. Dabei fanden sie im Absorptionsspektrum anstatt der erwarteten Thallium-Linien eine bisher unbekannte indigoblaue Spektrallinie und damit ein bisher unbekanntes Element. Nach dieser erhielt das neue Element später seinen Namen. Kurze Zeit später konnten sie zunächst Indiumchlorid und -oxid, durch Reduktion von Indiumoxid mit Wasserstoff auch das Metall darstellen. Eine größere Menge Indium wurde erstmals auf der Weltausstellung 1867 in Paris gezeigt.Nach einer ersten Anwendung ab 1933 als Legierungsbestandteil in Zahngold begann der umfangreiche Einsatz von Indium mit dem Zweiten Weltkrieg. Die Vereinigten Staaten setzten es als Beschichtung in hoch beanspruchten Lagern von Flugzeugen ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Indium vor allem in der Elektronikindustrie, als Lötmaterial und in niedrig schmelzenden Legierungen eingesetzt. Auch die Verwendung in Kontrollstäben von Kernreaktoren wurde mit der zunehmenden Verwendung der Kernenergie wichtig. Dies führte bis 1980 zu einem ersten starken Ansteigen des Indiumpreises. Nach dem Reaktorunfall von Three Mile Island gingen jedoch sowohl Nachfrage als auch Preis deutlich zurück.Ab 1987 wurden zwei neue Indiumverbindungen, der Halbleiter Indiumphosphid (InP) und das elektrisch leitende und in dünnen Schichten durchsichtige Indiumzinnoxid (ITO) entwickelt. Besonders Indiumzinnoxid wurde mit der Entwicklung von Flüssigkristallbildschirmen technisch interessant. Durch den hohen Bedarf wird seit 1992 der größte Teil des Indiums zu Indiumzinnoxid weiterverarbeitet.
== Vorkommen ==
Indium ist ein seltenes Element, sein Anteil an der kontinentalen Erdkruste beträgt nur 0,05 ppm. Es ist damit von ähnlicher Häufigkeit wie Silber und Quecksilber. In gediegener, das heißt elementarer Form konnte Indium bisher (Stand 2014) nur sehr selten entdeckt werden. Als Typlokalität gilt dabei eine Tantalerz-Lagerstätte bei Olowjannaja in der russischen Region Transbaikalien. Daneben fand man gediegenes Indium unter anderem noch im Perzhanskoe-Erzfeld in der ukrainischen Oblast Schytomyr und im Tschatkalgebirge in der usbekischen Provinz Taschkent sowie in Gesteinsproben vom Mond.Auch an Mineralen, die Indium enthalten, sind nur wenige bekannt (aktuell 13 anerkannte Minerale, Stand 2014). Dies sind vor allem sulfidische Minerale wie Indit FeIn2S4, Laforêtit AgInS2 und Roquesit CuInS2 sowie die zu den Elementmineralen zählenden, natürlichen Legierungen Damiaoit PtIn2 und Yixunit Pt3In. Diese sind jedoch selten und spielen für die Gewinnung von Indium keine Rolle.
Die größten Vorkommen von Indium liegen in Zinkerzen, insbesondere Sphalerit. Die theoretischen Reserven werden auf 16.000 Tonnen geschätzt, wirtschaftlich abbaubar sind davon etwa 11.000 Tonnen. Die größten Vorkommen liegen in Kanada, China und Peru. Indiumhaltige Erze werden aber auch in Australien, Bolivien, Brasilien, Japan, Russland, Südafrika, den USA, Afghanistan und einigen europäischen Ländern gefunden. In Deutschland liegen Vorkommen im Erzgebirge (Freiberg, Marienberg, Geyer) und am Rammelsberg im Harz.
== Gewinnung und Darstellung ==
Indium wird fast ausschließlich als Nebenprodukt bei der Produktion von Zink oder Blei gewonnen. Eine wirtschaftliche Gewinnung ist möglich, wenn sich an bestimmten Stellen des Produktionsprozesses Indium anreichert. Dies sind etwa Flugstäube, die während des Röstens von Zinksulfid entstehen, und Rückstände, die bei der Elektrolyse während des nassen Verfahrens der Zinkherstellung zurückbleiben. Diese werden mit Schwefelsäure oder Salzsäure umgesetzt und so in Lösung gebracht. Da die Konzentration an Indium in der Säure zu gering ist, muss sie angereichert werden. Dies geschieht etwa durch Extraktion mit Tributylphosphat oder Fällung als Indiumphosphat.
Die eigentliche Indiumgewinnung erfolgt elektrolytisch. Dazu wird eine Lösung von Indium(III)-chlorid in Salzsäure verwendet. Dieses wird mit Hilfe von Quecksilberelektroden zu elementarem Indium umgesetzt. Bei der Elektrolyse ist darauf zu achten, dass die Lösung kein Thallium mehr enthält, da die Standardpotentiale der beiden Elemente sehr ähnlich sind.
I
n
3
+
+
3
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−
→
H
g
−
E
l
e
k
t
r
.
I
n
{\displaystyle \mathrm {In^{3+}+3\ e^{-}\ {\xrightarrow {Hg-Elektr.}}\ In} }
Durch geeignete Verfahren wie Zonenschmelzverfahren oder mehrmalige Elektrolyse von Indium(I)-chlorid-Salzschmelzen kann das Rohprodukt weiter gereinigt und so über 99,99 % reines Indium gewonnen werden.
== Produktion ==
Die Primärproduktion (Raffinerieproduktion) von Indium lag im Jahr 2006 zwischen 500 und 580 Tonnen. Auf Grund der geringen natürlichen Vorräte von 11.000 Tonnen bei gleichzeitig hoher Nachfrage zählt Indium zu den knappsten Rohstoffen auf der Erde. Im Jahr 2008 wuchsen insbesondere für China die Angaben zu den natürlichen Indium-Vorräten von 280 auf 8.000 Tonnen, was die Reichweite von vormals 6 auf 19 Jahre verlängerte. Die Sekundärproduktion, also das Recycling, übertrifft die Primärproduktion und lag im Jahr 2008 bei 800 Tonnen.
Die Indiumproduktion in China findet erst seit kurzer Zeit verstärkt statt. Im Jahr 1994 lag die produzierte Menge noch bei 10 Tonnen. Seitdem vergrößerte sich der Anteil Chinas an der Weltproduktion auf 60 % im Jahr 2005 und betrug im Jahr 2020 57 %. Als zweitgrößter Produzent mit ca. 21 % Anteil etablierte sich mittlerweile die Republik Südkorea. Die Produktion in anderen Ländern wie Japan, Kanada oder Frankreich konnte nur in geringem Umfang gesteigert werden oder verringerte sich durch Erschöpfung der Lagerstätten. So wurde 2006 die japanische Toyoha-Mine geschlossen und damit die dortige Produktion deutlich verringert.Da die Nachfrage nach Indium stärker als die Produktion gestiegen ist, ergab sich ein starker Anstieg des Indiumpreises von 97 Dollar 2002 auf 827 Dollar pro Kilogramm im Jahr 2005. Da aber mittlerweile größere Mengen aus vermehrtem Recycling verfügbar wurden, sank der Preis in Folge wieder deutlich ab und pendelte 2021 um durchschnittlich 210 $ pro Kilogramm. Das Recycling von Indium erfolgt vor allen durch Wiederverwertung von Rückständen aus dem Sputtern. Recycling von Indium spielt vor allem in Japan und Südkorea eine starke Rolle.
In der industriellen Dünnschichttechnologie ist die Wiederverwertung indiumhaltiger Sputtertargets auf Grund ihrer stückigen Natur und dem geringen Demontageaufwand bei hoher Materialwertigkeit gängige betriebliche Praxis. Im Gegensatz zu Wänden und Einbauten der Sputterkammer sowie etwaiger Strukturierungsabfälle. Die Substitution von Indium in der transparent-leitenden Schicht (TCO) mittels Zinkoxid insbesondere bei Kupfer-Indium-Gallium-Diselenid- (CIGS), aber auch bei a-Si- bzw. c-Si-Solarzellen ist ebenso wie die Nutzung von Sekundärmaterial für den Einsatz in Indiumtargets geringer Reinheit aktuelles Thema der öffentlich geförderten Forschung der funktionalen und ressourcen-ökonomischen Materialwissenschaft.
Indium kann zwar in den meisten Anwendungen durch andere Stoffe ersetzt werden, dabei verschlechtern sich jedoch häufig die Eigenschaften des Produktes oder die Wirtschaftlichkeit der Produktion. So kann etwa Indiumphosphid durch Galliumarsenid ersetzt werden und auch für Indiumzinnoxid sind einige – wenn auch physikalisch nicht optimale – Ersatzstoffe möglich.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Indium ist ein silbrig-weißes Metall mit einem niedrigen Schmelzpunkt von 156,60 °C. Einen niedrigeren Schmelzpunkt besitzen unter den reinen (unlegierten) Metallen nur Quecksilber, Gallium und die meisten Alkalimetalle. Über einen sehr großen Bereich von fast 2000 K ist das Metall flüssig. Flüssiges Indium hinterlässt auf Glas dauerhaft einen dünnen Film (Benetzung).
Das Metall besitzt eine hohe Duktilität und sehr geringe Härte (Mohs-Härte: 1,2). Es ist daher möglich, Indium wie Natrium mit dem Messer zu schneiden. Gleichzeitig hinterlässt es auf Papier einen sichtbaren Strich. Unterhalb einer Sprungtemperatur von 3,41 Kelvin ist Indium supraleitend. Eine Besonderheit des Indiums, die es mit dem Zinn gemeinsam hat, sind die charakteristischen Geräusche, die beim Verbiegen von Indium zu hören sind („Zinngeschrei“).
Von Indium ist bei Normalbedingungen nur eine kristalline Modifikation bekannt, die im tetragonalen Kristallsystem in der Raumgruppe I4/mmm (Raumgruppen-Nr. 139)Vorlage:Raumgruppe/139 und damit in einem tetragonal-innenzentrierten Gitter mit den Gitterparametern a = 325 pm und c = 495 pm sowie zwei Formeleinheiten in der Elementarzelle kristallisiert.
Ein Indiumatom wird in der Kristallstruktur von zwölf weiteren Atomen umgeben, wobei vier aus den benachbarten Elementarzellen stammen und einen geringeren Abstand (325 pm; rote Bindungen) als die acht auf den Ecken der Elementarzelle befindlichen Atome aufweisen (337 pm; grüne Bindungen). Als Koordinationspolyeder ergibt sich durch die Koordinationszahl 4 + 8 = 12 ein verzerrtes Kuboktaeder. Die Kristallstruktur kann daher als eine tetragonal verzerrte, kubisch-dichteste Kugelpackung beschrieben werden.
In Hochdruckexperimenten wurde eine weitere Modifikation entdeckt, die oberhalb von 45 GPa stabil ist und im orthorhombischen Kristallsystem in der Raumgruppe Fmmm (Nr. 69)Vorlage:Raumgruppe/69 kristallisiert.
=== Chemische Eigenschaften ===
Die chemischen Eigenschaften des Indiums ähneln denen der Gruppennachbarn Gallium und Thallium. So ist Indium wie die beiden anderen Elemente ein unedles Element, das bei hohen Temperaturen mit vielen Nichtmetallen reagieren kann. An der Luft ist es bei Raumtemperatur stabil, da sich wie bei Aluminium eine dichte Oxidschicht bildet, die das Material durch Passivierung vor weiterer Oxidation schützt. Erst bei hohen Temperaturen findet die Reaktion zu Indium(III)-oxid statt.
Während Indium von Mineralsäuren wie Salpetersäure oder Schwefelsäure angegriffen wird, ist es nicht löslich in heißem Wasser, Basen und den meisten organischen Säuren. Auch Salzwasser greift Indium nicht an. Indium ist bei Raumtemperatur das in Quecksilber am besten lösliche Metall.
== Isotope ==
Von Indium sind 38 verschiedene Isotope und weitere 45 Kernisomere von 97In bis 135In bekannt. In der Natur kommen davon nur zwei Isotope vor, 113In (64 Neutronen) mit 4,29 Prozent und 115In (66 Neutronen) mit 95,71 Prozent Anteil an der natürlichen Isotopenverteilung. Das häufige Isotop 115In ist schwach radioaktiv, es ist ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 4,41 · 1014 Jahren. Somit hat ein Kilogramm Indium eine Aktivität von 250 Becquerel. Beide natürlichen Isotope können mit Hilfe der NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden. Die stabilsten künstlichen Isotope 111In und 114mIn haben Halbwertszeiten von 2,8 bzw. 50 Tagen, 113mIn nur 99 Minuten. 111In und 113mIn werden in der medizinischen Diagnostik für bildgebende Verfahren (Szintigrafie und SPECT) verwendet.
== Verwendung ==
=== Metall ===
Indium ist vielseitig verwendbar, sein Einsatz ist jedoch durch die Seltenheit und den hohen Preis beschränkt. Der größte Teil des produzierten Indiums wird nicht als Metall eingesetzt, sondern zu einer Reihe von Verbindungen weiterverarbeitet. Allein für die Produktion von Indiumzinnoxid wurden im Jahr 2000 65 % der Gesamtproduktion an Indium verwendet. Auch andere Verbindungen, wie Indiumphosphid und Indiumarsenid werden aus dem produzierten Indium gewonnen. Genaueres über die Verwendung von Indiumverbindungen findet sich im Abschnitt Verbindungen.
Metallische Werkstücke können durch galvanisch abgeschiedene Indiumüberzüge geschützt werden. So beschichtete Werkstoffe etwa aus Stahl, Blei oder Cadmium sind danach beständiger gegen Korrosion durch organische Säuren oder Salzlösungen und vor allem Abrieb. Indiumschutzschichten wurden früher oft für Gleitlager in Automobilen oder Flugzeugen verwendet. Seit dem deutlichen Anstieg des Indiumpreises ist dies jedoch nicht mehr wirtschaftlich. Mit Indium beschichtete Flächen besitzen einen hohen und gleichmäßigen Reflexionsgrad über alle Farben hinweg und können daher als Spiegel verwendet werden.
Der Schmelzpunkt von Indium liegt relativ niedrig und ist sehr genau bestimmbar. Aus diesem Grund ist er einer der Fixpunkte bei der Aufstellung der Temperaturskala. Diese Eigenschaft wird auch für die Kalibrierung in der dynamischen Differenzkalorimetrie (DSC) genutzt.Wegen des hohen Einfangquerschnittes sowohl für langsame als auch für schnelle Neutronen ist Indium ein geeignetes Material für Steuerstäbe in Kernreaktoren. Auch als Neutronendetektoren können Indiumfolien verwendet werden. Indium ist gasdicht und auch bei tiefen Temperaturen leicht zu verformen und wird daher in sogenannten Indiumdichtungen in Kryostaten eingesetzt.
Auch als Lot für viele Materialien spielt Indium auf Grund einiger spezieller Eigenschaften eine Rolle. So verformt es sich beim Abkühlen nur in geringem Maß. Dies ist vor allem beim Löten von Halbleitern für Transistoren wichtig. Ebenso spielt eine Rolle, dass Indium in der Lage ist, auch nichtmetallische Stoffe wie Glas und Keramik zu verlöten.Mit „Indiumpillen“ wurden Germaniumplättchen beiderseits anlegiert, um erste Transistoren herzustellen.
=== Legierungen ===
Indium kann mit vielen Metallen legiert werden. Viele dieser Legierungen, vor allem mit den Metallen Bismut, Zinn, Cadmium und Blei, besitzen einen niedrigen Schmelzpunkt von 50 bis 100 °C. Dadurch ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten beispielsweise in Sprinkleranlagen, Thermostaten und Sicherungen. Da das ebenfalls verwendbare Blei giftig ist, dient Indium als ungefährlicher Ersatzstoff. Der Zweck dieser Legierungen liegt darin, dass sie bei zu hohen Umgebungstemperaturen, die durch Feuer oder hohe Stromstärken verursacht werden, schmelzen. Durch das Schmelzen wird dann der Stromkreis unterbrochen oder die Sprinkleranlage ausgelöst. Indium-Gallium-Legierungen besitzen häufig noch niedrigere Schmelzpunkte und sind in Hochtemperaturthermometern enthalten. Eine spezielle Gallium-Indium-Zinn-Legierung ist Galinstan. Diese ist bei Raumtemperatur flüssig und dient als ungefährlicher Ersatzstoff für Quecksilber oder Natrium-Kalium-Legierungen.
Es gibt noch einige weitere indiumhaltige Legierungen, die in unterschiedlichen Gebieten eingesetzt werden. In klinischen Studien wurden Quecksilberlegierungen mit Kupfer und 5 bzw. 10 % Indium als Amalgamfüllung erprobt. In der Speicherschicht einer CD-RW ist unter anderem Indium enthalten.
=== Investment ===
Seit einigen Jahren gibt es Indiumbarren, die von Kapitalanlegern als risikoreiche Beimischung in ihr Metall-Portfolio aufgenommen werden können. Dabei gibt es nicht nur einige wenige Anbieter in Deutschland, sondern der Markt an sich ist relativ illiquide und eine Handelbarkeit wie bei Gold oder Silber ist in diesem Umfang bei Indium nicht gegeben.
== Nachweis ==
Ein möglicher chemischer Nachweis ist das Ausfällen von Indiumionen mit Hilfe von 8-Hydroxychinolin aus essigsaurer Lösung. Normalerweise wird Indium nicht auf chemische Weise nachgewiesen, sondern über geeignete spektroskopische Verfahren. Leicht ist Indium über die charakteristischen Spektrallinien bei 451,14 nm und 410,18 nm nachzuweisen. Da diese im blauen Spektralbereich liegen, ergibt sich die typische blaue Flammenfärbung. Für eine genauere quantitative Bestimmung bieten sich die Röntgenfluoreszenzanalyse und die Massenspektrometrie als Untersuchungsmethode an.
== Toxizität und Sicherheit ==
Während von Indiummetall keine toxischen Effekte bekannt sind, zeigte es sich jedoch, dass Indiumionen im Tierversuch mit Ratten und Kaninchen embryonentoxische und teratogene Effekte besitzen. Bei einer Einmalgabe von 0,4 mg · kg−1 InCl3 an trächtigen Ratten konnten Missbildungen wie beispielsweise Gaumenspalten und Oligodaktylie beobachtet werden. Diese Erscheinungen waren gehäuft festzustellen, wenn Indiumtrichlorid am 10. Schwangerschaftstag appliziert wurde. Bei Mäusen waren dagegen keine Missbildungen zu beobachten.
Bei Indiumnitrat wurde eine Toxizität für Wasserorganismen (aquatische Toxizität) festgestellt.Kompaktes Indiummetall ist nicht brennbar. Im feinverteilten Zustand als Pulver oder Staub ist es dagegen wie viele Metalle leichtentzündlich und brennbar. Brennendes Indium darf wegen der Explosionsgefahr durch entstehenden Wasserstoff nicht mit Wasser gelöscht werden, sondern muss mit Metallbrandlöschern (Klasse D) gelöscht werden.
== Verbindungen ==
Indium bildet eine Reihe von Verbindungen. In ihnen hat das Metall meist die Oxidationsstufe +III. Die Stufe +I ist seltener und instabiler. Die Oxidationsstufe +II existiert nicht, Verbindungen, in denen formal zweiwertiges Indium vorkommt, sind in Wirklichkeit gemischte Verbindungen aus ein- und dreiwertigem Indium.
=== Indiumoxide ===
Indium(III)-oxid ist ein gelber, stabiler Halbleiter. Reines Indium(III)-oxid wird wenig verwendet, in der Technik wird der größte Teil zu Indiumzinnoxid weiterverarbeitet. Es handelt sich hierbei um Indium(III)-oxid, das mit einer geringen Menge Zinn(IV)-oxid dotiert ist. Dadurch wird die Verbindung zu einem transparenten und leitfähigem Oxid (TCO-Material). Diese Kombination von Eigenschaften, die nur wenige weitere Materialien besitzen, bedingt eine breite Anwendung. Insbesondere als Stromleiter in Flüssigkristallbildschirmen (LCD), organischen Leuchtdioden (OLED), Touchscreens und Solarzellen wird Indiumzinnoxid verwendet. In weiteren Anwendungen wie beheizbaren Autoscheiben und Solarzellen konnte das teure Indiumzinnoxid durch preiswerteres aluminiumdotiertes Zinkoxid (AZO) ersetzt werden.YInMn-Blau ist ein Mischoxid aus Yttrium-, Indium- und Manganoxiden, das ein sehr reines und brillantes Blau zeigt und erst 2009 von Mas Subramanian an der Oregon State University entdeckt wurde, als er die magnetischen und elektrischen Eigenschaften von schwarzem Mangan(III)-oxid erforschen wollte.
=== Verbindungshalbleiter ===
Viele Indiumverbindungen sind von großer Bedeutung für die Halbleitertechnik. Dies betrifft insbesondere Verbindungen mit Elementen der 5. und 6. Hauptgruppe (15. und 16. IUPAC-Gruppe), wie Phosphor, Arsen oder Schwefel. Diejenigen mit Elementen der 5. Hauptgruppe werden zu den III-V-Verbindungshalbleitern gezählt, diejenigen mit Chalkogenen zu den III-VI-Verbindungshalbleitern. Die Zahl richtet sich jeweils nach der Anzahl an Valenzelektronen in den beiden Verbindungsbestandteilen. Indiumnitrid, Indiumphosphid, Indiumarsenid und Indiumantimonid haben unterschiedliche Anwendungen in verschiedenen Dioden, wie Leuchtdioden (LED), Fotodioden oder Laserdioden. Die jeweilige Anwendung hängt von der benötigten Bandlücke ab. Indium(III)-sulfid (In2S3) ist ein III-VI-Halbleiter mit einer Bandlücke von 2 eV, der anstelle von Cadmiumsulfid in Solarzellen verwendet wird. Einige dieser Verbindungen – vor allem Indiumphosphid und Indiumarsenid – spielen eine Rolle in der Nanotechnologie. Indiumphosphid-Nanodrähte besitzen eine stark anisotrope Photolumineszenz und können eventuell in hochempfindlichen Photodetektoren oder optischen Schaltern eingesetzt werden.Neben den einfachen Verbindungshalbleitern gibt es auch halbleitende Verbindungen, die mehr als ein Metall enthalten. Ein Beispiel ist Indiumgalliumarsenid (InxGa1−xAs) ein ternärer Halbleiter mit einer im Vergleich zu Galliumarsenid verringerten Bandlücke. Kupferindiumdiselenid (CuInSe2) besitzt einen hohen Absorptionsgrad für Licht und wird daher in Dünnschichtsolarzellen eingesetzt (CIGS-Solarzelle).
=== Weitere Indiumverbindungen ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Indium eine Reihe von Verbindungen. Sie sind Lewis-Säuren und bilden mit geeigneten Donoren Komplexe. Ein wichtiges Indiumhalogenid ist Indium(III)-chlorid. Dieses wird unter anderem als Katalysator für die Reduktion organischer Verbindungen eingesetzt.Es existieren auch organische Indiumverbindungen mit den allgemeinen Formeln InR3 und InR. Sie sind wie viele metallorganische Verbindungen empfindlich gegen Sauerstoff und Wasser. Indiumorganische Verbindungen werden als Dotierungsreagenz bei der Produktion von Halbleitern genutzt.
== Literatur ==
Ulrich Schwarz-Schampera, Peter M. Herzig: Indium: Geology, mineralogy, and economics. Springer, Berlin/ New York 2002, ISBN 3-540-43135-7.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1.
Norman N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. Verlag Chemie, Weinheim 1988, ISBN 3-527-26169-9.
Hans Breuer: dtv-Atlas Chemie 1. Allgemeine und anorganische Chemie. Dtv, 1981, ISBN 3-423-03217-0.
Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. Hirzel, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3.
== Weblinks ==
Indium – Statistics and Information (USGS)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Indium |
Freiheitsstatue | = Freiheitsstatue =
Die Freiheitsstatue (englisch Statue of Liberty, offiziell Liberty Enlightening the World, auch Lady Liberty; französisch La Liberté éclairant le monde) ist eine von Frédéric-Auguste Bartholdi geschaffene neoklassizistische Kolossalstatue bei New York. Sie steht auf Liberty Island im New Yorker Hafen, wurde am 28. Oktober 1886 eingeweiht und ist ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigten Staaten. Die Statue ist seit 1924 Teil des Statue of Liberty National Monument und seit 1984 als Weltkulturerbe der UNESCO klassifiziert.
Die Statue stellt die in Roben gehüllte Figur der Libertas, der römischen Göttin der Freiheit, dar. Die auf einem massiven Sockel stehende Figur aus einer Kupferhülle auf einem Stahlgerüst reckt mit der rechten Hand eine vergoldete Fackel hoch und hält in der linken Hand eine Tabula ansata mit dem Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Zu ihren Füßen liegt eine zerbrochene Kette. Die Statue gilt als Symbol der Freiheit und ist eines der bekanntesten Symbole der Vereinigten Staaten. Mit einer Figurhöhe von 46,05 Metern und einer Gesamthöhe von 92,99 Metern gehört sie zu den höchsten Statuen der Welt, bis 1959 war sie die höchste.
Bartholdi wurde von dem französischen Juristen und Politiker Édouard René de Laboulaye inspiriert, der 1865 erklärt hatte, dass jedes Monument, das zu Ehren der amerikanischen Unabhängigkeit errichtet würde, ein gemeinsames Projekt der Völker Frankreichs und der Vereinigten Staaten sein müsse. Wegen der angespannten politischen Lage in Frankreich begannen die Arbeiten an der Statue erst in den frühen 1870er-Jahren. Laboulaye schlug 1875 vor, die Franzosen sollten die Statue und die Amerikaner den Sockel finanzieren sowie den Bauplatz bereitstellen. Bartholdi vollendete den Kopf und den Fackelarm, noch bevor das endgültige Aussehen der Statue feststand. Diese Teile wurden bei Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert. Die Finanzierung erwies sich insbesondere auf amerikanischer Seite (für den Sockel) zunächst als schwierig, so dass die Arbeiten am Sockel 1885 wegen Geldmangels von der Einstellung bedroht waren. Joseph Pulitzer veranstaltete daraufhin mit seiner Zeitung New York World eine Spendenkampagne zur Vollendung des Projekts. Die Statue wurde schließlich in Frankreich vorgefertigt, in Einzelteile zerlegt nach New York transportiert und auf der damals Bedloe’s Island genannten Insel zusammengesetzt. Präsident Grover Cleveland weihte sie am 28. Oktober 1886, am Bartholdi-Day, ein.
Für den Unterhalt und die Verwaltung war bis 1901 das United States Lighthouse Board, die Bundesbehörde für Leuchttürme, zuständig. Anschließend übernahm das Kriegsministerium diese Aufgaben. Seit 1933 gehört die Statue zum Zuständigkeitsbereich des National Park Service. Im Jahr 1938 war sie wegen Renovierungsarbeiten erstmals für die Öffentlichkeit gesperrt. In den frühen 1980er-Jahren war die Bausubstanz so stark abgenutzt, dass eine umfassende Restaurierung notwendig war. Von 1984 bis 1986 wurden die Fackel und ein großer Teil der inneren Struktur ersetzt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und nach Hurrikan Sandy war die Statue jeweils zeitweise geschlossen.
== Planungs- und Baugeschichte ==
=== Ursprüngliche Idee ===
Die Idee für das Projekt der Freiheitsstatue geht auf eine Bemerkung zurück, die der französische Jurist und Politiker Édouard René de Laboulaye im Jahr 1865 machte. Bei einem Gespräch nach einem festlichen Abendessen in seinem Haus bei Versailles bemerkte der begeisterte Anhänger der Nordstaaten während des Sezessionskriegs: „Sollte ein Denkmal in den Vereinigten Staaten errichtet werden, das an ihre Unabhängigkeit erinnert, dann denke ich, dass es nur natürlich ist, wenn es durch vereinte Kräfte entsteht – ein gemeinschaftliches Werk unserer beiden Nationen.“Laboulayes Bemerkung war nicht als konkreter Vorschlag beabsichtigt, doch sie inspirierte den Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi, der beim Festessen als Gast anwesend war. Angesichts des monarchistischen Staatssystems Frankreichs unter Kaiser Napoleon III., das im starken Gegensatz zu den republikanischen Idealen der USA stand, unternahm Bartholdi vorerst keine weiteren Schritte, außer die Idee mit Laboulaye zu besprechen. Stattdessen trat er an Ismail Pascha, den osmanischen Khedive von Ägypten, heran und präsentierte ihm den Plan, in Port Said am nördlichen Ende des Sueskanals einen Leuchtturm in Form einer in Roben gehüllten antiken Fellachin, die eine Fackel hochhält, zu errichten. Bartholdi fertigte Skizzen und Modelle an, die Statue wurde aber nie errichtet. Ein klassisches Vorbild für das Sues-Projekt war der Koloss von Rhodos. Diese Bronzestatue des griechischen Sonnengottes Helios soll über 30 Meter hoch gewesen sein, stand an einem Hafeneingang und hielt eine Fackel hoch, um Schiffe zu leiten.Der Deutsch-Französische Krieg, in dem Bartholdi als Major der Miliz diente, verzögerte das amerikanische Projekt weiter. Während des Krieges wurde Napoleon III. gefangen genommen und abgesetzt. Bartholdis Heimatregion Elsass ging an das Deutsche Reich verloren und in Frankreich bildete sich die liberalere Dritte Republik. Da Bartholdi ohnehin eine Reise in die Vereinigten Staaten geplant hatte, kamen er und Laboulaye überein, dass die Zeit reif sei, die Idee einflussreichen Amerikanern vorzustellen. Im Juni 1871 reiste Bartholdi mit einem Empfehlungsschreiben Laboulayes nach New York. Sein Blick fiel dort auf Bedloe’s Island in der Upper New York Bay. Jedes ankommende Schiff musste diese Insel passieren, weshalb sie als Standort für eine Statue geeignet schien. Die Insel war 1800 vom Parlament des Staates New York an die Bundesregierung abgetreten worden, damit dort Verteidigungsanlagen errichtet werden konnten. Neben einflussreichen New Yorkern besuchte Bartholdi auch Präsident Ulysses S. Grant, der ihm versicherte, dass die Verwendung der Insel als Bauplatz kein Problem sein werde. Bartholdi bereiste die Vereinigten Staaten per Eisenbahn und traf sich mit zahlreichen Personen, von denen er überzeugt war, dass sie dem Projekt wohlwollend gegenüberstanden. Allerdings war er besorgt darüber, dass die öffentliche Meinung beiderseits des Atlantiks noch nicht zustimmend genug gesinnt sei, weshalb er zusammen mit Laboulaye beschloss, mit einer öffentlichen Kampagne noch zu warten.
Bartholdi hatte 1870 ein erstes Modell seines Konzepts angefertigt. Der Sohn des Künstlers John La Farge behauptete später, Bartholdi habe die ersten Entwürfe während seines USA-Aufenthalts im Atelier seines amerikanischen Freundes in Rhode Island gezeichnet. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich entwickelte Bartholdi sein Konzept weiter. Er arbeitete auch an einer Reihe von Skulpturen, die das französische Nationalgefühl nach dem verlorenen Krieg stärken sollten. Eines dieser Werke war der Löwe von Belfort, eine monumentale Skulptur aus rotem Sandstein unter der Zitadelle von Belfort. Der wehrhafte Löwe, 22 Meter lang und elf Meter hoch, verkörpert eine für die Romantik typische Emotionalität, die Bartholdi später auf die Freiheitsstatue übertrug.
=== Aussehen, Stil und Symbolik ===
Bartholdi und Laboulaye berieten, wie die Idee der Freiheit am besten umzusetzen sei. In der frühen amerikanischen Geschichte gab es zwei Frauenfiguren als kulturelle Symbole der Nation. Columbia galt als Personifikation der Vereinigten Staaten, ähnlich wie Marianne in Frankreich. Sie hatte die frühere Figur einer indianischen Prinzessin abgelöst, die mittlerweile für die Amerikaner als unzivilisiert und beleidigend galt. Die andere bedeutende Frauenfigur in der amerikanischen Kultur war eine Verkörperung der Freiheit, abgeleitet von der Freiheitsgöttin Libertas, die im Römischen Reich insbesondere von freigelassenen Sklaven angebetet worden war. Eine Freiheitsfigur zierte die meisten amerikanischen Münzen jener Zeit und beeinflusste zahlreiche Kunstwerke, darunter Thomas Crawfords Statue of Freedom auf der Kuppel des Kapitols. Eine Freiheitsfigur befand sich auch auf dem Großen Siegel von Frankreich.Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts, die republikanische Ideale darstellen wollten, griffen oft auf eine Verkörperung der Freiheit zurück. Bartholdi und Laboulaye vermieden aber das Bild einer revolutionären Freiheit, wie sie beispielsweise im Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix dargestellt wird. In diesem Gemälde, das an die französische Julirevolution von 1830 erinnert, führt die entblößte und gewaltbereite Freiheit eine bewaffnete Menschenmenge an. Laboulaye hegte keine Sympathien für Revolutionen und wünschte deshalb eine vollständig bekleidete Figur in wallender Robe. Anstelle des gewalttätigen Eindrucks in Delacroix’ Werk wollte Bartholdi der Statue ein friedliches Erscheinungsbild geben, weshalb sie eine Fackel als Symbol des Fortschritts tragen sollte.Crawfords Statue trug ursprünglich einen Pileus, eine Kopfbedeckung der freigelassenen Sklaven im Römischen Reich. Kriegsminister Jefferson Davis, ein Südstaatler und der spätere Präsident der Konföderierten Staaten, war besorgt, dass der Pileus auf der Statue of Freedom als Symbol des Abolitionismus verstanden werden könnte und ordnete an, ihn durch einen Helm zu ersetzen. Auch Delacroix’ Freiheitsfigur trug einen Pileus, und Bartholdi überlegte sich zunächst, seine eigene Figur ebenfalls damit auszustatten. Schließlich wählte er jedoch eine Krone als Kopfbedeckung und vermied dadurch eine Anspielung auf Marianne, die immer einen Pileus trägt. Die siebenstrahlige Krone ist der Gloriole antiker Helios- oder Sol-Darstellungen entlehnt. Sie symbolisiert ursprünglich die Sonne, hier aber die sieben Weltmeere und die sieben Kontinente. Zusammen mit der Fackel sollen sie die Botschaft verkünden, dass die Freiheit die Welt erleuchtet.Bartholdis frühe Modelle waren vom Konzept her alle gleich: Eine Frauenfigur im neoklassizistischen Stil, welche die Freiheit repräsentiert, trägt eine Stola und eine Pella (Kleid und Umhang, üblich bei Darstellungen römischer Göttinnen) und hält eine Fackel hoch. Das Gesicht soll nach jenem seiner Mutter, Charlotte Beysser Bartholdi, modelliert worden sein. Andere Quellen bezeichnen Isabella Eugenie Boyer, die Ehefrau von Isaac Merritt Singer, als Modell. Bartholdi entwarf die Figur mit einer ausdrucksstarken, unkomplizierten Silhouette. Dadurch sollte sie sich gut von der Szenerie des Hafens abheben und die Schiffspassagiere würden sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrnehmen können, wenn sie sich Manhattan näherten. Er gab der Figur klassische Konturen und wandte eine vereinfachte Art der Modellierung an. Dadurch wollte er den ungeheuren Ausmaßen des Projekts und seinem feierlichen Zweck gerecht werden. Bartholdi schrieb über seine Technik:
Neben dem Wechsel der Kopfbedeckung der Statue gab es weitere Designänderungen, als sich das Projekt weiterentwickelte. Bartholdi schwebte vor, dass die Statue eine zerbrochene Kette halten solle, fand dann aber, dass dies in der Zeit nach dem Sezessionskrieg entzweiend wirken könne. Die Statue erhebt sich tatsächlich über einer zerbrochenen Kette, doch wird diese von der Robe teilweise verdeckt und ist vom Boden aus schwer wahrzunehmen. Bartholdi war zunächst unschlüssig, was die Statue in ihrer linken Hand halten sollte. Seine Wahl fiel auf eine Tabula ansata als Symbol der Rechtsprechung. Er bewunderte zwar die Verfassung der Vereinigten Staaten, für die Inschrift wählte er jedoch JULY IV MDCCLXXVI (4. Juli 1776), womit er das Datum der Unabhängigkeitserklärung mit der Freiheit in Zusammenhang brachte.Rücksprachen mit der Gießerei Gaget, Gauthier & Cie. ließen Bartholdi zum Schluss kommen, dass die Verkleidung aus Kupferplatten bestehen sollte, die durch Treiben in die gewünschte Form gebracht wurden. Ein Vorteil dieses Verfahrens war, dass die Statue im Verhältnis zu ihrem Volumen leicht sein würde – das Kupfer musste nur 2,4 Millimeter dick sein. Bartholdi legte für die Statue eine Höhe von 151 Fuß und 1 Zoll (46,05 Meter) fest. Es gelang ihm, einen seiner ehemaligen Lehrer, den Architekten Eugène Viollet-le-Duc, für das Projekt zu interessieren. Viollet-le-Duc sah einen Backsteinpfeiler im Innern der Statue vor, an dem die Verkleidung verankert werden sollte.
=== Ankündigung und erste Arbeiten ===
1875 hatten sich die politischen Verhältnisse in Frankreich stabilisiert und die Wirtschaft erholte sich. Das wachsende Interesse an der bald stattfindenden Centennial Exhibition in Philadelphia bewog Laboulaye, öffentliche Unterstützung zu suchen. Er präsentierte das Projekt im September 1875 und gab die Gründung der Franko-Amerikanischen Union bekannt, welche die Finanzmittel beschaffen sollte. Mit der Ankündigung erhielt die Statue einen Namen, Liberty Enlightening the World auf Englisch bzw. La Liberté éclairant le monde auf Französisch; beides bedeutet übersetzt: „Die Freiheit, die Welt erhellend“. Die Franzosen sollten die Statue finanzieren, die Amerikaner den Sockel. Die Ankündigung rief allgemein positive Reaktionen hervor, wenn auch zahlreiche Franzosen den Vereinigten Staaten die ausbleibende Unterstützung während des Kriegs übel nahmen. Französische Monarchisten lehnten die Statue ab, und sei es nur, weil der Vorschlag vom liberalen Laboulaye kam, der kurz zuvor zum Senator auf Lebenszeit ernannt worden war. Laboulaye organisierte Anlässe, um das Wohlwollen der Reichen und Mächtigen zu sichern. Dazu gehörte eine Sondervorstellung am 25. April 1876 in der Pariser Oper mit einer neuen Kantate von Charles Gounod namens La Liberté éclairant le monde.
Trotz der anfänglichen Konzentration auf die Eliten gelang es der Union, Geld in allen Bevölkerungsschichten zu sammeln; zu den Spendern gehörten auch 181 französische Gemeinden. Laboulayes politische Verbündete unterstützten das Anliegen, ebenso Nachkommen der französischen Kontingente im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Zuwendungen kamen auch von weniger idealistischen Kreisen, die auf amerikanische Unterstützung beim französischen Versuch des Baus eines Panamakanals hofften. Das Kupferhandelsunternehmen Japy Frères spendete das gesamte benötigte Kupfer im Wert von 64.000 Francs. Das Kupfer soll aus einer Mine bei Visnes auf der norwegischen Insel Karmøy stammen, jedoch konnte dies nicht zweifelsfrei ermittelt werden.Obwohl die Planungen für die Statue noch nicht abgeschlossen waren, begann Bartholdi in der Werkstatt von Gaget, Gauthier & Cie. den Kopf und den rechten Arm mit der Fackel anzufertigen. Im Mai 1876 reiste er als Mitglied der französischen Delegation an die Centennial Exhibition und traf Vorkehrungen für ein riesiges Gemälde der Statue, das in New York im Rahmen der Hundertjahrfeier gezeigt werden sollte. Der Arm traf erst im August in Philadelphia ein, weshalb er nicht im Ausstellungskatalog verzeichnet war. Während einige Berichte das Werk korrekt identifizierten, sprachen andere vom „kolossalen Arm“ (Colossal Arm) oder von „Bartholdis elektrischem Licht“ (Bartholdi Electric Light). Auf dem Ausstellungsgelände stand eine Reihe monumentaler Kunstwerke, die um die Aufmerksamkeit der Besucher rangen, darunter ein übergroßer Brunnen von Bartholdi. Dennoch erwies sich der Arm gegen Ende der Ausstellung als beliebte Attraktion, und Besucher stiegen auf den Balkon der Fackel, um das Gelände zu überblicken. Nach Ende der Ausstellung wurde der Arm nach New York transportiert, wo er mehrere Jahre im Madison Square Park zu sehen war, bis er nach Frankreich zurückgebracht wurde, um ihn an der Statue zu befestigen.Während seiner Reise in die Vereinigten Staaten trat Bartholdi mit verschiedenen Gruppierungen in Kontakt und drängte zur Bildung eines amerikanischen Komitees der Franko-Amerikanischen Union. In New York, Boston und Philadelphia bildeten sich Spendenkomitees zur Finanzierung des Fundaments und des Sockels. Die New Yorker Gruppe übernahm schließlich am meisten Verantwortung für die Spendensammlung und wird häufig als „amerikanisches Komitee“ bezeichnet. Eines der Mitglieder war der damals 19-jährige Theodore Roosevelt, zukünftiger Gouverneur von New York und Präsident der Vereinigten Staaten. Am 3. März 1877, am letzten Tag seiner Amtszeit, unterzeichnete Präsident Grant eine Resolution, wonach der Präsident berechtigt war, die Statue von Frankreich entgegenzunehmen und einen Standort festzulegen. Sein Nachfolger Rutherford B. Hayes folgte Bartholdis Empfehlungen, und seine Wahl fiel auf Bedloe’s Island.
=== Arbeiten in Frankreich ===
Nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahr 1877 konzentrierte sich Bartholdi auf die Fertigstellung des Kopfes, der während der Weltausstellung 1878 gezeigt wurde. Die Spendenaktion dauerte an, unter anderem mit dem Verkauf von Modellen der Statue. Außerdem waren Eintrittskarten zur Werkstatt von Gaget, Gauthier & Cie. erhältlich, wo die Besucher die Arbeiten besichtigen konnten. Die französische Regierung bewilligte eine Lotterie. Zu gewinnen gab es unter anderem einen wertvollen Silberteller und ein Terrakotta-Modell der Statue. Bis Ende 1879 kamen rund 250.000 Francs zusammen.Der Kopf und der Arm waren mit der Unterstützung von Viollet-le-Duc entstanden. Er starb im September 1879 und hinterließ keine Hinweise darauf, wie er die Verbindung zwischen der Kupferverkleidung und dem vorgeschlagenen Backsteinpfeiler bewerkstelligt hätte. Im folgenden Jahr gelang es Bartholdi, die Dienste des innovativen Ingenieurs Gustave Eiffel zu sichern. Er und sein leitender Konstrukteur Maurice Koechlin beschlossen, den Pfeiler aufzugeben und stattdessen einen Turm aus Eisenfachwerk zu errichten. Koechlin verwendete keine vollkommen starre Struktur, da sonst die Beanspruchung zu Bruchstellen in der Kupferverkleidung führen würde. Die Statue sollte sich leicht mit dem Wind bewegen und das Metall sich in der Sommerhitze ausdehnen können. Zu diesem Zweck konstruierte er ein Geflecht kleinerer Rahmen-Fachwerkträger, mit denen er die Tragkonstruktion und die Kupferplatten verband. Diese Träger mussten in einem arbeitsaufwendigen Verfahren einzeln hergestellt werden. Zur Verhinderung von Kontaktkorrosion zwischen der Kupferverkleidung und der eisernen Tragkonstruktion ließ Eiffel die Verkleidung mit Asbest isolieren, der zuvor in Schellack getränkt wurde. Der Wechsel des Materials der Tragkonstruktion von Mauerwerk zu Eisen erlaubte es Bartholdi, seine Pläne für die Montage der Statue zu ändern. Ursprünglich wollte er die Verkleidung an Ort und Stelle montieren, parallel zur Errichtung des Backsteinpfeilers. Nun entschloss er sich, die Statue in Frankreich vorzufertigen, sie in Einzelteile zerlegt in die Vereinigten Staaten zu transportieren und auf Bedloe’s Island wieder zusammensetzen zu lassen.Mit dieser Bauweise wurde die Statue zu einem der frühesten Beispiele einer Vorhangfassade, bei der das Äußere des Bauwerks nur sein Eigengewicht trägt und durch ein Tragwerk im Innern gestützt wird. Eiffel fügte zwei Wendeltreppen hinzu, um Besuchern den Aufstieg zum Aussichtspunkt in der Krone zu erleichtern. Der Zugang zur Aussichtsplattform rund um die Fackel wurde ebenfalls gewährleistet, doch die Schmalheit des Arms erlaubte nur eine schmale, zwölf Meter lange Leiter. Eiffel und Bartholdi koordinierten ihre Arbeit sorgfältig, sodass fertiggestellte Teile der Verkleidung exakt auf die Tragkonstruktion passten.Im Rahmen einer Zeremonie am 24. Oktober 1881 vernietete Levi P. Morton, damaliger amerikanischer Botschafter in Frankreich, die erste Kupferplatte an den großen Zeh der Statue. Die Verkleidung wurde nicht in exakter Reihenfolge von unten nach oben gefertigt. Die Arbeiten schritten gleichzeitig an unterschiedlichen Segmenten voran, was für Besucher oft verwirrend schien. Bartholdi vergab einige Aufträge an Subunternehmer, beispielsweise entstanden die Finger gemäß seinen exakten Vorgaben in einer Kupferschmiede in der südfranzösischen Stadt Montauban. 1882 war die Statue bis zur Taille fertiggestellt; ein Ereignis, das Bartholdi mit der Einladung von Journalisten zu einem Mittagessen auf einer Plattform innerhalb der Statue feierte. Laboulaye starb im Mai 1883, seine Nachfolge als Vorsitzender des französischen Komitees trat Ferdinand de Lesseps, der Erbauer des Sueskanals, an. Die vollendete Statue wurde Botschafter Morton am 4. Juli 1884 anlässlich einer Zeremonie in Paris präsentiert und Lesseps verkündete, dass die französische Regierung die Transportkosten nach New York übernehmen werde. Als die Arbeiten am Sockel genügend weit fortgeschritten waren, wurde die Statue in ihre 350 Einzelteile zerlegt und für den Transport in 214 Kisten verpackt und mit dem Frachter Isere durch stürmisches Wetter über den Atlantik transportiert.
=== Spendenaktion, öffentliche Kritik und Errichten der Statue ===
Das amerikanische Komitee stieß beim Spendensammeln auf große Schwierigkeiten. Die wirtschaftliche Depression nach dem Gründerkrach von 1873 hielt über ein Jahrzehnt an. Die Freiheitsstatue war nicht das einzige Projekt, das unter Geldmangel litt; beispielsweise zogen sich die Arbeiten am Washington Monument mit mehreren Unterbrechungen über dreieinhalb Jahrzehnte hin. Es gab Kritik sowohl an Bartholdis Statue als auch an der Tatsache, dass die Amerikaner den Sockel für dieses Geschenk bezahlen mussten. In den Jahren nach dem Sezessionskrieg bevorzugte die Öffentlichkeit realistische Kunstwerke, die Helden und Ereignisse der amerikanischen Geschichte zum Inhalt hatten, im Gegensatz zu Allegorien, wie sie in der Freiheitsstatue dargestellt werden sollten. Es herrschte auch die Meinung vor, dass Kunstwerke im öffentlichen Raum von Amerikanern gestaltet werden müssten. Dass der in Italien geborene Constantino Brumidi den Auftrag zur Ausschmückung des Kapitols erhalten hatte, rief heftige Kritik hervor, obwohl der Künstler inzwischen eingebürgert worden war. Das Magazin Harper’s Weekly meinte, Bartholdi hätte sowohl die Statue als auch den Sockel spenden können und die New York Times stellte fest: “No true patriot can countenance any such expenditures for bronze females in the present state of our finances.” (deutsch: „Kein wahrer Patriot kann bei der aktuellen Lage unserer Finanzen irgendwelche Ausgaben für bronzene Frauen gutheißen.“) Angesichts dieser Kritik unternahm das amerikanische Komitee mehrere Jahre wenig.Das Fundament für Bartholdis Statue sollte im Fort Wood gesetzt werden. Diese ausgediente Militärbasis war zwischen 1807 und 1811 auf Bedloe’s Island entstanden. Seit 1823 war sie kaum noch benutzt worden, mit Ausnahme des Sezessionskriegs, als das Militär dort ein Rekrutierungsbüro betrieb. Die Tenaillierung des Festungsbauwerks hatte die Form eines elfstrahligen Sterns. Das Fundament und der Sockel wurden nach Südosten ausgerichtet, sodass Schiffspassagiere, die sich vom Atlantik her den New Yorker Hafen näherten, die Statue wahrnehmen konnten. 1881 beauftragte das New Yorker Komitee den Architekten Richard Morris Hunt mit dem Entwurf des Sockels. Hunt legte einen detaillierten Plan vor und schätzte, dass die Bauarbeiten etwa neun Monate dauern würden. Er schlug vor, den Sockel 114 Fuß (34,75 Meter) hoch zu bauen. Mit Finanzierungsproblemen konfrontiert, reduzierte das Komitee die Höhe auf 89 Fuß (27,13 Meter).Hunts Sockelentwurf enthält Elemente klassischer Architektur, darunter dorische Portale. Die große Masse ist mit architektonischen Details fragmentiert, sodass die Aufmerksamkeit auf die Statue gelenkt wird. Der Sockel hat die Form eines Pyramidenstumpfes; die Seitenlänge beträgt an der Basis 62 Fuß (18,90 Meter), an der Oberkante 39,4 Fuß (12,01 Meter). Die vier Seiten sehen identisch aus. Über den Türen auf jeder Seite befinden sich je zehn goldene Scheiben, auf denen gemäß einem Vorschlag Bartholdis die Wappen der damals 40 Bundesstaaten platziert werden sollten, was jedoch letztlich unterblieb. Darüber befindet sich auf jeder Seite ein durch Säulen eingerahmter Balkon. Nahe der Sockelspitze platzierte Bartholdi eine Aussichtsplattform, über der sich die Statue selbst erhebt. Gemäß dem Schriftsteller Louis Auchincloss „beschwört [der Sockel] schroff die Macht des antiken Europas herauf, über der sich die dominierende Figur der Freiheitsstatue erhebt“ (“craggily evokes the power of an ancient Europe over which rises the dominating figure of the Statue of Liberty”). Das Komitee engagierte den früheren Armeegeneral Charles Pomeroy Stone mit der Aufsicht über die Bauarbeiten. Die Errichtung des 15 Fuß (4,57 Meter) tiefen Fundaments begann am 9. Oktober 1883, die Grundsteinlegung erfolgte am 5. August 1884. Gemäß Hunts ursprünglichem Konzept sollte der Sockel aus festem Granit bestehen. Finanzielle Überlegungen zwangen ihn wiederum zur Änderung seines Planes. Der endgültige Plan sah bis zu 6 Meter dicke, mit Granitblöcken verkleidete Zementwände vor. Die hergestellte Betonmasse war die bis dahin größte weltweit. Zu diesem Zweck lieferte das deutsche Unternehmen Dyckerhoff in Amöneburg 8000 Fässer Portlandzement.Das Spendensammeln für die Statue begann 1882, und das Komitee organisierte eine große Anzahl entsprechender Veranstaltungen. Die Dichterin Emma Lazarus wurde gebeten, mit der Spende eines Originalwerks zu einer solchen Veranstaltung, einer Versteigerung von Kunstwerken und Manuskripten, beizutragen. Sie lehnte zunächst ab, mit der Begründung, sie könne kein Gedicht über eine Statue verfassen. Damals war sie auch mit der Hilfe für Flüchtlinge, die vor antisemitischen Pogromen in Osteuropa geflohen waren, beschäftigt. Diese Flüchtlinge waren gezwungen, in Verhältnissen zu leben, welche die wohlhabende Lazarus nie erlebt hatte. Sie sah eine Möglichkeit, ihr Mitgefühl für die Flüchtlinge mit der Statue in Verbindung zu bringen. Daraus resultierte das Sonett The New Colossus, inklusive der symbolhaften Zeilen “Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free” (deutsch: „Gebt mir eure Müden, eure Armen/Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen“).
Selbst mit diesen Anstrengungen blieb das Spendenaufkommen geringer als erhofft. 1884 legte Grover Cleveland, Gouverneur von New York, sein Veto gegen einen Unterstützungsbeitrag von 50.000 Dollar ein. Ein ähnlicher Versuch im Kongress, 100.000 Dollar zur Verfügung zu stellen (genug, um das Projekt abzuschließen), scheiterte 1885, als demokratische Repräsentanten der Überweisung nicht zustimmten. Das New Yorker Komitee, das nur 3.000 Dollar auf dem Konto hatte, suspendierte die Arbeiten am Sockel, was das Projekt gefährdete. Gruppierungen in anderen amerikanischen Städten, darunter Boston und Philadelphia, boten die Übernahme der gesamten Baukosten an und forderten als Gegenleistung die Verlegung der Statue. Joseph Pulitzer, Herausgeber der Zeitung New York World, kündigte eine Spendenkampagne an, die 100.000 Dollar aufbringen sollte. Er versprach, den Namen jedes Spenders zu veröffentlichen, und sei der gespendete Geldbetrag noch so klein.Als die Spenden zu fließen begannen, nahm das Komitee die Arbeiten am Sockel wieder auf. 1885 stellten die New Yorker ihren wiedergewonnenen Enthusiasmus zur Schau, als das französische Schiff Isère, das die Kisten mit den zerlegten Einzelteilen der Statue transportierte, am 17. Juni im New Yorker Hafen ankam. Rund 200.000 Menschen säumten die Docks und Hunderte von Schiffen stachen in See, um die Isère willkommen zu heißen. Am 11. August 1885, nach fünf Monaten mit täglichen Spendenaufrufen, gab die New York World bekannt, dass 102.000 Dollar von 120.000 Spendern zusammengekommen seien und dass 80 Prozent der Gesamtsumme sich aus Spenden von weniger als einem Dollar zusammensetze.Trotz des Erfolgs der Spendenkampagne war der Sockel erst im April 1886 vollendet. Unmittelbar danach begann der Zusammenbau der Statue. Eiffels Eisenfachwerk wurde im Innern des Betonsockels zusammengesetzt und an Stahlträgern verankert. Danach wurden die Kupferplatten sorgfältig befestigt. Aufgrund der zu geringen Breite des Sockels war es nicht möglich, ein Gerüst aufzustellen und die Arbeiter hingen beim Befestigen der Kupferplatten an Seilen. Dennoch kam es zu keinem tödlichen Unfall. Bartholdi hatte geplant, Scheinwerfer auf dem Balkon der mit Blattgold überzogenen Fackel zu installieren, um sie zu beleuchten. Eine Woche vor der Einweihung lehnte das Army Corps of Engineers diesen Vorschlag ab, da es befürchtete, die Lotsen auf vorbeiziehenden Schiffen könnten geblendet werden. Stattdessen ließ Bartholdi Bullaugen in die Fackel schneiden und die Scheinwerfer darin unterbringen. Auf der Insel wurde ein kleines Kraftwerk für die Statuenbeleuchtung und andere elektrische Bedürfnisse installiert. Nach der Fertigstellung der Verkleidung beaufsichtigte Frederick Law Olmsted, der Planer des Central Park und des Prospect Park, die Säuberungsarbeiten auf der Insel.
=== Einweihung ===
Die Einweihungszeremonie fand am Nachmittag des 28. Oktober 1886 statt. Präsident Grover Cleveland, einstiger Gouverneur von New York, war Schirmherr der Feierlichkeiten. Am Morgen wurde in New York eine Parade abgehalten, die Zuschauerzahl wird auf mehrere Hunderttausend bis eine Million geschätzt. Cleveland führte die Parade an und begab sich anschließend auf die Tribüne, um Blas- und Marschkapellen aus dem ganzen Land vorbeiziehen zu sehen. General Stone trat als Großmarschall der Parade auf. Die Festzugsroute begann am Madison Square, wo einst der Arm ausgestellt worden war, und führte über Fifth Avenue und Broadway zum Battery Park an der Südspitze von Manhattan. Der Festzug machte dabei einen kleinen Umweg über die Park Row, um am Hauptsitz von New York World vorbeizukommen. Beim Passieren der New York Stock Exchange warfen Händler Börsenticker-Papierstreifen aus den Fenstern und begründeten damit die New Yorker Tradition der Konfettiparade.Die nautische Parade begann um 12:45 Uhr. Präsident Cleveland ging an Bord einer Yacht, die ihn nach Bedloe’s Island brachte. Im Namen des französischen Komitees hielt Ferdinand de Lesseps die erste Rede, gefolgt vom Vorsitzenden des New Yorker Komitees, Senator William M. Evarts. Eine französische Flagge war über das Gesicht der Statue drapiert und sollte abgenommen werden, um sie am Ende von Evarts’ Rede zu enthüllen. Doch Bartholdi missverstand eine Pause als Abschluss und ließ die Flagge vorzeitig herunterfallen. Der einsetzende Jubel brachte Evarts’ Rede abrupt zu Ende. Als Nächster sprach Cleveland, der erklärte: “A stream of light shall pierce the darkness of ignorance and man’s oppression until Liberty enlightens the world.” (deutsch: „Ein Lichtstrom soll die Dunkelheit der Ignoranz und der Unterdrückung des Menschen durchdringen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet.“) Bartholdi, den man in der Nähe des Podiums erblickte, wurde aufgefordert, ebenfalls etwas zu sagen, doch er lehnte ab. Der bekannte Redner Chauncey Depew schloss mit einer übermäßig langen Ansprache ab.Diese Zeremonie war ausschließlich geladenen Gästen vorbehalten, die Öffentlichkeit erhielt keinen Zugang zur Insel. Die einzigen anwesenden Frauen waren Bartholdis Gattin und Lesseps’ Enkelin. Behördenvertreter hatten befürchtet, Frauen könnten im Gedränge verletzt werden. Suffragetten aus der Umgebung fühlten sich durch die Einschränkung beleidigt, mieteten ein Boot und näherten sich der Insel. Die Anführerinnen der Gruppe hielten eigene Reden, priesen die Verkörperung der Freiheit durch eine Frau und forderten das Frauenwahlrecht. Ein offiziell geplantes Feuerwerk musste wegen schlechten Wetters auf den 1. November verschoben werden.Kurz nach der Einweihung forderte die afroamerikanische Zeitung Cleveland Gazette, dass die Fackel der Statue nicht eher leuchten sollte, bis die Vereinigten Staaten tatsächlich eine freie Nation seien:
== Weitere Entwicklung ==
=== Lighthouse Board und Kriegsministerium (1886–1933) ===
Als die Fackel am Abend der Einweihung beleuchtet wurde, war dies von Manhattan aus kaum zu sehen. Die New York World beschrieb das Leuchten als „more like a glowworm than a beacon“ (deutsch: „eher wie ein Glühwürmchen als ein Leuchtfeuer“). Bartholdi schlug vor, die Statue zu vergolden, um die Lichtreflexion zu vergrößern, was sich aber als zu teuer erwies. Das United States Lighthouse Board, die für Leuchttürme zuständige Bundesbehörde, übernahm die Statue im Jahr 1887 und sicherte zu, die Fackel mit einer Ausrüstung für gesteigerte Leuchtkraft auszustatten. Trotz dieser Bemühungen blieb die Statue nachts praktisch unsichtbar. Als Bartholdi 1893 in die USA zurückkehrte, schlug er weitere Maßnahmen vor, die sich allesamt als ineffektiv erwiesen. Er setzte sich erfolgreich für eine verbesserte Beleuchtung im Innern der Statue ein, sodass die Besucher Eiffels Design besser wahrnehmen konnten. 1901 ordnete Präsident Theodore Roosevelt, einst Mitglied des New Yorker Komitees, die Übergabe der Statue an das Kriegsministerium an, da sie sich als Leuchtturm nicht bewährt habe. Während der militärischen Verwaltung von Bedloe’s Island war bis 1923 eine Einheit des Army Signal Corps auf der Insel stationiert, danach Militärpolizei.Die Statue entwickelte sich rasch zu einem Wahrzeichen. Erzählungen von Einwanderern, die über New York einreisten, berichteten von einem erhebenden Gefühl beim ersten Anblick der Statue. Ein Einwanderer aus Griechenland erinnerte sich:
Ursprünglich hatte die Statue eine matte Kupferfärbung; kurz nach 1900 breitete sich aufgrund der Oxidation eine grüne Patina aus. Erste Presseberichte darüber erschienen 1902, vier Jahre später bedeckte sie die gesamte Statue. Überzeugt davon, dass die Patina ein Zeichen von Korrosion war, bewilligte der Kongress 62.800 Dollar, um die Statue gründlich zu überstreichen. Gegen den Außenanstrich erhoben sich erhebliche öffentliche Proteste. Das Army Corps of Engineers (USACE) untersuchte die Patina darauf, ob sie schädliche Auswirkungen habe und kam zum Schluss, dass sie die Verkleidung eher schütze, die Konturen weicher mache und die Statue dadurch schöner werde. Die Statue erhielt daraufhin nur einen Innenanstrich. Das USACE installierte auch einen Aufzug, um Besucher von der Basis zum obersten Teil des Sockels zu transportieren.
Am 30. Juli 1916, während des Ersten Weltkriegs, verübten deutsche Saboteure einen Sprengstoffanschlag auf die Black-Tom-Halbinsel in Jersey City, unweit von Bedloe’s Island gelegen (heute Teil des Liberty State Park). Rund 1000 Tonnen Munition, die nach Großbritannien und Frankreich verschifft werden sollten, explodierten und sieben Menschen starben. Die Statue erlitt kleinere Schäden, überwiegend am Fackelarm, und wurde für zehn Tage geschlossen. Die Reparaturkosten für die Statue und die Gebäude auf der Insel betrugen rund 100.000 Dollar. Der enge Aufstieg zur Fackel wurde aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gesperrt und blieb es bis heute.Im selben Jahr begann Ralph Pulitzer, der seinen Vater als Herausgeber der New York World abgelöst hatte, eine Spendenkampagne. Es sollten 30.000 Dollar für ein Beleuchtungssystem gesammelt werden, um die Statue nachts anzuleuchten. Pulitzer behauptete, es habe 80.000 Spender gegeben, doch die Kampagne verfehlte ihr Ziel. Ein wohlhabender Gönner beglich die Differenz im Geheimen, was erst 1936 herauskam. Mit einem Unterwasserkabel wurde die Insel an das Stromnetz auf dem Festland angeschlossen und entlang der Mauern von Fort Wood wurden Flutlichter platziert. Gutzon Borglum, der später Mount Rushmore schuf, entwarf die Fackel neu und ersetzte das ursprüngliche Kupfer zu einem großen Teil mit bemalten Glasfenstern. Am 2. Dezember 1916 schaltete Präsident Woodrow Wilson mit einem Telegrafenknopf die Beleuchtung ein. Sie tauchte die Statue in strahlendes Licht. Die elektrische Beleuchtung war in der Fackel installiert, und die Statue war fortan nachts sogar aus größerer Entfernung als tagsüber zu erkennen. Während der Inbetriebnahme flog Ruth Law an der Statue mit einem „glänzend erleuchtet[en]“ Flugzeug vorbei, an dem in hellbeleuchteten Buchstaben das Wort Liberty zu erkennen war.Nachdem die USA am 6. April 1917 in den Krieg eingetreten waren, war die Statue häufig auf Rekrutierungsplakaten und Werbungen für Liberty Bonds (Kriegsanleihen) abgebildet. Sie sollte die Bevölkerung auf das Kriegsziel, die Sicherung der Freiheit, aufmerksam machen und daran erinnern, dass das umkämpfte Frankreich den USA die Freiheitsstatue geschenkt hatte. 1924 nutzte Präsident Calvin Coolidge die durch das Altertumsgesetz (Antiquity Act) verliehene Befugnis und erklärte Bedloe’s Island mit der Freiheitsstatue zum Statue of Liberty National Monument. Der einzige geglückte Suizid ereignete sich fünf Jahre später: ein Mann stieg aus einem der Fenster in der Krone und sprang in die Tiefe.
=== National Park Service (1933–1982) ===
1933 übertrug Präsident Franklin D. Roosevelt die Verantwortung für die Statue dem National Park Service (NPS). Ab 1937 war der NPS für ganz Bedloe’s Island zuständig. Nach dem Abzug der Armee begann der NPS, die Insel in einen Park umzuwandeln. Die Works Progress Administration (WPA) riss die meisten der alten Gebäude ab, flachte das östliche Ende der Insel ab und bepflanzte es neu. Außerdem setzte sie Granitstufen für einen neuen öffentlichen Zugang zur Statue von der hinteren Seite her. Die WPA führte auch Restaurierungsarbeiten an der Statue durch und entfernte dabei vorübergehend die Strahlen der Krone, um ihre verrosteten Träger zu ersetzen. Verrostete gusseiserne Stufen im Sockel und im oberen Treppenteil im Innern der Statue wurden durch neue aus Stahlbeton ersetzt. Kupferne Verschalungen wurden montiert, um weitere Schäden durch Regenwasser, das durch den Sockel sickerte, abzuwenden. Die Statue war von Mai bis Dezember 1938 für die Öffentlichkeit geschlossen.Während des Zweiten Weltkriegs blieb die Statue für Besucher geöffnet, war aber aufgrund der Verdunkelung nachts nicht erleuchtet. Für kurze Zeit wurde die Beleuchtung am 31. Dezember 1943 und am 6. Juni 1944 (D-Day) eingeschaltet, als die Lichter das Signal „kurz-kurz-kurz-lang“, den Morsecode für V für Victory („Sieg“) sendeten. Eine neue, leistungsfähige Beleuchtung wurde 1944/45 installiert und ab 8. Mai 1945 (VE-Day) war die Statue erneut nach Sonnenuntergang beleuchtet. Die Beleuchtung war jeden Abend nur für wenige Stunden eingeschaltet; seit 1957 wird die Statue jede Nacht durchgehend angestrahlt. 1946 wurde der öffentlich zugängliche Teil im Innern der Statue mit einer speziellen Plastikfolie überzogen, sodass Graffiti abgewaschen werden können.1956 beschloss der Kongress, Bedloe’s Island in 'Liberty Island' umzubenennen; ein Vorschlag, den bereits Bartholdi gemacht hatte. Das Gesetz schuf auch die Voraussetzung, ein Einwanderungsmuseum auf der Insel zu finanzieren. Unterstützer betrachteten dies als Genehmigung des Projekts, doch die Regierung verzögerte die Freigabe der Geldmittel. Präsident Lyndon B. Johnson erklärte 1965 die benachbarte Insel Ellis Island zu einem Teil des Statue of Liberty National Monument. 1972 öffnete schließlich das Einwanderungsmuseum in der Basis der Statue mit einer von Präsident Richard Nixon geleiteten Zeremonie. Wegen fehlender finanzieller Mittel musste das Museum 1991 geschlossen werden, nachdem auf Ellis Island ein neues Museum eröffnet worden war.1976 ließ der NPS aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten ein neues Beleuchtungssystem installieren. Die Statue war Mittelpunkt von Operation Sail, einer Regatta von Großseglern aus aller Welt, die am 4. Juli 1976 den New Yorker Hafen anliefen und Liberty Island umsegelten. Der Festtag endete mit einem großen Feuerwerk in der Nähe der Statue.
=== Restaurierung und weitere Entwicklung seit 1982 ===
Im Zuge der Planungen für die Hundertjahrfeier der Statue im Jahr 1986 untersuchten französische und amerikanische Ingenieure das Bauwerk eingehend. Sie kamen 1982 zum Schluss, die Statue benötige eine umfassende Restaurierung. Der rechte Arm war unsachgemäß am Hauptteil befestigt worden. Er schwankte bei starkem Wind mehr und mehr, sodass ein erhebliches Absturzrisiko bestand. Zusätzlich war der Kopf rund 60 Zentimeter seitlich vom Mittelpunkt montiert worden und einer der Strahlen bohrte ein Loch in den rechten Arm, wenn sich die Statue im Wind bewegte. Die Rahmenstruktur war stark korrodiert und rund zwei Prozent der Platten der Außenhülle mussten ersetzt werden. Zwar war das Problem mit der Rahmenstruktur bereits 1936 erkannt worden, als einige gusseiserne Ersatzträger montiert worden waren, doch der größte Teil der Korrosion war durch Farbschichten verdeckt, die man im Laufe der Jahre angebracht hatte.Im Mai 1982 verkündete Präsident Ronald Reagan die Bildung der Statue of Liberty–Ellis Island Centennial Commission, geleitet vom Chrysler-Vorsitzenden Lee Iacocca, die die benötigten Geldmittel auftreiben sollte. Der Kommission gelang es, mehr als 350 Millionen Dollar Spendengelder zu sammeln. Diese Spendenkampagne gehörte zu den ersten, an der sich Unternehmen zu Marketingzwecken beteiligten (Cause Marketing).1983 warb American Express für sich, indem es bei jeder mit einer Kreditkarte getätigten Transaktion einen Cent zur Renovierung beisteuerte. Allein diese Kampagne erbrachte 1,7 Millionen Dollar.1984 war die Statue aufgrund der Renovierungsarbeiten eingerüstet und für die Öffentlichkeit gesperrt. Die Farbschichten, die über Jahrzehnte an der Innenseite der Kupferverkleidung angebracht worden waren, wurden mit Flüssigstickstoff entfernt, welches von Union Carbide gespendet worden war. Zwei Schichten Steinkohlenteer, die beim Bau der Statue aufgetragen worden waren, um Lecks abzudichten und Korrosion zu verhindern, wurden durch das Sodablasting-Verfahren entfernt, ohne das Kupfer weiter zu beschädigen. Das hierfür benötigte Soda wurde durch Church & Dwight bereitgestellt. Eine auf Asbest basierende Substanz, die Bartholdi zur Verhinderung der Kontaktkorrosion ohne Erfolg verwendet hatte, behinderte die Arbeit der Restauratoren. Arbeiter im Innern der Statue mussten Schutzkleidung mit integriertem Atemschutzgerät tragen. Löcher in der Kupferverkleidung wurden repariert und, wo notwendig, durch neues Kupfer ersetzt. Die Ersatzverkleidung stammte vom Dach der Bell Laboratories, das eine ähnliche Patina aufwies; im Gegenzug erhielt das Laboratorium Teile der alten Verkleidung zu Testzwecken. Es stellte sich heraus, dass seit den Änderungen von 1916 Wasser in die Fackel eindrang, weshalb man sie durch eine Kopie ersetzte. Die Restauratoren erwogen den Ersatz von Arm und Schulter, doch der National Park Service bestand auf einer Reparatur.
Zur Restaurierung gehörte auch der Ersatz der gesamten Verankerung. Die im Puddelverfahren hergestellten Eisenstäbe, die Eiffel verwendet hatte, wurden Schritt für Schritt entfernt. Die neuen Stäbe, die am Pylon befestigt sind, bestehen aus kohlenstoffarmem rostfreiem Stahl, die Stäbe, die nun die Klammern an der Verkleidung festhalten, aus Ferralium, einer Legierung, die sich bei Bewegungen der Statue leicht biegt und wieder in die Ausgangsposition zurückkehrt. Um zu verhindern, dass sich der Strahl und der Arm gegenseitig berühren, wurde der Strahl um einige Grad neu ausgerichtet. Man ersetzte auch die Beleuchtung ein weiteres Mal; seither werfen Halogenlampen Lichtstrahlen auf bestimmte Bereiche des Sockels und heben diese dadurch hervor. An die Stelle eines in den 1960er Jahren gebauten unscheinbaren Eingangs im Sockel trat ein breites Portal mit monumentalen Bronzetüren, auf denen symbolisch die Renovierung dargestellt ist. Ein moderner Aufzug ermöglicht Menschen mit Behinderungen den Zugang zum Aussichtsbereich des Sockels. Hinzu kam auch ein Notaufzug, der bis zur Höhe der Schulter der Statue reicht.Die Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung und zum hundertjährigen Jubiläum der Statue vom 3. bis 6. Juli 1986 wurden Liberty Weekend (Freiheitswochenende) genannt. Am 4. Juli fand eine Neuauflage von Operation Sail statt. Einen Tag darauf nahm Ronald Reagan im Beisein des französischen Präsidenten François Mitterrand die Wiedereinweihung der Statue vor. Das Restaurierungsprojekt wurde 1987 mit dem Outstanding Civil Engineering Achievement Award der American Society of Civil Engineers ausgezeichnet.
Unmittelbar nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 wurde Liberty Island für die Öffentlichkeit gesperrt. Ende 2001 durfte die Insel wieder betreten werden, doch der Sockel und die Statue blieben weiterhin Sperrbereich. Der Zugang zum Sockel war ab 3. August 2004 wieder gestattet, doch der National Park Service gab bekannt, Besuchern könne der Zutritt zur Statue aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt werden. Die Behörde begründete diese Maßnahme damit, dass in Notfällen eine Evakuierung mit Schwierigkeiten verbunden wäre. Ken Salazar, Innenminister in Barack Obamas Regierung, kündigte am 17. Mai 2009 an, dass die Statue am 4. Juli wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, als „besonderes Geschenk an Amerika“. Seither war die Zahl der Besucher, die pro Tag bis zur Krone hinaufsteigen durften, beschränkt. Nach dem 125. Jubiläum am 28. Oktober 2011 wurde die Statue für ein Jahr geschlossen, um im Inneren ein neues Treppensystem einzubauen, mit dem moderne Sicherheitsanforderungen erfüllt werden und künftig mehr Menschen gleichzeitig die Statue besuchen können. Nur einen Tag nach der Wiedereröffnung am 28. Oktober 2012 musste die Statue wegen der Auswirkungen von Hurrikan Sandy erneut geschlossen werden. Die Statue selbst war nicht beschädigt, aber Teile der Infrastruktur im Sockel wurden zerstört. Die Renovierung dauerte bis zum folgenden Sommer; am Nationalfeiertag, dem 4. Juli 2013 wurde die Freiheitsstatue wieder eröffnet.
== Besichtigung ==
Der Eintritt zum Statue of Liberty National Monument ist frei. Allerdings sind sämtliche Besucher auf die kostenpflichtige Benutzung der Fähren angewiesen, da private Schiffe und Boote nicht an der Insel anlegen dürfen. Seit 2007 hält die Gesellschaft State Cruises die Konzession für den Transport und den Kartenverkauf. Sie trat an die Stelle des Unternehmens Circle Line, das zuvor seit 1953 den Fährbetrieb durchgeführt hatte. Die Fähren, die beim Liberty State Park in Jersey City und beim Battery Park in Lower Manhattan ablegen, verkehren jeweils auch über Ellis Island, sodass eine Rundfahrt möglich ist. Besucher, die den Sockel betreten wollen, müssen im Besitz einer zusätzlichen, kostenlosen Eintrittskarte sein.
== Inschriften, Gedenktafeln und Würdigungen ==
An und in der Nähe der Freiheitsstatue gibt es mehrere Gedenktafeln. Eine Tafel an der Kupferverkleidung unmittelbar unter den Füßen verkündet, dass die Statue die Freiheit repräsentiert, von Bartholdi entworfen und vom Pariser Unternehmen Gaget, Gauthier et Cie. erbaut wurde. Eine weitere Tafel, ebenfalls mit Bartholdis Namen versehen, weist die Statue als Geschenk des französischen Volkes aus, das „die Allianz der zwei Nationen bei der Erlangung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten“ ehrt und „ihre dauernde Freundschaft“ bestätigt (“honors the Alliance of the two Nations in achieving the Independence of the United States of America and attests their abiding friendship”). Eine Tafel des New Yorker Komitees erinnert an die Spendenkampagne zur Errichtung des Sockels. Der Grundstein weist ebenfalls eine Tafel auf, platziert von den Freimaurern.Freunde der Dichterin Emma Lazarus stifteten 1903 ihr zu Ehren eine Bronzetafel mit dem Gedicht The New Colossus. Bis zur Renovierung 1986 hing sie im Innern des Sockels, seither befindet sie sich in der Basis im Statue of Liberty Museum. Ergänzt wird sie durch eine Gedenktafel, die 1977 vom Erinnerungskomitee für Emma Lazarus gestiftet wurde und das Leben der Dichterin würdigt.Am westlichen Ende der Insel befindet sich eine Gruppe von fünf Statuen des Bildhauers Phillip Ratner aus Maryland. Sie ehren jene Personen, die eng mit der Entstehung der Freiheitsstatue in Zusammenhang stehen. Dargestellt sind die Amerikaner Pulitzer und Lazarus sowie die Franzosen Bartholdi, Laboulaye und Eiffel.1984 erklärte die UNESCO die Freiheitsstatue zum Weltkulturerbe. Die UNESCO beschreibt in ihrer Erklärung der Bedeutung die Statue als “masterpiece of the human spirit [… that] endures as a highly potent symbol—inspiring contemplation, debate and protest—of ideals such as liberty, peace, human rights, abolition of slavery, democracy and opportunity” (deutsch: „Meisterwerk des menschlichen Geistes […, das] ein dauerhaftes starkes Symbol für Ideale wie Freiheit, Frieden, Menschenrechte, Abschaffung der Sklaverei, Demokratie und Chancen ist und zum Nachdenken, zu Debatten und zum Protest anregt“).1985 wurde die Freiheitsstatue von der American Society of Civil Engineers in die Liste der Historic Civil Engineering Landmarks aufgenommen.
== Maße und Gewichte ==
Die Freiheitsstatue ist mit einer Figurhöhe von 46,05 Metern und einer Gesamthöhe von 92,99 Metern zurzeit (2011) auf Platz 13 der Liste der höchsten Statuen. Bei ihrer Errichtung war sie die höchste und blieb dies bis 1959, als sie von der Statue des Cristo Rei in der portugiesischen Stadt Almada übertroffen wurde.
== Nachbildungen ==
Aufgrund der universellen Ausstrahlung der Symbolik der Freiheitsstatue entstanden im Laufe der Jahre weltweit zahlreiche Nachbildungen in verschiedenen Größen. Die bekannteste Version im Entstehungsland Frankreich befindet sich in Paris am westlichen Ende der Île aux Cygnes, einer schmalen künstlichen Insel in der Seine nahe dem Eiffelturm. Diese Figur ist eigentlich keine Nachbildung, sondern die ältere Schwester der New Yorker Dame. Diese 11,5 m hohe und 14 t schwere Bronzestatue ist nämlich ein Abguss des Gipsmodells im Maßstab 1:4, das Bartholdi zur Vorbereitung seines Hauptwerkes erstellt hatte. Der Abguss vom Modell wurde Frankreich in Paris als Colonie Parisienne ansässigen Amerikanern als Dank geschenkt und am 4. Juli 1889 zum Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom Staatspräsidenten Sadi Carnot und dem amerikanischen Botschafter Whitelaw-Reid in Paris eingeweiht. Die Statue wurde schließlich in der virtuellen Blickrichtung zu ihrem viermal so hohen Gegenstück im New Yorker Hafen aufgebaut. In der französischen Hauptstadt gibt es zwei weitere, kleinere Nachbildungen der Statue; Nachbildungen gibt es in mehreren weiteren französischen Städten, unter anderem seit 2004 in Bartholdis Heimatstadt Colmar. Außerdem befindet sich bei der Pont de l’Alma in Paris die Flamme de la Liberté (Flamme der Freiheit), eine 3,5 m hohe Nachbildung der Flamme der Freiheitsstatue aus vergoldetem Kupfer in natürlicher Größe auf einem Sockel aus grauem und schwarzem Marmor. Sie wurde 1987 der Stadt Paris als Dank von der International Herald Tribune und verschiedenen Spendern übergeben.
Eine der ältesten Nachbildungen in den Vereinigten Staaten entstand um 1900, befand sich jahrzehntelang auf dem Dach des Liberty-Lagerhauses in Manhattans Lower East Side und wird seit den 1960er Jahren vor dem Brooklyn Museum ausgestellt. Die Nachbildung vor dem 1997 eröffneten New York-New York Hotel & Casino in Las Vegas ist halb so hoch wie das Original.Im Rahmen der patriotischen Kampagne Strengthen the Arm of Liberty („Stärkt den Arm der Freiheit“) spendeten die Boy Scouts of America in den Jahren 1949 bis 1952 rund zweihundert Nachbildungen verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten und Städten. Von diesen rund 2,5 Meter hohen Statuen ist etwa die Hälfte erhalten geblieben. Die Göttin der Demokratie, die 1989 während der Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens errichtet wurde, wies zwar gewisse Ähnlichkeiten mit der Freiheitsstatue auf, die Erbauer entschieden sich jedoch bewusst gegen eine genaue Kopie, da diese zu pro-amerikanisch gewesen wäre.1992, zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas, errichtete der Künstler Hartmut Skerbisch im Rahmen des Steirischen Herbstes vor dem Eingang der Grazer Oper eine in Größe und Dimension identische Kopie des Skeletts der Freiheitsstatue. Nur die Fackel wurde durch ein Schwert, die Tafel durch eine Kugel ersetzt. Die Statue behielt den Arbeitstitel Lichtschwert.
== Kultureller Einfluss ==
Die Freiheitsstatue hat einen hohen Wiedererkennungseffekt und ist für viele Menschen ein Symbol der Vereinigten Staaten, ähnlich wie das Sternenbanner oder Uncle Sam. Um diese Symbolik entstehen zum Teil hitzige Kontroversen, die selten die Statue selbst betreffen. Vielmehr wird nach der Wahrhaftigkeit der Symbolik gefragt, die entweder mit dem „American Dream“ und der Offenheit der amerikanischen Gesellschaft bestätigt oder aber als Heuchelei abgelehnt wird. In den amerikanischen Medien gilt die Freiheitsstatue als Wächterin der von ihr symbolisierten Werte. Dabei ist sie weltweit, insbesondere jedoch im eigenen Land, Objekt zahlreicher Karikaturen, in denen sie mit verändertem Gesichtsausdruck, anderen Posen oder mit unterschiedlichen Objekten in ihren Händen gezeigt wird.
Das Abbild der Freiheitsstatue ziert zahlreiche amerikanische Briefmarken und Münzen. So erschien sie 1986 auf Gedenkmünzen aus Anlass des hundertsten Jubiläums, 1997 auf dem American Platinum Eagle, 2001 auf der New Yorker Ausgabe der State Quarters und seit 2007 auf dem Präsidentendollar. Die Fackel der Freiheitsstatue ist auf der aktuellen Zehn-Dollar-Note doppelt abgebildet. Mit der Freiheitsstatue werden oft Konsumartikel wie Coca-Cola oder Kaugummi beworben. Zahlreiche Institutionen mit regionalem Bezug nutzen sie als Identifikationsfigur. Von 1986 bis 2000 war sie beispielsweise auf neuen Kfz-Kennzeichen des Staates New York abgebildet. Das Team New York Liberty der Women’s National Basketball Association ist nicht nur nach der Statue benannt, sondern bildet sie auch in ihrem Logo ab, wobei die Flammen der Fackel einem Basketball ähneln. Auch das Logo der New York University enthält die Fackel.
Zahlreiche Künstler ließen sich von der Freiheitsstatue inspirieren, so zum Beispiel Andy Warhol. Wie in anderen Kunstsparten steht die Freiheitsstatue auch in der Musik für gegensätzliche politische Ansichten. Der Country-Sänger Toby Keith besang sie im Lied Courtesy of the Red, White and Blue (The Angry American), einem leidenschaftlichen und patriotischen Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Dem gegenüber war das Album Bedtime for Democracy der Punkband Dead Kennedys mit einer in parodistischer Weise gezeichneten Statue auf dem Cover ein Protest gegen die Politik der Reagan-Regierung. 1983 machte der Zauberkünstler David Copperfield das Verschwinden der Freiheitsstatue zum Höhepunkt seiner jährlichen Fernsehshow The Magic of David Copperfield.In zahlreichen Filmen dient die Freiheitsstatue als Kulisse. Ein frühes Beispiel ist Der Einwanderer von Charlie Chaplin (1917). Als Handlungsort spielt die Statue unter anderem in den Filmen Saboteure von Alfred Hitchcock (1942), Ghostbusters II (1989), Remo – unbewaffnet und gefährlich (1985) und X-Men (2000) eine Rolle. In Science-Fiction-Filmen ist die Beschädigung oder Zerstörung der Statue oft ein Symbol für Hoffnungslosigkeit oder das Ende der Zivilisation, beispielsweise in Independence Day (1996), The Day After Tomorrow (2004) und Cloverfield (2008). Als besonders prägend für das Genre gilt der Film Planet der Affen (1968), in dem der überlebende Held die Trümmer der Statue findet und erkennt, dass er auf der Erde der Zukunft gelandet ist, die von den Menschen zerstört wurde. 1979 schrieb Robert Holdstock in der Encyclopedia of Science Fiction über die Freiheitsstatue:
== Film ==
Mark Daniels (Regie): Lady Liberty. Freiheit erleuchtet die Welt. Fernsehfilm-Dokumentation mit Spielszenen, Frankreich, 2013. (über den Film (Memento vom 23. Februar 2014 im Internet Archive))
== Literatur ==
James B. Bell, Richard L. Adams: In Search of Liberty: The Story of the Statue of Liberty and Ellis Island. Doubleday & Co., Garden City, NY 1984, ISBN 0-385-19624-5.
Jonathan Harris: A Statue for America: The First 100 Years of the Statue of Liberty. Four Winds Press, New York 1985, ISBN 0-02-742730-7.
Richard Seth Hayden, Thierry W. Despont: Restoring the Statue of Liberty. McGraw-Hill, New York 1986, ISBN 0-07-027326-X.
Yasmin Sabina Khan: Enlightening the World: The Creation of the Statue of Liberty. Cornell University Press, Ithaca, NY 2010, ISBN 978-0-8014-4851-5.
Barry Moreno: The Statue of Liberty Encyclopedia. Simon & Schuster, New York 2000, ISBN 0-7385-3689-X.
Cara A. Sutherland: The Statue of Liberty. Barnes & Noble Books, New York 2003, ISBN 0-7607-3890-4.
Robert Belot, Daniel Bermond: Bartholdi. Éditions Perrin, Paris 2004, ISBN 2-262-01991-6.
== Weblinks ==
Liste der höchsten Leuchttürme der Welt
National Park Service: Freiheitsstatue (offizielle Seite; englisch)
Statue-of-Liberty-Ellis-Island-Stiftung (englisch)
Fotos zum Thema Freiheitsstatue im Archiv der US-Kongressbibliothek (englisch)
Freiheitsstatue. In: Structurae
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitsstatue |
Technetium | = Technetium =
Technetium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Tc und der Ordnungszahl 43. Es kommt auf der Erde natürlicherweise vor, wenn auch in sehr geringen Mengen. Technetium war das erste künstlich hergestellte Element und erhielt deswegen seinen aus dem altgriechischen Wort τεχνητός technētós („künstlich“, Ableitung von τέχνη téchne) hergeleiteten Namen.
Es zählt zu den Übergangsmetallen, im Periodensystem steht es in der 5. Periode und der 7. Nebengruppe (Gruppe 7) oder Mangangruppe.
Alle Technetium-Isotope sind radioaktiv, das heißt, sämtliche Atomkerne, die 43 Protonen enthalten, sind instabil und zerfallen. Technetium und das schwerere Promethium (61) sind die einzigen Elemente mit kleinerer Ordnungszahl als Bismut (83), die diese Eigenschaft besitzen.
== Geschichte ==
Viele Jahre gab es in dem von dem russischen Chemiker Dmitri Mendelejew vorgeschlagenen Periodensystem der Elemente eine Lücke zwischen den Elementen Molybdän (42) und Ruthenium (44), die auf ein bisher unidentifiziertes Element hinwies. Mendelejew selbst gab ihm den Namen Eka-Mangan und sagte mit guter Näherung unter anderem seine Masse voraus. In der Folgezeit versuchten zahlreiche Forscher, das fehlende Element zu entdecken; seine Position im Periodensystem stärkte die Annahme, dass es leichter zu finden sei als andere, noch unentdeckte Elemente mit höheren Ordnungszahlen.
=== Fehlgeschlagene Entdeckungen ===
Die Anzahl der vermeintlichen Nachweise des Elements sowie der mit dem Element in Verbindung gebrachten Entdeckungen ist ungewöhnlich groß. Die erste vermeintliche Entdeckung, die mit Technetium in Verbindung gebracht wurde, ist die von Polinium 1828 durch Gottfried Osann. Dieser meinte, neben der tatsächlichen Entdeckung des Rutheniums, auch ein Element entdeckt zu haben, das er Polinium nannte. Es stellte sich allerdings bald heraus, dass es sich bei dem Fund um unreines Iridium handelte. Aufgrund der Lage im damals noch nicht vollständig bekannten Periodensystem wurde die Entdeckung mit Technetium in Verbindung gebracht.Das nächste vermeintliche Element, das für das spätere Technetium gehalten wurde, war das 1846 entdeckte Ilmenium. Über dieses, angeblich dem Niob und Tantal ähnliche Element (wahrscheinlich war es unreines Niob) wurde von seinem Entdecker Hans Rudolph Hermann 30 Jahre nach der Entdeckung und unter Einbeziehung des inzwischen etablierten Periodensystems behauptet, es sei das fehlende Eka-Mangan. Auch das 1847 von Heinrich Rose vermeintlich gefundene Pelopium wurde für Technetium gehalten.Die erste Fehlentdeckung, bei der tatsächlich nach dem fehlenden Element mit der Ordnungszahl 43 gesucht wurde, war das Davyum. 1877 meldete der russische Chemiker Serge Kern die Entdeckung des fehlenden Elements in Platin-Erz und gab dem vermeintlichen Element nach dem englischen Chemiker Sir Humphry Davy den Namen Davyum. Der Fund stellte sich jedoch als Mischung aus Iridium, Rhodium und Eisen heraus.
Eine weitere vermeintliche Entdeckung fand im Jahr 1896 mit Lucium statt, dabei handelte es sich jedoch um Yttrium. Schließlich schloss der japanische Chemiker Masataka Ogawa aus der Analyse eines Minerals auf die Anwesenheit von Nipponium (benannt nach Nippon, dem japanischen Wort für Japan), das er für das Element mit der Ordnungszahl 43 hielt. Spätere Analysen deuteten stattdessen auf Rhenium hin.
=== Irrtümlicher Nachweis durch Noddack, Tacke und Berg ===
Die deutschen Chemiker Walter Noddack, Ida Tacke und Otto Berg berichteten im Jahr 1925 von der Entdeckung des Elements 43 und gaben ihm den Namen Masurium, abgeleitet von Masuren, der Heimat von Walter Noddack. Die Gruppe beschoss an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Berlin das Mineral Columbit mit einem Elektronenstrahl und schloss aus den Röntgenspektren auf die Anwesenheit von Element 43. Das beobachtete Signal war jedoch nahe an der Nachweisgrenze und konnte von anderen Arbeitsgruppen zu dieser Zeit nicht reproduziert werden. Eine präparative Reindarstellung gelang – im Einklang mit der Mattauchschen Isobarenregel – nicht. Die Entdeckung wurde deshalb nicht anerkannt. Noch im Jahr 1933 verwendeten etliche Artikel über die Entdeckung der Elemente den Namen Masurium (Symbol: Ma) für das Element 43.In den Jahren zwischen 1988 und 2005 wurde die Zurückweisung der Entdeckung wiederholt in Frage gestellt. Der Physiker van Assche nahm zunächst eine Revision der originalen Photoplatte der Noddacks vor und kam zu dem Schluss, dass 1925 tatsächlich ein Nachweis natürlich vorkommenden Technetiums aus der spontanen U-238 Spaltung gelungen sein könnte. John T. Armstrong vom US-amerikanischen National Institute of Standards and Technology simulierte später die Experimente mit einem Computer und kam zu vergleichbaren Resultaten wie Noddack, Berg und Tacke. Unterstützung kam durch eine Arbeit von David Curtis vom Los Alamos National Laboratory, der das sehr geringe natürliche Vorkommen von Technetium mit den Methoden von Noddack, Tacke und Berg nachwies. Die Debatte über die umstrittene Erstentdeckung schien daher kurzzeitig wieder offen. Wenig später wurde der bis dahin jüngste Bericht über eine „Rehabilitierung“ jedoch wieder zurückgenommen und die neuerlichen Irrtümer klar benannt. Es war inzwischen klar geworden, dass die Nachweisgrenze der röntgenanalytischen Methode der Noddacks nicht ausreichte, um natürlich vorkommende Technetium-Spuren zu erfassen.
=== Nachweis durch Segrè und Perrier ===
1937, 66 Jahre nachdem Dmitri Mendelejew viele der Eigenschaften des Technetiums vorhergesagt hatte, wurde das Element schließlich auf unumstrittene Weise nachgewiesen. Emilio Segrè und Carlo Perrier, beide an der Universität Palermo tätig, isolierten das neue Element aus einer mit Deuteronen bombardierten Molybdänfolie, die Segrè zu Anfang des Jahres von Ernest Lawrence von der University of California, Berkeley, USA, erhalten hatte:
42
96
M
o
+
1
2
D
⟶
43
97
T
c
+
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{96}_{42}Mo\ +\ _{1}^{2}D\ \longrightarrow \ _{43}^{97}Tc\ +\ _{0}^{1}n} }
Molybdän wird mit Deuteronen unter Neutronenemission zu Technetium umgesetzt.Segrè und Perrier benannten das erste künstlich hergestellte Element nach dem griechischen Wort τεχνητός (Transkription technētós) für „künstlich“ als Technetium und gingen damit nicht auf Wünsche von Verantwortlichen der Universität Palermo ein, die nach dem lateinischen Wort für Palermo, Panormus, stattdessen den Namen Panormium vorgeschlagen hatten.
=== Nuklearmedizinische Anwendungen ===
Powell Richards veröffentlichte im Juni 1960 die erste Studie zur Anwendung des Kernisomers 99mTc (Halbwertszeit 6 h) in der Nuklearmedizin. 99mTc wird mittels Technetium-99m-Generatoren aus dem stabileren 99Mo (Halbwertszeit 66 h) gewonnen. Die erste Methode zur wirtschaftlichen Trennung von 99Mo und 99mTc wurde in den 1960er-Jahren von den US-amerikanischen Forschern Walter Tucker und Margaret Green am Brookhaven National Laboratory entwickelt.
Der Forschungsreaktor FRM II in München stellt mit der Bestrahlung von Uranplättchen einen signifikanten Anteil des weltweiten Verbrauchs von Molybdän Mo-99 als Vorprodukt für Technetium-99 her. Seit 2015 deckt FRM II den deutschen Bedarf (etwa 10 % der weltweiten Produktion), seit 2019 etwa 50 % des europäischen Bedarfs. Weitere Reaktoren und Anlagen sind in Frankreich, in den Niederlanden, in Belgien und in Kanada im Einsatz. Neue Einrichtungen werden hier nötig, nachdem diese Anlagen ihre Lebensdauer überschritten haben bzw. haben werden.
== Vorkommen ==
=== Außerirdisches Vorkommen ===
1952 wies der US-amerikanische Astronom Paul Willard Merrill auf spektroskopische Weise in Roten Riesensternen der S-; M- und N-Klasse größere Mengen Technetium nach. Weil diese Sterne am Ende ihrer Entwicklung stehen und dementsprechend alt sind, die längste Halbwertszeit eines Technetium-Isotops aber nur wenig mehr als 4 Millionen Jahre beträgt, war dies der erste eindeutige Beweis dafür, dass Technetium und andere schwere Elemente durch Kernfusion im Inneren von Sternen entstehen. Bei Hauptreihensternen wie der Sonne ist die Temperatur im Sterninneren allerdings nicht hoch genug für die Synthese von Elementen schwerer als Eisen. Bedingungen, wie sie im Inneren von Roten Riesen herrschen, sind für die Technetium-Synthese daher unerlässlich.
=== Irdisches Vorkommen ===
Seit man die Existenz eines Elements mit der Ordnungszahl 43 annahm, wurde auf der Erde nach natürlichen Vorkommen gesucht. Erst 1961 gelang es, aus 5,3 kg Pechblende aus Katanga in Afrika ungefähr 1 ng Technetium zu isolieren und spektrografisch nachzuweisen. Aus der Spontanspaltung von 238U-Kernen entsteht dabei unter anderem Technetium. Dadurch enthält 1 kg Natururan ca. 1 ng Technetium.
92
238
U
→
s
f
53
137
I
+
39
99
Y
+
2
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow {sf}}\ _{\ 53}^{137}I+_{39}^{99}Y+2\,_{0}^{1}n} }
39
99
Y
→
1
,
47
s
β
−
40
99
Z
r
→
2
,
1
s
β
−
41
99
N
b
→
15
,
0
s
β
−
42
99
M
o
→
65
,
94
h
β
−
43
99
T
c
→
211100
a
β
−
44
99
R
u
{\displaystyle \mathrm {^{99}_{39}Y\ {\xrightarrow[{1{,}47\,s}]{\beta ^{-}}}\ _{40}^{99}Zr\ {\xrightarrow[{2{,}1\,s}]{\beta ^{-}}}\ _{41}^{99}Nb\ {\xrightarrow[{15{,}0\,s}]{\beta ^{-}}}\ _{42}^{99}Mo\ {\xrightarrow[{65{,}94\,h}]{\beta ^{-}}}\ _{43}^{99}Tc\ {\xrightarrow[{211100\,a}]{\beta ^{-}}}\ _{44}^{99}Ru} }
Alles auf der Erde natürlich vorhandene Technetium ist ein temporäres Zwischenprodukt des nuklearen Zerfalls schwerer Atomkerne und zerfällt nach einiger Zeit selbst wieder. Das Vorkommen dieses Elements auf der Erde ist daher nicht mit dem eines stabilen Elements gleichzusetzen. Insgesamt liegt der Technetium-Gehalt der Erdkruste nur wenig höher als der des Franciums und Astats, beides ebenfalls radioaktive Elemente, die nur im Mikrogramm-Maßstab auf der Erde vorhanden sind. Die Technetium-Konzentration war vor etwa zwei Milliarden Jahren beim Naturreaktor Oklo erhöht, da dort eine sich selbst erhaltende Kernspaltungs-Kettenreaktion ablief. Nachzuweisen ist dies heute durch den erhöhten Anteil von 99Ru; jenem Ruthenium-Isotop, das beim Zerfall von Technetium-99 entsteht. Bei etwa 6 % der Spaltungen von 235U entstehen Tc-99-Atomkerne bzw. dessen kurzlebige Mutternuklide.In der Biosphäre kommt Technetium ausschließlich als Resultat menschlicher Aktivitäten vor. Bei oberirdischen Kernwaffentests wurden bis 1994 etwa 250 kg Technetium in der Atmosphäre erzeugt, dazu kommen etwa 1600 kg, die bis 1986 weltweit aus Wiederaufarbeitungsanlagen und Kernreaktoren freigesetzt wurden. Allein aus der Anlage im britischen Sellafield wurden von 1995 bis 1999 etwa 900 kg des Metalls in die Irische See eingeleitet, seit dem Jahr 2000 ist die gesetzlich erlaubte Eintragsmenge allerdings auf 140 kg pro Jahr begrenzt.In Lebewesen lässt sich Technetium nur in Ausnahmefällen nachweisen, etwa bei Hummern der stark belasteten Irischen See. Im menschlichen Körper findet es sich in der Regel nur bei Patienten, die sich einer technetiumbasierten nuklearmedizinischen Anwendung unterzogen haben.
== Gewinnung und Entsorgung ==
Für medizinische Zwecke wird Technetium meist durch Kernspaltung oder Neutronenbeschuss von 98Mo gewonnen:
42
98
M
o
+
0
1
n
⟶
42
99
M
o
{\displaystyle \mathrm {^{98}_{42}Mo\ +\ _{0}^{1}n\ \longrightarrow \ _{42}^{99}Mo} }
Die 99Mo-Kerne zerfallen unter Aussendung von Betastrahlung mit einer Halbwertszeit von 2 Tagen und 19 Stunden in angeregte (metastabile oder isomere) 99mTc-Kerne:
42
99
M
o
⟶
43
99
m
T
c
+
e
−
+
ν
¯
e
{\displaystyle \mathrm {^{99}_{42}Mo\ \longrightarrow \ _{\ \ 43}^{99m}Tc\ +\ e^{-}\ +\ {\overline {\nu }}_{e}} }
In der Praxis ist Molybdän nicht als Element, sondern in Form seines an Aluminiumoxidsäulen adsorbierten Salzes Molybdat (MoO42−) der Ausgangsstoff der Technetium-Gewinnung, so dass nicht elementares Technetium, sondern das Pertechnetat-Ion (TcO4−) entsteht und zwar in typischen Konzentrationen von zwischen 10−6 und 10−8 Mol pro Liter. Dieses wird an seinem Einsatzort zunächst von dem verbliebenen Molybdat getrennt, bevor es in Gegenwart geeigneter Liganden, organischer Substanzen, die sich mit Technetium zu Komplexen verbinden, durch Wasserstoffgas H2 zum reinen Element reduziert werden kann. Das solcherart komplexgebundene metastabile Isotop 99mTc geht mit einer Halbwertszeit von nur sechs Stunden durch Aussendung von Gammastrahlung in den Grundzustand 99Tc über:
43
99
m
T
c
⟶
43
99
T
c
+
γ
{\displaystyle \mathrm {^{99m}_{\ \ 43}Tc\ \longrightarrow \ _{43}^{99}Tc\ +\ \gamma } }
Es ist diese Strahlung, die in der medizinischen Diagnostik genutzt wird.
Daneben entstehen pro Jahr in Kernreaktoren mehrere Tonnen Technetium aus der Spaltung des Uranisotops 235U; sie haben an allen Spaltprodukten eines abgebrannten Brennelements einen Anteil von etwa 6 %. Die bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts künstlich hergestellte Gesamtmenge des Metalls liegt bei mehr als 78 Tonnen und damit weit über den natürlichen Technetiumvorkommen.
Der größte Teil des reaktorproduzierten Metalls bildet nur unerwünschten radioaktiven Abfall. Bei seiner Lagerung muss das mit einer Halbwertszeit von mehr als 200.000 Jahren recht langlebige Isotop 99Tc berücksichtigt werden, das in der Zeit zwischen etwa 10.000 und etwa 1.000.000 Jahren nach seiner Erzeugung die dominante Strahlungsquelle darstellt. Zur Entsorgung werden in erster Linie als stabil angesehene geologische Formationen wie Salzstöcke in Betracht gezogen; Kritiker äußern allerdings die Befürchtung, dass das Element dennoch durch Wasser in die Umgebung ausgewaschen werden könnte. Daneben wird auch die Möglichkeit der Transmutation, der Umwandlung des Metalls in andere Elemente – zum Beispiel durch Neutronenbeschuss, erwogen. Technetium-99 kann durch Neutroneneinfang in das kurzlebige Tc-100 umgewandelt werden, welches mit wenigen Minuten Halbwertszeit zu stabilem Ruthenium-100 zerfällt. Obwohl das Verfahren im Labormaßstab bereits erfolgreich durchgeführt werden konnte und obwohl Ruthenium ein wertvolles Edelmetall ist, sind die Energiemengen, welche zur Erzeugung von Neutronen benötigt werden ein Hindernis.Zur kommerziellen Verwendung wird Technetium im Kilogramm-Maßstab in Wiederaufarbeitungsanlagen aus abgebrannten Nuklearbrennstäben gewonnen. Dazu wird es zunächst zu Pertechnetat TcO4− oxidiert und dann nach einer Abklingzeit von mehreren Jahren in gelöster Form durch Extraktion und Ionenaustauschverfahren von Uran-, Plutonium- und anderen Verbindungen getrennt. Die Produkte Ammoniumpertechnetat NH4TcO4 oder auch Ammoniumtechnetiumhexachlorid (NH4)2TcCl6 können dann bei hohen Temperaturen durch thermische Zersetzung in Wasserstoffgas H2 zu elementarem Technetium reduziert werden. Alternativ kann das Metall durch Elektrolyse von Ammoniumpertechnetat in mit Wasserstoffperoxid (H2O2) angereicherter Schwefelsäure (H2SO4) gewonnen werden.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Technetium ist ein radioaktives Metall, das in der häufigen Pulverform mattgrau erscheint. Als makroskopischer Festkörper hat es dagegen eine silbergraue Farbe und ähnelt dadurch dem Element Platin. Charakteristische Spektrallinien der Technetiumatome liegen bei 363, 403, 410, 426, 430 und 485 Nanometern.Sowohl der Schmelz- als auch der Siedepunkt von jeweils 2157 und 4265 °C liegen zwischen den entsprechenden Werten der Gruppennachbarn Mangan und Rhenium. Das reine Massenmetall kristallisiert in der hexagonalen Kristallsystem (hexagonal-dichteste Kugelpackung, Magnesium-Typ) in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 275,3 pm und c = 440 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur des nanodispersen Reinmetalls ist kubisch. Nanodisperses Technetium hat kein geteiltes NMR-Spektrum, während hexagonales Bulk-Technetium das Tc-99-NMR-Spektrum in 9 Satelliten geteilt hat.Metallisches Technetium ist leicht paramagnetisch, das heißt, seine magnetische Suszeptibilität Χm ist positiv, die magnetischen Dipole im Inneren des Materials richten sich parallel zu einem externen Magnetfeld aus und die Substanz wird in selbiges hineingezogen. Bei Temperaturen unterhalb von 7,7 Kelvin ist das reine Element ein Supraleiter 2. Art, verliert also seinen elektrischen Widerstand; schon kleinste Verunreinigungen heben diese Temperatur allerdings auf 11,2 Kelvin an. Die Eindringtiefe magnetischer Felder im supraleitenden Zustand ist für Technetium nach Niob die zweitgrößte aller Metalle. Kernspinresonanz-Untersuchungen mit Technetium sind aufgrund der hohen Empfindlichkeit des Isotops 99Tc möglich.
=== Chemische Eigenschaften ===
Technetium liegt im Periodensystem in seiner Gruppe zwischen den beiden Elementen Mangan und Rhenium, ähnelt in seinen chemischen Eigenschaften jedoch nur dem letzteren.
Das Technetium-Atom besitzt sieben Valenzelektronen, zwei davon im 5s-Orbital, die restlichen fünf im 4d-Orbital, die maximale Oxidationsstufe beträgt daher +VII. Die ersten drei Ionisierungsenergien von 702, 1472 und 2850 kJ/mol liegen allesamt unter den entsprechenden Werten des leichteren Gruppennachbarn Mangan, was sich qualitativ auf den größeren Abstand der Valenzelektronen zum Kern und ihre dadurch verminderte elektrische Wechselwirkungsenergie zurückführen lässt. Insbesondere ist die Differenz zwischen zweiter und dritter Ionisationsenergie von 1378 kJ/mol bedeutend geringer als die des Mangans von 1739 kJ/mol. Anders als dieses Element, dessen Chemie daher im Wesentlichen die des zweifach positiv geladenen Mn2+-Ions ist, findet man Technetium häufig in anderen Oxidationsstufen. Die wichtigsten sind +IV, +V und +VII, daneben findet man Verbindungen, in denen Technetium die Oxidationszahlen −I, 0, +I, +III oder +VI einnimmt, während der für Mangan so charakteristische +II-Zustand nur selten auftritt.In feuchter Luft läuft das Metall durch Oxidation langsam an. Die Pulverform ist nicht nur brennbar, sondern allgemein reaktiver und verbindet sich heftig mit Halogenen. Technetium löst sich nur in oxidierenden Säuren wie konzentrierter Schwefelsäure (H2SO4) oder Salpetersäure (HNO3), nicht jedoch in Salzsäure (HCl(aq)) oder Flusssäure (HF(aq)); in gasförmigem Chlor- und Fluorwasserstoff ist das Metall beständig.
== Isotope ==
Von Technetium sind bisher 34 Isotope bekannt, deren Massenzahlen zwischen 85 und 118 liegen. Das langlebigste davon ist mit einer Halbwertszeit von 4,2 Millionen Jahren 98Tc, gefolgt von 97Tc mit einer Halbwertszeit von 2,6 Millionen Jahren und 99Tc mit einer Halbwertszeit von 211.100 Jahren. Letzteres ist zugleich das häufigste und ökonomisch wichtigste Isotop und setzt mit einer Aktivität von 620 Millionen Becquerel pro Gramm eine weiche Betastrahlung der Energie 293,6 Kiloelektronenvolt (keV) frei.
Der Zerfallsmechanismus bei den Isotopen mit Massenzahlen unterhalb von 98 ist der Elektroneneinfang, so dass Molybdän-Isotope entstehen; bei schwereren Technetium-Isotopen kommt es dagegen zum Betazerfall und zur Bildung von Ruthenium-Isotopen. Eine Ausnahme stellt lediglich 100Tc dar, das über beide Zerfallswege in ein anderes Element übergehen kann.Neben den durch ihre Neutronenzahl unterschiedenen Isotopen existiert eine Reihe angeregter, metastabiler Zustände wie 95mTc, 97mTc und 99mTc, die mit Halbwertszeiten von (in dieser Reihenfolge) 61 Tagen, 90 Tagen und 6,01 Stunden in den zugehörigen Grundzustand übergehen. Das wichtigste metastabile Isotop ist 99mTc, das eine große Rolle in der Nuklearmedizin spielt.Die Instabilität des Technetiums lässt sich kernphysikalisch damit erklären, dass seine Ordnungszahl ungerade ist und die benachbarten Elemente Molybdän und Ruthenium sehr viele stabile Isotope haben (Mattauchsche Isobarenregel).
== Verwendung ==
Nur geringe Mengen Technetium werden wirtschaftlich genutzt; der größte Anteil kommt in der Medizin als Bestandteil von Radiopharmaka zur Anwendung, es findet jedoch auch als Korrosionsschutz und als Betastrahlenquelle Verwendung.
=== Nuklearmedizin ===
Metastabiles 99mTc ist aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit, der emittierten Gammastrahlung mit einer Energie von 140 keV und seiner Fähigkeit, sich an viele aktive Biomoleküle anzulagern, das bei weitem wichtigste, als Tracer für szintigrafische, also bildererstellende nuklearmedizinische Untersuchungen eingesetzte Nuklid. Dazu werden organische Liganden mit einer hohen Neigung, sich an Zellen des zu untersuchenden Organs zu binden, oder monoklonale Antikörper, Proteine des Immunsystems, die sich an ausgewählte Antigene von Tumorzellen heften, an Technetium gekoppelt und intravenös in den Blutkreislauf des Patienten gespritzt. Das Metall konzentriert sich auf diese Weise in den gewünschten Organen und Geweben oder dem zu untersuchenden Tumor; die charakteristische Gammastrahlung kann dann durch mit Thallium dotierte Natriumiodid-Detektoren registriert und zur nicht-invasiven Diagnose, etwa des durch die Antikörper markierten Tumors, herangezogen werden. Auf diese Weise können das Gehirn, die Schilddrüse, die Lungen, die Leber, die Gallenblase, die Milz, die Nieren, Knochengewebe, aber auch schwer zugängliche Teile des Darms untersucht werden. Die Kopplung von Technetium-Zinn-Verbindungen an Erythrozyten, die roten Blutkörperchen, ermöglicht eine Diagnose von Erkrankungen des Blutgefäßsystems; Bindung von Technetium-Pyrophosphaten an Calciumablagerungen des Herzmuskelgewebes wird bei der Diagnose von Herzinfarkt-Patienten eingesetzt.Die von 99mTc emittierte energiereiche Gammastrahlung ermöglicht eine niedrige Dosierung. Nach der Untersuchung wird der größte Teil des bei einer nuklearmedizinischen Diagnose aufgenommenen Technetiums wieder ausgeschieden. Das verbliebene 99mTc zerfällt schnell in 99Tc. Dieses besitzt eine lange Halbwertszeit von 212.000 Jahren und trägt wegen der relativ weichen Betastrahlung, die bei seinem Zerfall frei wird, nur zu einer geringen zusätzlichen Strahlenbelastung über die restliche Lebenszeit bei. In den USA werden für Diagnose-Zwecke pro Jahr etwa sieben Millionen Einzeldosen 99mTc verabreicht.
Technetium für nuklearmedizinische Zwecke wird – aufgrund der kurzen 6-Stunden-Halbwertszeit – in der Regel aus Technetium-99m-Generatoren gewonnen. Allerdings gibt es auf der Welt nur fünf Reaktoren, in denen Molybdän-99 als Mutternuklid des Technetium-99 gewonnen wird (drei in Europa, einer in Südafrika und einer in Kanada). Im Jahr 2010 wurde berichtet, dass es wegen des großen Alters der meisten dieser Reaktoren und der damit verbundenen technischen Probleme zu mehreren Ausfällen einiger Reaktoren gekommen sei, was die Produktion von Technetium stark einschränkte. Man befürchtete, dass es infolge dieser Reaktorprobleme bald zu einer gravierenden Verknappung des für die Tumordiagnose wichtigen Isotops kommen könne.
=== Sonstige Anwendungen ===
Das nicht-angeregte Isotop 99Tc selbst wird als wirtschaftlich gut nutzbare Quelle für Betastrahlen eingesetzt. Es bietet den Vorteil, dass bei seinem Zerfall keinerlei Gammastrahlung auftritt, so dass nur relativ geringe Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind.
Daneben ist Technetium in Form seiner Salze eines der besten Rostschutzmittel: Ammonium- oder Kaliumpertechnetat könnte als Korrosionsschutz für Stahl Anwendung finden. Ein Zusatz von 55 ppm (Millionstel Teilen) Kaliumpertechnetat (KTcO4) in belüftetem entionisiertem Wasser schützt dieses Material bis zu einer Temperatur von 250 °C vor Korrosion. Wegen der Radioaktivität von Technetium ist eine potentielle Anwendung allerdings auf von der Umwelt abgeschlossene Systeme wie etwa Siedewasserreaktoren beschränkt.Pertechnetate dienen als wichtige Ausgangsstoffe der Technetiumchemie und spielen auch als Katalysatoren in der anorganischen Chemie eine gewisse Rolle.
== Verbindungen und Reaktionen ==
→ Kategorie:Technetiumverbindung
Technetium bildet im Gegensatz zu Mangan kaum Kationen. Es ähnelt darin, wie auch in seiner geringeren Reaktivität und in der Fähigkeit, kovalente Bindungen einzugehen, seinem anderen Gruppennachbarn Rhenium. Im Gegensatz zu diesem sind die hohen Oxidationszustände allerdings etwas unbeständiger gegenüber Reduktion, dem Übergang in einen niedrigeren Oxidationszustand durch (formale) Aufnahme von Elektronen.
=== Hydridokomplex ===
Bei der Reaktion von Technetium mit Wasserstoff entsteht der anionische, also negativ geladene Hydridokomplex [TcH9]2−, dessen zentrales Technetiumatom wie nebenstehend zu sehen in einem trigonalen Prisma aus Wasserstoffatomen liegt; lotrecht über dem Mittelpunkt der drei Seitenflächen befindet sich zudem je ein weiteres Wasserstoffatom. Der Ladungsausgleich kann zum Beispiel durch je zwei Natrium- (Na+) oder Kalium-Ionen (K+) erfolgen.
=== Oxide ===
Es existieren zwei verschiedene Technetiumoxide (TcO2 und Tc2O7). Bei Temperaturen von etwa 400–450 °C reagiert das Metall direkt mit Sauerstoff zu blassgelbem Ditechnetiumheptoxid:
4
Tc
+
7
O
2
⟶
2
Tc
2
O
7
{\displaystyle {\ce {4 Tc + 7 O2 -> 2 Tc2O7}}}
Das Molekül besteht aus zwei über ein Sauerstoffatom miteinander verbundenen Technetiumatomen, die ihrerseits durch je drei Doppelbindungen an die verbleibenden Sauerstoffatome gebunden sind und ist das Anhydrid der Pertechnetiumsäure HTcO4, die sich bei Lösung des Oxids in Wasser bildet.Das schwarze Technetiumdioxid (TcO2) lässt sich durch Reduktion von Ditechnetiumheptoxid mit elementarem Technetium oder Wasserstoff darstellen.
=== Pertechnetiumsäure ===
Pertechnetiumsäure (HTcO4) bildet sich, wenn Technetiumheptoxid in Wasser oder Technetium in oxidierenden Säuren wie Salpetersäure, konzentrierter Schwefelsäure oder Königswasser, einem Salpetersäure-Salzsäure-Gemisch, gelöst wird. Die dunkelrote, wasseranziehende (hygroskopische) Substanz zählt zu den starken Säuren und liegt in Wasser stark dissoziiert vor, das Proton ist also fast immer auf ein Wassermolekül übertragen. In den letzten 70 Jahren wurde angenommen, dass die Säure in ihrer freien Form dunkelrot ist, fast braune Kristalle, die in einem wässrigen Medium gut löslich sind. Diese Eigenschaften sorgten bei den meisten Chemikern, die mit Technetinsäure arbeiteten, für Verwirrung. Im Jahr 2021 wurde dieses Rätsel gelüftet – tatsächlich wird Tc(VII) in diesem System teilweise instabil, und im Prozess der teilweisen Reduktion entsteht [H7O3]4[Tc20O68]·4H2O aus Technetinsäure, die dennoch stark saure Eigenschaften besitzt. Das entsprechende Ammoniumpolyoxotechnetatsalz wurde kürzlich aus Trifluormethansulfonsäure isoliert und hat eine sehr ähnliche Struktur.Das verbliebene Pertechnetat-Anion TcO4− besteht aus einem Technetium-Atom, das im Zentrum eines Tetraeders liegt, an dessen vier Ecken die Sauerstoffatome sitzen. Es ist im Gegensatz zum Permanganat-Ion MnO4− verhältnismäßig reduktionsstabil, so dass die farblosen Salze wie Kalium- (KTcO4) oder Ammoniumpertechnetat (NH4TcO4) nur relativ schwache Oxidationsmittel sind. Natrium-, Magnesium- und Calciumpertechnetat sind gut, Barium- und Ammoniumpertechnetat moderat, Kalium- sowie Thalliumpertechnetat dagegen nur geringfügig wasserlöslich.
Durch Reduktionsmittel kann Pertechnetat zum Technetat [TcO4]2− (purpurfarben) reduziert werden.
=== Halogenide und Oxidhalogenide ===
Neben den Technetiumhalogeniden, in denen Technetium an Halogenatome gebunden ist, sind zahlreiche Technetiumoxidhalogenide bekannt, in denen neben den Halogenatomen zusätzlich noch Sauerstoff gebunden ist.
Durch direkte Reaktion der Ausgangsstoffe entstehen die beiden Fluor-Verbindungen, das gelbe Technetiumpentafluorid (TcF5) und das gleichfarbige Technetiumhexafluorid (TcF6). Ebenfalls direkt synthetisieren lassen sich die beiden Chlor-Verbindungen, das grüne Technetiumhexachlorid (TcCl6) und das rote Technetiumtetrachlorid (TcCl4). Letzteres ist paramagnetisch und liegt in polymerisierter Form, also als Kette aneinandergereihter TcCl4-Untereinheiten vor und lässt sich auch durch Reaktion von Technetiumheptoxid (Tc2O7) mit Tetrachlormethan (CCl4) darstellen. Wichtige Technetiumhalogenid-Salze werden von den beiden Anionen [Tc2Cl8]2−, [Tc2Cl8]3− und [Tc6Cl14]3−gebildet. Die wichtigste Bromverbindung ist das rotbraune Technetiumtetrabromid TcBr4, daneben existiert das Anion [Tc2Br8]3− und [Tc8Br4(μ-Br)8]Br3−.Die Technetiumoxidhalogenide sind für Fluor die Verbindungen Technetiumfluoridtrioxid TcO3F, Technetiumtrifluoriddioxid TcO2F3, Technetiumpentafluoridoxid TcOF5 und Technetiumtetrafluoridoxid TcOF4, in denen das Metall in den Oxidationsstufen +VII und +VI auftritt, für Chlor die Verbindungen Technetiumchloridtrioxid TcO3Cl, Technetiumtetrachloridoxid TcOCl4 und Technetiumtrichloridoxid TcOCl3 mit den Oxidationsstufen +VII, +VI und +V und für Brom und Iod die einander analogen Verbindungen Technetiumbromidtrioxid TcO3Br und Technetiumiodidtrioxid TcO3I. Bei letzteren Substanzen nimmt das zentrale Technetiumatom die maximale Oxidationszahl +VII an. Technetiumtrifluoriddioxid TcO2F3 liegt ebenso wie Technetiumtrichloridoxid TcOCl3 und Technetiumtribromidoxid TcOBr3 in polymerisierter Form vor.
Alle Halogen-Sauerstoff-Verbindungen des Technetiums zersetzen sich bei Kontakt mit Wasser leicht zu Pertechnetat und Technetiumdioxid. Insbesondere hoch fluorierte Verbindungen wie Technetiumpentafluoridoxid TcOF5 lassen sich nur durch starke Fluorierungsmittel wie Xenonhexafluorid XeF6 oder Kryptondifluorid KrF2 darstellen, wie die folgenden Reaktionsschritte exemplarisch zeigen:
Tc
2
O
7
+
4
HF
⟶
2
TcO
3
F
+
(
H
3
O
)
+
+
(
HF
2
)
−
{\displaystyle {\ce {Tc2O7 + 4 HF -> 2 TcO3F + (H3O)^+ + (HF2)^-}}}
Ditechnetiumheptoxid reagiert mit Fluorwasserstoff zu Technetiumfluoridtrioxid, Oxoniumionen und Hydrogendifluorid(-1).
TcO
3
F
+
XeF
6
⟶
TcO
2
F
3
+
XeOF
4
{\displaystyle {\ce {TcO_3F + XeF6 -> TcO2F3 + XeOF4}}}
Technetiumfluoridtrioxid reagiert mit Xenonhexafluorid zu Technetiumtrifluoriddioxid und Xenontetrafluoridoxid.
2
TcO
2
F
3
+
2
KrF
2
⟶
2
TcOF
5
+
2
Kr
+
O
2
{\displaystyle {\ce {2 TcO2F3 + 2 KrF2 -> 2 TcOF5 + 2 Kr + O2}}}
Technetiumtrifluoriddioxid reagiert mit Kryptondifluorid zu Technetiumpentafluoridoxid, elementarem Krypton und Sauerstoff.
=== Sulfide, Selenide, Telluride ===
Mit Schwefel bildet Technetium zwei verschiedene Sulfide. Während Technetiumdisulfid TcS2 durch direkte Reaktion der Ausgangsstoffe entsteht, kann das schwarze Ditechnetiumheptasulfid Tc2S7 wie folgt dargestellt werden:
2
HTcO
4
+
7
H
2
S
⟶
Tc
2
S
7
+
8
H
2
O
{\displaystyle {\ce {2 HTcO4 + 7 H2S -> Tc2S7 + 8 H2O}}}
Pertechnetiumsäure reagiert mit Schwefelwasserstoff zu Ditechnetiumheptasulfid und Wasser.Technetium wird in diesem Fall nicht reduziert, anders als bei der analogen Reaktion des Mangans, bei dem sich aus MnO4− das stabile Mn2+-Ion bildet. Thermische Zersetzung des Heptasulfids führt zu einer Aufspaltung in das Disulfid und elementaren Schwefel:
Tc
2
S
7
⟶
2
TcS
2
+
3
S
{\displaystyle {\ce {Tc2S7 -> 2 TcS2 + 3 S}}}
Mit Selen und Tellur bildet Technetium die analogen Substanzen zu Technetiumdisulfid, also Technetiumdiselenid (TcSe2) und Technetiumditellurid (TcTe2).
=== Cluster ===
Es existieren zwei wichtige Technetium-Cluster, der Tc6- und der Tc8-Cluster. In beiden sind jeweils zwei Technetiumatome durch eine Dreifachbindung miteinander verbunden. Diese Paare sind parallel zueinander angeordnet und senkrecht zur Ausrichtung der Dreifachbindung aneinander gebunden, so dass sich durch die Lage der Einfachbindungen für den Tc6-Cluster zwei parallele gleichseitige Dreiecke und für den Tc8-Cluster zwei parallele Quadrate ergeben. Im letzteren Fall ist je eine zusätzliche Einfachbindung entlang einer Diagonale dieser Quadrate ausgerichtet. Technetiumatome beider Cluster gehen allesamt sechs Bindungen ein; fehlende Bindungen können etwa durch Halogenatome wie Chlor oder Brom abgesättigt werden.
=== Komplexverbindungen ===
Technetium ist Bestandteil zahlreicher Komplexverbindungen, die aufgrund der Bedeutung des Elements für die Nuklearmedizin verhältnismäßig gut erforscht sind.
Ein Beispiel ist der Technetium-Carbonyl-Komplex Tc2(CO)10, der einen weißen Feststoff bildet. In ihm liegen zwei schwach aneinander gebundene Technetium-Atome vor, die wie nebenstehend zu sehen in Oktaeder-Symmetrie von je fünf Carbonyl-Liganden umgeben sind. Die Bindungslänge von 303 pm ist charakteristischerweise größer als der Abstand zweier benachbarter Atome im metallischen Technetium. Isostrukturelle Komplexe, also solche von gleicher Struktur, finden sich auch bei den beiden Nachbarelementen Mangan und Rhenium. Ein Technetium-Carbonyl-Komplex, in dem Technetium in der negativen Oxidationsstufe −I auftritt, ist [Tc(CO)5]−, während sich in Wasser der oktaedrische Aquakomplex [Tc(H2O)3(CO)3]+ bildet.
Ein Beispiel für einen Komplex mit einem organischen Liganden, der in bildgebenden Verfahren der Nuklearmedizin zum praktischen Einsatz kommt, ist nebenstehend angegeben und zeichnet sich durch ein im Zentrum einer Kohlenstoff-Stickstoff-Kette gelegenes und über vier Stickstoffatome angebundenes Technetiumatom aus, das durch eine Doppelbindung mit einem Sauerstoffatom gebunden ist. Diese Technetium-Sauerstoffeinheit kann in den so genannten Nitridokomplexen durch eine Technetium-Stickstoffeinheit ersetzt sein, in der eine Dreifachbindung zwischen einem Stickstoff- und einem Technetiumatom besteht.
== Sicherheitshinweise ==
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt.
== Vorsichtsmaßnahmen ==
Technetium hat nach bisher vorliegenden Erkenntnissen nur eine geringe chemische Toxizität. Alle Isotope des Elements sind radioaktiv und müssen entsprechend ihrer Strahlungsintensität in Strahlenschutzbehältern aufbewahrt und als radioaktives Material gekennzeichnet werden. Die Betastrahlung des häufigsten Isotops, 99Tc, wird bereits durch Glas aufgehalten; die Strahlenbelastung durch die dabei als Bremsstrahlung freiwerdende weiche Röntgenstrahlung gilt als gering, wenn ein Sicherheitsabstand von 30 Zentimetern eingehalten wird. Eingeatmeter Technetium-Staub, der sich in den Lungen festsetzt, trägt hingegen zu einem höheren Risiko für Krebserkrankungen bei. Laborarbeiten müssen daher unter einer Abzugshaube stattfinden; daneben werden Augenschutz und das Tragen von Handschuhen empfohlen.
== Literatur ==
Klaus Schwochau: Technetium: Chemistry and Radiopharmaceuticals. Wiley-VCH, Weinheim 2000, ISBN 3-527-29496-1.
C. E. Housecroft, A. G. Sharpe: Inorganic Chemistry. 2. Auflage. Pewson/Prentice Hall, 2005, ISBN 0-13-039913-2, Kapitel 22.8a, S. 666.
R. B. King (Hrsg.): Encyclopedia of Inorganic Chemistry. Band 8, Wiley, 1994, ISBN 0-471-93620-0, S. 4094.
Eric Scerri: A tale of seven elements, Oxford University Press, Oxford, 2013
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Technetium |
Titanic (Schiff) | = Titanic (Schiff) =
Die Titanic (englisch [taɪˈtænɪk]) war ein Passagierdampfer der britischen Reederei White Star Line. Sie war bei ihrer Indienststellung am 2. April 1912 das größte Schiff der Welt und ist bis heute eines der bekanntesten Schiffe der Geschichte, da sie trotz ihrer Größe und hoher Sicherheitsstandards am 15. April 1912 auf ihrer Jungfernfahrt nach Kollision mit einem Eisberg unter hohem Verlust an Menschenleben im Nordatlantik versunken ist. Mit mehr als 1500 Todesopfern gehört dieses Unglück zu den größten Katastrophen der Seefahrt.
Als zweiter von drei Dampfern der Olympic-Klasse war sie auf der Werft von Harland & Wolff in Belfast gebaut worden. Wie ihre beiden Schwesterschiffe Olympic und Britannic war die Titanic als Royal Mail Ship für den Nordatlantik-Liniendienst auf der Route Southampton–Cherbourg–Queenstown–New York, New York–Plymouth–Cherbourg–Southampton vorgesehen und sollte neue Maßstäbe im Reisekomfort setzen.
Am 14. April kollidierte die Titanic gegen 23:40 Uhr Schiffszeit (entspricht 21:38 Uhr in New York bzw. am Morgen des 15. April um 2:38 Uhr in London und 3:38 Uhr in Berlin) etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland mit einem Eisberg und sank zwei Stunden und 40 Minuten später. Obwohl für die Evakuierung mehr als zwei Stunden Zeit zur Verfügung standen, kamen 1514 der über 2200 an Bord befindlichen Personen ums Leben – hauptsächlich wegen der unzureichenden Zahl an Rettungsbooten und der Unerfahrenheit der Besatzung im Umgang mit diesen.
Die Katastrophe war Anlass für zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit auf See. Am 12. November 1913 wurde eine Konferenz einberufen, die einen internationalen Mindeststandard für die Sicherheit auf Handelsschiffen schaffen sollte. Ergebnis dieser Konferenz war 1914 die erste Version der „International Convention for the Safety of Life at Sea“ (Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See). Diese umfasste die ausreichende Ausstattung mit Rettungsbooten, Besetzung der Funkstationen rund um die Uhr und die Errichtung der Internationalen Eispatrouille.
Wegen der außergewöhnlichen Umstände ihres Untergangs beschäftigen sich bis heute Literatur, bildende Kunst sowie Film und Fernsehen mit der Titanic. Besondere Aufmerksamkeit erlangte der gleichnamige Film aus dem Jahr 1997. Ihr Name steht für schwerwiegende Unglücke sowie die Unkontrollierbarkeit der Natur durch technische Errungenschaften.
== Das Schiff ==
=== Planung ===
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gab es einen scharfen Wettbewerb zwischen den Reedereien. So stellte die Cunard Line 1907 die beiden Turbinenschiffe Lusitania und Mauretania, von denen die Mauretania 22 Jahre lang durchgehend Inhaberin des Blauen Bandes als schnellstes Schiff auf der Transatlantik-Route Europa – New York war. Als sie ihren Dienst begannen, waren sie mit über 31.500 Bruttoregistertonnen (BRT) die größten Schiffe der Welt. Der erste über 50.000 BRT große Dampfer, der Imperator, lief 1912 auf der Hamburger Vulkanwerft vom Stapel. Die drei HAPAG-Schiffe der Imperator-Klasse (Imperator, Vaterland und Bismarck) wurden erst im Jahr 1935 von der Normandie (79.280 BRT) übertroffen.
Bruce Ismay, der Geschäftsführer der White Star Line, und Lord William Pirrie, Direktor der Schiffswerft Harland & Wolff in Belfast, begannen im Frühling des Jahres 1907 mit der Planung für den Bau von drei großen Passagierschiffen. Sie entschieden sich für eine bis dahin nicht erreichte Größe von 45.000 BRT. Die drei Schiffe der Olympic-Klasse sollten den Nordatlantik mit einer Reisegeschwindigkeit von ungefähr 21 Knoten (ca. 39 km/h) überqueren und es gemeinsam ermöglichen, wöchentlich je eine Passage in östlicher und westlicher Richtung anzubieten. Besonderer Wert wurde auf Ladekapazität, Sicherheit und Komfort an Bord gelegt. Die Grundidee für die Schiffe stammte von Lord Pirrie selbst, das konkrete Design von den Schiffsarchitekten Alexander Carlisle, Thomas Andrews (ein Sohn von Pirries Schwester Eliza) und Edward Wilding.Die drei Schiffe sollten Titanic, Olympic und Britannic heißen. Geachtet wurde in erster Linie auf Luxus in der Ersten Klasse und weniger auf die Reisegeschwindigkeit. Die Ausstattung der Ersten Klasse erhielt elegante Suiten, prächtige Rauchsalons und Speisesäle und ein großes, für die Erste Klasse reserviertes Promenadendeck. In der früher „Zwischendeck“ genannten Dritten Klasse schliefen die Passagiere in engen Kabinen mit bis zu vier Doppel- und Hochbetten und die Aufenthaltsräume waren kleiner und spartanischer ausgestattet. Dennoch übertraf die Ausstattung der Dritten Klasse, in der bislang große Schlafsäle statt Kabinen üblich gewesen waren, alle bisher gebauten Schiffe. Die Zweite Klasse der Titanic entsprach ungefähr dem Komfort der Ersten Klasse älterer Passagierschiffe.
=== Bau ===
15 Wochen nach dem Baubeginn des Schwesterschiffes Olympic wurde am 31. März 1909 die Titanic auf Kiel gelegt. Sie trug die Registriernummer 131428 und die Baunummer 401 der Werft Harland & Wolff Ltd. in Belfast (seinerzeit Provinz Ulster im Vereinigten Königreich), die fast alle Schiffe für die Reederei White Star Line baute.
Am 31. Mai 1911 fand dann der Stapellauf der Titanic statt, wie bei White Star üblich ohne Schiffstaufe. Direkt im Anschluss wurde die fertig ausgerüstete Olympic der Reederei übergeben. Als drittes und letztes Schiff dieser Klasse wurde später die Britannic fertiggestellt. Bei über 13.000 Tonnen Tragfähigkeit und großen Frachträumen in sechs verschiedenen Abteilungen konnten die Schiffe nennenswerte Mengen Fracht befördern. Außerdem besaßen sie als Royal Mail Ship (RMS) auch ein Büro der Royal Mail für die Bearbeitung der mitgeführten Post. Die Postverträge boten eine sichere Zusatzeinnahme für die Reederei.
Die Titanic kostete vollständig ausgerüstet etwa 1,5 Millionen Pfund Sterling (£). Dies entspricht einer heutigen Summe von etwa 160 Mio. £.
=== Maße und Technik ===
==== Abmessungen ====
Die Titanic war 269,04 Meter lang, 28,19 Meter breit, 53,33 Meter hoch (Unterkante Kiel bis Oberkante Schornstein), hatte 10,54 Meter Tiefgang, eine Vermessung von 46.329 Bruttoregistertonnen, 39.380 Tonnen Leermasse und 13.767 Tonnen Tragfähigkeit.
==== Sicherheitsausstattung ====
Besonderes Interesse galt der Sicherheitsausstattung der beiden Schwesterschiffe. Sie galten als Wunder der Technik und wurden aufgrund der automatisch schließenden Wasserschutztüren zwischen den 16 wasserdicht abschottbaren Abteilungen im Juni 1911 in der Zeitschrift The Shipbuilder als „praktisch unsinkbar“ bezeichnet.
==== Antrieb ====
Die Titanic besaß drei Schiffsschrauben (Propeller) und konnte 23 bis 24 Knoten Höchstgeschwindigkeit und 21 Knoten Reisegeschwindigkeit erreichen. Die äußeren Propeller mit 7 m Durchmesser und je 38 t wurden von Vierzylinder-Kolbendampfmaschinen mit Dreifachexpansion und einer indizierten Leistung von jeweils 15.000 PS (11 MW) angetrieben. Der Abdampf dieser Maschinen wurde in eine Niederdruck-Parsons-Turbine geleitet, die den mittleren Propeller (5 m Durchmesser und etwa 25 t) antrieb; diese sollte 16.000 PS leisten. Tatsächlich waren die Maschinen in den Tests stärker als geplant, so dass die Titanic mit einer Maschinenleistung von insgesamt 51.000 PS registriert wurde. Die maximal erreichbare Antriebsleistung lag bei ungefähr 60.000 PS. Die Titanic verbrauchte auf See 620–640 Tonnen Kohle pro Tag, die in 29 Kesseln mit insgesamt 159 Feuerungen verbrannt werden konnten. Allerdings waren nie alle Kessel gleichzeitig in Betrieb. Die Bunker fassten 6700 Tonnen Kohle. 150 Heizer (Stokers) schaufelten in drei Schichten Tag und Nacht die Kohle in die Feuerungen.
Die vier Schornsteine der Titanic waren ungefähr 19 Meter hoch. Der vierte Schornstein war allerdings kein Rauchabzug, sondern diente hauptsächlich der Ästhetik: Einerseits waren Schiffe mit vier Schornsteinen bei Schiffsarchitekten, Medien sowie bei den Schiffsreisenden sehr beliebt. Andererseits wurde er zur Entlüftung der Kessel- und Maschinenräume sowie der Küchenräume mit den Kohleherden benutzt. Dadurch brauchte die Titanic wesentlich weniger Lüfter an Deck als vergleichbare Schiffe.
==== Elektrik und Geräte ====
Die Titanic besaß eines der größten elektrischen Netze aller Schiffe der damaligen Zeit. Vier dampfbetriebene 400-Kilowatt-Generatoren lieferten zusammen maximal 16.000 Ampere bei 100 Volt. Es gab ein Telefonsystem mit 50 Leitungen und 1500 Klingeln, mit denen man die Stewards holen lassen konnte. 10.000 Glühlampen beleuchteten das Schiff, einige von ihnen enthielten zwei Glühdrähte, einen für helleres Licht und einen für schwaches Licht bei Nacht, was nervösen Passagieren zugutekommen sollte. Es gab 48 Uhren. Für Wärme in den Kabinen sorgten 520 Heizkörper, die Belüftung benötigte 76 der insgesamt 150 Elektromotoren der Titanic. Elektrische Energie wurde in vielen Bereichen gebraucht. Das Schwimmbad war elektrisch geheizt, einige Bilder sowie Wegweiser an Bord waren beleuchtet und einige Gymnastikgeräte liefen mit Strom. Viele Küchengeräte wurden mit elektrischer Energie angetrieben: Neben Bratöfen und Tellerwärmern benötigten auch die Eismaschine, Messerputzer, Kartoffelschäler, Teigmixer und Fleischwölfe Elektrizität.
==== Küchenausstattung ====
Die Küche verfügte über die zu dieser Zeit weltgrößten Kochstellen, jede ausgestattet mit 19 Backöfen. Weitere Einrichtungsgegenstände waren zwei große Bratöfen, Dampföfen, Dampfkochtöpfe, vier Silbergrills sowie elektrische Geräte für beinahe jeden Zweck. Weiterhin führte die Titanic 127.000 Gläser, Geschirr- und Besteckstücke mit sich, darunter 29.700 Teller, 18.500 Gläser und Tassen und über 40.000 Besteckstücke.
==== Funktechnik ====
Im Januar des Jahres 1911 wurde der Titanic das Rufzeichen MGY zugeteilt. Die Funktechnik war eine verhältnismäßig neue Kommunikationstechnik. Der neuartige Löschfunkensender der Marconi International Marine Communication Co. garantierte unabhängig von den atmosphärischen Bedingungen eine Reichweite von 350 Seemeilen und war damit mit Abstand das leistungsstärkste Funkgerät seiner Zeit. Die tatsächliche Reichweite betrug 400 Seemeilen, während bei Nacht oft bis zu einer Entfernung von 2000 Meilen empfangen und gesendet werden konnte. Eine Neuigkeit war zur damaligen Zeit der Magnetische Detektor, Marconi-Empfänger oder kurz „Maggy“ genannt. Die Funkstation war Eigentum der Marconi-Gesellschaft und wurde von deren Angestellten Jack Phillips und Harold Bride bedient. Sie waren vor der Kollision mit dem Eisberg sehr stark mit der Übermittlung von privaten Funktelegrammen der Passagiere beschäftigt. Das trug mit zu der verzögerten bzw. nicht erfolgten Weitergabe von Eiswarnungen an die Schiffsführung auf der Brücke bei. Aufgrund des Unterganges der Titanic wurden mit dem Radio Act of 1912 gesetzliche Regelungen zum Seefunk eingeführt.
=== Passagierbereich ===
Die Titanic war von den britischen Behörden für 3300 Passagiere zuzüglich der benötigten Mannschaft zugelassen worden. Allerdings wurde diese mögliche Passagierkapazität aufgrund der Ausstattung der Titanic nicht voll ausgenutzt. In der Ersten Klasse fanden 750 Personen, in der Zweiten Klasse 550 Personen und in der Dritten Klasse 1100 Personen Platz. Die Titanic bot damit Raum für insgesamt 2400 Passagiere.
==== Erste Klasse ====
Ein Großteil des Innenraums der Titanic wurde für die Erste Klasse verwendet. Fast die gesamten Aufbauten und ein großer Teil des mittleren Rumpfes waren dafür eingeplant. Zentrales Verbindungselement in der Ersten Klasse war das zwischen erstem und zweitem Schornstein gelegene große Treppenhaus des Schiffes, das insgesamt sechs Decks (Bootsdeck bis E-Deck) miteinander verband. Dieses Treppenhaus gehörte zu den aufwendigsten und architektonisch innovativsten Räumen des Schiffes: Seine Wandtäfelungen, Handläufe und Tragsäulen bestanden aus hellem Eichenholz mit zahlreichen Schnitzereien; in die ebenfalls eichenen Geländerfassungen waren filigrane Schmiedeeisenarbeiten mit vergoldeten Elementen eingesetzt. Auf dem obersten Absatz der Treppe zwischen A-Deck und Bootsdeck öffnete sich der Treppenraum auf eine Höhe von zwei Decks und wurde von einer ovalen Glaskuppel überspannt, die in ihrer Mitte einen großen Kristallleuchter trug. Tagsüber wurde diese Kuppel durch von oben einfallendes Tageslicht, nachts durch elektrische Lampen beleuchtet. Auf diesem Treppenabsatz befand sich zudem eine große Wanduhr, die von einer Reliefschnitzerei mit dem Namen „Honor and Glory crowning time“ (dt.: „Ruhm und Ehre krönen die Zeit“) eingefasst wurde.
Ein zweites Treppenhaus verband zwischen den hinteren beiden Schornsteinen das A- mit dem C-Deck. Sein Design entsprach im Wesentlichen dem seines vorderen Pendants, insgesamt war die Ausführung jedoch in den Abmessungen etwas kleiner und in den Details schlichter. Die abschließende Glaskuppel war im Gegensatz zu ihrem vorderen Gegenstück rund, nicht oval. Für die Passagiere der Ersten Klasse waren neben den Treppen drei Aufzüge vorhanden, die parallel zum vorderen Treppenhaus verliefen und das A- mit dem E-Deck verbanden. Auf dem A-Deck lag die Mehrzahl der öffentlichen Räume: Einem in Weiß ausgeführten Lese- und Schreibsalon, der gleichzeitig als Rückzugsraum für weibliche Passagiere gedacht war, folgte der geräumige Gesellschaftsraum mit Eichenvertäfelung, elektrischem Wandkamin und Bibliotheksschrank. Weiter achtern lag ein besonders edel ausgestatteter Rauchsalon mit einer Täfelung aus Mahagoni mit eingelegten Perlmuttverzierungen, Buntglasfenstern und dem einzigen Echtfeuerkamin des Schiffes. Den Abschluss des A-Decks bildeten zwei identisch ausgestattete Verandacafés mit Korbmöbeln, Kletterpflanzen und großen Rundbogenfenstern, die einen Ausblick auf das Promenadendeck und das Meer boten. Das backbordseitige Café war über eine Drehtür unmittelbar mit dem Rauchsalon verbunden, das steuerbordseitige hingegen konnte nur über das Deck erreicht werden und war als Nichtraucherbereich ausgewiesen. Auf dem D-Deck befand sich der Speisesaal der Ersten Klasse, der 1912 mit rund 890 m² Grundfläche der größte Raum auf einem Schiff überhaupt war. Außer in diesem Saal konnten die Passagiere der Ersten Klasse auch à la carte in Luigi Gattis Restaurant auf dem B-Deck speisen. 1912 war dieser kulinarische Luxus auf Schiffen etwas außerordentlich Besonderes. An das Restaurant grenzte das im Stil eines französischen Straßencafés gestaltete „Café Parisien“ an, das auf der Olympic erst später installiert wurde. Ein weiterer Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in der Ersten Klasse war der große Empfangssalon auf dem D-Deck, der zwischen Speisesaal und großem Treppenhaus lag. Er diente als zentraler Ort bei der Einschiffung der Passagiere und als Treffpunkt während der Reise; in ihm fanden zudem regelmäßig Darbietungen der Bordmusiker statt. In seiner Funktion entspricht dieser Raum – den es in dieser Art und Größe damals nur auf den Schiffen der Olympic-Klasse gab – den großen Foyers auf modernen Kreuzfahrtschiffen.
Ein kostbar ausgestattetes Türkisches Bad und ein 10 m mal 4,3 m großes beheiztes Schwimmbecken (F-Deck, das größte Becken seiner Zeit), eine zwei Decks hohe Squashanlage (G- und F-Deck) sowie ein vielseitig ausgerüsteter Gymnastikraum (Bootsdeck) rundeten das Angebot ab. All diese Einrichtungen waren zur Zeit der Jungfernfahrt des Schiffes etwas völlig Neuartiges. Auch bei der Gestaltung der Passagierunterkünfte setzte die White Star Line neue Maßstäbe, was Größe, Ausstattung und sanitäre Einrichtungen betraf. Die luxuriösesten Unterkünfte des Schiffes waren die beiden Salon-Suiten auf dem B-Deck, zu denen neben einem privaten Salon, zwei Schlaf- und Ankleidezimmern sowie einem Badezimmer auch ein rund 15 m langes privates, beheizbares und als Veranda gestaltetes Promenadendeck gehörte. Ein Großteil der Luxuskabinen auf dem B- und C-Deck, die in verschiedensten historisierenden Stilrichtungen ausgestattet waren, verfügten darüber hinaus über Verbindungstüren, so dass sie nach Wunsch zu beliebig großen Appartements mit angeschlossenen Badezimmern und Toiletten verbunden werden konnten. Derartige Möglichkeiten waren zu dieser Zeit in diesem Ausmaß auf keinem anderen Schiff vorhanden. Die größten Außenflächen der Ersten Klasse lagen auf beiden Seiten des Promenadendecks auf dem A-Deck und auf der vorderen Hälfte des Bootsdecks.
Anders als zeitgenössische andere Reedereien legte die White Star Line bei der Raumgestaltung der Ersten Klasse der Olympic-Klasse großen Wert auf eine eher intime Atmosphäre und Rückzugsmöglichkeiten für den einzelnen Passagier. Das sollte vor allem auf besonders prominente Gäste attraktiv wirken, die eine zu große Öffentlichkeit scheuten. Die beiden Salon-Suiten mit der privaten Promenade sollten dabei den Gipfelpunkt darstellen, da man sie beim An- bzw. Vonbordgehen ohne Umweg über die Empfangsbereiche auf dem B- und D-Deck direkt über einen Privateingang erreichen konnte. Grundsätzlich charakteristisch waren der Verzicht auf überhohe Räume, die auf Konkurrenzschiffen wie der Lusitania oder den deutschen Schiffen der Kaiser-Klasse üblich waren, und die Anlage zahlreicher Nischen und Séparées in den Speise- und Gesellschaftsräumen.
==== Zweite Klasse ====
Der Zweiten Klasse stand bedeutend weniger Raum zur Verfügung, trotzdem entsprach die Qualität der Ausstattung und des gebotenen Service der der Ersten Klasse auf kleineren oder älteren zeitgenössischen Passagierschiffen. Ihr Bereich war – anders als die Erste und Dritte Klasse – nicht über die Schiffslänge, sondern seine Höhe verteilt und konzentrierte sich etwa im Bereich zwischen dem vierten Schornstein und dem achteren Mast des Schiffes. Neben einem großen, eichenholzgetäfelten Speisesaal auf dem D-Deck waren ein auch als Bibliothek bezeichneter Aufenthaltsraum und ein Rauchsalon vorhanden. Zwei großzügige Treppenhäuser und ein Aufzug verbanden die Decks miteinander. Die Kabinen – meist für zwei oder vier Personen ausgelegt – boten eigene Waschbecken (teilweise aus Marmor), Sitzgelegenheiten, Gepäckschränke und Waschtische und entsprachen somit im Komfort in etwa der günstigeren Kategorie der Erste-Klasse-Kabinen an Bord. Als Außendeck dienten die hintere Hälfte des Bootsdecks und ein zwei Etagen tiefer gelegener Bereich auf dem B-Deck.
==== Dritte Klasse ====
Die Dritte Klasse (häufig als „Zwischendeck“ bezeichnet) umfasste die tiefer gelegenen Decks des Schiffes und die Bereiche unmittelbar am Bug und Heck der Titanic. Obwohl im Vergleich zu den beiden anderen Klassen spartanisch eingerichtet, bot sie doch einen Komfort, der weit über dem lag, was viele der meist nahezu mittellosen Auswanderer, die diese Klasse vor allem nutzten, von zu Hause gewohnt waren. Während andere zeitgenössische Schiffe die Dritte-Klasse-Passagiere meist in riesigen Schlafsälen unterbrachten, gab es auf der Titanic zusätzlich zu den 146 Schlafplätzen in Gemeinschaftsräumen (G-Deck) auch Sechs-, Vier- und Zweibettkabinen mit Waschgelegenheit. Die allgemein zugänglichen sanitären Anlagen boten einige Badewannen an. Der Speisesaal der Dritten Klasse lag mittschiffs auf dem F-Deck und war durch eine Schottwand zweigeteilt. Die übrigen öffentlichen Räume – ein allgemeiner Aufenthaltsraum und ein Rauchsalon – lagen ganz am hinteren Ende des Schiffes im achteren Decksaufbau. Dessen Dach sowie die Bereiche des achteren und vorderen Welldecks dienten den Dritte-Klasse-Passagieren als Freiflächen.
==== Dokumentation der Innenausstattung ====
Aufgrund der kurzen Dienstzeit des Schiffes existieren nur sehr wenige bekannte Innenaufnahmen der Titanic. Während des Aufenthalts in Southampton wurde das Schiff von mehreren Journalisten besichtigt, die Fotografien einiger der Luxuskabinen auf dem B-Deck, des Cafés Parisien und des steuerbordseitigen Veranda-Cafés anfertigten. Eine andere Serie von Bildern schoss der irische Jesuitenpater Francis Browne, der beim letzten Zwischenstopp in Queenstown das Schiff verließ. Er hielt z. B. den Lese- und Schreibsalon der 1. Klasse, seine Kabine auf dem A-Deck, den Gymnastikraum und das Schwimmbecken im Bild fest. Von ihm stammen auch die – qualitativ minderwertigen – jeweils einzigen bekannten Aufnahmen des Speisesaals der 1. Klasse sowie des Funkraums der Titanic.Alle übrigen immer wieder in Büchern und Dokumentationen gezeigten Aufnahmen stammen hingegen vom Schwesterschiff Olympic. Obwohl grundsätzlich identisch ausgestattet, besteht mit letzter Sicherheit keine Gewissheit, dass die Titanic in sämtlichen Aspekten diesen Abbildungen in allen Details entsprach. Unsicherheiten bestehen hier z. B. in der Ausstattung des Speisesaals der 1. Klasse, der auf der Titanic mit einem außergewöhnlich prachtvollen Teppichbelag ausgestattet gewesen sein soll, und in der Ausführung des Geländerzierrats des großen Treppenhauses in der 1. Klasse.
==== Promenadendecks ====
Ein sehr markanter Unterschied zwischen der Titanic und der Olympic war die vordere Hälfte der Promenade auf dem A-Deck. Ursprünglich sollte sie seitlich, dem Schwesterschiff gleich, offen sein, dann jedoch versah man sie kurz vor Fertigstellung zur Hälfte mit einem Wetterschutz. Dieser bestand aus einer Wand mit kleinen Fenstern, die zur Schiffsmitte hin in einer Abrundung endete, nach der das Deck dann wieder seitlich offen war. Die Titanic hatte nämlich noch zusätzliche Kabinen und Privatpromenaden für die teuersten Suiten auf dem B-Deck, während sich auf dem B-Deck der Olympic eine durchgehend wettergeschützte Promenade befand.
=== Rettungsboote ===
Für die Unterbringung der Rettungsboote diente das in Bereiche für die Erste und Zweite Klasse unterteilte oberste Deck. Auf jeder Seite des Bootsdecks waren acht Davits vom Typ Welin Quadrant installiert. Jede dieser damals neuartigen Konstruktionen konnte zum Aussetzen (Fieren) von bis zu vier Rettungsbooten ausgelegt werden, also zusammen 64 Booten. Zunächst plante Alexander Carlisle die Installation von 48 Rettungsbooten auf der Olympic und der Titanic, jedoch folgten mehrere Designwechsel, in deren Folge die Anzahl der Rettungsboote auf 20 verringert wurde: Vom Bug her gezählt waren auf Steuerbord (rechts) hinter der Kommandobrücke ein Notfall-Kutter (Boot 1) und die beiden Faltboote A und C untergebracht, gefolgt von einer Gruppe von drei großen Rettungsbooten (Boot Nr. 3, 5 und 7). Weiter hinten gab es eine zweite Gruppe von vier großen Rettungsbooten (Nr. 9, 11, 13 und 15). Auf Backbord waren der zweite Notfall-Kutter (Boot 2), die beiden Faltboote B und D und die sieben großen Rettungsboote Nr. 4, 6, 8 sowie Nr. 10, 12, 14 und 16 untergebracht. Die Faltboote („Engelhardt collapsible boat“) hatten einen Holzboden sowie Wände aus starker Segelleinwand mit einer oberen Schanz aus Kapok und Kork. Die zwei Engelhardt-Boote A und B waren zu beiden Seiten des ersten Schornsteins auf dem Dach der Offizierskabinen verstaut. Sie konnten nicht mehr kontrolliert zu Wasser gelassen werden und wurden beim Untergang weggespült, dabei kam Faltboot B kieloben ins Meer.
Die Notfall-Kutter (Boot 1 und 2) hingen zu beiden Seiten des Schiffes in ihren ausgeschwenkten Davits, um bei einem eventuellen Mann-über-Bord-Manöver sofort einsatzbereit zu sein. Sie waren für je 40 Personen ausgelegt. Jedes der 14 großen Rettungsboote bot Platz für 65 Personen; die vier Engelhardt-Faltboote für jeweils 47 Personen. Insgesamt war an Bord aller Rettungsmittel also Platz für 1178 Menschen.
Wenn die Titanic mit voller Kapazität von 2400 Passagieren und 900 Besatzungsmitgliedern gefahren wäre, hätte man rechnerisch – neben den zwei Kuttern und den vier Faltbooten – anstatt 14 mindestens 47 der großen Rettungsboote benötigt. Bei der Jungfernfahrt stand aber nur für ungefähr die Hälfte der gut 2200 Menschen an Bord ein Platz in einem Rettungsboot zur Verfügung. Diese geringe Anzahl entsprach dem damals gültigen Gesetz aus dem Jahre 1896. Es legte für die Anzahl der Plätze in den Rettungsbooten nicht die maximale Passagierzahl, sondern die Tonnage des Schiffes zugrunde. Für Schiffe der Kategorie „über 10.000 Bruttoregistertonnen“, der zur damaligen Zeit höchsten vorstellbaren Größe für Passagierschiffe, waren demnach 962 Plätze vorgeschrieben; allerdings durfte diese Zahl abhängig von den wasserdichten Schotten des Schiffes verringert werden. Laut diesen Vorschriften hätte die Titanic sogar nur Rettungsboote für 756 Personen mitführen müssen. Mit den 422 zusätzlichen Plätzen übertraf die White Star Line die gesetzlichen Anforderungen daher noch deutlich.
Der Unterschied zwischen Davit-Kapazität und der schließlich installierten Anzahl von Rettungsbooten führte allerdings später zu Mutmaßungen darüber, warum man das Design veränderte und damit eine geringere Anzahl von Booten in Kauf nahm. So hieß es zum Beispiel, dass weitere Boote den Raum auf dem Bootsdeck zu stark begrenzt hätten oder dass es die Passagiere verunsichert hätte, wenn die Titanic deutlich mehr Rettungsboote als andere vergleichbare Schiffe gehabt hätte. Außerdem hätten die 33 zusätzlichen Boote auch mehr dafür ausgebildete Seeleute benötigt.
Ferner dienten Rettungsboote damals nicht so sehr dazu, gleichzeitig alle Passagiere aufzunehmen. Vielmehr setzte man damit die Passagiere in kleineren Gruppen vom verunglückten Schiff auf ein anderes über. Das war zumindest bei stark befahrenen Routen eine weit verbreitete Ansicht. Eine andere Meinung hingegen vertrat Schiffsarchitekt Alexander Carlisle am 19. und 25. Mai 1911. Auf Tagungen des für die Regelerstellung zuständigen Komitees wies er eindringlich darauf hin, dass die Anzahl der Rettungsbootplätze auf Schiffen wie der Olympic und der Titanic zu niedrig war. Seine Forderungen nach Verschärfung der Vorschriften fanden allerdings keine Mehrheit.
== Jungfernfahrt und Untergang ==
Die Jungfernfahrt der Titanic sollte das Prestige der White Star Line erhöhen und auch für die noch im Bau befindliche Britannic werben. Der an Bord in allen Klassen gebotene Komfort und der insbesondere in der Ersten Klasse ausgezeichnete Service sollten den Vorsprung gegenüber anderen Reedereien sichern.
Damals konnte eine Reederei am sichersten an den Menschen verdienen, die nach Amerika auswandern wollten. Die Preise pro Person bei Unterbringung in normalen Kabinen begannen bei 36 US-Dollar (15 $ für Kinder bis 12 Jahre) für die Dritte, bei 60 $ für die Zweite und bei 150 $ für die Erste Klasse. Die größten Suiten kosteten 4.350 $. Bezogen auf das Jahr 1912 entspricht dies einer heutigen Kaufkraft von 1.040 $, 430 $, 1.730 $, 4.330 $ und 125.450 $.Auf der Fahrt war nur gut die Hälfte der Passagierunterkünfte besetzt. Ein wesentlicher Grund dafür waren allgemeine Unsicherheiten aufgrund eines langen Kohlestreiks. Außerdem erregte die Titanic keine so große Aufmerksamkeit, wie man wegen des Titels „größtes Schiff der Welt“ hätte vermuten können. Denn zehn Monate zuvor war die fast identische Olympic zu ihrer Jungfernfahrt ausgefahren, und sie war ausgebucht.
=== Passagiere ===
Über 1.300 Personen hatten eine Passage auf der Titanic gebucht. Unter den Passagieren befanden sich viele Prominente der nordamerikanischen und europäischen Gesellschaft, unter anderem:
der Inhaber des New Yorker Kaufhauses Macy’s, Isidor Straus mit seiner Gattin Ida Straus
der US-Multimillionär John Jacob Astor IV mit seiner Frau Madeleine
der US-Schriftsteller Jacques Futrelle
der US-amerikanische Geschäftsmann Benjamin Guggenheim
die US-amerikanische Millionärsgattin und Frauenrechts-Aktivistin Molly Brown
der US-amerikanische Tennisspieler und Bankier Karl Howell Behr
der US-amerikanische Historiker und Schriftsteller Archibald Gracie
der US-amerikanische Rennfahrer und Automobilhersteller Washington Augustus Roebling II. (Neffe von Washington Augustus Roebling)
der prominente New Yorker Textilfabrikant Martin Rothschild (ein Onkel von Dorothy Parker)
der kanadische Politiker und Geschäftsmann Harry Markland Molson, Direktor der Canadian Transfer Company und Erbe des Brauunternehmens Molson
der britische Journalist und Spiritualist William T. Stead
der Schweizer Wirtschaftsjurist Max Stähelin-Maeglin
der Schweizer Alfons Simonius-Blumer, Oberst der Schweizer Armee und seit 1906 Präsident des Schweizerischen Bankvereins (SBV) in Basel
der Schweizer Maximilian Frölicher-Stehli, Direktor der Zürcher Seidenfabrik Stehli & Co.
der US-Verleger Henry Sleeper Harper (Sohn des Gründers von Harper’s Magazine und Präsident von Harper & Brothers Publishing House)
der norwegisch-amerikanische Juwelier und Bankier Engelhart Østby
der Niederländer Johan Reuchlin, Generaldirektor der Holland-America Line
der US-Amerikaner Charles M. Hays, Präsident der Grand Trunk Railway
der Kanadier Major Arthur Peuchen, Präsident der Standard Chemical, Iron & Lumber Company
der US-Amerikaner Walter Douglas, Unternehmer und Gründer der Douglas Starchworks
der US-Industrielle George Wick, Gründer der Youngstown Iron Sheet and Tube Company, einem der seinerzeit größten Stahlhersteller der Welt
der US-Amerikaner Frederick Sutton, Immobilien-Tycoon und Präsident der New Jersey Electric Co.
die britische Frauenrechtlerin Elsie Bowerman mit ihrer Mutter, Edith Bowerman Chibnall (Mitglieder der Women’s Social and Political Union und Mitorganisatorin der Women’s Suffrage Propaganda League)
der US-amerikanische Bankier Robert Daniel
der US-amerikanische Tennisspieler Richard Norris WilliamsAuch die amerikanische Schauspielerin Dorothy Gibson, der Kunstmaler Frank Millet, die Designerin und Modejournalistin Edith Rosenbaum, der New Yorker Theaterproduzent Henry Harris, der preisgekrönte französische Bildhauer Paul Chevré, die amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Helen Candee, der New Yorker Wirtschaftsanwalt Frederic Seward und Marie Grice Young, die ehemalige Musiklehrerin der Tochter von US-Präsident Theodore Roosevelt, waren an Bord, ebenso wie der Großgrundbesitzer Sir Cosmo Duff-Gordon und seine Frau, die Modedesignerin Lady Lucy Duff Gordon, sowie die schottische Adelige Lucy Noël Martha Dyer-Edwards, Gräfin und Ehefrau von Norman Leslie, 19. Earl of Rothes, Lieutenant Colonel der Royal Garrison Artillery. Zu den Millionären an Bord zählten der Stahlbaron Arthur Ryerson, Präsident der Joseph T. Ryerson Steel Company und Partner der Anwaltskanzlei Isham, Lincoln & Ryerson, der Eisenbahnmagnat John B. Thayer, ehemaliger First-Class-Cricket-Champion und Vizepräsident der Pennsylvania Railroad, der Geschäftsmann George Widener, Automobilhersteller, Präsident des Widener Elkins Traction Syndicate und Direktor der Pennsylvania Academy of the Fine Arts und William Ernest Carter sowie seine Gattin Lucile Carter.
Unter den Passagieren der Zweiten Klasse befanden sich die amerikanische Missionarin Annie Funk, der Marinemaler Samuel Stanton und der Cinematograph und Filmproduzent William H. Harbeck.
=== Besatzung ===
Von den knapp 900 Mitgliedern der Schiffsbesatzung stammte ein Großteil aus Southampton. Etwa 325 waren für den Schiffsbetrieb und 500 für die Passagiere zuständig, darunter allein 324 Stewards und 18 Stewardessen. Für den Schiffsbetrieb sorgten in mehreren Wachen hauptsächlich 35 Ingenieure und Techniker, 167 Heizer, 71 Kohlentrimmer und 33 Maschinenfetter. Zusätzlich gab es mehrere Lagerverwalter (Storekeeper), den Schiffszimmerer, die Rudergänger und die Matrosen im Ausguck (Krähennest). Leitender Ingenieur war Joseph Bell.
Weitere 66 Personen hatten andere Aufgaben, darunter die acht Offiziere der Schiffsführung: Kapitän Edward John Smith, Leitender Offizier Henry T. Wilde, Erster Offizier William M. Murdoch, Zweiter Offizier Charles Lightoller, Dritter Offizier Herbert Pitman, Vierter Offizier Joseph Boxhall, Fünfter Offizier Harold Lowe und der Sechste Offizier James P. Moody. Die Funker Jack Phillips und Harold Bride gehörten zwar zur Besatzung, waren aber Angestellte der Marconi-Gesellschaft.
=== Vorräte und Fracht ===
Die Titanic hatte für die Reise erhebliche Mengen an Nahrungsmitteln an Bord. Neben 72,5 Tonnen an Fleisch und Fisch, 40 Tonnen Kartoffeln und 200 Barrels Mehl gab es noch über 30 Tonnen weiterer Lebensmittel. Als Trinkvorräte wurden 400 Kilogramm Tee, 1100 Kilogramm Kaffee und knapp 37.000 Getränkeflaschen mitgeführt. Die Vorräte an Milch und Milcherzeugnissen nahmen mehr als 12 Kubikmeter Lagerraum ein. In den Wäschekammern lagerten knapp 200.000 Wäschestücke.
Auch Fracht und sieben Millionen Briefe sowie anderweitige Postsendungen wurden auf der Jungfernfahrt transportiert. Unter den bei der Jungfernfahrt beförderten Gütern befanden sich Maschinenteile, Elektrogeräte, Lebensmittel, Seidenwaren, Kleidungsstücke, Spirituosen, Straußenfedern und ein Auto sowie viele weitere Waren für Nordamerika.
=== Auslaufen aus Southampton ===
Die Titanic begann ihre Jungfernfahrt von Southampton nach New York am Mittwoch, dem 10. April 1912 unter ihrem Kapitän Edward Smith. Gerüchten zufolge sollte die Jungfernfahrt der Titanic seine letzte Reise als Kapitän vor seinem Ruhestand werden. Andere Quellen sprechen davon, dass das erst für die Jungfernfahrt der Britannic geplant war.
Kurz nach 12 Uhr legte das Schiff von seinem Liegeplatz im Hafen von Southampton ab. Aufgrund eines vorangegangenen Kohlestreiks befanden sich mehr Schiffe im Hafen als üblich. Als die Titanic an den Dampfern New York und Oceanic vorbeifuhr, rissen aufgrund des von ihr ausgehenden Sogs mehrere Haltetaue der New York, deren Heck daraufhin langsam auf die Titanic zutrieb. Der Schlepper Vulcan zog das Heck der New York weg und konnte so eine Kollision knapp verhindern, jedoch verzögerte der Vorfall die Abfahrt der Titanic nach Cherbourg (Frankreich) um eine Stunde.
=== Aufenthalt vor Cherbourg ===
Nach der rund 80 Seemeilen (ca. 150 km) weiten Fahrt über den Ärmelkanal ankerte die Titanic gegen 17:30 Uhr vor Cherbourg auf Reede, weil der Hafen für das Schiff zu klein war. Mit den speziell für diesen Zweck gebauten Tenderschiffen Nomadic und Traffic wurden weitere Fracht sowie 274 Passagiere an Bord gebracht. 15 Passagiere der Ersten und 7 der Zweiten Klasse, die nur die Passage über den Kanal gebucht hatten, gingen von Bord. Um 20:10 Uhr wurden die Anker gelichtet und das Schiff machte sich auf den Weg nach Queenstown (heute Cobh) auf der irischen Insel, die zu der Zeit zum Vereinigten Königreich gehörte.
=== Aufenthalt vor Queenstown ===
Zwei Seemeilen vor Queenstown ankerte die Titanic am Donnerstag, den 11. April 1912, ab 11:30 Uhr erneut auf Reede. Zwei Barkassen brachten 113 Passagiere der dritten und 7 der zweiten Klasse an Bord. Sieben Erste-Klasse-Passagiere, die in Cherbourg zugestiegen waren, gingen wieder von Bord. 1385 Postsäcke wurden auf die Titanic gebracht, die um 13:30 Uhr ihre Anker lichtete.
=== Atlantikfahrt ===
Vor der Südküste Irlands verlangsamte der Dampfer kurz seine Fahrt, damit der Lotse in sein Boot übersetzen konnte. Nach der Passage des Nordatlantiks war geplant, am Mittwoch, den 17. April, in New York anzukommen und die Rückreise am 20. April anzutreten.
Am 15. Januar 1899 trat zwischen den großen Reedereien eine Vereinbarung in Kraft, gemäß der zwischen dem 15. Januar und dem 14. August die „Südliche Route Richtung Westen“ zu nehmen ist, um den im kalten Labradorstrom äquatorwärts treibenden Eisbergen zu entgehen. Der Kurs führte nicht auf dem kürzesten Weg (Orthodrome) nach New York, sondern es wurde ein Korrekturpunkt bei 42° 0′ N, 47° 0′ W angesteuert und anschließend auf westlichen Kurs Richtung Feuerschiff Nantucket gedreht. Tatsächlich hatte die Titanic ein wenig hinter dem Korrekturpunkt gedreht, so dass sie sich noch einige Meilen südlicher befand.
Ob das eine Vorsichtsmaßnahme sein sollte, ist nicht bekannt. Kapitän Smith und seine Offiziere wussten schon vor der Abfahrt von Southampton, dass das Treibeisfeld in Umfang und südlicher Ausdehnung größer war als in den vergangenen Jahren. Außerdem gingen während der Fahrt mehrere Funksprüche von anderen Schiffen ein, die vor Treibeisfeldern und Eisbergen warnten. Dabei wurden allerdings nicht alle Eiswarnungen von den Funkern an die Brücke weitergeleitet; diese waren stark mit der Übermittlung privater Telegramme beschäftigt. Dadurch fehlten auf der Brücke genaue Informationen bezüglich der aktuellen Position der Treibeisfelder.
Mit der Unterlassung verstießen die Funker allerdings nicht gegen Vorschriften, denn die noch neue Funktechnik wurde bis dahin nicht als wesentlich für die Führung eines Schiffs betrachtet. Es wird davon ausgegangen, dass die Brückenoffiziere drei bis vier verschiedene Warnungen erhalten hatten und Kapitän Smith drei davon kannte. Laut Zeugenaussagen war den Offizieren die Eisberggefahr zwar bewusst; doch jeder hatte unterschiedliche Informationen, und keiner kannte alle Eisbergwarnungen. Das Gesamtbild hätte gezeigt, dass die Titanic am Abend des 14. April in ein großes Treibeisfeld geraten würde.
=== Kollision mit dem Eisberg ===
Die Reise wurde am Sonntag, dem 14. April gegen 23:40 Uhr Schiffszeit jäh gestört. Der Ausguck Frederick Fleet entdeckte direkt voraus einen Eisberg und läutete dreimal die Alarmglocke. Zusätzlich gab er an die Brücke über das Telefon die Warnung „Eisberg voraus“, die vom Sechsten Offizier James P. Moody entgegengenommen wurde. Während Fleet noch telefonierte, bemerkte sein Kollege Reginald Lee, dass sich der Bug zu drehen begann. Der Erste Offizier William Murdoch hatte also bereits ein sogenanntes „Porting-around“-Manöver eingeleitet, was vermuten lässt, dass er den Eisberg schon entdeckt hatte. Der Rudergänger Robert Hichens hatte den Befehl „Hart Steuerbord“ erhalten, um nach Backbord abzudrehen. Gleichzeitig gab Murdoch über den Maschinentelegrafen das Kommando „Stop“ (engl. Full Stop). Der 4. Offizier Boxhall bezeugte später das gleichzeitige Kommando „Volle Kraft zurück“ (engl. Full Astern) durch Murdoch, so wie auch in J. Camerons Film Titanic (1997) dargestellt. Dafür finden sich jedoch nicht genug Hinweise; es erscheint wahrscheinlicher, dass erst kurz nach der Kollision das Schiff mit „Langsam zurück“ (engl. Slow Astern) fast gestoppt wurde. Dann zog der Erste Offizier den Hebel, um alle 15 Schotten zwischen den Abteilungen im Schiffsbauch zu schließen.
Die Kollision ließ sich jedoch nicht mehr verhindern, da der Abstand zum Eisberg schon zu gering war. Stand 2023 ist noch ungeklärt, ob das auf 300.000 Tonnen geschätzte Eisgebilde zuerst Steuerbord seitlich kurz hinter dem Bug im Bereich der Vorpiek mit dem Rumpf kollidierte und dann noch mehrmals an Steuerbord gegen das Schiff prallte oder ob die Titanic auf den Eisberg aufgefahren ist. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich, da sich 90 % des Volumens von Eisbergen unter der Wasseroberfläche befinden. Die Lecks der Titanic erstreckten sich von der Vorpiek über die drei vorderen Frachträume bis zu den beiden vorderen Kesselräumen Nr. 6 und Nr. 5. Der Eisberg stammte wahrscheinlich vom Jakobshavn Isbræ, einem Gletscher im Westen Grönlands.Der Schaden nach dem Zusammenstoß erschien zunächst gering. Laut Augenzeugenberichten ragte der Eisberg ca. 30 m über das Vorderdeck, er beschädigte die oberen Decks jedoch kaum. Unterhalb der Wasserlinie riss er mehrere Löcher; von der Vorpiek bis kurz hinter den Punkt des Schiffes, der beim Wenden der Drehachse entsprach. Diese Drehachse lag bei voller Fahrt ungefähr an der Grenze zwischen der fünften und sechsten wasserdichten Abteilung. Die Lecks betrafen alle sechs vorderen Abteile, was aufgrund des eindringenden Wassers zum Versinken des Vorschiffes führte. Während die vorderen fünf Abteilungen (Vorpiek, Frachträume 1 bis 3 und Kesselraum Nr. 6) rasch vollliefen, konnte die Flutung im hintersten betroffenen Bereich, dem Kesselraum Nr. 5, durch die Pumpen verlangsamt werden. In der ersten Stunde strömten zwischen 22.000 Tonnen und 25.000 Tonnen Wasser ein. Dabei wurden die vorderen fünf Abteile nahezu komplett geflutet, wonach die Titanic kurzfristig fast ein Gleichgewicht erreichte. Die Neigung des Schiffes betrug zu diesem Zeitpunkt circa 5° Richtung Bug, was von den meisten Personen wahrscheinlich noch nicht als bedrohlich wahrgenommen wurde. In der folgenden Stunde drangen höchstens weitere 6.000 Tonnen Wasser in das Schiff ein, die Neigung veränderte sich dabei nicht gravierend. Allerdings begannen nun zunehmend Sekundärflutungen, da immer mehr offene Bullaugen, Lüftungsschächte und Ladeluken im untergehenden Bug unter die Wasserlinie gelangten, was den Sinkprozess rapide beschleunigte.
=== Evakuierung ===
Kapitän Smith erkundete den Schaden ausführlich und beriet sich mit dem Schiffskonstrukteur Thomas Andrews, der einen raschen Untergang voraussah. So erteilte Smith den Funkern Jack Phillips und Harold Bride gegen 0:15 Uhr den Befehl, Notrufe an andere Schiffe zu senden. Darauf antwortete die Carpathia, die fast vier Stunden bis zur Unglücksstelle brauchte. Nach Angaben des Funkoffiziers der Carpathia war er es, der die Titanic anrief, um sie über das Vorliegen von Funknachrichten an sie bei der Marconi Wireless Station Site zu informieren. Als Antwort bekam er den CQD-Notruf. Mehrere Besatzungsmitglieder der Titanic machten in der Ferne die Lichter eines Schiffes aus, so dass die Titanic ab 0:45 Uhr versuchte, durch regelmäßigen Abschuss von Seenotraketen Kontakt zu jenem Schiff aufzunehmen. Eine Antwort blieb aus, und es entstand später der Verdacht einer unterlassenen Hilfeleistung.
Um 0:05 Uhr ordnete Kapitän Smith die Evakuierung der Titanic an. Erst gegen 0:45 Uhr ließ man das erste Rettungsboot ins Wasser hinab. Offiziere und Stewards erhielten zuvor durch den Leitenden Offizier Henry T. Wilde den Auftrag, den Passagieren die Evakuierung lediglich als ein „Bootsmanöver“ zu erklären. Viele Reisende der ersten Klasse hatten es als übertrieben angesehen, Rettungswesten anzulegen, worauf die Offiziere nun bestehen sollten. Offiziell galt beim Fieren der Rettungsboote der sogenannte Birkenhead-Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst!“ Im Hinblick auf die Überlebenschance war in der Praxis allerdings ebenso wichtig, auf welcher Seite des Schiffes man sich befand und in welcher Klasse man reiste. Von verschiedenen Offizieren, die Boote besetzten, wurden unterschiedliche Praktiken angewendet. Der Zweite Offizier Charles Lightoller auf der Backbordseite legte den Befehl eher nach dem Motto „Männer auf keinen Fall“ aus, selbst wenn dadurch ein nicht einmal halbvolles Boot gefiert wurde, weil keine weitere Frau bereit war, die noch stabil erscheinende Titanic zu verlassen. Eine Mutter hatte laut Augenzeugenberichten Mühe, ihren 13-jährigen Sohn zu sich in ein Rettungsboot zu nehmen, da der Offizier diesen bereits als Mann ansah. Auf der Steuerbordseite hingegen, wo der Erste Offizier Murdoch Aufsicht führte, hatten Männer, darunter auch viele Besatzungsmitglieder, weniger Probleme, in ein Boot zu gelangen. Auf der Steuerbordseite wurden mehr Menschen gerettet als auf der Backbordseite. Insgesamt wurden 74 % der Frauen und 52 % der Kinder gerettet, aber nur 20 % der Männer.Von den vorhandenen 1.178 Rettungsbootplätzen wurden nur 705 genutzt. Statt der teilweise möglichen Kapazität von 65 Passagieren wurden viele Boote nur zur Hälfte besetzt; eines der für 40 Passagiere ausgelegten Rettungsboote wurde bereits gefiert, als sich darin nur 12 Personen befanden. Man befürchtete zunächst, dass die Boote für solch hohe Passagierzahlen zu zerbrechlich sein könnten. Außerdem machte die Titanic noch längere Zeit einen stabilen Eindruck, da sie kaum Schlagseite hatte. Viele der an Bord befindlichen Personen glaubten, die Titanic sei ein sichererer Ort als die kleinen Rettungsboote.
Möglicherweise führte auch das Orchester des Schiffes dazu, dass die Gefahr nicht ernst genug genommen wurde. Die acht Musiker unter Leitung des Kapellmeisters Wallace Hartley spielten auf dem Bootsdeck Ragtime-Musik und andere heitere Stücke, um Panik zu verhindern. So hatte es die Schiffsführung angeordnet. Keiner der Musiker überlebte den Untergang. Panik brach erst aus, als offensichtlich wurde, dass das Schiff bald sinken würde und nur noch wenige Rettungsboote übrig blieben. Von den zum Schluss gefierten Booten wurden einige mit über 70 Menschen überbesetzt.
In der Eile der Evakuierung konnten die Notrettungsboote mit den Bezeichnungen A und B nicht zur Besetzung vorbereitet werden. Lightoller und ein anderer Offizier versuchten erst im letzten Moment, das Faltboot B freizumachen, das wie die anderen zusammengeklappt war und damit wenig Stauraum einnahm. Es fiel zwar kieloben ins Wasser, diente dennoch Lightoller und einigen später ins Meer Gespülten als rettendes Floß.
Das letzte gefierte Rettungsboot, das Faltboot D, verließ die Titanic um 2:05 Uhr. Die Funker wurden von ihren Pflichten entbunden, sendeten aber noch einige Minuten weiter. Gegen 2:10 Uhr war Kesselraum Nummer vier, die siebte wasserdichte Abteilung vom Bug aus gesehen, komplett geflutet. Rund 40.000 Tonnen Wasser bewirkten das Absinken des Bugs in die Tiefe, das Wasser erreichte nun die Schiffsbrücke und begann, das Bootsdeck zu überspülen. Zu dieser Zeit wurde auch Kesselraum Nummer 2 wegen Wassereinbruch evakuiert. Der vordere Schornstein der Titanic stürzte durch die instabile Position nach vorne um und erschlug einige Menschen im Wasser. Die übermäßige Steillage des Schiffes Richtung Bug nahm jetzt stetig zu; ein normales Gehen war genauso wie das Arbeiten in den Kessel- und Maschinenräumen kaum mehr möglich.Dort hatte Chefingenieur Bell zusammen mit zahlreichen Heizern sowie den 34 weiteren Schiffsingenieuren und Maschinisten des Schiffes bislang die Kesselräume 2 und 3 weiterbetrieben. Damit wurden die Dampfmaschinen, die die Stromgeneratoren antrieben, mit Dampf versorgt, so dass Energie für Pumpen, Funk und Beleuchtung zur Verfügung stand. Außerdem wurde durch gezieltes Ab- und Umpumpen von Wasser dafür gesorgt, dass während des Sinkprozesses die Schlagseite der Titanic minimal blieb, denn schon bei etwas stärkerer Schlagseite hätte man nur auf einer Schiffsseite Rettungsboote fieren können. Nun versuchten viele Besatzungsmitglieder verzweifelt, über die Notleitern nach oben zu gelangen, was aber nur wenigen gelang.
Die Titanic hatte 3364 Säcke mit insgesamt sieben Millionen Briefen und Postwertsendungen an Bord. Im Bundesarchiv Berlin wurden im Jahr 2022 Unterlagen gefunden, laut denen 318 Postbeutel mit jeweils 2000 Briefen aus den Oberpostdirektionen Düsseldorf, Frankfurt, Bremen, Köln, Stuttgart, Erfurt, Berlin und Straßburg an Bord waren. Wie viele Briefe aus Bayern, Pommern, Schlesien und Württemberg an Bord waren, ist unbekannt. Die fünf Postbeamten an Bord versuchten vergeblich, einen Teil der Postsäcke vor den eindringenden Wassermassen zu retten.
=== Untergang ===
Gegen 2:18 Uhr fand ein rund zweistündiger Prozess seinen Höhepunkt, der schleichend begonnen hatte: Der zunehmende Steilwinkel des Schiffskörpers bewirkte, dass sich Einrichtungsgegenstände und auch Kessel im Inneren losrissen und nach vorn rutschten. Durch den fehlenden Auftrieb größerer Schiffsteile – anfangs nur im Bugbereich und später dann auch im Heck – wirkten Kräfte auf den Schiffsrumpf, für die die Konstruktion nicht ausgelegt war. Hatte sich der Schiffsrumpf bislang nur verbogen, konnte er den immer stärker werdenden Kräften nun nicht mehr standhalten und zerbrach in der Umgebung von Kesselraum Nummer 1 zwischen dem dritten und dem vierten Schornstein. Dabei wurden auch die Dampf- und Stromleitungen gekappt, und das Schiff lag im Dunkeln. Der Bugabschnitt, der zu diesem Zeitpunkt schon fast komplett unter der Wasserlinie lag, ging unter, während das Heck zunächst in seine alte Position zurückkippte und einige Sekunden gerade auf dem Wasser schwamm, bis es sich kurz darauf steil aufrichtete und schließlich gegen 2:20 Uhr versank.Das Wrack sank auf der ungefähren Position 41° 44′ N, 49° 57′ W und schlug in 3.821 Meter Tiefe mit einer Geschwindigkeit zwischen 50 und 80 km/h auf dem Meeresgrund auf. Durch die hohe Sinkgeschwindigkeit wurden Teile der auseinandergebrochenen Schiffshälften abgerissen, darunter Stahlplatten aus dem Kiel und Rumpfbereich sowie andere Aufbauten der oberen Decks, und über ein großes Gebiet am Meeresboden verstreut.
=== Opfer und Überlebende ===
Nach dem Untergang mussten die geretteten Menschen in den Booten noch ungefähr zwei Stunden warten, bevor sie von der Carpathia aufgenommen werden konnten. Die Nacht war sehr kalt, die Wassertemperatur lag mit etwa 0 °C nur knapp über dem Gefrierpunkt von Meereswasser. Viele Menschen starben nicht während des Unterganges auf dem Schiff, sondern erst danach im Wasser an Unterkühlung und trieben bei Ankunft der Carpathia der britischen Cunard Line um 4:10 Uhr morgens leblos im Wasser. Obwohl in den Titanic-Booten noch insgesamt mehrere Hundert Plätze frei waren, ruderten die Insassen von den um Hilfe Rufenden weg, aus Angst, ihr Boot könnte kentern, wenn zu viele der im Wasser Treibenden versuchten, ins Boot zu klettern. Lediglich Rettungsboot Nummer 4 kehrte um. Es konnten allerdings nur noch fünf Überlebende gerettet werden, von denen zwei im Boot starben. Gegen 3 Uhr, also etwa 40 Minuten nach dem Untergang der Titanic, verstummten auch die letzten Hilferufe aus dem Wasser. Erst danach kehrte auch Boot Nummer 14 unter dem Kommando des 5. Offiziers Harold Lowe, der die Passagiere in andere Rettungsboote hatte umsteigen lassen, zu den im Wasser Treibenden zurück. Es wurden nochmals drei Menschen gerettet, die sich an Treibgut festgehalten hatten.
Insgesamt riss die Titanic zwischen 1.490 und 1.517 Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Tod, darunter den Kapitän, der vermutlich freiwillig mit seinem Schiff unterging. Auch bekannte Persönlichkeiten wie Benjamin Guggenheim, Isidor Straus, John Jacob Astor IV, Jacques Futrelle und Charles M. Hays starben beim Untergang. Zu den Opfern zählten auch die vier reichsten Männer an Bord. Nur 711 Menschen überlebten laut dem britischen Untersuchungsbericht.
Die folgende Tabelle ist eine Auflistung der Opfer und geretteten Menschen nach Alter (Kinder bis 12 Jahre), Geschlecht und Zugehörigkeit zur gebuchten Kabinenklasse, sortiert nach Anteil der Überlebenden. Quelle ist ein Bericht des britischen Parlaments von 1912. Wegen einiger Diskrepanzen in den Passagierlisten kursieren leicht unterschiedliche Zahlen.
Die Statistik zeigt deutlich die Bevorzugung von Frauen und Kindern bei der Evakuierung.
Gut erkennbar ist auch die unterschiedlich hohe Überlebenschance nach Klassen. So waren Frauen und insbesondere Kinder der 3. Klasse deutlich benachteiligt. Nach der britischen Untersuchung, die sich mit dieser Thematik befasste, gab es auf dem Bootsdeck aber keine Diskriminierung nach Klassen. Die geringere Überlebensrate lässt sich durch die vor allem in der Anfangsphase der Evakuierung geringe Anwesenheit von Passagieren der 3. Klasse auf dem Bootsdeck erklären. Das hatte mehrere Gründe:
Passagiere der 3. Klasse hatten normalerweise keinen Zugang zum Bootsdeck. Unter Deck musste in dem komplexen Gangsystem ein Übergang zu einer anderen Klasse gefunden werden, wobei die schiffsinternen Verbindungen zwischen den Klassen nach den Bestimmungen der amerikanischen Behörden mit verriegelbaren Barrieren versehen waren. Nach Berichten von Überlebenden waren einige dieser Übergänge auch während des Untergangs geschlossen. Die Außentreppen, die auf das Promenadendeck führten, boten wahrscheinlich die einfachste Gelegenheit, in Richtung Bootsdeck zu gelangen.
Fehlende Information: Es gab kein Alarmsystem auf der Titanic. Die Passagiere mussten vom Personal aufgefordert werden, sich auf das Bootsdeck zu begeben. Besonders für die 3. Klasse, die die meisten Passagiere stellte, stand nur relativ wenig Personal zur Verfügung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Schiffsführung Anweisungen bzgl. dieser Problematik gegeben hätte.
In der 3. Klasse reisten zahlreiche Ausländer, die nur schlecht oder gar kein Englisch sprechen konnten. Diese Sprachbarriere verschärfte zusätzlich die Informationsproblematik.
Anders sieht es bei den Männern aus. Innerhalb der insgesamt deutlich niedrigeren Rettungsquote stimmt das Verhältnis von der 1. Klasse zur 3. Klasse mit dem bei den Frauen überein, was sich wiederum mit obigen drei Punkten erklären ließe. Die relativ schlechteren Rettungschancen der männlichen Besatzung scheinen deshalb plausibel, weil nicht wenige bis zum Schluss gearbeitet haben wie z. B. bei der Besetzung und Fierung der Rettungsboote oder in den Kessel- und Maschinenräumen. Dadurch fehlte die Möglichkeit, sich um die eigene Rettung zu kümmern. Auffällig ist hier aber die extrem niedrige Rettungsquote bei den Männern der 2. Klasse, die in einer Studie des Soziologen Henrik Kreutz mit den gesellschaftlichen Erwartungen an die Männer, sich erst nach den Frauen und Kindern zu retten, begründet wird. Die „bürgerlichen“ Männer der 2. Klasse waren demnach am stärksten an diese Moralvorstellung gebunden und verzichteten altruistisch auf ihre Rettung. Trotz mehrerer sachlicher Fehler bzgl. der Titanic liefert diese kreutzsche Hypothese damit eine plausible Erklärung für dieses Phänomen.
Der bekannteste Überlebende war J. Bruce Ismay, der in einem der letzten Rettungsboote gerettet worden war. Von der Gesellschaft wurde der Reeder für seine eigene Rettung verachtet, zur Aufklärung der Katastrophe hat er aber wertvolle Beiträge geleistet. Ansonsten waren alle wesentlichen Wissensträger bei dem Untergang ums Leben gekommen: Kapitän Smith, die Offiziere Murdoch und Moody, die zum Zeitpunkt der Kollision auf der Brücke waren, die Garantiegruppe der Werft Harland & Wolff unter der Leitung von Thomas Andrews sowie alle 35 Maschinisten der Titanic.
Die letzte Überlebende des Unglücks war Millvina Dean, die am 31. Mai 2009 – auf den Tag genau 98 Jahre nach dem Stapellauf der Titanic – in einem Seniorenheim verstarb. Zur Zeit des Unglücks war sie ein Baby. In einer BBC-Reportage im Dezember 2007 beklagte sie, dass mit Wrackteilen der Titanic auf dem Schwarzmarkt gute Geschäfte gemacht würden. Die BBC berichtete, dass ein Bullauge des Schiffes für 20.000 Pfund Sterling (etwa 23.000 Euro) angeboten worden sei.
== Nach dem Untergang ==
=== Bergung und Beisetzung der Opfer ===
New York erfuhr am Morgen des 15. April von der Katastrophe. Die Morgenzeitungen meldeten zunächst nur, dass die Titanic mit einem Eisberg kollidiert sei. Journalisten, Familienangehörige und Freunde stürmten das Büro der White Star Line, deren Sprecher zunächst beschwichtigten. Erst die New York Times berichtete vom Untergang der Titanic.
Nachdem die hohen Opferzahlen bekannt geworden waren, charterte die White Star Line den Kabelleger Mackay-Bennett aus Halifax, Kanada, für die Bergung der Leichen. Drei weitere kanadische Schiffe beteiligten sich an der Suche: das Kabelschiff Minia, das Leuchtturm-Versorgungsschiff Montmagny und die Algerine. Auf jedem Schiff befanden sich Leichenbestatter, Geistliche und Mittel zur Einbalsamierung. Die Mackay-Bennett aus Halifax fuhr am 17. April 1912 zu der 1100 km östlich gelegenen Untergangsstelle der Titanic und kam dort drei Tage später an. Sie barg eine große Anzahl von Leichen, von denen 166 noch auf See bestattet wurden. Die Seebestattung der Opfer wurde immer als ein würdevoller Vorgang geschildert, doch ein 2013 im Nachlass eines Besatzungsmitglieds der Mackay-Bennett entdecktes Foto zeigt, wie sich Leichen an Bord des Schiffes in Säcken stapelten, während der Priester daneben die Bestattung durchführte.Aus dem Untergangsgebiet, das mit Wrackteilen und Leichen übersät war, wurden 333 Tote geborgen, davon 328 durch die kanadischen Schiffe und fünf weitere durch vorbeikommende Dampfschiffe der Nord-Atlantik-Route. Mitte Mai 1912 barg die Oceanic drei Leichen in einer Entfernung von mehr als 200 km von der Untergangsstelle der Titanic, die sich im Hilfsrettungsboot A befanden. Als der Fünfte Offizier Harold Lowe und sechs Besatzungsmitglieder einige Zeit nach dem Untergang in einem Rettungsboot zur Untergangsstelle zurückkehrten, um Überlebende zu retten, bargen sie eine Frau aus dem Hilfsrettungsboot A, ließen aber drei tote Insassen zurück. Von der Oceanic wurden die Leichen nach der Bergung aus dem Hilfsrettungsboot A seebestattet. Somit konnten insgesamt 337 Leichen geborgen werden. Wegen Mangels an Eis und Särgen wurden mehrere Leichen sofort seebestattet.
Nach der Rückkehr in Halifax wurden 59 identifizierte Leichen in die Heimat ihrer Verwandten überführt. Die 150 verbleibenden Opfer wurden auf drei Friedhöfen von Halifax beigesetzt. Auf einem, dem Fairview Cemetery, ruhen 121 Opfer der Katastrophe, von denen 44 nicht identifiziert werden konnten. Die Grabsteine sind aus schwarzem Granit, in drei Reihen aufgestellt, in der Form eines Schiffsbuges. Auf allen steht das gleiche Sterbedatum: April 15, 1912.Für die Maschinisten und Musiker gibt es in Southampton Denkmäler. Weitere Erinnerungsstätten für Schiffsbesatzung und Passagiere sind in Cobh, Liverpool, Belfast, Glasgow, Washington, D.C. und New York City.
=== Ankunft der Überlebenden in New York ===
Als die Carpathia, die die Überlebenden aufgenommen hatte, am Abend des 18. April in New York einlief, wurde die Anlegestelle weiträumig abgeschirmt. Die Carpathia legte zuerst am Pier 59 der Chelsea Piers an, um die Rettungsboote der Titanic hier zu entladen. Anschließend fuhr sie zum Pier 54, an dem etwa 30.000 Menschen in strömendem Regen warteten. Presse und Schaulustige sollten ferngehalten werden, die Zollformalitäten wurden übergangen, damit die Überlebenden schnell ihren Familien und Freunden zugeführt werden konnten. Die Passagiere der Ersten Klasse bestiegen ihre Karossen und fuhren in die Luxushotels, am Grand Central Terminal standen private Züge bereit. Zum Schluss verließen die Passagiere der Dritten Klasse, hauptsächlich Auswanderer, das Schiff. Hilfsorganisationen nahmen sich der Geretteten an.
=== Weitere Folgen ===
Als am 24. April 1912 die Olympic aus Southampton auslaufen sollte, streikten die Heizer, da sie nicht mehr auf einem Schiff arbeiten wollten, das nicht über eine ausreichende Anzahl Rettungsboote verfügte. Die Reise der Olympic wurde daraufhin abgesagt.
Der Schock, den der Untergang der Titanic auslöste, führte am 12. November 1913 zur ersten SOLAS-Konferenz (First International Conference on the Safety of Life at Sea – Erste internationale Konferenz über die Sicherheit des Lebens auf dem Meer) in London.
Für Alexander Behm war die Havarie Anlass zur Entwicklung eines Detektors für Eisberge. Dieses Ziel erreichte er nicht; die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zur Schallausbreitung im Wasser waren jedoch Basis für seine Erfindung des Echolots.
== Die Schuldfrage ==
=== Überblick ===
In den direkt auf das Unglück folgenden Untersuchungen vom 19. April 1912 bis zum 25. Mai 1912 wurden von einem Komitee des amerikanischen Senates unter Vorsitz von William Alden Smith mehr als 82 Zeugen zu der Schiffskatastrophe befragt. Die Briten setzten zusätzlich eine eigene Untersuchungskommission unter der Leitung von Rufus Isaacs und Robert Finlay ein, die vom 2. Mai 1912 bis zum 3. Juli 1912 tagte und 97 Zeugen und Sachverständige (unter ihnen Ernest Shackleton) vernahm.
Es stellte sich heraus, dass die Titanic zu schnell durch gefährliches Gewässer gefahren war, dass in den Rettungsbooten nur Platz für etwa die Hälfte der Passagiere und Mannschaften war, und dass die Californian, das dem Unglücksort am nächsten befindliche Schiff, nicht zu Hilfe kommen konnte, weil ihr Bordfunker dienstfrei hatte und schlafen gegangen war. Diese Erkenntnisse führten zu einer langen Liste neuer Vorschriften. Seit dem Unglück muss für jede Person auf einem Schiff ein Platz in einem Rettungsmittel (Rettungsboot, Rettungsfloß) vorhanden sein und das Einsteigen in diese vor der Abfahrt geübt werden. Weiterhin wurde eine auf See rund um die Uhr besetzte Funkwache eingeführt.
In der Gesellschaft und auch in weiten Teilen der Literatur wurden einige Personen besonders für die Katastrophe verantwortlich gemacht: Edward John Smith, Kapitän der Titanic, William M. Murdoch, Erster Offizier, Joseph Bruce Ismay, Geschäftsführer der White Star Line und Stanley Lord, Kapitän der Californian.
=== Der Fall Californian – Verdacht der unterlassenen Hilfeleistung ===
Kapitän Lord wurde beschuldigt, der Titanic in einer Notsituation nicht geholfen zu haben. Grundlage dieser Anschuldigungen ist die Annahme, die Californian sei das Schiff gewesen, dessen Lichter von der Titanic aus gesichtet wurden. Bis heute ist aber strittig, ob es tatsächlich die Lichter der Californian waren, denn zum damaligen Zeitpunkt waren die Positionen von Schiffen nicht jederzeit genau bestimmbar. So sank die Titanic über zehn Seemeilen ostsüdöstlich ihrer im Notruf angegebenen Position, wie man seit der Entdeckung des Wracks weiß. Wie genau die Positionsangabe der Californian ist, lässt sich allerdings nicht mehr ermitteln. Die Zeugenaussagen ihrer Besatzung sind zudem widersprüchlich. Einigkeit besteht darin, dass in der Nacht ein Schiff in südlicher Richtung zu erkennen war. Jedoch nur wenige hielten das Schiff für einen großen Passagierdampfer. Dieses mysteriöse Schiff blieb vor Mitternacht stehen und schien nach zwei Uhr in Richtung Südwest zu verschwinden. Auch wurden Raketen direkt über oder hinter dem stehenden Schiff beobachtet. Anscheinend schien dieses Schiff so nah, dass Kapitän Lord befahl, Kontakt mittels einer Morselampe herzustellen – dies blieb jedoch erfolglos. Der Funker der Californian war zu dieser Zeit bereits im Bett. Das einzige Schiff, das gegen 22:30 Uhr erreicht werden konnte, war die Titanic. Deren Funker aber waren mit Telegrammübermittlung nach Cape Race beschäftigt. Lord glaubte, das Schiff in Sichtweite habe gar keinen Funk (nur wenige kleinere Schiffe waren damals mit dieser noch neuen Technik ausgerüstet), und sah keinen Anlass, seinen Funker aus dem Bett zu holen. Die vorliegenden Fakten lassen zwei Möglichkeiten zu:
Es befand sich ein drittes Schiff zwischen Californian und Titanic, das niemals identifiziert werden konnte. Dass sich dessen Besatzung angesichts der Geschehnisse nachträglich freiwillig gemeldet hätte, erscheint höchst unwahrscheinlich, weswegen diese Möglichkeit angesichts dieser stark befahrenen Schifffahrtsroute durchaus plausibel ist. Diese These vertrat Kapitän Lord bis zu seinem Lebensende.
Das gesichtete Schiff war tatsächlich die Titanic, aber in so großer Entfernung, dass sie je nach Beobachtungswinkel wie ein kleineres näheres Schiff gewirkt haben könnte. Die Californian wäre angesichts abgeschalteter Maschinen aber kaum rechtzeitig am Unglücksort eingetroffen, da Kapitän Lord sein Schiff aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse für die ganze Nacht stoppen ließ, nachdem es den Rand eines großen Eisfeldes erreicht hatte. Daher hätten zunächst die Kessel wieder aufgeheizt werden müssen.Auch wenn Kapitän Lord anscheinend keine Möglichkeit hatte, den Menschen auf der Titanic zu helfen, bleibt sein Verhalten angreifbar. Seine Besatzungsmitglieder hatten insgesamt acht Raketen beobachtet, und Lord hat außer einem gescheiterten Kontaktversuch mittels Morselampe keine Handlungen vorzuweisen. Als Rechtfertigung dafür diente allerdings auch die Tatsache, dass im Jahre 1912 keine eindeutigen Vorschriften bezüglich Notsignalen existierten und alle möglichen Raketen und Fackeln zu Signalzwecken benutzt wurden. Erschwerend kommt hinzu, dass auf der Titanic keine roten Notraketen an Bord waren und man deshalb weiße Raketen abschoss, die man an Bord der Californian eher einem Fest auf dem stillliegenden Passagierschiff zuordnete und deshalb den Funker nicht weckte.
=== Der Erste Offizier Murdoch und das Ausweichmanöver ===
Dem beim Untergang umgekommenen William M. Murdoch wurde nachträglich von Kritikern angelastet, nach der Sichtung des Eisberges falsch gehandelt zu haben. Grundlage dieser Anschuldigungen waren die Tatsachen, dass die Titanic nach links steuerte und die Maschinentelegrafen auf „Voll achteraus“ (rückwärts) gestanden haben sollen, als der Vierte Offizier Joseph Boxhall auf der Brücke eintraf. Das Maschinenkommando soll dabei das Ausweichmanöver verzögert haben. Dass dieser Bremsvorgang tatsächlich eingeleitet wurde, erscheint zweifelhaft, denn was immer Murdoch mit einem Maschinenkommando auch bezweckte, auf das Ausweichmanöver konnte das aus rein technischen Gründen keinen Einfluss haben. Aus rein technischer und physikalischer Sicht ist das sofortige Anhalten oder Zurücksetzen von großen Schiffen bei voller Fahrt praktisch unmöglich. Alleine das Umsteuern der Maschinen auf Rückwärtslauf dauerte im Normalbetrieb auf See 20 Sekunden. Hinzu kam noch eine erhebliche Zeitspanne, denn die Ingenieure, die die Maschinen steuerten, befanden sich nicht direkt an den Reglern. Zwischen den Häfen Queenstown und New York lag eine tagelange Reise, auf der normalerweise kein Maschinenkommando einging, und es gab auch eine Menge anderer Aufgaben, die zu erledigen waren.
Selbst wenn man dafür nur zehn Sekunden Verzögerung annimmt, konnte die Zeit nicht mehr ausreichen, um vor der Kollision die Maschinen anzuhalten, rückwärts wieder anlaufen zu lassen und dann genügend Gegenschub zu entwickeln. Es gibt aber noch weitere Indizien dafür, dass die Maschinen während des Ausweichmanövers nicht rückwärts liefen:
Fehlende Vibrationen. Das Umsteuern auf Rückwärtslauf bei voller Fahrt erzeugt im Heckbereich eines Schiffes enorme Vibrationen, die von keinem Überlebenden der Titanic registriert wurden. Lediglich aus dem vorderen Bereich des Schiffes wurde von Vibrationen während der Kollision berichtet.
Entgegen Boxhalls Aussage bezeugte der Schmierer Frederick Scott, der Maschinenraum habe kurz vor der Kollision auf allen vier Telegrafen „Stop“ empfangen.
Chefheizer Frederick Barrett berichtete für die Heizanzeigen in den Kesselräumen das gleiche.Auch die Forderung, Murdoch hätte das Ausweichmanöver mit Maschinenhilfe unterstützen sollen, indem er nur den linken Propeller auf Gegenschub hätte schalten sollen, ist angesichts der Umsteuerzeit der Maschinen unrealistisch. Die Maschinen wurden allerdings nach Passieren des Eisbergs auf Rückwärtslauf geschaltet, um das Schiff anzuhalten.
Die britische Untersuchungskommission stellte fest, dass sich die Titanic zum Zeitpunkt der Kollision um zwei Strich (22,5°) nach links gedreht hatte. Auf Grund von Tests mit der Olympic wurde ermittelt, dass sich bei voller Fahrt und vollem Ruderausschlag dieser Winkel nach etwa 37 Sekunden einstellt, dabei wird eine Strecke von etwa 410 Metern zurückgelegt. Aus diesen Daten wurde die Entfernung des Eisbergs zum Zeitpunkt der Sichtung bestimmt. Hätte das Schiff allerdings einfach nur Linkskurs gesteuert, so hätte es sich über seine ganze Länge in den Eisberg hineingedreht, Schäden über die gesamte Schiffslänge wären die Folge gewesen. Wie auf nebenstehender Skizze erkennbar, ist der Wendekreisradius eines Schiffes am Heck deutlich größer als am Bug.
Um erfolgreich auszuweichen, kam so kurz vor dem Eisberg nur noch ein sogenanntes „Porting-around“-Manöver in Frage. Dafür waren zwei Ruderkommandos notwendig. Zum richtigen Zeitpunkt musste dabei das Ruder von Linkskurs wieder nach rechts gesteuert werden. Dadurch steuerte der kurze Schiffsbereich vor der Drehachse während der Kollision auf den Eisberg zu, der größte Teil des Schiffes drehte aber, wie in dem Bild „Porting-around-Manöver“ erkennbar, vom Eisberg weg. Das deckt sich mit den Lecks der Titanic, die bis kurz hinter diese Stelle reichen. Der erwähnte Winkel von 22,5° stellt sich im dargestellten Szenario zu dem Zeitpunkt ein, wenn sich der Eisberg bereits im hinteren Bereich des Schiffes befindet. Daraus ergibt sich im Vergleich zum Unfallbericht eine geringere Entfernung des Eisbergs sowie eine Lage etwas weiter rechts zum Kurs der Titanic, was mit der Beobachtung des Ausgucks Frederick Fleet besser übereinstimmt. Angesichts dieser Tatsachen sieht es so aus, als hätte Murdoch in der Gefahrensituation routiniert ein lehrbuchmäßiges Ausweichmanöver durchgeführt.Dennoch gibt es viele Kritiker, die behaupten, das sei falsch gewesen, und Murdoch hätte gar nichts unternehmen dürfen, außer die Maschinen zu stoppen. Hätte die Titanic den Eisberg frontal gerammt, wären die Beschädigungen zwar deutlich stärker gewesen, hätten sich aber auf die vorderen 30 Schiffsmeter beschränkt. Im schlimmsten Fall wären die vorderen drei Abteile geflutet worden, was die Schwimmfähigkeit des Schiffes nicht gefährdet hätte. „Lediglich“ eine große Zahl von Besatzungsmitgliedern, die ihre Quartiere im Bug hatten, wäre dabei ums Leben gekommen. Bei diesem Vorschlag wird aber außer Acht gelassen, dass Murdoch mangels irgendeines Entfernungsmessers nicht wissen konnte, dass der Abstand zum Eisberg nicht zum Ausweichen ausreichte, und welche Konsequenzen der Ausweichversuch haben würde. Unter diesen Umständen den Bug des Schiffes zerquetschen zu lassen und somit die darin befindlichen Besatzungsmitglieder zu töten, ist Murdoch sicherlich nicht in den Sinn gekommen.
Ein letzter Kritikpunkt an Murdoch, der häufig geäußert wurde, ist, es sei ein Fehler gewesen, die Schotten zu schließen. Durch die Konzentration des Wassers im Bug sei dieser zu schnell unter Wasser gesunken und habe dadurch die Titanic vorzeitig versenkt. Abgesehen davon, dass Murdoch nicht wissen konnte, welche Beschädigungen die Titanic erlitten hatte und wie sich diese auswirken würden, ist das Schließen der wasserdichten Türen eine Standardprozedur nach Unfällen, denn zu einem späteren Zeitpunkt kann es dafür bereits zu spät sein. Flutungen unbeschädigter Abteile zuzulassen widerspricht zu Recht allem, was Seeleute in ihrer Ausbildung lernen. Kein Schiffsarchitekt würde ein solches Vorgehen in Erwägung ziehen. Trotzdem wurde es aufgrund der Diskussionen darüber mit Computersimulationen und Schiffsmodellen erforscht. Das Ergebnis ist, dass das Offenlassen der Schotten fatal gewesen wäre: Das Schiff wäre nicht nur 40 Minuten schneller gesunken, sondern auch die Evakuierung wäre stark erschwert worden, denn starke Schlagseite und ein vorzeitiger Stromausfall hätten in der dunklen Neumondnacht koordinierte Handlungen verhindert. Abgesehen von den Auswirkungen wäre ein Offenhalten der Schotten praktisch kaum möglich gewesen, da die Türautomatik, die aktiviert wurde, sobald Wasser die Türen erreichte, gar nicht abgeschaltet werden konnte.
=== Fehlende Ferngläser ===
Als Nachlässigkeit wurde der Schiffsführung auch angekreidet, dass die Matrosen im Ausguck nicht mit Ferngläsern ausgestattet waren, sondern in der dunklen Nacht und im kalten Fahrtwind mit bloßem Auge das Meer nach Hindernissen absuchen mussten. Angeblich war der Fernrohrschrank während der ganzen Fahrt der Titanic verschlossen, weil der Schlüssel sich bei einem Offizier befand, der vor der Fahrt abkommandiert worden war, also gar nicht an Bord war. Des Weiteren hat der Kapitän versäumt, den Ausguck zu verstärken, also etwa eine weitere Eisbergwache am Schiffsbug zu postieren, was angesichts des hohen Fahrttempos und der erhaltenen Eisbergwarnungen eine mindestens zumutbare, wenn nicht unerlässliche Vorsichtsmaßnahme gewesen wäre.
=== Eiswarnungen ===
Kapitän Smith wusste tatsächlich darüber Bescheid, dass sich das Schiff auf Eisberge zubewegte. Auf der Strecke von Southampton bis zur Unglücksstelle empfing der Funker der Titanic nach heutigem Wissen insgesamt mindestens acht Eiswarnungen. Die ersten zwei Meldungen kamen am 12. April vom französischen Schiff La Touraine, das Eis gesichtet hatte, und am 13. April vom Dampfer Rappahannock, der im Vorbeifahren mittels einer Signallampe herübermorste, sie seien durch schweres Packeis gefahren. Wahrscheinlich veranlassten diese Warnungen Kapitän Smith dazu, zehn Meilen südlich der in dieser Jahreszeit üblichen Schifffahrtsroute zu fahren.
Am Tag der Kollision mit dem Eisberg erreichte die Titanic kurz vor 13:00 Uhr eine Eiswarnung von der Caronia der Cunard Line, die diese wiederum ursprünglich von der Noordam der Holland-America Line empfangen hatte. Diesen Funkspruch zeigte Kapitän Smith dem Zweiten Offizier Lightoller und ließ den Funkspruch im Kartenraum aufhängen. Gegen 13:40 Uhr wurde ein Funkspruch der Baltic empfangen. Dieser enthielt, an Kapitän Smith adressiert, die Informationen, dass sie seit der Abfahrt schönes Wetter bei mäßigen, wechselnden Winden habe, der griechische Dampfer Athinai im Tagesverlauf bei 41,51° nördlicher Breite, 49,52° westlicher Länge Eisberge und ausgedehnte Treibeisfelder gesichtet habe, der deutsche Öltanker Deutschland wegen Kohlemangels manövrierunfähig sei, sich bei 40,42° nördl. Breite und 55,11° westl. Länge befinde, und die Besatzung der Baltic der Titanic viel Erfolg wünsche. Smith schenkte diesem Funkspruch jedoch wenig Beachtung. Er übergab ihn Bruce Ismay, der, wie dieser später aussagte, ihn kommentarlos entgegennahm und in die Tasche steckte.
Eine Eiswarnung der Californian kam gegen 18:30 Uhr bei der Titanic nicht an, da Funker Harold Bride das Gerät abgeschaltet hatte. Um 19:30 Uhr fing er die Meldung, diesmal an die Antillian gerichtet, doch noch auf. Die Californian meldete, sie habe um 18:30 Uhr 42,3° nördl. Breite und 49,9° westl. Länge drei Meilen südlich drei große Eisberge gesehen. Bride bestätigte und gab den Spruch an die Brücke weiter.
Um 21:40 Uhr kam eine Nachricht von der Mesaba. Sie berichtete, dass sie ein Eisfeld im Bereich 42°–41,25° nördl. Breite, 49°–50,3° westl. Länge mit viel Packeis sowie Treibeis ausfindig gemacht habe. Da Funker Phillips ziemlich beschäftigt mit Cape Race war und bereits andere Eiswarnungen angelaufen waren, erschien ihm dieser Spruch nicht mehr so wichtig, dass er ihn unbedingt an die Kommandobrücke weiterleiten müsse. Das könnte man als fatal bezeichnen, denn anders als die anderen Meldungen, die nur von einzelnen Eisbergen berichteten, hatte die Mesaba ein gigantisches, sozusagen rechteckiges Eisfeld samt Maßangabe gemeldet.
Ein letzter Funkspruch erreichte Phillips von der Californian, die von Eis umgeben sei und feststecke. Er unterbrach den Kontakt jedoch unwirsch und fuhr mit dem Gespräch nach Cape Race fort. Eine weitere Meldung ging von dem HAPAG-Dampfer Amerika aus. Untersuchungen ergaben, dass nur der Funkspruch der Caronia im Kartenraum ausgehängt wurde. Daraus resultiert, dass Smiths Offiziere von den anderen Sprüchen nicht gewusst haben.
=== Das Verhalten von J. Bruce Ismay und Kapitän Smith ===
J. Bruce Ismay wurde beschuldigt, Kapitän Smith gedrängt zu haben, das Tempo nicht zu drosseln, um die Leistungsfähigkeit der Titanic zu demonstrieren und sie gegenüber der Olympic durch eine höhere Geschwindigkeit hervorzuheben. Ismay behauptete später zwar, er sei nur ein normaler Passagier gewesen, doch hatten Überlebende Diskussionen zwischen ihm und dem Kapitän über die Schiffsgeschwindigkeit und über die Eiswarnungen bezeugt.
Was auch immer die beiden Männer genau besprochen haben, es mindert die Verantwortung des Kapitäns für sein Schiff nicht im Geringsten. Auch sind keine anderen Gründe für eine Entlastung von Kapitän Smith bekannt. Allein seine Entscheidung, trotz zahlreicher Eiswarnungen Kurs und Geschwindigkeit beizubehalten, hat das Schicksal des Schiffes besiegelt. Zu diesem Schluss kam zumindest die britische Untersuchungskommission, die als Unfallursache „zu hohe Geschwindigkeit in von Eisbergen durchsetzten Gewässern“ angab. Allerdings wurde Kapitän Smith bei der Untersuchung vom Vorwurf der Fahrlässigkeit freigesprochen, denn Kurs und Geschwindigkeit zu halten war bei klarer Sicht damals gängige Praxis auf den Schnelldampfern. Selbst Kapitäne der Hauptkonkurrenten erklärten, dass sie unter den gleichen Umständen genauso gehandelt hätten.
Die Entscheidung von Kapitän Smith beruhte auf einer groben Fehleinschätzung bezüglich der Sichtbarkeit von Eisbergen unter den Bedingungen in der Unglücksnacht. Diese war zwar klar, doch aufgrund von Neumond besonders dunkel. Hinzu kam absolute Windstille und daher eine spiegelglatte See, so dass keine Wellen vorhanden waren, die sich an Eisbergen brechen konnten, was eine Sichtung erleichtert hätte. Das Eisfeld selbst war viel größer und weiter nach Süden ausgedehnt als alle vorherigen, die seit Beginn der Dampfschifffahrt beobachtet worden waren. Die enormen Ausmaße des Eisfeldes waren nicht genau bekannt, denn erst nach der Titanic-Katastrophe wurde eine internationale Eispatrouille eingerichtet, die Position und Driftgeschwindigkeit von Eisbergen ermittelt und an die Schiffsführungen weiterleitet.
== Das Wrack ==
=== Der Fund des Wracks ===
Jean-Louis Michel und Robert Ballard führten 1985 eine Expedition durch, um mittels eines speziellen, mit Sonar und Kameras ausgestatteten Gerätes namens Argo, das mit Hilfe eines Verbindungskabels nahe über den Ozeanboden geschleppt wurde, das Wrack der Titanic zu finden. Nach Aussage Ballards wurde die Expedition von der United States Navy finanziert, für die er im Gegenzug unter dem Deckmantel der Suche nach der Titanic zunächst die beiden gesunkenen U-Boote Thresher und Scorpion lokalisierte. Am 1. September 1985 wurde schließlich das Wrack der Titanic entdeckt. Es befindet sich auf 41° 43′ 55″ N, 49° 56′ 45″ W, 21,726 Kilometer ostsüdöstlich der im Notruf angegebenen Position in einer Tiefe von 3803 Metern. Dort beträgt der Wasserdruck etwa das 380fache des normalen atmosphärischen Drucks. Im August 1986 unternahm Ballard dann mit dem Forschungs-U-Boot Alvin eine erste bemannte Erkundung des Wracks, der noch viele weitere Unternehmungen durch andere Parteien folgen sollten. Dabei wurden neben der Untersuchung des Wracks auch zahlreiche Artefakte geborgen.
Drei große Teile des Schiffsrumpfes (Bugteil, ein Mittelstück von etwa 20 Metern Länge und das Heckteil) sind auf dem Meeresboden von einem Trümmerfeld umgeben. Zwischen Bug- und Heckteil liegen auf einer Länge von rund 600 Metern lediglich Trümmer. Der vordere Teil ist bis zur Bruchstelle relativ gut erhalten. Das Heck dagegen ist durch die schnelle Flutung und letztlich beim Aufprall auf dem Meeresboden stark zerstört worden. Die imposanten Kronleuchter in den großen Hallen der Ersten Klasse haben den Untergang dagegen fast unversehrt überstanden, wie auch Geschirr, Holzvertäfelungen und Spiegel.
Vor Gericht wird bis heute über die Rechte an den Wrackteilen und Artefakten gestritten. Einige von der Titanic geborgene Stücke sind im National Maritime Museum in Greenwich (London) ausgestellt, einige Gegenstände sind in Frankreich konserviert. Insgesamt wurden über 5500 Artefakte und Wrackteile der Titanic geborgen.
Für Privatpersonen werden kommerzielle Tauchfahrten zum Wrack angeboten. Im Juni 2023 sank das U-Boot Titan, das eine solche Tauchfahrt durchführte.
=== Besitz, Eigentum und rechtlicher Status ===
Am 7. Juni 1994 sprach das zuständige Bundesbezirksgericht des US-Bundesstaats Virginia dem Unternehmen „RMS Titanic Inc.“ das ausschließliche Eigentums- und Bergungsrecht am Wrack der Titanic zu.
RMS Titanic Inc., eine Tochterfirma der US-Aktiengesellschaft Premier Exhibitions Inc., sowie ihre Vorgängerinnen hatten zwischen 1987 und 2004 sieben Expeditionen durchgeführt und über 5500 Objekte geborgen. Das größte einzelne geborgene Objekt war ein 17 Tonnen schwerer Abschnitt der Außenhaut, der 1998 gehoben wurde.
Viele dieser Fundstücke werden auf Wanderausstellungen der Gesellschaft gezeigt, die neben den exklusiven Bergungsrechten an der Titanic auch das Eigentum am Wrack der Carpathia besitzt. Die Carpathia hatte die Überlebenden der Titanic aufgenommen und war im Ersten Weltkrieg von dem deutschen U-Boot U 55 versenkt worden.
Bereits 1987 hatte eine amerikanisch-französische Expedition unter Beteiligung einer Vorgängergesellschaft der RMS Titanic Inc. mit der Bergung von Teilen des Titanic-Wracks und seiner Ladung begonnen und während insgesamt 32 Tauchoperationen etwa 1800 Fundstücke geborgen und zur Konservierung und Restaurierung nach Frankreich gebracht. 1993 hatte die Abteilung für Maritime Angelegenheiten im französischen Ministerium für Ausrüstung, Transport und Tourismus der Vorgängerin der RMS Titanic Inc. den Eigentumstitel an den 1987 geborgenen Fundstücken zugesprochen. Kleinere Stücke Kohle aus der Titanic wurden in Kunststoff eingeschweißt und kamen auch in den privaten Handel.
In einem Antrag vom 12. Februar 2004 beantragte RMS Titanic Inc., dass das Bundesbezirksgericht von Virginia der Firma einen Rechtstitel an allen Fundstücken (einschließlich Teilen des Schiffsrumpfes) aussprechen möge, die dem Fundrecht unterliegen, oder ihr alternativ eine Bergungsprämie in Höhe von 225 Millionen US-Dollar zusprechen solle. RMS Titanic Inc. schloss von diesem Antrag gezielt die Fundstücke von 1987 aus, beantragte jedoch, dass das Bezirksgericht den französischen Eigentumstitel „ausdrücklich“ (expressis verbis) anerkennen solle. Nach der Anhörung lehnte das Gericht am 2. Juli 2004 sowohl die Anerkennung des französischen Eigentumstitels für die Fundstücke von 1987 als auch das Zugeständnis eines Eigentumstitels auf die ab 1993 geborgenen Fundstücke auf der Grundlage des maritimen Finderrechts ab.
RMS Titanic Inc. legte daraufhin Berufung beim zuständigen US-Berufungsgericht ein. In seiner Entscheidung vom 31. Januar 2006 erkannte das Berufungsgericht „ausdrücklich die Anwendbarkeit des maritimen Bergungsrechts auf historische Wracks wie das der Titanic“ an und lehnte die Anwendbarkeit des maritimen Finderrechts ab. Das Gericht urteilte weiterhin, dass das Distriktsgericht keine Jurisdiktion über die „Fundstücke von 1987“ habe, und hob das Urteil vom 2. Juli 2004 insofern auf. Mit anderen Worten bestätigte das Urteil des Berufungsgerichts den in der französischen Entscheidung zugesprochenen Eigentumstitel, der in einem früheren Gutachten mit 16,5 Millionen US-Dollar bewertet worden war. Außerdem wurde damit RMS Titanic Inc. nun von höchster Stelle „expressis verbis“ das exklusive Bergungsrecht am Wrack der Titanic bestätigt.
Das Berufungsgericht verwies den Fall mit diesen Klärungen zurück an das Distriktsgericht mit der Maßgabe, dass dieses die Höhe der Bergungsprämie bestimme, auf die RMS Titanic Inc. nach maritimem Bergungsrecht Anspruch hat. Die Firma hatte einen Betrag in Höhe von 225 Millionen US-Dollar gefordert, bekam diese Summe aber bisher nicht zugesprochen. Der durch ein Gutachten geschätzte Gesamtwert der bisher gesicherten Fundstücke liegt bei über 70 Millionen US-Dollar.
Seit dem 15. April 2012 ist das Wrack in der UNESCO-Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser aufgenommen.
=== Zustand und Zukunft des Wracks ===
Wie in jüngsten Aufnahmen zu sehen ist, hat die Natur vollständig Besitz vom Wrack der Titanic ergriffen. Die Deckplanken und etliche andere Holzausstattungselemente sind teilweise schon zersetzt. Dasselbe wird langfristig auch dem gesamten Schiffswrack prophezeit: Wie Untersuchungen ergaben, ist das Wrack im Begriff, von Eisenbakterien vollständig aufgelöst zu werden. Schätzungen Ende der 1980er Jahre prognostizierten zu diesem Zeitpunkt eine Zeitspanne von maximal 50 Jahren bis zum vollständigen Zerfall des Wracks. 1995 wurden noch etwa 30 Jahre prognostiziert. Bei Tauchfahrten im Jahr 2003 wurde festgestellt, dass das metallene Grundgerüst der großen Treppe auseinandergebrochen und im Treppenschacht nach unten gefallen ist. 2010 kartographierte die US-Meeres-und-Wetter-Behörde (National Oceanic and Atmospheric Administration, NOAA) das Trümmerfeld und stellte fest, dass der Prozess wesentlich langsamer verläuft als angenommen. Das gab James Delgado, der Leiter des Programms für Kulturstätten im Meer der NOAA, 2012 bekannt. Die Experten gehen davon aus, dass sich das Wrack noch Jahrzehnte halten werde. Ein größeres Problem ist moderner Müll – das Trümmerfeld wird von Abfall kontaminiert, der von die Untergangsstelle passierenden Schiffen über Bord geworfen wird. Ebenso haben Wracktouristen Plastikblumen und andere Andenken hinterlassen. Zum 100. Jahrestag des Untergangs stellte die UNESCO 2012 das Wrack offiziell unter Schutz.2010 wurde an einem Rusticle vom Wrack der Titanic die bis dahin unbekannte Bakterienart Halomonas titanicae entdeckt, die nach ihrem Fundort benannt wurde.Im Mai 2023 wurden 3D-Aufnahmen des Wracks veröffentlicht, die das Schiff in seiner Gesamtheit zeigen und neue Einblicke bieten. Die Bilder stammen vom Sommer 2022 von Tauchbooten eines Kartografie-Unternehmens, die in 200 Stunden mehr als 700.000 Bilder aus allen Winkeln aufnahmen. Diese zeigen das Schiff in hoher Auflösung, einschließlich Details wie die Seriennummer an einem Propeller oder den Funkraum.
== Erkenntnisse und Theorien ==
=== Neuere Erkenntnisse ===
Nach dem Fund des Wracks konnten einige strittige Fragen beantwortet werden. So gilt aufgrund der Position von Bug und Heck als sicher, dass die Titanic bereits nahe der Wasseroberfläche auseinanderbrach. Das Zerbrechen eines Schiffes dieser Größenordnung kann auch in weit weniger spektakulären Situationen erfolgen, wie im Falle der America.
==== Die Lecks der Titanic ====
Eines der größten Rätsel ist, wie sehr und auf welche Weise der Eisberg das Schiff beschädigt hat. Bereits 1912 hatte Edward Wilding, bei der Konstruktion der Titanic verantwortlich für wasserdichte Unterteilung und Flutungsberechnungen, als gesamte Leckgröße ungefähr 1,2 Quadratmeter ermittelt. Bereits diese kleine Fläche reicht in sieben Metern Wassertiefe (3,5 Meter über der Kielplatte) dafür aus, dass 400 Tonnen Wasser pro Minute einströmen. Dies hat man anhand der Flutungsgeschwindigkeit für die Phase berechnet, in der das Sinken begonnen hat. In vielen Darstellungen über das Unglück nimmt man an, dass die vorderen sechs Abteile ein durchgängiges Leck aufwiesen. Dann läge die durchschnittliche Spaltbreite bei weniger als zwei Zentimetern. Das hielt Wilding zu Recht für sehr unwahrscheinlich, genauso wie die ebenfalls nach dem Unfall verbreitete Theorie, ein Eisbergsporn habe das Leck in die Schiffsaußenhaut geschnitten.
Als der Bug auf den Meeresboden aufgeprallt ist, hat er sich tief in den Meeresgrund gegraben. Darum kann man die meisten durch den Eisberg verursachten Schäden nicht sehen. Doch im Jahr 1996 hat eine Expedition ein spezielles Sonar eingesetzt, das auch durch die oberen Bodenschichten hindurch Bilder liefert. Es wurden sechs verschiedene Lecks gefunden. Nach einer „Wiederanpralltheorie“ vermuten Experten, dass das Schiff mehrmals auf den Eisberg aufgeprallt ist. Dadurch hat es zwar immer wieder Geschwindigkeit abgebaut, und es hat sich vom Eisberg abgestoßen. Dennoch prallte das Schiff wieder auf den Eisberg zurück, nämlich wegen der Kräfte durch das Ausweichen, wegen des Bernoulli-Sogs und weil der Rumpf des Schiffes breiter wurde. Diese Theorie kann nicht nur die vermessenen Lecks gut erklären, sondern auch, warum Überlebende, die sich während der Kollision im unteren Bugbereich aufhielten, mehrere starke Stöße bemerkt hatten.
Das erste der Lecks befand sich in der Vorpiek knapp unterhalb der Wasserlinie. Die beiden nächsten lagen auf gleicher Höhe kurz hintereinander in Frachtraum 1 und waren nur 1,2 beziehungsweise 1,5 Meter lang. Die dabei aufgetretenen Stöße waren stark genug, einen Teil des Eisbergs abzuschlagen, so dass das nächste Leck von 4,6 Metern Länge durch einen Anprall an einer tiefer gelegenen Stelle des Eisbergs entstanden war. Auch dabei wurde wieder ein Teil des Eisbergs abgeschert, wodurch die beiden letzten Lecks noch tiefer unter der Wasserlinie lagen. Das vorletzte war ungefähr zehn Meter lang und reichte von Frachtraum 2 bis weit in Frachtraum 3 hinein. Der Aufprall war dabei so stark, dass, nach Aussage von Überlebenden, auch der 0,5 Meter hinter der Außenhaut liegende wasserdichte Betriebsgang für die Heizer beschädigt und schnell geflutet wurde. Das letzte Leck war mit 13,7 Metern das längste. Es betraf Kesselraum 6 und den vorderen Bereich von Kesselraum 5. Beim Schott zwischen den Kesselräumen 5 und 6 befindet sich weiterhin eine große Beule, wahrscheinlich verursacht durch Kompressionseffekte aufgrund der Schiffsdrehung. Nach Auswertung der bei dieser Sonarabtastung gefundenen Schäden sowie computergestützter Flutungsberechnungen hat sich folgende Verteilung der Öffnungsflächen ergeben:
==== Materialfragen ====
Bei der Ermittlung möglicher Unglücksursachen standen auch Untersuchungen der beim Bau verwendeten Materialien im Mittelpunkt. Werkstoffkundliche Untersuchungen an gebogenem Stahl der Titanic zeigten eine bei der zum Kollisionszeitpunkt herrschenden Temperatur sehr geringe Zähigkeit. Diese Sprödigkeit des Materials könnte ein höheres Ausmaß des Schadens bewirkt haben, als es mit heutigen Werkstoffen eingetreten wäre.
Die Theorie wird allerdings von verschiedener Seite angezweifelt. Die Veränderungen im Stahl der Titanic können sich auch durch die speziellen Bedingungen in der Tiefsee ergeben haben. Bilder des Baus der Titanic und der Olympic zeigen Stahlplatten, die sowohl für das eine wie für das andere Schiff verwendet wurden. Die Olympic war bis zur Verschrottung 24 Jahre im Dienst und hatte mehrere Jahre Kriegseinsatz und verschiedene Kollisionen überstanden. Zudem wurde damals weltweit im Schiffbau überall etwa der gleiche Stahl verbaut, wie beispielsweise beim 1916 in Newcastle gebauten russischen Eisbrecher Krasin, der noch immer uneingeschränkt seetüchtig ist. Auch die 1936 fertiggestellte Queen Mary wurde aus der gleichen Stahlsorte gebaut, wobei die Stahlplatten in Bezug auf die Herkunft und Dicke identisch mit denen der Titanic sind. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde an besseren Werkstoffen geforscht, wodurch moderne Schiffe bei gleicher Größe und Stabilität viel leichter sind als frühere.
Eine weitere mögliche Schwachstelle der Titanic-Außenhaut waren die Nietverbindungen zwischen den Stahlplatten. Dabei scheint nicht nur die Stabilität des Niets selbst, sondern auch die Umgebung der kalt gestanzten Nietlöcher in den Stahlplatten problematisch, da sich dort durch den Stanzprozess Mikrorisse bildeten. Schon nach der Kollision der Olympic mit der HMS Hawke im September 1911 hatte Edward Wilding nach der Begutachtung des Olympic-Schadens die Methode der Plattenverbindung als verbesserungswürdig eingestuft und eine Diskussion um Veränderungen bei zukünftigen Schiffen angeregt. Die Nietlöcher bei der 25 Jahre später gebauten Queen Mary wurden trotz der deutlich höheren Kosten gebohrt.
Die relative Schwäche der Nietverbindungen der Titanic wird durch die gefundenen Lecks untermauert, die sich größtenteils entlang der Nietverbindungen zwischen den Stahlplatten befinden. Allerdings hätten nach Einschätzung der Experten wahrscheinlich selbst moderne, verschweißte Stahlplatten den bei der Eisbergkollision wirkenden Kräften nicht standgehalten.
==== Das Bunkerfeuer ====
Einige weitere Theorien zur Unglücksursache befassen sich mit den Auswirkungen des Feuers in einem Kohlebunker auf der Steuerbordseite zwischen den Kesselräumen fünf und sechs. Eine davon stammt aus dem Jahre 2004 von dem Ingenieur Robert Essenhigh von der Ohio State University. Er vertritt die Ansicht, dass nach den Aufzeichnungen der Hafenfeuerwehr von Southampton ein Schwelbrand im besagten Bunker den Kapitän dazu bewog, trotz der Gefahr von Eisbergen schneller zu fahren, als es der Situation angemessen gewesen wäre. Das Feuer könnte auf die damals übliche Methode bekämpft worden sein, indem die Kohle aus dem betroffenen Bunker schneller als üblich in die Kessel geschaufelt wurde, um an die brennende Kohle heranzukommen. Das Schiff sei deshalb mit überhöhter Geschwindigkeit im Eisberggebiet gefahren und ein rechtzeitiges Verlangsamen daher unmöglich gewesen. Nach Aussagen von überlebenden Heizern war der entsprechende Bunker allerdings bereits am Samstag leer und das Feuer gelöscht. Weiterhin hatten die Zeugen danach Schäden an dem angrenzenden wasserdichten Schott bemerkt, deren Tragweite und möglicher Einfluss auf die Funktion des Schotts während der Unglücksnacht sich jedoch nicht genau beurteilen ließen.
==== Unbewiesener Vorwurf des Versicherungsbetruges ====
Im Jahr 1996 veröffentlichten die Autoren Robin Gardiner und Dan van der Vat in dem Buch Die Titanic-Verschwörung eine Verschwörungstheorie, nach der der Untergang der Titanic ein einkalkulierter Versicherungsbetrug gewesen sein soll. Laut der Theorie versank nicht die Titanic im Nordatlantik, sondern ihr Schwesterschiff, die Olympic. Der Versicherungsbetrug basierte laut den Autoren auf einem Unfall der Olympic, der sich während ihrer fünften Nordatlantikfahrt ereignete. Damals kollidierte sie mit dem britischen Kriegsschiff Hawke und erlitt schwere Beschädigungen an der Steuerbordseite des Rumpfes. Während sie in der Werft repariert wurde, lag sie neben der im Bau befindlichen Titanic. In diesem Zeitraum sollen laut der Theorie die Namensschilder der Schiffe vertauscht worden sein, um die beschädigte Olympic im Atlantik untergehen zu lassen und die wahre Titanic als Olympic weiterfahren zu lassen, um sich Folgereparaturen zu sparen und die Versicherungssumme der Titanic zu erhalten. Dabei soll jedoch geplant gewesen sein, die Passagiere der „falschen“ Titanic von einem anderen Schiff der White Star Line retten zu lassen. Als Indiz dafür wird unter anderem angegeben, dass J. P. Morgan, der Eigner der Titanic, seine bereits gebuchte Überfahrt aus Krankheitsgründen nicht antrat.
Dieser Theorie widersprechen jedoch einige Bauteile, die seit der Entdeckung des Wracks durch Robert Ballard im Jahre 1985 untersucht wurden. Auf allen geborgenen Objekten ist die Baunummer 401 der Titanic und nicht die 400 der Olympic eingeprägt. Zudem ist die von den Autoren als grundlegend gewertete Annahme, die beiden Schwesterschiffe seien nahezu vollständig identisch und daher leicht austauschbar gewesen, unzutreffend. Des Weiteren habe die Versicherungssumme von einer Million Pfund Sterling den Imageschaden bei weitem nicht aufgewogen, den die White Star Line durch die Katastrophe erlitt.
=== Möglicher Einfluss des Wetters ===
Einige Theorien beschäftigen sich auch mit der Frage, ob die damaligen Witterungsumstände und meteorologischen Verhältnisse einen Einfluss auf die Katastrophe hatten.
==== Astrophysikalische Gründe ====
Donald Olson, Professor für Astrophysik an der Texas State University, vertritt die Theorie, dass verschiedene astrophysikalische Phänomene für eine Wanderung der Eisberge nach Süden verantwortlich seien. Im Januar 1912 sei der Vollmond der Erde so nah wie seit 1.400 Jahren nicht gekommen, darüber hinaus sei die Erde im Perihel gestanden und habe mit Sonne und Mond eine gemeinsame Linie gebildet. Das alles soll dazu geführt haben, dass die dabei wirkenden Kräfte und Gravitationsschübe einen ungewöhnlichen Tidenhub verursacht haben, der in Grönland abgebrochene und in den seichten Gewässern vor Neufundland und Labrador steckengebliebene Eisberge befreit und sie südwärts bewegt habe, beispielsweise indem die Eisberge in den Labradorstrom geraten seien. Das erkläre die außergewöhnlich hohe Zahl an Eisbergen im Bereich des 42. Breitengrads.Einem Bericht von Lane Wallace zufolge ist eine Beeinflussung der Eisberglage durch den Tidenhub unwahrscheinlich, eher würde diese von einem komplexen System aus Meeresströmungen und Witterungsverhältnissen bestimmt. Die Reisezeit von Eisstücken von Grönland in die Gegend des 48. Breitengrads betrage ohnehin 1–3 Jahre. Außerdem seien in den Jahren zuvor und danach ebenfalls hohe, teils deutlich höhere Eisbergzahlen verzeichnet. Vielmehr sei die Ursache für die vielen Eisberge der raue Winter 1912.
==== Super-Refraktion ====
Einer Untersuchung von Tim Maltin zufolge herrschte in der damaligen Aprilnacht ein besonderes optisches Phänomen, eine Super-Refraktion, vor. Dabei lag durch die thermale Inversion eine vom kalten Labradorstrom abgekühlte Luftschicht unterhalb einer vom warmen Golfstrom aufgewärmten Luftschicht. Durch diesen Effekt wurde Licht ungewöhnlich stark widergespiegelt, und es entstand ein falscher, zweiter Horizont über dem realen. Dazwischen bildete sich ein Dunst, den auch die beiden Matrosen Lee und Fleet im Krähennest bemerkten. Die ruhige See ließ ebenfalls den Bereich zwischen den beiden Horizonten verschwimmen, so dass der Eisberg unterhalb des falschen Horizonts „verschwand“, auf den die Matrosen blickten. Folglich wurde der Eisberg erst entdeckt, als es zu spät war.
Durch ebendiese Super-Refraktion erschienen ferne Objekte auch näher, weshalb die Besatzung der Californian die Titanic vermutlich als kleines und nahes Schiff wahrnahm. Die dort abgefeuerten Signalraketen erschienen wohl als zu klein im Hinblick auf die vermeintlich geringe Größe des Schiffes, so dass diese als nicht wichtig genug empfunden wurden. Die abgesendeten Morsesignale konnten des Weiteren nicht durch die Luftschichten bis zur Titanic dringen.
=== Die wasserdichten Schotten – Weshalb die Titanic nicht unsinkbar war ===
Bis heute ist der Begriff „Unsinkbar“ untrennbar mit der Titanic verknüpft. Dabei war dieses Prädikat schon lange Zeit zuvor als Werbung für diverse Schiffe genutzt worden. So war schon die Great Eastern von 1860 in viele wasserdichte Abteile unterteilt. Die extreme Unterteilung mit hohen Schottwänden ohne jegliche Öffnung brachte aber erhebliche Einbußen bezüglich des Passagierkomforts. Da die Great Eastern als Passagierschiff erfolglos blieb und nur als Kabelleger Geld erwirtschaftete, wagte kein Reeder mehr eine kompromisslos auf Sicherheit ausgerichtete Konstruktion. Vielmehr rückte der Passagierkomfort in den Mittelpunkt des Interesses.Die wasserdichte Einteilung von Schiffen ist damals wie heute ein Kompromiss zwischen der Sicherheit auf der einen und der wirtschaftlichen Nutzbarkeit sowie den Baukosten auf der anderen Seite. Bereits im Jahre 1891 hatte ein „Schottkomitee“ umfassende Empfehlungen für die wasserdichte Unterteilung von Schiffen veröffentlicht. Daher wurden bei der Titanic keine besonderen Innovationen bei der wasserdichten Unterteilung von Schiffen eingeführt; lediglich die zwölf automatisch schließenden Wasserschutztüren auf dem Tank-Top-Deck waren bei der Olympic-Klasse von neuartiger Bauweise.
Entgegen der heutigen häufigen Erwähnung der angeblichen Unsinkbarkeit der Titanic wurde dieses Wort vor dem Untergang lediglich zweimal in Artikeln über das Schiff veröffentlicht, zudem mit der Einschränkung „praktisch“ oder „so weit wie möglich“. Auch wurde das Wort „unsinkbar“ weder von den Konstrukteuren der Olympic-Klasse benutzt, noch wurde beabsichtigt, die Schiffe „unsinkbar“ zu gestalten.
Die wasserdichte Unterteilung war wie folgt aufgebaut: Über dem Kiel befand sich ein knapp zwei Meter hoher, zellularer Doppelboden, der aus 44 wasserdichten Abteilen bestand. Über dem inneren Boden waren 29 weitere Abteile, wovon 16 die großen Hauptsektionen (siehe Bild) bildeten, die nach dem sogenannten „Zwei-Abteilungs-Standard“ angelegt waren. Das bedeutet, dass bei gleichzeitiger Flutung beliebiger zwei nebeneinanderliegender dieser 16 Abteile die Schwimmfähigkeit niemals gefährdet gewesen wäre. Nach den Regeln des Schottkomitees hätten die oberen Schottenden (genauer: das Schottendeck) angesichts der Dimensionen der Titanic bei solchen Flutungen unter Berücksichtigung möglicher Schlagseiten noch mindestens 20 Zentimeter über der Wasserlinie liegen müssen. Tatsächlich lag das Schottendeck bei Zwei-Abteilungs-Flutungen mindestens 75 Zentimeter (bei den meisten Kombinationen deutlich mehr) über der Wasserlinie, so dass, wie neuere Berechnungen ergeben haben, sie in 11 von 14 möglichen Fällen die Kriterien für die Flutung von drei nebeneinanderliegenden Abteilen erfüllt hätte.
Bei 4-Abteilungs-Flutungen lag das Schottendeck in vier Fällen (die vordersten vier sowie die hintersten vier Abteile und zwei Kombinationen unter Beteiligung von Kesselraum 1) immer noch über der Wasserlinie. Und selbst bei einer Flutung aller vorderen fünf Abteile hätte sich die Titanic, zumindest unter den Bedingungen in der Unglücksnacht, mit hoher Wahrscheinlichkeit noch sehr lange über Wasser gehalten. Eine längere Schwimmfähigkeit bei gleichzeitiger Flutung von 6 der 16 wasserdichten Abteile, wie nach der Kollision mit dem Eisberg geschehen, war aber rein rechnerisch in keinem Fall möglich. Eine solch weitreichende Schiffsbeschädigung aufgrund eines Unfalls hat sich in der Geschichte der Schifffahrt bislang auch nur einmal ereignet. Für „normale“ Beschädigungen, wie sie durch Kollisionen mit anderen Schiffen oder ein Auf-Grund-Laufen entstehen, war ein Zwei-Abteilungs-Standard kombiniert mit einem Doppelboden völlig ausreichend.
Der Versuch, Schiffe mit noch weiter reichenden Beschädigungen schwimmfähig zu halten, würde nicht nur Schwierigkeiten bei der wasserdichten Unterteilung mit sich bringen und enorme strukturelle Anforderungen an die Stabilität stellen. Maßnahmen, die in einem Fall helfen würden, könnten bei anderen Schäden möglicherweise fatale Auswirkungen haben und etwa zum Kentern führen. Nach dem Untergang der Titanic wurde bei deren Schwesterschiff Britannic ein solcher Versuch unternommen. Doch im Ersten Weltkrieg zeigte sich, dass unter ungünstigen Umständen bereits eine einzige Mine ausreichte, um die Britannic zu versenken. Ebenfalls im Ersten Weltkrieg sank die Lusitania („so unsinkbar, wie ein Schiff nur sein kann“) durch die Beschädigung, die von einem einzigen Torpedo und der von ihm ausgelösten Folgeexplosion ausging. Besonders hervorzuheben an der wasserdichten Einteilung der Titanic bleibt, dass sie selbst bei fortgeschrittener Flutung noch eine stabile Schwimmlage ermöglichte. Üblicherweise entwickeln Schiffe unter solchen Bedingungen starke Schlagseiten, was eine geordnete Evakuierung nahezu unmöglich macht.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dann verstärkt an verbesserten Evakuierungsmöglichkeiten gearbeitet, da man eingesehen hatte, dass der Erhalt der Schwimmfähigkeit stark beschädigter Schiffe nicht unbegrenzt möglich ist.
=== Das Auseinanderbrechen ===
Unklar ist bislang immer noch, wie genau die Titanic auseinandergebrochen ist. Nach einer Modellanalyse mittels Finiten Elementen im Auftrag des Marine Forensic Panel kam das renommierte amerikanische Schiffskonstruktionsbüro Gibbs & Cox Inc. 1996 zu dem Ergebnis, dass das Heck der Titanic mit einem maximalen Winkel zwischen 15° und 20° aus dem Wasser ragte und wegen der zu hohen strukturellen Belastungen dann vom Hauptteil des Schiffes abbrach.
Der Fernsehsender „History“ startete mit der Woods Hole Oceanographic Institution im Jahr 2005 eine weitere Expedition zum Wrack. Dabei wurde erstmals auch der östliche Teil des Trümmerfeldes untersucht. Man fand zwei Teile des Doppelbodens mit einer Gesamtlänge von knapp 18 m. Sie waren komplett über die gesamte Breite des Schiffes erhalten. Erkannt wurde das an den vorhandenen Schlingerkielen, die an beiden Seiten der Fundstücke einwandfrei erhalten waren und stellenweise noch die rote Farbe des letzten Anstrichs aufwiesen. Basierend auf den gemachten Videoaufnahmen konnte festgestellt werden, dass die beiden gefundenen Doppelbodenstücke an den Bruchenden zusammenpassen.
Bei einer näheren Betrachtung der Doppelbodenteile wurde von Roger Long die neue Vermutung angestellt, dass das Schiff anders auseinanderbrach als bisher angenommen. Nach Longs Überlegungen hätte beim bisherigen Modell der Doppelboden gestaucht sein müssen, während die oberen Decks der Titanic an dieser Stelle sauber auseinandergebrochen wären. Am Wrack kann man jedoch erkennen, dass an der Bruchstelle die Decks nach unten gezogen sind und keine saubere Bruchstelle haben. Die Enden der oberen Decks an den Bruchstellen könnten aber ebenfalls durch die Wucht des Aufpralls auf den Meeresgrund nach unten verbogen worden sein, da durch die enorme Beschädigung an den Bruchstellen keine strukturelle Stabilität mehr vorhanden war. Das ist z. B. sehr gut am Heckteil des Titanic-Wracks zu sehen, dessen obere Decks völlig zerstört sind.
Long hat die Theorie aufgestellt, dass das Heck der Titanic bereits anfing abzubrechen, als es mit ca. 11° noch relativ wenig aus dem Wasser ragte. Der Bruch fing demnach an den oberen Decks an und zog sich bis zum Kiel. Der stabile Kiel – das Rückgrat eines jeden Schiffes – verhinderte jedoch zunächst das Abbrechen des Hecks. Durch den Riss in der Außenhaut der Titanic sollte dann deutlich mehr Wasser eindringen, so dass das Sinken des Schiffes beschleunigt wurde. An der Bruchstelle drückte nun der unter Wasser liegende Bug gegen das sich über Wasser aufrichtende Heck, so dass die Decks an dieser Bruchstelle eingedrückt wurden. Mit Longs Argumenten lässt sich allerdings nicht nachvollziehen, warum diese Komprimierung bei etwas größerem Winkel nicht hätte passieren dürfen. Die Finite-Elemente-Analyse reicht nur bis zu dem Punkt, wo der Schiffsrumpf noch aus einem Stück bestand. Die Dynamik des Zerbrechens mit der unkalkulierbar zunehmenden Leckfläche ist wohl kaum berechenbar.
== Verbreitete Irrtümer ==
=== Zusammenfassung ===
Innerhalb der großen Menge an Literatur, Bildern und Filmmaterial über die Titanic befinden sich auch zahlreiche Falschdarstellungen und Übertreibungen. Die größte Quelle für die Fehler sind sicherlich die direkt nach der Katastrophe entstandenen Zeitungsartikel, die teilweise nur auf Gerüchten beruhten, teilweise aber auch der Phantasie von Überlebenden oder gar der Journalisten entsprungen sind. Während offensichtliche Fehler (wie beispielsweise aus dem Zeitungsartikel Alle gerettet) in heutiger Literatur nicht mehr zitiert werden, sind andere auch heute noch weit verbreitet. Zudem wurden bei Bildern über den Untergang übertriebene Darstellungen gewählt, um einen kolossaleren Eindruck zu erzielen. Vor allem in Fernsehdokumentationen werden oft andere Schiffe als die Titanic gezeigt. Manchmal handelt es sich um die Olympic, nicht selten aber um einen beliebigen anderen Vierschornstein-Dampfer, zum Beispiel die Lusitania. Zudem zeugen viele Behauptungen und Erklärungen in solchen Dokumentationen und auch in der Literatur von mangelhafter Recherche oder technischem Unverständnis der Autoren. Aber auch offizielle Dokumente sind nicht fehlerfrei. So ist der bekannteste Fehler des Abschlussberichtes der britischen Untersuchungskommission die Behauptung, das Schiff sei beim Untergang nicht auseinandergebrochen, obwohl mehrere Überlebende das bezeugt hatten.
Zusätzlich zu den verbreiteten Irrtümern existieren auch viele Anekdoten aus der Unglücksnacht, die nur in seltenen Fällen gänzlich der Wahrheit entsprechen dürften: Passagiere, die Eisberg-Eis für ihre Getränke bestellt oder sich für den Untergang noch extra vornehm gekleidet haben sollen, Männer, die als Frau verkleidet in ein Rettungsboot gelangt seien, oder die Kapelle, die in den letzten Minuten den Choral Näher, mein Gott, zu dir gespielt habe. Das sind nur einige Beispiele von zahlreichen zweifelhaften Geschichten um den Untergang, die in der Literatur zu finden sind und nur selten hinterfragt werden.
Die gravierendsten Irrtümer über die Titanic, die auch heute noch oft propagiert werden, folgen in detaillierterer Erklärung:
=== Die Titanic erregte besonderes Aufsehen als größtes Schiff der Welt ===
Die äußeren Abmessungen der Titanic – Länge, Breite, Höhe – entsprachen exakt denen der 1911 fertiggestellten Olympic. Wegen einiger Detailmodifikationen – das bei der Olympic noch komplett offene Promenadendeck war nunmehr zur Hälfte verglast – beinhaltete die Titanic allerdings etwas mehr umbauten Raum und wurde so rein rechnerisch das größte Schiff der Welt. Ansonsten glich sie jedoch äußerlich ihrem bereits rund ein Jahr zuvor in Dienst gestellten baugleichen Schwesterschiff, so dass die Titanic als Neubau die Menschen durch ihre Größe nicht mehr neu beeindrucken konnte. Zudem stand zum Zeitpunkt der Jungfernfahrt der Imperator der deutschen HAPAG kurz vor dem Stapellauf, der größer als die Schiffe der Olympic-Klasse war.
=== Die Titanic sank, weil Wasser über die Schottenwände hinweglief ===
Diese Darstellung, in der das Schottensystem der Titanic häufig mit einer Eiswürfelschale verglichen wird, ist nicht nur falsch, sondern sorgt auch für viel Verwirrung. Es erweckt nämlich den Eindruck einer Fehlkonzeption der wasserdichten Einteilung der Titanic, weil behauptet wird, die Schotten seien zu niedrig gewesen. Dabei war das Gegenteil der Fall: Die Schotten waren höher als notwendig, um den beabsichtigten Zwei-Abteilungs-Standard zu erreichen (siehe auch Die wasserdichten Schotten – Weshalb die Titanic nicht unsinkbar war).
Um einen Sechs-Abteilungs-Standard zu erreichen, was notwendig gewesen wäre, um eine längere Schwimmfähigkeit angesichts der ausgedehnten Schäden nach der Eisbergkollision zu gewährleisten, hätte es nicht ausgereicht, nur die Schotten zu erhöhen. Vor allem die Stabilität des Rumpfes hätte deutlich verstärkt werden müssen, um die strukturelle Integrität unter dieser Belastung zu erhalten. Selbst dann hätten schon wenige offene Bullaugen in unbeschädigten Abteilen des Schiffes genügt, um diese Maßnahmen nutzlos zu machen.
Das bereits erwähnte Eiswürfelschalenmodell trifft auch nicht auf das Schiff zu, denn die Schotten waren nicht oben offen, sondern durch Decks begrenzt, die allerdings nicht wasserdicht waren in dem Sinne, dass sich Öffnungen (z. B. Luken oder Schächte) in ihnen befanden, die nicht versiegelt werden konnten. Nachdem das Wasser die Höhe der Schotten überschritten hatte, breitete es sich entlang dieser Decks aus und lief aufgrund der Trimmung des Schiffes zunächst nach vorne. Erst nachdem die vorderen Bereiche entsprechend geflutet waren, drang das Wasser auch nach hinten in die unbeschädigten Bereiche vor und konnte über die nicht versiegelbaren Öffnungen nach unten gelangen. Dieser Vorgang hatte aber nur an der Flutung von Kesselraum 4 einen wesentlichen Anteil und begann auch erst etwa eine halbe Stunde vor dem endgültigen Untergang. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Flutung von Kesselraum 4 aber längst begonnen, wahrscheinlich durch Risse im Schiffsrumpf, die dann später zum Durchbrechen der Titanic führte.
Eine nennenswerte Flutung von hinter Kesselraum 4 gelegenen Schiffsbereichen hat vor dem Auseinanderbrechen des Schiffes nicht stattgefunden, wie die Schiffbauingenieure C. Hacket und J. G. Bedford in einer 1996 veröffentlichten Flutungsberechnung darlegen. Diese Erkenntnis wurde unterstützt durch Stabilitätsberechnungen, gemäß denen größere Wassermengen in hinter Kesselraum 4 gelegene Bereichen das Schiff zum kentern gebracht hätten.
Die Überwindung des Schotts zwischen den Kesselräumen 4 und 5 lieferte zum Flutungsprozess einen sehr geringen Beitrag, verglichen mit den Sekundärflutungen. Diese entstanden durch reguläre Schiffsöffnungen, die mit dem Versinken des Bugs unter die Wasseroberfläche gelangten, und auch durch den Verlust an struktureller Integrität aufgrund der beim Sinkprozess auf den Rumpf wirkenden Kräfte.
Im Buch Das Geheimnis der Titanic von Robert Ballard findet sich eine Darstellung zum Eiswürfelschalenmodell, in der alle Abteile der Titanic bis zum Kesselraum 1 bis zur Wasserlinie vollgelaufen sind. In diesem Zustand hätte das Schiff jedoch keinerlei Auftrieb und wäre ohne Verzögerung gesunken.
=== Der Eisberg hat die Außenwand des Schiffs wie ein Messer aufgeschlitzt ===
Zeitgenössische Zeichnungen des Unglücks zeigten einen Vorsprung des Eisbergs, der ähnlich wie eine Messerklinge die Außenwand des Schiffs durchtrennt. Das dabei unter der Wasserlinie entstandene Leck wurde als mehrere Meter hohe, sehr lang gezogene Öffnung dargestellt. Die damit verbundene Vorstellung eines plötzlichen, dramatischen Wassereinbruchs prägte lange Zeit populäre Darstellungen des Unglücks. Bereits 1912 hat jedoch Edward Wilding die Fläche der den Untergang auslösenden Lecks berechnet und dabei einen Wert von lediglich 1,2 m² erhalten.
=== Das Ruder der Titanic war zu klein für ein Schiff dieser Größe ===
Nach dem Untergang wurde auch die Manövrierfähigkeit der Titanic kritisiert und die Behauptung aufgestellt, das Ruder sei für die Größe des Schiffes zu klein gewesen. Diese These beruht vor allem auf einem Vergleich mit den Konkurrenzschiffen Lusitania und Mauretania. Dieser Vergleich ist aber unangebracht, denn diese beiden Dampfer der Cunard-Line wurden mit erheblichen Subventionen der britischen Regierung gebaut, mussten dafür im Kriegsfall aber auch als Hilfskreuzer zur Verfügung stehen. Daher hatten sie auch die Spezifikationen der Admiralität zu erfüllen, die höhere Anforderungen an die Manövrierfähigkeit stellte, als sie für rein zivile Schiffe wie die der Olympic-Klasse galten. Darüber hinaus beschränkte der mittlere Propeller Dimension und Anordnung des dahinter befindlichen Ruders. Das Titanic-Ruder genügte – auch in Bezug auf seine Größe – allen Konstruktionsrichtlinien, und ein Wendekreisdurchmesser von 1175 Metern, d. h. dem 4,5fachen der Länge zwischen den Loten (bei 20 Knoten Geschwindigkeit), war für ein Schiff dieser Größe beim damaligen Stand der Technik durchaus als gut zu betrachten. Angesichts des Einsatzzwecks des Schiffes war eine bessere Manövrierfähigkeit nicht erforderlich.
=== Die Titanic fuhr um das Blaue Band ===
Eine der verbreitetsten Legenden in Bezug auf die Titanic besagt, die White Star Line habe versucht, bei der Jungfernfahrt das Blaue Band als Ehrung für die schnellste Atlantiküberquerung zu gewinnen. Insbesondere im deutschen Sprachraum ist diese falsche Behauptung noch immer besonders populär. Grund dafür ist der Erfolg des 1939 erstmals erschienenen Romans Titanic von Josef Pelz von Felinau, in dem der Autor diese angebliche Wettfahrt aus rein dramaturgischen Gesichtspunkten der auch ansonsten wenig realistischen Geschichte beifügte. Die erfundene Rekordfahrt wird im Buch immer wieder an zentralen, besonders einprägsamen Stellen erwähnt, so z. B. nach der Rettung der Schiffbrüchigen durch die Carpathia: „Sechshundertfünfundachtzig [sic!] Seelen! Das war das amtliche Schlußergebnis der großen Rekordwettfahrt um das ‚Blaue Band des Ozeans‘!“ Felinau gab sich zu Beginn seiner Karriere immer wieder als Passagier der Carpathia aus, um den Verkaufswert seines Buches zu steigern. Diese Behauptung, die er später bereute, entsprach dem pseudo-dokumentarischen Charakter des Romans. Das Werk war sowohl Grundlage für den 1943 gedrehten Propagandafilm Titanic als auch einer Hörspielfassung, die sich seit ihrer Erstausstrahlung in den 1950er Jahren großer Beliebtheit erfreute.
Darüber hinaus hält die unbestrittene Tatsache, dass die Titanic in der Nacht des 14. April 1912 tatsächlich mit verhältnismäßig hoher Geschwindigkeit unterwegs war, den falschen Eindruck einer „Rekordfahrt“ in der breiten Öffentlichkeit aufrecht. Dabei wird allerdings vernachlässigt, dass es damals durchaus gängige Praxis war, Gefahrengebiete – wie im Falle der Titanic die Eisregion – möglichst rasch zu durchfahren, solange keine unmittelbare Bedrohung erkennbar war. Eine weitere Rolle für die Hartnäckigkeit der Legende spielt das Gespräch zwischen Bruce Ismay und Kapitän Smith, das nach Aussage der Erste-Klasse-Passagierin Elizabeth Lines gegen Mittag des 13. April geführt worden ist. Darin habe Ismay den Kapitän mehr oder weniger angewiesen, die Durchschnittsgeschwindigkeit des Schwesterschiffs Olympic zu übertreffen und bereits am Dienstagabend statt wie geplant am Mittwochmorgen in New York einzutreffen. Sofern dieses Gespräch tatsächlich Einfluss auf die Entscheidungen von Kapitän Smith genommen hat (was nicht zweifelsfrei feststeht), hätte es sich um eine interne Angelegenheit der Reederei zu Werbezwecken gehandelt, die nichts mit den Rekordfahrten um das Blaue Band zu tun gehabt hätte.
Beim Entwurf der Titanic und ihrer beiden Schwesterschiffe war ganz bewusst der Reisekomfort einer hohen Geschwindigkeit vorgezogen worden. Schnell laufende Maschinen führten zu starken Vibrationen, die insbesondere den Aufenthalt in den meist engen Kabinen auf Schiffen der damaligen Zeit unangenehm machten. Die White Star Line wollte diesen Effekt so weit wie möglich vermeiden und entschied sich daher für die gemäßigte Reisegeschwindigkeit von 21 Knoten; ein Wert, der deutlich unter den 25 Knoten der damaligen Inhaberin des Blauen Bandes lag, der Mauretania der Cunard Line. Die technischen Daten sprechen in diesem Fall eine deutliche Sprache: Während die Maschinen der rund 31.000 BRT großen Mauretania 50.000 kW auf vier Propeller leiteten, waren es bei der mit 46.000 BRT deutlich größeren Titanic nur 37.500 kW auf drei Propeller. Eine Wettfahrt um das Blaue Band wäre also schon wegen der technischen Voraussetzungen von vornherein aussichtslos gewesen.
== Größenordnung der Opferzahlen ==
Obwohl der Untergang der Titanic das berühmteste Schiffsunglück ist, ist er mit ca. 1500 Todesopfern bei weitem nicht das größte in der Geschichte der neuzeitlichen Schifffahrt.
Es gab mindestens vier schwerere Unfälle:
Untergang der Fähre Doña Paz am 20. Dezember 1987 mit 4386 Toten
Untergang der Kiang Ya im Dezember 1948 mit bis zu 3920 Toten
Kentern der Fähre Le Joola vor Senegal am 26. September 2002 mit offiziell 1863 Todesopfern
Untergang der Tek Sing im Januar 1822 mit 1600 Toten (Opferzahl umstritten)Noch verlustreichere Katastrophen resultierten aus Schiffsversenkungen während kriegerischer Auseinandersetzungen. Passagierschiffe wurden in diesen Zeiten zu Truppentransportern für zum Teil mehrere tausend Soldaten umgebaut oder zur Evakuierung von durch den Feind bedrohten Gebieten genutzt, wobei sich teilweise bis zu 10.000 Menschen an Bord befanden. Die verlustreichsten dieser Katastrophen ereigneten sich im Zweiten Weltkrieg.
Wilhelm Gustloff, 30. Januar 1945, bis zu 9300 Tote.
Goya, 16. April 1945, bis zu 7000 Tote.
Armenija, 7. November 1941, bis zu 4800 Tote.
Cap Arcona, 3. Mai 1945, bis zu 4500 Tote.
Sultana, 27. April 1865, rund 1700 Tote
== Gründe für die Popularität des Untergangs der Titanic ==
Der Untergang der Titanic auf ihrer ersten Reise ist in zahlreichen Romanen, Sachbüchern und Filmen verarbeitet worden. Bis heute erscheinen Bücher zu ihrer Geschichte und werden die Berichte der Überlebenden gelesen. Dabei sind viele Faktoren ausschlaggebend für das Interesse an dieser Schiffskatastrophe.Unmittelbar nach der Katastrophe war diese zentrales Thema in den Zeitungen, denn der Schock war groß. Schließlich repräsentierte die Titanic das Beste, was die Menschheit damals zu bieten hatte, um den Naturgewalten zu trotzen. Sie war das größte Schiff der Welt, von solider und massiver Bauweise, kommandiert vom renommiertesten und bestbezahlten Kapitän und galt in der Öffentlichkeit als „unsinkbar“. Zwar wurde dieses Attribut schon zahlreichen Schiffen zuvor zugeschrieben, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten tatsächlich viele Leute, die Gefahren der Seefahrt seien mit den neuen Generationen der großen Dampfer überwunden. Spätestens im September 1911, als der Kreuzer Hawke bei voller Fahrt mit seinem betongefüllten Unterwasserrammsporn in die Flanke der Olympic fuhr und diese bei nur geringfügig erhöhtem Tiefgang stabil im Wasser schwamm, hatte sich diese Meinung endgültig gefestigt. Doch die Erkenntnis, dass nicht alles technisch zu beherrschen ist, lag nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, denn am meisten beschäftigte sich die Presse mit den prominenten Opfern des Unglücks und ihrem Verhalten während des Untergangs. Schließlich waren vier der reichsten Männer der Welt – nach heutigem Geldwert Milliardäre – umgekommen, und es gab noch viele weitere angesehene Mitglieder der Gesellschaft unter den Opfern. Die hohe Anzahl an Auswanderern und Mannschaftsangehörigen unter den Toten besaß dagegen – entsprechend der damaligen gesellschaftlichen Situation – keinen großen Stellenwert.
Allerdings ließ sich eine solche Katastrophe nicht so leicht aus der Erinnerung beseitigen, immerhin ist es bis heute der verlustreichste Schiffsunfall der „westlichen Welt“. Zwar gab es im Zweiten Weltkrieg Schiffsuntergänge, bei denen viel mehr Menschen starben, doch waren sie durch Gewaltakte verursacht und erlangten angesichts vieler Millionen Kriegsopfer keine so große Aufmerksamkeit. Zurück in den Fokus der Öffentlichkeit gelangte das Schiff mehrfach durch Verfilmungen, für die der dramatische Untergang über zwei Stunden lang eine hell erleuchtete Bühne liefert, auf der Menschen unterschiedlichster Herkunft und Charaktere plötzlich mit einer Extremsituation konfrontiert werden, was unterschiedlichste Verhaltensweisen auslöst.
Außerdem initiierte die Titanic-Katastrophe zahlreiche Veränderungen der Sicherheitsbestimmungen auf See, was ebenfalls zu einer relativ häufigen Erwähnung des Schiffes führt. Bis April 1912 trugen die meisten Schiffe nur Rettungsboote für einen Bruchteil der Passagierkapazität. Diese Praxis wurde danach nicht mehr toleriert, genauso wenig die nicht durchgängige Besetzung von Funkstationen auf vielen Schiffen. Am 12. November 1913 wurde die erste internationale Konferenz zum Schutze des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) einberufen. Dabei entstand ein Vertrag, der erstmals internationale Mindeststandards auf Handelsschiffen schaffen sollte. Seitdem wurde der Vertrag mehrfach modernisiert und ist heute eine UN-Konvention unter Kontrolle der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO). Der Gefahr des Eises, das durch den Labradorstrom teils weit nach Süden transportiert wird und schon vor der Titanic-Katastrophe für zahlreiche Havarien gesorgt hatte, wurde durch die Gründung der internationalen Eispatrouille am 7. Februar 1914 begegnet.
Auch aus wissenschaftlicher Sicht bestand großes Interesse an dem Schiff. So galt das Wrack laut dem Entdecker Robert Ballard als eine Art Mount Everest der Tiefseetaucher, und die Entdeckung im Jahr 1985 sorgte wieder einmal für erhebliche Medienresonanz. Seitdem gab es viele Erkundungen des Wracks, deren Finanzierung auch aus dem Verkauf von Artefakten bestritten wurde. Zudem wurden immer wieder Ausstellungen initiiert, bei denen Fundstücke vom Wrack und Titanic-Modelle sowie Exponate verschiedener Museen zu sehen waren.
Zusätzlich übt das Schiffsdesign Faszination aus. Es ist ein Relikt aus einer vergangenen Zeit und unterscheidet sich erheblich von heutigen Passagierschiffen. Der langgestreckte Rumpf der Titanic war relativ flach, ebenso die Aufbauten. Das große Vorschiff durchschnitt mit dem scharfen, nahezu senkrechten Steven die See, und das flach auslaufende Heck wurde mit einem elliptisch geformten Überhang abgerundet. Die vier Schornsteine bewirkten im Seitenprofil eine starke Symmetrie, und die zwei hohen Masten waren Überreste des noch nicht lange vergangenen Zeitalters der Segelschiffe. All das verlieh dem Schiff ein angesichts der Größe recht elegantes Aussehen, und für viele gilt die Titanic als schönstes Schiff ihrer Ära.
Ein letztes, aber nicht unwichtiges Kriterium für das Interesse an dem Schiff ist schlichtweg der Name Titanic. Alleine der Name sollte Größe und Überlegenheit ausdrücken – und dann scheiterte dieses Schiff bereits auf seiner ersten Fahrt. So verbindet heute beinahe jeder auch ohne konkrete Kenntnisse über das Schiff diesen einprägsamen Namen mit „Katastrophe“ oder „Untergang“. Alles in allem hat der „Mythos Titanic“ mittlerweile ein Eigenleben entwickelt, durch den dieses Unglück der bekannteste Schiffsunfall überhaupt wurde.
== Rezeption ==
=== Kunst ===
Eines der bekanntesten Bilder des Untergangs schuf bereits einen Monat nach dem Geschehen der Marinemaler Willy Stöwer für die Zeitschrift Die Gartenlaube. Da Stöwer zum Zeitpunkt des Entstehens nur wenig Hintergrundwissen über den Untergang hatte, weist das Bild zwei Fehler auf: Während des Untergangs waren keinerlei Eisberge in der Nähe, und der vierte Schornstein konnte keinen schwarzen Rauch ausstoßen, da er nur zur Entlüftung diente. Ein Werk von Max Beckmann, das gegenwärtig im Saint Louis Art Museum ausgestellt wird, zeigt ebenfalls das Thema.
Heute ist vor allem der Maler Ken Marschall für seine modernen Zeichnungen bekannt, bei denen er, im Gegensatz zu den meisten anderen Titanic-Zeichnern, Farbe einsetzte.
=== Literatur ===
Der Untergang der Titanic bot die Vorlage für viele Sachbücher und Romane. Überlebende wie der Zweite Offizier Lightoller oder der Passagier Jack Thayer schrieben Sachbücher über ihre Erlebnisse an Bord der Titanic. Der Sachbuchautor Walter Lord verfasste das Sachbuch A Night to Remember (deutscher Titel Die letzte Nacht der Titanic), das bis heute als Standardwerk zum Thema gilt. Allerdings erschien es bereits 1956 und erhält daher nicht die zahlreichen späteren Erkenntnisse. Da Lord jedoch viele seinerzeit noch lebende Zeitzeugen befragen konnte, überliefert das Buch ihre Aussagen bzw. Erinnerungen und ist daher als Quelle auch heute noch wichtig.
Romane beschrieben meist fiktionale Ereignisse, die sich für die Rahmenhandlung der Jungfernfahrt der Titanic bedienten. Der Roman Titan, Eine Liebesgeschichte auf hoher See von Morgan Robertson (Originaltitel Futility, später auch: The Wreck of the TITAN) aus dem Jahr 1898 erregte nach dem Untergang der Titanic Aufsehen, da die in ihr erzählte Geschichte vom Untergang des als unsinkbar geglaubten Schiffes Titan erstaunlich viele Parallelen zum Untergang der Titanic aufweist. Darin kollidiert die Titan in einer kalten Aprilnacht auf der Route von New York City nach Liverpool mit einem Eisberg und sinkt. Viele ihrer Passagiere sterben, da es nicht genug Rettungsboote gibt – genau wie bei der Titanic. Allerdings gab es 18 Jahre zuvor bereits ein eisernes Dampfschiff namens Titania, das am 9. Juli 1880 nach Kollision mit einem Eisberg im Nordatlantik innerhalb von drei Stunden sank.In der DDR erschien 1957 der von Günther Krupkat geschriebene Roman Das Schiff der Verlorenen, der ebenfalls den Untergang der Titanic thematisiert.
==== Erinnerungen ====
Lawrence Beesley: Titanic. Wie ich den Untergang überlebte. Goldmann Verlag, München 1998, ISBN 3-442-15004-3.
Archibald Gracie, John B. Thayer: Titanic. Zwei Überlebende berichten. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2001, ISBN 3-404-60464-4.
==== Sachbücher ====
Deutsch
Rick Archbold, Ken Marschall, James Cameron: Ken Marschall’s Titanic. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998, ISBN 3-453-14996-3 (englisch: Ken Marschall’s Art of Titanic. Übersetzt von Angela Kuhk & Christian Quatmann).
Günter Bäbler: Bibliotheca Titanicana: Alle deutschsprachigen Titanic-Bücher des 20. Jahrhunderts in einem Buch. ä wie Ärger-Verlag, Rüti 2001, ISBN 3-9521715-2-2.
Günter Bäbler, Linda von Arx-Mooser: Reise auf der Titanic: das Schicksal der Schweizer. 2. Auflage. Chronos, Zürich 1998, ISBN 3-905312-62-X.
Günter Bäbler: Das Crewbuch der Titanic. Books on Demand, 2013, ISBN 978-3-9521715-3-0.
Robert D. Ballard & Rick Archbold: Das Geheimnis der Titanic. Ullstein Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-550-07653-3.
Donald Lynch, Ken Marschall: Titanic – Königin der Meere. Wilhelm Heyne Verlag, München 1997, ISBN 3-453-05930-1.
John P. Eaton, Charles A. Hass: Titanic – Triumph und Tragödie. Wilhelm Heyne Verlag, München 1997, ISBN 3-453-12890-7.
John P. Eaton, Charles A. Hass: Titanic – Legende und Wahrheit. Überarbeitete und ergänzte Auflage. Heel Verlag, Königswinter 2012, ISBN 978-3-86852-511-3.
Günter Helmes: Der Untergang der Titanic – Modellkatastrophe und Medienmythos. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 1: 1900 bis 1949. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-30011-4, S. 124–131.
Günter Helmes: Die Geschichte hinter dem Bild. Titanic. 15. April 1912. Landeszentrale für politische Bildung – Thüringen, Erfurt 2021, ISBN 978-3-948643-41-6.
Stefan Ineichen: Endstation Eismeer. Limmat, Zürich 2011, ISBN 978-3-85791-629-8.
Werner Köster, Thomas Liescheid: Titanic. Ein Medienmythos. Reclam, Leipzig 1999, ISBN 3-379-01712-4.
Susanne Störmer: Titanic – Mythos und Wirklichkeit. 2. Auflage. Henschel, Berlin 1998, ISBN 3-89487-289-6.
Walter Lord: Die Titanic-Katastrophe. Wilhelm Heyne Verlag, München 2002, ISBN 3-453-05909-3.
Walter Lord: Titanic – Wie es wirklich war. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998, ISBN 3-453-15057-0.
Robin Gardiner, Dan van der Vat: Die Titanic-Verschwörung. Goldmann Verlag, München 2001, ISBN 3-442-12687-8.
Eric Sauder, Hugh Brewster: Der Guide zur Titanic Collection – Erinnerungen an die Jungfernreise. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998, ISBN 3-453-15280-8 (englisch: The Titanic Collection Guide. Übersetzt von Bernhard Kleinschmidt, Sammlung mit Reproduktionen von Fahrscheinen, Decksplänen, Speisekarten, Gepäckaufkleber und Postkarten, sowie Faksimiles von Telegrammen der Eisbergwarnung und des Notrufs und anderer historischer Dokumente mit Begleitheft).
Stephen Spignesi: Titanic. Goldmann Verlag, München 2000, ISBN 3-442-15068-X.
Wolf Schneider: Mythos Titanic (= Stern-Buch). Gruner + Jahr, Hamburg 1987, ISBN 3-570-05991-X.
Joachim Kahl: Faszination Titanic – Philosophische Anmerkungen zu einem Jahrhundertmythos. In: Aufklärung & Kritik. Nr. 1, 1999, S. 135–144 (gkpn.de [abgerufen am 19. April 2013]).
John Malam: Megawissen Versunkene Schiffe – Die Titanic und andere Schätze auf dem Meeresgrund. Dorling Kindersley, London 2003, ISBN 3-8310-0504-4.
Tom McCluskie: Die Titanic im Detail – Konstruktionszeichnungen und Originalaufnahmen. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1998, ISBN 3-8289-5335-2 (britisches Englisch: Anatomy of the Titanic. Übersetzt von AMS & Dirk Oetzmann).
Geoff Tibballs: TITANIC Der Mythos des „unsinkbaren“ Luxusliners. Gondrom Verlag, Bindlach 1997, ISBN 3-8112-1575-2 (englisch: Titanic. Übersetzt von Irene Spreitzer).
Susan Wels: TITANIC – Schicksal & Vermächtnis des Ozeanriesen. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1999, ISBN 3-8289-0328-2 (amerikanisches Englisch: Titanic – Legacy of the World’s greatest Ocean Liner. Übersetzt von Beate Herting).
Wyn Craig Wade: Die Titanic – Das Ende eines Traums. 2. Auflage. dtv, München 1984, ISBN 3-423-10130-X.
Linda Maria Koldau: Titanic – Das Schiff – Der Untergang – Die Legenden. Verlag C. H. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-62424-7 (badische-zeitung.de [abgerufen am 19. April 2013]).
Metin Tolan: Titanic – Mit Physik in den Untergang. Piper Verlag, München 2011, ISBN 978-3-492-05458-4.
Benedikt Grimmler: Die 50 populärsten Titanic-Irrtümer. Bucher Verlag, München 2011, ISBN 978-3-7658-1884-4.
Eigel Wiese: Titanic – Vier Tage bis zur Unsterblichkeit. Koehlers Verlagsgesellschaft, Hamburg 2012, ISBN 978-3-7822-1053-9.
Manuel Grandegger: Faszination Titanic: Die mysteriöse Geschichte um das scheinbar unsinkbare Schiff. Diplomica Verlag, Hamburg 2009, ISBN 978-3-8366-2399-5.Englisch
David Dyer: The Midnight Watch. Atlantic Books, 2016, ISBN 978-1-78239-780-9.
Tom McCluskie, Michael Sharpe: Titanic and her Sisters Olympic & Britannic. PRC Publishing, London 1998, ISBN 0-681-07612-7.
David F. Hutchings: RMS Titanic: A Modern Legend. Waterfront Publications, Dorset 1995, ISBN 0-946184-29-1.
Robert D. Ballard, Michael S. Sweeney: Return to Titanic. National Geographic Society, Washington DC 2004, ISBN 0-7922-7288-9.
Leslie Reade: The ship that stood still – The Californian and her mysterious role in the Titanic disaster. W. W. Norton & Company, New York 1993, ISBN 0-393-03537-9.
==== Technische Berichte in englischer Sprache ====
C. Hacket, J. G. Bedford: The Sinking of the S.S. TITANIC — Investigated by modern Techniques. The Northern Ireland Branch of the Institute of Marine Engineers and the Royal Institution of Naval Architects, 26 March 1996 and the Joint Meeting of the Royal Institution of Naval Architects and the Institution of Engineers and Shipbuilders in Scotland, 10 December 1996.
W. Garzke u. a.: Titanic, The Anatomy of a Disaster. The Society of Naval Architects and Marine Engineers [Marine Forensic Panel (SD 7)], 1997.
==== Offizielle Untersuchungen ====
Subcommittee of the Committee on Commerce, United States Senate: “Titanic” Disaster. New York 1912
Wreck Commissioners’ Court: Proceedings on a Formal Investigation ordered by the Board of Trade into the loss of the S.S. “Titanic”. London 1912Diese Untersuchungsberichte sind online einsehbar: Titanic Inquiry Project
=== Drama ===
Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. (1978) Enzensbergers „Gesänge“ wurden vor allem durch eine Inszenierung von George Tabori an den Münchner Kammerspielen bekannt. Das Bühnenbild bestand im Wesentlichen aus einem riesigen Aquarium, in dem ein Wels schwamm. Jeder der Darsteller stieg während der Aufführung irgendwann ins Aquarium.
=== Musik ===
Der Schweizer Komponist Stephan Jaeggi (1903–1957) komponierte im Alter von 18 Jahren ein Stück für symphonische Blasorchester. In seiner Fantasie Titanic beschreibt er die verhängnisvolle Jungfernfahrt der Titanic und die damit verbundene Tragödie.
Der britische Komponist Gavin Bryars komponierte 1969 The Sinking of the Titanic (Der Untergang der Titanic), ein Orchesterwerk über die Schiffskatastrophe, das 1972 in der Londoner Queen Elizabeth Hall uraufgeführt wurde. Das ruhige Werk kreist dabei um Motive aus der Hymne Autumn, die laut Zeugenberichten in den letzten 5 Minuten des Untergangs von der Schiffskapelle noch gespielt worden sei. Das Werk wurde häufig aufgeführt und ist mittlerweile dreimal auf Platte eingespielt worden.
1978 veröffentlichte die deutsche Band Birth Control ein Album mit dem Titel Titanic.
Am 6. September 1979 wurde an der Deutschen Oper in Berlin die Oper Der Untergang der Titanic von Wilhelm Dieter Siebert uraufgeführt.
Im Jahr 1984 konnte Peter Schilling mit seinem NDW-Song Terra Titanic einen Hit landen.
1991 veröffentlichte der Sänger Howard Carpendale seinen Song Willkommen auf der Titanic.
Der Jazz-Musiker Steve Cameron schrieb in den 1990er Jahren ein Konzeptalbum über die Titanic mit dem Namen The Titanic Suite. Die Musik bewegt sich zwischen klassischen Stücken und New Age Synthesizer-Arrangements. Im umfangreichen Booklet finden sich viele Details über verschiedene Räumlichkeiten der Titanic.
1992 veröffentlichte der österreichische Sänger Falco seinen Song Titanic auf dem Album Nachtflug.
1994 erschien das Album Here’s to the People von Paddy Goes to Holyhead mit dem Titel The Titanic
1994 veröffentlichte die Irish-Folk Band An Cat Dubh das Album Black Is the Color, worauf das Stück „A Night to Remember“ enthalten ist, das sich mit dem Untergang der Titanic befasst.
2002 veröffentlichte die Rock-’n’-Roll-Band Candyman das Lied „Titanic“, das sich mit dem Untergang der Titanic befasst.
Die Geschichte der Titanic wurde auch in einem Broadway-Musical unter dem Titel Titanic – Das Musical wiedergegeben, das von 1997 bis 2000 lief. In den Jahren 2000 und 2001 wurde das Musical in den Niederlanden aufgeführt, und 2002–2003 lief es in Deutschland in der Neuen Flora in Hamburg. Im Juli/August 2012 wird das Musical in der Felsenbühne Staatz aufgeführt.
2011 veröffentlichte die schwedische Power-Metal-Band ReinXeed das Konzeptalbum 1912, das sich mit dem Untergang der Titanic befasst.
2012 wurde zum 100. Jahrestag das einstündige Requiem The Titanic Requiem, das von Robin Gibb und seinem Sohn Robin-John geschrieben wurde, in London vom Royal Philharmonic Orchestra uraufgeführt.
2012 veröffentlichte der amerikanische Singer/Songwriter Bob Dylan das fast 14-minütige Lied Tempest (erschienen auf der gleichnamigen CD), in dem er in 45 Strophen den Untergang der Titanic anhand einer Reihe von Einzelschicksalen schildert.
=== Verfilmungen ===
==== Film und Fernsehen ====
1912: Saved From the Titanic. Dorothy Gibson, eine Überlebende des Untergangs, spielte die Hauptrolle.
1912: In Nacht und Eis (Deutschland, Regie: Mime Misu)
1929: Atlantik. Erster englisch-, deutsch- oder französischsprachiger Tonfilm, der auf den Untergang der Titanic zurückgeht.
1943: Titanic. Propagandafilm
1953: Der Untergang der Titanic
1958: Die letzte Nacht der Titanic
1979: S.O.S. Titanic. Fernsehfilm
1980: Hebt die Titanic
1996: Titanic. Fernseh-Zweiteiler
1997: Titanic
1999: Die Mäusejagd auf der Titanic. Kinderfilm, Zeichentrick
2000: Mäuse-Chaos unter Deck der Titanic. Zeichentrick
2011: Titanic. Britisch-kanadische Fernsehserie, bestehend aus vier Episoden
2012: Titanic – Blood and Steel. Zwölfteilige Fernsehserie mit Neve Campbell, Chris Noth und Joely Richardson
2012: Die Helden der TitanicDie heute bekannteste Verfilmung ist der Film Titanic von 1997 unter der Regie von James Cameron mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen, der elf Oscars erhielt. Inhaltlich ist er ein dem Zeitgeist entsprechender Kinofilm mit einer für ein Hollywood-Drama, dessen Handlung überwiegend aus Fiktion besteht, überdurchschnittlich akkuraten Darstellung der damaligen Ereignisse. Hervorzuheben ist vor allem die bis auf wenige Details perfekte optische Reproduktion der Titanic.
Außerdem wurde der Untergang der Titanic in verschiedenen Filmen und Fernsehserien thematisiert, so beispielsweise als Randnotiz in Frank Lloyds Oscar-prämiertem Drama Kavalkade, eine Familienchronik über das Großbritannien der Jahre 1899 bis 1933, und als Teil der Handlung in der Folge Rendezvous with Yesterday der Serie Time Tunnel aus dem Jahr 1966. In der Serie Die Zeitreise (siehe unter: Die Zeitreisenden) aus dem Jahr 1982 reisen die Protagonisten, u. a. mit Jon-Erik Hexum als Phineas Bogg und Meeno Peluce als Jeffrey Jones, gleich zweimal auf die Titanic. Die erste Folge der britischen Serie Downton Abbey beginnt mit der Zeitungsmeldung, dass die Titanic gesunken sei; ein Cousin, der den Namen der Familie weiterführen soll, verunglückt beim Untergang und verursacht hierdurch die familiären Probleme.
==== Dokumentationen ====
1962 Augenzeugen berichten über Schlagzeilen von gestern: Der Untergang der Titanic (Hans Ulrich Reichert, Süddeutscher Rundfunk, wiederholt im 3. Fernsehprogramm des NDR 2012 in der Nacht der Schiffskatastrophen; es berichten die Überlebenden Edith Russell und Alfred Nourney).
1986: Das Geheimnis der Titanic (Unterwasserexpedition, National Geographic Society)
1998: Titanic – Zeugen des Untergangs (Discovery Communications Geschichte)
1999: Titanic – Dem Mythos auf der Spur (Unterwasseraufnahmen)
2000: Titanic – Antworten aus der Tiefe (Discovery Geschichte, Teil 4 der Serie Geschichte und Technik)
2000: ZDF History: Die Helden der Titanic (Moderation: Guido Knopp)
2003: Die Geister der Titanic (Dokumentation in 3D, Titanic in der Internet Movie Database (englisch))
2005: Titanic – Der Bau des Superschiffs (Dokumentation über den Bau der Titanic)
2006: Der Untergang der Titanic (National Geographic Society)
2009: Vergangene Welten: Die Entstehung der Titanic (Dokumentation über die Geschichte des Dorfes „Titanic Town“ in der Nähe von Belfast)
2010: Titanic: The Mission Fernseh-Dokumentation über die Neuerschaffung einzelner Sektionen der Titanic, mithilfe der Werkzeuge und Technologien des frühen 20. Jahrhunderts (Channel 4, englisch)
2012: Die unsinkbare Titanic (DVD Nr. 33 Spiegel TV)
2017: Titanic: The New Evidence
=== Museen und Ausstellungen ===
Das Museum Titanic Belfast befindet sich auf dem früheren Gelände der Werft Harland & Wolff und eröffnete im Jahr 2012. Die Themen reichen von der Konstruktion bis zum Untergang.Das SeaCity Museum in Southampton zeigt in einer Dauerausstellung unter anderem die Betroffenheit der Stadt durch den Tod von mehr als 500 Besatzungsmitgliedern, die aus Southampton stammten.Das Titanic Museum in Branson, Missouri (USA), ist teils in einer Attrappe der vorderen Bughälfte der Titanic im Maßstab 1:2 untergebracht. Es enthält 400 Artefakte in 20 Galerien sowie einen Nachbau der berühmten Haupttreppe der Titanic in Originalgröße.
Die RMS Titanic Inc. bietet an verschiedenen Orten Ausstellungen etlicher Exponate an, die anlässlich der Tauchgänge zum Wrack geborgen und größtenteils restauriert wurden. 1997 bis 1999 fand die bis dahin größte Titanic-Ausstellung der Welt in der Speicherstadt in Hamburg statt. Eine weitere Ausstellung in Deutschland gab es vom 16. Juni bis 12. August 2007 in Kiel in der Ostseehalle. Ergänzt wurde die Ausstellung in Kiel durch einen 62-seitigen reich bebilderten Ausstellungskatalog.
Yadegar Asisi präsentierte die Titanic auf dem Meeresgrund des Atlantik ab Januar 2017 in einem 360°-Panorama im Panometer in Leipzig. Das 32 m hohe Rundbild zeigt auf 3500 m² Oberfläche das Wrack in einem künstlichen Lichtszenario.Im heutigen Cobh, bis 1920 Queenstown, befinden sich am letzten Anlegeplatz der Titanic vor ihrem Untergang ein privates Museum (Titanic Experience Cobh) in den Räumen der ehemaligen Fahrkartenverkaufsstelle der White Star Line mit interaktiven Ausstellungen und einigen originalen Exponaten des Schiffes. Daneben beleuchtet das Cobh Heritage Center in einer Dauerausstellung die irische Auswanderung und deren Schicksale insbesondere im Zusammenhang mit der Titanic und der Lusitania.
=== Nachbauten ===
Es gibt verschiedene aktuelle Projekte im 21. Jahrhundert, die Titanic nachzubauen.
==== Titanic II ====
Die Titanic II ist ein geplantes Kreuzfahrtschiff mit großen Ähnlichkeiten mit der Titanic. Es soll unter anderem die Route der Jungfernfahrt der Titanic, Southampton – New York City, fahren.
Die Titanic II soll der Titanic zum Großteil gleichen. Jedoch gibt es einige Änderungen, so wird sie als Beispiel Klimaanlagen besitzen.
==== Romandisea Titanic ====
In China wird die sogenannte Romandisea Titanic, ein „originalgetreuer“ Nachbau der Titanic gebaut. Sie sollte ursprünglich schon Ende 2017 fertiggestellt werden, allerdings ist sie im Jahre 2020 immer noch nicht fertiggestellt. Ende 2019 zeigte ihre offizielle Medienseite, dass die Bauarbeiten das D-Deck erreicht hatten und kündigte den Beginn eines Freiwilligenprogramms an, um beim Bau des Schiffes zu helfen. Im Gegensatz zur Titanic II soll die Romandisea Titanic allerdings nicht auf Reise gehen, sondern bei den „Romandisea Resorts“ in Daying in der Provinz Sichuan, Südwestchina, in ruhigen Gewässern ankern.
=== Sprachgebrauch ===
==== Beiname für havarierte Fahrzeuge ====
Titanic wurde in der Medienberichterstattung und in Dokumentationen zum Beinamen von besonders großen Fahrzeugen – zumeist Schiffen –, die Opfer einer Unfallkatastrophe geworden waren. Die gesunkene Tayleur wurde so zur „ersten Titanic der White Star Line“, die britische Hilda zur „Titanic der Bretagne“, die 1989 gesunkene Mogoșoaia zur „Titanic Rumäniens“. Titanic der Lüfte – Die letzte Fahrt der Hindenburg ist der Titel einer Folge der Fernseh-Dokuserie Höllenfahrten.
==== „Titanic-Effekt“ ====
Das Schiffsunglück wurde auch in der Wortbildung „Titanic effect“ (englisch) beziehungsweise Titanic-Effekt aufgegriffen. Wissenschaftler versuchten mit diesem Schlagwort, auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem Untergang der Titanic und anderen Katastrophen aufmerksam zu machen. Der Ökologe Kenneth Watt warnte in seinem Buch The Titanic Effect (1974), die Wirtschaft der USA sei „nicht unsinkbar“, und forderte dazu auf, auch für unvorstellbare Katastrophen vorzusorgen. Das Ausmaß von Katastrophen werde in dem Maße geringer, in dem die Menschen sie für möglich hielten und sie planmäßig zu verhindern oder ihre Folgen zu minimieren versuchten. Das Prinzip wurde auch für die Seenotrettung beschrieben. In Publikationen über EDV wurde folgender Zusammenhang als Titanic-Effekt definiert: „Das Ausmaß, in dem ein System versagt, hängt direkt proportional davon ab, wie sehr der Entwickler davon überzeugt ist, dass es nicht scheitern kann.“ Oder: „Je mehr ein System als sicher gilt, desto katastrophaler die Ausfälle des Systems.“
== Weblinks ==
Der Untergang der Titanic
Fahrpläne der Olympic-Klasse für die Atlantiküberquerung
Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V.Englisch
Titanic Historical Society, Inc.
Titanic International Society
Encyclopedia Titanica Umfangreiche Daten, z. B. Passagier- und Mannschaftslisten
All Things Titanic
Titanic Inquiry Project Berichte der amerikanischen und der britischen Untersuchungskommission
Titanic: The Artifact Exhibition Aktuelle Ausstellungen
== Fußnoten == | https://de.wikipedia.org/wiki/Titanic_(Schiff) |
James A. Garfield | = James A. Garfield =
James Abram Garfield (* 19. November 1831 in Orange Township (heutiges Moreland Hills), Cuyahoga County, Ohio; † 19. September 1881 in Elberon, Monmouth County, New Jersey) war ein amerikanischer Politiker (Republikanische Partei) und vom 4. März 1881 bis zu seinem Tod infolge eines Attentats der 20. Präsident der Vereinigten Staaten.
Garfield wuchs in ärmlichen Verhältnissen im damaligen Grenzland (Frontier) als Halbwaise auf. Als überzeugter Anhänger des christlichen Restoration Movements („Erneuerungsbewegung“) besuchte er dessen Western Reserve Eclectic Institute (heutiges Hiram College) und wechselte später auf das Williams College, wo er seinen Abschluss machte. Danach war er Lehrer am Hiram College, bis er 1859 in die Politik ging und in den Senat von Ohio gewählt wurde. Parallel dazu studierte er Jura. Während des Sezessionskriegs kämpfte er für die Nordstaaten und brachte es in der Unionsarmee zum Generalmajor, wobei er sich vor allem in der Schlacht von Middle Creek auszeichnen konnte.
Ab 1863 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten und zählte anfangs zur Fraktion der radikalen Republikaner. Später näherte er sich den Half-Breeds („Mischlingen, Halbblütern“) an, die eine Verwaltungsreform zur Abschaffung des Spoilssystems („Beutesystem“) anstrebten. Ein zentrales Projekt für Garfield im Kongress war die Durchsetzung einer auf dem Goldstandard beruhenden antiinflationäre Hartgeldpolitik. Die meisten Akzente konnte er als Vorsitzender des Committee on Appropriations („Haushaltsausschuss“) setzen. Im Jahr 1873 schädigten die mutmaßliche Verwicklung in den Korruptionsskandal um die Baufirma Crédit Mobilier of America und die Mitwirkung an einer Gehaltserhöhung für Kongressabgeordnete für einige Zeit sein Ansehen erheblich. Dennoch wurde er 1877 Fraktionsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus. Im gleichen Jahr saß Garfield im Kongressausschuss, der über den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl von 1876 entschied und war an der daran anschließenden Aushandlung des Kompromisses von 1877 beteiligt.
Auf dem zwischen den Faktionen der Stalwarts („Feste, Starke, Mutige“) und Half-Breeds stark umkämpften Nominierungsparteitag der Republikaner im Juni 1880 konnte er sich als Überraschungssieger und Kompromisskandidat gegen Ulysses S. Grant und James G. Blaine durchsetzen. Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl gegen den demokratischen Bewerber Winfield Scott Hancock war er nur für wenige Monate im Amt, die durch Querelen mit Roscoe Conkling um Stellenbesetzungen gekennzeichnet waren.
Am 2. Juli 1881 wurde er bei einem Attentat von Charles J. Guiteau schwer verwundet und erlag seinen Verletzungen keine drei Monate später. Sein Mörder hatte sich zuvor erfolglos um eine Position in der Garfield-Administration beworben.
== Leben ==
=== Familie und Ausbildung (1831–1850) ===
James A. Garfield wurde nach seinem älteren Bruder James Ballou Garfield, der als Kind starb, und nach seinem Vater Abram Garfield benannt. Dessen Vorfahr Edward Garfield war 1630 aus Europa in die Massachusetts Bay Colony ausgewandert, wo seine Nachkommen für lange Zeit lebten. Abram Garfields Großvater übersiedelte nach der Amerikanischen Revolution nach Worchester in New York, wo auch sein Enkel zur Welt kam. James A. Garfields Mutter, Eliza Ballou, hatte aus Providence stammende Eltern und wurde in New Hampshire geboren. Nachdem ihr Vater gestorben war, lebte sie mit ihrer Mutter in Worchester, wo sie Abram Garfield kennenlernte. Im Februar 1820 heirateten sie und zogen in das malariaverseuchte Tal des Cuyahoga Rivers in der Western Reserve, damals vom restlichen Ohio isoliertes und durch ärmliche Lebensbedingungen gekennzeichnetes Grenzland (Frontier). Im Jahr 1829 erwarb Abram Garfield nach einem kurzfristigen geschäftlichen Erfolg als Kleinunternehmer im Kanalbau acht Hektar eigenes Farmland samt Blockhaus im Orange Township, dem heutigen Moreland Hills. Hier kam zwei Jahre später James A. Garfield als jüngstes von fünf Kindern zur Welt.Im Jahr 1833 traten Garfields Eltern dem Restoration Movement („Erneuerungsbewegung“) bei, einer christlichen Erweckungsbewegung unter Führung von Alexander Campbell. Diese Kirche, die in der Western Reserve als Disciples of Christ („Jünger Christi“) bekannt war und pietistische Züge aufwies, prägte den weiteren Lebensweg Garfields. Im Mai 1833 starb sein Vater an einer Lungenkrankheit, was die Familie an den Rand der Armut brachte. So musste die Mutter Teile ihres Grundbesitzes verkaufen, um die drängendsten Schulden abzuzahlen, und Garfields 12-jähriger Bruder Thomas die Farmarbeiten des Vaters übernehmen. Eliza Garfield heiratete im April 1842 erneut, aber verließ ihren in einem Nachbarort lebenden Mann nach einem Jahr, was in der damaligen Zeit als selten vorkommendes, skandalöses Verhalten galt. Als Jugendlicher wurde Garfield zu einem leidenschaftlichen Leser, den vor allem Seefahrtsgeschichten faszinierten. Im August 1848 verließ er kurzentschlossen die Mutter, um im nahegelegenen Cleveland auf einem Schiff anzuheuern. Letztendlich fand er eine Anstellung auf einem Kanalboot, das zwischen Cleveland und Pittsburgh verkehrte. Anfang Oktober musste er die Arbeit aufgeben und nach Hause zurückkehren, als bei ihm eine starke Fieberkrankheit ausbrach. Dort konnten ihn die Mutter und sein Grundschullehrer dazu überreden, fürs Erste weiter auf die Schule zu gehen.Ab März 1849 besuchte er eine weiterführende Akademie in Chester Township im Geauga County, die von Baptisten betrieben wurde. Zu dieser Zeit gab es kein bundesstaatliches Schulsystem in Ohio, weshalb Jugendliche auf Sekundarschulen dieser Art angewiesen waren, wenn sie nach der Grundschule weiterlernen wollten. In diesem Umfeld entwickelte Garfield einen außergewöhnlichen Bildungseifer und legte seine Seefahrtspläne rasch ad acta. Um Schule und Unterkunft in einer Pension zu finanzieren, arbeitete er in einer Zimmerei und wie viele seiner Mitschüler ab November 1849 nach einer oberflächlichen Prüfung als Lehrer. Auf einer regionalen Versammlung der Disciples of Christ im März 1850 hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis und ließ sich taufen. Hatte er bis dahin vor allem der Mutter zuliebe die Gottesdienste besucht, war er von nun an ein überzeugter „Jünger Christi“. Sein Glaube spiegelte sich in seinen politischen Überzeugungen wider. So lehnte er den Abolitionismus, also die Sklavenbefreiung, ab, weil sich die Bibel an keiner Stelle gegen diese Institution ausspräche, und nahm nicht an den ausschweifenden Feiern zum Unabhängigkeitstag teil, sondern verbrachte die Zeit im Gebet. Aufgrund seiner religiösen Überzeugung und aus finanziellen Gründen fühlte er sich an der baptistischen Akademie zunehmend unwohl.
=== Western Reserve Eclectic Institute und Williams College (1850–1856) ===
Gegen Ende 1850 verließ er die Schule in Geauga und arbeitete für ein Jahr als Lehrer und Zimmerer. Im Herbst 1851 schrieb er sich am Western Reserve Eclectic Institute (heutiges Hiram College) in Hiram im Portage County ein, eine von den Disciples of Christ betriebene Bildungseinrichtung. Aufgrund seiner Vorbildung und starken Physis genoss er unter den Mitschülern hohes Ansehen. Garfield gewann in dieser Zeit weiter an Selbstvertrauen und entdeckte an sich eine außergewöhnliche Begabung als Redner. Tatsächlich wurde er später einer der effektivsten Wahlredner seiner Generation. Das Curriculum umfasste neben der von ihm besonders geschätzten klassischen Bildung in Latein und Griechisch auch Geologie, Mathematik und Spencer-Schrift. Außerschulisch las er mit einer befreundeten Mitschülerin Horaz, Vergil, Sallust, Xenophon und das Neue Testament. Daher rührend verwendete er bei seinen späteren Reden im Kongress der Vereinigten Staaten oft lateinische Zitate als Stilmittel. Ab Frühjahr 1853 begann er sich als Prediger in den Kirchen der Umgebung zu betätigen. Gegen Jahresende entwickelte er eine zunehmende Leidenschaft für die Mitschülerin Lucretia Rudolph, die er seit der Akademie in Chester kannte. Ihr Vater Zeb Rudolph war ein führender Disciple und saß im Vorstand des Western Reserve Eclectic Institute. Einer Vertiefung ihrer Beziehung stand vorerst entgegen, dass sich Garfield am Eclectic Institute, an dem er seit einem Jahr selbst Unterricht gab, intellektuell unterfordert fühlte, und Anfang 1854 beschloss, auf eine Universität zu wechseln. Hinzu kam, dass das Eclectic Institute keinen staatlich anerkannten Bachelor-Abschluss anbot.Im Juli 1854 wurde er nach einer kurzen Prüfung durch den Universitätspräsidenten Mark Hopkins als Student am Williams College in Williamstown, Massachusetts zugelassen. Hopkins Einfluss schärfte in den folgenden Jahren die kritische Denkfähigkeit Garfields, der in dem geistigen Klima dieses neuenglischen und calvinistischen Colleges aufblühte und es später als den eigentlichen Start seines intellektuellen Lebens beschrieb. Anfangs wurde er von den zumeist jüngeren und aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Kommilitonen kritisch beäugt. Aufgrund seiner glänzenden Leistungen im Debattierclub, der in der Ära vor dem Aufkommen des Collegesports den Mittelpunkt studentischer Aktivitäten auf dem Campus bildete, verschaffte er sich rasch hohes Ansehen. In der Folge wurde er zum Vorsitzenden einiger Studentenclubs und zum Herausgeber des Universitätsmagazins Williams Quarterly gewählt. Weil einige der Kommilitonen streng religiöse Calvinisten waren, hielt er sich mit dem eigenen Glauben bedeckt. Den zu dieser Zeit an Bedeutung gewinnenden Studentenverbindungen (Fraternities und Sororities) stand er ablehnend gegenüber. Zur Finanzierung seines Studiums arbeitete er während der Semesterferien in den umliegenden Ortschaften als Lehrer. In Pownal, Vermont, unterrichtete er an der gleichen Schule wie ein Jahr zuvor sein späterer Vizepräsident Chester A. Arthur.Garfield war ein guter, aber kein brillanter Student, der mit seinen Leistungen deutlich in der oberen Hälfte des Jahrgangs lag. Am Williams College kam er vertieft mit Naturwissenschaften in Berührung, wobei er sich aber mit Chemie nie anfreunden konnte. Insbesondere begeisterte sich Garfield so sehr für Germanistik, dass er eine Zeit lang ein Studium in Göttingen in Erwägung zog. Hopkins und das akademische Umfeld insgesamt bewirkten, dass Garfield sich für Politik zu interessieren begann. Im Frühjahr des Präsidentschaftswahljahrs 1856 besuchte er eine Wahlkampfveranstaltung für John C. Frémont und hielt hier seine erste politische Rede. Einige von Garfields religiösen Überzeugungen kamen in dieser Phase ins Wanken. So bewog ihn das Studium von Theodor Körners Gedichten dazu, seinen den Lehren der Disciples of Christ geschuldeten Pazifismus zu überdenken. Die Agitation in Neuengland gegen die durch den Kansas-Nebraska Act ermöglichte Einführung der Sklaverei im Kansas-Territorium (Bleeding Kansas „Blutendes Kansas“) führte bei ihm zu einem Gesinnungswandel. Er sprach sich nun für eine graduelle Abschaffung der Sklaverei und ein Verbot ihrer weiteren Verbreitung aus. Zwar bewahrte Garfield sich seinen Glauben, aber bis Juni 1856 war er zu der Überzeugung gelangt, dass er keine kirchliche Laufbahn mehr anstrebte. Im August schloss er das Studium ab und begann als Lehrer für alte Sprachen und Literatur am Eclectic Institute in Hiram zu arbeiten.
=== Lehrtätigkeit (1856–1859) ===
Zurück in Hiram fühlte er sich schnell von seiner Lehrtätigkeit nicht ausgefüllt. Daher engagierte er sich bei den Republikanern und predigte wieder verstärkt. Weil es an der Schule konstant Disziplinprobleme gab, wurde Direktor Hayden Anfang 1857 entlassen und Garfield zu seinem Nachfolger bestimmt, wobei der erfahrenere Norman Dunshee übergangen wurde. Unter Garfield verfolgte das Eclectic Institute eine liberalere Agenda. Die Bedeutung der Theologie wurde im Unterrichtsplan zugunsten von Fächern wie Geschichte, Naturwissenschaft und Sport herabgestuft und die Akademie für Schüler anderer Konfessionen geöffnet. Als Lehrer wandte er progressive Unterrichtsmethoden an, indem er nicht nur Lernstoff vermittelte, sondern die Schüler zu selbständiger Gedankenführung und kritischer Beobachtungsgabe ermunterte. Tatsächlich prosperierte unter Garfield das Eclectic Institute trotz der Wirtschaftskrise von 1857.Obwohl er seit vier Jahren mit Lucretia Rudolph verlobt war, zögerte er 1858 immer noch mit der Heirat. Erst nach Druck im Freundeskreis und durch den zukünftigen Schwiegervater kam es am 11. November 1858 zur Hochzeit. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Der 1865 geborene James war von 1907 bis 1909 amerikanischer Innenminister. Der um zwei Jahre ältere Harry wurde Jurist, Politikwissenschaftler und Präsident des Williams College. Die Ehe durchlief einige Tiefen, in den 1860er Jahren gab es immer wieder Gerüchte um außereheliche Beziehungen Garfields. Im Herbst 1862 hatte er eine Affäre, die fast zur Trennung führte.In der letzten Dezemberwoche 1858 führte Garfield in Chagrin Falls eine öffentliche Debatte mit einem umherziehenden atheistischen Freidenker. Sie stieß auf großes Interesse und lockte bis zu tausend Zuschauer an. Garfield wurde allgemein als Sieger betrachtet und erlangte Prominenz in der Region. In Vorbereitung auf die Debatte hatte er sich verstärkt mit Naturwissenschaften beschäftigt und ihnen danach im Curriculum des Eclectic Institute noch mehr Bedeutung zugestanden. Dies wie auch sein Versuch, eine Schachliga mit anderen Akademien auszurichten, brachte ihm Kritik von der Fraktion der strenggläubigen, Spiele als weltliche Vergnügungen verwerfenden Disciples ein, die Dunshee befeuerte. Obwohl Garfield selbst in einem Fall einem entflohenen Sklaven Unterschlupf gewährt hatte, hielt er die Schule aus der Politik raus und untersagte eine Kundgebung von Abolitionisten am Eclectic Institute.Bis 1859 hatte sich sein religiöser Eifer so weit gelockert, dass er nun, mit seiner aktuellen beruflichen Situation unzufrieden, mit einer Lehre zum Anwalt und einem Einstieg in die Politik zwei Tätigkeiten anstrebte, die er früher als moralisch verwerflich abgelehnt hatte. Als im August 1859 der republikanische Kandidat seines Wahlbezirks für den Senat von Ohio verstarb, stellten die lokalen Parteiführer Garfield auf, nachdem er auf dem Nominierungsparteitag das Rennen gemacht hatte. Weil sein Distrikt stramm republikanisch und abolitionistisch geprägt war, einer seiner späteren Wähler war John Brown, kam der Erfolg bei der Primary dem Einzug in den Senat gleich. Entsprechend gewann er nach einem Wahlkampf, in dem es fast ausschließlich um die Sklavenfrage gegangen war, am 11. Oktober mit großem Vorsprung gegen den Demokraten Alvah Udall. Garfield zog als jüngster Senator in die State Legislature („Bundesstaat-Parlament“).
=== Im Senat von Ohio (1859–1861) ===
Kurz vor dem Jahresende 1859 traf Garfield in Columbus, der Hauptstadt von Ohio ein. Er bezog ein Pensionszimmer mit Jacob Dolson Cox, mit dem ihm bald eine enge politische Partnerschaft verband. Obwohl ein Neuling, schaltete er sich von seinem ersten Tag an in die Debatten im Kongress Ohios (Ohio General Assembly) ein. Seinen Gesetzesinitiativen, deren wichtigste ihm die Finanzierung einer geologischen Kartierung Ohios war, war wenig Erfolg beschieden. Besonderen Beifall in seinem Wahlbezirk erhielt Garfield für seine Rede gegen einen Gesetzesvorschlag konservativer Republikaner, der vor dem Hintergrund von John Browns Überfall auf Harpers Ferry Sicherheitszusagen an den Sklavenstaat Virginia machte. Für die Teilnahme an einer Delegation der Ohio General Assembly, die sich in Louisville mit den Abgeordneten der State Legislature von Kentucky und Tennessee traf, musste er dagegen Kritik von seinen Wählern einstecken. Insgesamt machte er vor allem durch seine Fähigkeiten als Redner auf sich aufmerksam und erlangte im Bundesstaat zunehmende Bekanntheit.Auf dem Parteitag der Republikaner in Ohio im Juni 1860 hinterließ er einen starken Eindruck und war danach ein gefragter Redner im Präsidentschaftswahlkampf von Abraham Lincoln mit Auftritten auf mehr als 40 Kundgebungen. In der unmittelbar auf Lincolns Sieg folgenden Sezessionskrise, die sich an der Sklavenfrage entzündete und zur Herausbildung der Konföderierten Staaten von Amerika führte, befürwortete der ehemalige Pazifist Garfield leidenschaftlich einen Bürgerkrieg, um mit der Sklaverei endgültig Schluss zu machen. Diese Kriegsbegeisterung entsprach der allgemeinen Stimmungslage in Columbus. Die genauen Gründe für Garfields Wandel zum Falken sind nicht gesichert. Anfang 1861 schloss er die Anwaltslehre ab, die er zwei Jahre zuvor bei einer Kanzlei in Cleveland begonnen hatte. Mitte Februar traf er den designierten Präsidenten Lincoln und zeigte sich von ihm wenig beeindruckt. In den folgenden Jahren verhärtete sich dieses Gefühl wegen dessen Zögern in der Sklavenfrage zu Verachtung. Garfield erwartete einen kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg und beschäftigte sich mit den Feldzügen von Napoleon Bonaparte und Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington.
=== Im Sezessionskrieg ===
==== Eintritt in die Unionsarmee und Schlacht von Middle Creek (1861–1862) ====
Nach Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs am 12. April 1861 unterstützte er zuerst Gouverneur William Dennison junior im Senat bei der Finanzierung der hastig aufgestellten Freiwilligen-Regimenter. Außerdem brachte er ein Gesetz durch, das die Gesetzeshürden für die Bestrafung von Landesverrat gegenüber dem Bundesstaat Ohio absenkte und sich insbesondere gegen die Demokraten richtete. Nach mehreren gescheiterten Versuchen erhielt er im August von Dennison das ersehnte Kommando über ein Regiment zugewiesen, mit dem der Dienstgrad Oberstleutnant verbunden war. Nur wenige Wochen später beförderte ihn der Gouverneur zum Oberst. Garfields 42. Ohio-Freiwilligen-Infanterie-Regiment existierte zuerst nur auf dem Papier und musste von ihm selbst ausgehoben werden. Dazu wandte er sich zuerst an das Hiram College, wo er eine ganze Kompanie von Studenten rekrutierte. Bis September wuchs das 42. Ohio-Regiment auf sieben Kompanien auf und Garfield hatte mit Don Pardec und Lionel Allen Sheldon zwei Stabsoffiziere unter seinem Kommando. Ende November erreichte es mit zehn Kompanien seine volle Stärke und lagerte in Camp Chase am Stadtrand von Columbus.Garfield eignete sich parallel zu seinen Rekrutierungsbemühungen ein Grundwissen in Militärtaktik an. Ihm standen nur wenige Wochen Drill zur Verfügung, um seine Soldaten auf das Schlachtfeld vorzubereiten. Außerdem musste sich Garfield um die Ausrüstung des Regiments kümmern, die sich problematisch gestaltete. Bei der Führung der Untergebenen erwiesen sich die im Rahmen seiner Lehrtätigkeit erworbenen Kompetenzen als hilfreich. Mitte Dezember erhielt Garfield die Order, mit seinem Regiment nach Catlettsburg in Kentucky zu marschieren. Dort wurde er unter das Kommando von General Don Carlos Buell gestellt, der die Army of the Ohio („Armee des Ohio“) befehligte. Das strategische Ziel der Ohio-Armee war die Einnahme von Nashville, wobei ihre linke Flanke im Tal des Big Sandy River im östlichen Kentucky von Konföderierten Truppen unter der Führung von Brigadegeneral Humphrey Marshall bedroht wurde. Buell gab Garfield das Kommando über die 18. Brigade und entsandte ihn gegen Marshalls Truppen in das unwegsame und abgelegene Terrain des Big-Sandy-River-Tals. Bis Ende Dezember stieß die Brigade über Louisa in das Quellgebiet des George’s Creek, eines kleinen Zuflusses des Big Sandy, vor und errichtete hier eine Basis. Derweil marschierte Marshall aus dem Süden kommend durch das Big-Sandy-River-Tal und befestigte Anfang Januar 1862 seine Stellung im nahegelegenen Paintsville.
Obwohl mit seinen 1500 Mann gegenüber Marshall in der Unterzahl und ohne Artillerie wartete Garfield nicht auf Verstärkung, sondern teilte seine Truppen auf, um am 5. Januar von allen drei Zufahrtsstraßen gleichzeitig auf Paintsville zu marschieren. Die Konföderierten überschätzten durch dieses Manöver die Truppenstärke des Gegners, räumten ihr Lager und zogen sich Richtung Süden zurück. Von diesem Moment an waren sie ständig in der Defensive. Einige Tage später setzte Garfield Marshalls Truppen entlang des Big Sandy nach. Am Middle Creek, einem weiteren Zufluss des Big Sandy, stieß er am 10. Januar auf die Konföderierten, die hinter einer Hügelkette Stellung bezogen hatten. Wiederum gelang es ihm, mittels einer Militärparade den übervorsichtigen Marshall über seine wahre Truppenstärke zu täuschen. Im Tagesverlauf griffen nie mehr als zwei Kompanien Garfields gleichzeitig die Hügelstellung der Rebellen bis in die Abendstunden an, während die eintreffende Verstärkung unter Oberst Lionel Allen Sheldon nicht mehr ins Kampfgeschehen eingriff. Marshall leistete nur schwache Gegenwehr, räumte in der darauffolgenden Nacht seine Position und setzte seinen Rückzug fort. Im Gegensatz zu den späteren Gefechten im Amerikanischen Bürgerkrieg waren die Verluste beider Seiten während der Schlacht von Middle Creek nur sehr gering; auf Seiten der Union fielen nur drei Mann. Wie bei vielen Landsleuten seiner Generation veränderte diese erste Kampferfahrung Garfields bis dahin provinzielles und behütetes Weltbild.In den Nordstaaten feierte die an Misserfolge der Unionsarmee gewöhnte Presse Garfields Sieg, bis er zehn Tage später von General George Henry Thomas’ Triumph im Gefecht bei Mill Springs aus den Schlagzeilen verdrängt wurde. Nachdem sich Marshall vollständig nach Virginia zurückgezogen hatte, sah sich Garfield mit der Verwaltung des östlichen Kentucky konfrontiert. Ihm wurde die Aufgabe dadurch erleichtert, dass es in diesem Landesteil keine Sklaverei gab. Mit einer vergleichsweise moderaten Besatzungspolitik, die gemäßigter war als die der späteren Reconstruction in den Sezessionsstaaten, gelang es ihm, in der Region die Ordnung wieder herzustellen. Im Februar verlegte die 18. Brigade ihr Hauptquartier von Paintsville nach Pikeville. Noch im gleichen Monat suchte sie eine Flutkatastrophe heim, in deren Nachklapp eine Seuche den Verband stark ausdünnte und viele Tote forderte. In dieser tragischen Zeit erfuhr Garfield von seiner Beförderung zum Brigadegeneral. Zwar begrüßte er ein größeres Kommando, andererseits fühlte er sich dem 42. Ohio-Regiment stark verbunden. Nachdem er mit seiner Brigade eine letzte Garnison der Rebellen auf der Passhöhe Pound Gap genommen hatte, beorderte sie Buell Ende März aus dem Big-Sandy-River-Tal nach Louisville, Kentucky. Von dieser Zeit an bis zu seinem Tod war er trotz der späteren politischen Karriere in der Öffentlichkeit als General Garfield bekannt.
==== Schlacht von Shiloh und Wahl in das Repräsentantenhaus (1862) ====
In Louisville angekommen, erhielt Garfield das Kommando über die 20. Brigade samt dem Befehl, sich mit seinen Truppen bei Pittsburg Landing am Westufer des Tennessee Rivers einzufinden, wo General Ulysses S. Grant eine große Armee aufstellte. Als am Morgen des 6. April 1862 die Schlacht von Shiloh am Sammelpunkt der Unionsarmee begann, waren Buell und Garfield noch mehr als 50 km vom Kampfgeschehen entfernt. Nach einem Gewaltmarsch ohne Schlaf erreichte Garfields Brigade am Vormittag des nächsten Tages Pittsburg Landing. Als sie an der Frontlinie eintrafen, hörten sie ihre Kameraden jubeln und sahen die Rebellen fliehen; ohne dass sie noch in den Kampf eingreifen konnten, war die Schlacht entschieden.
Nach dem Sieg übernahm General Henry Wager Halleck als Oberbefehlshaber der Unionsarmee auf dem westlichen Kriegsschauplatz die Truppen und marschierte auf Corinth, Mississippi. Halleck bewegte sich aus Angst vor befestigten Stellungen der Konföderierten äußerst vorsichtig und beständig eingrabend, so dass sich der Anmarsch bis Ende Mai hinzog. Während dieser Zeit erlitt die Brigade Garfields durch Fieber aufgrund von Nässe und ständiger Erdarbeiten hohe Verluste. Als die Unionsarmee endlich vor der Stadt stand, waren die Konföderierten unter General Pierre Gustave Toutant Beauregard schon vollständig abgezogen, womit die Erste Schlacht um Corinth nicht nur in den Augen Garfields ein unwürdiges und frustrierendes Ende fand. Wie viele andere Kameraden auch warf er Absolventen von West Point, wie Halleck einer war, mangelnden Kampfeswillen vor, weil sie insgeheim Anhänger der Sklaverei seien.Aufgrund seiner Bekanntheit drängten ihn Freunde und Wähler, bei den Primaries für den 38. Kongress der Vereinigten Staaten gegen den bisherigen Repräsentanten John Hutchins anzutreten. Typischerweise scheute er eine aktive Bewerbung, gab keine verbindliche Antwort und überließ das weitere Vorgehen seinen Anhängern, die sofort eine Wahlkampforganisation für ihn auf die Beine stellten. Garfield bewegte sich derweil mit der 20. Brigade Richtung Chattanooga, ohne Feindkontakt zu haben. Unterwegs wurde er erstmals mit Massen ehemaliger Sklaven konfrontiert und gelangte durch diese Erfahrung zu der Überzeugung, dass die Union nur durch die Zerschlagung der Pflanzer-Klasse wiederhergestellt werden könnte. Im Spätsommer erkrankte Garfield an Gelbsucht, wurde Anfang August vom Dienst freigestellt und nach Hiram transportiert. Am 2. September siegte er in einem knappen Rennen gegen Hutchins auf dem Nominierungsparteitag und im Oktober bei den Kongresswahlen.
==== Auf der Suche nach einem neuen Kommando in Washington ====
Weil seine Sitzungsperiode im Repräsentantenhaus erst im Dezember 1863 anstand und er sich kurz nach seiner Nominierung soweit erholt hatte, um in den aktiven Militärdienst zurückzukehren, begab er sich Anfang September 1862 nach Washington, D.C., wohin ihn das Kriegsministerium berufen hatte. Dort sollte ihm ein neues Kommando zugewiesen werden. Das erste Angebot von Minister Edwin M. Stanton, das eine Verwendung im Westen Virginias vorsah, schlug er aus, auch weil er auf eine Wiedervereinigung mit seinem Regiment auf dem Cumberland Gap hoffte. In der Suche nach einem attraktiven Kommando fand er in Finanzminister Salmon P. Chase einen Verbündeten und Freund. Wenig später wurde er dauerhaft der Hausgast von Chase. Angesteckt durch den Finanzminister und seine hochrangigen Besucher, unter ihnen Politiker aber auch Gelehrte, begeisterte sich Garfield für Finanzpolitik und studierte während seiner Wartezeit auf ein neues Kommando die einschlägige Literatur. Er wurde zu einem Anhänger von „ehrlichem“ Hartgeld samt Goldstandard und stand der unlängst begonnenen Ausgabe von Dollar-Banknoten skeptisch gegenüber, auch wenn er sie zur Finanzierung des Bürgerkriegs als unvermeidlich ansah. Diese Auffassung wurde mit der Zeit zu einem Dogma, dem er mit großem Eifer folgte und das ihn kennzeichnete. Während dieser Phase begann er sich dem Parteiflügel der radikalen Republikaner zuzuordnen.Während aus unterschiedlichen Gründen immer noch kein neues Kommando zustande kam, setzte ihn das Kriegsministerium Ende des Jahres als Jurymitglied in den Militärgerichtsverfahren gegen die Generale Irvin McDowell und Fitz-John Porter ein. Als sich das Tribunal gegen Porter hinzog, der sich wegen seines Verhaltens bei der Zweiten Schlacht am Bull Run verantworten musste, begann Garfield damit, die Werke des von ihm bewunderten Friedrich des Großen zu übersetzen. Kurz vor der Fertigstellung dieses Buchprojektes erhielt er Mitte Januar 1863 endlich einen Dienstposten zu seiner Zufriedenheit; er wurde der von Generalmajor William Starke Rosecrans geführten Army of the Cumberland („Cumberland-Armee“) zugeteilt.
==== In der Army of the Cumberland ====
Ende Januar 1863 traf Garfield im Hauptquartier der Army of the Cumberland in Murfreesboro, Tennessee ein, wo er auf Rosecrans traf. Er verstand sich so gut mit dem umtriebigen Rosecrans, dass dieser ihn nicht aus seiner nächsten Umgebung in ein Feldkommando entließ, sondern Ende Februar zu seinem Chef des Stabes ernannte. Zum Widerwillen einiger Offiziere, die in ihm einen Informanten für die radikalen Republikaner sahen, entfaltete Garfield aufgrund seiner engen Beziehung zu Rosecrans mehr Einfluss auf die Organisation der Cumberland-Armee als in dieser Dienststellung zu dieser Zeit im amerikanischen Militär üblich war. Bis auf wenige Ausnahmen hörte der Armeechef auf seinen Rat. Garfield genoss an seiner Position vor allem, dass sie ihm den Entwurf von Strategien ermöglichte, ohne sich dabei mit West-Point-Absolventen auseinandersetzen zu müssen. Deren Militärdoktrin orientierte sich an der Kriegsführung des 18. Jahrhunderts und den Werken von Antoine-Henri Jomini, während Garfield erkannte, dass der Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten mit militärischen Mitteln allein nicht beendet werden konnte, sondern eine politische Lösung in Form der Sklavenbefreiung verlangte. Auch verstand er, dass sich der amerikanische Bürgerkrieg nicht auf Armeen beschränken ließ, weil die Sklavenhaltergesellschaft mit Gewalt zerschlagen werden musste.Nachdem Rosecrans monatelang keine Anstalten machte, der im nicht weit entfernten Tullahoma positionierten Army of Tennessee unter Braxton Bragg nachzusetzen, die er noch Anfang des Jahres in der Schlacht am Stones River besiegt hatte, wurde Garfield immer unzufriedener. Wenigstens konnte er ihn zu einem Angriff auf die Nachschublinien der Konföderierten überreden. Zu Garfields Enttäuschung wurde jedoch nicht er, sondern Oberst Abel D. Streight Ende April mit dem Überfall betraut. Dieser endete in einem Fehlschlag, als die gesamte Kavallerie-Einheit gegen General Nathan Bedford Forrest kapitulierte. Anfang Juni bewegte Garfield Rosecrans endlich zu einer Offensive der gesamten Armee, die im letzten Moment aber auf Drängen hoher Offiziere abgesagt wurde. Er erhielt den Auftrag, in einem Bericht alle Argumente zusammenzufassen, die für einen Angriff auf die Tennessee-Armee sprachen. Garfield führte in diesem Text genaue Kalkulationen an, die eine geringere Truppenstärke der Konföderierten nahelegten. Sein Schlüsselargument war, dass selbst bei einem „Unentschieden“, also einem kampflosen Rückzug Braggs, die Südstaaten eine moralische und psychologische Niederlage erlitten hätten. Rosecrans ließ sich überzeugen und am 24. Juni setzte sich die Cumberland-Armee in Bewegung.Über den schwierigsten, aber am schwächsten verteidigten Pass Manchester Gap stieß der Großteil der Army of the Cumberland auf Tullahoma vor, während eine Kavallerie-Brigade unter Oberst John T. Wilder die Nachschublinien der Konföderierten abschnitt und kleinere Einheiten zwei weitere Pässe attackierten. Durch diese Operation glaubte sich Bragg mit mehreren Armeen konfrontiert und befahl den Rückzug über den Tennessee River Richtung Chattanooga. Als Rosecrans am 3. Juli Tullahoma nahm, fand er es daher verlassen vor. Entgegen dem Rat Garfields, der sich für eine sofortige Verfolgung der Tennessee-Armee aussprach, hielt Rosecrans fürs Erste die Stellung. Garfield machte seinen Unmut über diese Verzögerung Ende Juli in einem vertraulichen Brief an Chase Luft. Nach seinem Tod gelangte der Brief an die Öffentlichkeit und wurde von vielen als Vertrauensbruch angesehen und schadete seinem Ansehen. Allerdings sah sich Rosecrans schon vor dem Eintreffen von Garfields Schreiben in Washington enormer Kritik ausgesetzt. Erst auf Druck des Kriegsministeriums setzte sich Rosecrans wieder in Bewegung und überquerte den Tennessee River am 29. August an mehreren Stellen südlich und westlich von Chattanooga. Bragg zog seine Armee am 8. September aus Chattanooga ab und verbarg sie in den nahegelegenen Appalachen.
==== Schlacht von Chickamauga ====
Ohne von der gegnerischen Position zu wissen, schlug Rosecrans in Chattanooga sein Hauptquartier auf. Mitte September mehrten sich die Anzeichen, dass Bragg nicht weit entfernt lag und die verstreuten Einheiten der Cumberland-Armee wurden wieder zusammengezogen. Am Morgen des 19. September trafen die Armeen im Chickamauga Creek aufeinander, wobei der erste Tag der Schlacht keine Entscheidung brachte. Über eine missverständliche Order von Rosecrans, die nicht wie üblich von Garfield, sondern von Major Frank Bond schriftlich fixiert wurde, entstand am nächsten Tag eine Lücke in der Aufstellung der Divisionen, in die die Konföderierten unter der Führung von Generalleutnant James Longstreet vorstießen. Im Zentrum des verhängnisvollen Angriffs lag das Hauptquartier der Unionsarmee, so dass sich Rosecrans und Garfield zur Flucht gezwungen sahen. Während sich der Armeechef nach Chattanooga zurückzog, schlug sich Garfield zum linken Flügel durch, wo Generalmajor George Henry Thomas die Stellung hielt und einen weiteren Vormarsch Longstreets für Erste verhindern konnte. Dieser gefahrvolle Ritt zu Thomas wurde später ein Teil Garfields politischer Legende. Als Resultat der Schlacht von Chickamauga verteidigte die Cumberland-Armee zwar ihre Position in Chattanooga, war aber von der Army of Tennessee fast eingekesselt.Am 23. September berichtete Garfield, auch in Sorge um seine eigene militärische Karriere, dem Finanzminister per Telegramm von ihrer dramatischen Situation und löste damit eine Rettungsaktion durch Stanton aus, der 20.000 Mann Verstärkung nach Chattanooga entsandte. Die Belagerung war noch im Gange, als Garfield zum Rapport nach Washington beordert wurde. Noch auf dem Rückweg erfuhr er von der Ablösung Rosecrans’ durch Thomas. Obwohl diese Entscheidung von Grant aufgrund seiner persönlichen Lageeinschätzung getroffen wurde, hielt sich in den folgenden Jahren hartnäckig das in späteren Wahlkämpfen gegen ihn instrumentalisierte Gerücht, Garfield trage für diese Zurückstellung eine Mitverantwortung. Laut dem Biographen Allan Peskin war es vor allem der vom Kriegsministerium zur Beobachtung Rosecrans’ bestimmte Charles A. Dana, der mit seinen Berichten dessen Desavouierung betrieben hatte. Dennoch sei davon auszugehen, dass Garfields Rapport an Stanton weniger günstig für Rosecrans ausgefallen sei, als er diesem zugesichert habe. In Washington angekommen, wurde er zum Generalmajor befördert und entschloss sich nach einem Gespräch mit Lincoln, der ihm zusicherte, mehr als genug Generale zur Verfügung zu haben, seinen Sitz im Repräsentantenhaus einzunehmen.
=== Repräsentantenhaus (1863–1880) ===
==== 38. Kongress (1863–1865) ====
Weil ein Putschversuch der durch Sezession und Bürgerkrieg demoralisierten Demokraten befürchtet wurde, startete der 38. Kongress am 6. Dezember 1863 in so bedrohlicher Atmosphäre, dass Garfield verdeckt einen Revolver trug. Die Republikaner bildeten eine eher lose Gruppierung, die einzig durch die gemeinsame Kriegsunterstützung zusammengehalten wurde. Ihre Parteiführer im Haus waren allesamt radikaler gesinnt als der Präsident. Am meisten Gewicht hatten bei den radikalen Republikanern die Stimmen von Thaddeus Stevens, der dem wichtigen Committee on Ways and Means („Mittel-und-Wege-Komitee“) vorstand, Robert Cumming Schenck und Henry Winter Davis. Garfield war das jüngste Kongressmitglied und gewann anfangs vor allem wegen seines jugendlichen Aussehens Aufmerksamkeit. Einerseits fand er durch seine gesellige und freundliche Art schnell sozialen Anschluss, andererseits verärgerte er die Parteikollegen, indem er mitunter gegen die eigene Fraktion und frühere Aussagen stimmte. Rasch suchte Garfield die Konfrontation mit Stevens, der ihn aber klassisch ausmanövrierte und eine Bundesmittelzuweisung für den im Kongresswahlbezirk von Garfield liegenden Hafen von Ashtabula verhinderte. Eine erste politisch bedeutsame politische Freundschaft schloss er mit Schenck, während Davis zu seinem Mentor und Vorbild wurde. Garfield war Mitglied im United States House Committee on Armed Services („Militärausschuss des Repräsentantenhauses“), dem Davis vorstand. Dieser Kongressausschuss hatte wegen des Bürgerkriegs eine besonders große Bedeutung und Arbeitsdichte.Schenck betraute Garfield mit der Überarbeitung des Wehrpflichtgesetzes, das in der Union extrem unpopulär war. Anders als viele seiner Fraktionskollegen störte er sich vor allem an zwei Punkten der bisherigen Bestimmung: der Möglichkeit, sich vom Dienst in der Nordstaaten-Armee über einen Ersatzmann freizukaufen, und am überregionalen Handel von lokalen „Wehrpflichtquoten“ zwischen unterschiedlichen Wahlbezirken. Nachdem der erste Gesetzesentwurf von Garfield im Juni 1864 im Haus gescheitert war, machte Lincoln persönlich den Ausschuss auf die Dringlichkeit dieses Vorhabens aufmerksam. Nach einigen Konzessionen an die Gegner fand die neue Form des Wehrpflichtgesetzes eine Mehrheit im Kongress. Eine wesentliche Änderung war, dass nun ein Freikauf vom Wehrdienst nicht mehr möglich war.Während dieser Phase seiner politischen Laufbahn trat Garfield für eine Stärkung der Bundesgewalt ein, auch auf dem Felde des Eisenbahnbaus. Mit seinen Ansichten zur Südstaatenpolitik gehörte er zum radikalen Flügel der radikalen Republikaner. So sprach er sich für die Enteignung der rebellierenden Plantagenbesitzer aus. Für erstes Aufsehen sorgte er Anfang April 1864 in einer Debatte mit dem demokratischen Copperhead („Kupferkopf“) Alexander Long, den er als Konföderierten bloßstellte, als dieser sich für ein Ende des Bürgerkriegs ausgesprochen hatte. Von Lincoln hatte er eine ausgesprochen niedrige Meinung, weshalb er seiner Wiederwahl in diesem Jahr ambivalent gegenüberstand. Als der Präsident Chase nicht vor Korruptionsvorwürfen von Francis Preston Blair junior Ende April in Schutz nahm, sondern aus dem Kabinett entfernte, stieg seine Verachtung für diesen umso mehr. Obwohl in Garfields Kongresswahlbezirk einige gegen das neue Wehrpflichtgesetz murrten, Gerüchte über seinen angeblich lasterhaften Lebenswandel in der Hauptstadt im Umlauf waren und er einräumte, dass Lincoln nicht seine erste Wahl als Präsident sei, nominierte ihn die lokale Republican Convention wieder als Abgeordneten für den 39. Kongress. In der folgenden Wahl besiegte er den demokratischen Konkurrenten mit einem Stimmenverhältnis von 3:1.Insgesamt konnte er in seiner ersten Amtszeit im Kongress nur wenig Erfolge vorweisen und war unter den Journalisten und Besuchern des Kapitols besser gelitten als in seiner eigenen Fraktion. Das sich abzeichnende Ende des Sezessionskriegs führte zudem zu einem Bedeutungsverlust des Militärausschusses. Aus diesen Gründen plagten ihn in der zweiten Sitzungsperiode des 38. Kongresses ab Dezember 1864 Selbstzweifel und er dachte über berufliche Alternativen nach. Unter anderem zog er eine Sozietät mit dem Disciple Jeremiah S. Black in Betracht, während eine ethisch fragwürdig konstruierte Ölbohrunternehmung mit Ralph Plumb zu einem Fehlschlag wurde.
==== 39. Kongress (1865–1867) ====
Mit dem Ende des Bürgerkriegs wurden seine radikalen Ansichten hinsichtlich der Südstaatenpolitik allmählich moderater. Nach dem Attentat auf Lincoln half er dem neuen Präsidenten Andrew Johnson bei der Vermittlung der Freilassung von Alexander H. Stephens, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Konföderierten Staaten. Während zwischen dem Präsidenten und seiner Partei die Entfremdung zunahm, mühte sich Johnson, Garfield als Mittelsmann zu den radikalen Republikanern zu gewinnen. Im Februar 1866 stellte Garfield in seiner wichtigsten Rede zur Frage der Reconstruction klar, dass seiner Ansicht nach die rebellierenden Staaten niemals aus der Union entlassen worden seien, sie aber durch den Bürgerkrieg ihre vollen Rechte verwirkt hätten. Der geeignetste Beweis für ihre Reue sei erbracht, wenn sie den Schwarzen das Wahlrecht einräumten. Damit äußerte er sich gemäßigter als der radikale Flügel um Stevens. Als Johnson wenig später mit seinem Veto für das Ende des unter Lincoln zur Betreuung der befreiten Sklaven eingerichteten Freedmen’s Bureau („Freigelassenen-Agentur“) sorgte, wandte sich auch Garfield vom Weißen Haus ab und kehrte in das Lager der radikalen Republikaner zurück. Von nun an fokussierte er sich auf den Kampf gegen Johnson und die Finanzpolitik, wobei ihm zugutekam, dass er mittlerweile Mitglied im Committee on Ways and Means war.
Dem Zeitgeist entsprechend folgten Garfields wirtschaftspolitische Vorstellungen weitgehend dem Leitbild des Laissez-faire. Seine erste Rede im Kongress zur Geldpolitik legte den Ton aller noch folgenden fest. Garfield forderte ein Ende des Umlaufs von Banknoten (Greenbacks), deren Tauschwert zum Gold starken Schwankungen unterworfen war, und die Rückkehr zu einer auf Münzgeld beruhenden Wirtschaft. Mit dieser Haltung kollidierte er mit dem radikalen Flügel um Stevens und machte sich in seinem Wahlbezirk unbeliebt, denn insbesondere in Ohio und den anderen nordwestlichen Bundesstaaten war die mit Papiergeld verbundene Inflationspolitik populär. Dennoch blieb er ein Verfechter des „ehrlichen“ Hartgelds, das für ihn den Stellenwert eines intellektuellen und moralischen Prinzips hatte. Weniger klar gestaltete sich Garfields Position zur Zollpolitik, wo er sich mehr von politischen Erwägungen als von ideologischen Überzeugungen leiten ließ. Im Interesse der Landwirtschaft und Industrie seines Wahlbezirks votierte er für Schutzzölle auf Lein und Eisenschienen.Wegen finanzieller Sorgen sah sich Garfield dazu gezwungen, als Anwalt zu praktizieren. Sein erster Auftritt im Gerichtssaal fand im März 1866 vor dem Obersten Gerichtshof im Fall Ex parte Milligan statt. Er vertrat mit Black den klagenden Copperhead Lambdin P. Milligan, der in Indiana kurz vor Ende des Sezessionskriegs von einem Militärgericht wegen Landesverrat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Milligan machte geltend, dass eigentlich die zivile Gerichtsbarkeit für seinen Fall zuständig gewesen sei. Letztendlich folgte der Oberste Gerichtshof dieser Argumentation. Die Wiederwahl in den 40. Kongress gelang Garfield im Oktober 1866 mit einem im Vergleich zu 1864 etwas schwächeren Stimmenverhältnis von 5:2.
==== 40. Kongress (1867–1869) ====
Beunruhigt von dem Vorhaben der radikalen Republikaner, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson anzustrengen, kehrte er in die Hauptstadt zurück. Nachdem die Südstaaten mit Rückendeckung des Weißen Hauses den 14. Zusatzartikel abgelehnt hatten, sprach sich Garfield für eine strikte militärische Verwaltung der ehemaligen Konföderierten aus. Während der Sitzungspause im Sommer 1867 unternahm Garfield mit seiner Frau eine 14-wöchige Europareise, in deren Verlauf er auch eine Debatte im House of Commons zum Reform Act 1867 verfolgte und John Stuart Mill, Benjamin Disraeli und William Ewart Gladstone sah. Als persönlichen Höhepunkt erlebte er die Besichtigung der antiken Stätten in Rom.Zurück in Amerika blieb Garfield der Vorsitz im Committee on Ways and Means verwehrt und zu seiner Enttäuschung erhielt er stattdessen vom Sprecher des Repräsentantenhauses (Speaker of the United States House of Representatives) Schuyler Colfax den Vorsitz über den Militärausschuss. Dessen Hauptaufgabe bestand darin, die Armee auf Friedensgröße zurückzufahren. Typischerweise veranlasste Garfield eine breit angelegte Organisationuntersuchung, um die zukünftigen Strukturen nicht nur schlanker, sondern auch effizienter zu gestalten. Ferner versuchte er, den südstaatenfreundlichen Militärkommandeur von Texas und Louisiana General Winfield Scott Hancock zu entmachten. Im Juli 1868 scheiterten Garfields Vorschläge zur Truppenreduzierung aufgrund seines ungeschickten Vorgehen im Kongress am Widerstand der Ex-Generale Benjamin Franklin Butler und John A. Logan. Zum Ende des 40. Kongresses wurde ein entsprechendes Gesetz aufgrund einer Senatsvorlage verabschiedet, die viele von Garfields Ideen aufgriff. Im Februar 1868 brachte er zwei Gesetze in das Haus ein, die die graduelle Rückkehr zum Hartgeld und die Legalisierung des Goldhandels vorsahen. Die Vorschläge wurden zwar an die zuständigen Ausschüsse zurückverwiesen, aber eines Tages wegweisend für die nationale Finanzpolitik.Nach der Entlassung von Kriegsminister Stanton durch Johnson im Februar 1868 änderte Garfield seine Meinung und befürwortete ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, denn er sah im Vorgehen des Weißen Hauses einen Bruch des Tenure of Office Act („Amtsdauergesetz“), der eine Beteiligung des Senats vorschrieb. Für das knappe Scheitern des Impeachments bei der entscheidenden Abstimmung im Senat im März 1868 machte Garfield hauptsächlich die Prozessführung von Chase verantwortlich. Abgesehen von einer lokalen Oppositionsbewegung im industriell geprägten Warren, der Garfields Schutzzollpolitik zu weich war, gewann er ohne Probleme die Nominierung für den 41. Kongress und siegte bei den Kongresswahlen mit einem Stimmverhältnis von 2:1.Im Dezember 1868 scheiterte er mit einem Gesetzesvorschlag, der das Bureau of Indian Affairs („Amt für indianische Angelegenheiten“) unter militärische Kontrolle stellte. In der Debatte offenbarte er eine an Verachtung grenzende Einstellung zu den Indianern. Für Garfield wurde dieses Vorhaben zu einer Obsession und zum Ärger des Hauses setzte er diesen Vorschlag immer wieder auf die Tagesordnung, ohne dass es zu einer Verabschiedung kam.
==== 41. Kongress (1869–1871) ====
Der Speaker des 41. Kongresses James G. Blaine gab Garfield nicht den ersehnten Vorsitz im Committee on Ways and Means, sondern im Committee on Banking and Currency („Ausschuss für Banken und Währung“). Im Sommer 1869 leitete er den Unterausschuss zur Vorbereitung und Durchführung der Volkszählung im nächsten Jahr (United States Census 1870). Durch diese Tätigkeit wurde Garfield zu einem starken Fürsprecher statistischer Analysen in vielfältigen Feldern. Mit seinen Ideen zur Modernisierung des Census, die unter anderem einen Ersatz der Marshals als Volkszähler durch Fachpersonal vorsahen, scheiterte er im Senat. Bezüglich des neuen Präsidenten Grant zeigte er wenig Enthusiasmus und ihr Verhältnis blieb unterkühlt. Zu einem ersten Konflikt kam es vor dem Hintergrund des Spoilssystem („Beutesystem“), bei dem zwischen jeder neuen Administration und dem Kongress die Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst ausgehandelt wurde. Garfields Wunsch nach einem Dienstposten für einen Anhänger in der Post (United States Postal Service) blieb vom Weißen Haus unerhört. In Garfields Sinne dagegen war die Haltung des Präsidenten zur Hartgeldpolitik und die Ernennung seines Freundes Cox zum Innenminister.
Im September 1869 führten Spekulationen von James Fisk und Jay Gould auf dem Goldmarkt zum Schwarzen Freitag von 1869, dem eine Wirtschaftskrise folgte. Besondere Brisanz erhielten diese vom Committee on Ways and Means untersuchte Geschäfte auf dem Goldmarkt dadurch, dass Grants Schwager Abel Corbin darin verwickelt war. Auf Wunsch des Präsidenten lud Garfield Corbin nicht vor und entlastete in seinem Abschlussbericht Grant und dessen Familie. Garfield sah als eigentlichen Grund für die Wirtschaftskrise die auf den Greenbacks beruhende inflationäre Geldpolitik an. Er erarbeitete im Committee on Banking and Currency daher ein neues Bankengesetz, das aufgrund der Komplexität und seines ungeschickten Vorgehens im Kongress im Sommer 1870 scheiterte. Nach der Überarbeitung durch einen anderen Ausschuss wurde das Gesetz schließlich verabschiedet. Bei den Wahlen zum 42. Kongress siegte er, wobei er erstmals ein County an die Demokraten verlor. Da mit Schenck der Vorsitzende des Committee on Ways and Means den Wiedereinzug in das Repräsentantenhaus verpasst hatte, machte sich Garfield erneut Hoffnungen auf diese Position, die sich nicht erfüllten. Vor allem der einflussreiche Horace Greeley hatte sich bei Blaine gegen ihn verwandt, weil er in Garfield einen verkappten Anhänger des Freihandels vermutete.
==== 42. Kongress (1871–1873) ====
Im Dezember 1871 erhielt Garfield den Vorsitz im Committee on Appropriations („Haushaltsausschuss“), dessen wesentliche Aufgabe die Genehmigung von Bundesmitteln für die öffentliche Verwaltung war. Er zeigte in diesem Feld ein für seine Zeit sehr modernes, ganzheitliches Verständnis für Haushaltsplanung. So strebte er eine zentrale und periodische Vergabe der exekutiven Staatsausgaben an, die bis dahin nicht jährlich vom Kongress bewilligt, sondern auf unbestimmte Zeit von jedem Ressort einzeln auf unterschiedlichen Wegen beantragt wurden, was den tatsächlichen Staatshaushalt intransparent machte. Als Vorsitzender im durch überparteiliche und kollegiale Zusammenarbeit gekennzeichneten Haushaltsausschuss eignete er sich eine außergewöhnlich große verwaltungswissenschaftliche Expertise an, die von keinem seiner Amtsvorgänger im Weißen Haus erreicht worden war. Die vier Jahre im Haushaltsausschuss stellten für Garfield den Höhepunkt seiner politischen Karriere im Kongress dar. Er setzte sich in dieser Funktion für die Finanzierung von Wissenschafts- und Bildungsprojekten ein, was die Gründung des United States Geological Survey („Amt für Kartografie der Vereinigten Staaten“) ermöglichte.Die für eine skrupellose Ausnutzung des Spoilssystems stehende und einen großen Einfluss auf das Weiße Haus ausübende Faktion der Stalwarts („Feste, Starke, Mutige“) um Roscoe Conkling, Simon Cameron und Oliver Morton führte bei Garfield zu einer zunehmenden Distanzierung von seiner Partei. Reformorientierte Ökonomen und Publizisten wie Henry Adams zogen Garfield während dieser Zeit auf ihre Seite. Neben Hartgeldpolitik standen sie für niedrige Zölle, eine Amnestie für den Süden und insbesondere eine Verwaltungsreform zur Abschaffung des Spoilssystems zugunsten einer eignungsorientierten Personalauswahl. Folglich stimmte Garfield in der Südstaatenpolitik in einigen Fällen gegen den Präsidenten. Sein Einsatz für die Verwaltungsreform war nur halbherzig, weil er das Spoilssystem an sich nicht ablehnte, sondern nur über die Mühsal klagte, sich als Kongressmitglied der unzähligen Stellenbewerber zu erwehren. Garfield sah die Stellenbesetzung prinzipiell als eine exekutive Aufgabe an, die durch die Einmischung des Kongresses für Korruption anfällig geworden sei. Aus diesen Gründen unterstützte er die halbherzigen Reformbemühungen von Präsident Grant für die öffentliche Verwaltung. Die größte Differenz mit Grant hatte er bezüglich der Zweiten Dominikanischen Republik, deren Annexion das Weiße Haus obsessiv verfolgte, was aber letztendlich im Kongress am Parteiflügel um Charles Sumner scheiterte.Bereits im März 1871 hatte Garfield von Cox erfahren, dass einige Politiker des Reformflügels eine Parteiabspaltung vorbereiteten, um die Wiederwahl Grants zu verhindern. Als die aus diesem Prozess entstehende Liberal Republican Party Anfang 1872 John Sherman als Senator Ohios stürzen wollte, verhielt er sich ihren Avancen gegenüber passiv. Auch in den nächsten Monaten, in denen die neue Partei an Fahrt gewann, scheute er typischerweise eine Entscheidung und überließ das weitere dem Schicksal. Nach dem Verkauf seines Hauses in Hiram lebte er mit seiner Familie ab Juli 1872 die ganze Zeit über in der Hauptstadt. Bei der Präsidentschaftswahl im gleichen Jahr war Garfield erst unschlüssig, wen er unterstützen sollte. Als die Liberal Republicans Greeley zu ihrem Spitzenkandidaten kürten und mit den Demokraten paktierten, stellte er sich wieder hinter den am Ende siegreichen Grant. Garfield selbst erhielt in seinem Kongresswahlbezirk mehr als doppelt soviel Stimmen wie sein Gegner Milton Sutliff.
==== 43. Kongress (1873–1875) ====
Noch vor Beginn des 43. Kongresses wurde Garfield in den an September 1872 publik werdenden Korruptionsskandal um die vom Repräsentanten Oakes Ames gegründete Baufirma Crédit Mobilier of America hineingezogen, mit deren Hilfe die Direktoren der Union Pacific Railroad im Rahmen des transkontinentalen Eisenbahnbaus erhebliche Geldsummen in die eigene Tasche wirtschafteten und Kongressabgeordnete bestachen. Auf der Liste der betroffenen Politiker fand sich auch der Name Garfields, der deshalb im Januar 1873 vor den von Luke P. Poland geleiteten Untersuchungsausschuss aussagen musste. Dort gab er an, von Ames lediglich Crédit-Mobilier-Aktien zum Kauf angeboten bekommen zu haben, die ihm aber zu teuer gewesen wären. Ames selbst entlastete ihn mit seiner ersten Aussage, änderte diese aber einige Wochen später und beschädigte damit Garfields Ruf erheblich. Laut seiner zweiten Aussage habe Garfield von ihm die Aktien umsonst erhalten und erst später mit den ausgezahlten Dividenden zurückerstattet. Der Untersuchungsausschuss folgte dieser Version der Ereignisse, sah aber von einer Sanktionierung Garfields ab. Der Korruptionsskandal um Crédit Mobilier gilt als einer der berüchtigsten in der Geschichte der Vereinigten Staaten.Als noch verheerender für Garfields Ansehen erwies sich das von ihm Ende Februar 1873 eingebrachte Haushaltsgesetz für die Ausgaben des Bundes. Butler versah es im Repräsentantenhaus kurz vor Auslaufen der Sitzungsperiode mit einem Zusatz, der erhebliche Gehaltserhöhungen für den Präsidenten und die Kongressabgeordneten vorsah. Garfield kämpfte dagegen an, konnte es aber im entscheidenden Kongressausschuss nur geringfügig abschwächen. Weil diese in der Öffentlichkeit als salary grab („Gehaltsraub“) apostrophierte Maßnahme mit seinem Haushaltsgesetz verbunden war, wurde vor allem er dafür verantwortlich gemacht. Etliche Ortsverbände der Republikaner in seinem Wahlbezirk forderten ihn zum sofortigen Rücktritt auf. Um den Unmut zu zerstreuen, verzichtete Garfield auf seine Gehaltserhöhung. Als Ende des Jahres der Kongress wieder tagte, sah dieser sich mit der Panik von 1873 konfrontiert. Gemeinsam mit Finanzminister Benjamin Bristow überzeugte er den Präsidenten davon, auf die Depression nicht mit einem inflationären Konjunkturprogramm zu reagieren, sondern lediglich eine Änderung der Konkursgesetze vorzunehmen und die Ausgaben zu kürzen. Infolgedessen verhinderte Grant die vom Kongress beschlossenen Wirtschaftshilfen mit einem Veto. Aufgrund der Skandale vom Frühjahr 1873 und seiner unpopulären Sparpolitik musste Garfield eine anstrengendere Wiederwahlkampagne führen als gewohnt. Die Nominierung sicherte er unter anderem, indem er dem Sohn des innerparteilichen Konkurrenten Benjamin Wade eine Anstellung in einer Bundesbehörde verschaffte und für Ashtabula die Bundesmittel-Förderung gewährleistete. Nach seiner Bestätigung auf der Primary im August 1874 und einer aufreibenden Wahlkampftour durch den gesamten Kongresswahlbezirk verteidigte Garfield seinen Sitz im Repräsentantenhaus, wobei er davon profitierte, dass eine republikanische Abspaltung und die Demokraten sich nicht auf einen Gegenkandidaten einigen konnten.
==== 44. Kongress (1875–1877) ====
Spätestens als Anfang 1875 in Louisiana Bundestruppen das State Capitol besetzten und genügend demokratische Abgeordneten abführten, um eine republikanisch kontrollierte State Legislature herzustellen, sah Garfield die Reconstruction als gescheitert an. Er fürchtete um die bis dahin erreichten Fortschritte in der Emanzipation der Afroamerikaner, zumal die öffentliche Meinung in den Nordstaaten dieses Themas zunehmend überdrüssig war. Im demokratisch dominierten 44. Kongress verlor Garfield den Vorsitz im Haushaltsausschuss und saß nun stattdessen im Mittel-und-Wege-Komitee. Dem Gesetzesvorschlag der Demokraten, hochrangigen früheren Konföderierten Amnestie und eine Rückkehr in die Politik zu gewähren, gab er mit einer national viel beachteten Rede im Frühjahr 1875 Kontra. Sie wurde vom Republican National Committee zur Verwendung im kommenden Präsidentschaftswahlkampf millionenfach nachgedruckt. Obwohl Blaine ihm damals nicht den erhofften Sitz im Mittel-und-Wege-Komitee gegeben hatte und er ahnte, dass der Reformer Bristow möglicherweise der geeignetere Mann sei, unterstütze Garfield ersteren im Rennen um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat. Weitere Bewerber waren die Stalwarts Conkling und Morton sowie Ohios Gouverneur Rutherford B. Hayes. Garfield signalisierte Hayes seine Unterstützung mit dem Hintergedanken, die Delegation Ohios geschlossen gegen Conkling, Bristow und Morton zu halten und im richtigen Moment auf die Seite Blaines zu ziehen.Wenige Tage vor der Republican National Convention von Juni 1876 in Cincinnati erlitt Blaine einen Zusammenbruch und befand sich danach in einem nahezu komatösen Zustand. Zwar wurde seine Kandidatur aufrechterhalten, aber nach sechs Wahldurchgängen schwenkte die Mehrheit in das Lager von Hayes, der in sein Präsidentschaftswahlprogramm auf Drängen Garfields die Rückkehr zum Münzgeld aufnahm. Weil Blaine kurz zuvor in den Senat gewählt worden war, erhielt Garfield von der Partei die Position des Sprechers des Repräsentantenhauses zugesichert, sollten die Republikaner im nächsten Kongress wieder die Mehrheit zurückgewinnen. Im Wahlkampf engagierte er sich vor allem für Hayes und weniger in seinem eigenen Kongressbezirk, den er mit etwas mehr als 60 % aller Stimmen gewann.
==== Kompromiss von 1877 ====
Am Abend der Präsidentschaftswahl sah Garfield in den ersten Ergebnissen, die auf einen Sieg des Demokraten Samuel J. Tilden hinwiesen, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Alarmiert fochten die Republikaner die Stimmenauszählungen in Florida, South Carolina und Louisiana an. Zu diesem Zweck entsandte ihn Grant am nächsten Morgen als Wahlbeobachter nach Louisiana, wo die Demokraten einen Vorsprung von mehr als 7000 Stimmen hatten. Schon kurz nach seiner Ankunft war er sich sicher, dass Hayes diesen Bundesstaat gewonnen hatte, und sah sich durch die Berichte von Manipulationen und gewalttätigen Übergriffen, mit denen Republikaner und Afroamerikaner an der Stimmabgabe gehindert worden waren, in seiner Überzeugung bestätigt. Der Leiter der Delegation, Sherman, schickte Garfield zu einer genaueren Untersuchung der Vorwürfe in das West Feliciana Parish, wo er die Vorwürfe bestätigende Zeugenaussagen aufnahm. Am Ende verwarf das zentrale Wahlleiterkomitee des Bundesstaates so viele demokratische Stimmen, dass Louisiana im Electoral College an Hayes ging. Ähnliches passierte mit Florida und South Carolina, so dass Hayes im Wahlmännerkollegium auf eine Stimme Mehrheit kam. Die Demokraten sprachen im Gegenzug von Wahlbetrug und Korruption der Wahlleiterkomitees. Insgesamt war die politische Lage so angespannt, dass sich in der Nation Sorge vor einem erneuten Bürgerkrieg breit machte.In dieser festgefahrenen Situation, in der nicht klar war, ob die Wahlmänner aus Florida, South Carolina und Louisiana am Ende auf Grundlage der ersten oder der durch die Wahlleiterkomitees korrigierten Resultate votierten, bemühte sich Garfield mit Hayes Zustimmung darum, einen Keil zwischen Nord- und Süddemokraten zu treiben. Dazu sprach er sich im Kongress im Dezember 1876 für eine Subvention des texanischen Hafens von Galveston mit Bundesmitteln aus, was von den strikt an Austerität orientierten Nordstaaten-Demokraten abgelehnt wurde. Er tat dies auch im eigenen Interesse, denn er brauchte Stimmen der Südstaaten-Demokraten im demokratisch dominierten 45. Kongress, um zum Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt zu werden. Mit Unterstützung der Stalwarts richteten die Demokraten im Kongress schließlich eine 15-köpfige Wahlkommission zur Überprüfung der Präsidentschaftswahlergebnisse ein, die aus je fünf Mitgliedern des Repräsentantenhauses, Senats und Obersten Gerichtshof bestand. Das ab 31. Januar 1877 tagende Gremium war paritätisch mit Demokraten und Republikanern besetzt, wobei der als unabhängig geltende Bundesrichter Joseph P. Bradley die entscheidende Stimme hatte. Garfield, der die Einrichtung dieser Kommission bis zuletzt bekämpft hatte, wurde zu einer ihrer Mitglieder bestimmt. Nach etwas mehr als zwei Wochen entschied das Gremium dank des Votums von Bradley mit 8:7 Stimmen für eine Anerkennung der korrigierten Wahlresultate aus den fraglichen Bundesstaaten. In aufgeheizter Stimmung, Garfield konnte sich nur mit Personenschutz in der Öffentlichkeit bewegen, initiierten die Demokraten daraufhin einen Filibuster im Repräsentantenhaus, um die Abstimmung im Electoral College über den 4. März hinaus zu verschieben, an dem die Amtszeit Grants endete. Es drohte somit eine Verfassungskrise ohne amtierenden Präsidenten. Am 26. Februar nahm Garfield an einem Treffen von Republikanern aus Ohio mit Südstaaten-Demokraten teil, auf dem der Kompromiss von 1877 geschlossen wurde. Gegen die Zusicherung, dass Hayes als Präsident die von republikanischen Nordstaatlern, den sogenannten Carpetbaggern („Teppichtaschenträger“), geführte Regierung Louisianas nicht länger unterstützen werde, ließen die Demokraten den Filibuster auslaufen. Am Morgen des 1. März konnten im Repräsentantenhaus schließlich unter Mitwirkung von Garfield als informellen Führer der Republikaner die Stimmen des Electoral College ausgezählt und durch den demokratischen Sprecher Samuel J. Randall offiziell bekanntgegeben werden.
==== 45. Kongress (1877–1879) ====
Durch die Berufung von Sherman in das Kabinett wurde dessen Sitz im Senat frei, auf den Garfield ein Auge geworfen hatte. Hayes bat ihn jedoch, Stanley Matthews den Vortritt zu lassen, weil er ihn als Kandidaten für den Sprecher des Repräsentantenhauses benötigte. Schon bald entfremdete sich Garfield vom neuen Präsidenten. So war er mit einigen Personalien im Kabinett nicht einverstanden, aber vor allem störte er sich an Hayes’ Handhabung der Verwaltungsreform sowie dessen sprunghafter Aussöhnungspolitik mit dem Süden. Letztere war für Garfield von besonderer Bedeutung, da davon seine Mehrheit für die Wahl zum Speaker abhing. Obwohl der Präsident als Charmeoffensive viele Stellen im öffentlichen Dienst in den Südstaaten an Demokraten vergeben hatte, stimmten im Oktober 1877 alle Repräsentanten strikt nach Parteizugehörigkeit ab, womit Randall in dieser Position bestätigt wurde. Nachdem sich Hayes sowohl mit der Blaine- als auch der Conkling-Faktion überworfen hatte, fungierte Garfield als Mittelsmann des Präsidenten zum Kongress. Als Minority Leader („Minderheitsführer“) im Repräsentantenhaus vermied er für ein halbes Jahr lang die Einberufung eines Caucus, damit es nicht zum offenen Bruch zwischen den Republikanern im Kongress und dem Weißen Haus kam. Während fast alle Republikaner aus dem Mittleren Westen den Gesetzesvorstoß des Demokraten Richard P. Bland im November 1877 zur Prägung von Silbermünzen begrüßten, was den Bimetallismus als Währungssystem einführte, stand er an der Seite von Hayes in dessen vergeblichem Kampf gegen den Bland-Allison Act. Bei den Wahlen zum 46. Kongress der Vereinigten Staaten im Oktober 1878 siegte er trotz des Gerrymanderings seines Wahlbezirks durch die demokratische Mehrheit der State Legislature deutlich gegen die Kandidaten der Demokraten und United States Greenback Party.
==== 46. Kongress (1879–1880) ====
Zu dieser Zeit erreichte Garfield den Höhepunkt seines Einflusses auf den Kongress. Dabei agierte er laut Peskin weniger als eine durch ihren Willen wirkende politische Führungsfigur, sondern mehr als jemand, der andere durch Argumente überzeugte. Als größte Herausforderung stellte sich nach wie vor die Aussöhnung zwischen Partei und Präsident dar, die durch Hayes Verzicht auf eine zweite Amtszeit erschwert wurde. Als Lame Duck („lahme Ente“) öffnete Hayes somit dem Kampf um die Nachfolge Tür und Tor. Am Ende war es vor allem der Kampf gegen die demokratische Mehrheit im Kongress, der die Partei zusammenrücken ließ. Diese versahen das Haushaltsgesetz mit einem Zusatz, der den Einsatz von Bundestruppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei Wahllokalen untersagte, was das letzte Überbleibsel der Reconstruction beseitigte. Anlässlich dieser Gesetzesinitiative hielt Garfield im Repräsentantenhaus Ende März 1879 eine Aufsehen erregende Rede, in der er den Demokraten eine „Revolution gegen die Verfassung und die Regierung“ vorwarf. Diese Wiederbelebung der politischen Gegensätze aus der Zeit des Bürgerkriegs brachte die Republikaner aus der Defensive. Die Demokraten statteten in den nächsten drei Monaten fünf Haushaltsgesetze nacheinander mit einem Zusatz aus und scheiterten jedes Mal am Veto des Präsidenten, das dank Garfields Einsatz im Repräsentantenhaus aufrechterhalten wurde. Weil sich die Hektik im Kongress zunehmend auf die Physis auswirkte, strebte er nach einem Sitz im vergleichsweise geruhsameren Senat, wozu er eine Mehrheit in der State Legislature benötigte. Daher engagierte er sich im Wahlkampf in Ohio, der Ende September mit einem Triumph der Republikaner endete. Sein größter Konkurrent um den Senatsposten Sherman verzichtete auf eine Kandidatur und sicherte sich dafür Garfields Unterstützung für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat im nächsten Jahr. Am 6. Januar 1880 wählte ihn der Kongress Ohios als Nachfolger des ausscheidenden Allen G. Thurman in den Senat des 47. Kongresses der Vereinigten Staaten. Am 25. Mai hielt er seine letzte Rede im Repräsentantenhaus.
=== Republican National Convention in Chicago (1880) ===
Im Vorfeld der Republican National Convention von Chicago galt Grant als der Favorit für die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten und Blaine und Sherman als seine größten Konkurrenten. Die starke Polarisierung der Partei in Stalwarts und ihre Gegner ließ andererseits die Erfolgswahrscheinlichkeit für einen Kompromisskandidaten ansteigen, worauf Garfield unter anderem Jeremiah McLain Rusk schon Anfang 1879 hinwies und seinen Namen ins Spiel brachte. In der Öffentlichkeit schlug er die Avancen aus, verneinte entsprechende Pressemeldungen im Frühjahr 1879 und stellte sich loyal hinter Sherman, aber blieb in Kontakt mit Anhängern in Pennsylvania und Wisconsin, die dort insgeheim Pläne für seine Kandidatur schmiedeten. Dies blieb nicht unbemerkt und im Februar 1880 forderte Sherman von Garfield, seine Anhänger auf Linie zu bringen und eine aktivere Rolle im Wahlkampf. Kurze Zeit später bestimmte er ihn zu seinem Kampagnenführer auf dem Nominierungsparteitag, weil zu dieser Zeit die Kontrahenten für eine Nominierung der Veranstaltung üblicherweise fernblieben. Widerwillig erfüllte Garfield diesen Wunsch und traf eine Woche vor Beginn der Convention am 29. Mai in Chicago ein.Die Ausgangslage war, dass für eine Nominierung 379 Stimmen benötigt wurden und Grant auf etwas über 300 Delegierte zählen konnte. Um die Abweichler aus den großen Blöcken der Bundesstaaten Illinois, New York und Pennsylvania auszuschalten, versuchten die Stalwarts über James Donald Cameron, den Vorsitzenden des Republican National Committee, eine Festlegung auf die Unit Rule („Einheitsregel“) in der Tagungsordnung zu implementieren. Diese Regelung sah eine geschlossene Abstimmung der jeweiligen Delegationen vor, so dass Grant diese drei Bundesstaaten nach dem „Winner-takes-all“-Prinzip komplett zugefallen wären. Hinter den Kulissen brachte Garfield die Anhänger von Sherman und Blaine im National Committee zusammen, die am 1. Juni gegen die Stalwarts den unabhängigen George Frisbie Hoar als Tagungspräsidenten durchsetzten und die Unit Rule nur erlaubten, sollte die am nächsten Tag beginnende Convention mehrheitlich zustimmen. Am 5. Juni lehnte der Parteitag die Unit Rule schließlich ab. Am Abend des gleichen Tages wurden die Nominierungen offiziell bekannt gegeben und mit seiner Rede für Sherman beruhigte Garfield für einige Zeit die aufgeheizte Atmosphäre des Parteitags, zu der nicht nur die Delegierten, sondern auch 15000 Zuschauer beitrugen. Nach diesen ersten Erfolgen bröckelte die gegen Grant gerichtete Einheitsfront der sogenannten Half-Breeds („Halbblüter, Mischlinge“), da weder Blaine noch Sherman bereit waren ihre Ambitionen zurückzustecken. In dieser Lage erreichten Garfield am 6. Juni erste Anfragen auf eine eigene Kandidatur, unter anderem von Benjamin Harrison und der Delegation aus Mississippi. Die Pattsituation bestätigte sich am nächsten Tag, denn nach 28 Abstimmungen mit weitgehend stabilen Stimmanteilen hatte keiner der Kandidaten eine ausreichende Mehrheit. Dies erhöhte den Druck auf Garfield, als Kompromisskandidat der Grant-Gegner in das Rennen einzusteigen.
Nachdem die ersten Abstimmungsrunden am 8. Juni einen negativen Trend für Sherman gezeigt hatten, sahen die Anhänger Garfields den passenden Zeitpunkt für seine Wahl gekommen. Am Ende der 34. Abstimmungsrunde stimmte Wisconsin fast geschlossen für ihn, was für die entscheidende Wende sorgte, als in der nächsten Runde weitere Bundesstaaten diesem Beispiel folgten. In der 36. Abstimmungsrunde erhielt Garfield mit 399 Stimmen die erforderliche Mehrheit, wobei die Delegation Ohios gegen seinen Protest für ihn votierte. Obwohl Sherman ihm wie auch spätere Historiker nie eine aktive Beteiligung in dieses Manöver nachweisen konnte, sah er darin einen Verrat Garfields. Zur Bildung eines ausbalancierten Tickets wurde mit Arthur ein Stalwart zum Vizepräsidentschaftskandidaten auserkoren. Garfield kannte Arthur kaum und lehnte dessen Politik ab. Für die Demokraten gingen Hancock und William Hayden English ins Rennen.
=== Präsidentschaftswahlen 1880 ===
Bis zur Wahl verweilte Garfield überwiegend in seinem Haus in Mentor, Ohio, das er Ende 1876 erworben hatte, weil eine aktive Teilnahme am Wahlkampf für Präsidentschaftskandidaten als unschicklich galt. Er beschränkte sich daher, von seiner Residenz Lawnfield aus eine sogenannte Front Porch Campaign („Veranda-Wahlkampf“) zu führen, in deren Rahmen er täglich auf der Veranda Gäste empfing sowie Ansprachen hielt und der Öffentlichkeit ein harmonisches Familienleben vorführte. So blieb ihm als wichtigstes Mittel der eigenen landesweiten Kampagnenführung der öffentliche Brief, in dem er seine Nominierung akzeptierte (Letter of Acceptance). Nach Konsultationen mit Parteigrößen positionierte er sich in diesem Text im Sinne der damaligen Stimmung insbesondere in Kalifornien gegen chinesische Zuwanderung. Hinsichtlich der zwischen „Stalwarts“ und dem Reformflügel äußerst umstrittenen Verwaltungsreform formulierte er nur vage Versprechungen. Einige Reformer wie zum Beispiel Carl Schurz wandten sich daraufhin enttäuscht von Garfield ab. Während des Wahlkampfes bildete Stephen Wallace Dorsey, der Sekretär des Republican National Committee, in Indiana eine der ersten national geführten Kampagnenorganisationen unabhängig von der oft durch Partikularinteressen geleiteten Parteiorganisation des Bundesstaates. Garfields Wahlkampf war in dieser Beziehung richtungsweisend für eine größere Autonomie der nationalen Parteiorganisation von ihren subnationalen Ablegern und eine stärkere Parteiführung durch den Präsidenten. Diese Entwicklung hin zur modernen, auf die Präsidentschaft fokussierten Partei wurde einige Jahre später durch Grover Cleveland vorangetrieben. Die Konzentration der Kampagne auf Indiana hatte Garfield veranlasst, weil er diesem Bundesstaat aufgrund der dortigen Wahlen zur State Legislature wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl besondere strategische Bedeutung zumaß. Die Südstaaten hingegen erhielten von der nationalen Parteiorganisation keine Unterstützung.Schwierigkeiten bereitete zuerst die Einbindung der in Chicago unterlegenen Stalwarts in den republikanischen Wahlkampf, deren Hochburg der wichtige Bundesstaat New York war. Sie versuchten weiterhin die Partei zu kontrollieren und hatten unter anderem gegen Garfields Kandidaten Dorsey als Sekretär des Republican National Committee implementiert. Um den Präsidentschaftskandidaten mit dem Stalwart-Führer Conkling in einem persönlichen Gespräch zu versöhnen, richtete Dorsey am 5. August eine Partei-Konferenz in Manhattan aus. Während Sherman und Blaine sich dort zeigten, ließ sich Conkling entschuldigen und lud Garfield auf seine Privatresidenz in Coney Island ein. Dieser ging auf das Machtspiel nicht ein und verständigte sich mit den anwesenden Stalwarts, wenngleich die getroffenen Absprachen keinen formalen Charakter hatten. So sagte Garfield zu, weder Schurz noch Sherman als Minister aus dem Kabinett Grants zu übernehmen. Im Gegenzug schalteten sich die Stalwarts nun in die Wahlkampagne ein und der Bankier Levi P. Morton kümmerte sich um deren Finanzierung. Von da an konnte der Trend, der bisher für Hancock und English gesprochen hatte, umgekehrt werden. Zwar verloren die Republikaner im September bei den Wahlen zur State Legislature in Maine, aber dafür machten die meisten Beobachter das autokratische Regime Blaines in diesem Bundesstaat verantwortlich. Die damals üblichen Wahlkampfbiographien hoben ähnlich wie bei der legendären Log Cabin campaign („Blockhüttenkampagne“) von 1840 die bescheidenen Bedingungen, in denen der Kandidat geboren wurde, und seinen sozialen Aufstieg hervor. So steuerte der bekannte Autor Horatio Alger für Garfields Kampagne das Buch From Canal Boy to President bei. Außerdem kursierten mehr als 4 Millionen Kopien diverser Reden von Garfield, wobei ein zentrales Thema die Erinnerung an den Sezessionskrieg und die Republikaner als diejenige Partei war, die für die Union gekämpft hatte. Auf Initiative von Blaine wurde in der letzten Wahlkampfphase eine strengere Schutzzollpolitik in das Programm aufgenommen, von der die heimische Industrie profitierte. Ende September besuchte schließlich Conkling nach einer Wahlkampfveranstaltung in Warren Lawnfield und zollte Garfield seinen Tribut, was den Höhepunkt der Front Porch Campaign darstellte. Später berief sich Conkling darauf, dass er bei diesem Treffen die Zusage erhalten habe, dass nach der Wahl alle Stellen im New Yorker Spoilssystem an seine Freunde gingen.Die Demokraten fokussierten sich im Wahlkampf vor allem darauf, Garfields Charakter und seine Bilanz als Kongressabgeordneter anzugreifen. Mitte Oktober veröffentlichte die New Yorker Boulevardzeitung The Truth einen Brief von Garfield, der sich später als Fälschung herausstellte. In diesem hielt er an der chinesischen Zuwanderung fest und äußerte gewerkschaftsfeindliche Ansichten. Letztendlich schadete ihm diese Meldung nur an der Westküste, während er im Rest des Landes davon eher profitierte. Am Wahltag, dem 2. November, erreichte er im Popular Vote zwar nur wenige tausend Stimmen mehr als Hancock, aber im Electoral College gewann er 214 von 369 Wahlmännern. Den dieses Mal unumstrittenen Sieg hatte Garfield vor allem in den Nordstaaten gesichert, während die Demokraten den Solid South („Solider Süden“) und somit alle ehemaligen Sklavenstaaten als ihre Hochburg konsolidieren konnten. Hier kam ihnen zugute, dass einem Großteil der Afroamerikaner von den lokalen Behörden das Wahlrecht verweigert worden war. Insgesamt sieht Peskin im Wahlsieg vor allem einen persönlichen Triumph Garfields, dem es gelungen sei, die zerstrittenen Lager innerhalb der Partei hinter sich zu einen. Für eine kurze Zeit war Garfield somit gleichzeitig gewählter Präsident und Senator sowie amtierender Abgeordneter im Repräsentantenhaus, ein bis heute einmaliger Vorgang in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
=== Gewählter Präsident der Vereinigten Staaten (1880–1881) ===
Bis zur Amtseinführung am 4. März 1881 musste Garfield als gewählter Präsident der Vereinigten Staaten im Wesentlichen zwei Aufgaben erledigen: eine Antrittsrede schreiben und ein Kabinett zusammenstellen. Außerdem sah er sich einem steten Strom von Stellenbewerbern ausgesetzt, darunter etliche Freunde. Zunehmend misstrauisch gegenüber der sozialen Umwelt litt der eigentlich gesellige Garfield an der damit einhergehenden Isolation. Weil er nur durch außerordentliche Umstände zum Präsidentschaftskandidaten geworden war, hatte er sich bisher kaum Gedanken zu seinem künftigen Kabinett gemacht. Obwohl er ihm aufgrund früherer Enttäuschungen nicht vollständig vertraute, wurde Blaine zu seinem wichtigsten Berater. In dieser Funktion wollte ihn dieser zum Ausschluss der Stalwarts und des Reformflügels von Ministerposten überreden, aber Garfield fürchtete um die Einheit der Partei und setzte auf ein zwischen Faktionen und Regionen ausbalanciertes Personaltableau. Nachdem ihm Blaine Ende November zugesagt hatte, keine eigenen Ambitionen auf das Weiße Haus zu haben, sah er ihn für das Außenministerium vor. Als diese Entscheidung Mitte Dezember 1880 bekannt wurde, lief Conkling gegen die Ernennung seines Erzfeindes Sturm und forderte das Finanzministerium für die Stalwarts. Dessen Vorschlag Levi P. Morton war jedoch für Garfield nicht akzeptabel, zumal die Gesetze einen Ressortleiter ausschlossen, der als Banker im Handel mit Staatsanleihen tätig war. Er bot Morton als Ersatz das Amt des Marineministers an, was dieser jedoch aufgrund seiner Bewerbung für den offenen Senatssitz von New York ablehnte. Eine spätere Zusage zog Morton nach einem persönlichen und konfrontativ akzentuiertem Treffen mit Conkling und Arthur am 2. März zurück. Als Blaine im Hintergrund in die New Yorker Senatswahl eingriff, indem er Chauncey Depew zu einer Kandidatur gegen die Stalwarts überredete, vermutete Conkling dahinter Garfield als eigentlichen Drahtzieher, wodurch sich die Fronten erneut verhärteten. Der gewählte Präsident hingegen fühlte sich von der persönlichen Fehde zwischen Blaine und Conkling eher abgestoßen.Blaine überredete den widerstrebenden Garfield, Conkling nach Mentor einzuladen. Ein Hintergedanke war, den gewählten Präsidenten vor dem Vorwurf der Stalwarts in Schutz zu nehmen, er werde von Blaine dominiert. Das Treffen Mitte Februar 1881 verlief zwar harmonisch, endete aber ohne verbindliche Zusagen Garfields hinsichtlich der Kabinettauswahl. Kurze Zeit später bot er dem Stalwart Charles J. Folger den Posten des United States Attorney General (Justizminister) an, womit er Conkling enttäuschte, der das Finanzministerium für seine Faktion gefordert hatte. Weil der Blaine-Flügel gleichfalls gegen diese Besetzung opponierte, lehnte Folger das Angebot ab. Keine zwei Wochen vor der Amtseinführung am 4. März 1881 hatte Garfield weder sein Kabinett noch die Antrittsrede fertig gestellt und geriet unter großen Zeitdruck. In den letzten Februarstunden noch vor der Abfahrt nach Washington fragte er mit Erfolg Robert Todd Lincoln und Wayne MacVeagh nach ihrer Bereitschaft für das Kriegs- beziehungsweise Justizministerium. Auf Drängen Hayes’ sah er mit William H. Hunt einen Südstaatler für das Postministerium (United States Postmaster General) und gegen Blaines Protest William Windom für das Finanzministerium vor. Als zwei Tage vor der Amtseinführung das Kabinett immer noch nicht komplett war, gab Garfield schließlich Blaines Vorschlägen nach. Dieser ersetzte Windom mit William B. Allison, schob Hunt in das Innenministerium und machte den Stalwart Thomas Lemuel James zum Postmaster General. Letzteres führte zu einem Eklat, denn Conkling stürmte am Morgen des 3. März mit Arthur und Thomas C. Platt im Schlepptau das Schlafzimmer Garfields und erging sich in einer Tirade gegen den gewählten Präsidenten und die Illoyalität von James. Nachdem am Morgen der Amtseinführung Allison aus persönlichen Gründen das Finanzministerium abgelehnt hatte, machte Garfield in der folgenden Nacht wie ursprünglich geplant Windom zu dessen Ressortleiter und Samuel J. Kirkwood zum Innenminister. Insgesamt spiegelte sich trotz des wesentlichen Einflusses von Blaine in der Kabinettsauwahl des Präsidenten sein gelassener Führungsstil wider, der sich durch das respektlose Verhalten Conklings nicht aus der Ruhe bringen ließ.
=== Präsidentschaft (1881) ===
Zwar sahen manche Beobachter wie John Hay in Garfield einen außergewöhnlich gut qualifizierten Präsidenten und stellten ihn in dieser Hinsicht in eine Reihe mit John Quincy Adams, aber er selbst hatte durch seine Zeit im Repräsentantenhaus ein negatives Bild von den mit diesem Amt verbundenen Befugnissen. Abgesehen von der Personalpolitik, bei der das Weiße Haus seiner Überzeugung nach freie Hand bei der Besetzung von Dienstposten haben sollte, positionierte er die Regierungsverantwortung in erster Linie beim Kongress, dem gegenüber der Präsident eine Haltung des Laissez-faire einzunehmen habe. Der Schwerpunkt der 35-minütigen Antrittsrede am 4. März 1881 war die Südstaaten- und Minderheitenpolitik. Garfield rief dazu auf, den Ausgang des Sezessionskriegs endlich zu akzeptieren, und versprach, die Rechte der Afroamerikaner, insbesondere ihr Wahlrecht, zu verteidigen. Besondere Hoffnungen bei der Befriedung des Verhältnisses zwischen Weißen und Schwarzen setzte er in eine Verbesserung der Schulbildung.
==== Konflikt mit Conkling ====
In den ersten Tagen nach der Amtseinführung belagerten tausende von Stellenbewerbern das Weiße Haus, so dass die Warteschlange vom Oval Office bis zur Pennsylvania Avenue reichte. Zu dieser Zeit umfasste der öffentliche Dienst des Bundes mehr als 100.000 Dienstposten, die allesamt nach den politischen Mechanismen des Spoilssystems besetzt wurden. Garfield nutzte seine Befugnisse aus und verschaffte vielen Kameraden aus dem 42. Ohio-Regiment sowie einigen Verwandten eine Anstellung in der Verwaltung. Abgesehen davon empfand er diese Form des Klientelismus als eine Tortur und bat den Postminister um die Entwicklung einer eignungsorientierten Personalauswahl, mit deren Implementation James erste Erfahrungen in New York City gesammelt hatte. Blaine zeigte während dieser Zeit ständige Präsenz im Weißen Haus, um Einfluss auf Garfields Stellenbesetzungen zu nehmen. Ihre enge Verbindung äußerte sich auch darin, dass der Präsident vor Kabinettsitzungen erst mit diesem das Gespräch suchte. Garfield ernannte als Signal der Versöhnung an Conkling dessen Protegé Morton zum Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich und lud ihn am 20. März in das Weiße Haus ein. Durch Blaine angefacht, eskalierte die Situation zwischen den beiden wenige Tage später erneut, als es um die Leitung der Zollstelle des New Yorker Hafens ging. Diese Behörde war wegen ihrer Größe, die 1500 Dienstposten umfasste, und den Spitzengehältern von zentraler Bedeutung für das Spoilssystem der Stalwarts. Als Präsident Hayes Arthur von der Leitung der Zollstelle (Collector of the Port of New York) entbunden hatte, war dies vor allem der Grund für den Bruch mit Conkling gewesen. Auf Drängen Blaines wollte Garfield nun Edwin Albert Merritt entlassen und William H. Robertson zum neuen Behördenleiter ernennen. Dies stieß auf erhebliche Proteste nicht nur der Stalwarts, sondern auch des Reformflügels; mehrere Minister drohten mit Rücktritt und brachten die Regierung an den Rand des Zusammenbruchs. Mit dem Postminister änderte Garfield daher das Personaltableau um, so dass Merritt im Amt verblieb und Robertson zum District Attorney in New York ernannt wurde. Nun drohte jedoch der gekränkte Conkling die Personalie Robertson im Senat zu stoppen, woraufhin Garfield jede weitere Kompromissfindung mit diesem abbrach.Weil Conkling den zu gleichen Teilen mit Republikanern und Demokraten besetzten Senat dominierte, sah sich der Präsident nun in einer Konfrontation mit dieser Institution an sich gefangen. Hinzu kam, dass der Senat in diesem Moment anlässlich einer anderen Personaldebatte um William Mahone und seine Readjuster Party von den Demokraten durch ein Filibuster handlungsunfähig gemacht wurde. Auf dem republikanischen Senats-Caucus drohte Conkling dem Präsidenten offen mit der Veröffentlichung eines kompromittierenden Briefs, der ihn mit dem in einen Korruptionsskandal verwickelten Thomas J. Brady in Verbindung brachte. Allerdings war der Text weit davon entfernt, Garfields Verhalten in irgendeiner Form in die Nähe eines Gesetzesverstoßes zu rücken, und schadete nach seiner Veröffentlichung mehr Conkling als dem Präsidenten. In der politischen Filterblase der Hauptstadt setzte sich bald die Erkenntnis durch, dass die Bevölkerung auf Seiten Garfields stand und selbst in New York mehrheitlich seinen Kampf gegen die Macht von Senat und Parteibossen unterstützte. Anfang Mai gelang Garfield die Beendigung des Filibusters, so dass im Senat über die Ernennung Robertsons abgestimmt werden konnte. Um den Druck auf die Stalwarts zu erhöhen, nahm Garfield vor der Senatssitzung alle ihre Kandidaten von seiner Vorschlagsliste. In einem letzten Versuch, die Wahl Robertsons zu verhindern, traten Platt und Conkling aus Protest gegen das Weiße Haus als Senatoren zurück, aber letztendlich wurde der Kandidat des Präsidenten am 18. Mai mit klarer Mehrheit bestätigt. Was den Konflikt mit Conkling zusätzlich belastet hatte, war die feindselige Beziehung zwischen Garfield und seinem Vizepräsidenten. Arthur war über die Personalie Robertson so aufgebracht, dass er sich für mehrere Wochen weigerte, mit dem Präsidenten zu sprechen und ihn in einem Zeitungsinterview als Lügner bezeichnete.
==== Finanzpolitik ====
Zum 1. Juli 1881 wurden Staatsanleihen mit einem Zinssatz von 6 % fällig. Die zu zahlende Summe betrug knapp 200 Millionen US-Dollar. Garfield ging das Risiko ein, keine zusätzlichen Mittel im Kongress zu beantragen und setzte darauf, dass das Finanzministerium die Gläubiger auszahlen konnte. Dazu bot er den Besitzern unter Umgehung der Banken eine Verlängerung der Anleihen zu einem niedrigeren Zinssatz an, wovon am Ende mehr als 90 % Gebrauch machten. Durch diese Maßnahme Garfields sparte der Bund jährliche Zinszahlungen von mehr als 10 Mio. US-Dollar ein, was einer Senkung von 40 % entsprach.
==== Star-Route-Affäre ====
Seit Juli 1880 waren Garfield Gerüchte bekannt, die Senator Dorsey, seinen Wahlkampfmanager in Indiana, mit Korruption im Postministerium in Verbindung brachten. Dabei ging es um die sogenannten Star Routes im dünn besiedelten Westen. Weil hier ein herkömmlicher Betrieb des Postwegs nicht praktikabel war, wurden die Routen an private Dienstleister zu niedrigen Preisen verkauft. Wenn diese auf den Star Routes ihr Angebot erweiterten, erhielten sie per Gesetz außergewöhnlich hohe Entschädigungen, was der Korruption Tür und Tor öffnete. Fünf Tage nach der Amtseinführung wies Garfield den Postminister daher an, eine entsprechende Untersuchung durchzuführen, die die erhebliche Verstrickung Dorseys in dieses Geschäftsmodell zutage brachte. Bis Juni waren genügend Beweise für eine Anklage durch den Justizminister gesammelt, deren Eröffnung für den Herbst geplant war. Ein weiteres Resultat der Untersuchung war, dass die jährlichen Ausgaben für die 93 Star Routes um knapp 800.000 US-Dollar gesenkt wurden.
==== Außenpolitik ====
Zur Zeit der Amtseinführung Garfields gab es in Lateinamerika mehrere Grenzdispute, die sich an der Schwelle zum Krieg befanden, so zwischen Mexiko und Guatemala, Costa Rica und Kolumbien sowie Argentinien und Chile. Außerdem drohte die Dritte Französische Republik wegen ausstehender Schuldenzahlungen mit einer Intervention Venezuelas und im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten erstarkten revisionistische Absichten hinsichtlich des Clayton-Bulwer-Vertrags. Insbesondere die letzten beiden Punkte erfüllten den Außenminister mit Sorge, weil sie der Monroe-Doktrin zuwiderliefen. Der diplomatische Dienst entfaltete unter Blaine daher hektische Aktivitäten in mehreren süd- und mittelamerikanischen Hauptstädten, ohne ein für ihn zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen. Er gab später an, dass an dieser Stelle Garfield eingegriffen und einen umfassenden Plan entworfen habe. Demnach sollten die Vereinigten Staaten ihren moralischen und politischen Führungsanspruch in der westlichen Hemisphäre mit der Ausrichtung einer panamerikanischen Konferenz in Washington untermauern. Peskin hält diese Angaben für plausibel, weil sich Blaine vor seiner Ernennung zum Minister kaum für Außenpolitik interessiert habe, während Garfield auf diesem Feld schon als Kongressabgeordneter eine Grundkonzeption habe erkennen lassen.Ira Rutkow hält fest, dass Garfield und Blaine die ersten Politiker in Regierungsverantwortung gewesen seien, die die Vereinigten Staaten als eine Seemacht über zwei Ozeane angesehen hatten. Entsprechend habe er nach hegemonialer Kontrolle über das Königreich Hawaiʻi gestrebt. Die europäischen Angelegenheiten betreffend, stimmte Garfield dem Beitritt der Vereinigten Staaten zu den Genfer Konventionen zu und unterstützte die Gründung des Amerikanischen Roten Kreuzes.
=== Attentat (1881) ===
Am 2. Juli 1881 begab sich Garfield in Begleitung von Blaine und zwei seiner Söhne zur Baltimore & Potomac Station (der späteren Pennsylvania Station) in Washington, um einen Zug nach New Jersey zu nehmen. Dort erholte sich Lucretia im Badeort Long Branch von einer Malariaerkrankung. Im Bahnhofsgebäude passte Charles J. Guiteau den Präsidenten ab. Dieser hatte während des Präsidentschaftswahlkampfs 1880 eine Rede für die Kampagne Garfields verfasst, die niemals gehalten wurde, und war im Hauptquartier der Republikaner an der Fifth Avenue ständig zugegen gewesen, ohne von irgendjemanden ernst genommen worden zu sein. Psychisch zu labil, diese Ablehnung zu perzipieren, war er zu der festen Überzeugung gelangt, dass er maßgeblich zum Wahlsieg beigetragen hatte, und erwartete im Gegenzug eine Dienstposten im Spoilssystem. Noch vor der Amtseinführung Garfields hatte er von diesem per Brief die Botschaft der Vereinigten Staaten in Wien gefordert. Am 8. März hatte er den Präsidenten im Weißen Haus persönlich aufgesucht und erneut eine Anstellung als Botschafter gefordert; ähnlich ging er bei Blaine vor. Als ihn beide hinhielten und weitere schriftliche Anfragen ignorierten, hatte Guiteau ab Mitte Mai mit der Planung und Vorbereitung des Attentats begonnen. Als Garfield ihm nun gegen 9:20 Uhr in der Wartehalle über den Weg lief, trat er hinter ihn und schoss aus geringer Distanz in seinen Rücken. Als sein Opfer schwankte und zu fallen begann, feuerte Guiteau ein weiteres Mal auf den Präsidenten, und floh. Noch in der Wartehalle wurde er von einem Polizisten festgenommen und sagte auf dem Weg zur Polizeiwache aus: „I am a Stalwart, Arthur is now President of the United States.“Garfield lag derweil am Boden, eine Kugel hatte seinen Arm gestreift, die andere war mittig der rechten Körperhälfte in seinen Rücken eingedrungen, hatte die elfte Rippe zertrümmert und ihren Weg dann fortgesetzt. Erste behandelnde Ärzte, unter ihnen der rasch die Führung übernehmende Chefchirurg eines Militärhospitals Willard Bliss, untersuchten mit ihren ungewaschenen Fingern den Schusskanal, ohne an die Kugel zu gelangen. Weil der Präsident neben einem Schockzustand Symptome innerer Blutungen zeigte, gingen die Ärzte und er selbst davon aus, dass er diesen Tag nicht überleben werde. Zur weiteren Untersuchung wurde er zuerst ein Stockwerk höher getragen und kurze Zeit später auf den Wunsch Garfields hin in das Weiße Haus transportiert. Dort fanden sich Freunde und Kabinettsmitglieder ein, um sich von ihm zu verabschieden, derweil sich Lucretia in einem bereitgestellten Sonderzug auf den Weg in die Hauptstadt aufmachte. Obwohl die anwesenden knapp 30 Mediziner den Zustand des Präsidenten als hoffnungslos beschrieben, überlebte er den Nachmittag und die folgende Nacht.
=== Ärztliche Behandlung und Tod (1881) ===
Kein Ereignis seit dem Sezessionskrieg hatte die Nation emotional so stark geeint wie das Attentat auf Garfield, das in Nord- und Südstaaten Abscheu und Besorgnis hervorrief. Die Aussicht auf eine mögliche Nachfolge des Stalwarts Arthur, der aus seiner Verachtung für Garfield nie ein Geheimnis gemacht hatte, führte in Verbindung mit der Aussage Guiteaus unmittelbar nach seiner Verhaftung zu wilden Verdächtigungen und einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Vizepräsidenten. Die ab dem 3. Juni täglich veröffentlichten ärztlichen Bulletins zum Gesundheitszustand des Präsidenten äußerten sich vor allem in den ersten drei Wochen nach dem Mordanschlag optimistisch. Zwar schwächten sich in dieser Zeit das Fieber und die Appetitlosigkeit Garfields ab, jedoch war er weitgehend bewegungsunfähig, auf intensive Pflege angewiesen und konnte keine feste Nahrung zu sich nehmen, so dass er in den folgenden Wochen stark an Gewicht verlor. Bis auf den Umgang mit der Familie verboten ihm die Ärzte jeglichen Besuch, selbst als er Blaine zu sehen wünschte.Weil der heiße und schwüle Washingtoner Sommer Garfield zusätzlich belastete, bauten Ingenieure der Marine mit Unterstützung von Simon Newcomb den Vorläufer einer Klimaanlage in sein Krankenzimmer ein. Während der gesamten Zeit versuchten die Ärzte immer wieder mit Fingern und Instrumente, die Kugel im Körper des Präsidenten zu detektieren, wobei sie dabei keine Sterilisation durchführten. Die Verteidigung im Prozess gegen Guiteau berief sich später vergeblich darauf, dass Garfield nicht wegen des Attentats, sondern aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler gestorben sei. Peskin nimmt jedoch an, dass die Blutvergiftung, der Garfield am Ende zum Opfer fiel, selbst bei aseptischen Maßnahmen der Ärzte durch die Splitter der beim Schuss zertrümmerten Rippen ausgelöst worden wäre. Ein von Alexander Graham Bell entwickelter Metalldetektor erbrachte keine eindeutigen Ergebnisse bei der Suche nach der fehlenden Kugel, weil es zu Interferenzen mit den metallischen Bettfedern kam. Die spätere Autopsie zeigte, dass die Kugel in die linke Körperhälfte abgelenkt worden war und nicht, wie von den Ärzten vermutet, in die rechte. Auf ihrem Weg hatte die Kugel kein lebenswichtiges Organ verletzt.Rutkow weist bezüglich Garfields Todesursache darauf hin, dass im Jahr 1881 in den Vereinigten Staaten die meisten Ärzte die antiseptischen Maßnahmen von Joseph Lister, 1. Baron Lister nicht praktizierten oder sogar ablehnten. Die jungen, sich an Lister orientierenden Ärzte waren zu dieser Zeit noch ohne prägenden Einfluss. Er kommt zu dem Schluss, dass Garfields Genesungschancen von dem Augenblick an aufs Spiel gesetzt wurden, als der erste Arzt den Schusskanal ohne Antisepsis untersucht hatte. Außerdem schrieben sie das Fieber des Präsidenten nicht einer Wundinfektion zu, sondern der in Washington grassierenden Malaria.Nach einer Fieberattacke Ende Juli erholte sich Garfield so weit, dass er am 29. Juli eine kurze, sich nur auf Formalitäten beschränkende Kabinettssitzung an seinem Krankenbett leiten konnte. Weil er in den Monaten nach dem Attentat sein Amt nicht wahrnehmen konnte, entspann sich eine Verfassungsdebatte um diese bisher ungekannte Situation. Blaine schlug vor, dass Arthur als Präsident amtieren sollte, bis sich Garfield erholt hatte oder gestorben war. Der Vizepräsident, der nie eigene Ambitionen auf das Weiße Haus gehabt hatte, lehnte dieses Ansinnen ab und stieg in der Folge im öffentlichen Ansehen. Derweil zeichnete sich immer deutlich ab, dass Garfield zum Tode verurteilt war. Aus jeder gesundheitlichen Krise ging er geschwächter hervor; seine rechte Gesichtshälfte war gelähmt, es kam zu Halluzinationen und eine stark vergrößerte Eiterbeule hinter einem Ohr mit Eiterabfluss in den Mundraum ließ die Blutvergiftung zutage treten. Auf sein Drängen hin erlaubten ihm die Ärzte den Umzug in den Badeort Elberon, einen Stadtteil von Long Branch. Der Transport am 6. September geschah in einem eigens dafür umgebauten Eisenbahnwaggon. Die Schienen für den letzten Kilometer bis zur Pension waren in der Nacht zuvor verlegt worden. Die erhoffte Verbesserung von Garfields Gesundheitszustand stellte sich durch die Meeresfrische nicht ein, sondern am 15. September verschlimmerte sie sich dramatisch mit zusätzlicher Symptomatik. Vier Tage später starb der Präsident um 22:35 Uhr.
Am nächsten Tag brachte derselbe Zug, der Garfield nach Elberon gefahren hatte, seinen Leichnam in die Hauptstadt. Dort wurden die Überreste des Präsidenten zwei Tage lang in der Rotunde des United States Capitol aufgebahrt und von über 70000 Trauergästen besucht. Anschließend wurde der Sarg nach Cleveland überführt, wo Garfield nach einer weiteren Aufbahrung am 26. September seine letzte Ruhestätte auf dem Lake View Cemetery fand.
=== Persönlichkeit ===
Weil er aus prekären Verhältnissen stammte und von einer alleinlebenden Mutter großgezogen wurde, erlebte Garfield in der Jugend regelmäßig Demütigungen durch die soziale Umwelt. Diese Erfahrung machte ihn als Erwachsenen besonders sensibel für persönliche Angriffe, die er entweder ignorierte oder nur sehr widerstrebend beantwortete. Sein politisches Umfeld erkannte darin eine Schwäche, während die Öffentlichkeit durch dieses Verhalten den Eindruck gewann, die Vorwürfe gegen Garfield seien berechtigt. Auch seine starken Selbstzweifel, die ihn beim kleinsten Missgeschick heimsuchten, schrieb er den Kindheitserlebnissen zu. Die ihn mitunter lähmende Selbstunsicherheit und stark ausgeprägte Vernunftbestimmtheit führte dazu, dass charismatische und dominante Persönlichkeiten wie zum Beispiel Blaine eine besondere Faszination auf ihn ausübten. Damit verbunden neigte Garfield dazu, Probleme aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und aus dieser Vorsicht heraus, bei Konflikten anderen zu schnell nachzugeben. Laut Peskin habe Garfield sich insgesamt lieber mit Ideen als mit Menschen beschäftigt.Andererseits wurde Garfields ärmliche Herkunft für ihn zu einem wichtigen politischen Aktivposten. Er verkörperte den Amerikanischen Traum des Selfmademan, der durch harte Arbeit und Fleiß den sozialen Aufstieg geschafft hatte. Vor allem dafür und weniger wegen seiner politischen Leistungen blieb er den Zeitgenossen in Erinnerung. Aus einer gewissen Schicksalsgläubigkeit heraus und weil er es für ein „vulgäres“, seinen religiösen Überzeugungen widersprechendes Verhalten hielt, lehnte er die initiative Bewerbung um Stellen und Ämter ab. Dieses fatalistische Element sorgte dafür, dass er in kritischen Momenten mitunter eine auffällige Passivität zeigte und selbst hinter Rückschlägen eine höhere Bestimmung vermutete. Andererseits kennzeichnete ihn eine gewisse Rastlosigkeit, so dass er stets auf der Suche nach dem nächsten Karriereschritt war. Garfield war sein Leben lang ein gläubiger Mensch. So sprach er sich öffentlich gegen die Evolutionstheorie von Charles Darwin aus. Jedoch war er darauf bedacht, dass seine religiösen Vorstellungen nicht die politischen Überzeugungen überformten.Garfield war stolz darauf, unter den Politikern als Intellektueller zu gelten. Parallel zu seiner beruflichen Karriere verfolgte er stets Studienprojekte wie zum Beispiel die Übersetzung von Horaz oder Johann Wolfgang von Goethe. Einige Beobachter bezeichneten ihn als den am besten gebildeten Kongressabgeordneten seiner Ära. Im Jahr 1876 lieferte Garfield einen von mehreren Beweisen zum Satz des Pythagoras. Garfield war von geselliger und freundlicher Natur, so dass er in seiner Umgebung stets schnell sozialen Anschluss fand. Dementsprechend bewies er Geschick darin, sich an veränderte Lebensumstände anzupassen. Politische Gegner verfolgte er nicht mit leidenschaftlichem Hass, wie dies die Erzfeinde Conkling und Blaine untereinander zu tun pflegten. Zum Nachteil gereichte ihm, dass er eine freundschaftliche Bitte nur schwer abschlagen konnte, was ihm den Ruf einbrachte, eine schlechte Menschenkenntnis zu haben.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung ===
Frederick D. Williams (1964) veröffentlichte die Korrespondenz Garfields aus dem Bürgerkrieg. Gemeinsam mit James Harry Brown (1967–1981) gab er in der vierbändigen Reihe The Diary of James A. Garfield die Tagebücher heraus. Als neuere Werke zu Garfield führt die Historikerin Ulrike Skorsetz Peskin (1978), Justus D. Doenecke (1981), Richard L. McElroy (1986) sowie Kenneth D. Ackerman (2003) an. Eine Zusammenfassung der Fachliteratur veröffentlichte Robert O. Rupp (1998), während James C. Clark (1994) sich mit dem Attentat beschäftigte.Laut Peskin (1978) habe Garfield veranlasst durch die Auseinandersetzung mit Conkling versucht, die Machtbalance zwischen Senat und Präsident wiederherzustellen. Während seiner Generation habe sich diese nach Lincoln stetig zuungunsten des Weißen Hauses in Richtung Kapitol verschoben, was insbesondere das Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson verdeutlichte. Weder Grant noch Hayes hatten diesen Trend umkehren können. Garfields Bemühen um mehr präsidiale Unabhängigkeit vom Senat sei im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen worden. Anders als von vielen seiner Zeitgenossen kolportiert, sei er als Präsident auch selbständig in seinen Entscheidungen gewesen und stand nicht unter der Fuchtel von Blaine. Insgesamt habe er das Weiße Haus stärker hinterlassen, als er es vorgefunden habe, und gemeinsam mit Blaine die Republikaner modernisiert.Charles W. Calhoun (2002) kommt zu dem Schluss, dass Garfield mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kongress hatte als Hayes, der sich während seiner Präsidentschaft zunehmend isoliert hatte. Entsprechend präferierte er Gesetzesvorlagen im legislativen Prozess gegenüber präsidialen Executive Orders („Durchführungsverordnungen“); wegen seines vorzeitigen Todes kam er aber nicht zur praktischen Umsetzung dieser politischen Linie. Die Stärke seines Amtes konnte er in der Auseinandersetzung mit den New Yorker Stalwarts unter Beweis stellen. Garfields größte politische Errungenschaft sei die Verlängerung der Staatsanleihen zu niedrigeren Zinssätzen gewesen.Die Epoche von Garfields Amtszeit, das Gilded Age, war geprägt durch die außerordentliche Macht und Prominenz von Tycoons und „Räuberbaronen“ wie Andrew Carnegie, Jay Gould, John D. Rockefeller und J. P. Morgan sowie das Entstehen einflussreicher Interessengruppen, nicht zuletzt der Gewerkschaften, und Monopolen in Form von Trusts. Anders als in der Zeit von Sezessionskrieg und Reconstruction rückte die Politik im öffentlichen Interesse mehr in den Hintergrund. Rutkow beurteilt Garfield vor diesem Hintergrund als einen Präsidenten, der mit seinen persönlichen Widersprüchen den Zeitgeist der 1880er Jahre in Amerika verkörpert habe. Er sei ein Gelehrter gewesen, der sich zum Soldaten, und ein Pragmatiker, der sich zum Politiker gewandelt habe. Er sei einer der bedeutendsten Kongressabgeordneten seiner Zeit gewesen, habe sich aber als Präsident in der Kontrolle der unterschiedlichen Faktionen innerhalb der Republikaner plump angestellt und wenig Durchsetzungsvermögen gezeigt. Insgesamt bleibe er eher als ein Parteifunktionär und Attentatsopfer in Erinnerung denn als inspirierender Präsident.Skorsetz (2013) resümiert, dass Garfield ähnliche politische Vorstellungen wie Hayes gehabt und versucht habe, die Exekutivgewalt des Präsidenten zu stärken. Parallel dazu sei es ihm um ein kooperatives Miteinander von Kongress und Weißen Haus gegangen.
=== Kulturelle Rezeption ===
In den Jahrzehnten nach seinem Tod schwand Garfield aus der nationalen Erinnerung und wurde in Anlehnung an eine Erzählung von Thomas Wolfe zu den „verlorenen“, sich äußerlich ähnelnden Präsidenten Hayes, Arthur und Benjamin Harrison gezählt, die während des Gilded Age amtiert hatten.In der zehnbändigen Romanreihe Roman über ein Verbrechen der schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö wird der Protagonist Martin Beck im siebten Teil Das Ekel aus Säffle durch einen Schuss in die Brust schwer verwundet. Im folgenden Band Verschlossen und verriegelt hat er wiederkehrende Alpträume: Er träumt davon, den Schuss von Charles J. Guiteau mit seinem Körper abgefangen zu haben, doch umsonst, Garfield wird dennoch getroffen. Eine Hauptrolle hat Garfield in der 19. Folge der elften Staffel der Fernsehserie American Dad. Die Episode trägt den Titel Garfield and Friends und wurde im Juni 2016 ausgestrahlt.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Zum ehrenden Angedenken Garfields errichtete man 1890 auf seinem Grab auf dem Lake View Cemetery in Cleveland einen turmartigen, über 50 m hohen Rundbau, das James A. Garfield Memorial. Dieses Bauwerk wurde im November 1973 in das National Register of Historic Places („Nationales Verzeichnis historischer Orte“; NRHP) eingetragen. Das James A. Garfield Monument steht in den Gartenanlagen vor dem Kapitol in Washington, D.C. Es ist eine Bronzestatue von John Quincy Adams Ward auf einem gestalteten Granitsockel von Richard Morris Hunt.
Lawnfield, die heutige James A. Garfield National Historic Site war bis 1936 in Familienbesitz. Das Anwesen wurde im Januar 1964 zum National Historic Landmark („Nationales historisches Wahrzeichen“) erklärt und im Oktober 1966 in das NRHP aufgenommen. Im Dezember 1980 erhielt der Ort auf Beschluss des Kongresses den Status einer National Historic Site („Nationale historische Stätte“) zuerkannt.Außerdem sind mit Schwerpunkt im Westen sechs Countys in den Vereinigten Staaten nach ihm benannt (siehe Garfield County). Mehrere Berge tragen seinen Namen, zwei davon stehen in Colorado, nämlich im Mesa und im San Juan County. Weitere liegen im Grafton County, New Hampshire und im King County (Washington), Washington.
In der Serie der Präsidentendollars wurden ab November 2011 Münzen mit dem Konterfei von Garfield geprägt.
== Quellen ==
James A. Garfield Papers in der Library of Congress
James Harry Brown, Frederick D Williams (Hrsg.): The Diary of James A. Garfield. Vier Bände. Michigan State University, East Lansing 1967–1981,LCCN 67-012577.
Frederick D Williams (Hrsg.): The Wild Life of the Army: Civil War Letters of James A. Garfield. Michigan State University, East Lansing 1964, LCCN 64-020711.
== Literatur ==
Ulrike Skorsetz: James A. Garfield (1881): Der verhinderte Reformer. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 219–221.
Candice Millard: Destiny of the Republic. A Tale of Madness, Medicine and the Murder of a President. Anchor Books, New York 2012, ISBN 978-0-7679-2971-4.
Ira Rutkow: James A. Garfield (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 20th President). Times Books, New York 2006, ISBN 0-8050-6950-X.
Kenneth D. Ackerman: The Dark Horse: The Surprise Election and Political Murder of President James A. Garfield. Carroll & Graf, New York 2003, ISBN 0-7867-1151-5.
Robert O. Rupp (Hrsg.): James A. Garfield. A Bibliography (= Bibliographies of the Presidents of the United States. Bd. 20). Greenwood Press, Westport CT u. a. 1997, ISBN 0-313-28178-5 (Stellt die Forschungsliteratur bis 1998 zusammen).
James C. Clark: The Murder of James A. Garfield: The President’s Last Days and the Trial and Execution of His Assassin. McFarland, Jefferson 1994, ISBN 978-0-89950-910-5.
Richard L. McElroy: James A. Garfield: His Life & Times: A Pictorial History. Daring, Canton 1986, ISBN 978-0-938936-45-9.
Justus D. Doenecke: The Presidencies of James A.Garfield and Chester A. Arthur. University Press of Kansas, Lawrence 1981, ISBN 978-0-7006-0208-7.
Allan Peskin: Garfield. A Biography. Neuauflage der Erstausgabe von 1978. Kent State University Press, Kent 1999, ISBN 0-87338-210-2.
== Weblinks ==
James A. Garfield im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Eintrag zu James A. Garfield in der Database of Classical Scholars (englisch)
Justus Doenecke: American President: James A. Garfield (1831–1881). In: Webpräsenz millercenter.org. University of Virginia, abgerufen am 4. Januar 2014 (englisch).
The American Presidency Project: James A. Garfield. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Life Portrait of James A. Garfield auf C-SPAN, 26. Juli 1999, 147 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Allan Peskin und John Shaw sowie Führung durch die James A. Garfield National Historic Site)
James A. Garfield in der Datenbank von Find a Grave (englisch)
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/James_A._Garfield |
Pinguine | = Pinguine =
Die Pinguine (Spheniscidae) sind eine Gruppe flugunfähiger Seevögel der Südhalbkugel. Sie bilden die einzige Familie in der Ordnung Sphenisciformes. Ihre stammesgeschichtliche Schwestergruppe bilden wahrscheinlich die Seetaucher (Gaviiformes) und Röhrennasen (Procellariiformes). Pinguine sind leicht von allen anderen Vögeln zu unterscheiden und in herausragender Weise an das Leben im Meer und in den teilweise extremen Kältezonen der Erde angepasst.
== Etymologie ==
Das deutsche Wort Pinguin stammt direkt von dem englischen Wort penguin ab. Diese Bezeichnung bezog sich ursprünglich auf den auf der Nordhalbkugel im Atlantik beheimateten, um 1850 ausgerotteten flugunfähigen Riesenalk (Pinguinus impennis). Die ersten Aufzeichnungen über Pinguine aus dem späten 15. Jahrhundert in Afrika und dem frühen 16. Jahrhundert in Südamerika verwenden den Namen Pinguin noch nicht. Obwohl nicht näher mit dem Riesenalk verwandt, wurde die Bezeichnung vermutlich von Seeleuten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die oberflächlich ähnlich aussehenden Pinguine übertragen.
Die Herkunft des englischen Wortes penguin ist umstritten. Es leitet sich vermutlich von walisisch pen gwyn „weißer Kopf“ her. Im Gegensatz zu Pinguinen haben die Riesenalke zwei weiße Flecken am Kopf. Es wurde auch gemutmaßt, dass sich die Bezeichnung „weißer Kopf“ nicht auf den überwiegend dunklen Kopf der Riesenalke, sondern auf die durch Guano weiß gefärbten Inseln mit Brutkolonien der Vögel beziehen könnte.
Eine weitere Theorie leitet den Namen von lat. pinguis „fett“ ab, was sich auf den Körperbau der Tiere beziehen würde. Im Niederländischen ist vetgans, wörtlich „Fettgans“, ein Synonym für pinguïn. Es wurden auch noch englisch pin-wing sowie Sprachen amerikanischer Ureinwohner als möglicher Ursprung diskutiert. Keine der Theorien konnte bislang schlüssig belegt werden. Auch im Deutschen war vor dem 20. Jahrhundert die Bezeichnung Fettgans üblich.
== Anatomie und Aussehen ==
Der Größen- und Gewichtsunterschied der verschiedenen Pinguinarten ist beträchtlich, Körperbau und Gefieder sind in der Familie dagegen sehr homogen.
=== Größe und Gewicht ===
Der Zwergpinguin (Eudyptula minor) erreicht ausgewachsen eine Größe zwischen 30 und 45 Zentimetern und ein Gewicht von einem bis eineinhalb Kilogramm, dagegen gehört der Kaiserpinguin (Aptenodytes forsteri) mit einer Größe von bis zu 1,20 Metern und einem Gewicht von bis zu 40 Kilogramm zu den größten Neukiefervögeln überhaupt. Dieser Größenunterschied wird durch die Bergmannsche Regel erklärt, für welche die Pinguine ein häufig angeführtes Beispiel sind. Die Bergmannsche Regel besagt, dass Tiere in kälteren Regionen größer sind, da dies zu einem günstigeren Verhältnis von Volumen zu Oberfläche des Tieres und damit zu weniger Wärmeverlust führt. Die meisten Arten sind nur um weniges leichter als das von ihnen verdrängte Wasser, so dass ihnen das Tauchen vergleichsweise leicht fällt.
=== Körperbau ===
Der stämmig wirkende Körper der Tiere ist durch seine Stromlinienform und die zu schmalen, aber kräftigen Flossen umgestalteten Flügel deutlich an ein Leben im Meer angepasst. Anders als die ebenfalls flugunfähigen Laufvögel besitzen Pinguine ein Brustbein mit stark ausgebildetem Kiel, an dem die kräftige Flügelmuskulatur ansetzt. Da anders als beim Fliegen in Luft beim Schwimmen unter Wasser wegen des höheren Wasserwiderstands der Flügelaufschwung genauso viel Energie kostet wie der Flügelabschwung, haben die Schulterblätter eine im Vergleich zu anderen Vögeln vergrößerte Oberfläche, an der die für den Aufschwung verantwortliche Muskulatur ansetzen kann. Ober- und Unterarmknochen sind am Ellbogen geradlinig und steif miteinander verbunden, was den Flossen eine große Festigkeit verleiht. Die bei Vögeln sonst hohlen Knochen sind bei Pinguinen dicht und schwer, da eine Gewichtsreduktion zum Schwimmen nicht notwendig ist.
Die Oberschenkel sind sehr kurz, das Kniegelenk starr und die Beine stark nach hinten versetzt, wodurch an Land der ungewöhnliche aufrechte Gang hervorgerufen wird. Die mit Schwimmhäuten versehenen großen Füße sind relativ kurz – an Land ruhen die Tiere häufig auf ihren Fersen, wobei ihre vergleichsweise starren Schwanzfedern eine zusätzliche Stütze bilden. Der Schwanz ist meist stark reduziert, seine bei anderen tauchenden Seevögeln wesentlich ausgeprägtere Funktion als Ruder wird in erster Linie von den Beinen übernommen.
Der Schnabel ist bei den meisten Arten nicht sehr lang, dafür aber kräftig; eine Ausnahme bilden die Großpinguine (Aptenodytes), deren Schnabel wahrscheinlich in Anpassung an ihre Beutetiere – schnell schwimmende Fische – lang, schlank und leicht nach unten gekrümmt ist.
=== Wärmeregulation ===
Pinguine sind in ihrem Lebensraum zum Teil extremen klimatischen Bedingungen ausgesetzt und haben sich daran durch verschiedene anatomische Merkmale angepasst.
Zur Wärmeisolation dient zunächst eine ausgeprägte, oft zwei bis drei Zentimeter dicke Fettschicht, über der sich drei wasserdichte Schichten kurzer, dicht gepackter und gleichmäßig über den ganzen Körper verteilter Federn befinden. Apterien, Hautregionen, in denen keine Federn wachsen, gibt es bei Pinguinen im Gegensatz zu fast allen anderen Vögeln nicht; eine Ausnahme bildet bei manchen tropischen Arten die Gesichtshaut. Die in den Federschichten eingeschlossene Luft schützt im Wasser ebenfalls sehr effektiv vor Wärmeverlusten.
Daneben besitzen Pinguine hoch entwickelte Wärmeübertrager in ihren Flossen und Beinen: Das in diese Gliedmaßen einströmende arterielle Blut gibt seine Wärme zu einem großen Teil an das kühlere in den Körper zurückströmende venöse Blut ab, so dass Wärmeverluste minimiert werden. Dies wird als „Gegenstromprinzip“ bezeichnet.
Auf der anderen Seite kämpfen einige in tropischen Gewässern beheimatete Pinguinarten eher mit Überhitzung. Um dies zu verhindern, sind ihre Flossen im Vergleich zur Körpergröße verbreitert, so dass die Fläche, über die Wärme abgegeben werden kann, erweitert ist. Bei einigen Arten ist zudem die Gesichtshaut nicht von Federn bedeckt, so dass aufgestaute Wärme im aktiv aufgesuchten Schatten schneller abgegeben werden kann. Manche Pinguinarten verlagern ihre Aktivitätszeit vollständig auf den Abend oder die Nacht.
=== Gefieder ===
Die Farbe des aus zahlreichen kleinen, undifferenzierten, fast haarähnlichen Federn bestehenden Gefieders ist bei fast allen Arten rückseitig ein ins Schwarze spielendes Blaugrau, bauchseitig dagegen weiß. Männchen und Weibchen sehen sich sehr ähnlich, obwohl erstere meist etwas größer sind. Ein besonders auffälliger orangegelber Kopfschmuck zeichnet die meisten Schopfpinguine (Eudyptes) aus.
Bei Jungtieren ist das Gefieder meistens einheitlich grau bis braun, bei manchen Arten sind die Flanken und die Bauchseite allerdings weiß gefärbt.
Zumeist kurz nach dem Ende der Brutsaison, nach der Aufzucht der Jungen, kommt es bei Pinguinen zur Mauser, dem Austausch des Federkleids. Während dieser Zeit, die je nach Art zwischen zwei und sechs Wochen dauern kann, verbrauchen die Vögel ihre Fettreserven etwa doppelt so schnell wie zuvor. Bei Eselspinguinen (Pygoscelis papua) und Galápagos-Pinguinen (Spheniscus mendiculus) ist die Zeit der Mauser dagegen nicht festgelegt und kann zu jedem Zeitpunkt zwischen den Brutzeiten erfolgen. Nicht-brütende Vögel mausern fast immer früher als ihre brütenden Artgenossen.
Pinguine besitzen zur Färbung ihres Gefieders eine eigene Farbstoffgruppe, die als Spheniscine bezeichnet werden – ähnlich wie bei einigen Schmetterlingen die Pterine; beide Gruppen zählen zu den Pteridinen.
=== Sicht und Gehör ===
Die Augen der Pinguine sind auf scharfe Unterwassersicht ausgerichtet; ihre Hornhaut ist extrem flach, so dass die Vögel an Land leicht kurzsichtig sind. Besonders bei den tief tauchenden Kaiserpinguinen sind die Pupillen des Auges zudem extrem dehnungs- und kontraktionsfähig, so dass sich die Augen sehr schnell auf unterschiedliche Lichtverhältnisse wie sie an der Wasseroberfläche bzw. in 100 Metern Tiefe herrschen, einstellen können. Aus der Pigmentzusammensetzung schließt man, dass Pinguine besser im blauen als im roten Bereich des Spektrums sehen können und eventuell ultraviolettes Licht wahrnehmen. Da rotes Licht schon in den obersten Wasserschichten ausgefiltert wird, lässt dies eine evolutionäre Anpassung vermuten.
Die Ohren besitzen wie bei den meisten Vögeln keine äußerlich wahrnehmbaren Strukturen. Sie werden durch besonders kräftige Federn beim Tauchen wasserdicht verschlossen. Bei Großpinguinen ist darüber hinaus der Rand des Außenohrs so vergrößert, dass dieses geschlossen werden kann, so dass Mittel- und Innenohr vor tauchbedingten Druckschäden geschützt sind.
Unter Wasser geben Pinguine – anders als an Land, wo sie durch trompetenhafte Rufe und lautes Schnarren miteinander kommunizieren – keine auffälligen Laute von sich. Ob sie ihr Gehör umgekehrt zum Aufspüren von Beute bzw. zur Wahrnehmung von Fressfeinden nutzen, ist unbekannt.
== Verbreitung ==
Pinguine leben in den offenen Meeren der südlichen Hemisphäre. Dort finden sie sich insbesondere in den Küstengewässern der Antarktis, in Neuseeland, dem südlichen Australien, Südafrika, Namibia (Pinguin-Inseln), südliches Angola, auf den vor Südamerika gelegenen Falklandinseln und an der Westküste hinauf bis nach Peru sowie auf den am Äquator gelegenen Galápagos-Inseln. Als kälteliebende Vögel treten sie in tropischen Gebieten nur dann auf, wenn Kaltwasserströmungen existieren; dies ist etwa an der Westküste Südamerikas mit dem Humboldt-Strom oder um Südafrika mit dem Benguela-Strom an der Kap-Halbinsel der Fall.
Die meisten Arten leben etwa zwischen dem 45. und dem 60. Breitengrad südlicher Breite; die größte Individuenzahl findet sich um die Antarktis und auf nahegelegenen Inseln. Auf der Nordhalbkugel leben mit Ausnahme von Zootieren und eines Teils der Population des Galápagos-Pinguins auf der auf Äquatorhöhe gelegenen Galápagos-Insel Isabela keine Pinguine.
== Lebensraum ==
Der eigentliche Lebensraum der Pinguine ist das offene Meer, an das sie anatomisch hervorragend angepasst sind. Lediglich zum Brüten und zum Federwechsel kehren sie an Land zurück; dort leben sie an den felsigen Küsten der südlichen Kontinente, in kühlen Wäldern der gemäßigten Zonen, an subtropischen Sandstränden, auf weitgehend vegetationslosen Lavafeldern, subantarktischem Grasland oder auf dem Eis der Antarktis. Während die tropischen Arten standorttreu sind, entfernen sich andere im Winter teilweise mehrere hundert Kilometer vom Ozean, um zu ihren Brutgebieten zu gelangen.
== Fortbewegung ==
Die von Pinguinen durchschnittlich beim Schwimmen erreichte Geschwindigkeit beträgt Messungen zufolge etwa fünf bis zehn Kilometer pro Stunde, obwohl in kurzzeitigen Sprints auch höhere Geschwindigkeiten denkbar sind. Eine besonders schnelle Fortbewegungsart ist das „Delfinschwimmen“; dabei verlässt das Tier wie ein Delfin sprungartig jeweils kurzzeitig das Wasser. Die Gründe für dieses Verhalten liegen noch im Dunkeln: Möglicherweise nutzt es den in der Luft niedrigeren Strömungswiderstand, vielleicht dient es aber auch dazu, Fressfeinde zu verwirren.
Beim Tauchen legen manche Pinguine erstaunliche Leistungen an den Tag: Während die kleineren Arten wie der Eselspinguin (Pygoscelis papua) meist nur für etwa eine, selten mehr als zwei Minuten abtauchen und dann auch „nur“ Tiefen von etwa 20 Metern erreichen, sind bei Kaiserpinguinen länger als 18 Minuten andauernde Tauchgänge belegt, bei denen schon Tauchtiefen von mehr als 530 Metern gemessen wurden. Obwohl insbesondere die extremen Leistungen der Großpinguine bis heute nicht richtig erklärbar sind, ist bekannt, dass während des Tauchens der Herzschlag der Tiere auf bis zu ein Fünftel des normalen Ruhewertes herabgesetzt sein kann, was den Sauerstoffverbrauch verringert und damit die mit derselben Menge Atemluft mögliche Tauchzeit vervielfacht. Die Druck- und Temperaturregulation bei tiefen Tauchgängen ist dagegen zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch eine Herausforderung für die Forschung.
Beim Verlassen des Wassers können Pinguine durch Sprünge Höhen von bis zu 1,80 Metern überwinden. Durch ihre verhältnismäßig kurzen Beine bewegen sie sich an Land meist watschelnd fort, eine Fortbewegungsart, die, wie biomechanische Studien ergeben haben, allerdings überraschend energieeffizient ist. Auf dem Eis können sie dagegen auch sehr schnell vorwärtskommen, indem sie auf dem Bauch bergabwärts schlittern. Manche Arten legen zwischen ihren Brutkolonien und dem Meer kilometerlange Wege zurück.
== Ernährung ==
Je nach Größe ernähren sich Pinguine von Fischen, häufig zum Beispiel vom Antarktischen Silberfisch (Pleuragramma antarctica), von Sardellen (Engraulidae) oder Sardinen (in Clupeidae), von Krebstieren wie Krill oder kleinen Tintenfischen, die aktiv auf Sicht gejagt und noch unter Wasser verschluckt werden. Teilen sich unterschiedliche Arten denselben Lebensraum, so haben sie in der Regel unterschiedliche Nahrungsvorlieben: So verzehren Adelie-Pinguine und Zügelpinguine Krill unterschiedlicher Größe.
Die auf Kleinkrebse spezialisierten Arten sind viel stärker auf regelmäßige Beute angewiesen als die fischjagenden Pinguine, benötigen zum Fang allerdings auch weniger Energie: Während letzteren oft ein Erfolg in zehn Versuchen reicht, müssen erstere pro Tauchgang bis zu 16 Kleinkrebse aufspüren – umgerechnet etwa einen Fang in sechs Sekunden –, um ihren Energiebedarf und den ihrer Jungen zu decken. Die Zahl der Tauchgänge pro Jagdzug ist art- und jahreszeitabhängig: Während der Brutzeit beträgt sie bei Zügelpinguinen (Pygoscelis antarctica) mehr als 190, während Kaiserpinguine auf ihren ausgedehnten tagelangen Zügen durchaus mehr als 860 Tauchgänge unternehmen können.
Während der Mauser und bei Großpinguinen (Aptenodytes), Adeliepinguinen (Pygoscelis adeliae), Zügelpinguinen (Pygoscelis antarctica) und Schopfpinguinen (Eudyptes) auch in der Brutsaison müssen viele Pinguine ganz auf Nahrung verzichten. Die Fastenzeit ist bei den einzelnen Arten unterschiedlich lang und beträgt etwa einen Monat bei den Adelie- und Schopfpinguinen, kann bei männlichen Kaiserpinguinen aber mehr als dreieinhalb Monate andauern. Während dieser Zeit können sie bis zu knapp der Hälfte ihres Körpergewichtes verlieren, da die Vögel ihre Stoffwechselenergie dann aus den vor der Mauser- bzw. Brutsaison aufgebauten Fettreserven beziehen müssen. Bei Eselspinguinen (Pygoscelis papua), Gelbaugenpinguinen (Megadyptes antipodes), Zwergpinguinen (Eudyptula minor) oder Brillenpinguinen (Spheniscus demersus) wechseln sich Männchen und Weibchen dagegen beim Brüten ab, so dass sie nur während der Mauser auf ihre Fettreserven zurückgreifen müssen.
Für Untersuchungen darüber, dass sich im Darm von defäkierenden Pinguinen Drücke von bis zu einer halben Atmosphäre (450 Torr) entwickeln, wurden drei Wissenschaftler 2005 mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet.Ihren Wasserbedarf decken Pinguine hauptsächlich aus dem Meer. Überschüssiges Salz wird durch spezielle Salzdrüsen, die oberhalb der Augen liegen, wieder ausgeschieden.
== Fortpflanzung ==
In welchem Alter Pinguine den ersten Anlauf zur Fortpflanzung unternehmen, hängt zum einen von der Art, zum anderen auch vom Geschlecht ab. So brüten Zwerg-, Gelbaugen-, Esels- und Brillenpinguine erstmals mit zwei Jahren; die Weibchen von Adelie-, Zügel-, Königs- und Kaiserpinguinen beginnen meist ein Jahr später mit dem ersten Brutversuch, während die Männchen dieser Arten noch zwölf weitere Monate mit der Fortpflanzung warten. Goldschopfpinguine brüten sogar erst im Alter von fünf Jahren.
Bei den vorstehenden Angaben handelt es sich um statistische Mittelwerte: In der Praxis kommt es mit zunehmendem Alter zu immer längeren Aufenthalten in der Brutkolonie, bis schließlich das Brutverhalten selbst einsetzt. So besuchen zum Beispiel bei den Königspinguinen nur wenige Einjährige überhaupt die Kolonie; auch in ihrem zweiten Lebensjahr erscheinen die Tiere dort oft nur für ein paar Tage. In den Folgejahren verschiebt sich das erste Auftauchen in der Kolonie jedoch nicht nur von Mal zu Mal nach vorne, sondern auch die Verweildauer steigt mit zunehmendem Alter deutlich an. Bei Männchen der Großpinguine ist es durchaus nicht ungewöhnlich, erst ab dem achten Lebensjahr mit dem Brüten zu beginnen.
Der jahreszeitliche Beginn der Brutzeit ist in erster Linie von klimatischen Faktoren abhängig. Während die weiter nördlich lebenden Galápagos-, Zwerg- und Brillenpinguine über das ganze Jahr hin brüten können und Zwergpinguine in Einzelfällen zwei Bruten pro Jahr aufziehen, beginnen fast alle in subantarktischen bis arktischen Klimaverhältnissen lebenden Pinguine grundsätzlich im Frühling oder Sommer mit der Eiablage. Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel stellen die Kaiserpinguine dar, bei denen die Brutzeit im Herbst beginnt. Die Jungen werden dann ausgerechnet während des antarktischen Winters bei Temperaturen von bis zu −40 Grad Celsius aufgezogen – einzigartige Anpassungen an das Leben in der Kälte sind bei ihnen daher überlebenswichtig. Auch die Jungen der Königspinguine überwintern in den (weiter nördlich gelegenen) Brutkolonien. Sie werden in dieser Zeit von ihren Eltern aber nur selten gefüttert, so dass es bei ihnen im ersten Winter zu einem erheblichen Gewichtsverlust kommt.
Pinguine sind nicht nur im Wasser, sondern auch an Land sehr gesellige Tiere. Insbesondere die Eiablage, Brut und die weitere Aufzucht der Jungen finden bei vielen Arten synchron in großen Brutkolonien statt, die im Extremfall bis zu fünf Millionen Tiere umfassen können.
Bei den nicht permanent siedelnden Arten betreten zur Brutzeit meist als erstes die Männchen die Kolonie und versuchen bei fast allen Arten, sich ein kleines Territorium zu sichern, das allerdings selten mehr als einen Quadratmeter Fläche umfasst. Ihr Sozialverhalten ist somit nestgebunden. Eine Ausnahme bilden lediglich die Großpinguine, die für ihre Eier keine Nester anlegen und nur gegenüber ihren Partnern und ihrem Nachwuchs auffälliges Verhalten zeigen.
Darauf versuchen die Männchen durch trompetenhaftes Rufen, ein Weibchen zu gewinnen. Handelt es sich nicht um den ersten Brutversuch, ist dies oft die Partnerin vom letzten Jahr. Die „Scheidungsrate“ ist bei Pinguinen je nach Art unterschiedlich hoch: Die Prozentzahl der Gelbaugenpinguine, die nach einem Jahr einen anderen Partner wählten, liegt mit 14 sehr niedrig; ihre Partnertreue wird auch dadurch unterstrichen, dass zwölf Prozent der Partnerschaften länger als sieben Jahre andauern. Dagegen liegt die jährliche Trennungsrate bei Adeliepinguinen bei mehr als 50 Prozent, entsprechend sind keine Partnerschaften bekannt, die länger als sechs Jahre überdauert hätten. Es ist bekannt, dass der Bruterfolg des Vorjahres bei der Frage der Partnerwahl eine gewichtige Rolle spielt.
Zwischen der Komplexität des Sozialverhaltens und der Mechanismen zur Partnererkennung einerseits und der Koloniegröße andererseits besteht ein enger Zusammenhang: Die Paarungsrituale der in riesigen Kolonien eng beieinander lebenden Adelie-, Zügel-, Esels- und Schopfpinguine sind sowohl visuell als auch lautlich besonders auffällig; die in dichter Vegetation lebenden Gelbaugenpinguine oder die in weit auseinander liegenden Nestern brütenden Zwergpinguine sind dagegen weitaus zurückhaltender.
=== Eiablage und Brutreduktion ===
Nach der Kopulation, zu der das Männchen auf dem Rücken der Partnerin balancieren muss, erfolgt die Eiablage. Während Kaiser- und Königspinguine ihr jeweils einziges Ei auf ihren Füßen ausbrüten, legen bei allen anderen Arten die Pinguinweibchen im Abstand von drei bis fünf Tagen zwei Eier in ein einfaches Nest, das aus den in der Umgebung vorhandenen Materialien wie Gräsern oder kleinen Kieselsteinen angelegt wird. Die Eifarbe ist weiß oder grünlich.
Nicht alle Eier werden erfolgreich ausgebrütet: Gerade bei jungen Paaren kommt es oft gar nicht erst zum Schlüpfen der Jungen; so wurden bei zweijährigen Eltern Schlupfraten von weniger als 33 Prozent nachgewiesen. Der Bruterfolg steigt dann mit zunehmendem Alter rapide an und erreicht Werte von über 90 Prozent; erst bei sehr alten Pinguinpaaren fällt er wegen der dann abnehmenden Fruchtbarkeit langsam wieder auf etwa 75 Prozent ab.
Meist ist das erste Ei etwas größer als das zweite, so dass das erste Küken etwas eher schlüpft als sein Geschwisterküken. Die Brutdauer beträgt je nach Art zwischen einem und zwei Monaten. Das erstgeborene Jungtier wird von seinen Eltern bevorzugt und erhält zum Beispiel regelmäßig mehr Nahrung als das zweitgeschlüpfte, welches meist schnell stirbt. Diese sogenannte Brutreduktion ist eine evolutionäre Anpassung an ein begrenztes Nahrungsangebot: Durch den schnellen Tod des zweiten Kükens wird sichergestellt, dass die Überlebenschancen des ersten nicht durch Verteilung der knappen Ressourcen auf zwei Nachkommen herabgesetzt werden. Umgekehrt haben sich die Eltern durch das zweite Ei „rückversichert“, falls das erste Küken frühzeitig umkommen sollte.
Während es bei den meisten Arten nur bei knappem Nahrungsangebot zur Brutreduktion kommt und die Dickschnabelpinguine (E. pachyrhynchus) sogar fast immer beide Küken aufziehen, ist bei allen Schopfpinguinen Brutreduktion die Regel. Interessanterweise ist in dieser Gattung das zweitgelegte Ei das größere (der prozentuale Unterschied liegt zwischen 20 und 70 Prozent), aus dem dann das erste Jungtier schlüpft.
=== Aufzucht ===
Die Aufzucht der Jungen lässt sich in zwei Phasen unterteilen:
In den ersten zwei bis drei – bei Großpinguinen sogar sechs – Wochen werden das bzw. die Küken permanent von einem Elternteil beaufsichtigt, während der Partner auf Nahrungssuche geht.
Sobald die Jungtiere herangewachsen sind, beginnt die „Kindergarten“-Zeit, in der die Jungen sich in Gruppen zusammenschließen, während beide Alttiere versuchen, Nahrung herbeizuschaffen. Je nach Art können solche auch Crèches genannten Gruppen nur einige wenige Tiere aus benachbarten Nestern umfassen wie zum Beispiel bei Zügel- oder Brillen-Pinguinen oder sich aus Tausenden Individuen zusammensetzen wie bei Adelie-, Esels- oder Großpinguinen.Die Fütterungszeiten sind stark artabhängig: Eselspinguine füttern ihren Nachwuchs täglich, Adelie- oder Zügelpinguine nur alle zwei Tage, die Großpinguine oft nur alle vier Tage oder seltener. Allerdings sind bei letzteren die Mahlzeiten dann umso größer. Die Futtermenge ist meist dem Entwicklungsstand der Jungen angepasst, doch immer enorm im Verhältnis zum Körpergewicht: Schon junge Küken kleiner Pinguinarten können leicht 500 g Nahrung pro Fütterung erhalten; Großpinguine geben sogar auf einen Schlag bis zu einem Kilogramm Fisch an ihr Junges weiter. Königspinguin-Junge können nach zwölf Monaten schwerer sein als ihre Eltern.
Bei den nicht dauerhaft kolonielebenden Arten wird nach der elterlichen Mauser die Kolonie schnell verlassen, bei den Schopfpinguinen zum Beispiel innerhalb einer Woche. Die elterliche Fürsorge ist damit in aller Wahrscheinlichkeit beendet – von einer Fütterung auf See wurde bisher nicht berichtet, sie ist auch schwer vorstellbar. Bei den Eselspinguinen, die das ganze Jahr über in der Nähe ihrer Kolonie zubringen, kehren die Jungen noch für zwei bis drei Wochen regelmäßig zu ihren Eltern zurück und erhalten dort weiteres Futter; danach sind auch sie auf sich allein gestellt.
=== Lebenserwartung ===
Ihre Überlebenschancen sind in den ersten zwölf Monaten gering. Bei Adeliepinguinen zum Beispiel leben nach dem harten ersten Jahr nur noch schätzungsweise knapp die Hälfte aller Jungen. Ein bedeutender Faktor, der ihre Lebensaussichten maßgeblich beeinflusst, ist der Umfang der in der Brutkolonie angesetzten Fettreserven, der wiederum von der Fütterung durch die Alttiere und damit von deren Jagderfolg abhängt.
Die Überlebenswahrscheinlichkeit erwachsener Tiere liegt dagegen wesentlich höher: Sie beträgt bei den kleinen Adeliepinguinen 70 bis 80, bei den Großpinguinen über 90 Prozent. Pinguine können ein Alter von mehr als 25 Jahren erreichen.
== Natürliche Feinde ==
Aufgrund der meist isoliert gelegenen Brutplätze haben erwachsene Pinguine an Land so gut wie keine Feinde; vom Menschen eingeführte Säugetiere wie Hunde und Katzen stellen allerdings regional eine ernste Bedrohung dar. Pinguine können zur Verteidigung sowohl ihren Schnabel als auch ihre Flossen als wirksame Waffen einsetzen. Küken werden unbeaufsichtigt dagegen schnell zur Beute der Subantarktikskuas (Catharacta antarctica). Diese Vögel und einige Möwen nutzen jede sich bietende Gelegenheit, um Eier zu stehlen.
Seeleoparden (Hydrurga leptonyx), Südliche Seebären (Arctocephalus), Australische (Neophoca cinerea) und Neuseeländische Seelöwen (Phocarctos hookeri) sowie Orcas (Orcinus orca) und Haie (Selachii) jagen Pinguine im Meer, insbesondere die angegebenen Robbenarten patrouillieren oft im flachen Wasser vor den Brutkolonien, wo Pinguine ihre hohe Manövrierfähigkeit nicht gut ausspielen können. Es wird geschätzt, dass auf diese Weise etwa fünf Prozent aller Adeliepinguine pro Jahr getötet werden.
Daher rührt vermutlich die auf den ersten Blick seltsam anmutende Angst der Vögel vor dem Gang ins Wasser, an das sie doch so gut angepasst sind. Vor dem Losschwimmen nähern sich Pinguine oft in kleineren Gruppen zögerlich dem Ufer, offensichtlich jeder mit dem Wunsch, nicht der erste sein zu müssen, der das Meer betritt (Pinguin-Effekt); oft dauert diese Prozedur bis zu einer halben Stunde. Sobald ein einzelner schließlich genug Mut gefasst hat und ins Wasser springt, folgen alle anderen nach.
== Gefährdung ==
Drei Arten, der Kronenpinguin (Eudyptes sclateri), der Gelbaugenpinguin (Megadyptes antipodes) und der Galápagos-Pinguin (Spheniscus mendiculus), werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts als vom Aussterben bedroht eingestuft, sieben weitere gelten als gefährdet.
Zu dem Gründen zählen der Verlust des Lebensraums, wie zum Beispiel beim Gelbaugenpinguin, dessen Bestände durch zunehmende Landnutzung und menschliche Eingriffe in das Dünensystem Neuseelands bedroht sind. Ausgewilderte Säugetiere stellen ebenfalls eine Gefahr dar, wie beim Galápagos-Pinguin, dessen auf zwei Inseln beschränkte Brutkolonien durch streunende Hunde dezimiert wurden. Darüber hinaus spielen klimatische Veränderungen eine Rolle: Die Populationen der Galápagos-Pinguine wurden in den 1980er und 1990er Jahren durch einen Kollaps der Fischbestände dezimiert, der auf das mit dem Klimawandel in Verbindung gebrachte El-Niño-Phänomen zurückgeführt werden kann.
Felsenpinguine (Eudyptes chrysochome), Magellan-Pinguine (Spheniscus magellanicus) oder Humboldt-Pinguine (Spheniscus humboldti) geraten auf ihren ausgedehnten Beutezügen nach Sardellen und Sardinen in subantarktischen Gewässern immer wieder in Konflikt mit der kommerziellen Fischerei, die sich teilweise auf dieselben Arten spezialisiert hat. Während von Seiten der Fischer Klagen über Einkommenseinbußen erhoben werden, verlieren viele Pinguine ihre Nahrungsgrundlage. Es gibt allerdings Bemühungen, diesen Konkurrenzkonflikt unter Berücksichtigung der Interessen der Fischer zu entschärfen.
Brillenpinguine und Magellan-Pinguine, deren Kolonien sich am Kap der Guten Hoffnung in Südafrika oder an der Magellanstraße vor Südamerika befinden, leiden besonders unter der Ölverschmutzung, die durch die dort verlaufenden Schifffahrts- und insbesondere Tankerrouten bedingt ist. Verölte Pinguine können zwar eingefangen, gesäubert und wieder in die Freiheit entlassen werden; dies ist jedoch ein sehr zeitraubender und kostenträchtiger Prozess. Sie verfangen sich auch oft in Fischernetzen.
Auf der anderen Seite hat die intensive Bejagung der Bartenwale (Mysticeti) und die dadurch ausgelöste Krill-Vermehrung zu einer erheblichen Zunahme bei Zügel- und auch Königspinguinen geführt; die meisten antarktischen Arten gelten wegen der Abgelegenheit ihres Lebensraums als stabil.
=== Pinguine als Forschungsobjekte – Gefährdung durch Markierung und Fehlschlüsse ===
Für einige Aufregung bei Zoologen und Klimaforschern hat die Erkenntnis gesorgt, dass gerade eine für Migrationsuntersuchungen sehr verbreitete Methode, das Anbringen von Markierungsbändern an den Flossen (engl. flipper bands, Flossenbänder) freilebende Pinguine erheblich gefährdet und in ihrer Lebensweise stark beeinträchtigt. So zeigt eine zehnjährige Untersuchung einer Kolonie von Königspinguinen, dass markierte Tiere eine um 16 % geringere Überlebenschance haben und 39 % weniger Küken produzieren als nicht-markierte Pinguine. Eine Erklärung dafür ist, dass die Markierungsbänder durch die andauernde Reibung zu Verletzungen an den Flossen und den umgebenden Körperteilen führen können, beträgt doch die Flossenschlagfrequenz eines mittelgroßen Pinguins während des Schwimmens rund drei Schläge pro Sekunde. Zudem müssen mit Flossenbändern markierte Pinguine ca. 24 % mehr Kraft zum Schwimmen aufwenden als unmarkierte Tiere. Infolge dieser Beeinträchtigung dauert bei ihnen die Futtersuche erheblich länger, und sie treffen im Durchschnitt 16 Tage später an den Brutplätzen ein als die anderen Tiere.
Pinguine, wie auch andere Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette, werden vielfach als integrative Indikatorspezies herangezogen, um den Einfluss des Klimawandels auf das marine Ökosystem des südpolaren Ozeans zu untersuchen. Die Zehnjahresstudie zeigt jedoch eindeutig, dass markierte Tiere in anderer Weise auf Umweltveränderungen – etwa infolge des wärmeren Klimas – reagieren als nicht markierte. Dies lässt erhebliche Zweifel an der Aussagekraft von Daten zu, die mit Hilfe von Markierungsbändern gewonnen wurden. Mithin sollte nach Ansicht der Forscher die Verlässlichkeit von flossenband-markierten Pinguinen als Indikatoren des Klimawandels und seiner Folgen für das südpolare Ökosystem neu überdacht werden.
== Pinguine und der Mensch ==
Die erste Begegnung zwischen Menschen und Pinguinen ist aus Australien bezeugt: Archäologische Knochenfunde in Lagerstätten der Aborigines zeigen, dass Pinguine in vorgeschichtlicher Zeit einen Bestandteil der Nahrung dieser australischen Ureinwohner bildeten.
In Europa wurden Pinguine erst gegen Ende des 15. und mit Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Erkundungsfahrten der portugiesischen Seefahrer unter Vasco da Gama und Ferdinand Magellan bekannt. Der erste bekannte Hinweis auf die Vögel entstammt dem Tagebuch Vasco da Gamas vom 25. November 1497, als dieser in der Mossel Bay an der Küste Südafrikas vor Anker lag. Er begegnete dort den heute als Brillenpinguin (Spheniscus demersus) bezeichneten Vögeln. Der Brillenpinguin ist auch die erste wissenschaftlich beschriebene Art, von der sich der lateinische Familien- und Ordnungsname ableitet – er wurde bereits 1758 von dem schwedischen Systematiker Carl von Linné in seinem Werk Systema Naturae behandelt. Fast alle anderen Arten wurden dagegen erst mit der Erforschung des südlichen Ozeans im späten 18. Jahrhundert und 19. Jahrhundert entdeckt.
Früher wurden ganze Kolonien durch Einsammeln der Eier für Nahrungszwecke und Abschlachten der erwachsenen Tiere zur Ölgewinnung aus der reichen Fettschicht ausgelöscht. Zudem wurden Pinguine als Brennmaterial für die Tranerzeugung genutzt.Pinguine sind sehr neugierige Vögel und an Land weitgehend furchtlos; sie haben von Natur aus wenig Angst vor Menschen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie Menschen lediglich für eine andere Pinguinart halten; diese Auffassung kann naturgemäß nicht wissenschaftlich bestätigt werden.
In Mitteleuropa lassen sich Pinguine nur in zoologischen Gärten betrachten. Manche bieten auch sogenannte „Pinguinmärsche“ an, bei denen die Vögel aus ihren Gehegen gelassen werden und unter Begleitung und Beobachtung der Tierpfleger einen kleinen Rundgang um ihr Zuhause unternehmen können. Pinguinmärsche werden beispielsweise in den zoologischen Gärten von Münster und München angeboten, in der Schweiz im Zoo Zürich und im Zoo Basel; der Pinguinmarsch im Zoo von Edinburgh gilt als sehenswert.
Pinguine sind bei Menschen beliebt und können leidenschaftlichen Zuspruch auslösen. Als Grund wird oft die scheinbare Unbeholfenheit der Tiere angeführt: Die hüpfenden, daherschliddernden und watschelnden Vögel wirken auf viele Betrachter erheiternd und unfreiwillig komisch. Das entfernt an weißes Hemd und schwarzen Smoking, also an sehr formelle Herrenkleidung, erinnernde Gefieder verstärkt diesen Eindruck noch. Kühlschränke sind ebenso nach ihnen benannt wie Eishockey-Mannschaften, und auch ein großer englischer Buchverlag tritt unter ihrem englischen Namen Penguin auf. Bis heute scheint dieser Charme nicht verblasst zu sein: Als Linus Torvalds, der Urheber des Free-Software-Betriebssystems Linux, nach einem Maskottchen suchte, entschied er sich mit Tux für einen Pinguin.
Umgekehrt war es vielleicht gerade das friedlich-charmante Image, das die Urheber der Comic-Serie Batman dazu bewog, der sinistren Figur des obersten Bösewichts ausgerechnet den Namen Pinguin zu geben. Danny DeVito verkörperte diese Rolle im Jahr 1992 im Film Batmans Rückkehr. Freundlich-friedlich begegnen Pinguine dem Zuschauer dagegen in der Kindertrickfilmfigur Pingu des Schweizer Fernsehens.
== Stammesgeschichte ==
Die Pinguine gehören zu einer Gruppe von See- und Wasservögeln, die sich wohl in der frühen Kreidezeit von den anderen Vogelgruppen trennte und zu der unter anderem die Seetaucher (Gaviiformes) und Röhrennasen (Procellariiformes) gehören. Die Gruppe wurde durch den Vergleich von DNA bestimmt und erhielt im Jahr 2015 die wissenschaftliche Bezeichnung Aequorlithornithes.Kladogramm nach Prum et al.:
Die seit dem frühen Tertiär bekannten Fossilien geben nur wenig Einblick in die stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse, da schon die frühen Pinguine sich sehr deutlich von allen anderen Vögeln abheben. Allerdings erinnert das Flügelbein (Pterygoid) der ausgestorbenen Gattung Paraptenodytes an den entsprechenden Knochen der Röhrennasen, und der lange spitze Schnabel der Gattung Palaeeudyptes weist Ähnlichkeiten mit den Schnäbeln der Seetaucher auf. Letztere können wie die Pinguine unter Wasser tauchen, erhalten ihren Vortrieb aber durch die Füße und nicht durch Flossen. Es gibt jedoch fossile Hinweise darauf, dass die Vorfahren der Seetaucher sich unter Wasser wie die heutigen Pinguine mit Hilfe ihrer Flügel fortbewegten.
Wie die Erscheinungsform der Pinguine entstand, ist unbekannt: Die ersten Pinguinfossilien stammen aus dem Paläozän vor 61 bis 58 Mio. Jahre und wurden unter der Gattungsbezeichnung Waimanu beschrieben. Nur wenig jünger ist Kumimanu. Fossilien, die aus dem Eozän vor 55 Millionen Jahren erhalten sind und auf der vor Antarktika gelegenen Seymour-Insel gefunden wurden, zeigen schon die typischen Pinguinmerkmale.
Klar ist, dass die Pinguine von fliegenden Vögeln abstammen, die wohl wie die heutigen Seetaucher bereits unter Wasser jagen konnten. Der Flug in Luft und das Schwimmen unter Wasser stellen aber sehr unterschiedliche Ansprüche an den Vogelflügel – als Folge können die fliegenden und tauchenden Vorfahren der Pinguine wenig größer als etwa die heutigen Zwerg- oder Brillenpinguine gewesen sein. Daraus ergibt sich ein – hypothetisches – Szenario, nach dem die Pinguine von einer Population kleiner standorttreuer Meeresvögel abstammen, die bei Wassertemperaturen oberhalb von etwa 15 Grad Celsius in küstennahen Gewässern der Subtropen oder gemäßigten Zone lebten und wie zum Beispiel die Galápagos-Pinguine auf isolierten Inseln nisteten. Im Zuge einer immer besseren Anpassung an das Meer bildeten sich ihre Flügel immer weiter zu Flossen um, während die Beine nach hinten wanderten, um den Strömungswiderstand beim Schwimmen zu verringern. Mit der Spezialisierung auf den Lebensraum Meer und zunehmender Körpergröße ging zwar gleichzeitig ein Verlust der Flugfähigkeit einher und der durch die zurückgesetzten Beine erzwungene Watschelgang an Land gefährdete die Tiere theoretisch auch an Land; dies war jedoch bei Abwesenheit von Fressfeinden kein evolutionärer Nachteil.
Das genaue Gebiet, in dem die Entwicklung der Pinguine stattfand, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, hypothetisch werden aber sowohl Neuseeland als auch die damals noch wesentlich wärmere Antarktis in Betracht gezogen. Unbestritten ist nur, dass die Pinguine auf der Südhalbkugel entstanden sind, da kein einziges Fossil nördlich des Äquators gefunden werden konnte. Warme äquatoriale Meeresströmungen stellten in der Folgezeit dann anscheinend eine unüberwindliche Barriere für die Vögel dar; daneben wird auch die hohe Zahl schneller Raubfische in tropischen Breiten wie etwa Haien als Ursache dafür in Betracht gezogen, dass die Pinguine nie den Äquator überschritten haben.
Die weitere stammesgeschichtliche Entwicklung lässt sich nur grob nachvollziehen, auch wenn bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts mindestens 17 fossile Gattungen beschrieben wurden. Kein vollständiges Skelett ist erhalten, die meisten Fossilien stammen zudem von großen Vögeln; dies ist vermutlich nur ein Auswahleffekt, der sich durch die wesentlich bessere Fossilisierung ihrer Knochen erklären lässt und wohl keine systematische Bedeutung hat.
Die höchste Artenvielfalt der Pinguine wurde im Tertiär, insbesondere in den erdgeschichtlichen Epochen des Oligozäns und frühen Miozäns erreicht. Zu dieser Zeit lebten auch die größten Pinguine, die eine Körperlänge von bis zu 1,70 Metern erreichten. Eine dieser Arten war beispielsweise Pachydyptes ponderosus. Warum die Riesenpinguine schließlich im Miozän ausstarben, ist unbekannt; spekulativ wird die zunehmende Konkurrenz durch Robben (Pinnipedia) und Wale (Cetacea) angeführt: Die Riesenpinguine brauchten zum Tragen des Körpergewichts bei ihren regelmäßigen Landgängen sehr große Beine und Füße, die im Meer nutzlos mitgeschleppt werden mussten – anders als bei den vollständig meereslebenden Säugetieren, die ihre Hintergliedmaßen zu Flossen umbilden oder gleich ganz aufgeben konnten.
Etwas früher, vor etwa 25 Millionen Jahren, am Wendepunkt von Oligozän und Miozän, begann auch die durch die Öffnung der Drake-Passage zwischen der Antarktis und Südamerika ausgelöste Bildung des kalten Zirkumpolarstroms, der Antarktika klimatisch isolierte und so eine Absenkung der Wassertemperaturen um mehr als zehn Grad herbeiführte. Als bereits wasserlebende und daher gut wärmeisolierte Tiere waren die Pinguine auf diesen Temperatursturz verhältnismäßig gut vorbereitet, so dass man von Exaptation sprechen kann, in diesem Fall der Nutzbarmachung einer für eine bestimmte ökologische Nische entwickelten Merkmalskombination für eine andere Nische.
Die modernen Pinguingattungen tauchen erst im Pliozän vor drei Millionen Jahren auf.
== Systematik ==
Unter den lebenden Pinguinen unterscheidet man insgesamt 18 Arten in sechs Gattungen:
Die Langschwanzpinguine (Pygoscelis) sind ohne Ausnahme schwarz-weiß gefiedert und mausern am Ende der jeweiligen Brutsaison. Man unterscheidet drei Arten, den Eselspinguin (P. papua), den Adeliepinguin (P. adeliae) und den Zügelpinguin (P. antarctica), der auch Kehlstreifpinguin genannt wird. Alle Arten sind sehr sozial, der Zügelpinguin bildet auf Deception Island mit schätzungsweise fünf Millionen Brutpaaren die größte Pinguinkolonie.
Die Großpinguine (Aptenodytes), zu denen man den Königspinguin (A. patagonicus) und den Kaiserpinguin (A. forsteri) zählt, umfassen die beiden größten Pinguinarten. Sie besitzen einen langen, schlanken, leicht gekrümmten Schnabel und jeweils einen charakteristischen orangefarbenen Fleck am Hals. Großpinguine bauen kein Nest; das einzige Ei wird stattdessen auf den Füßen ausgebrütet.
Die Schopfpinguine (Eudyptes) umfassen die größte Artenvielfalt. Die Gruppe ist recht divers, zeichnet sich aber durch gelb-orangefarbenen Federschmuck am Kopf aus. Schopfpinguine leben hauptsächlich in den Gewässern um Neuseeland, ihre Kolonien bestehen nur während der Brutsaison. Bei allen Arten kommt es zur obligaten Brutverringerung: Obwohl immer zwei Eier gelegt werden, wird nur ein Jungtier aufgezogen, um eine ungünstige Nahrungsaufteilung, bei der am Ende keines der Jungtiere genug Nahrung erhält, zu vermeiden.
Die Gattung der Gelbaugenpinguine (Megadyptes) ist monotypisch, umfasst also nur eine Art, den Gelbaugenpinguin (M. antipodes), der im südlichen Neuseeland brütet. Gelbe Federn weisen auf seine enge Verwandtschaft mit den Schopfpinguinen hin.
Die Gattung der Zwergpinguine (Eudyptula) enthält nur eine Art, den Zwergpinguin (E. minor), manche Taxonomen sind jedoch der Ansicht das die Populationen Australiens und Neuseelands jeweils eigenständige Arten darstellen und führen die australische Population unter der Bezeichnung Eudyptula novaehollandiae.
Die Brillenpinguine (Spheniscus) bilden eine sehr homogene Gattung, die vermutlich sehr jungen Ursprungs ist. Die vier Arten zeichnen sich durch schwarze Streifen an den Flanken, ein charakteristisches schwarz-weißes Kopfmuster und nackte Haut am Kopf aus. Brillenpinguine sind die am weitesten nördlich lebenden Pinguine und sind in tropischen Regionen zuhause. Die Vögel bleiben das ganze Jahr über bei ihren Kolonien; Brutzeit und Mauser sind meist sehr variabel und recht unabhängig von der Jahreszeit. Zwergpinguine und die Jungen der Brillenpinguine sehen sich sehr ähnlich, ein Befund, der als Hinweis auf die enge Verwandtschaft der beiden Gattungen gewertet wird.Die verwandtschaftlichen Beziehungen der Gattungen und Arten zueinander kommen in dem folgenden Kladogramm zum Ausdruck, das auf der Analyse des Genoms aller Pinguinarten beruht:
=== Schnellübersicht nach Gattungen ===
Angegeben sind Bezeichnung, Lebensraum (und äußere Merkmale)
Langschwanzpinguine, Antarktis (schwarz-weiß gefiedert)
Eselspinguin/Rotschnabelpinguin, subantarktische Inseln/antarktische Halbinsel
Adeliepinguin, Antarktis
Zügelpinguin/Kehlstreifpinguin, subantaktische Inseln/antarktische Halbinsel
Großpinguine, Antarktis (größte Pinguine)
Königspinguin, subantarktische Inseln
Kaiserpinguin, Antarktis
Schopfpinguine, Neuseeland (gelb-orangefarbener Federschmuck am Kopf)
Dickschnabelpinguin/Fiordlandpinguin, Neuseeland
Snaresinselpinguin/Snares-Dickschnabelpinguin/Snarespinguin, Snaresinseln
Kronenpinguin/Sclater-Pinguin/Gelbschopfpinguin, Neuseeland
Haubenpinguin/Schlegelpinguin, subantarktische Inseln
Goldschopfpinguin, subantarktische Inseln/Süden Südamerikas
Felsenpinguin, subantarktische Inseln/subtropische Inseln
Tristanpinguin, südlicher Atlantik
Gelbaugenpinguine, Neuseeland (gelbe Federn am Auge)
Zwergpinguine, Neuseeland/Australien (kleinste Pinguine)
Brillenpinguine, tropische Regionen (schwarze Streifen an den Flanken, schwarz-weißes Kopfmuster, nackte Haut am Kopf)
Brillenpinguin, Afrika
Humboldt-Pinguin, Südamerika
Magellan-Pinguin, Südamerika
Galápagos-Pinguin, Galápagos-Inseln
== Sonstiges ==
Am 25. April wird international der Weltpinguintag begangen.
== Literatur ==
Niels Carstensen: Pinguine. Ellert & Richter, Hamburg 2002, ISBN 3-8319-0081-7
Boris M. Culik; Rory P. Wilson: Die Welt der Pinguine: Überlebenskünstler in Eis und Meer. Blv, München 1993, ISBN 3-405-14476-0
Boris M. Culik: Pinguine: Spezialisten fürs Kalte. Blv, München 2002, ISBN 3-405-16318-8
Andy Rouse, Tracey Rich: Pinguine. Stilvoll überleben im Südatlantik. Bassermann, München 2008, ISBN 3-8094-2237-1
Lloyd S. Davies: The Penguins. Species Monograph Series. Poyser, London 2003, ISBN 0-7136-6550-5
Kevin Schafer: Pinguin Land: Ihre Welt, unsere Welt. Tecklenborg Verlag, Steinfurt 2001, ISBN 3-924044-90-2
Kevin Schafer: Penguin Planet – Their World, our World. North Word Press, Minnetonka Minn 2000, ISBN 1-55971-745-9
George Gaylord Simpson: Penguins. Past and Present, Here and There. Yale University Press, New Haven 1976, ISBN 0-300-01969-6
Tony D. Williams: The Penguins. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-854667-X
Achim Kostrzewa: Pinguine – Überlebenskünstler in der Antarktis. In: Biologie in unserer Zeit Bd. 40, Nr. 2 (2010), ISSN 0045-205X, S. 102–109
== Weblinks ==
Videos, Fotos und Tonaufnahmen zu Pinguine on the Internet Bird Collection
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Pinguine |
Kunststoff | = Kunststoff =
Als Kunststoffe (auch Plaste, selten Technopolymere, umgangssprachlich Plastik) werden Werkstoffe bezeichnet, die hauptsächlich aus Makromolekülen bestehen.
Wichtige Merkmale von Kunststoffen sind ihre technischen Eigenschaften, wie Formbarkeit, Härte, Elastizität, Bruchfestigkeit, Temperatur-, Wärmeformbeständigkeit und chemische Beständigkeit, die sich durch die Wahl der Makromoleküle, Herstellungsverfahren und in der Regel durch Beimischung von Additiven in weiten Grenzen variieren lassen. Kunststoffe werden bezüglich ihrer physikalischen Eigenschaften in drei großen Gruppen unterteilt: Thermoplaste, Duroplaste und Elastomere. Die ISO 1043 legt für eine große Anzahl von Kunststoffen Kurzzeichen fest.
Kunststoffe werden zu Formteilen, Halbzeugen, Fasern oder Folien weiterverarbeitet. Sie dienen als Verpackungsmaterialien, Textilfasern, Wärmedämmung, Rohre, Bodenbeläge, Bestandteile von Lacken, Klebstoffen und Kosmetika, in der Elektrotechnik als Material für Isolierungen, Leiterplatten, Gehäuse, im Fahrzeugbau als Material für Reifen, Polsterungen, Armaturenbretter, Benzintanks und vieles mehr.
Die jeweiligen Makromoleküle eines Kunststoffes sind Polymere und daher aus wiederholenden Grundeinheiten aufgebaut. Die Größe der Makromoleküle eines Polymers variiert zwischen einigen tausend bis über eine Million Grundeinheiten. Beispielsweise besteht das Polymer Polypropylen (Kurzzeichen PP) aus sich vielfach wiederholenden Propyleneinheiten. Die Polymere können unverzweigte, verzweigte oder vernetzte Moleküle sein.
Die Polymere können aus Naturstoffen gewonnen oder rein synthetisch sein. Synthetische Polymere werden durch Kettenpolymerisation, Polyaddition oder Polykondensation aus Monomeren oder Prepolymeren erzeugt. Halbsynthetische Kunststoffe entstehen durch die Modifikation natürlicher Polymere (vorwiegend Zellulose zu Zelluloid), während andere bio-basierte Kunststoffe wie Polymilchsäure oder Polyhydroxybuttersäure durch die Fermentation von Zucker oder Stärke hergestellt werden.
Zwischen 1950 und 2015 wurden weltweit rund 8,3 Mrd. Tonnen Kunststoff hergestellt – das ergibt etwa 1 Tonne pro Kopf der Weltbevölkerung. Die Hälfte der Produktion stammt aus den letzten 13 Jahren. Von dieser Menge wurden ca. 6,3 Mrd. Tonnen zu Abfall, der zu 9 % recycelt, zu 12 % verbrannt und zu 79 % auf Müllhalden deponiert wurde bzw. sich in der Umwelt anreichert. Kunststoffe im Allgemeinen stehen wegen der Abfallproblematik und möglicher Gesundheitsgefahren in der Kritik.
== Entwicklungsgeschichte der Kunststoffe ==
=== Vorstufe ===
Biopolymere und natürlich vorkommende Polymere werden von Menschen schon seit Urzeiten verwendet. Alle Tiere und Pflanzen enthalten in ihren Zellen Polymere. Holz diente dem Menschen zunächst als Brennholz und Werkzeug, etwa als Wurfholz, Speer und als Baumaterial. Der Zellverband Tierhaut oder Fell wurde durch Gerben stabilisiert, damit vor dem raschen Verwesen geschützt und so zu haltbarem Leder. Aus Wolle, abgeschnittenen Tierhaaren, wurden durch Verspinnen und Weben oder durch Filzen Bekleidung und Decken hergestellt.
Birken lieferten den ersten Kunststoff der Menschheitsgeschichte, das aus Birkenrinde durch Trockendestillation gewonnene Birkenpech, das sowohl Neandertalern als auch dem steinzeitlichen Homo sapiens als Klebstoff bei der Herstellung von Werkzeugen diente.
In Mesopotamien wurden Wasserbecken und Kanäle mit natürlichem Asphalt abgedichtet. Ebenso wurden dort bestimmte Baumharze als Gummi Arabicum eingesetzt und nach Europa exportiert. Aus Europa ist Bernstein als fossiles Harz für die Verwendung bei Pfeilspitzen und Schmuckgegenständen bekannt. Im Mittelalter wurde Tierhorn durch bestimmte Verfahrensschritte in einen plastisch verformbaren Stoff verwandelt. Bereits um 1530 wurde im Hause der Fugger nach einem Rezept des bayerischen Benediktinermönches Wolfgang Seidel transparentes Kunsthorn aus Ziegenkäse gefertigt und vertrieben.
=== Industriegeschichte ===
==== Frühe Entwicklungen ====
Im 17. und 18. Jahrhundert brachten Naturforscher aus milchigen Baumsäften gewonnene, elastische Massen (Kautschuk) aus Malaysia und Brasilien mit. Für diese wurde in Deutschland der Begriff Gummi eingeführt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine rasch wachsende Gummiindustrie.
Der Erfinder Charles Goodyear stellte 1839 fest, dass sich Kautschuk bei Hitzeeinwirkung durch Zusatz von Schwefel in Gummi umwandelt. Dieser Prozess wird Vulkanisation genannt. Charles Goodyear fertigte aus dem neuen Material zunächst Gummihandschuhe. Um 1850 entdeckte er außerdem Hartgummi, ein durch Erhitzen in Gegenwart von Schwefel erhärteter Naturkautschuk, der anfangs als Ebonit vermarktet wurde. Daraus wurden zum Beispiel Schmuckstücke, Füllfederhalter, Klaviertasten, Tabakpfeifen und Teile von Telefonen hergestellt. Dieser erste Duroplast startete die Entwicklung der Kunststoffe als Werkstoff im Umfeld des Menschen.
Die Entwicklung des Zelluloids ist mehreren Chemikern zu verdanken. Christian Friedrich Schönbein entwickelte 1846 die Schießbaumwolle, indem er Baumwolle mit Salpetersäure versetzte. Der Engländer Maynard löste Schießbaumwolle in einem Ethanol-Äther-Gemisch und erhielt nach Verdampfung elastische Häutchen (Kollodium). Der Engländer Cuttin verknetete das Kollodium mit alkoholischer Campherlösung zu Zelluloid. Im Jahr 1869 nutzte John Wesley Hyatt das Zelluloid als Kunststoff und entwickelte drei Jahre später die erste Spritzgussmaschine. Später wurde in England das Zellulosenitrat zur Imprägnierung von Textilien entwickelt.
Max Fremery und Johann Urban lösten mit einer ammoniakalischen Kupferhydroxidlösung Zellulose auf. Mit dieser Lösung (Cupro) konnten leicht Kupfer-Reyon-Fäden als erste Viskosefaser hergestellt werden.
Adolf von Baeyer beschrieb 1872 die Polykondensation von Phenol und Formaldehyd. Der belgische Chemiker Leo Hendrik Baekeland untersuchte die Wirkung von Säure und Alkali bei dieser Reaktion und entwickelte 1907 ein Verfahren (seit 1909 in der technischen Produktion) zur Herstellung und Weiterverarbeitung eines Phenolharzes. Dieser von ihm Bakelit getaufte Kunststoff war der erste in großen Mengen industriell hergestellte, synthetische Duroplast. Dank seiner Eignung als elektrischer Isolator wurde er unter anderem in der aufstrebenden Elektroindustrie eingesetzt.
Wilhelm Krische und Adolf Spittler entwickelten 1885 das Galalith (Kunsthorn). Der Kunststoff ähnelt stark dem tierischen Horn oder Elfenbein. Das Kunsthorn wird aus Kasein und Formaldehydlösung hergestellt. Daraus wurden zum Beispiel Knöpfe, Anstecknadeln, Gehäuse für Radios, Zigarettendosen, Spielzeuge, Griffe für Regenschirme in den verschiedensten Farben gefertigt.
Der deutsche Chemiker Fritz Hofmann meldete 1909 ein Patent auf den synthetischen Kautschuk Methylkautschuk an. Die ersten vollsynthetischen Reifen aus Isoprenkautschuk wurden 1912 hergestellt.Der Berliner Apotheker Eduard Simon beschrieb im Jahr 1839 das Polystyrol. Das Styrol verwandelte sich zunächst in eine gallertartige Masse. Im Jahr 1909 untersuchte Hans Stobbe die Polymerisationsreaktion von Styrol detailliert. Erst zwanzig Jahre später wurde diese Entdeckung genutzt.
Im Jahr 1835 entdeckte Victor Regnault das Vinylchlorid, aus dem sich Polyvinylchlorid (PVC) herstellen ließ. Die erste Patentierung von PVC und von Polymeren aus Vinylacetat geht auf Fritz Klatte im Jahr 1912 zurück. Als weltweiter Pionier der Kunststoffverarbeitung gilt aber Coroplast, das sich als eines der ersten Unternehmen mit der Verarbeitung des PVC beschäftigte. Erst 1950 wurde dieses Verfahren durch Verbesserungen von Dow Chemical abgelöst.
Schon 1901 befasste sich Otto Röhm mit der Herstellung von Acrylsäure und Acrylsäureestern, aber erst 1928 fand er die für die Polymerisation besser geeigneten Methacrylsäuremethylester (MMA). Das 1933 erteilte Patent für Polymethylmethacrylat (PMMA, Markenname Plexiglas) startete eine neue Ära.
==== Entwicklung der Polymerchemie ====
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war wenig über die genauen Strukturen polymerer Materialien bekannt. Aus Dampfdruck- und Osmosemessungen war bekannt, dass es sich um sehr große Moleküle mit hoher Molmasse handeln müsste. Fälschlicherweise bestand die Meinung, dass man es mit kolloidalen Strukturen zu tun habe.
Als Vater der Polymerchemie gilt der deutsche Chemiker Hermann Staudinger. Bereits 1917 äußerte er vor der Schweizerischen Chemischen Gesellschaft, dass „hochmolekulare Verbindungen“ aus kovalent gebundenen, langkettigen Molekülen bestehen. 1920 veröffentlichte er in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft einen Artikel, der als Begründung der modernen Polymerwissenschaften gilt. Vor allem in den Jahren von 1924 bis 1928 folgten weitere wichtige Theorien über den Aufbau von Kunststoffen, die die Grundlage für das heutige Verständnis dieser Werkstoffklasse bilden. Für diese Arbeiten erhielt Staudinger 1953 den Nobelpreis.
Die Arbeiten Staudingers ermöglichten der chemischen Industrie nun, basierend auf gesicherten naturwissenschaftlichen Grundlagen, eine rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Polymerchemie.
Der Münchner Chemiker Ernst Richard Escales gab 1910 der Werkstoffgruppe den Namen „Kunststoffe“. Die von ihm gegründete gleichnamige Zeitschrift erschien erstmals 1911.
Bei dem Unternehmen Imperial Chemical Industries (ICI) in Großbritannien wurde unter hohem Druck (200 bar) und bei hohen Temperaturen im Jahre 1933 erstmals Polyethylen hergestellt. Erst zwanzig Jahre später entwickelte Karl Ziegler ein Verfahren, das mit Katalysatoren aus Aluminiumalkylen und Titantetrachlorid die Polymerisation von Ethen zu Polyethylen schon bei Raumtemperatur erlaubt. Das Niederdruck-Polyethylen erwies sich als wärmestabiler und mechanisch belastbarer. Kurz darauf fanden Ziegler und Giulio Natta einen Katalysator zur Polymerisation von Propen zu Polypropylen. 1955–1957 liefen die großtechnischen Synthesen von Polyethylen und Polypropylen an. Heute sind die so hergestellten Polyethylene (PE) und Polypropylen (PP) neben Polystyrol (PS) die am häufigsten als Verpackungsmaterialien von Lebensmitteln, Kosmetika etc. verwendeten Kunststoffe. Ziegler und Natta erhielten im Jahre 1963 für ihre Arbeiten den Nobelpreis für Chemie.
Kunststoffe aus Polyestern wurden schon sehr früh angedacht (Berzelius, 1847). 1901 gab es Glyptalharze (aus Glycerin und Phthalsäure). Fritz Hofmann, Wallace Hume Carothers und Paul Schlack suchten erfolglos nach synthetischen Fasern auf Basis von Polyestern. Erst den Briten Whinfield und Dickson gelang bei Calico Printers im Jahre 1941 die Herstellung von brauchbaren Polyesterfasern (Polyethylenterephthalat, PET). Wichtige Polyesterfasern wurden Dacron (DuPont), Diolen (ENKA-Glanzstoff), Terylen (ICI), Trevira (Hoechst).In Ludwigshafen begann 1934 die Herstellung von Epoxidharzen nach einem Verfahren von Paul Schlack. 1935 wurde gleichzeitig von Henkel (Mainkur) und Ciba (Schweiz) die Entwicklung von Melaminharz beschrieben.
Im Jahr 1931 meldete der US-Chemiker Wallace Hume Carothers bei DuPont ein Patent für ein Polyamid aus Hexamethylendiamin und Adipinsäure an. Erst sieben Jahre später war die neue Kunstfaser Nylon (1938) verkaufsfähig. Das von Paul Schlack 1937 hergestellte Polyamid 6 auf Basis von Caprolactam wurde Perlon getauft. Die großtechnische Herstellung begann 1939 bei den IG-Farben. Das Herstellungsverfahren von Perlon in Deutschland war preiswerter als die Nylonproduktion in den USA.Etwa zeitgleich begannen die Buna-Werke der I.G. Farben mit der Fertigung von Buna (Buna S und Buna N) als synthetischem Gummi-Ersatz. 1939 entwickelte Otto Bayer das Polyurethan (PU) in Leverkusen.
Bei DuPont wurde 1938 von R.J. Plunkett der Kunststoff Polytetrafluorethylen (Teflon) entwickelt, der eine hohe Temperaturbeständigkeit und eine außergewöhnliche chemische Beständigkeit aufwies. Die Verarbeitung bereitete jedoch Probleme. Erst 1946 ging Teflon in die Großproduktion.Silikon hatte im Jahr 1901 bereits Frederic Stanley Kipping aus Silanonen hergestellt. Erst durch die Synthese von Organosiliciumhalogeniden mit Alkylhalogeniden gelang es 1944 in den USA und Deutschland, Silikon günstig herzustellen (Eugene G. Rochow, Richard Müller).Seit Anfang der 1930er Jahre war die Polymerisation von Acrylnitril bekannt. Es war als Kunststoff jedoch so nicht brauchbar. Der Chemiker Rein konnte Polyacrylnitril in Dimethylformamid lösen und so für die Kunststoffproduktion brauchbar machen. 1942 wurde bei den IG Farben ein Polymerisationsverfahren zu Polyacrylnitril entwickelt. 1942 entdeckte Harry Coover (USA) bei Eastman Kodak den „Sekundenkleber“ Methylcyanacrylat.
== Einteilung ==
Je nach Blickwinkel des Betrachters und Anforderung können Kunststoffe verschiedenartig eingeteilt werden. Gängig sind Einteilungen nach mechanisch-thermischem Verhalten (häufigste Einteilung), Ursprung (natürlich oder synthetisch), Verwendung oder Entstehungsreaktion. Eine strenge Abgrenzung einzelner Kunststoffe ist oft nicht möglich, diese Einteilungen bieten allerdings eine gute Übersicht.
=== Einteilung nach mechanisch-thermischem Verhalten ===
Die Einteilung nach mechanisch-thermischem Verhalten erfolgt in Thermoplaste, Duroplaste und Elastomere. Außerdem existieren mit deutlich untergeordneter Bedeutung thermoplastische Elastomere und reversible Duroplaste. Diese Einteilung ist anwendungstechnischer Herkunft. Die unterschiedlichen Polymerklassen unterscheiden sich in ihren mechanischen Eigenschaften aufgrund der unterschiedlichen Vernetzung und ihrer Hitzebeständigkeit (Schmelzpunkt).
==== Thermoplaste ====
Thermoplaste sind Kunststoffe, die aus langen linearen Molekülen bestehen. Durch Energiezufuhr werden diese Materialien beliebig oft weich und formbar (plastisch) und schmelzen schließlich. Sie können durch verschiedene Ur- und Umformverfahren in die gewünschte Form gebracht werden. Nachdem das Werkstück abgekühlt ist, behält es seine Form bei. Dieser Prozess ist somit reversibel (lat. umkehrbar). Ursache für dieses Verhalten sind fadenförmige, lineare Makromoleküle.
Die meisten der heute verwendeten Kunststoffe fallen unter diese Gruppe (Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol, Polyester). Für einfache Konsumwaren, Verpackungen etc. werden sie ebenso häufig eingesetzt wie für technische Teile in der Automobil- und Elektroindustrie oder in der Bauindustrie, insbesondere für Dachbahnen, Fensterprofile und Rohre.
Um neue, bisher noch nicht vorhandene Eigenschaften zu erzeugen, können zwei oder mehrere (miteinander verträgliche) Thermoplaste vermischt werden (Polymerblend).
Teilkristalline Thermoplaste (Beispiele): POM – Polyoxymethylen, PE – Polyethylen, PP – Polypropylen, PA – Polyamid, PET – Polyethylenterephthalat, PBT – Polybutylenterephthalat.
Amorphe Thermoplaste (Beispiele): ABS – Acrylnitril-Butadien-Styrol, PMMA – Polymethylmethacrylat, PS – Polystyrol, PVC – Polyvinylchlorid, PC – Polycarbonat, SAN – Styrol-Acrylnitril-Copolymer, PPE – Polyphenylenether.
==== Duroplaste ====
Duroplaste (Duromere) sind Polymere, die in einem Härtungsprozess aus einer Schmelze oder Lösung der Komponenten durch eine Vernetzungsreaktion hervorgehen. Diese irreversible Reaktion wird meist durch Erhitzen bewirkt (daher der englische Fachterminus thermosets), kann aber auch durch Oxidationsmittel, energiereiche Strahlung oder Einsatz von Katalysatoren initiiert und beschleunigt werden. Eine Erwärmung von Duroplasten führt nicht zu einer plastischen Verformbarkeit, sondern lediglich zu deren Zersetzung. Ausgehärtete Duroplaste sind meist hart und spröde sowie im weitergehenden Fertigungsprozess nur noch mechanisch bearbeitbar. Ursache für dieses Verhalten sind die raumvernetzten Makromoleküle.
Wegen ihrer mechanischen und chemischen Beständigkeit auch bei erhöhten Temperaturen werden sie häufig für Elektroinstallationen verwendet. Der verbreitetste und älteste Kunststofftyp dieser Klasse sind die Phenoplaste. In diese Gruppe fallen auch Polyesterharze, Polyurethanharze für Lacke und Oberflächenbeschichtungen und praktisch alle Kunstharze wie beispielsweise Epoxidharze.
==== Elastomere ====
Durch Druck oder Dehnung können Elastomere ihre Form kurzzeitig verändern, nach Beendigung von Druck oder Dehnung nimmt das Elastomer schnell wieder seine ursprüngliche Form an. Die Elastomere sind weitmaschig vernetzt und daher flexibel. Sie werden beim Erwärmen nicht weich und sind in den meisten Lösemitteln nicht löslich.
Zu den Elastomeren gehören alle Arten von vernetztem Kautschuk. Die Vernetzung erfolgt beispielsweise durch Vulkanisation mit Schwefel, mittels Peroxiden, Metalloxiden oder Bestrahlung. Elastomere werden zu 60 % für Reifen verwendet. Der Rest verteilt sich auf sonstige Gummiartikel, zum Beispiel Chemikalienhandschuhe und Hygieneartikel.Elastomere sind Naturkautschuk (NR), Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (NBR), Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR), Chloropren-Kautschuk (CR), Butadien-Kautschuk (BR) und Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk (EPDM).
=== Einteilung nach Ursprung ===
Unter chemischen Gesichtspunkten können Kunststoffe als makromolekulare Stoffe mit anderen makromolekularen Stoffen verglichen werden. Die verschiedenen makromolekularen Stoffe können dann nach Ursprung eingeteilt werden in:
Natürliche makromolekulare Stoffe, wie Kohlenwasserstoffe (Kautschuk, Balata), Polysaccharide (Cellulose, Stärke, Pektin, Chitin, Baumwolle) und Proteine (Kollagen, Wolle, Seide)
Derivate von natürlichen makromolekularen Stoffen, wie Cellulosenitrat, Leder oder Gelatine
Synthetische makromolekulare Stoffe
Derivate von synthetischen Polymeren (Modifikation beispielsweise durch Verseifung, Einführung von reaktiven Gruppen oder nachträgliche Vernetzung)Nur ein Teil der aufgeführten makromolekularen Stoffe sind Kunststoffe im engeren Sinn, da Kunststoffe als Stoffe definiert sind, die auf Polymeren basieren und außerdem als Werkstoffe bei der Verarbeitung „plastische“ Zustande durchlaufen. Trotzdem kann diese Einordnung zum Verständnis beitragen.
=== Einteilung nach Anwendung ===
Je nach Preis, Produktionsvolumen und Verwendungsmöglichkeit können Thermoplaste in die vier Anwendungsklassen eingeteilt werden: Standardkunststoffe, technische Kunststoffe, Funktionskunststoffe und Hochleistungskunststoffe. Standardkunststoffe (auch: Massenkunststoffe) sind sehr vielseitig einsetzbar und werden in großen Mengen hergestellt. Standardkunststoffe werden häufig als Verpackungsmaterial verwendet, zu ihnen gehören beispielsweise Polyethen oder Polyvinylchlorid. Technische Kunststoffe verfügen über bessere mechanische Eigenschaften als Standardkunststoffe und behalten diese noch oberhalb von 100 °C und unterhalb von 0 °C. Technische Kunststoffe werden häufig für technische Konstruktionen verwendet, zu ihnen zählen beispielsweise Polyethylenterephthalat und einige aliphatische Polyamide. Funktionskunststoffe dienen nur einer einzigen Funktion, wie beispielsweise als Barriere für Aromen und Gase in Kunststoffverpackungen. Duroplaste können nicht nach diesem Schema eingeordnet werden, sondern bilden eine eigene Klasse.Hochleistungskunststoffe zeichnen sich gegenüber Standard-, technischen und Spezialkunststoffen durch ihre Wärmeformbeständigkeit und z. T. auch gute mechanische Eigenschaften aus. Während die Wärmeformbeständigkeit von Standardkunststoffen meist nur etwa 100 °C beträgt und die von technischen Kunststoffen bis zu 150 °C erreicht, können Hochleistungsthermoplaste Temperaturen von bis zu 300 °C standhalten. Hochleistungskunststoffe sind mit etwa 20 € pro kg recht teuer; ihr Marktanteil beträgt nur etwa 1 %.Der Vergleich von Standardkunststoffen, technischen Kunststoffen und Hochleistungskunststoffen wird durch die folgende Abbildung veranschaulicht:
=== Einteilung nach Entstehungsreaktion ===
Kunststoffe werden durch verschiedene Polyreaktionen erzeugt: Polymerisation, Polykondensation und Polyaddition. Entsprechend wird das Produkt entweder als Polymerisat, als Polykondensat oder als Polyaddukt bezeichnet.
=== Internationales Kurzzeichensystem ===
Einzelne Kunststoffe werden nach einem weltweit standardisierten Kurzzeichen-System bezeichnet, das für Deutschland in der DIN EN ISO 1043 Teil 1:2016-09: Basis-Polymere und ihre besonderen Eigenschaften, der DIN ISO 1629:2015-03: Kautschuk und Latices – Nomenklatur (ISO 1629:2013) sowie DIN EN ISO 18064:2015-03: Thermoplastische Elastomere – Nomenklatur und Kurzzeichen (ISO 18064:2014; Deutsche Fassung EN ISO 18064:2014) geregelt ist.
== Eigenschaften ==
Kunststoffe zeichnen sich, verglichen mit keramischen oder metallischen Werkstoffen, durch eine Reihe von ungewöhnlichen Eigenschaften aus:
=== Dichte und Festigkeit ===
Die Dichte der meisten Kunststoffe liegt zwischen 0,8 und 2,2 g·cm−3. Sie ist damit geringer als die metallischer (von Mg 1.8 bis Cu 8.5 g·cm−3) oder keramischer Werkstoffe (von ca. 2.2 bis 6 g·cm−3).In Bezug auf die mechanischen Eigenschaften sind Kunststoffe anderen Werkstoffklassen häufig unterlegen. Ihre Festigkeit und Steifigkeit erreicht meist nicht die von Metallen oder Keramiken. Wegen der geringen Dichte kann das jedoch teilweise mit konstruktiven Mitteln (höhere Wandstärken) oder dem Einsatz von faserverstärkten Kunststoffen kompensiert werden.
Obwohl die Festigkeiten vergleichsweise niedrig sind, brechen Kunststoffteile durch ihre meist gute Zähigkeit weniger leicht als beispielsweise Keramik oder Glas. Deshalb werden Gebrauchsgegenstände für Kinder und Spielzeug vielfach aus Kunststoff gefertigt.
=== Chemische Beständigkeit ===
Die chemische Beständigkeit von Kunststoffen weist ein großes Spektrum auf. Während sich Teflon weitgehend inert gegenüber dem meisten Chemikalien verhält, reagieren etwa Naturkautschuk, EPM/EPDM und Silikonkautschuk sowie teilweise auch Polyethylen, Polypropylen, Butylkautschuk, Hypalon, Neopren und Weich-PVC bereits auf Pflanzenöle und tierische Fette empfindlich. ABS, Polystyrol, SAN und SB sind bei Kontakt mit Pflanzenöl spannungsrissgefährdet.Im Gegensatz zu Metallen sind viele Kunststoffe aufgrund ihrer organischen Natur beständig gegenüber anorganischen Medien. Das schließt Mineralsäuren, Laugen, sowie wässrige Salzlösungen ein. Aus diesem Grund fanden Kunststoffe weite Verbreitung zur Herstellung von pflegeleichten Haus- und Elektrogeräten, Fahrzeugausstattungen, Spielzeugen usw.
Im Gegensatz zu Metallen reagieren die meisten Kunststoffe empfindlich auf organische Lösungsmittel, wie Alkohole, Aceton oder Benzin. Auch hier gibt es Ausnahmen wie Polyethylen, das aufgrund seiner Beständigkeit gegenüber Benzin sowie gegenüber Umwelteinflüssen zur Fertigung von Kraftstofftanks in modernen Personenkraftwagen eingesetzt wird.
=== Degradation bei Kunststoffen ===
Degradation bezeichnet bei Kunststoffen die „Alterung“ durch Abbau oder Zerfall. Zu den Folgen gehören Quellung, Versprödung, Rissbildung und Festigkeitsverlust. Die Degradation ist ein üblicherweise unerwünschter Vorgang und erfolgt entweder chemisch, physikalisch oder durch eine Kombination beider Abbauarten.
=== Niedrige Verarbeitungstemperaturen ===
Die gängigen Verarbeitungstemperaturen für Kunststoffe liegen im Bereich von 250 bis 300 °C. Während Metalle bei deutlich höheren Temperaturen gegossen werden müssen und hitze- und verschleißfeste Gussformen erfordern, lassen sich aus Thermoplasten kompliziertere Formteile mit vergleichsweise geringem Aufwand fertigen (siehe Extrusion und Spritzguss). Im gleichen Verarbeitungsschritt können Additive, wie Farbpigmente oder Fasern, in das Material eingearbeitet werden, die den hohen Temperaturen des Metallgießens oder des Sinterns von Keramik in der Regel nicht standhalten würden.
=== Niedrige Leitfähigkeiten ===
Die Wärmeleitfähigkeit von Kunststoffen ist nur einen Bruchteil so groß wie die von Metallen. Da aus diesem Grund bei einer Berührung vergleichsweise wenig Wärmeenergie von der Hand übertragen wird (Kunststoffe sich also bei niedrigen Temperaturen dennoch warm anfühlen), werden Griffe an Werkzeugen oder Geländern gerne aus Kunststoff hergestellt oder damit überzogen.
Werkstoffe wie Schäume, Vliese und Flocken isolieren vor allem durch den Gehalt an (räumlich fixierter) Luft. Kunststoffe als Matrixmaterial fördern die Isolierwirkung; wie etwa in Dämmstoffplatten, Textilien oder Matratzen. Die leichte Brennbarkeit ist hingegen ein klarer Nachteil gegenüber mineralischer Glas- oder Steinwolle, Schaf- und Baumwolle, Kork, aber auch Massivholz.
Die elektrische Leitfähigkeit von Kunststoffen ist um 15 Größenordnungen kleiner als die von Metallen. Daher werden Kunststoffe zur Isolation eingesetzt. Metallisiert werden Kunststofffolien als Dielektrikum eingesetzt und zu Kondensatoren zusammengerollt. Den hohen Oberflächenwiderstand, der mit Reibung über Kontaktelektrizität zu elektrostatischer Aufladung führt, bricht man mit Füllstoffen (so in Schuhsohlen) oder Antistatika etwa in Möbelpolitur oder Textilwaschmittel.
== Herstellung ==
Kunststoffe werden generell durch schrittweises Aneinanderfügen von Monomeren zu langen Ketten – den Polymeren – hergestellt, wobei grundsätzlich zwischen Kettenpolymerisation und Stufenpolymerisation unterschieden wird.
Laut einer Untersuchung der ETH Zürich entsteht der größte Teil des CO2-Fußabdrucks von Plastik bei der Produktion der Kunststoffe, zumeist aus Erdöl oder Erdgas, teils aber auch aus Kohle. Der globale CO2-Fußabdruck von Kunststoffen hat sich der Studie zufolge vom Jahr 1995 bis ins Jahr 2015 verdoppelt und betrug im Jahr 2015 zwei Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent (CO2e), was rund 4,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen entspricht.
=== Kettenpolymerisationen ===
Bei einer Kettenpolymerisation beginnt das Wachstum mit einem speziellen Molekül, an das schrittweise Monomere addiert werden. Das die Polymerisation startende Molekül heißt Initiator. Die Zahl der Monomere, aus denen das Polymer letztendlich besteht, ist der Polymerisationsgrad. Der Polymerisationsgrad kann durch das Verhältnis von Monomer zu Initiator eingestellt werden. Mathematisch wird er durch die Mayo-Gleichung abgeschätzt.
==== Radikalische Polymerisation ====
Bei der radikalischen Polymerisation werden die Wachstumsreaktionen durch Radikale initiiert und fortgepflanzt. Sie ist verglichen mit anderen Kettenreaktionen unempfindlich, leicht zu kontrollieren und liefert schon bei recht kleinen Umsätzen hohe Polymerisationsgrade. Sie wird daher vor allem bei der Herstellung von billigen Kunststoffen, wie LD-PE, PS oder PVC, eingesetzt.
Eine Gefahr bei diesem Verfahren stellt die freiwerdende Polymerisationswärme dar. Die radikalische Polymerisation ist exotherm, das heißt bei der Reaktion wird Wärme freigesetzt. Diese Wärme erzeugt, wenn sie nicht abgeführt wird, weitere Radikale, so dass sich die Reaktion selbst beschleunigen kann. Im Extremfall kann eine solche „Selbstbeschleunigung“ zur Überlastung des Reaktormaterials und damit zu einer thermischen Explosion führen.
==== Ionische Polymerisation ====
Bei ionischen Polymerisationen werden die Wachstumsreaktionen durch ionische Spezies initiiert und fortgepflanzt. Die wachsenden Ketten sind langlebiger (mehrere Stunden bis Tage) als ihre radikalischen Analoga (Lebensdauer etwa 10−3 s). So wird in diesem Zusammenhang auch von lebenden Polymeren gesprochen. Daher kann nach Abschluss einer Polymerisation auf die noch lebenden, also zur Polymerisation befähigten Ketten, ein weiteres Monomer aufgegeben und ein erneutes Wachstum angeregt werden.Polymere, deren Ketten aus zwei oder mehr unterschiedlichen Monomertypen bestehen, heißen Copolymere. Sind in einem Copolymer lange Blöcke des einen Monomers vorhanden, gefolgt von Blöcken des anderen, spricht man von Blockcopolymeren. Für solche speziellen Anwendungen wird die ionische Polymerisation angewandt. Ein Beispiel sind die synthetischen Gummis Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (NBR) und Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR), die bei der Herstellung von Autoreifen Verwendung finden. Nachteil dieses Verfahrens ist seine hohe Empfindlichkeit gegenüber Verunreinigungen, Wasser und Sauerstoff. Ionische Polymerisationen sind daher aufwendiger und kostenintensiver als die radikalische Polymerisation.
==== Metallorganische Katalysatoren ====
Diese Polymerisationen finden in Gegenwart von Katalysatoren statt. Beim Katalysator handelt es sich um einen Metallkomplex (Verbindung aus Metallatomen, umgeben von weiteren Spezies), der in der Lage ist, die wachsende Kette zu binden. Die Addition weiterer Monomere geschieht durch Einschub (Insertion) des Monomers zwischen wachsende Kette und Katalysatorspezies. Resultat ist ein höherer Ordnungsgrad der entstehenden Polymere sowie ein geringerer Verzweigungsgrad. Aufgrund dieser reguläreren Struktur erfolgt die Packung der einzelnen Ketten im Festkörper effizienter, der Kunststoff wird dichter. Die zurzeit industriell wichtigste Katalysatorklasse ist die der Ziegler-Natta-Katalysatoren. Eine Rolle spielen sie zum Beispiel bei der Herstellung von Polyethylen.Beim Low-Density-Polyethylen (LD-PE) handelt es sich um in der Gasphase polymerisiertes Ethen mit geringem Ordnungsgrad, vielen Seitenverzweigungen und geringer Dichte. Dieser Kunststoff ist als transparente oder gefärbte Verpackungsfolie von Getränkeflaschen, Büchern, CDs eingesetzt.
High-Density-Polyethylen wird mit einem metallorganischen Katalysator im Ziegler-Natta-Verfahren hergestellt. Es resultiert ein Polymer mit hohem Ordnungsgrad, wenigen Verzweigungen und hoher Dichte. Dieser Kunststoff findet beispielsweise Verwendung als Material für Autotanks, Benzinkanister etc.
=== Stufenpolymerisationen ===
Im Gegensatz zur Kettenpolymerisationen erfolgt in Stufenpolymerisationen die Bildung der Polymere nicht durch Initiation einer wachsenden Kette, die weiter sukzessive Monomere addiert, sondern durch direkte Reaktion der Monomere untereinander. Diese Reaktion kann unter Freisetzung eines Nebenprodukts wie Wasser als Polykondensation oder durch einfache Addition der Monomere zu einer neuen Verbindung durch Polyaddition erfolgen.
==== Polykondensation ====
Bei Polykondensationen erfolgt die Bildung der linearen Kette durch intermolekulare Reaktion bifunktioneller Polymere unter Abspaltung einer kleineren Spezies, wie beispielsweise Wasser oder Alkohole. Eine wesentliche Bedeutung besitzt die Polykondensation für die Polyamide.
Bildung eines Amids (schematische Darstellung)Carbonsäuren reagieren mit Aminen zu Amiden. Werden Moleküle eingesetzt, die zwei Carbonsäuregruppen tragen, kann eines dieser Moleküle mit zwei Aminen reagieren. Es entsteht so ein Polymer aus drei Monomeren (eine Carbonsäureeinheit, zwei Amine). Tragen die eingesetzten Amine auch wieder zwei Amingruppen, kann die zuvor entstandene Spezies wiederum mit zwei Carbonsäuremolekülen reagieren. Die so entstehenden Polymere können sich noch weiter untereinander verbinden, so dass der Polymerisationsgrad entscheidend von der Reaktionsdauer abhängt. Der Vorgang wird durch die Carothers-Gleichung beschrieben.
Durch Reaktion von Dicarbonsäuren mit Diolen (Dialkohol) werden so Polyester hergestellt. Unter den wichtigsten durch Polykondensation hergestellten Kunststoffen sind Polyester, wie Polyethylenterephthalat (PET), Polyamide und Phenoplaste. Maleinsäure- und Phthalsäurepolyester werden industriell ausgehend von deren Anhydriden hergestellt.
==== Polyaddition ====
Bei Polyadditionen erfolgt die Bildung des Polymers durch Addition der einzelnen Monomere untereinander, ohne die Bildung von Nebenprodukten. Eine große Gruppe von Polyaddukten bilden die Polyurethane.
Polyaddition von 1,6-Hexandiisocyanats mit 1,4-Butandiol (n ≈ 40)Isocyanate reagieren mit Alkoholen in einer Additionsreaktion zu sogenannten Urethanen. Auch hier gilt: bifunktionelle Monomere bilden lange lineare Ketten. Auf diese Weise hergestelltes Polyurethan wird für Armaturenbretter, Lacke, Klebstoffe usw. verwendet. Wird der Polymerisationsmischung Wasser zugesetzt, reagiert dieses mit den Isocyanaten zu Harnstoffen und Kohlenstoffdioxid. Das in der Mischung freiwerdende CO2 wird in Form von Bläschen in den Kunststoff eingeschlossen und ein Schaumstoff entsteht. Polyurethanschaumstoff wird für Matratzen, Sitzmöbel, Schwämme usw. verwendet.
=== Additive ===
Kunststoffen werden im Verlauf des Herstellungsprozesses sogenannte Additive zugesetzt (Compoundierung), von welchen es mehrere Tausend unterschiedliche gibt. Sie dienen der genauen Einstellung der Materialeigenschaften auf die Bedürfnisse der jeweiligen Anwendung und der Verbesserung der chemischen, elektrischen und mechanischen Eigenschaften. Solche mit Zuschlagsstoffen versehene Formmassen werden nach DIN EN ISO 1043 (Thermoplaste) und nach DIN EN ISO 18064 (thermoplastische Elastomere) gekennzeichnet. Für duroplastische Formmassen gibt es ebenfalls entsprechende Normen, z. B. DIN EN ISO 15252-1 für Epoxide sowie DIN EN ISO 14526-1…14530-1 für Phenoplast- und Aminoplast-Formmassen.
==== Weichmacher ====
Etwa zwei Drittel der weltweit hergestellten Additive werden für die Produktion von Polyvinylchlorid aufgewendet, fast drei Fünftel der hergestellten Additive sind Weichmacher. Sie verringern Sprödigkeit, Härte und Glastemperatur eines Kunststoffes und machen ihn so besser form- und verarbeitbar. Es handelt sich um Stoffe, die in der Lage sind, auf molekularer Ebene in den Kunststoff einzudringen und so die Beweglichkeit der Ketten gegeneinander zu erhöhen. Qualitativ können sie als „molekulares Schmiermittel“ dienen. Bis vor wenigen Jahren war Diethylhexylphthalat (DEHP) (synonym: Dioctylphthalat DOP) der am häufigsten verwendete Weichmacher. Dieser stellte sich jedoch als umwelt- und gesundheitsschädlich heraus, weshalb die europäische Industrie inzwischen weitgehend auf seinen Einsatz verzichten will. Als Ersatz für DEHP kommt oftmals das im Jahre 2002 eingeführte 1,2-Cyclohexandicarbonsäurediisononylester (DINCH) zum Einsatz. Weitere neue Weichmacher sind die analogen Adipinsäureester wie Diethylhexyladipat.
Extender verbessern ebenfalls die Verarbeitbarkeit und heißen deshalb auch sekundäre Weichmacher. Wichtige Extender sind epoxidierte Öle, hochsiedende Mineralöle und Paraffine.
==== Stabilisatoren ====
Stabilisatoren dienen der Verbesserung der chemischen Eigenschaften. Sie erhöhen die Lebensdauer des Kunststoffes und schützen ihn vor schädigenden Einflüssen (Oxidation, (UV)-Strahlung und Wärme etwa durch Feuer) in seinem Einsatzgebiet.
Durch Reaktion mit Luftsauerstoff kann sich der Kunststoff verfärben, und die Polymerketten können sich zersetzen oder neu vernetzen. Das wird durch Zugabe von Antioxidantien verhindert, die die bei der Reaktion entstehenden freien Radikale abfangen (Radikalkettenabbrecher) oder gleich die Bildung der Radikale verhindern (Desaktivatoren). Als Abbrecher sind beispielsweise Phenole oder Amine geeignet, als Desaktivatoren dienen Phosphane und wiederum Amine.
Lichtschutzmittel schützen gegen eine Schädigung durch ultraviolettes Licht. Doppelbindungen zwischen Kohlenstoffatomen sind in der Lage, Licht dieser Wellenlänge zu absorbieren, daher sind durch UV-Licht vor allem Kunststoffe gefährdet, die dieses Strukturelement aufweisen (beispielsweise Polyisopren). Allerdings können aufgrund von Katalysatorrückständen, Strukturfehlern und Nebenreaktionen bei der Verarbeitung praktisch alle Polymere ein Absorptionsvermögen für UV-Strahlung zeigen. Diese induziert die Bildung von freien Radikalen im Material, die Nebenreaktionen, wie Zerfall der Kette und Vernetzungen einleiten. Grundsätzlich existieren drei Wege, eine Schädigung zu verhindern: Reflexion des Lichts, Zusatz von lichtabsorbierenden Stoffen und Zusatz von Radikalfängern. Wichtige Lichtschutzmittel sind Ruß, der die Strahlung absorbiert, σ-Hydroxybenzophenon, das die Energie in Infrarotstrahlung umwandelt und Dialkyldithiocarbamate, die UV-Licht absorbieren und als Radikalfänger fungieren.Kunststoffe sind empfindlich gegenüber Wärmeeinwirkung. Oberhalb einer für das Material charakteristischen Temperatur (Zersetzungstemperatur) setzt der Zerfall der molekularen Struktur ein. Wärmestabilisatoren sollen das verhindern.
Unerlässlich sind diese für Polyvinylchlorid, das sonst, unter Bildung von Chlorwasserstoff und u. U. gesundheitsschädlicher Zerfallprodukte, seine mechanische Stabilität einbüßen würde. Der Zerfallmechanismus verläuft über die Bildung von Doppelbindungen. Organische Barium-, Zink-, Zinn- und Cadmiumverbindungen und anorganische Bleisalze komplexieren diese und unterbrechen so den Zerfallmechanismus. Vor allem die Bleiverbindungen stellen hinsichtlich der Entsorgung des Kunststoffs ein nicht unerhebliches Umweltproblem dar. Derzeit sind 80 % der Wärmestabilisatoren auf der Basis von Blei. Die chemische Industrie ist zurzeit allerdings bemüht, diese zu ersetzen. So wurde bei Cognis speziell für Fensterprofile ein Stabilisator auf der Basis von Calcium und Zink entwickelt.Bei Bränden kann von Kunststoffen eine Gefahr ausgehen, da viele Kunststoffe einem Brand Nahrung bieten und manche bei Verbrennung giftige oder ätzende Gase freisetzen (wie Blausäure, Kohlenstoffmonoxid, Chlorwasserstoff oder Dioxine). Flammschutzmittel verhindern entweder den Sauerstoffzutritt zum Brand oder stören die chemischen Reaktionen (Radikalkettenmechanismen) der Verbrennung.Wichtige Flammschutzmittel sind:
Tetrabrombisphenol A: setzen Radikale frei, welche die Zwischenprodukte des Brennvorgangs abfangen.
Aluminiumhydroxid (Al(OH)3), auch (ATH): setzt Wassermoleküle frei.
Phosphorhaltige Verbindungen: bilden Phosphorsäuren, die eine Wasserabspaltung katalysieren.
==== Farbmittel ====
Die meisten Polymere sind in reiner Form farblos, farbig werden sie erst durch Zusatz von Farbmitteln. Zu unterscheiden ist zwischen Farbstoffen (lösen sich auf molekularer Ebene im Polymer oder adsorbieren an der Oberfläche) und Pigmenten (unlösliche, meist organische / anorganische Aggregate). Textilien werden praktisch ausschließlich mit Farbstoffen eingefärbt. Der weit überwiegende Teil der Kunststoffe wird allerdings mit Pigmenten gefärbt, da diese lichtechter und meist auch billiger sind. Wichtige Pigmente in diesem Bereich sind Rutil (weiß), Ruß (schwarz), Cobalt- oder Ultramarinblau, sowie Chromoxidgrün. Inzwischen ist der Einsatz von Effektpigmenten möglich, so zeigen mit seltenen Erden dotierte Strontium-Aluminate ein intensives Nachtleuchten. Einsatzgebiete für derartig gefärbte Kunststoffe sind bei Dunkelheit leichter auffindbare Sicherheitsmarkierungen, Lichtschalter oder Taschenlampen. Um Metallglanz zu erreichen, werden Aluminiumpigmente in Blättchenform eingesetzt, sphärische Pigmentkörner ergeben eine Graueinfärbung. In der Kunststoffverarbeitung werden zum Einfärben meist konzentrierte Pigmentpräparationen sogenannte Flüssigfarben oder Masterbatches verwendet.
==== Füllstoffe ====
Füllstoffe sind klassische Streckmittel, die so die Herstellung des Kunststoffs verbilligen. „Aktive Füllstoffe“ verbessern zusätzlich die mechanischen Eigenschaften des Materials. Wichtige Füllstoffe sind unter anderem: Kreide, Sand, Kieselgur, Glasfasern und -kugeln, Zinkoxid, Quarz, Holzmehl, Stärke, Graphit, Ruße und Talkum. Wichtig sind Füllstoffe auch, um die Entflammbarkeit der Kunststoffe zu minimieren.
Ruß kommt dabei eine besondere Bedeutung zu (Autoreifen, Folien, Dachbahnen). Ruß ist chemisch beständig und damit witterungsstabil. Als färbender Stoff ist Ruß lichtstabil und bleicht nicht aus. Durch seine hohe UV-Absorption sorgt er für UV-Schutz des Kunststoffs. Dadurch sind in der Struktur darunterliegende Molekülketten vor Zerstörung durch UV-Licht geschützt.
==== Verstärkungsstoffe ====
Unter Verstärkungsstoffen (reinforcement) werden in Kunststoffen eingesetzte Zusatzstoffe verstanden, die die Kunststoffmatrix verstärken. Folge ist die Verbesserung mechanischer und physikalischer Eigenschaften, wie Elastizität oder Biegefestigkeit. Beispiele sind Glasfasern, Kohlenstofffasern oder Flachs und Jute.
=== Beschichtung ===
Die Beschichtung mit Metallen wird Kunststoffmetallisierung genannt. Einsatz findet sie in Bereichen, in denen Kunststoff als Ersatz für Metalle verwendet wird, aber das hochwertigere Aussehen von Metallglanz beibehalten werden soll. In der Automobilindustrie werden galvanisierte Kunststoffelemente in der Außenverkleidung eingesetzt. In Elektrogeräten erlaubt der metallisierte Kunststoff eine Abschirmung. Im Sanitärbereich werden Elemente für Mischbatterien, Duschköpfe und Wasserhahngriffe verwendet.
== Kunststoffindustrie ==
Die Kunststoffindustrie ist bis heute eine Wachstumsbranche, wobei die Herstellungskapazitäten in Asien zwischen 2006 und 2008 die führenden und etwa gleich starken Regionen Europa sowie Nord- und Südamerika überholten.
=== Produktion ===
Die weltweite Kunststofferzeugung erfolgt zu großen Teilen bei global agierenden Chemiekonzernen wie beispielsweise Asahi Kasei, Basell, BASF, Bayer, Celanese/Ticona, DuPont de Nemours, DSM, und Solvay. Sie liefern ein begrenztes Sortiment an Kunststoffen in Mengen von teilweise mehreren 100 kt pro Jahr. Die Preise für Kunststoffe variieren sehr stark von einigen Eurocent pro Kilogramm für Massenkunststoffe bis hin zu einigen hundert Euro pro Kilogramm für Hochleistungspolymere.
=== Verarbeitung ===
Die Kunststoffverarbeitung ist Gegenstand eines eigenständigen Industriezweiges. Dabei kommen überwiegend Urformverfahren zum Einsatz, die im Gegensatz zu den metallischen Werkstoffen bei wesentlich geringeren Verarbeitungstemperaturen (bis 430 °C) ablaufen. Außerdem können die Fertigungseinrichtungen (sog. Werkzeuge) mehrfach verwendet werden und erlauben so eine kostengünstige Fertigung.
Es kommt eine Vielzahl von Verfahren zum Einsatz, die teilweise ihren Ursprung in der wesentlich älteren Metallbearbeitung haben und auf die Eigenschaften der Kunststoffe abgestimmt und weiterentwickelt wurden. So ist beispielsweise das Spritzgießen für Kunststoffe dem Druckguss für Metalle sehr ähnlich. Das Extrudieren oder Blasformen ist aus der Glasproduktion hervorgegangen.
Die Schäumverfahren haben wiederum ihren Ursprung bei den Kunststoffen, werden aber, wie Metallschaum, inzwischen auch für andere Werkstoffklassen verwendet. Sie lassen sich weiter in chemische, physikalische oder mechanische Treibverfahren untergliedern.
Für alle diese Verfahren werden spezielle Maschinen vom Kunststoffmaschinenbau entwickelt und hergestellt.
== Wichtige Massenkunststoffe ==
Etwa 90 % der weltweiten Produktion (jährlich etwa 350 Mio. t) entfallen in der Reihenfolge ihres Anteils auf die folgenden sechs Kunststoffe:
=== Polyethylen (PE) ===
Polyethylen wird hauptsächlich in drei unterschiedlichen Qualitäten hergestellt: HD-PE (High-Density-PE), LLD-PE (Linear-Low-Density-PE), LD-PE (Low-Density-PE).
HD-PE wird mittels Ziegler-Natta-Katalysatoren synthetisiert, seine Ketten zeigen einen sehr hohen Ordnungs- und niedrigen Verzweigungsgrad. Diese können sich daher im Festkörper effizient anordnen, so dass ein teilkristallines Material entsteht, dessen Dichte höher ist als die von LD-PE (beide weisen aber eine Dichte auf, die geringer ist als die von Wasser). Es wird zur Fertigung von Flaschen, Getränkekästen, Fässern, Batteriegehäusen, Eimern, Schüsseln etc. verwendet.
LD-PE wird unter hohem Druck in der Gasphase polymerisiert, in LLD-PE werden 1-Buten, 1-Hexen und 1-Octen einpolymerisiert, um so einen kontrollierten Verzweigungsgrad zu erzeugen. Beide Varianten weisen so einen geringen kristallinen Anteil und einen hohen oder mittleren Verzweigungsgrad auf. Das Material besitzt hervorragende filmbildende Eigenschaften und wird vor allem zur Herstellung von Verpackungsfolien für Zigarettenpäckchen, CDs, Bücher, Papiertaschentücher etc. sowie Tragetaschen verwendet.
=== Polypropylen (PP) ===
Polypropylen wird fast ausschließlich auf metallkatalytischem Wege hergestellt, da nur das so erhaltene kristalline Material kommerziell verwertbare Eigenschaften aufweist. Es handelt sich um einen sehr harten, festen und mechanisch belastbaren Kunststoff mit der geringsten Dichte aller Massenkunststoffe. Aufgrund dieser Eigenschaften hat es teilweise bereits Metallwerkstoffe verdrängt. Wie bei dem rechts abgebildeten Deckel zeigt es außerdem den sogenannten Filmscharniereffekt, d. h., es kann durch einen dünnen Film Gehäuse und Deckel miteinander verbinden, ohne aufgrund der Biegebelastung zu brechen. Ein erheblicher Teil des weltweit hergestellten Polypropylens wird für Lebensmittelverpackungen aufgewendet. Weitere Anwendungsgebiete sind:
Automobilindustrie: als Material für Luftfiltergehäuse, Spoiler, Scheinwerfergehäuse, Sitzbezüge und Gaspedale
Bauwesen: Gartenmöbel, Toilettendeckel, Kunstrasen, Möbelscharniere etc.
Sonstiges: Brillenetuis, Koffer, Schulranzen, sterilisierbare medizinische Geräte
=== Polyvinylchlorid (PVC) ===
Polyvinylchlorid gilt aufgrund des ungewöhnlich hohen Chloranteils und der damit bei der Verbrennung entstehenden Nebenprodukte, wie Chlorgas und Chlorwasserstoff (Salzsäure), als umweltschädlicher Kunststoff. Außerdem enthält vor allem Weich-PVC viele Weichmacher, die teilweise gesundheitsschädlich sind, zudem ist das zur Herstellung benötigte Vinylchlorid krebserregend. Generell wird zwischen Hart-Polyvinylchlorid und durch Zusatz von Weichmachern hergestelltes Weich-Polyvinylchlorid unterschieden. Hart-PVC ist ein amorpher Thermoplast und besitzt eine hohe Steifigkeit und Härte. Es ist extrem schwer entflammbar, kann in der Hitze eines bestehenden Brandes allerdings Chlorwasserstoff und Dioxine freisetzen. Es zeigt eine sehr gute Beständigkeit gegen Säuren, Basen, Fette, Alkohole und Öle. Aus diesem Grund wird es vor allem zur Herstellung von Abwasserrohren und Fensterprofilen eingesetzt. Ein gravierender Nachteil ist seine sehr geringe Wärmebeständigkeit, es kann dauerhaft nur bis 65 °C und kurzfristig bis 75 °C eingesetzt werden; und seine Neigung zum „Weißbruch“ beim Biegen ist ebenfalls nachteilig. Weich-PVC ist ein gummielastischer, lederähnlicher Thermoplast. Wichtige Anwendungen sind die Herstellung von Bodenbelägen, Dichtungen, Schläuchen, Kunstleder, Tapeten, Dachbahnen, Wood-Plastic-Composite-Produkte etc.
Die Technikhistorikerin Andrea Westermann sieht PVC als den “ersten vollsynthetischen thermoplastischen Werkstoff […], der in den 1930er Jahren von der IG Farbenindustrie AG entwickelt wurde [und] in den 1950er Jahren als mengenmäßig wichtigster Kunststoff die massenhafte Ankunft von Plastik in der Gesellschaft einläutete […]”.
=== Polystyrol (PS) ===
Polystyrol wird überwiegend als amorpher Thermoplast hergestellt, durch neuere Entwicklungen gibt es mittlerweile auch kristallines Polystyrol, dieses hat aber geringere Bedeutung. Beide Varianten zeichnen sich durch geringe Feuchtigkeitsaufnahme, gute Verarbeitbarkeit und sehr gute elektrische Eigenschaften aus. Sie unterscheiden sich in ihrer Schlagfestigkeit. Nachteile sind seine Neigung zur Spannungsrissbildung, die geringe Wärmebeständigkeit, Entflammbarkeit und seine Empfindlichkeit gegenüber organischen Lösungsmitteln. Mittels Pentan aufgeschäumtes Polystyrol wird unter anderem als Styropor vertrieben.
Anwendungsgebiete:
Elektrotechnik: als Isolierung von elektrischen Kabeln, Material für Gehäuse, (als High Impact Polystyrene (HIPS)), Schalter etc.
Bauindustrie: als Dämmstoff (Schaumpolystyrol)
Verpackungen: Schaumpolystyrol, Verpackungsfolien, Joghurtbecher etc.
=== Polyurethan (PU/PUR) ===
Die Eigenschaften von Polyurethanen können durch Wahl der Isocyanat- oder Urethan-haltigen Monomerkomponenten sehr stark in ihrer Elastizität variiert werden. So werden sehr elastische PUR-Textil-Fasern (Elastan) aus Polyestern und Urethan-haltigen Polyestern hergestellt, ebenso dienen Urethan-haltige Polymere als Zusatz in Lacken und Materialien für Leiterplatten (Bectron).
Die bekannteste Anwendung dürften Polyurethanschaumstoffe sein. Sie dienen als Matratzen, in Autositzen, Sitzmöbeln, Dämmmaterial, Schwämmen. Durch Wahl der Einzelkomponenten werden die genauen Materialeigenschaften eingestellt.
Die wichtigste Anwendung ist wohl der Rostschutz von Auto-Karosserien. Auf den blanken Eisenkarossen werden Hydroxygruppen-haltige und Urethangruppen-haltige Einzelpolymere abgeschieden. Bei 120–160 °C werden diese dann untereinander vernetzt, es bildet sich eine überall gleichdicke rostverhindernde Polymerschicht auf dem Eisen.
=== Polyethylenterephthalat (PET) ===
Polyethylenterephthalat ist ein Polyester aus Terephthalsäure und Ethylenglycol, bei der Herstellung werden stöchiometrische Mengen eingesetzt und die Veresterung bis zu einem Umsatz von 99 % durchgeführt. Die erstarrte Schmelze kristallisiert sehr langsam, so dass sich hier je nach Anwendungsbereich amorphes und teil-kristallines (C-PET) Material herstellen lässt. C-PET besitzt hohe Steifigkeit, Härte, Abriebfestigkeit und ist beständig gegen verdünnte Säuren, Öle, Fette und Alkohole. PET-Flaschen sind jedoch empfindlich gegenüber heißem Wasser.
Anwendungsbeispiele:
Elektrotechnik: Teile für Haushalts- und Küchengeräte, Computer etc.
Maschinenbau: Zahnräder, Lager, Schrauben, Federn.
Fahrzeugtechnik: Sicherheitsgurte, Lkw-Abdeckplanen
Medizin: Implantate wie GefäßprothesenAmorphes PET zeigt eine geringere Steifigkeit und Härte als C-PET, aber bessere Schlagzähigkeit. Da es transparent, aber leichter als Glas ist, wird es als Material für Getränkeflaschen und Verpackungen für Lebensmittel und Kosmetika verwendet. In der Elektrotechnik finden PET-Folien als Trägermaterial für Magnetbänder Verwendung.
== Sonderkunststoffe ==
Manche Kunststoffe werden in großen Mengen für Massenartikel hergestellt. Andere hingegen werden nur in geringen Mengen eingesetzt, da ihr Preis hoch ist oder sie nur in Spezialanwendungen nützlich sind. Solche Kunststoffe werden als Sonderkunststoffe bezeichnet (englisch: specialty polymers oder auch special purpose plastics). Manche Sonderkunststoffe werden mit der Zeit gebräuchlicher und nehmen eine Rolle als technische Kunststoffe ein, andere bleiben Spezialanwendungen vorbehalten.Beispiele für Sonderkunststoffe sind Hochleistungsthermoplaste (auch Hochtemperaturkunststoffe genannt), Elektroaktive Polymere, Polymer Electrolytes, Flüssigkristallpolymere, Ionic Polymers, Polymer Nanokomposite und weitere. Im Folgenden werden einige Sonderkunststoffe sowie einige speziellere Anwendungen vorgestellt.
=== Kunststoffe für Hochtemperaturanwendungen ===
Thermoplastische Kunststoffe, die eine Dauergebrauchstemperatur von über 150 °C aufweisen, werden als Hochtemperaturkunststoffe bezeichnet. Da Kunststoffe dieser Art auch besondere mechanische Eigenschaften und eine besondere Resistenz gegenüber Chemikalien aufweisen, werden sie auch als Hochleistungskunststoffe bezeichnet. Hochleistungskunststoffe sind teuer und werden nur in geringen Mengen produziert.
Aufgrund ihrer guten mechanischen Eigenschaften und einer im Vergleich geringen Dichte werden Hochleistungskunststoffe häufig als Ersatz für Metalle verwendet. Durch die Chemikalienresistenz ergeben sich weitere Einsatzfälle. Sie finden daher Anwendung in der Luft- und Raumfahrt (für Turbinen), in der Automobilindustrie an heißen Stellen im Motorraum oder in der chemischen Industrie bei Kontakt mit aggressiven Chemikalien.
=== Flüssigkristalline Polymere ===
Flüssigkristalline Polymere (engl. liquid crystalline polymers (LCP)) heißen Polymere, deren Ketten in der Schmelze flüssigkristalline Phasen bilden. In Kristallen liegt generell eine feste Ordnung vor, während in Flüssigkeiten und Schmelzen die Verteilung der Moleküle oder Atome in der Regel weitgehend zufällig ist. Insoweit ist der Ausdruck flüssigkristallin eigentlich ein Widerspruch. In LCPs orientieren sich die Polymerketten jedoch aufgrund intramolekularer Wechselwirkungen parallel zu Bündeln an. So bilden beispielsweise aromatische Polyamide in Schwefelsäure in Verbindung mit Calcium- oder Lithiumchlorid derartige Phasen. Wird eine derartige Lösung aus einer Spinndüse durch einen Zwischenraum mit Luft in ein Fällbad (Dry-Jet-Wet-Spinnverfahren) gepresst, entstehen Fasern, in denen die Ketten in Richtung der Längsachse orientiert sind. Derartige Fasern sind in der Lage, eine für Kunststoffe ungewöhnlich hohe Zugbelastung auszuhalten, die vergleichbar mit Metallen oder Kohlenstofffasern ist. Aufgrund ihrer geringen Dichte werden sie, eingebettet in Kunstharze (Composites) im Flugzeug- und Fahrzeugbau eingesetzt. Weitere Anwendungen sind schusssichere Westen, Schutzhelme, Schutzanzüge, Surfbretter und Segelbootbau. Wichtige Marken sind Kevlar, Nomex und Faser B.
=== Elektrisch leitende Polymere ===
Kunststoffe gelten im Allgemeinen als hervorragende Isolatoren. Das liegt daran, dass Polymeren die Grundvoraussetzung für elektrische Leitfähigkeit, quasi freie Elektronen, völlig fehlt. Durch Zugabe von Substanzen (Dotierung), die entweder der Kette Elektronen zuführen (Reduktion) oder durch Entfernung (Oxidation) freie Stellen für die Elektronenbewegung schaffen, ist es möglich elektrisch leitfähige Polymere zu erzeugen. So werden Polyacetylen und Poly(p-phenylen) elektrisch leitend, wenn sie mit Brom, Iod oder Perchlorsäure dotiert sind. Weitere wichtige elektrisch leitende Polymere sind Polyanilin, dotiert mit Salzsäure und Polypyrrol aus anodischer Oxidation. Anwendungen sind Materialien für Elektroden und Batterieelemente, sowie antistatische Beschichtungen. Durch geeignete Dotierung können den bisher genannten Polymeren auch halbleitende Eigenschaften verliehen werden. Aus solchen Materialien bestehen beispielsweise Polymer-Leuchtdioden. Für die Entwicklung leitfähiger Polymere wurde den Wissenschaftlern Alan J. Heeger, Alan G. MacDiarmid und Hideki Shirakawa im Jahr 2000 der Nobelpreis für Chemie verliehen.
=== Kunststoffe in der Medizin ===
Kunststoffe erfüllen in der Medizin vielfältige Aufgaben: Sie dienen als Behälter für Infusionslösungen, Bauteile von medizinischen Geräten, Wegwerfartikel (Spritzen, Pflaster, Katheter, Schläuche etc.) und Implantate (Herzklappen, Knochenersatz, Gelenkpfannen, resorbierbare Knochenschrauben etc.). Für Materialien, die auf direkte oder indirekte Weise im Kontakt mit lebendem Gewebe stehen, gelten naturgemäß besondere Auflagen: Zum einen darf der Kunststoff den Organismus nicht schädigen, zum anderen darf umgekehrt das biologische Milieu die Materialeigenschaften des Kunststoffs nicht beeinträchtigen. Sind diese Bedingungen erfüllt, wird von Biokompatibilität gesprochen. Wichtigstes Argument für den Einsatz von Kunststoffen in der Medizin war und ist die Hygiene, so konnten medizinische Instrumente aus Glas oder Metall durch Wegwerfartikel aus Kunststoff ersetzt werden. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Polymilchsäure (auch: Polylactid), ein Polyester der natürlich vorkommenden Milchsäure. Er wird zu Fasern gesponnen, die als resorbierbare chirurgische Nähfäden Verwendung finden. Nach dem Einsatz der Fäden werden diese enzymatisch abgebaut. Die Dauer der Degradation kann dabei über die Stereochemie (Wahl der Ketten aus rechts- oder linksdrehender Milchsäure) des Polymers eingestellt werden.
== Umweltproblematiken ==
Aus der Produktion von Kunststoffen ergibt sich zwangsläufig das Problem der Entsorgung der aus ihnen erzeugten Produkte (Plastikmüll).
=== Risikopotential einzelner Bestandteile ===
Viele der zur Kunststoffherstellung verwendeten Additive sind nachweislich gesundheitsschädlich.In diversen Kunststoffen enthaltene Bestandteile werden als hormonell wirksam eingestuft (endokrine Disruptoren) und werden über die Haut, durch Einatmen (Aerosole, Abrieb von Gummireifen) und über die menschliche Nahrung aufgenommen:
==== Polymere ====
Die polymeren Bestandteile der Kunststoffe sind zum einen nicht wasserlöslich und zum anderen nicht in der Lage, die Zellmembranen von Mikroorganismen zu passieren, das heißt, eine Wechselwirkung mit lebenden Organismen ist außer bei den biologisch abbaubaren Kunststoffen und bei der Entstehung von Mikroplastik nicht bekannt. Das hat zwar den Vorteil, dass Polymere als gesundheitlich unbedenklich eingestuft werden können, aber eine Umwandlung in der belebten Natur kann nicht völlig ausgeschlossen werden.Konkrete Studien zu den Auswirkungen von Mikroplastik auf den Menschen gibt es bisher nicht. Aus Studien zu Polymeren, die als Träger für Medikamente verwendet werden, ergibt sich, dass Partikel im Nanometerbereich zwar in den Blutkreislauf aufgenommen, aber auch wieder ausgeschieden werden.
==== Bisphenol A ====
Bisphenole wie Bisphenol A (BPA), C (BPC) oder S (BPS) werden als Härtemittel etwa in Beschichtungen von Konservendosen oder in Kunststoffvorrats- oder sonstigen Behältnissen eingesetzt: sie lösen sich vor allem in säurehaltigen Stoffen wie Tomaten- oder Fruchtflüssigkeiten, schneller noch unter Hitzeeinfluss. Statistiken zufolge haben 95 bis 98 % der Menschen BPA in ihrem Urin, wobei die Halbwertszeit des Abbaus im Körper bei ca. einem halben bis einem Tag liegt. Der UNEP/WHO und endokrinologischen Fachgesellschaften zufolge erhöht Bisphenol A beim Menschen das Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen, Brustkrebs, Endometriose, Prostatakrebs, kindliche Entwicklungsverzögerungen und Hirnschäden.
==== Phthalate ====
Phthalate werden als Weichmacher in Kosmetika, aber auch in Lebensmittelfolien eingesetzt: sie sind jedoch im Sinne eines endokrinen Disruptors hormonell wirksam und erhöhen so laut UNEP/WHO und endokrinologischen Fachgesellschaften beim Menschen das Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen, Brustkrebs, Endometriose, Prostatakrebs, kindliche Entwicklungsverzögerungen und Hirnschäden.
=== Eintrag und Verbreitung ===
Teilweise gelangen biologisch nicht abbaubare Kunststoffe auch in die Umwelt. Von den weltweit jährlich produzierten mehr als 200 Millionen Tonnen Kunststoffen gelangen nach unterschiedlichen Schätzungen sechs bis 26 Millionen Tonnen in die Meere, 70 % davon sinken auf den Meeresboden. Mehrere Millionen Tonnen Kunststoffmüll treiben in sogenannten Müllstrudeln im Nordpazifik und im Nordatlantik. Jedes Jahr tötet dieser Müll mehrere hunderttausend höhere Meerestiere. Kleine Plastikteile und Mikroplastik gelangt in die Nahrungskette von Meerestieren und führen dazu, dass Tiere mit vollem Magen verhungern oder innere Verletzungen erleiden. Oft verwechseln Tiere Plastikteile mit ihrer Nahrung und verschlucken sie. Größere Plastikteile wie Planen, defekte Fischernetze oder Taue verletzen Meerestiere. Plastikplanen bedecken Korallenstöcke, Schwämme oder Muschelbänke und verhindern so deren Besiedlung. Nach einer Studie der UNEP befinden sich in dem Strudel im Pazifik bis zu 18.000 Kunststoffteile auf jedem Quadratkilometer Meeresfläche. Auf ein Kilogramm Plankton kommen hier sechs Kilogramm Kunststoff. Die Größen der Strudel lassen sich kaum angeben, da sie nicht scharf begrenzt sind.In der Schweiz gelangen jedes Jahr rund 14.000 Tonnen Kunststoffe in die Böden und Gewässer. Der größte Teil davon gelangt in die Böden.Die für die Kunststoffherstellung verwendeten, hormonell aktiven Substanzen (endokrine Disruptoren) sind weltweit mittlerweile derart weit verbreitet, dass in Urin, Blut und Fettgewebe praktisch aller Menschen weltweit endokrine Disruptoren nachgewiesen werden können.
==== Ursprung ====
Aus Europa und Nordamerika stammen zusammen weniger als 5 % des Eintrags. Bei Untersuchungen in 42 Ländern entfiel 2018 das meiste des gefundenen Plastikmülls auf Coca-Cola, Pepsi und Nestlé. In der Manilabucht konnte der meiste Plastikmüll Nestlé, Unilever und Procter & Gamble zugeordnet werden. Laut einem 2021 veröffentlichten Bericht werden 55 % des weltweiten Plastikmülls von 20 Firmen produziert, angeführt von Exxon Mobile.
=== Persistenz ===
Kunststoffe galten lange als biologisch nicht abbaubar, erst in jüngerer Zeit wurden einige Organismen gefunden, die Kunststoffe abbauen können (siehe Abschnitt Biologischer Abbau herkömmlicher Kunststoffe). Chemische und physikalische Prozesse benötigen für Kunststoff-Abbau sehr lange, da auf solchen Wegen Zerfallszeiten von mehrere hundert Jahren errechnet wurden, werden Kunststoffe auch als persistent bezeichnet. Eine Möglichkeit für anorganischen Abbau ist die Einwirkung von UV-Strahlung (Sonnenlicht), dabei „zerbrechen“ die Kunststoffketten stückweise, das äußert sich makroskopisch im Vergilben und/oder Verspröden.
Mikroorganismen können Kunststoffe im Grunde nur durch extrazelluläre Enzyme verarbeiten, die das Material in kleinere Bestandteile zerlegen, die dann von der Zelle aufgenommen werden können. Allerdings sind die Enzyme zu groß, um effektiv in das verrottende Material einzudringen, so dass dieser Prozess nur als Oberflächenerosion ablaufen kann.Wenn bei dem Abbau durch biochemischen Prozesse giftige Zwischenstufen entstehen, können diese sich in der Natur anreichern. Zusätzliche Gefahr geht von den Additiven der Kunststoffe, wie Weichmachern, Farbstoffen oder Flammschutzmitteln aus. Dabei sind als Schadstoffquellen insbesondere flüchtige organische Verbindungen zu nennen.
=== Kulturelle Rezeption ===
Die von Kunststoffen verursachten Umweltprobleme werden in den Dokumentarfilmen Plastic Planet (2009) des österreichischen Regisseurs Werner Boote, Plastik über alles (OV: Addicted to plastic) (2008) des kanadischen Regisseurs Ian Connacher sowie Midway (2009–2013) des US-Regisseurs Chris Jordan gezeigt.
== Abfallmanagement ==
Von den ca. 6,3 Mrd. Tonnen Kunststoff, die bis 2015 zu Abfall wurden, wurden ca. 9 % recycelt und 12 % verbrannt. Etwa 79 % der Kunststoffe wurden auf Müllhalden deponiert bzw. wurden in der Umwelt ausgebracht, wo sie sich nun anreichern. In der Schweiz wird etwa 90 % des Plastikmülls energetisch verwertet. Laut einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit würde eine rationale Antwort auf die „globale Bedrohung“ darin bestehen, den Konsum neuen Plastiks zu reduzieren und das Abfallmanagement international zu koordinieren. Der Export von Kunststoffabfällen, der nicht zu einem besseren Recycling führt, solle verboten werden.Das Exportvolumen an Kunststoffabfällen, die aus Deutschland in andere Länder verbracht wurden, war 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent gesunken. Dennoch bleibt Deutschland, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, mit 766.200 Tonnen ausgeführten Kunststoffabfällen (2021) der größter Exporteur innerhalb Europas.
=== Kunststoffrecycling ===
Im Jahr 2012 betrug die weltweite Recyclingquote für Kunststoffabfälle nur etwa 3 % bei einer jährlichen globalen Jahresproduktion an Kunststoffen von rund 280 Millionen Tonnen. Im Jahr 2018 erwähnte ein Artikel in der NZZ eine Zahl von 8 %. Ein Großteil der anfallenden Kunststoffabfälle wird stattdessen auf Müllkippen deponiert oder verbrannt, und geschätzte 20 Millionen Tonnen des nicht-recycelten Plastikmülls landen schließlich in den Ozeanen, wo er ein enormes Umweltproblem darstellt. Dagegen werden in Deutschland und der Schweiz keine Kunststoffe mehr deponiert. In der EU soll dieses Ziel bis zum Jahr 2020 erreicht werden. In der Bundesrepublik lag die Recyclingquote im Jahr 2010 bei 45 %, womit Deutschland Vorreiter im europäischen Vergleich ist. Die restlichen 55 % werden thermisch verwertet (Müllverbrennung). Die Kunststoffindustrie hat zur Unterstützung dieses Vorhabens eine Kampagne Zero Plastics to Landfill by 2020 gestartet. Inzwischen gibt es auch Industrieunternehmen, die sich auf das Recycling von Plastik spezialisiert haben.
Grundsätzlich lassen sich drei Möglichkeiten der Weiterverwertung erschließen:
==== Werkstoffliche Verwertung ====
Thermoplaste lassen sich, einmal zu einem Werkstück geformt, wieder einschmelzen und zu einem neuen Produkt formen. Die Abfolge von Wärmebehandlungen führt allerdings bei vielen Verfahren zu einem fortschreitenden Qualitätsverlust des Materials (Downcycling). Größtes Problem bei einer erneuten werkstofflichen Verwertung ist allerdings die Trennung der einzelnen Kunststoffe. Werden verschiedene Polymere in einem Material gemischt, führt das zu einem starken Qualitätsverlust und wesentlich schlechteren mechanischen Eigenschaften. Um die Trennung zu erleichtern, wurde 1988 der Recycling-Code eingeführt. Die Wiederverwertung nicht sortenreiner Abfälle, wie Hausmüll, gestaltet sich dennoch schwierig. Die gängigen Trennverfahren sind sehr personalintensiv und erfordern einen hohen Einsatz an Wasser und Energie, so dass sowohl eine Kosten-Nutzen-Rechnung als auch die Ökobilanz negativ ausfallen.
Recycling-Codes
Die werkstoffliche Verwertung wird daher zurzeit fast ausschließlich dort eingesetzt, wo große Mengen eines sortenreinen Materials zur Verfügung stehen. Beispielsweise werden in Deutschland Schaumpolystyrolverpackungen gesammelt, die eine erneute Verwertung als Bodenverbesserer in der Landwirtschaft oder bei der Herstellung von Schaumpolystyrol-Beton oder Ziegelsteinen finden. Die Recyclingquote für Schaumpolystyrol betrug im Jahre 2000 etwa 70 %. Für PVC existiert ebenfalls ein Rücknahmesystem, gesammelt werden vor allem Fußbodenbeläge, Dachbahnen, Fensterprofile und PVC-Rohre. Weitere Anwendungsbereiche für die werkstoffliche Wiederverwertung sind zum Beispiel in der Wiederverwertung von Fahrzeugen oder Getränkeflaschen, oder in Ländern der zweiten oder dritten Welt, wo das Sammeln sortenreiner Kunststoffabfälle zum Einkommen beiträgt. So entstehen aus den Sekundärrohstoffen erneut Verpackungen oder Produkte wie Fensterprofile, Rohre, Blumen- und Getränkekästen, neue Folien, Fensterrahmen oder Gießkannen.
==== Rohstoffliche Verwertung ====
Die rohstoffliche Verwertung von Kunststoffen ist durch chemisches Recycling möglich. Dieses zielt auf die Umwandlung in molekulare, wiederverwertbare Bausteine ab und umfasst Prozesse wie Vergasung, Pyrolyse, Solvolyse und Depolymerisation. Durch Pyrolyse lassen sich Kunststoffe wieder in die jeweiligen Monomere oder weitere petrochemisch verwertbare Stoffe, wie Methanol oder Synthesegas spalten. Für die Gewinnung der Monomere ist aber ebenfalls die Verfügbarkeit sortenreinen Materials Voraussetzung. Beispiele sind das Hamburger Verfahren, das zurzeit von der BP betrieben wird und sowohl zur Gewinnung von Monomeren, als auch petrochemischer Rohstoffe dient und das von Walter Michaeli und anderen entwickelte Verfahren der degradativen Extrusion, das in der Lage ist, vermischte Kunststoffabfälle in rohstofflich verwertbare Gase, Wachse und Öle umzuwandeln. Diese Verfahren werden naturgemäß vor allem für die Verwertung von Mischkunststoffen genutzt, die sich nur unter großem Aufwand trennen lassen würden.
==== Energetische Verwertung ====
Bei der energetischen Verwertung werden die Kunststoffe zur Energiegewinnung genutzt. Das geschieht fast ausschließlich durch Verbrennung. Einsatzgebiete sind vor allem Hochöfen, Zementwerke, Kraftwerke etc. Die dort vorherrschenden hohen Temperaturen sorgen für eine vollständige und schadstoffarme Verbrennung. Der Heizwert von Kunststoffen entspricht ungefähr dem von Steinkohle.
==== Plastiksteuer und Lenkungsabgaben ====
Zur Reduzierung der Menge, Ausbreitung in der Umwelt und Beeinflussung der Produktion über Anreize beim Preis wird eine Steuer mit Lenkungswirkung sowie der Abbau von steuerlichen Begünstigungen gegenüber Kraftstoffen erwogen und kontrovers diskutiert. Die Europäische Union und verschiedene Länder haben die Produktion und Verbreitung von verschiedenen Einwegprodukten aus Plastik verboten.
== Abbau ==
Herkömmliche Kunststoffe galten bislang als biologisch nicht abbaubar. Ohne biologischen Abbau zersetzen sich Kunststoffe nur sehr langsam durch chemische und physikalische Prozesse (siehe Abschnitt Persistenz). In jüngerer Zeit wurden einige Organismen gefunden, die auch herkömmliche Kunststoffe abbauen können.
Bereits seit langem sind biologisch abbaubare Kunststoffe bekannt, meist Polyester.
=== Biologischer Abbau herkömmlicher Kunststoffe ===
Von zwei Insekten, der Dörrobstmotte Plodia interpunctuella und der Großen Wachsmotte Galleria mellonella ist bekannt, dass sie mit Hilfe von Darmbakterien Polyethylen abbauen können.
Die Mottenlarve Galleria mellonella kann Polyethylen-Folien innerhalb von wenigen Stunden durchlöchern. Der genaue Mechanismus ist noch unbekannt, vermutlich besteht ein Zusammenhang mit der Fähigkeit der Mottenlarven, Wachs aus Bienenwaben zu verdauen (Wachs und Polyethylen sind sich chemisch ähnlich, in beiden spielen CH2-CH2-Bindungen eine wichtige Rolle). 2016 wurde das Bakterium Ideonella sakaiensis entdeckt, das in der Lage ist, sich von PET-Abfällen zu ernähren. Es benötigte jedoch für den Abbau eines dünnen Kunststofffilms sechs Wochen. Da es PET in seine Ausgangsstoffe Terephthalsäure und Ethylenglycol zersetzt, wäre es prinzipiell zum Recycling einsetzbar.Ebenso können Mehlkäfer (Tenebrio molitor) ausschließlich mit Polystyrol ernährt werden, wobei bei Mehlkäfern der Abbauprozess noch unbekannt ist. Da Insektenlarven mit ihren Kauwerkzeugen Kunststoffe zu feinen Partikeln verarbeiten, kann der Abbau durch bakterielle Enzyme schneller erfolgen.
2017 wurde in einer Publikation gezeigt, dass Tübinger Gießkannenschimmel (Aspergillus tubingensis) Polyester-urethane abbauen kann. Innerhalb von zwei Monaten konnte ein Kunststofffilm vollständig abgebaut werden.Im Jahr 2020 wurde bekannt, dass Enzyme für den Abbau von Plastik zum Einsatz kommen können. Dazu werden spezielle Enzyme verwendet, die so hitzestabil sind, dass sie auch Temperaturen um die 70 Grad aushalten. Ein aktiver Vertreter dieser Methode ist die französische Firma Carbios. Die Flaschen müssen vor dem Erhitzen zuerst verkleinert werden. Trotz dieses Aufwands wird das Verfahren als lohnend bewertet, da die Ausgaben für diesen Prozess sich auf nur etwa 4 % der Kosten belaufen, die für die Produktion neuer Plastikflaschen aus Rohöl anfallen. Die Wirkungsweise des Enzyms, welches die Polyethylenterephthalat (PET) in Polymere zerlegt, wird dabei von Carbios als "bakterieller Katalysator" beschrieben. An der Erforschung und Nutzbarmachung dieses Verfahrens sind inzwischen auch Nestlé, PepsiCo, L'Oreal und der japanische Getränkehersteller Suntory beteiligt.
=== Biologisch abbaubare Kunststoffe ===
Seit etwa 1990 wird intensiv an kompostierbaren, entsorgbaren Kunststoffen geforscht. Definiert wird die Prüfung der Kompostierbarkeit von Kunststoffen seit 1998 unter der DIN-Norm V 54900. Damit ein Kunststoff biologisch abbaubar ist, muss er Angriffsstellen für die Enzyme der Mikroorganismen bieten, die ihn für ihren eigenen Stoffwechsel nutzen sollen. Diese Enzyme verwandeln die langen Polymerketten in handlichere wasserlösliche Bruchstücke. Dazu können bereits natürlich vorkommende Polymere (Biopolymere) oder Einheiten in synthetisch hergestellte Ketten wie Zucker, Bernsteinsäure oder Milchsäure integriert werden. Entscheidend ist die Anwesenheit von Heteroatomen wie Stickstoff oder Sauerstoff im Kunststoff. So sind die meisten der bisher etwa 30 bekannten, vermarktungsfähigen, biologisch abbaubaren Kunststoffe Polyester, Polyamide, Polyesterurethane und Polysaccharide. Bei synthetisch hergestellten Polyestern und -amiden besteht das Problem, dass gerade die Eigenschaften, die die Schlag- und Zugfestigkeit der Materialien ausmachen (intramolekulare H-Brücken in Amiden, aromatische Komponenten in Polyestern), einer Verwertung durch die Natur entgegenstehen. Eine Verbesserung der biologischen Abbaubarkeit bedeutet so auch fast immer eine Verschlechterung der Werkstoffeigenschaften.
Die Weltproduktion an biologisch abbaubaren Kunststoffen betrug im Jahr 2007 300.000 Tonnen (im Vergleich zu 240 Mio. Tonnen Standardkunststoff).
==== Polysaccharide ====
Polysaccharide (Stärke, Cellulose) dienen der Natur als Energiespeicher und Gerüstsubstanzen. Unzählige Einfachzucker (wie Glukose oder Fruktose) bilden lange Ketten und stellen somit natürlich vorkommende Polymere dar, die als solche auch von der Natur abgebaut werden können. Sie sind billig und in großen Mengen verfügbar, zeigen allerdings einen gravierenden Nachteil: Sie können nicht durch Aufschmelzen zu Folien, Formteilen oder Fasern verarbeitet werden, d. h., sie sind nicht thermoplastisch formbar. Die thermoplastische Formbarkeit ist jedoch gerade einer der großen Vorzüge von Kunststoffen. Eine Veresterung der freien OH-Gruppen der Zucker verbessert zwar die Materialeigenschaften, setzt aber auch ihre Fähigkeit zur biologischen Abbaubarkeit herab. Werden Polysaccharide als Werkstoff eingesetzt, ist der Kompromiss zwischen Werkstoffeigenschaften und biologischer Abbaubarkeit nötig.
==== Polyhydroxybuttersäure (PHB) ====
Polyhydroxybuttersäure ist ein ebenfalls natürlich vorkommendes Polymer, das von bestimmten Mikroorganismen zur Energiespeicherung gebildet wird. Durch Fermentation können diese dazu angeregt werden, das Polymer bis zu 90 % ihrer eigenen Masse anzureichern. Es ist als Biopolymer biologisch abbaubar und zeigt Materialeigenschaften, die denen von Polyestern ähneln. Gegenwärtig bestehen Bestrebungen, PHB in gentechnisch veränderten Pflanzen zu produzieren („Plastikkartoffeln“).
Mögliche Anwendungsgebiete
Agrarwirtschaft: verrottende Mulchfolien, Pflanzentöpfe
Abfallentsorgung: Entsorgung von besonders verdrecktem, nur schlecht recyclebarem Müll, wie Lebensmittelverpackungen, Windeln etc.
Landschaftspflege: Verringerung des Littering
Fischerei: verlorene Fischernetze stellen eine latente Gefahr für größere Meereslebewesen dar
Kunstdünger: als Hüllsubstanzen für Dünger, so dass dieser langsamer und dosierter wirken kann (Controlled release).
== Wirtschaftlicher Anteil von Kunststoffen ==
=== Übersicht ===
Weltweit werden derzeit rund 380 Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr verbraucht (Stand: 2017). Im Durchschnitt wuchs die Produktion von Kunststoffen seit 1950 um ca. 8,4 % pro Jahr und damit 2,5 mal so schnell wie das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt.
Die Gründe dafür sind vielfältig (siehe auch Kapitel Eigenschaften): Zunächst ist Erdöl als Rohstoffquelle leicht zugänglich; dabei beträgt der Anteil am weltweiten Erdölverbrauch von Kunststoffen nur 4 %. Das Gewicht von Kunststoff ist, verglichen mit Eisen- und Keramikwerkstoffen, sehr gering. Die Verarbeitung von Kunststoffen (und speziell Thermoplasten) ist bei niedrigen Temperaturen möglich und damit kostengünstig. Schließlich sind Kunststoffe auch noch durch ihre speziellen Eigenschaften als Funktionswerkstoffe (siehe Kapitel Sonderkunststoffe) für Anwendungen verwendbar, für die sich sonst kein anderes Material in dieser Weise eignen würde und die teilweise erst durch Kunststoffe ermöglicht werden.In Wirtschaftsstatistiken werden Chemiefasern, sowie Kunstharze in Lack- und Klebstoffen oft von anderen Kunststoffen getrennt ausgewiesen.
=== Produktionsstatistik von Kunststoffen ===
Produktion von Kunststoffen in Deutschland 2007
== Gesundheitsgefahren ==
Bereits 1957 wurde eine Kunststoffkommission des Bundesgesundheitsamtes gegründet, um sich mit den vom Kunststoff ausgehenden Gesundheitsgefahren auseinanderzusetzen. Im Gründungsdokument steht der folgende Satz: „Die zunehmende Verwendung von Kunststoffen bei Bearbeitung, Verteilung und Verbrauch von Lebensmitteln, z. B. als Verpackungsmaterial, in Form von Folien sowie als Eßgeschirr, Trinkbecher usw., hat zahlreiche gesundheitliche Probleme aufgeworfen … (… Bulletin der Bundesregierung Nr.156 vom 24. August 1957)“Polymere (Hauptbestandteile von Kunststoffen) selbst gelten unter physikochemischen Bedingungen des Körpers als unreaktiv (inert) und können von den Zellen lebender Organismen nicht aufgenommen werden. Polymere sind somit voraussichtlich unbedenklich, es gibt jedoch noch viele offene Fragen.Untersucht werden allerdings mögliche Gefahren von Mikroplastik. Gefahren können außerdem von teilweise zugesetzten Additiven ausgehen. Additive können an der Oberfläche des Materials, so bei Bodenbelägen, austreten (Ausschwitzen). Aus diesem Grunde gelten für Lebensmittelverpackungen, Kunststoffe in der Medizin und ähnliche Anwendungen besonders strenge Auflagen hinsichtlich der Verwendung von Additiven. Die in solchen Bereichen eingesetzten Kunststoffe bedürfen einer Zulassung, beispielsweise durch die FDA.
In diesem Zusammenhang ist in der Vergangenheit vor allem Weich-PVC in die Kritik geraten, da diesem Kunststoff besonders große Mengen an Weichmachern zugesetzt werden. Es ist daher schon seit langem nicht mehr als Verpackung für Lebensmittel zugelassen. Ebenso ist in der Europäischen Union Herstellung und Vertrieb von Spielzeug für Kinder bis zum Alter von drei Jahren aus Material untersagt, das Phthalat-Weichmacher (vorrangig DEHP) enthält. Allerdings werden bis heute vor allem in Fernost produzierte Spielzeuge aus Weich-PVC verkauft.
Die in der EU hergestellten und vertriebenen Bodenbeläge, Trinkflaschen, Lebensmittelverpackungen, Kosmetikbehälter, Babyprodukte, Kunststoffspielzeuge etc. enthalten oftmals allerdings ebenfalls gesundheitsschädliche Additive. Die endokrinologische Fachgesellschaft Endocrine Society, die European Society of Endocrinology, die European Society for Pediatric Endocrinology, die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie, das National Institute of Environmental Health Sciences, die UNEP sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehen es als erwiesen an, dass Weichmacher und andere Kunststoffadditive im menschlichen Körper bereits in geringsten Mengen als endokrine Disruptoren wirken und so schädlichen Einfluss auf das Hormonsystem ausüben. Demnach sind zahlreiche Additive (u. a. Phthalate, Parabene und Phenole) unter anderem an der Entstehung von Brust- und Prostatakrebs, Unfruchtbarkeit, Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, kindlichen Entwicklungsstörungen sowie neurologischen, neurodegenerativen und psychischen Erkrankungen beim Menschen ursächlich beteiligt.Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften aus verschiedenen Ländern kritisieren, dass die aktuellen Grenzwerte unzureichend seien und deutlich stärkere Regulationsbemühungen nötig wären, um Verbraucher vor den gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Kunststoffen zu schützen. Obwohl Wissenschaftler seit über 25 Jahren vor den Gefahren von endokrinen Disruptoren warnen würden, seien kaum politische Maßnahmen ergriffen worden, die Exposition von Verbrauchern gegenüber endokrinen Disruptoren zu reduzieren.Des Weiteren wird kritisiert, dass die kunststoffproduzierende Industrie zu großen Einfluss auf den Zulassungs-, Bewertungs- und Gesetzgebungsprozess habe und durch gezielte Desinformation der Öffentlichkeit und Infiltration wissenschaftlicher Fachzeitschriften versuche, die öffentliche Meinung einseitig zu beeinflussen und den wissenschaftlichen Konsens zur Gefährlichkeit von Kunststoffen zu leugnen. Dabei würden ähnliche Methoden angewendet wie jene, mit denen im zwanzigsten Jahrhundert die Regulation von Asbest und Tabakrauch herausgezögert worden sei.Die größte und älteste endokrinologische Fachgesellschaft der Welt, die Endocrine Society, widerspricht explizit den Beteuerungen von Herstellern und staatlichen Risikobewertungsinstituten, wonach bei Einhaltung der aktuellen Grenzwerte keine Gesundheitsgefahr bestehe, und weist darauf hin, dass es keine Grenze gebe, unterhalb derer von einer gesundheitlichen Unbedenklichkeit ausgegangen werden könne. Sie empfiehlt daher zur Vermeidung ernsthafter gesundheitlicher Konsequenzen unter anderem:
die Vermeidung von industriell produzierten Nahrungsmitteln und in Dosen verpackten Nahrungsmitteln
die Vermeidung von Aufbewahrungsmitteln aus Kunststoff (insbesondere solche, die mit dem Recycling-Code 3, 6 und 7 gekennzeichnet sind); kein Erhitzen in Kunststoffprodukten (bspw. in der Mikrowelle)
die Vermeidung der Verwendung von Kunststoffflaschen
die Vermeidung von Spielzeug aus Kunststoff
den Verzicht auf Produkte, die endokrine Disruptoren enthalten (Phthalate, Bisphenol A, Parabene)
die Benutzung von Kosmetika ohne synthetisch hergestellte Duftstoffe
die Vermeidung des Kontakts mit Thermopapier, wie es oft für Kassenzettel o. ä. verwendet wird
die Ernährung durch Bio-Lebensmittel, da für deren Produktion keine synthetischen Pestizide verwendet werden dürfen
== Literatur ==
=== Bücher ===
Erwin Baur u. a. (Hrsg.): Saechtling Kunststoff-Taschenbuch. 31. Auflage. Carl Hanser Verlag, München 2013, ISBN 978-3-446-43442-4.
Otto Schwarz, Friedrich-Wolfhard Ebeling: Kunststoffkunde. 10. Auflage. Vogel Business Media, Würzburg 2016, ISBN 978-3-8343-3366-7.
Gottfried W. Ehrenstein: Polymer-Werkstoffe. 3. Auflage. Carl Hanser Verlag, München 2011, ISBN 978-3-446-42283-4.
Peter Elsner u. a. (Hrsg.): Domininghaus – Eigenschaften und Anwendungen. 8. Auflage. Springer, Berlin/ Heidelberg 2012, ISBN 978-3-642-16172-8.
Wolfgang Kaiser: Kunststoffchemie für Ingenieure. 4. Auflage. Carl Hanser Verlag, München 2016, ISBN 978-3-446-44638-0.
Christian Bonten: Kunststofftechnik – Einführung und Grundlagen. Carl Hanser Verlag, München 2016, ISBN 978-3-446-45223-7.
Georg Menges u. a.: Werkstoffkunde Kunststoffe. 6. Auflage. Carl Hanser Verlag, München 2011, ISBN 978-3-446-42762-4.
Reinhard Gächter, Helmut Müller (Hrsg.): Kunststoffadditive. Stabilisatoren, Hilfsstoffe, Weichmacher, Füllstoffe, Verstärkungsmittel, Farbmittel für thermoplastische Kunststoffe. 3. Ausgabe. Carl Hanser Verlag, München/ Wien 1990, ISBN 3-446-15627-5.
Jürgen Dispan: Kunststoffverarbeitung in Deutschland. Branchenreport 2013. (= IMU-Informationsdienst Nr. 4–2013). Stuttgart 2013. Link zur Branchenstudie
=== Zeitschriften und Aufsätze ===
Kunststoff in der Umwelt - ein Kompendium. Bertling et al. (2021), doi:10.24406/umsicht-n-624998
Kunststoff-Magazin. Die Kennziffern-Fachzeitschrift der Kunststoff- und Kautschukbranche. Hoppenstedt, Darmstadt ab 1995 ISSN 0941-8520
Plastverarbeiter (PV). internat. Fachzeitschr. für Verarbeitung, Gestaltung und Anwendung von Kunststoffen. Hüthig, Heidelberg 1.1950,Apr.ff. ISSN 0032-1338
Kunststoffe, Synthetics. Fachzeitschrift für Herstellung, Verarbeitung und Anwendung von Kunststoffen und neuen Werkstoffen. Vogt-Schild, Solothurn 23.1992,6ff. ISSN 1021-0601
Kunststoffe (KU). Werkstoffe, Verarbeitung, Anwendung. Organ deutscher Kunststoff-Fachverbände. Fachzeitschrift für Kunststofftechnik. Hanser, München 1.1911ff. ISSN 0023-5563 (älteste periodische Veröffentlichung zum Thema)
KunststoffXtra. Fachzeitschrift für die Kunststoff- und Kautschukindustrie. Sigwerb, Zug 1.2010ff. ISSN 1664-3933
Harald Cherdron: Moderne Aspekte der Kunststoffe. In: Chemie in unserer Zeit. Band 9, Nr. 1, Februar 1975, S. 25–32, doi:10.1002/ciuz.19750090105.
Karlheinz Hillermeier und Albrecht Hille: Polyesterfaserverstärkung von duroplastischen Formmassen, BMFT Forschungsbericht, T83–155 (1983), ISSN 0340-7608
Klaus G. Kohlepp: Wachstum im Wandel der Zeiten – Entwicklungsgeschichte der Kunststoffe. In: Kunststoffe. 5/2005, S. 22–32 (2005).
Klaus Möbius: Kunststoffe in aller Welt. In: Chemiker-Zeitung. – Chemische Apparatur 83(20) (1959), S. 693–699, ISSN 0009-2894
Hans Priess: Zur Umbenennung der Kunststoffe in „Polyplaste“. In: Chemiker-Zeitung. 74(21) (1950), S. 265 ff., ISSN 0009-2894
Dietrich Braun: Der lange Weg zum Makromolekül – Polymerforschung vor Hermann Staudinger. In: Chemie in unserer Zeit. Band 46, Nr. 5, 2012, S. 310–319, doi:10.1002/ciuz.201200566.
Andreas Kalberer, Delphine Kawecki-Wenger, Thomas Bucheli: Plastik in der Landwirtschaft : Stand des Wissens und Handlungsempfehlungen für die landwirtschaftliche Forschung, Praxis, Industrie und Behörden. In: Agroscope Science. Nr. 89, 2019 (admin.ch [PDF; 1,8 MB]).
== Film ==
2009: Plastic Planet. Kritischer Dokumentarfilm über Verwendung und Verbreitung von Kunststoffen.
== Institute ==
Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, (IAP) Potsdam-Golm
Kunststoff-Institut Lüdenscheid
Institut für Kunststoffverarbeitung (IKV), Aachen
Institut für Technische und Makromolekulare Chemie (ITMC) Aachen
Lehrstuhl Makromolekulare Chemie I, Uni Bayreuth
Institut für Polymere, an der ETH Zürich
Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung (IWK), an der Fachhochschule Ostschweiz (OST) in Rapperswil
Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e. V. Dresden
Lehrstuhl für Kunststofftechnik, Erlangen
Institut für Technische und Makromolekulare Chemie, Uni Hamburg
Institut für Kunststofftechnik (IKT), Stuttgart
Institut für angewandte makromolekulare Chemie, (IAMC) Stuttgart
Süddeutsches Kunststoff-Zentrum (SKZ), Forschungsinstitut und Ausbildungsstätte für Kunststofftechnik, Würzburg
Institut für Polymerwerkstoffe und Kunststofftechnik, (PuK) Clausthal-Zellerfeld
Department für Kunststofftechnik, an der Montanuniversität Leoben
Lehrstuhl für Kunststofftechnik, Ilmenau
== Verbände ==
AVK – Industrievereinigung Verstärkte Kunststoffe e. V. (AVK), Frankfurt am Main
GKV Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie e. V. (GKV), Berlin
Industrievereinigung Kunststoffverpackungen e. V. (IK), Bad Homburg
Fachverband Schaumkunststoffe und Polyurethane e. V. (FSK), Frankfurt am Main
== Weblinks ==
chemie.fu-berlin.de: Kunststoff-Tabelle
act.greenpeace.de: Wege aus der Plastikkrise
Unternehmensmagazin: Plastik ist die Zukunft, mein Junge. (Memento vom 19. Januar 2008 im Internet Archive) (Über Imagewandel und Bedeutung von Kunststoff)
Vereinigung europäischer Kunststoffhersteller: plasticseurope.org
visualcapitalist.com, 3. Juli 2019, Iman Ghosh: Mapping the Flow of the World’s Plastic Waste (englisch; „Karte zum Gang des weltweiten Plastikmülls“)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Kunststoff |
Skorpione | = Skorpione =
Die Skorpione (Scorpiones) sind eine Ordnung der Spinnentiere (Arachnida). Weltweit sind, je nach Zuordnung, zwischen 1750 und 2500 Arten bekannt, wovon nur etwa 25 als für Menschen potentiell tödlich gelten. Skorpione erreichen Körpergrößen zwischen 9 Millimetern bei der Art Typhlochactas mitchelli und 21 Zentimetern beim Kaiserskorpion (Pandinus imperator) und Hadogenes troglodytes. Sie leben vorwiegend in sandigen oder steinigen Böden oder in Bodennähe der Tropen und Subtropen, Wüsten und Halbwüsten. Wenige Arten sind kletternde Baumbewohner, Wanderer oder Höhlenbewohner und halten sich als Kulturfolger in der Nähe menschlicher Behausungen auf.
== Bau der Skorpione ==
=== Äußere Anatomie ===
Der Körper der Skorpione ist undeutlich in einen Vorderkörper (Prosoma) und einen deutlich zweigeteilten Hinterleib (Opisthosoma) gegliedert. Das Opisthosoma besteht aus einem breiten Teil, dem Mesosoma, sowie einem schwanzartig verlängerten Metasoma.
Der Vorderkörper besteht aus sechs Segmenten und trägt die Extremitäten. Zu ihnen gehören die relativ kleinen, dreigliedrigen Kieferklauen (Chelicere), denen die auffallend großen Pedipalpen folgen. Diese sind zu großen Fangarmen ausgebildet, die am Ende in einer Schere enden. Skorpione sind in der Lage, mit ihren kräftigen Scheren Erdgänge und Höhlen zu graben. Außerdem dienen die Scheren zum Fang und Festhalten der Beute, meist andere Gliederfüßer oder kleinere Wirbeltiere. Die Cheliceren dienen zur Nahrungszerkleinerung und arbeiten gegen die Basen der Pedipalpen und der nachfolgenden beiden Laufbeinpaare, welche zusammen die untere Begrenzung des Mundraumes bilden (Gnathobasis).
Den scherenbesetzten Pedipalpen folgen vier Laufbeinpaare. Das zweite Hinterleibssegment der Skorpione trägt die Genitalplatten und im hinteren Bereich auffällige kammartige Strukturen, die als Kammorgan (Pecten) bezeichnet werden. Im Hinterleib sitzt, wie bei den Webspinnen, die Fächerlunge. Der Anus liegt im fünften Hinterleibssegment.
Der Hinterleib, das Opisthosoma, besteht aus Chitinringen, die untereinander beweglich verbunden sind. Dadurch sind sie formfest und erhalten zugleich eine extreme Beweglichkeit. Bei der Fortbewegung wird dieser Teil aufrecht über dem Körper der Skorpione getragen. Das Opisthosoma weist 13 Segmente auf, von denen die letzten 5 Segmente wie bei den Seeskorpionen (Eurypteriden) zu schmalen Ringen verengt sind und das Metasoma bilden. Dieses Metasoma trägt das Telson (Endstachel und Giftblase). Größere Beutetiere werden mit einem Stich durch den Stachel getötet.
Ihre Beute nehmen die Skorpione im Wesentlichen durch ihre Spaltsinnesorgane wahr. Ein Skorpion erkennt eine grabende Schabe an den Vibrationen aus 50 Zentimetern Entfernung. Die Augen der Skorpione eignen sich nur zum groben Orientieren (Sonnenstand, Mondschein etc.). Diese nervöse Leistung wird durch eine Kette von Ganglien, der Bauchganglienkette, erbracht, die bei Webspinnen bereits zum Bauchganglion verschmolzen ist. Der Vorderkörper ist außerdem mit einem großen medialen Augenpaar und bis zu fünf kleineren Punktaugenpaaren ausgestattet.
Die Cuticula der Skorpione fluoresziert bei Bestrahlung mit Ultraviolettstrahlung. Dabei werden eingelagerte beta-Carboline und 7-Hydroxy-4-methylcoumarin angeregt. Mit Hilfe entsprechender Lampen können die Tiere daher bei Dunkelheit leicht entdeckt werden. Auch nach dem Ableben der Tiere bleibt dieser Effekt erhalten.
=== Innere Anatomie ===
Wie bei allen Gliederfüßern setzen die Muskeln der Skorpione an den Innenflächen sowie an Spangen des Chitinskeletts an. Sie sind innerviert durch Nerven, die von einem zentralen Bauchmark mit sieben Nervenknoten (Ganglien) ausstrahlen. Neben dem Bauchmark gibt es außerdem ein Gehirn aus zwei großen Ganglien, welche im Kopfbereich liegen und den Schlundbereich umspannen.
Das Verdauungssystem beginnt mit einem Mundbereich, welcher mit einem muskulösen Schlund ausgestattet ist. Dieser funktioniert wie eine Pumpe, der die vorverdaute Nahrung in den Mund saugt, von wo sie dann in den Vorder- und Mitteldarm geleitet wird. Die Verdauung erfolgt im Mitteldarm, in den mehrere Drüsen münden, die die erforderlichen Enzyme wie Amylasen, Proteasen und Lipasen produzieren. Als Speicherorgan dient ein großes Hepatopankreas (entspricht einer Kombination aus Leber und Bauchspeicheldrüse), das bis zu 20 Prozent des Körpergewichts der Tiere ausmachen kann. Die Speicherung der Nährstoffe erfolgt als Glykogen. Die Metabolismusrate der Tiere ist sehr gering, und die Nahrung kann sehr effektiv verwertet werden, außerdem können Skorpione mit einer Nahrungsaufnahme bis zu einem Drittel ihres eigenen Körpergewichts aufnehmen. Durch diese Anpassungen können Skorpione bis zu 12 Monate hungern.
Die Exkretion erfolgt, wie bei anderen Gliederfüßern auch, über Malpighische Gefäße, die in den Darm im Bereich des Übergangs zwischen Mitteldarm und Enddarm enden und die Stickstoffverbindungen in diesen abgeben. Diese Exkretion erfolgt mit nur sehr geringem Wasserverlust, die Stoffe werden als Harnsäure mit dem Kot abgegeben.
Das Blutgefäßsystem ist mit Ausnahme des dorsalen Herzschlauchs offen, das Blut (Hämolymphe) flottiert entsprechend frei im Körper und in den Blutsinus im Gewebe der Tiere. Die Atmung erfolgt über Buchlungen, die an der Unterseite der Skorpione als Einfaltung der Cuticula vorhanden sind. In diesen wird der Sauerstoff in die Hämolymphe abgegeben.
Die Gonaden sind bei beiden Geschlechtern paarig als ein Netzwerk von Schläuchen angelegt, welches sich auf den ersten Blick nicht unterscheiden lässt. Die Männchen produzieren in ihren Hodenschläuchen Spermien, die in besonderen Organen (Paraxialorgan) zu Spermatophoren verpackt werden. Die Weibchen produzieren Eier, die artspezifisch mit oder ohne Dottervorrat angelegt werden. Bei den apoikogenischen Eiern existiert ein Dotter, der von den Embryonen als Nahrung genutzt wird, die Jungskorpione aus katoikogenischen Eiern greifen stattdessen mit ihren Cheliceren nach speziellen Futterdivertikeln im weiblichen Uterus und werden auf diese Weise ernährt.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Skorpione finden sich weltweit auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis. In Amerika reicht ihr Verbreitungsgebiet von Südkanada bis ins südliche Südamerika. In Europa findet man sie mit einer nördlichen Verbreitung bis in den Süden und Osten Österreichs und der Schweiz sowie bis in den Süden Tschechiens. In Österreich handelt es sich hierbei um die Arten Alpiscorpius germanus (Deutscher Skorpion), Alpiscorpius ypsilon, Alpiscorpius gamma (Gammaskorpion), Euscorpius tergestinus (Triestiner Skorpion) und in der Schweiz um die Arten Alpiscorpius alpha, Alpiscorpius beta, Alpiscorpius germanus und Polytrichobothrius italicus (Italienischer Skorpion). Aus Tschechien ist Euscorpius tergestinus bekannt.
In Großbritannien und Neuseeland wurden Skorpione als Neozoen eingeschleppt. Der Schwerpunkt liegt aber in tropischen und subtropischen Regionen. Die größte Artenvielfalt findet sich in den mexikanischen Wüstengebieten.
Die Tiere finden sich in den meisten Lebensräumen wie Wüsten und Halbwüsten, in der grasbewachsenen Savanne, in tropischen Wäldern, an Küsten in der Gezeitenzone, vereinzelt auch in Höhlen. Viele graben sich in den Untergrund ein, während manche Arten in Bäumen leben. Alacran tartarus ist ein Höhlenbewohner und kann bis zu 800 Metern unter der Oberfläche gefunden werden.
Die meisten Arten sind aber bodenlebend und werden nach McDaniels 1968 in vier Grundtypen aufgeteilt:
Psammophile Skorpione sind an sandige Habitate angepasst. Sie sind auf diesem Untergrund sehr schnelle Läufer und gut gegen Austrocknung geschützt.
Lithophile Skorpione leben bevorzugt in Felslebensräumen und sind meist flach gebaut, damit sie sich gut zwischen Steinen bewegen können.
Grabende Skorpione leben vor allem unterirdisch in selbst gegrabenen Höhlen. Sie verlassen diese nur zur Jagd und zur Fortpflanzung.
Wandernde Skorpione wechseln ihren Lebensraum und sind entsprechend wenig an bestimmte Verhältnisse angepasst.Skorpione gelten traditionell als in trockenen Lebensräumen gedeihende Tiere, doch sind viele Arten auf eine hohe Luftfeuchtigkeit angewiesen.
== Lebensweise ==
=== Ernährung ===
Skorpione ernähren sich von diversen wirbellosen Tieren wie Insekten (Insecta) oder Spinnentieren (Arachnida), seltener auch von Schnecken oder kleinen Wirbeltieren wie Nagern, Schlangen und Eidechsen. Die Nahrungswahl ist dabei artspezifisch mehr oder weniger ausgeprägt, nur die Art Isometroides vescus gilt als Nahrungsspezialist und ernährt sich ausschließlich von wenigen grabenden Spinnenarten.
Skorpione sind überwiegend nachtaktiv. Die meisten Arten lauern ihrer Beute in der Nähe ihrer Höhle oder anderer Unterschlupfmöglichkeiten auf. Einige Arten sind in der Lage, auch fliegende Insekten zu fangen. Auch aktive Jäger gibt es unter den Skorpionen, dabei handelt es sich meist um schlanke Tiere mit sehr starken Skorpiongiften. Beim Beutefang werden die beiden Pedipalpen als Greifzangen eingesetzt; falls sich das Opfer nicht schon dadurch wehrunfähig machen lässt, kommt der Stachel zum Einsatz, der in weniger als einer Sekunde über den Kopf hinweg geführt wird und Gift in das Beutetier injiziert. Mit den Kieferklauen wird es nun zerkleinert, während gleichzeitig Enzyme die Nahrung vorverdauen. Der flüssige Nahrungsbrei wird dann durch den Schlund in den Darm gesaugt. Der Fressvorgang kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen.
Viele Skorpione sind in der Lage, für längere Zeit, manche Arten sogar ein bis zwei Jahre, ohne Nahrung auszukommen, da ihr Ruhestoffwechsel kaum Energie verbraucht.
=== Fressfeinde und Verteidigung ===
Skorpione sind eine beliebte Beute für verschiedene Vögel (vor allem Eulen), Eidechsen, Schlangen, große Frösche und Säugetiere. Außerdem jagen viele Skorpione selbst andere Skorpione, sowohl der eigenen Art als auch andere Arten, und auch unter größeren Gliederfüßern haben sie Feinde wie Hundertfüßer, Walzenspinnen und Webspinnen.
Um sich gegen Fressfeinde zur Wehr zu setzen, besitzen Skorpione mehrere Abwehrmechanismen. Die auffälligste Verteidigung ist die Ausstattung mit einem Giftstachel und einem hochpotenten Gift, welches in der Giftdrüse im letzten Körpersegment produziert wird und bei den meisten Skorpionen aus zwei Komponenten besteht: Einer zum Töten von Gliederfüßern als Nahrung und einer gegen Wirbeltiere zur Verteidigung. Je nach Art wirkt das Gift entweder neuromuskulär (u. a. Centruroides spp. und Parabuthus spp.) oder kardiovaskulär (u. a. Buthus spp., Mesobuthus spp. und Androctonus spp.). Für das Vergiftungsgeschehen selbst sind besonders die neurotoxischen Bestandteile relevant.Das Gift der meisten Skorpione ist in der Regel für große Wirbeltiere nur wenig gefährlich. Wie einführend benannt besitzen allerdings einige wenige Arten Gifte, die auch bei Menschen zu potentiell tödlichen kardialen und zentralnervösen Symptomen führen können. Dies betrifft ca. 10 % aller Stichunfälle, wobei insb. Ältere, (Klein-)Kinder sowie Kranke besonders gefährdet sind. Regionen, in denen es gehäuft zu (tödlichen) Stichunfällen kommt sind etwa Mexiko oder auch Iran. Besonders starke Gifte finden sich bei Vertretern der Buthidae (LD50-Wert zwischen 0,25 ppm (Millionstel Teilen) und 4,25 ppm bei der Maus). Jährlich sterben weltweit je nach Quelle etwa 1000 bis 5000 Menschen durch Skorpionstiche.
Einige Tierarten haben sich auf Skorpione soweit spezialisiert, dass sie gegen die Gifte immun sind oder Verhaltensweisen besitzen, die es ihnen ermöglichen, dem Stich zu entgehen. Ihre nächtliche Lebensweise und ihr Verhalten, sich fast immer in Verstecken aufzuhalten, vermeidet außerdem den Kontakt mit potenziellen Feinden.
=== Sozialverhalten ===
Die meisten Skorpione sind Einzelgänger, die mit anderen Skorpionen nur in der Zeit nach der Geburt, als Jäger oder Gejagte sowie zur Paarungszeit zusammentreffen.
Einige Arten zeigen jedoch ein ausgeprägtes Sozialverhalten. So gibt es Arten, die gemeinsam im gleichen Unterschlupf überwintern und dazu Aggregationen bilden. Bei einigen Arten, etwa dem Kaiserskorpion (Pandinus imperator), bleibt auch die Bindung zwischen den Jungskorpionen eines Wurfes bestehen, und sie bilden Familiengruppen, die sogar gemeinsam jagen.
== Fortpflanzung und Entwicklung ==
Zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Besiedlung des extrem trockenen Lebensraumes gehört die Gewährleistung der Fortpflanzung und somit der Schutz der Eier und Spermien vor Austrocknung.
=== Paarung und Paarungstanz ===
Die Männchen der Skorpione legen die Spermien in einen dafür gebildeten Behälter, die Spermatophore, ab. Diese bietet den Spermien einen Schutz vor äußeren Einflüssen. Da die meisten Arten jedoch in sehr trockenen Gegenden leben, ist auch dieser Schutz allein nicht ausreichend, wenn die Spermatophore nicht innerhalb kürzester Zeit vom Weibchen aufgenommen wird. Der „Hochzeitstanz“ der Skorpione dient dieser Funktion. Ein solcher wurde auch in dem Walt-Disney-Film Die Wüste lebt gezeigt.
Zur Paarungszeit verströmen die Weibchen Sexuallockstoffe (Pheromone), die die Männchen zu ihnen führen. Haben die Männchen eines gefunden, versuchen sie durch Zuckbewegungen (juddering), dieses in Paarungsstimmung zu versetzen. Hat das Männchen seine Partnerin „überredet“, greifen sie sich an den Scheren, und der manchmal Stunden andauernde Paarungstanz beginnt. Zu Beginn des Paarungstanzes halten sich die Männchen vieler Skorpionarten nicht nur mit den Scheren am Weibchen fest. Sie stechen ihren Giftstachel in die dünne Haut am Scherenarm des Weibchens. Vermutet wird eine Stimulation des Weibchens; es ist jedoch nicht geklärt, ob das Männchen dem Weibchen auch Gift einspritzt.
Beim Paarungstanz führt das Männchen das Weibchen manchmal über viele Meter und versucht mit den Kammorganen (Pectines) auf der Bauchseite einen geeigneten Ablageplatz für seine Spermatophore zu finden. Hat es ihn ertastet, verharrt es kurz und setzt die Spermatophore ab. Dann zieht es das Weibchen darüber hinweg, so dass das Sperma direkt in dessen Genitalporus eindringen kann. Damit ist der Tanz beendet, und die Partner trennen sich schnell – manchmal endet er allerdings auch mit dem Verzehr des Gatten (Kannibalismus). Beide Geschlechter können sich in ihrem Leben mehrmals verpaaren, wobei Weibchen der Buthidae auch bei Paarungen beobachtet wurden, während sie die Brut der letzten Paarung noch auf dem Rücken trugen.
=== Entwicklung ===
Nach einigen (bis zu zwölf) Monaten gebiert das Weibchen lebende Junge (Viviparie), die Eier werden also bereits im Uterus „ausgebrütet“. Die Anzahl der jungen Skorpione kann artspezifisch zwischen 2 und über 100 betragen. Die Jungskorpione sind bei der Geburt weiß, und jedes ist einzeln von einer Embryohaut, dem Chorion, umschlossen. Nachdem sich die Jungskorpione aus dieser befreit haben, steigen sie auf den Rücken der Mutter, die sie bis zur ersten Häutung herumträgt. Die erste Häutung erfolgt je nach Art und äußeren Bedingungen nach 1 bis 51 Tagen. In dieser Zeit sind die Weibchen besonders aggressiv. Die Ernährung der Jungskorpione erfolgt in dieser Zeit durch körpereigene Reserven, Flüssigkeit bekommen sie durch die Rückenhaut der Mutter.Nach der ersten Häutung verlassen die Jungen ihre Mutter und sind auf sich selbst gestellt. Die weitere Entwicklung läuft über mehrere, meist fünf bis acht, weitere Häutungen. Danach sind die Tiere geschlechtsreif. Nach dem Erreichen dieser Geschlechtsreife finden keine weiteren Häutungen mehr statt.
== Gefährdung ==
Gegenwärtig stehen drei Arten der Skorpione auf der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN): Isometrus deharvengi, ein höhlenbewohnender Skorpion aus Vietnam, sowie Chiromachus ochropus und Lychas braueri, zwei Endemiten der Seychellen. Drei Arten, der Kaiserskorpion (Pandinus imperator) sowie Pandinus dictator und Pandinus gambiensis werden in Anhang II des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens geführt und sind Exportkontrollen unterworfen.
== Stammesgeschichte ==
Als Landbewohner mit einer relativ dünnen Chitinschicht hinterlassen Skorpione nur sehr selten Fossilreste, entsprechend wenig ist bekannt über die Evolution der Tiere. Die meisten Erkenntnisse stammen aus der phylogenetischen Forschung. So kann aufgrund der Position der Skorpione an der Basis der Spinnentiere davon ausgegangen werden, dass die Skorpione von marinen Formen abstammen, die gleichzeitig auch die Stammarten der an den Meeresküsten lebenden Pfeilschwanzkrebse (Xiphosura) und der ausgestorbenen Seeskorpione (Eurypterida) gewesen sein dürften. Alle meereslebenden Arten benutzten noch Kiemen zur Atmung, die bei den Pfeilschwanzkrebsen an der hinteren Innenseite von Extremitäten angelegt waren. Die Fächerlungen der Skorpione sind aus den Kiemen ihrer Vorfahren hervorgegangen.
Erste Fossilien eindeutig landlebender Skorpione fanden sich aus dem späten Silur vor etwa 430 bis 390 Millionen Jahren. Diese frühen Arten waren wahrscheinlich amphibisch lebende Formen, die mit Kiemen ausgestattet und an das Leben an den Meeresküsten und im Tidenbereich angepasst waren.
Eine Aufsplitterung der Formen begann ebenfalls zu dieser Zeit und war im Devon bzw. spätestens im Karbon vor etwa 325 Millionen Jahren bereits abgeschlossen. Aus dieser Zeit sind Fossilien beinahe aller heute lebenden Skorpionstaxa bekannt, von denen die größten mehr als 85 Zentimeter lang wurden.
Die Skorpione stellen die ursprünglichste Gruppe innerhalb der Spinnentiere dar und werden entsprechend als Schwestergruppe aller anderen Spinnentiere angesehen.
== Systematik ==
Die systematische Einteilung der Skorpione erfolgt auf der Basis von morphologischen Eigenschaften wie der Anzahl und Verteilung der Trichobothrien, der Form des Sternums, der Mundstrukturen, der Bezahnung der Cheliceren, der Gestaltung der Beine, des Telson und vielen weiteren Merkmalen. Daneben spielen Besonderheiten der Embryologie sowie der inneren Anatomie eine Rolle.
Aktuell werden die heute lebenden Skorpione meist in 13 Familien und jeweils mehrere Gattungen aufgeteilt (nach Fet et al. 2000):
Bothriuridae Simon, 1880
14 Gattungen
Buthidae C.L. Koch, 1837
99 Gattungen, u. a.
Karasbergia Hewitt, 1913
Lychas C.L. Koch, 1845
Parabuthus Pocock, 1890
Uroplectes Peters, 1861
Caraboctonidae Kraepelin, 1905
Caraboctonus Pocock, 1893
Hadruroides Pocock, 1893
Hadrurus Thorell, 1876
Chactidae Pocock, 1893
11 bis 16 Gattungen
Chaerilidae Pocock, 1893
Chaerilus Siemon, 1877
Euscorpiidae Laurie, 1896
14 Gattungen, u. a.
Euscorpius Thorell, 1876
Alpiscorpius 2019
Hemiscorpiidae Pocock, 1893
12 Gattungen
Iuridae Thorell, 1876
Calchas nordmanni Birula, 1899
Iurus dufoureius Brullé, 1832
Microcharmidae Lourenço, 1996
Microcharmus Lourenço, 1995
Neoprotobuthus Lourenço, 2000
Pseudochactidae Gromov, 1998
Aemngvantom 2012
Pseudochactas Gromov, 1998
Troglokhammouanus
Scorpionidae Latreille, 1802
Heterometrus Ehrenberg, 1828
Opistophthalmus C. L. Koch, 1837
Pandinus Thorell, 1876
Scorpio Linnaeus, 1758
Superstitioniidae Stahnke, 1940
Superstitioniidae Stahnke, 1940
Vaejovidae Thorell, 1876
23 GattungenDie Buthidae sind die größte Familie der Skorpione (Scorpiones) mit 1.352 Arten in 99 Gattungen (Stand: 28. März 2023). Zu dieser Familie gehören auch die meisten gefährlich giftigen Arten. Eine weitere Familie, die nur durch Akrav israchanani bekannten Akravidae, ist vermutlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgestorben. Ebenso die Gattung Electrochaerilus der Familie Chaerilidae.
== Mensch und Skorpione ==
=== Volksmedizin ===
Als Bild sollten Skorpione den bösen Blick abwenden, weshalb man ihr Bildnis auf Lampen und anderen Gegenständen finden kann. Als Talisman soll ein Skorpion die Stadt Emesa in Vorderasien vor echten Skorpionen und Schlangen beschützt haben.
Als giftiges Tier fand der Skorpion unterschiedlichste Verwendungen in der Volksmedizin. Nach Megenberg konnten Skorpionsasche, in Wein getrunken, und Skorpionsöl, mit dem man die Stichstellen einreiben musste, gegen das Gift der Tiere helfen. Das „Skorpenöl“ wurde gewonnen, indem man lebende Skorpione in Olivenöl tauchte und dieses dann erhitzte. Mit diesem Öl sollten sich verschiedenste Beschwerden heilen lassen, darunter Wunden, Koliken, Gicht und Ohrenschmerzen. In Tirol verwendete man das Öl sogar gegen Harnwegsbeschwerden und die Pest sowie gegen Bienen- und Wespenstiche. Die Galle der Skorpione wurde gegen Augenleiden und zur Hautverschönerung eingesetzt.
Im Aberglauben und der Volksmedizin spielt der Skorpion vor allem aufgrund seines Giftes in einigen Völkern eine große Rolle. Konrad von Megenberg beschrieb die Tiere in seinem Buch der Natur als
„eine Schlangenart, welche ein gar zartes Gesicht hat, dem Antlitz einer keuschen Jungfrau zu vergleichen. Wer vom Skorpion vergiftet wird, hat noch drei Tage Zeit, ehe er sterben muß.“Er führt seine Beschreibung weiter, indem er von zweistachligen Skorpionen berichtet, von denen Aristoteles berichtet hat. Unter den Schweinen soll das Gift nur schwarze Schweine sicher töten; die Giftwirkung werde noch beschleunigt, wenn diese ins Wasser gingen. Beim Menschen greife der Skorpion zudem nur behaarte Körperstellen an und steche niemals in die hohle Hand. Ein weiteres Kuriosum weiß Konrad von Megenberg zu berichten:
„Wenn man einen Skorpion in Öl ertränkt und bei Sonnenlicht Essig auf ihn gießt, wird er sofort wieder lebendig. Das Öl verstopft nämlich die kleinen Öffnungen an seinem Leibe, die beim Menschen Schweißlöcher und lateinisch Pori heißen. Der Essig dagegen öffnet beim Skorpion die Poren wieder.“Weitere interessante Geschichten waren über die Entstehung der Skorpione verbreitet. Im Altertum gab es nach Otto Kellers Antike Tierwelt die Vorstellung, Skorpione erwüchsen aus gestorbenen Krokodilen oder (nach Plinius) aus begrabenen Seekrebsen, wenn die Sonne das Sternbild des Krebses durchwandert. Nach Paracelsus entstanden Skorpione aus verfaulenden Artgenossen, die sie dadurch töteten. Ähnlich ist die Vorstellung, dass sich die Jungskorpione aus dem Bauch der Mutter herausfressen.
Im deutschen Aberglauben soll der Skorpion nachts fliegen und alles, was er berührt, vertrocknen lassen. Als Sternbild Skorpion taucht das Tier bereits in Kalenderzeichnungen der Babylonier auf. In der Wahrsagerei bedeutete der Skorpion einen frühen Tod.
=== Skorpione in der Kulturgeschichte ===
Skorpione spielen in der Kulturgeschichte seit Jahrtausenden eine Rolle. Sie werden in Sagen und Mythen meist als gefährliche, todbringende Wesen dargestellt. Skorpion I. ist der früheste namentlich bekannte König Altägyptens, womit sozusagen zu Beginn der Menschheitsgeschichte ein Skorpion steht.
Bereits das sumerische Gilgamesch-Epos erzählt von Skorpionmenschen, deren Oberkörper Menschengestalt und Unterkörper Skorpionsgestalt hat. Als der Held Gilgamesch den Berg Mâschu betritt, stellen sich ihm ein solcher Skorpionmann und eine Skorpionfrau in den Weg, deren „Furchtbarkeit ungeheuer ist, deren Anblick Tod ist“. Sie bewachen dort den Aus- und Einzug der Sonne. Noch nie hat es ein Mensch gewagt, diesen Weg zu gehen, doch Gilgamesch gelingt es, die Skorpione zu überzeugen, ihn vorbeizulassen.
Die ägyptische Mythologie kennt die Göttin Selket, welche stets mit einem Skorpion auf dem Kopf dargestellt wird. Sie verfügt über magische Heilkräfte und bewahrt vor Skorpionsstichen, weshalb sie in entsprechenden Schutzzaubern angerufen wird. Als die Göttin Isis von Seth bedroht wird, sendet sie sieben Skorpione aus, um sie vor ihm zu schützen. Hededet hat den Unterkörper eines Skorpions. Auch der punische Heilgott Schadrapa wurde mit Schlange oder Skorpion dargestellt.
In der griechischen Mythologie bringt die wütende Göttin Artemis einen Skorpion hervor, der den Jäger Orion mit einem Stich tötet. Beide werden daraufhin zusammen als Sternenbilder an den Himmel versetzt. Ihre Feindschaft lebt dort weiter, denn man sieht die zwei Sternbilder nie zur gleichen Zeit.
Auch in der biblischen Offenbarung des Johannes treten Skorpione während der Apokalypse auf. Die fünfte Posaune ruft Heuschrecken hervor, die eine Kraft erhalten, „wie sie Skorpione auf der Erde haben.“ (Offb 9,3 ). Der von ihnen verursachte Schmerz wird mit dem eines stechenden Skorpions (Offb 9,5 ) verglichen, denn sie besitzen Schwänze mit Stacheln wie die Skorpione und setzen diese ein, um den Menschen fünf Monate lang zu schaden (Offb 9,10 ).
„Oh, full of scorpions is my mind“ sagt MacBeth in Shakespeares Drama (Akt III, Szene 2) nach dem heimtückischen Dolchmord. Gottlieb Konrad Pfeffels Gedicht Skorpion und Hirtenknabe warnt vor bösen Menschen. Anna Elisabet Weirauch schrieb Der Skorpion (1919), Anna-Leena Härkönen (siehe Regine Pirschel) Der traurige Skorpion (1989). Bruna Surfistinhas Das süsse Gift des Skorpions (2007) behandelt Prostitution. Hinrich Matthiesens Der Skorpion (2015) ist ein Krimi. Skorpionstiche kommen vor in John Steinbecks Novelle Die Perle und den Filmen Das blaue Paradies (1982) oder Die letzte Mätresse (2007). Skorpione eignen sich mit Blick auf altägyptische Mythologie bzw. das gleichnamige Sternbild für Fantasy – wie auch Science Fiction – Werke. In Filmtiteln steht das Wort für Aktion, gepaart mit Heimtücke, auch in Verbindung mit Sexualität: Der goldene Skorpion (1921), Der blonde Skorpion (1958), Der Schwanz des Skorpions (1971), Sasori – Scorpion (1972), Scorpio, der Killer (1973), Hungrige Skorpione (1985, siehe Julia Kent (Schauspielerin)), Red Scorpion (1989), Die Jagd nach dem goldenen Skorpion (1991), Der Skorpion (1997), Bichhoo (2000), Der schwarze Skorpion (2000), Im Bann des Jade Skorpions (2001), The Scorpion King (2002), Der Stich des Skorpion (2004), Scorpion – Der Kämpfer (2007), Scorpion (Fernsehserie, seit 2014). In Rote Laterne (1991) hat die Intrigantin „das Gesicht eines Buddhas, aber das Herz eines Skorpions.“ Im Actionfilm Drive (2011) zeigt die Jacke des agilen, einsamen Helden einen Skorpion am Rücken. Krimis zitieren auch die Fabel vom Skorpion und dem Frosch: Der Skorpion lässt sich vom Frosch über den Fluss tragen und verspricht, er steche ihn nicht, sonst stürben sie ja beide. Dann tut er es doch: So sei eben seine Natur.
Skorpion oder englisch Scorpion ist ein Name für Motorräder (MZ Skorpion), Autos (Skorpion (Automarke), Scorpion (Humberstone), Scorpion (Innes Lee), Ford Scorpio, Mahindra Scorpio), Jagdflugzeuge (Suchoi Su-25, EADS Scorpio, Textron AirLand Scorpion), eine Maschinenpistole, Panzer (Scorpion, Minenwurfsystem Skorpion), Kampfschiffe (z. B. die SMS Scorpion) und ein antikes Geschütz. Scorpions heißen Sportvereine und Rockbands, Cor Scorpii eine Metal-Band. Seltener ist skorpionähnliche Bauweise einer Maschine namensgebend, wie beim Teleskoplader Claas Scorpion, dem Tauchroboter ROV Scorpio oder einem Gehroboter. Namensgebungen zur Raumfahrt spielen wohl auf das Sternbild Skorpion an, z. B. Richard Morgans Roman Skorpion (2007), der Film Stunde des Skorpions (1968).
=== Gesetzliche Regelung ===
Das nordrhein-westfälische Gifttiergesetz reglementiert seit dem 1. Januar 2021 die Haltung von allen Arten der Gattungen Androctonus, Apistobuthus, Buthacus, Buthus, Centruroides, Hottentotta (Buthotus), Leiurus, Mesobuthus, Odonthobuthus, Parabuthus und Tityus sowie die Arten der Gattungen Bothriurus, Hemiscorpius und Nebo einschließlich ihrer Unterarten und Kreuzungen.
== Quellen ==
=== Einzelnachweise ===
=== Literatur ===
==== Gesamtdarstellungen ====
Arachne – das Fachmagazin für Spinnentiere. Deutsche Arachnologische Gesellschaft. Druck und Papier Meyer, Scheinfeld 1.1995ff. ISSN 1613-2688.
M. E. Braunwalder: Scorpiones. Fauna Helvetica. Bd 13. CSCF/SZKF, Neuchâtel 2005, ISBN 2-88414-025-5.
J. Leeming: Scorpions of Southern Africa. Struik Publishers, Cape Town 2003, ISBN 1-86872-804-8.
Dieter Mahsberg, R. Lippe, S. Kallas: Skorpione. Natur und Tier-Verlag, Münster 1999, ISBN 3-931587-15-0.
Gary A. Polis (Hrsg.): The Biology of Scorpions. Stanford University Press, California 1990, ISBN 0-8047-1249-2.
P Weygoldt: Chelicerate, Spinnentiere. in: Wilfried Westheide, Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1997, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-1482-2.
Günter Schmidt: Skorpione und andere Spinnentiere. Landbuch-Verlag, Hannover 1992, 1996, 1999, ISBN 3-7842-1313-8.
==== Spezielle Literatur ====
W. Bücherl: Classification, Biology and Venom Extraction of Scorpions. in: Wolfgang Bücherl, Eleanor E.Buckley: Venomous Animals and their Venoms. Academic Press, New York 1971, pp. 317–348, ISBN 0-12-138902-2.
V. Fet, W. D. Sissom, G. Lowe & M. E. Braunwalder: Catalog of the Scorpions of the World (1758–1998). The New York Entomological Society, New York 2000, ISBN 0-913424-24-2.
E. N. Kjellesvig-Waehring: A restudy of the fossil Scorpionida of the World. in: Palaeontographica Americana. Palaeontological Research Institution, Ithaca / New York 55.1986, pp. 1–287, ISSN 0078-8546.
E. E. Ruppert, R. S. Fox, R. P. Barnesm: Invertebrate Zoology – A functional evolutionary approach. (Kap. 18.) Brooks/Cole 2004, S. 565, ISBN 0-03-025982-7.
M. E. Soleglad, V. Fet: High-level systematics and phylogeny of the extant scorpions (Scorpiones: Orthosterni). in: Euscorpius. (nur elektronische Resource) Marshall University, Huntington / W. Va. 11.2003, pp. 1–175 (Download).
Euscorpius (Zeitschrift)
==== Kulturgeschichte ====
Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Walter de Gruyter, Berlin 1927–42, 1987, 2000 (Reprint), ISBN 3-11-016860-X.
=== Weblinks ===
ARACHNODATA: Informations- und Beratungsfachstelle für Skorpione und andere Spinnentiere
Deutsche Arachnologische Gesellschaft e. V. – DeArGe (Publikationsorgan: „ARACHNE“ – ISSN 1613-2688)
Scorpiologie-Journal mit Online-Zugang zu allen Artikeln (englisch)
The Scorpion Files (englisch) | https://de.wikipedia.org/wiki/Skorpione |
Europium | = Europium =
Europium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Eu und der Ordnungszahl 63. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Nur Europium und Americium sind nach einem Erdteil benannte Elemente.
Wie die anderen Lanthanoide ist Europium ein silberglänzendes Schwermetall. Die Eigenschaften des Europiums folgen nicht der Lanthanoidenkontraktion. Aufgrund seiner Elektronenkonfiguration weist das Element eine deutlich geringere Dichte sowie einen niedrigeren Schmelz- und Siedepunkt auf als die benachbarten Elemente. Es ist das chemisch reaktivste Seltenerdmetall. Nach ersten Hinweisen auf das Element durch William Crookes und Paul Émile Lecoq de Boisbaudran konnte 1896 Eugène-Anatole Demarçay das Element zunächst spektroskopisch nachweisen und dann isolieren.
Europium hat eine hohe technische Bedeutung in Leuchtstoffen, wie sie etwa in Kathodenstrahlröhrenbildschirmen, welche früher für Computermonitore und Fernseher verwendet wurden, in Leuchtstofflampen sowie in Plasmabildschirmen eingesetzt werden. Sowohl der rote als auch der blaue Leuchtstoff in diesen Bildschirmen und Leuchtmitteln sind Substanzen, die mit Europium dotiert sind und dadurch Fluoreszenz in dem entsprechenden Spektralbereich zeigen.
== Geschichte ==
Einen ersten Hinweis auf das später Europium genannte Element fand 1885 William Crookes. Bei der Untersuchung von Fluoreszenzspektren von Samarium-Yttrium-Mischungen konnte er Signale einer ungewöhnlichen orangefarbenen Spektrallinie messen, die in Mischungen der Elemente stärker war als in den reinen Stoffen. Diese auf ein unbekanntes Element hindeutende Spektrallinie nannte er „anormale Linie“, das hypothetische Element Sδ. Eine weitere Entdeckung auf dem Weg zum unbekannten Element machte 1892 Paul Émile Lecoq de Boisbaudran, als er im Funkenspektrum von Samarium neben der anormalen Linie Crookes auch drei bislang unbekannte blaue Spektrallinien entdeckte. 1896 postulierte Eugène-Anatole Demarçay anhand von Ultraviolett-Spektren die Existenz eines bislang unbekannten Elements zwischen Samarium und Gadolinium, wobei er im Jahr 1900 erkannte, dass dieses Element gleich dem von Crookes und Boisbaudran vermuteten sein muss. 1901 gelang es Demarçay, dieses durch fraktionierte Kristallisation der Samarium/Europium-Magnesium-Nitrat-Doppelsalze zu isolieren. Er nannte das Element nach dem Kontinent Europa Europium. In Analogie zum Europium benannten Glenn T. Seaborg, Ralph A. James und Leon O. Morgan 1948 das sich im Periodensystem direkt unter dem Europium befindende Actinoid ebenfalls nach einem Kontinent Americium.Die erste wichtige technische Anwendung des Elements war die Produktion von mit Europium dotiertem Yttriumvanadat. Dieser 1964 von Albert K. Levine und Frank C. Palilla entdeckte rote Leuchtstoff spielte bald eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Farbfernsehens. Für diese Anwendung wurde daraufhin das erste Bergwerk für die Gewinnung von Seltenen Erden, das seit 1954 im kalifornischen Mountain Pass betrieben wurde, stark ausgebaut.
== Vorkommen ==
Europium ist auf der Erde ein seltenes Element, die Häufigkeit in der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 2 ppm.Europium kommt als Nebenbestandteil in verschiedenen Lanthanoid-Mineralen vor, Minerale mit Europium als Hauptbestandteil sind unbekannt. Das Element ist sowohl in Ceriterden wie Monazit und Bastnäsit als auch in Yttererden wie Xenotim enthalten, der Anteil an Europium beträgt in der Regel zwischen 0,1 und 0,2 %. Das für die Gewinnung von Europium wichtigste Vorkommen war bis 1985 das Bastnäsiterz in Mountain Pass, Kalifornien, danach gewannen chinesische Bergwerke – vor allem das Erzvorkommen in Bayan Obo – große Bedeutung.In manchen magmatischen Gesteinen ist die Konzentration an Europium höher oder geringer, als nach dem mit Chondriten als Standard bestimmten relativen Häufigkeitsverhältnis der Seltenerdmetalle zu erwarten wäre. Dieses Phänomen wird als Europiumanomalie bezeichnet und beruht darauf, dass unter reduzierenden Bedingungen in Magma Eu3+ zu Eu2+ reduziert werden kann. Dieses besitzt einen größeren Ionenradius als dreiwertiges Europium und wird darum leicht in bestimmte Minerale, etwa an Stelle von Strontium oder Calcium in Kalifeldspat und Plagioklas eingebaut, welche dadurch eine positive Europiumanomalie aufweisen. Diese Minerale kristallisieren aus der Magmaschmelze und werden dadurch abgetrennt, während dreiwertiges Europium in der Restschmelze gelöst bleibt. Für den Einbau in mafische Gesteine wie Pyroxen und Olivin anstelle von Eisen, Magnesium und Calcium ist das Eu2+-Ion dagegen zu groß und es kommt zu einer negativen Europiumanomalie. Außer durch Kristallisation von Plagioklas kann eine Europiumanomalie auch beim Aufschmelzen von Gesteinen entstehen. Da der Verteilungskoeffizient zwischen Kristall und Schmelze etwa 10-fach größer als für die anderen Seltenerdelemente ist, wird beim teilweisen Aufschmelzen eines Plagioklas-reichen Gesteins nur wenig Europium in die Schmelze abgegeben und es resultiert beim Wiedererstarren ein Gestein mit negativer Europiumanomalie. Die Europiumanomalie ist ein Indikator für den Fraktionierungsgrad eines magmatischen Gesteins.
Eine ausgeprägte Europiumanomalie wurde in Mondgestein gefunden, wobei die Plagioklas-reichen Felsen des Mondhochlandes eine positive (erhöhte Europiumgehalte), die in Kratern und Maria gefundenen Basaltgesteine eine negative Europiumanomalie aufweisen. Dies lässt Rückschlüsse auf die geologische Geschichte des Mondes zu. Dabei wird angenommen, dass die Hochländer mit ihren Anorthositen vor etwa 4,6–4,4 Milliarden Jahren aus dem Mondmantel differenzierten und dieser somit aus Europium-verarmten Olivin-Pyroxen-Gesteinen besteht. Die jüngeren Basalte in den Maria, die aus basaltischen Teilschmelzen dieses Mantels bestehen, sind darum so arm an Europium.
== Gewinnung und Darstellung ==
Aufgrund der Ähnlichkeit zu den Begleitmetallen und der geringen Konzentration in den Erzen ist die Abtrennung von den anderen Lanthanoiden schwierig, gleichzeitig aber wegen der Verwendung des Elements technisch besonders wichtig. Nach dem Aufschluss der Ausgangsmaterialien wie Monazit oder Bastnäsit mit Schwefelsäure oder Natronlauge sind verschiedene Wege zur Abtrennung möglich. Neben dem Ionenaustausch wird vor allem ein Verfahren eingesetzt, das auf Flüssig-Flüssig-Extraktion und der Reduktion von Eu3+ zu Eu2+ beruht. Dabei wird bei Bastnäsit als Ausgangsmaterial zunächst das Cer in Form von Cer(IV)-oxid abgetrennt und die verbleibenden Seltenen Erden in Salzsäure gelöst. Daraufhin werden mit Hilfe einer Mischung von DEHPA (Di(2-ethylhexyl)phosphorsäure) und Kerosin in Flüssig-Flüssig-Extraktion Europium, Gadolinium und Samarium von den übrigen Seltenerdmetallen getrennt. Die Trennung dieser drei Elemente erfolgt über die Reduktion des Europiums zu Eu2+ und Fällung als schwerlösliches Europium(II)-sulfat, während die anderen Ionen in Lösung bleiben.Metallisches Europium kann durch Reaktion von Europium(III)-oxid mit Lanthan oder Mischmetall gewonnen werden. Wird diese Reaktion im Vakuum durchgeführt, destilliert Europium ab und kann so von anderen Metallen und Verunreinigungen getrennt werden:
E
u
2
O
3
+
L
a
⟶
E
u
↑
+
L
a
2
O
3
{\displaystyle \mathrm {Eu_{2}O_{3}+La\longrightarrow Eu\uparrow +La_{2}O_{3}} }
2010 wurden etwa 600 Tonnen Europium produziert und 500 Tonnen verbraucht (jeweils gerechnet als Europiumoxid). Durch den steigenden Bedarf an Europium ist jedoch zu befürchten, dass mittelfristig die Nachfrage das Angebot übersteigt und es zu einer Verknappung kommen wird. Daher wird an einer Ausweitung der Europiumproduktion, insbesondere durch Eröffnung weiterer Minen wie der im australischen Mount Weld und einer Wiedereröffnung der Mountain Pass Mine gearbeitet. Durch die hohe Nachfrage nach Europium ist auch der Preis des Elements stark gestiegen. Lag er 2002 noch bei 240 US-Dollar pro Kilogramm, stieg er 2011 auf bis zu 1830 Dollar pro Kilogramm (jeweils 99 % Reinheit).
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Europium ist wie die anderen Lanthanoide ein silberglänzendes weiches Schwermetall. Es besitzt mit 5,245 g/cm3 eine ungewöhnlich niedrige Dichte, die deutlich niedriger als diejenige der benachbarten Lanthanoide wie Samarium oder Gadolinium und geringer als die des Lanthans ist. Vergleichbares gilt auch für den verhältnismäßig niedrigen Schmelzpunkt von 826 °C und den Siedepunkt von 1440 °C (Gadolinium: Schmelzpunkt 1312 °C, Siedepunkt 3000 °C). Diese Werte stehen der sonst geltenden Lanthanoidenkontraktion entgegen und werden durch die Elektronenkonfiguration [Xe] 4f7 6s2 des Europiums verursacht. Durch die halb gefüllte f-Schale stehen nur die zwei Valenzelektronen (6s2) für metallische Bindungen zur Verfügung; es kommt daher zu geringeren Bindungskräften und zu einem deutlich größeren Metallatomradius. Vergleichbares ist auch bei Ytterbium zu beobachten. Bei diesem Element stehen durch eine vollständig gefüllte f-Schale ebenfalls nur zwei Valenzelektronen für metallische Bindungen zur Verfügung.Europium kristallisiert unter Normalbedingungen in einem kubisch-raumzentrierten Gitter mit dem Gitterparameter a = 455 pm. Neben dieser Struktur sind noch zwei weitere Hochdruckmodifikationen bekannt. Dabei entspricht die Reihenfolge der Modifikationen bei steigendem Druck wie bei Ytterbium nicht derjenigen der übrigen Lanthanoide. So ist weder eine Europiummodifikation in doppelt-hexagonaler Struktur noch in Samarium-Struktur bekannt. Der erste Phasenübergang im Metall findet bei 12,5 GPa statt, oberhalb dieses Druckes kristallisiert Europium in einer hexagonal-dichtesten Struktur mit den Gitterparametern a = 241 pm und c = 545 pm. Oberhalb von 18 GPa wurde mit Eu-III eine weitere, der hexagonal-dichtesten Kugelpackung ähnliche Struktur gefunden.Bei hohen Drücken von mindestens 34 GPa ändert sich die Elektronenkonfiguration des Europiums im Metall von zwei- auf dreiwertig. Dies ermöglicht auch eine Supraleitfähigkeit des Elements, die bei einem Druck von etwa 80 GPa und einer Temperatur von etwa 1,8 K auftritt.Europiumionen, die in geeignete Wirtsgitter eingebaut sind, zeigen eine ausgeprägte Fluoreszenz. Dabei ist die abgestrahlte Wellenlänge von der Oxidationsstufe abhängig. Eu3+ fluoresziert weitgehend unabhängig vom Wirtsgitter zwischen 613 und 618 nm, was einer intensiv roten Farbe entspricht. Das Maximum der Emission von Eu2+ ist dagegen stärker vom Wirtsgitter abhängig und liegt beispielsweise bei Bariummagnesiumaluminat mit 447 nm im blauen, bei Strontiumaluminat (SrAl2O4:Eu2+) mit 520 nm im grünen Spektralbereich.
=== Chemische Eigenschaften ===
Europium ist ein typisches unedles Metall und reagiert mit den meisten Nichtmetallen. Es ist das reaktivste der Lanthanoide und reagiert schnell mit Sauerstoff. Wird es auf etwa 180 °C erhitzt, entzündet es sich an der Luft spontan und verbrennt zu Europium(III)-oxid.
4
E
u
+
3
O
2
⟶
2
E
u
2
O
3
{\displaystyle \mathrm {4\ Eu+3\ O_{2}\longrightarrow 2\ Eu_{2}O_{3}} }
Auch mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod reagiert Europium zu den Trihalogeniden. Bei der Reaktion mit Wasserstoff bilden sich nichtstöchiometrische Hydridphasen, wobei der Wasserstoff in die Lücken der Kugelpackung des Metalls eintritt.Europium löst sich in Wasser langsam, in Säuren schnell unter Bildung von Wasserstoff und des farblosen Eu3+-Ions. Das ebenfalls farblose Eu2+-Ion lässt sich durch elektrolytische Reduktion an Kathoden in wässriger Lösung gewinnen. Es ist das einzige zweiwertige Lanthanoid-Ion, das in wässriger Lösung stabil ist. Europium löst sich in Ammoniak, wobei sich wie bei Alkalimetallen eine blaue Lösung bildet, in der solvatisierte Elektronen vorliegen.Das Eu3+-Kation gehört neben u. a. Sm3+, Tb3+ und Dy3+ zu den Lanthanoid-Kationen, die in einem geeigneten Komplex bei Absorption bestimmter Wellenlängen Licht im sichtbaren Bereich emittieren kann. Das dreiwertige Europium-Kation ist in einer wässrigen Lösung farblos, werden aber organische Liganden mit einem ausgedehnten π-Elektronensystem koordiniert sorgt der Antenneneffekt dafür, dass die lumineszenten Eigenschaften des Zentralteilchens stark steigen. So leiten die π-Elektronen des Ligandens die absorbierte Energie des einfallenden Lichtes (ca. 355 nm) zu den 5d-Elektronen des Eu3+, wodurch diese in das 4f-Orbital gelangen und beim Zurückfallen Licht im sichtbaren Bereich (bei ca. 610 nm) emittieren.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 38 Isotope und weitere 13 Kernisomere des Europiums zwischen 130Eu und 167Eu bekannt. Von diesen ist eines, 153Eu, stabil, ein weiteres, 151Eu, galt lange Zeit als stabil; es wurden 2007 jedoch Hinweise darauf gefunden, dass es mit einer Halbwertszeit von mindestens 1,7 Trillionen Jahren als Alphastrahler zerfällt. Diese beiden Isotope kommen in der Natur vor, wobei 153Eu mit einem Anteil von 52,2 % an der natürlichen Isotopenzusammensetzung das häufigere ist, der Anteil an 151Eu beträgt dementsprechend 47,8 %.Mehrere Europiumisotope wie 152Eu, 154Eu und 155Eu entstehen bei Kernspaltungen von Uran und Plutonium. Dabei ist 155Eu mit einem Anteil von etwa 0,03 % an der Gesamtmenge der Spaltprodukte das häufigste Europiumisotop unter den Spaltprodukten. Es konnte unter anderem im Rongelap-Atoll drei Jahre nach der Kontaminierung durch den Castle-Bravo-Atomwaffentest nachgewiesen werden.
== Verwendung ==
Europium wird vor allem als Dotierungsmittel für die Produktion von Leuchtstoffen eingesetzt, die etwa in Kathodenstrahlröhrenbildschirmen, welche früher hauptsächlich für Computerbildschirme und Fernseher verwendet wurden sowie für Flugzeuginstrumente benötigt werden, und in Kompaktleuchtstofflampen Verwendung finden. Es werden Leuchtstoffe sowohl mit zwei- als auch dreiwertigem Europium für verschiedene Farben verwendet. Für rote Leuchtstoffe wird vor allem mit Europium dotiertes Yttriumoxid (Y2O3:Eu3+), früher wurden auch Yttriumoxysulfid oder als erster wichtiger roter Leuchtstoff Yttriumvanadat:Eu3+ genutzt. Eu2+ wird meist als blauer Leuchtstoff in Verbindungen wie Strontiumchlorophosphat (Sr5(PO4)3Cl:Eu2+, Strontiumchloroapatit SCAP) und Bariummagnesiumaluminat (BaMgAl11O17:Eu2+, BAM) eingesetzt. Plasmabildschirme erfordern Leuchtstoffe, die die vom Edelgas-Plasma emittierte VUV-Strahlung in sichtbares Licht umwandeln. Hierfür werden sowohl für das blaue als auch rote Spektrum europiumdotierte Leuchtstoffe genutzt – für blaues Licht BAM, für rotes (Y,Gd)BO3:Eu3+.In Quecksilberhochdrucklampen, die etwa in der Straßenbeleuchtung eingesetzt werden, wird europiumdotiertes Yttriumvanadat auf das Glas aufgebracht, damit das Licht weiß und natürlicher erscheint.Europium kann auf Grund seiner Neutronenabsorption in Steuerstäben für Kernreaktoren verwendet werden. Europiumhaltige Steuerstäbe wurden unter anderem in verschiedenen sowjetischen Versuchsreaktoren wie BOR-60 und BN-600 erprobt.Als EuropiumHexaBorid wird es auch als Beschichtung für die Herstellung von Oxidkathoden zur Glühemission angeboten.
Bei Euro-Banknoten wird die Europium-Fluoreszenz gegen Fälschungen verwendet.Diese Eigenschaft kann auch in der Fluoreszenzspektroskopie ausgenutzt werden. Dazu wird das Europium beispielsweise in einem geeigneten Komplex gebunden, der an der gewünschten Stelle, etwa mit einem bestimmten Protein, bevorzugt reagiert und sich dort anreichert.
== Biologische Bedeutung und Toxizität ==
Europium kommt nur in minimalen Mengen im Körper vor und hat keine biologische Bedeutung. Auch durch Pflanzenwurzeln kann das Element nicht aufgenommen werden.Lösliche Europiumverbindungen sind leicht giftig; so wurde für Europium(III)-chlorid ein LD50-Wert von 550 mg/kg für intraperitoneale und 5000 mg/kg für orale Gabe an Mäusen ermittelt. Es konnte keine chronische Toxizität festgestellt werden, was möglicherweise mit der geringen Aufnahme von Europium im Darm und der schnellen Umwandlung von löslichem Europiumchlorid zu unlöslichem Europiumoxid unter basischen Bedingungen zusammenhängt. Unlösliche Europiumverbindungen gelten als weitgehend ungiftig, wie in einer Studie mit Europium(III)-hydroxid-Nanopartikeln an Mäusen ermittelt wurde.Bei Europium(III)-hydroxid-Nanopartikeln (nicht jedoch bei amorphem Europium(III)-hydroxid) wurde eine pro-angiogenetische Wirkung festgestellt, sie fördern in vitro die Zellproliferation von Endothelzellen, in vivo an Hühnereiern wurde eine vermehrte Bildung von kleinen Blutgefäßen beobachtet. Ein möglicher Mechanismus für diese Beobachtung ist die Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies und die Aktivierung von MAP-Kinasen durch diese Nanopartikel.
== Verbindungen ==
Es sind Verbindungen in den Oxidationsstufen +2 und +3 bekannt, wobei wie bei allen Lanthanoiden zwar die dreiwertige Stufe die stabilere, die zweiwertige jedoch ebenfalls ungewöhnlich stabil ist und daher eine Vielzahl von Eu(II)-Verbindungen existieren. Die Ionenradien unterscheiden sich je nach Oxidationsstufe, wobei Eu2+-Ionen größer als Eu3+-Ionen sind. Mit der Koordinationszahl sechs betragen sie 131 pm für Eu2+ und 108,7 pm für Eu3+. Der effektive Ionenradius (der als Bezugsgröße ein mit 140 pm um 14 pm größeres O2−-Ion verwendet) beträgt dementsprechend 117 pm bzw. 94,7 pm für die Koordinationszahl sechs. In höheren Koordinationszahlen sind die Ionenradien größer, so beträgt er für Eu2+ in der Koordinationszahl acht 139 pm.
=== Sauerstoffverbindungen ===
Europium(III)-oxid, Eu2O3, ist die technisch wichtigste Europiumverbindung und dient als Ausgangsmaterial zur Herstellung anderer Europiumverbindungen sowie als Dotierungsmittel für Fluoreszenzfarbstoffe wie Y2O3:Eu3+, das eine besonders intensive rote Fluoreszenz bei einem Europium(III)-oxid-Gehalt von etwa 10 % zeigt. Es kristallisiert wie die anderen Lanthanoidoxide in der kubischen Lanthanoid-C-Struktur.Europium(II)-oxid, EuO, ist ein violett-schwarzer ferromagnetischer Feststoff mit einer Curie-Temperatur von 70 K, der in einer Natriumchlorid-Struktur kristallisiert. Es lässt sich durch Reduktion von Europium(III)-oxid mit Europium gewinnen und ist das einzige zweiwertige Oxid der Lanthanoide, das unter Normalbedingungen stabil ist. Neben diesen beiden Oxiden ist auch das gemischtvalente Oxid Europium(II,III)-oxid, Eu3O4, bekannt.
=== Weitere Europiumverbindungen ===
Ähnliche Eigenschaften wie EuO haben auch die Eu-Chalkogenide (also -Sulfide, -Selenide und -Telluride) sowie ihre ungeordneten Legierungen. Eu1-xSrxS ist z. B. für x=0 ein Ferromagnet, der für
x
≅
0.5
{\displaystyle x\cong 0.5}
zu einem isolierenden Spinglas wird, das u. a. wegen seines nichtmetallischen Verhaltens für Computersimulationen besonders geeignet ist.Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod reagiert Europium zu den Trihalogeniden. Diese zersetzen sich beim Erhitzen zu den Dihalogeniden und elementaren Halogenen.In einer äquimolaren Lösung aus Europium(III)-acetat und Chrom(VI)-oxid kann auch Europium(III)-chromat erstellt werden.
Europium bildet metallorganische Verbindungen. Anders als bei den anderen Lanthanoiden lässt sich aber keine Cyclopentadienylverbindung des dreiwertigen Europiums synthetisieren. Bekannt ist zwar eine Verbindung, die neben drei Molekülen Cyclopentadienyl zusätzlich ein Molekül Tetrahydrofuran enthält, dieses ist jedoch stark an das Europium gebunden und lässt sich durch Erhitzen oder im Vakuum nicht entfernen, da die Verbindung sich vorher zersetzt. Dagegen sind das Europiumdicyclopentadienyl (Cp)2Eu(II) und weitere bekannte Derivate stabil. Vom zweiwertigen Europium sind auch Alkinyl-Europium-Verbindungen bekannt.Einen Überblick über Europiumverbindungen bietet die Kategorie:Europiumverbindung.
== Literatur ==
Ian McGill: Rare Earth Elements. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2012, doi:10.1002/14356007.a22_607.
== Weblinks ==
Eintrag zu Europium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 3. Januar 2015.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Europium |
Mainz | = Mainz =
Mainz () (lateinisch Mogontiacum) ist die Landeshauptstadt des Landes Rheinland-Pfalz und mit 217.556 Einwohnern zugleich dessen größte Stadt. Mainz ist kreisfrei, eines der fünf rheinland-pfälzischen Oberzentren und Teil des Rhein-Main-Gebiets. Mit der angrenzenden hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden bildet sie ein länderübergreifendes Doppelzentrum mit rund 500.000 Einwohnern auf 301,67 Quadratkilometern. Mainz und Wiesbaden sind neben Berlin und Potsdam die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze. Im Verbund mit den jüdischen Gemeinden der oberrheinischen Städte Speyer und Worms wurden die Monumente dieser SchUM-Städte am 27. Juli 2021 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.Die zu römischer Zeit gegründete Stadt ist Sitz der Johannes Gutenberg-Universität, des römisch-katholischen Bistums Mainz sowie mehrerer Fernseh- und Rundfunkanstalten, wie des Südwestrundfunks (SWR) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF). Mainz ist eine Hochburg der rheinischen Fastnacht.
== Name der Stadt ==
=== Entwicklung des Stadtnamens ===
Im Laufe der Geschichte veränderte sich der Name der Stadt mehrmals, von einer verbindlichen Schreibweise kann erst seit dem 18. Jahrhundert gesprochen werden. Der römische Name „Mogontiacum“ lässt sich von der keltischen Gottheit Mogon ableiten (Mogont-i-acum = „Mogons Land“). Mogontiacum wurde in der Historiographie erstmals von dem römischen Historiker Tacitus in seinem Anfang des 2. Jahrhunderts entstandenen Werk Historien im Zusammenhang mit dem Bataveraufstand schriftlich erwähnt. Auch abweichende Schreibweisen und Abkürzungen waren zu Zeiten der römischen Herrschaft bereits geläufig: „Moguntiacum“ oder verkürzt als „Moguntiaco“ in der Tabula Peutingeriana.
Im Mittellateinischen wurde der Name ab dem 6. Jahrhundert verkürzt und fortan „Moguntia“ bzw. „Magantia“ geschrieben und ausgesprochen. Im 7. Jahrhundert änderte sich der Stadtname zu „Mogancia“, „Magancia urbis“ bzw. „Maguntia“, im 8. Jahrhundert zu „Magontia“. Im 11. Jahrhundert war der Name wieder bei „Moguntiacum“ bzw. „Moguntie“ angekommen. Überhaupt wurde der Stadtname häufig nicht von wirklicher Sprachentwicklung, sondern von der jeweils herrschenden „Mode“ der Aussprache beeinflusst. Das 12. Jahrhundert bezeichnete die Stadt als „Magonta“, „Maguntia“, „Magontie“, und „Maguntiam“. Eine arabische Weltkarte aus gleicher Zeit nennt sie „maiansa“. Von 13./14. bis zum 15. Jahrhundert wandelte sich der Name von „Meginze“ zu „Menze“, wobei das die Namensentwicklung in lateinischen Quellen ist. Deutschsprachige Quellen sprechen 1315 von „Meynce“, 1320 von „Meintz“, 1322 von „Maentze“, 1342 von „Meintze“, 1357 wieder von „Meintz“ und 1365 von „Mayntz“. Der damals entstandene Familienname „Mayntz“ ist heute noch in dieser Schreibweise gebräuchlich. Später nannte man sich auch Mainzer. In der jüdischen Literatur des Mittelalters taucht auch die Bezeichnung Magenza auf.Im 15. Jahrhundert taucht zum ersten Mal die Schreibweise „Maintz“ auf. Geläufiger sind zu dieser Zeit aber noch die Schreibweisen „Menze“, „Mentz(e)“, „Meintz“ oder „Meyntz“. Die Namensformen mit ai oder ay setzten sich seit dem 16. Jahrhundert und endgültig in der Barockzeit durch. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es dann auch kaum noch Änderungen des Stadtnamens. Eine Ausnahme bildet die französische Namensform Mayence während der französischen Besetzung 1792/93 und während der Zugehörigkeit zu Frankreich von 1798 bis 1814.Im Mainzer Dialekt gibt es zwei Varianten des Stadtnamens, Meenz und Määnz, über deren Korrektheit in der Bevölkerung unterschiedliche Ansichten bestehen. Untersuchungen haben herausgefunden, dass die Schreib- und Ausspracheform Meenz (mit geschlossenem e-Laut ausgesprochen) in der Altstadt bevorzugt, die andere Variante Määnz (mit offenem e-Laut) eher in der Neustadt, den Vororten und dem rheinhessischen Umland verwendet wird.
== Geographie ==
=== Überblick ===
Mainz befindet sich auf einer Höhe von 82 am Rhein bis 245 m ü. NHN im Ortsbezirk Ebersheim. Die Stadt liegt am westlichen (linken) Ufer des Rheins, der die östliche Stadtgrenze bildet, mit Rheinkilometer 500 ungefähr auf halbem Wege zwischen Bodensee und Nordsee. Im Süden und Westen wird die Stadt im Mainzer Becken vom Rande der rheinhessischen Hochfläche begrenzt und im Norden dehnt sich ein vom Rhein zurückgewichenes Ufervorland aus. Durch Mainz hindurch läuft der 50. Breitengrad nördlicher Breite.
=== Lage ===
Die Stadt Mainz liegt gegenüber der Mündung des Mains am Rhein. Im näheren Umkreis liegen – außer dem unmittelbar benachbarten Wiesbaden – die Großstädte Frankfurt am Main, Darmstadt, Ludwigshafen am Rhein und Mannheim.
Eine politische Besonderheit bilden die sechs ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteile Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim („AKK“) sowie Mainz-Bischofsheim, Mainz-Ginsheim und Mainz-Gustavsburg („BGG“). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden aufgrund der Grenzziehung zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone die AKK-Stadtteile der treuhänderischen Verwaltung der Stadt Wiesbaden übergeben bzw. wurden als Bischofsheim und Ginsheim-Gustavsburg selbständige Kommunen im hessischen Landkreis Groß-Gerau. Die AKK-Stadtteile gehören bis heute nach dem Lebensgefühl vieler Einwohner noch immer zu Mainz, was sich unter anderem in der auf Mainz ausgerichteten Infrastruktur äußert. Die Stadt Mainz bezeichnet sie als „de facto zu Mainz“ gehörig. Aufgrund der rechtlich nie ganz abgeschlossenen Gebietsübertragung nach Wiesbaden tragen sie in ihrem amtlichen Namen noch immer das Präfix „Mainz-“ (siehe auch AKK-Konflikt und rechtsrheinische Stadtteile von Mainz).
=== Nachbargemeinden ===
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an die Stadt Mainz. Sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Norden genannt:
rechtsrheinisch (Hessen):Landeshauptstadt Wiesbaden (kreisfreie Stadt, einschließlich Mainz-Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim) sowie Ginsheim-Gustavsburg (Landkreis Groß-Gerau).
linksrheinisch die zum Landkreis Mainz-Bingen gehörigen Gemeinden:Bodenheim, Gau-Bischofsheim und Harxheim (alle Verbandsgemeinde Bodenheim),Zornheim, Nieder-Olm, Ober-Olm, Klein-Winternheim und Essenheim (alle Verbandsgemeinde Nieder-Olm),Ingelheim am Rhein mit den Stadtteilen Wackernheim und Heidesheim am Rheinsowie Budenheim (verbandsfreie Gemeinde).
=== Stadtgliederung ===
==== Prinzipien ====
Das Stadtgebiet von Mainz ist in 15 Ortsbezirke aufgeteilt.
Jeder Ortsbezirk hat einen aus jeweils 13 direkt gewählten Mitgliedern bestehenden Ortsbeirat und einen ebenfalls direkt gewählten Ortsvorsteher, der Vorsitzender des Ortsbeirats ist.
Der Ortsbeirat ist zu allen wichtigen Fragen, die den Ortsbezirk betreffen, zu hören. Die endgültige Entscheidung über eine Maßnahme obliegt dann jedoch dem Gemeinderat der Stadt Mainz. Zudem bestehen sieben Planungsbereiche, 65 Stadtbezirke sowie 183 statistische Bezirke, die gleichzeitig den Stimmbezirken entsprechen.Die Ortsbezirke Altstadt, Hartenberg-Münchfeld, Neustadt und Oberstadt entsprechen (ohne das vorher zu Gonsenheim gehörende Münchfeld) dem ehemaligen Ortsbezirk Mainz-Innenstadt, der 1989 aufgelöst worden war.
==== Ortsbezirke ====
Anmerkung: Die Kennzahlen beziehen sich auf die Einwohner mit Hauptwohnsitz im jeweiligen Gebietsteil.
==== Eingemeindungen ====
Die Tabelle unter diesem Abschnitt listet ehemals selbständige Gemeinden und Gemarkungen auf, die im Rahmen der Eingemeindungen in die Stadt Mainz eingegliedert wurden. Die Abtrennung der rechtsrheinischen Stadtteile nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch weitere Eingemeindungen von 1969 wieder ausgeglichen. Ab 1962 entstand mit dem Lerchenberg sogar ein völlig neuer Stadtteil.
=== Klima ===
==== Überblick ====
Der Jahresniederschlag beträgt 613 mm und liegt damit im unteren Viertel der in Deutschland erfassten Werte. Der trockenste Monat ist der Februar, am meisten Regen fällt im Juni. In diesem Monat ist der Niederschlag im Schnitt 1,7-mal höher als im Februar. Die Niederschläge variieren kaum und sind gleichmäßig übers Jahr verteilt.
Die mittlere jährliche Durchschnittstemperatur lag in der Periode 1961 bis 1990 bei 10,1 °C und damit deutlich über dem deutschen Durchschnitt.
==== Klimadiagramm für die Stadt ====
==== Klimanotstand ====
In seiner Sitzung am 25. September 2019 hat der Mainzer Stadtrat den Klimanotstand ausgerufen. Ein gemeinsamer Ergänzungsantrag von Stadtratsmitgliedern mehrerer Parteien stimmte mit großer Mehrheit und einzig mit Gegenstimmen von der AfD dem entsprechenden Antrag zu. Laut Antrag sollen alle künftigen Entscheidungen, Projekte und Prozesse der Verwaltung unter einen Klimaschutzvorbehalt gestellt werden, um damit die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu erreichen.
== Geschichte ==
=== Territoriale Zugehörigkeit von Mainz ===
bis 1244: Erzbischöfliche Stadt
1244 – 1462: Freie Stadt
1462 – 1792: Kurfürstentum Mainz
ab Oktober 1792 unter französischer Besatzung
März – Juli 1793: Mainzer Republik
Juli 1793 – Dezember 1797: Kurfürstentum Mainz
Dezember 1797–1804: Erste Französische Republik (ab 1798 Département Donnersberg)
1804 – Mai 1814: Französisches Kaiserreich (Département Donnersberg)
Mai – Juni 1814: Generalgouvernement Mittelrhein
Juni 1814–1816: provisorische österreichisch-preußische Administration
1816–1918: Großherzogtum Hessen
1919–1945: Volksstaat Hessen
seit 1946: Rheinland-Pfalz
=== Vorgeschichte und römische Zeit ===
Das Stadtgebiet des heutigen Mainz war schon zur letzten Eiszeit vor 20.000 bis 25.000 Jahren eine Raststätte für Jäger, wovon bei Ausgrabungen im Jahr 1921 entdeckte Relikte zeugen.
Erste dauerhafte Ansiedelungen im Mainzer Stadtgebiet sind jedoch keltischen Ursprungs. Die Kelten waren in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. die dominierende Kraft am Rhein. Aus diesen keltischen Siedlungen und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden keltischen Gottheit Mogon (in etwa vergleichbar dem griechisch-römischen Apollon) leiteten die nach dem Gallischen Krieg (52 v. Chr.) am Rhein eintreffenden Römer die Bezeichnung „Mogontiacum“ für ihr neues Legionslager ab. Lange Zeit wurde angenommen, dass dieses Lager um 38 v. Chr. gegründet wurde. Neuere Forschungen haben jedoch ergeben, dass die Gründung des Lagers (und damit letztlich der Stadt Mainz) erst später, nämlich um 13/12 v. Chr. durch Drusus, erfolgte.
Nachdem das Doppellegionslager Mogontiacum gegründet worden war, wurde das Lager, das im Bereich des heutigen Kästrichs liegt, sehr schnell von einzelnen Ansiedelungen (lat. cannabae) umgeben. Die beiden Legionen brauchten Handwerker und Gewerbetreibende zur Aufrechterhaltung ihrer Einsatzfähigkeit. Diese Ansiedlungen sind der Ausgangspunkt der urbanen Entwicklung von Mainz. Die Stadt gehörte anschließend etwa 500 Jahre lang zum Imperium Romanum und war ab ca. 89 n. Chr. Hauptstadt der Provinz Germania superior und, ab dem 4. Jahrhundert, Germania prima. Im Unterschied zu Köln, der Hauptstadt der zweiten germanischen Provinz, scheint Mogontiacum dabei allerdings nicht zur colonia erhoben worden zu sein. Vor allem die große Rheinbrücke machte den Ort dabei wirtschaftlich und strategisch bedeutend. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts entstand die erste Stadtmauer. Spätestens ab der Mitte des 4. Jahrhunderts bestand in der Stadt eine christliche Gemeinde unter Leitung eines Bischofs. Bereits seit etwa 350 scheint keine Legion mehr in Mainz stationiert gewesen zu sein.
=== Mittelalterliche Bischofsstadt ===
Um 406 wurde Mainz von Vandalen, Alanen und Sueben erobert und geplündert. Nach der Zeit der so genannten Völkerwanderung, in der Westrom zerfiel, begann allmählich der Aufstieg der Stadt, die spätestens um 480 endgültig unter fränkische Herrschaft gelangte. Die Funktion als Umschlagplatz für Handelsgüter aller Art (später vor allem Messewaren, die für Frankfurt bestimmt waren) beschleunigte die Stadtentwicklung. Besiedelt blieb vor allem der Raum zwischen dem alten Römerlager und dem Rhein.
Am Ende dieser Entwicklung stand eine herausragende Bedeutung auf kultureller, religiöser und politischer Ebene. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts wurde von Mainz aus durch Erzbischof Bonifatius aktiv die Christianisierung des Ostens, vor allem der Sachsen, betrieben. 782 ist Mainz zum Erzbistum erhoben worden. Die Kirchenprovinz entwickelte sich in der Folge zur größten jenseits der Alpen. Im 9. und 10. Jahrhundert erwarb sich Mainz den Titel Aurea Moguntia. Der Einfluss der Mainzer Erzbischöfe ließ diese zu Reichserzkanzlern, Landesherren des kurmainzischen Territoriums und Königswählern (Kurfürsten) aufsteigen. Erzbischof Willigis (975–1011) ließ den Mainzer Dom als Zeichen seiner Macht errichten und war zeitweise als Reichsverweser der bestimmende Mann im Reich. Im Zuge dieses Aufstieges der geistlichen Macht in weltlichen Angelegenheiten war die Stadt Mainz selber unter die Kontrolle ihres Erzbischofs gefallen.
Das Hochmittelalter brachte für die Bürger erstmals besondere Privilegien, die ihnen von Erzbischof Adalbert I. von Saarbrücken (1110–1137) verliehen wurden. Sie beinhalteten vor allem Steuerfreiheiten und das Recht, sich nur innerhalb der Stadt vor Gericht verantworten zu müssen. Nach der Ermordung des Erzbischofs Arnold von Selenhofen im Jahr 1160 wurden diese Privilegien jedoch wieder rückgängig gemacht. Zudem wurden die Stadtmauern auf Befehl Kaiser Friedrich Barbarossas geschleift. Obgleich derart gezeichnet, war Mainz schon bald wieder Zentrum der Reichspolitik. Friedrich Barbarossa lud schon 1184 die Elite des Reiches zu einem Hoftag anlässlich der Schwertleite seiner Söhne nach Mainz, der einigen Chronisten als größtes Fest des Mittelalters gilt. Schon 1188 kam er erneut nach Mainz, um dort auf dem „Hoftag Jesu Christi“ zum Dritten Kreuzzug aufzubrechen. Neben Speyer und Worms galt Mainz als eine der SchUM-Städte und als Geburtsstätte der aschkenasischen Kultur.
1212 krönte Siegfried II. von Eppstein den Stauferkaiser Friedrich II. im Mainzer Dom zum König. Friedrich II. kehrte 1235 nach Mainz zurück, um dort einen Reichstag abzuhalten. Auf diesem wurde am 15. August der „Mainzer Landfriede“ erlassen.
=== Freie Stadt ===
In den Auseinandersetzungen, die zwischen den Staufern und ihren Gegnern in den 1240er-Jahren immer heftiger wurden, ließen sich die Mainzer Bürger von beiden Seiten umwerben. Die Folge dieser Politik war, dass die Bürger als Preis für ihre Unterstützung 1244 von Erzbischof Siegfried III. von Eppstein ein umfassendes Stadtprivileg erhielten. Der Erzbischof war danach nur noch formal Oberhaupt der Stadt, die Selbstverwaltung, Gerichtsbarkeit und die Entscheidungsgewalt über neue Steuern ging auf die Bürgerschaft bzw. den 24-köpfigen Stadtrat über. Außerdem entband das Privileg die Bürger von ihrem Gefolgszwang in allen kriegerischen Auseinandersetzungen, die nicht die Stadtverteidigung betrafen. Von diesem Zeitpunkt an war Mainz eine „Freie Stadt“.
Die Zeit als Freie Stadt (bis 1462) gilt als Höhepunkt der Stadtgeschichte. Der politische Einfluss der Bürgerschaft erreichte während dieser Zeit die höchste kommunale und überregionale Bedeutung, wovon die Gründung des Rheinischen Städtebundes 1254 ein deutliches Zeugnis ablegt. Handel und Gewerbe konnten in dieser Zeit nicht zuletzt unter dem Schutz des Städtebunds und der Garantie des Mainzer Landfriedens von 1235 florieren. Mainz stieg zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort auf.
Ab 1328 begann durch Konflikte mit dem Erzbischof der Niedergang des freien Bürgertums und seiner Privilegien. In der Mainzer Stiftsfehde schlugen sich die Bürger auf die Seite des Erzbischofs Diether von Isenburg, der sich sowohl Kaiser als auch Papst zum Gegner gemacht hatte. Die Stadt wurde 1462 durch Adolf II., den Konkurrenten Diethers um das Erzbischofsamt, eingenommen. Adolf II. ließ sich von den Mainzer Bürgern daraufhin alle Privilegien aushändigen und beendete die Zeit der Freien Stadt. Mainz wurde kurfürstliche Residenzstadt und entwickelte sich in der Folge zur Adelsmetropole ohne eigene politische Bedeutung.
=== Kurfürstliche Residenzstadt ===
Als seinen Nachfolger empfahl Adolf II. dem immer mächtiger werdenden Mainzer Domkapitel ausgerechnet wieder Diether von Isenburg. Dieser gründete 1477 die schon von Adolf II. geplante Universität.
Die 1517 begonnene Reformation hatte zunächst gute Aussichten in Mainz. Der dort um 1450 von Johannes Gutenberg erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglichte eine rasche Ausbreitung der reformatorischen Schriften und der Mainzer Erzbischof und Kardinal Albrecht von Brandenburg stand ihren Ideen zunächst aufgeschlossen gegenüber. Letztendlich konnte sie sich aber in Mainz nicht durchsetzen. Zweimal wählte das Domkapitel mit knapper Mehrheit katholische Erzbischöfe. Mit Ausnahme von Garnisonsgemeinden durfte sich bis 1802 keine evangelische Gemeinde in der Stadt bilden.
Die mittelalterliche Stadtbefestigung war ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einer moderneren Festungsanlage gewichen, die schließlich die ganze Stadt umfasste. Außerhalb dieser Festung durften keine Steinbauten entstehen, um anrückenden Truppen keinen Schutz bieten zu können. Deshalb konnte sich die Stadt nur in den innerhalb der Mauern verbliebenen Freiflächen entwickeln, was das Wachstum der Stadt bis in das 20. Jahrhundert hinein stark begrenzte.
Trotz dieser Festung wurde Mainz im Dreißigjährigen Krieg von der schwedischen Armee kampflos eingenommen. Maßgeblich zur Beendigung des Krieges trug Johann Philipp von Schönborn bei, der 1647 Erzbischof von Mainz wurde und unter dessen Pontifikat die Stadt sich schnell wieder von den Verheerungen des Krieges erholen konnte. Nach diesem Krieg wurde die Gerichtsbarkeit im Kurfürstentum Mainz neu geordnet und ab 1682 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die sonst bereits seit 1649 bestand.In der nun aufkommenden Barockzeit entstanden glanzvolle Bauten in der Stadt, die auch heute noch zum Stadtbild gehören. Mit der Amtszeit des Kurfürsten Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim (1763–1774) erhielt die Aufklärung auch auf politischer Ebene Einzug in die „Stadt des Adels“.
=== Ende der alten Ordnung ===
Die Ideen der Aufklärung führten in Frankreich schließlich zur Revolution. 1790 war es zum sogenannten Mainzer Knotenaufstand gekommen. Nachdem Frankreich in den Koalitionskriegen 1792 das linke Rheinufer einschließlich Mainz erobert hatte, musste Fürstbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal aus der Stadt fliehen. Die Besatzungsmacht veranlasste im März 1793 die Gründung der „Mainzer Republik“ und ließ erste freie Wahlen abhalten, doch diese endete bereits im Juli desselben Jahres nach der preußischen Belagerung und Beschießung der Stadt und dem Abzug der Franzosen. Eine französische Belagerung 1795 war nicht erfolgreich, doch der Abzug der österreichischen Festungsbesatzung nach dem Frieden von Campo Formio führte Ende 1797 zur nächsten französischen Besetzung der Stadt. Der Adel verschwand aus Mainz und ließ die Stadt bürgerlich werden. Wie alle linksrheinischen Gebiete wurde auch Mainz von Frankreich annektiert und als Mayence Hauptstadt des französischen Département du Mont-Tonnerre (benannt nach dem Donnersberg) unter Verwaltung des französischen Präfekten Jeanbon St. André.
=== Im Großherzogtum Hessen ===
Durch den Verlust ihrer Residenzfunktion provinzialisierte die seit 1816 zum Großherzogtum Hessen gehörende Stadt im 19. Jahrhundert sehr stark. Bedeutende überregionale Ereignisse sind in der Stadtgeschichte zu dieser Zeit daher kaum zu finden. Allerdings war Mainz zu dieser Zeit Sitz der Mainzer Zentraluntersuchungskommission im Rahmen der Demagogenverfolgung infolge der Karlsbader Beschlüsse. Von nachwirkender Bedeutung ist die sich ab 1837 entwickelnde Mainzer Fastnacht.
Die Festungsfunktion (nun Bundesfestung des Deutschen Bundes) behinderte außerdem die Ausdehnung der Stadt und die Entwicklung der Einwohnerzahlen. Bis zum Ende der Festung hatte die Stadt fast nie mehr als 30.000 Einwohner. Bei Mainz lagen um 1856 siebzehn Rheinmühlen zusammengekettet und an den Pfeilerresten einer Römerbrücke verankert. Als ab den 1850er-Jahren die letzten freien Räume innerhalb der Festung, wie beispielsweise der Kästrich, bebaut und das Rheinufer in den 1880er-Jahren nach Nordosten verschoben wurde, konnte die Einwohnerzahl innerhalb der Altstadt nennenswert ansteigen. Jedoch konnte die Stadt aufgrund der Festungsfunktion lange nicht so wachsen wie beispielsweise Wiesbaden.Die bedeutendste Entwicklung der Stadt geschah jedoch durch die Einverleibung des „Gartenfelds“ bzw. der Neustadt. Diese neu errichtete Stadtmauererweiterung löste ab 1872 einen Bauboom und Bevölkerungszuwachs in der Gründerzeit aus, der allerdings durch den Börsenkrach 1873 vorerst ausgebremst wurde. Möglich gemacht wurde diese Erweiterung nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust der Festung (von da an diente die Festung Metz als Bollwerk des Deutschen Reiches gegenüber Frankreich) nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Ab 1886 setzte sich dann zunehmend die Bautätigkeit in der Neustadt (und mit Verlegung des Hauptbahnhofs weg vom Rheinufer auch in dieser Zeit im Lauterenviertel) fort.
Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden die alten Festungsstrukturen endgültig abgerissen, sodass die Stadt nun auch außerhalb der bisherigen Mauern expandieren konnte. Die dadurch und durch die umfangreichen Eingemeindungen ausgelöste Expansion der Stadt führte zu weiterem Bevölkerungswachstum.
1852 wurde auf einem Acker bei Mainz ein 1,7 Kilogramm schwerer Steinmeteorit des Typs L6 gefunden. Der Fundort ist heute bebaut und liegt in der Nähe der Pariser Straße.Nachdem Mainz bereits im Jahr 1860 den 4. Deutschen Feuerwehrtag ausrichtete, fand vom 3. bis 6. September 1904 in Mainz der 16. Deutsche Feuerwehrtag statt. Er war der erste nach der Jahrhundertwende.
=== Modernes Mainz ===
Der Erste Weltkrieg beendete den nach Schleifen der Stadtmauern begonnenen kurzen Aufschwung. Nach dem Krieg gingen die Goldenen Zwanziger am erneut, bis zum Juni 1930 von den Franzosen besetzten Mainz fast vollständig vorbei. Nach dem Ende der Besatzungszeit kam es erneut zu umfangreichen Eingemeindungen (siehe Tabelle oben), die das Stadtgebiet verdoppelten. Am 1. November 1938 wurde Mainz wie auch Offenbach am Main, Gießen, Darmstadt und Worms kreisfrei.
Der Nationalsozialismus konnte in Mainz zunächst nicht Fuß fassen. Noch zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 demonstrierten mehr Menschen gegen das neue System als dafür. Dennoch wurde die 3000 Mitglieder umfassende jüdische Gemeinde von Mainz fast vollständig deportiert. Die Stadt blieb vom Zweiten Weltkrieg bis 1942 verschont. Die ersten schwereren Bombenangriffe steigerten sich zum schlimmsten Angriff am 27. Februar 1945, als Mainz durch britische Bomber fast völlig zerstört wurde und ca. 1200 Menschen getötet wurden. Durch Brandbomben war ein Feuersturm entfacht worden. Am Ende des Krieges war die Stadt zu 80 % zerstört. Am 21. März 1945 wurde Mainz schließlich von US-Truppen im Rahmen der Operation Undertone besetzt. Der andernorts in Deutschland noch fortgesetzte Krieg endete am 8. Mai mit der Bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.
Nach dem Krieg wurde Mainz erneut von den Franzosen besetzt. Die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone bildete auf der Höhe von Mainz der Rhein, weswegen die rechtsrheinischen Stadtteile abgetrennt wurden. Einem Vorschlag aus dem Wiesbadener Regierungspräsidium folgend wurden die Stadtteile nördlich der Mainmündung, Amöneburg, Kastel und Kostheim, nach Wiesbaden eingemeindet, was ein Grund für die heutige Rivalität zwischen beiden Städten ist. Die rechtsrheinischen Stadtteile südlich des Mains, Bischofsheim, Ginsheim und Gustavsburg, wurden wieder selbstständige Gemeinden im Landkreis Groß-Gerau. Die Neubildung der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz zementierte diese Teilung. Schon 1946 wurde die 1798 aufgehobene Universität wieder errichtet. Mainz wurde 1946 durch die Verordnung Nr. 57 der französischen Besatzungsverwaltung zur Hauptstadt des neu gebildeten Landes Rheinland-Pfalz bestimmt und nahm diese Funktion 1950 anstelle des bisherigen provisorischen Regierungssitzes Koblenz auf. So konnte Mainz den fast 150-jährigen Prozess der Provinzialisierung beenden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Einwohnerzahl auf etwa 76.000 gefallen. Erst Mitte der 1960er-Jahre erreichte sie wieder den Vorkriegswert.
1962 beging die Stadt ihre 2000-Jahr-Feier, die auf der damaligen (unbelegten) Auffassung beruhte, dass die Römer unter Agrippa bereits 38 v. Chr. ein Militärlager am Zusammenfluss von Rhein und Main gegründet hatten. Die Entstehung von Mainz-Lerchenberg als neuem Stadtteil nach 1962 sowie großflächige Eingemeindungen rund um Mainz 1969 beendeten die durch den Zweiten Weltkrieg entstandene Stagnation in der Stadtentwicklung und boten umfassende Ausbau- und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit der Ansiedlung des ZDF auf dem Lerchenberg begann ab 1976 der Ausbau zur Medienstadt, später folgte die Ansiedlung eines Studios des SWR und zeitweise des Sendezentrums von Sat.1. Diese Entwicklung wurde durch das mit zahlreichen Aktivitäten gefeierte Gutenbergjahr 2000 verstärkt. Neben anderen städtebaulichen Programmen wie beispielsweise der Altstadtsanierung ist Mainz seit dem vorgenannten Jahr auch am Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ beteiligt. Von 1969 bis Ende 1995 war das kreisfreie Mainz zudem Sitz der Kreisverwaltung Mainz-Bingen, ehe dieser nach Ingelheim verlegt wurde.
Am 25. März 2010 verlieh der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft der Stadt Mainz den Titel „Stadt der Wissenschaft“ des Jahres 2011. Von der Stadt wurden deshalb in Zusammenarbeit mit den Mainzer Hochschulen, den Vereinen und Bildungseinrichtungen zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Vorträge durchgeführt.Am 23. Dezember 2010 ereignete sich gegen 02:36 Uhr ein Erdbeben der Stärke 3,5 auf der Richterskala. Das Epizentrum lag im Stadtteil Lerchenberg. Größere Schäden richtete das Erdbeben nicht an. Ein Nachbeben (2,8 auf der Richterskala) um 06:52 Uhr folgte. Im benachbarten Wiesbaden wurde ein Wert von 3,2 auf der Richterskala erreicht.
Im September 2010 wurde in der Mainzer Neustadt feierlich und unter Beisein des Bundespräsidenten die Neue Synagoge eröffnet. Mitte 2011 öffnete nach zweijähriger Bauzeit die Coface-Arena in den Feldern bei Bretzenheim als neue Spielstätte des 1. FSV Mainz 05 (heute MEWA Arena). Im Dezember 2016 wurde nach 2,5-jähriger Bauzeit und mit Kosten in Höhe von 90 Millionen Euro im Rahmen des bundesweit größten Straßenbahnprojektes die „Mainzelbahn“ in Betrieb genommen. Seitdem verbinden die Linien 51 und 53 den Hauptbahnhof über Bretzenheim und Marienborn mit dem Lerchenberg. Am 15. April 2018 fand erstmals ein Bürgerentscheid in Mainz statt. Etwas mehr als 40 % der etwa 161.000 abstimmungsberechtigten Einwohner nahmen daran teil und stimmten mit 77 % gegen ein vom Stadtrat mehrheitlich beschlossenes Bauprojekt, den „Bibelturm“, als neu zu bauendem Teil des Gutenbergmuseums.
=== Einwohnerentwicklung ===
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Mainz zwischen 20.000 und 30.000 Einwohnern. Durch die Industrialisierung und die Erweiterung des Stadtgebiets in die heutige Neustadt wuchs diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten und hatte sich zwischen 1850 und 1900 mehr als verdoppelt. Im Jahr 1908 erreichte die Stadt erstmals die Grenze von 100.000 Einwohnern, wodurch sie zur Großstadt wurde. Seit 1952 hat Mainz dauerhaft mehr als 100.000 Einwohner, diese Zahl stieg in den folgenden Jahrzehnten auch durch mehrere Eingemeindungen an. 2011 wurde auch die Grenze von 200.000 Einwohnern überschritten. Ende 2017 hatten 215.058 Einwohner ihren Hauptwohnsitz in Mainz. Im Sommer 2019 überschritt die Einwohnerzahl (Haupt- und Nebenwohnsitz) laut Angaben der Stadt die Schwelle von 220.000 Einwohnern.
== Politik ==
=== Hoheitssymbole ===
Die Stadt Mainz führt ein Dienstsiegel, ein Wappen sowie eine Hiss- und eine Bannerflagge. Ferner verwendet die Stadt ein Logo.
==== Entwicklung des Stadtwappens ====
Das Wappen der Stadt Mainz zeigt zwei durch ein silbernes Kreuz verbundene, schräg gestellte, sechsspeichige, silberne Räder auf rotem Untergrund. Die Stadtfarben sind rot-weiß.
Ursprünglich zeigte das Wappen den Patron der Stadt, den Heiligen Martin. Das Ratssiegel der Stadt von 1300 zeigte diesen erstmals in Verbindung mit dem Rad (zur genauen Entstehungsgeschichte siehe den Hauptartikel). Der Erzbischof von Mainz, der zugleich auch Fürst des Kurstaates war, übernahm das Rad auch in das Territorialwappen. Zur Unterscheidung dazu führte die Stadt nun allein das Doppelrad als Wappen, wobei ab dem 16. Jahrhundert das Rad schräg gestellt wurde. Während der Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zu Frankreich wurden zunächst alle Wappen in den besetzten Gebieten verboten. Das Siegel der neugeschaffenen Mairie – des französischen Bürgermeisteramts – zeigte die Freiheitsgöttin mit der Jakobinermütze. Nach der Kaiserkrönung Napoleons I. 1804 enthielt das Stadtsiegel den französischen Kaiseradler. Am 13. Juni 1811 wurde das Mainzer Rad wieder zugelassen. Dem Wappen wurden oben in einem Balken die drei Bienen des Hauses Bonaparte hinzugefügt. Die Farben allerdings waren vertauscht. Zwischen 1835 und 1915 trug das Wappen noch ein besonderes Schildhaupt. Damit sollte Mainz als Bundesfestung abgebildet werden. Im Laufe der Geschichte der Stadt änderte sich auch die Gestalt des Rades mehrmals. Es kamen Speichen hinzu, Zusätze wurden angefügt oder auch wieder entfernt. Seit dem 12. Juni 1915 hat das Wappen seine heutige Form, die ab 1992 geringfügig modifiziert wurde und somit auch ohne Probleme als Stadtlogo verwendet werden konnte. Im Mai 2008 wurde diese mit einem leichten Bogen am oberen Wappenschild sowie mit einem etwas kürzeren Kreuz versehen.
Entwicklung der Darstellung des Wappens der Stadt Mainz
=== Organisation ===
Die Stadt Mainz ist eine kreisfreie Stadt gemäß der Kommunalordnung des Landes Rheinland-Pfalz. Der Oberbürgermeister wird direkt gewählt; seine Amtszeit beträgt acht Jahre.
Die Stadt gehört zum Bundestagswahlkreis Mainz, dem neben Mainz auch Teile des Landkreises Mainz-Bingen angehören. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Daniel Baldy (SPD) hier das Direktmandat vor Ursula Groden-Kranich (CDU), die den Wahlkreis damit nach zwei Legislaturen (2013 und 2017) verlor. Aus dem Bundestagswahlkreis Mainz gehören neben Baldy die über die Landeslisten gewählten Tabea Rößner (Grüne) und Sebastian Münzenmaier (AfD) dem Deutschen Bundestag an.
Auf Landesebene ist Mainz derzeit in drei (bis 2021 zwei) Landtagswahlkreise unterteilt. Der Wahlkreis Mainz I umfasst seit einer Neuzuschneidung zur Landtagswahl 2021 die innerstädtischen Stadtteile. Hier gewann Katharina Binz (Grüne) 2021 das Direktmandat von Johannes Klomann (SPD). Bretzenheim, Gonsenheim, Hechtsheim, Mombach und Weisenau gehören zum Wahlkreis Mainz II; direkte Abgeordnete ist Doris Ahnen (SPD). Der neue Wahlkreis Mainz III umfasst die Stadtteile Drais, Ebersheim, Finthen, Laubenheim, Lerchenberg und Marienborn sowie im Landkreis Mainz-Bingen die Verbandsgemeinde Bodenheim. Als erster Wahlkreisabgeordneter des neuen Wahlkreises wurde Patric Müller (SPD) gewählt.
=== Stadtrat ===
Der Stadtrat von Mainz besteht aus 60 ehrenamtlichen Ratsmitgliedern, die zuletzt bei der Kommunalwahl am 26. Mai 2019 in einer personalisierten Verhältniswahl gewählt wurden, und dem hauptamtlichen Oberbürgermeister als Vorsitzendem. Seit den Wahlen 2019 sind die Grünen stärkste Fraktion im Stadtrat und lösten damit die CDU nach 25 Jahren in dieser Rolle ab (Details siehe Tabelle). Im Dezember 2009 wurde erstmals in Mainz eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen gebildet. Sie wurde sowohl nach den Kommunalwahlen 2014 als auch nach den Wahlen 2019 fortgeführt.
Die Sitzverteilung im Mainzer Stadtrat:
FW = Wählergemeinschaft – Freie Wähler Mainz e. V.
Pro MZ = Pro Mainz.
=== Oberbürgermeister ===
Bei der Stichwahl am 25. März 2012 wurde Michael Ebling (SPD) mit 58,2 % zum Oberbürgermeister gegen Günter Beck (Grüne) mit 41,8 % gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 34,3 %. Er folgte damit dem zuvor von 1997 bis Ende 2011 amtierenden Jens Beutel (SPD) im Amt des Oberbürgermeisters. Bei der Stichwahl zwischen Amtsinhaber Ebling und dem von CDU, ÖDP und Freien Wählern nominierten Herausforderer Nino Haase am 10. November 2019 wurde Ebling mit 55,2 % der Stimmen wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung lag in der Stichwahl bei 40,2 %.Am 13. Oktober 2022 wurde Michael Ebling mit sofortiger Wirkung zum neuen rheinland-pfälzischen Innenminister ernannt, nachdem Roger Lewentz am Vortag von diesem Amt zurückgetreten war. Die erforderliche Neuwahl für das Amt des Oberbürgermeisters fand am 12. Februar 2023 statt. Da keine der sieben Bewerbungen die erforderliche Mehrheit erreichte, kam es am 5. März 2023 zu einer Stichwahl zwischen Nino Haase (parteilos; 40,2 % der Stimmen im 1. Wahlgang) und Christian Viering (Bündnis 90/Die Grünen; 21,5 %). Nino Haase wurde mit 63,6 % zum Oberbürgermeister gewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,1 %. Haase wurde am 22. März 2023 in sein Amt eingeführt.
Amtsinhaber seit 1945Folgende Personen waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs Oberbürgermeister von Mainz:
Rudolph Walther (parteilos), 1945
Emil Kraus (parteilos), 1945–1949
Franz Stein (SPD), 1949–1965
Jockel Fuchs (SPD), 1965–1987
Herman-Hartmut Weyel (SPD), 1987–1997
Jens Beutel (SPD), 1997–2011
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2012 (kommissarisch)
Michael Ebling (SPD), 2012–2022
Günter Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 2022/23 (kommissarisch)
Nino Haase, parteilos, seit 2023Für eine vollständige Übersicht siehe Liste der Stadtoberhäupter von Mainz.
=== Stadtvorstand ===
Der Stadtvorstand besteht aus dem Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos), dem das Dezernat I unterstellt ist, und den hauptamtlichen Leitern der anderen städtischen Dezernate. Die amtierenden Dezernatsleiter sind der Bürgermeister Günter Beck (Grüne, Dezernat II – Finanzen, Beteiligungen und Sport) sowie die Beigeordneten Manuela Matz (CDU, Dezernat III – Wirtschaft, Stadtentwicklung, Liegenschaften und Ordnungswesen), Eckart Lensch (SPD, Dezernat IV – Soziales, Kinder, Jugend, Schule und Gesundheit), Janina Steinkrüger (Grüne, Dezernat V – Umwelt, Grün, Energie und Verkehr) und Marianne Grosse (SPD, Dezernat VI – Bauen, Denkmalpflege und Kultur). Die Juristin Manuela Matz wurde am 21. November 2018 mit Wirkung zum 8. Dezember überraschend zur neuen Wirtschaftsdezernentin gewählt, da der bisherige Amtsinhaber Christopher Sitte (FDP) seine Kandidatur kurzfristig zurückgezogen hatte und die Ampelkoalition in dieser Zeit keinen neuen Kandidaten aufstellen konnte.2020 wurde ein neues Dezernat für kommunales Fördermittelmanagement geschaffen, um die FDP nach dem Rückzug Christopher Sittes wieder im Stadtvorstand zu haben. Am 18. Dezember 2020 wählte der Stadtrat Volker Hans (FDP) zum ehrenamtlichen Dezernenten. Der Wahl waren monatelange politische Auseinandersetzungen um die Schaffung dieses Dezernats vorausgegangen.
== Religionen ==
=== Statistik ===
Nach den Ergebnissen des Zensus 2011 gehörten 37,0 % Einwohner der katholischen Kirche an, 23,6 % Einwohner waren evangelisch und 39,4 % hatten keine oder eine sonstige Konfessionszugehörigkeit. Ende Mai 2023 hatten 27,5 % der Einwohner die katholische Konfession und 17,6 % die evangelische. 54,9 % gehörten entweder einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. In Mainz stellt die Gruppe derjenigen die Mehrheit, die einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft angehört.
(Auflistung seit 1800)
=== Christentum ===
==== Evangelisch-lutherische Kirche ====
Jahrhundertelang war die Stadt als Sitz eines der höchsten (katholischen) Reichsfürsten immer katholisch geprägt. Mainz verfügt über den einzigen „Heiligen Stuhl“ (sancta sedes Moguntia) außerhalb von Rom. Eine frühchristliche Gemeinde bestand vielleicht schon seit der Spätantike, vielleicht auch bischöflich verfasst. 780/782 wurde Mainz zum Erzbistum erhoben. Erster Erzbischof von Mainz wurde Lullus, der bereits im Jahr 754 Nachfolger von Bonifatius (der als Missionsbischof nur den persönlichen Titel Erzbischof führte) geworden war. Mainz wurde in der Folge Hauptort des größten Metropolitanverbandes jenseits der Alpen (siehe Bistum Mainz). In dem sich im 13. Jahrhundert endgültig konstituierenden Kollegium der sieben Kurfürsten (Königswähler) nahm der Erzbischof von Mainz die führende Stellung ein (siehe auch: Geschichte des Bistums Mainz).
Der 1514 von Papst Leo X. ausgegebene Ablass für den Bau des neuen Petersdoms in Rom wurde Albrecht von Brandenburg (Erzbischof von Mainz) zur Veröffentlichung in Sachsen und Brandenburg anvertraut. Albrecht wies Johann Tetzel an, den Ablass zu predigen. Martin Luther schrieb später einen Protestbrief an Albrecht über das Verhalten von Tetzel.Zu ersten Berührungen mit dem Protestantismus kam es so erst mit dem Schmalkaldischen Krieg und dessen Auswirkungen auf die Stadt 1552 und im Dreißigjährigen Krieg mit der Besetzung durch schwedische Truppen. Durchsetzen konnte sich die neue Konfession damals aber nicht. Nach dem Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft noch während des Dreißigjährigen Krieges gewann wieder der Katholizismus die Oberhand. Einwohnern mit evangelischem Bekenntnis wurden die Bürgerrechte verweigert.
Seit 1715 gab es in Mainz eine kleine lutherische Garnisonsgemeinde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden vermehrt die inzwischen in die Stadt zugezogenen Protestanten nicht nur geduldet. Der vom Geist der Aufklärung erfasste Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim sowie der Großhofmeister Anton Heinrich Friedrich von Stadion beschäftigten sogar protestantische Offiziere und Kammerherren am Hof. Unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal erhielten sie auch Einfluss auf das Bildungswesen. Eigene Kirchen erhielten sie jedoch zunächst nicht. Erst 1802 nach dem faktischen Zusammenbruch des Kurstaates wurde die erste evangelische Kirchengemeinde als „unierte“ gegründet, das heißt, sie hatte sowohl lutherische als auch reformierte Gemeindemitglieder. Sie galt als Vorbild für die 1822 durchgeführte Union beider Konfessionen in Rheinhessen. Als fördernd erwies sich, dass die Bundesfestung Mainz eine teilweise preußische (und damit überwiegend protestantische) Besatzung hatte.
==== Römisch-katholische Kirche ====
Das katholische Bistum, 1803 aufgelöst und unter Napoleon neu umschrieben, wurde 1821 in seinen heutigen Grenzen festgeschrieben und umfasst im Wesentlichen die Grenzen des Großherzogtums Hessen, zu dem Mainz damals gehörte.
1832 wurde Rheinhessen auch kirchlich Bestandteil der evangelischen Kirche im Großherzogtum Hessen, wo Rheinhessen eine eigene Superintendentur bildete. Nach vorübergehender Verlegung des Sitzes der Superintendentur nach Darmstadt 1882 wurde Mainz 1925 erneut Sitz derselben. 1934 wurde aus der Superintendentur die Propstei Rheinhessen, in der nunmehr mit Nassau vereinigten Kirche. Die Kirchengemeinden der Stadt gehören seither – sofern sie nicht einer Freikirche angehören – zum Dekanat Mainz (Propstei Rheinhessen) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Seit 1. Oktober 2017 wurde die Propstei um das Dekanat Nassauer Land erweitert.
1875 wurde das Heinrich-Egli-Haus für Obdachlose gegründet. Dieses steht heute unter Trägerschaft der evangelischen Mission Leben gGmbH.
Mit der Industrialisierung wuchs die Mainzer Gemeinde rasch. Gab es 1849 27.633 Katholiken und 5.037 Protestanten, waren es 1901 49.408 Katholiken und 31.151 Protestanten. 1930 gab es in der Stadt 78.500 Katholiken und 48.500 Protestanten. Im Jahr 1997 lebten in Mainz 87.367 Katholiken, 53.254 Protestanten und 203 Juden. Im Jahr 2021 lebten in Mainz 65.434 Mitglieder der katholische Kirche (30,2 % der Gesamtbevölkerung) und 41.555 (19,2 % der Gesamtbevölkerung) Mitglieder der evangelische Kirche.
==== Freikirchen und Sondergemeinschaften ====
Seit 1847 besteht die Freireligiöse Gemeinde Mainz. Sie hat ihr Gemeindezentrum in der Gartenfeldstraße in der Mainzer Neustadt. Das alte Gemeindezentrum in der Großen Bleiche 53 wurde beim Bombenangriff am 27. Februar 1945 total zerstört.
Auch andere christliche Religionsgemeinschaften sind in Mainz vertreten (in zeitlicher Reihenfolge, soweit ein Datum bekannt ist): Die Baptisten (im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, seit 1862), die Altkatholische Kirche (seit 1876), die Neuapostolische Kirche (seit etwa 1895), die Evangelisch-methodistische Kirche (seit 1906), die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten (seit 1907), Die Christengemeinschaft (seit Ende der 1920er), die Bibelgemeinde Mainz (seit 1978), das pfingstlich-charismatische „Christliche Zentrum DER FELS“ (im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP)) (seit 1981), die Freie evangelische Gemeinde (seit 1982), die Orthodoxe Kirche (seit 1992) mit einer überwiegend deutschsprachigen Gemeinde, die EnChristo Mainz (gehört Foursquare Deutschland, Freikirchlichen Evangelischen Gemeindewerk e. V. (fegw)) an (seit 1995), das Christliche Familienzentrum Freikirchliche Gemeinde (seit 1998), die Kirche des Nazareners (seit 2008), die Pfingstgemeinde „Die BASIS – Gemeinde für diese Generation“, Freie Baptisten-Gemeinde Mombach sowie die Zeugen Jehovas.
Mitglieder verschiedener christlicher Konfessionen haben sich zur Evangelischen Allianz zusammengeschlossen. Der Großteil der christlichen Kirchen und Gemeinden arbeitet seit 1997 in der örtlichen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen zusammen.Seit 2015 nutzt die Mazedonisch-Orthodoxe Kirche die Kirche Heiliger Nikolaus (Mainz-Hechtsheim).
=== Judentum ===
Die Ursprünge der Jüdischen Gemeinde Magenza sind nicht restlos geklärt. Für die These, die Juden seien mit den Römern nach Mainz gekommen, spricht sehr viel, ein Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen. Die erste sichere Aufzeichnung stammt aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und ist eine hebräische Überlieferung rabbinischer Rechtsgutachten, die sich mit einer bereits blühenden jüdischen Gemeinde befassen. Im Mittelalter gehörte die jüdische Gemeinde Mainz bis zu den Pestpogromen um das Jahr 1350 zusammen mit Spira und Worms zu den SchUM-Städten, die für das aschkenasische Judentum europaweite Bedeutung erlangten. Die angesehene Familie Kalonymos lebte hier. Bedeutend war auch das Wirken Gerschom ben Jehudas, einer der wichtigsten Gelehrten jener Zeit überhaupt. Auf dem Judensand, dem jüdischen Friedhof von Mainz, finden sich Grabsteine aus dem 11. Jahrhundert. Seit dem 27. Juli 2021 gehört der Friedhof als Teil der Stätten, die von der jüdischen Kultur in den SchUM-Städten zeugen, zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Gemeinde wurde mehrmals (siehe Geschichte der Stadt Mainz) durch Pogrome während der Zeit der Kreuzzüge und der Pestepidemien dezimiert. Am jüdischen Neujahrsfest wird in jeder Synagoge das Unetaneh tokef gesprochen, das an die erschlagenen Mainzer Juden von 1096 erinnert. 1435 wurden die Juden für Jahrhunderte aus Mainz vertrieben.Vor 1933 hatte die Gemeinde bis zu 3000 Mitglieder, 1946 gerade noch 59. 1997 gab es 203 Mitglieder, was etwa 0,1 % der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Mainzer Synagoge in der Neustadt wurde während der Zeit des Nationalsozialismus vollständig abgebrannt und zerstört. An der ursprünglichen Stelle wurden einige Säulen als Mahnmal wieder errichtet. 1999 wurde ein Wettbewerb für den Neubau einer Synagoge und eines Jüdischen Gemeindezentrums an dem Ort der alten Mainzer Synagoge durchgeführt, der von dem Architekten Manuel Herz gewonnen wurde. Die von ihm entworfene neue Synagoge Mainz ist seit dem 3. September 2010 der Nachfolgebau früherer Synagogen in Mainz. Die Synagoge in Weisenau überstand den Krieg unbeschadet. Sie wurde Ende der 1990er-Jahre restauriert und am 27. Mai 1996 der jüdischen Gemeinde durch Rabbiner Leo Trepp wieder als Gotteshaus übergeben.
=== Islam ===
Vor allem durch Einwanderung und Einbürgerung hinzugekommen sind muslimische Gemeinschaften. Im Jahr 2002 wurde die Zahl der Muslime auf ca. 15.000 beziffert, gleichzeitig gab es 15 Moscheevereine. Nach einer Berechnung aus den Zahlen des Zensus für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Mainz am 9. Mai 2011 bei 8,9 Prozent (rund 17.800 Personen).
== Stadtbild ==
=== Überblick ===
Die Stadt Mainz ist in ihrem weiteren Innenstadtbereich sowie in einzelnen Vororten (vor allem Mombach und Weisenau) zunehmend großstädtisch geprägt. In anderen Vororten (z. B. Drais, Finthen oder Marienborn) blieb der dörfliche Charakter weitgehend bestehen, auch wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten das Ortsbild in den Stadtteilen teilweise veränderte (z. B. in Finthen mit den Neubaugebieten Katzenberg und Römerquelle). In der Innenstadt selbst sind jedoch auch viele andere Elemente des Städtebaus erhalten geblieben. Noch klar an das mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtbild erinnert die heutige „Altstadt“ mit ihren verwinkelten Straßen und Gassen rund um die Augustinerstraße. Dort finden sich auch bis heute noch Fachwerkhäuser. Große Teile der historischen Altstadt, vor allem nördlich der Ludwigsstraße, wurden durch die britischen Luftangriffe auf Mainz im Zweiten Weltkrieg beschädigt, später abgerissen und modern überbaut.
Die von Stadtbaumeister Eduard Kreyßig entworfene Neustadt war eines der größten Stadterweiterungsprojekte seiner Zeit, in dem sich die Stadtfläche fast verdoppelte. Die Neustadt entstand in der Gründerzeit um 1900, in der sich Mainz von der provinziell geprägten Festungsstadt zur Großstadt entwickelte.
Das Panorama der Stadt von der Rheinseite wird heute vor allem von Bauten zweier unterschiedlicher Bauepochen geprägt: Dem Rathauskomplex (von Arne Jacobsen und Otto Weitling) mit Hilton-Hotel und Rheingoldhalle aus der Moderne und dem Barock- bzw. Renaissance-Ensemble bestehend aus dem Neuen Zeughaus (heute Staatskanzlei), dem Deutschhaus (heute Landtag) und dem Kurfürstlichen Schloss.
Nachdem die Umsetzung einer ambitionierten Neuplanung der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Innenstadt durch Marcel Lods gescheitert war, wurden nur die wichtigsten Gebäude wiedererrichtet. Dazu gehören die vielen barocken Adelspaläste, die sich vor allem am Schillerplatz befinden. Ansonsten wurden in Mainz zunächst überwiegend neue Wohnhäuser, beispielsweise die Siedlung Am Fort Elisabeth in der Oberstadt, gebaut. Bedingt durch den erst späten Aufschwung zu Beginn der 1960er Jahre sind diese Gebäude vor allem in dem Stil jener Dekade gehalten, was damals wie heute von Städtebauern kritisiert wurde. Auch viele Wohnsiedlungen im Umkreis der Stadt sind im Stil der 1960er Jahre entstanden.
Zu den bedeutendsten heute noch bestehenden Bauten des 19. Jahrhunderts in Mainz zählen die evangelische Christuskirche, der Hauptbahnhof, die Rheinbrücke, Teile des von Georg Moller errichteten Staatstheaters und die Festungsanlagen bzw. deren Reste. Die noch heute häufig im Stadtbild deutlich sichtbaren sonstigen Bau-Zeugnisse jener Zeit sind fast ausschließlich Wohnhäuser mit oder ohne Geschäftszeile. Von den bedeutenderen Bau-Epochen in Mainz, Romanik, Gotik, Renaissance (in Ansätzen) und vor allem Barock sind jedoch noch mannigfaltigere Beispiele erhalten geblieben.
=== Romanik und Gotik in Mainz ===
Auch heute sind in der Stadt Mainz viele Zeugnisse historischer Baukultur der Romanik und Gotik erhalten, die das Stadtbild prägen.
Bedeutendstes Bauwerk der Romanik in Mainz ist der Mainzer Dom, den Erzbischof Willigis zwischen 975 und 1009 errichten ließ. Da er bereits am Tag seiner Weihe weitgehend abbrannte, wurde er in den Folgejahren immer größer aufgebaut, denn auch 1081 und 1137 brannte der Dom. Er wurde von Erzbischof Bardo, Kaiser Heinrich IV., Erzbischof Konrad I. von Wittelsbach und Erzbischof Siegfried III. von Eppstein durch alle Bauepochen der Romanik weitergeführt. Zu Beginn der Epoche der Gotik wurden auch am Dom gotische Elemente verwirklicht. Unter anderem wirkte der als Naumburger Meister bekannt gewordene Künstler am Dom.
Westlich des Doms liegt die St.-Johannis-Kirche, die vermutlich über dem ersten Dom errichtet wurde und wohl selbst auch einmal Domkirche des Bistums war. Sie wurde 910 von Erzbischof Hatto geweiht und in spätkarolingischen Formen errichtet. Durch Umbauten und nach Zerstörungen vor allem im Zweiten Weltkrieg ist sie jedoch mehrfach überformt worden. Zusammen mit dem Dom und der 1793 zerstörten, dem Dom östlich vorgelagerten Liebfrauenkirche bildete die Johanniskirche einst eine zusammenhängende Einheit und mit den umliegenden Plätzen („Höfchen“) die erzbischöfliche Pfalz.
Nicht erhalten ist das historische Stift St. Alban vor Mainz, im 8. und 9. Jahrhundert wichtigstes geistiges Zentrum des Bistums. Die Kirche verfiel schon im Hochmittelalter. Die Reste wurden im Markgräflerkrieg zerstört.
Ebenfalls von Willigis gegründet ist die Stiftskirche St. Stephan, die jedoch bald durch einen gotischen Bau ersetzt wurde. Sie ist heute die größte gotische Kirche in Mainz und besitzt Fenster, die Marc Chagall Ende des 20. Jahrhunderts gestaltete. Aus der Stilepoche der Gotik stammen auch die Pfarrkirchen St. Emmeran (mit romanischem Turm vom Ende des 12. Jahrhunderts) und St. Quintin (gleichzeitig Pfarrkirche der ältesten Pfarrei von Mainz, Vorgängerbau schon im 8. Jahrhundert) und die Antoniterkapelle. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte gotische Kirche St. Christoph ist heute das Kriegsmahnmal der Stadt.
Als Profanbauten sind ein spätgotischer Wohnturm am Älteren Dalberger Hof erhalten, ferner aus dem 16. Jahrhundert das spätgotische Haus Zum Korb (Am Brand 6). Der Hof zum Homberg (14. bis 16. Jahrhundert) wurde rekonstruiert.
=== Renaissance ===
Bedeutendstes Bauwerk der Renaissance in Mainz ist das Kurfürstliche Schloss. Stilistisch gehört es zur Deutschen Renaissance, deren spätestes Zeugnis dieser Bau ist. Ebenfalls aus der Stilepoche der Renaissance stammt das Haus Zum Römischen Kaiser, das heute das Gutenberg-Museum beherbergt sowie der Ältere Dalberger Hof. Der Leininger Hof ist teils spätgotisch, teils barock. Der Knebelsche Hof (1588–98) wurde 1953–55 unter Wiederverwendung alter Teile rekonstruiert, ähnlich in den 1970er Jahren der Algesheimer Hof.
Der von Erzbischof Albrecht gestiftete Marktbrunnen gehört zu den prächtigsten Renaissancebrunnen Deutschlands. Das Alte Zeughaus entstand 1604/05. Als weiteres Zeugnis, freilich schon am Übergang zum Barock stehend, kann die ab 1615 in der Nähe des heutigen Gutenbergplatzes errichtete Domus Universitatis angesehen werden, welche für Jahrhunderte höchster Profanbau der Stadt war.
=== Barock und Rokoko ===
Die Barockzeit ließ die Stadt vor allem während des Episkopats Lothar Franz’ von Schönborn (1695–1729) einen beispiellosen Bauboom erleben, dessen Ergebnisse noch heute im Stadtbild zu sehen sind und dieses zum Teil sogar prägen. Am Schillerplatz, an der Großen Bleiche, in der Klarastraße sowie am Rhein finden sich heute etliche Adelshöfe des Mainzer Stiftsadels, beginnend mit der Errichtung des Schönborner Hofes ab 1668 am Schillerplatz, der einen frühen Barockbau darstellt, dessen Dekor noch Renaissanceelemente aufweist. Es folgten der Jüngere Dalberger Hof (bis 1718), der Stadioner Hof (1728–33), der Erthaler Hof (1734–39), der Eltzer Hof (ab 1742), der Osteiner Hof (1747–1752), der Bassenheimer Hof (1750), ferner das Deutschhaus (ab 1730, heute Landtag), das benachbarte Neue Zeughaus (1738–40, heute Staatskanzlei), die Johanniterkommende Zum Heiligen Grab (1740–48, heute Sitz des Bischöflichen Ordinariats) und die Golden-Ross-Kaserne (1766, heute Landesmuseum). Auch diese Gebäude sind oft teilweise oder ganz rekonstruiert.
Auch einige Kirchen finden sich noch, obwohl viele aus dieser Zeit in den Wirren der Geschichte wieder zerstört wurden. Bedeutende Kirchen sind die Augustinerkirche in der gleichnamigen Altstadtstraße und die in den Formen des Rokoko errichtete Peterskirche an der Großen Bleiche. Die ebenfalls zu jener Zeit errichtete Ignazkirche (ab 1763) wie auch der Erthaler Hof (ab 1743) sind jedoch schon frühe Beispiele des Klassizismus.
=== Festungsbauten ===
Aus der Festungszeit der Stadt sind etliche Relikte vorhanden, die aus verschiedenen Epochen stammen. Exponiertes Beispiel des Barocks ist dabei das Palais des Festungskommandanten, welches mit der Zitadelle über der Stadt thront. Doch auch frühere Teile der alten römischen und mittelalterlichen Stadtbefestigung sind noch vorhanden und zumindest in ihrem Mauerwerk noch original. Am Rhein erheben sich der Holzturm und der Eisenturm, die ihre Torfunktion jedoch durch die Aufschüttung des Rheinufers im 19. Jahrhundert und die dadurch bedingte Erhöhung des Straßenniveaus verloren haben. Im Holzturm war der Kerker des Räuberhauptmanns Schinderhannes.
Spätere Zeugen des Festungsbaus als Bundesfestung sind das Fort Malakoff im Süden der Stadt sowie das große, im Krieg nicht zerstörte, Proviant-Magazin in der Schillerstraße gegenüber dem Erthaler Hof.
=== Seit 1945 ===
Die Stadt zeichnet sich heute durch eine Durchmischung verschiedener Bauepochen aus. Die französische Militäradministration berief in den späten 1940er Jahren den berühmten französischen Städteplaner Marcel Lods, einen neuen Stadtplan auszuarbeiten. Dieser wurde damals als Mainz, modernste Stadt der Welt sehr bekannt. Der radikale Plan ist nie umgesetzt worden, die Akzeptanz war gering, aber auch das Geld ist nicht vorhanden gewesen. Es blieb bei einer evolutionären und behutsamen Änderung des alten Plans. Allgemein wurden die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges von den Kommunalpolitikern der 1960er Jahre auch als Chance begriffen, alte Fehler bei Bauten und der Generalanlage (Straßennetz, übrige Infrastruktur) der Stadt zu beheben. Im sakralen Bereich wurden neue Kirchen gebaut, deren künstlerische Ausstattung von Peter Paul Etz als beispielhaft gilt, die mit seinen Schülern Alois Plum und Gustel Stein und deren Projekten in ganz Deutschland bis heute wirkt.
Die der militärischen Entspannung folgende Konversion bot Gelegenheit Krongarten und Gonsbachterrassen zu entwickeln, was im Gegenteil zum Layenhof auch gelang. Das bedeutendste städtebauliche Projekt jüngster Zeit ist die Entwicklung des 22 Hektar großen Geländes des ehemaligen Zoll und Binnenhafens (bis 2011) zu einem Mischgebiet aus Wohnungen, Büros, Gewerbe- und Kultureinrichtungen. 2007 wurde ein entsprechender städtebaulicher Rahmenplan verabschiedet, der Gebäudenutzflächen bis zu 355.000 Quadratmetern vorsieht. Als nächstes größeres Objekt wird die Entwicklung des Heilig-Kreuz-Areals in Weisenau, auf dem ehemaligen IBM-Gelände unter anderen mit innovativen Bau- und Wohnformen in privat organisierter, generationenübergreifender Struktur realisiert. Auf der 30 Hektar großen Fläche sollen 3.000 neue Wohnungen, davon 900 sozial gefördert, für bis zu 4.500 Personen entstehen. Auf dem 8,7 Hektar großen Gelände der Generalfeldzeugmeister-Kaserne in der Oberstadt, zwischen Marienhaus Klinikum und Pariser Straße, sollten ab 2019 circa 500 Wohnungen gebaut werden. Ein im Stadtteil Mainz-Hechtsheim am östlichen Rand des Wohngebiets „Großberghöhe“ gelegenes Areal soll als „Wohnquartier Hechtsheimer Höhe“ erschlossen werden. Dort sollen auf einer Fläche von rund 17 Hektar Ein- und Zweifamilienhäuser mit rund 400 Wohnungen gebaut werden.
=== Sehenswürdigkeiten (Auswahl) ===
==== Brunnen, Büsten und Denkmäler ====
==== Kunst im öffentlichen Raum ====
Mainz kann mit einer Reihe von bedeutenden modernen Kunstwerken im öffentlichen Raum aufwarten.
=== Siehe auch ===
Liste der Kulturdenkmäler in Mainz
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Allgemeine Informationen ===
Wirtschaft und Infrastruktur sind in Mainz von der Zugehörigkeit zum Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main geprägt. Bei Rankings, die sich an der Wirtschaftsleistung der Städte orientieren, belegte die Stadt seit den 2000er Jahren vordere Plätze. So erreichte Mainz in einer Studie der Wirtschaftswoche von 2005 im Vergleich von 50 deutschen Städten den vierten Rang, bei der Wiederholung 2006 den fünften Rang. Geprüft wurden innerhalb der Studie ökonomische und strukturelle Indikatoren wie Produktivität, Bruttoeinkommen und Investitionen. Im 2010er Städteranking von insm und wiwo.de liegt Mainz auf Platz 48 von 100 bewerteten Städten, hinter Speyer (31), Neustadt/Weinstraße (35) und Frankenthal (46), jedoch vor Worms (62) und Ludwigshafen (68). Mit einer Kaufkraft von 25.035 Euro pro Einwohner (2018) liegt die Stadt um 7,3 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das Einkommensteueraufkommen betrug in Mainz 2016 89 Mio. Euro das Gewerbesteueraufkommen bei 112,8 Mio. Euro. Bei den Gewerbeanmeldungen im Verhältnis zu den Gewerbeabmeldungen belegte Mainz in der Studie, die am 30. Juni 2006 veröffentlicht wurde, den dritten Platz. Im Jahre 2016 erbrachte Mainz, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11,577 Milliarden € und belegte damit Platz 33 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung und den zweiten Platz in Rheinland-Pfalz. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 54.696 € (Rheinland-Pfalz: 34.118 €, Deutschland 38.180 €) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Das BIP je Erwerbsperson beträgt 74.345 € und liegt damit recht hoch. In der Stadt sind 2017 ca. 155.700 Erwerbstätige beschäftigt. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,2 % und damit über dem Durchschnitt von Rheinland-Pfalz von 4,1 % (im benachbarten Landkreis Mainz-Bingen betrug sie 3,2 %).Im Zukunftsatlas 2019 belegte die kreisfreie Stadt Mainz Platz 45 von 401 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“.
=== Verschuldung der Stadt Mainz ===
Binnen 23 Jahren stieg die Verschuldung der Stadt Mainz von 25 Millionen Euro (1994) auf über 1.200 Millionen Euro (2017).
In der Pro-Kopf-Verschuldung war Mainz 2014 hinter Darmstadt und Kaiserslautern die am dritthöchsten verschuldete kreisfreie Stadt in Deutschland. 2012 war die Stadt per Stadtratsbeschluss vom 14. Dezember 2011 dem Kommunalen Entschuldungsfonds Rheinland-Pfalz (KEF-RP) beigetreten. Die Stadt musste im Jahr 2011 rund 25 Millionen Euro Zinsen zahlen, bis 2014 stieg die Zinslast auf 54 Millionen Euro. Durch günstige Umschuldungen betrug die Zinslast 2017 25,9 Millionen Euro.Die Stadt Mainz plant, Ende 2022 schuldenfrei zu sein, da sie mit hohen Gewerbesteuereinnahmen des Unternehmens Biontech rechnet. Durch die rund eine Milliarde Euro betragenden Steuerzahlungen von Biontech sowie weitere Haushaltsüberschüsse im Jahr 2021 können voraussichtlich sämtliche Schulden getilgt werden.
=== Verkehrsinfrastruktur ===
==== Fernstraßenverkehr ====
Ein Autobahnhalbring, auf dem sich zwei Autobahnbrücken über den Rhein nach Hessen befinden, trennt die äußeren (Finthen, Drais, Lerchenberg, Marienborn, Hechtsheim, Ebersheim und Laubenheim) von den inneren Stadtteilen und dem Stadtkern. Dabei durchquert in West-Ost-Richtung die A 60 vom Dreieck Nahetal zum Rüsselsheimer Dreieck. Nach Wiesbaden zweigt die A 643 ab. Richtung Süden führt die A 63 über Alzey nach Kaiserslautern. Ferner führen die Bundesstraßen 9 und 40 durch das Stadtgebiet.
In den 1960er-Jahren bestanden in Mainz Pläne zur Errichtung zweier Stadtautobahnen. Dabei waren einerseits eine Nord-Süd-Strecke geplant, welche von der Anschlussstelle Mainz-Mombach auf der Schiersteiner Brücke durch das Industriegebiet Mombach vorbei am Hauptbahnhof, durch einen Tunnel unter der Oberstadt hindurch und über eine Hochstraße vorbei an Weisenau bis zur Anschlussstelle Mainz-Laubenheim an der A 60 führen sollte und andererseits ein Abzweig von besagter Nord-Süd-Strecke nordwestlich vom Hauptbahnhof, um an die nur zwei Kilometer westlich gelegene Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim an der A 643 anschließen zu können. Über eine mögliche Weiterführung dieser kurzen Ost-West-Strecke, möglicherweise über den Rhein, gibt es heute keine gesicherten Erkenntnisse mehr. Von beiden Planungen wurden nur kleine Einzelbestandteile umgesetzt, welche niemals als Autobahn genutzt wurden. Dazu zählen die Führung der Mombacher Straße als Hochstraße im Bereich des Hauptbahnhofs (mit autobahngerecht ausgebauten Zufahrtsrampen, die 1998 teilweise abgerissen wurden); die etwa 1,5 Kilometer lange Hochstraße in Mombach, die die Mombacher Straße in Hartenberg-Münchfeld mit der Rheinallee in Mombach verband und bis heute vorbereitete Abfahrtsstümpfe für die Ost-West-Anbindung aufweist (wurde 2021 gesperrt und zum Abriss freigegeben) sowie ein 270 Meter langes, voll ausgebautes Autobahnstück am Ende der Anschlussstelle Mainz-Gonsenheim, welches nie in Betrieb ging.In Mainz und Wiesbaden werden die europaweit geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe regelmäßig überschritten. Um dem entgegenzuwirken, wurde zum 1. Februar 2013 zusammen mit der Nachbarstadt Wiesbaden eine Umweltzone eingerichtet. Es ist damit die erste Umweltzone in Rheinland-Pfalz, und gleichzeitig die erste länderübergreifende Umweltzone. Damit sollen die vom motorisierten Straßenverkehr ausgehenden ökologischen und gesundheitlichen Belastungen verringert werden. Aufgrund einer Klage der Deutsche Umwelthilfe (DUH) musste sich Mainz auf ein Dieselfahrverbot vorbereiten. Die Stadt Mainz war zuversichtlich, bis Ende 2019 den NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft an der am meisten belasteten Messstelle Parcusstraße nahe dem Hauptbahnhof einhalten zu können, um dieses Verbot zu vermeiden.
==== Straßenschilder in Mainz ====
Eine Besonderheit des Mainzer Stadtbilds sind seit 1853 die Straßenschilder: Straßen mit roten Schildern verlaufen vorwiegend senkrecht zum Rhein (in den südlichen Stadtteilen und in der Innenstadt ist das die West-Ost-Richtung, in Mombach aufgrund des nach Westen biegenden Flussverlaufs dann schon eher Süd-Nord), während Straßen parallel zum Rhein mit blauen Straßenschildern versehen werden. Dabei steigen die Hausnummern in den Straßen mit roten Schildern in Richtung Rhein, in den Straßen mit blauen Schildern mit der Flussrichtung des Rheins, jeweils ungerade Zahlen links und gerade rechts. Die Anregung dazu gab bereits 1849 Josef Anschel durch einen Antrag auf „Umänderung der Häusernummern“, bei der er ebenfalls den einheitlichen Verlauf der Hausnummern vorschlug. Kleinere Straßen, insbesondere in den vom Rhein weiter entfernt liegenden Ortsteilen, und Straßen, deren Verlauf nicht eindeutig ist, sind mit weißen Schildern versehen.
Nach den letzten umfangreichen Eingemeindungen in den 1960er Jahren stand die Stadt Mainz vor dem Problem, dass es nunmehr zahlreiche namensgleiche Straßen im Stadtgebiet gab, was nicht nur bei der Postzustellung zu Verunsicherung und Verwechslungen führte. Daher entschloss man sich in den 1970er Jahren, alle Straßennamen nur noch einmalig zu vergeben, was zu zahlreichen Umbenennungen, nicht nur in den neu eingemeindeten Stadtteilen führte. So wurde zum Beispiel aus der Hollagasse die Holdergasse, aus der Mainzer Straße die Alte Mainzer Straße, aus der Adlergasse die Ölgasse und viele andere Umbenennungen mehr. Darüber hinaus achtete man damals sogar darauf, keine Straßennamen neu zu vergeben, die sich in den ehemaligen rechtsrheinischen Stadtteilen von Mainz befinden, um bei einer eventuellen Rückgliederung dieser Stadtteile nicht noch einmal vor dem gleichen Problem zu stehen. Das erklärt, dass es in Mainz bislang keine Wiesbadener Straße, Darmstädter Straße oder Frankfurter Straße gibt. Jedoch wurden keine in Mainz und seinen ehemaligen Stadtteilen doppelt vorkommende Namen extra umbenannt. So gibt es zum Beispiel nach wie vor die Eleonorenstraße, die Friedrichstraße u.v.m. in Mainz ebenso wie in AKK. Dieser Grundsatz wurde später aufgeweicht, und auch in AKK vorkommende Straßennamen werden wieder im Mainzer Stadtgebiet verwendet. Als Beispiele seien genannt in Bretzenheim und Kastel die Marie-Juchacz-Straße, in Ebersheim und Kastel die Römerstraße und in Drais und Kostheim Am Mainzer Weg.
==== Schienenpersonenfernverkehr ====
Am Mainzer Hauptbahnhof halten täglich 104 Fernverkehrszüge. Dabei wird er täglich von 60.000 Personen genutzt.
Mainz ist an das Intercity-Express-, Intercity- und Eurocity-Netz der Deutschen Bahn angebunden. Fernzüge erreichen die Stadt dabei aus Nordwest über die linksrheinische Strecke aus Richtung Köln über Koblenz und zwei Züge am Tag über den Wiesbadener Abzweig der Hochgeschwindigkeits-Neubaustrecke Köln–Frankfurt. Nach Süden fahren die Fernzüge über Mannheim bis Basel und Interlaken und über Frankfurt Flughafen nach Frankfurt Hauptbahnhof.
Seit Dezember 2005 existiert eine zweistündliche ICE-Anbindung von Wiesbaden über Mainz, Frankfurt Flughafen, Fulda, Erfurt und Leipzig nach Dresden.
Nachdem zwischen Mainz Hauptbahnhof und dem Bahnhof Mainz Römisches Theater ein zweiter Tunnel gebaut und der alte Tunnel aufgeweitet wurde, wurden im westlichen Gleisvorfeld des Hauptbahnhofes die Gleisanlagen umgebaut, um eine kreuzungsfreie Einfädelung des Wiesbadener Abzweigs zu ermöglichen.
==== Öffentlicher Personennahverkehr ====
Rückgrat des Öffentlichen Personennahverkehrs sind fünf Mainzer Straßenbahnlinien, mit einer Liniennetzlänge von 29,7 km, und 31 Buslinien der Mainzer Verkehrsgesellschaft (MVG), Verkehrsbetriebe der Stadtwerke Mainz, sowie anderer Verkehrsunternehmen, wie ESWE Verkehrsgesellschaft und Kommunalverkehr Rhein-Nahe. Die MVG verfügt über 41 Straßenbahn-Linienfahrzeuge und 150 Omnibusse, wobei sie mit ihrem Wiesbadener Kooperationspartner, der ESWE, ein gemeinsames Netz mit fortlaufenden Liniennummern bildet. Wiesbadener Buslinien beschränken sich auf den Bereich bis einschließlich 49, Mainzer Bus- und Straßenbahnlinien werden mit Zahlen ab 50 nummeriert. Mit den Buslinien sind von Mainz aus auch benachbarte kleinere Städte wie Ingelheim am Rhein und Nieder-Olm erreichbar. Um die Kooperation beider Verkehrsbetriebe besser zu organisieren, wurde der Verkehrsverbund Mainz-Wiesbaden gegründet. Mit den Bussen und Bahnen der MVG werden täglich etwa 180.000 Fahrgäste (Stand 2019) befördert.
Alle Linien im Mainzer und Wiesbadener Stadtgebiet innerhalb des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV) sind zu einheitlichen Preisen benutzbar, wobei die Stadt Mainz dem RMV angeschlossen ist und mit Wiesbaden eine Tarifzone bildet. Der Landkreis Mainz-Bingen gehört zum Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbund (RNN). Für Verbindungen aus dem und in das Gebiet des Rhein-Nahe-Nahverkehrsverbunds (RNN) wird der RNN-Tarif auch bis Mainz und Wiesbaden angewendet.
Zwischen beiden Verbünden gibt es Übergangstarife, die in allen Bussen und Straßenbahnen der MVG, in allen Bussen der ESWE Verkehrsgesellschaft und der ORN und in allen Nahverkehrszügen (Regional-Express, Regionalbahn, S-Bahn) von allen Eisenbahnverkehrsunternehmen, beispielsweise Süwex, Vlexx, Hessische Landesbahn oder trans regio, gelten. Im Stadtverkehr der Stadt Mainz und der Stadt Wiesbaden, bei Fahrten zwischen Mainz und Wiesbaden (bzw. umgekehrt) sowie bei Fahrten in das übrige RMV-Gebiet gilt ausschließlich der Tarif des RMV.
Der Mainzer Hauptbahnhof wird täglich von 311 Nahverkehrszügen angefahren. Regionale Züge fahren nach Alzey, Frankfurt, Wiesbaden, Koblenz über Bingen, Saarbrücken (entlang der Nahe über Bad Kreuznach), Mannheim über Worms, Aschaffenburg (über Groß-Gerau und Darmstadt).
Ferner ist die Stadt an das Netz der S-Bahn Rhein-Main angeschlossen, die neben dem Hauptbahnhof die Bahnhöfe Mainz Nord und Mainz Römisches Theater bedient. Diese Bahnhöfe werden von der S-Bahn-Linie S8 aus Richtung Hanau, über Offenbach, Frankfurt Hbf und Frankfurt Flughafen sowie Wiesbaden in einem 30-Minuten-Takt, bedient. Weitere Bahnhöfe im Mainzer Stadtgebiet sind Mainz-Mombach, Mainz-Waggonfabrik, Mainz-Gonsenheim, Mainz-Marienborn und Mainz-Laubenheim. Das Mainzer Rheinufer in der Innenstadt ist über die Theodor-Heuss-Brücke vom S- und Regionalbahnhof Mainz-Kastel aus am schnellsten erreichbar. Die Strecke Mainz–Ludwigshafen wurde im Zuge der neuen Linie S 6 am 10. Juni 2018 in das S-Bahn-System RheinNeckar integriert. Die Züge der Linie S6 verkehren von Bensheim über Weinheim, Mannheim, Ludwigshafen am Rhein und Worms zum Mainzer Hauptbahnhof.
==== Fernbusverkehr ====
Seit der 2013 erfolgten Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland wird Mainz von verschiedenen Fernbus-Unternehmen angefahren. Die Fernbushaltestellen befinden sich unweit des Hauptgebäudes des Mainzer Hauptbahnhofes am Kaiser-Wilhelm-Ring. Eine Verlegung der Haltestellen aus der Innenstadt heraus ist in der Diskussion, da es durch die Fernbusse zu starken Verkehrsbehinderungen kam.
==== Binnenschiffsverkehr ====
Mainz war von 1886 bis 1936 Endpunkt der Kettenschifffahrt auf dem Main. Mit Einsetzen der Rheinromantik wurde Mainz auch zum Ziel romantischer Flussreisen auf Flusskreuzfahrtschiffen. Die Preußisch-Rheinische Dampfschiffahrtsgesellschaft als Vorläuferin der Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschiffahrt unternahm am 1. Mai 1827 eine Jungfernfahrt auf dem Rhein von Mainz nach Köln. Zahlreiche Schiffsanlegestellen befinden sich noch heute am Rheinufer zwischen Schloss und Winterhafen.Der alte Mainzer Zoll- und Binnenhafen hat eine Fläche von 30 ha, er wurde und wird in ein zentrumsnahes Baugebiet konvertiert. Der Bebauungsplan „Neues Stadtquartier Zoll- und Binnenhafen (N 84)“ ist seit Juni 2015 rechtskräftig. Die bei der Umwidmung des Gebietes weggefallenen Liegeplätze für Binnenschiffe wurden nicht ersetzt. Auch weitere Liegeplätze außerhalb des Zollhafens wurden entfernt. Mit einem Güterumschlag von 1,3 Millionen Tonnen wurde der alte Hafen jährlich von 2.200 Schiffen angefahren (2003). Die neue Containerentladestelle liegt an Rheinkilometer 501 flussabwärts der Kaiserbrücke. Die Frankenbach Container Terminals GmbH betreibt das Container-Terminal an der die Stadtwerke eine Minderheitsbeteiligung von 25,2 % halten. Eine günstige Autobahnanbindung besteht aufgrund des Neubaus der Schiersteiner Brücke und der Sprengung der Salzbachtalbrücke derzeit (2022) nicht.
==== Flugverkehr ====
Mainz verfügt im Stadtteil Finthen über einen ganzjährig geöffneten Verkehrslandeplatz mit 1000 m Asphaltbahn (ICAO-Code EDFZ), das ehemalige US Airfield Finthen.
Zum 25 km entfernten Flughafen Frankfurt fahren mehrmals in der Stunde Züge des Fern- und Nahverkehrs.
Der Flughafen Hahn, der etwas über 80 km von Mainz entfernt liegt, wird mit einer direkten Busverbindung angefahren.
==== Rheinbrücken ====
Im Mainzer Raum überqueren fünf Brücken den Rhein: zwei Autobahnbrücken (Weisenauer Brücke A 60 und Schiersteiner Brücke A 643), zwei Eisenbahnbrücken (die Südbrücke Richtung Frankfurt Flughafen und die Kaiserbrücke Richtung Wiesbaden) sowie als Straßenbrücke die Theodor-Heuss-Brücke (zwischen der Mainzer Innenstadt und Mainz-Kastel), in deren unmittelbarer Nähe auch die alte Römerbrücke gestanden hatte. Die nächste Rheinbrücke im Unterlauf ist die Koblenzer Südbrücke und im Oberlauf die Nibelungenbrücke Worms. An die den Rhein überspannende Schiersteiner Brücke schließt sich die 950 m lange Hochstraße Lenneberg an, ein Brückenbauwerk aus Spannbeton mit 31 Feldern, das das Mombacher Oberfeld seit 1964 überspannt und die Rheinbrücke mit der Hochterrasse am Lenneberg verbindet. Trotz langjähriger Sanierungsarbeiten und Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h mit Radarkontrolle musste die Autobahnbrücke wegen Verschleiß abgerissen werden. Seit dem 20. November 2017 rollt der Verkehr in beide Richtungen über eine neue Brückenhälfte.
=== Industrie ===
In Mainz gab es 2003 74 Betriebe des verarbeitenden Gewerbes mit mindestens 20 Angestellten. Insgesamt sind in den Betrieben über 11.000 Menschen beschäftigt, die einen Gesamtumsatz von über 2,2 Milliarden Euro erwirtschaften. Dazu gab es 2002 79 kleinere Betriebe mit weniger als 20 Angestellten. Industrielle Ansiedelungen finden sich vor allem zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Mombach. Größere dort angesiedelte Unternehmen sind das Mainzer Traditionsunternehmen Werner & Mertz („Erdal“), die Schott AG sowie die DWK Life Sciences. Die Wepa Papierfabrik hat 2006 das hier gelegene einstige Hakle-Werk von dem amerikanischen Hersteller Kimberly-Clark Corporation übernommen und fertigt am Standort Mainz Hygienepapiere.
Die Schott AG (früher Schott Glaswerke) hat ihren Hauptsitz in Mainz seit der Umsiedlung von Jena nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Mainzer Neustadt steht seit den 1950er-Jahren das Hauptwerk. 1988 wurde in Mainz-Marienborn das Schott-Forschungs- und Laborzentrum in Betrieb genommen. 2002 wurde in der Nähe des Hauptwerks in Mainz-Mombach auf dem Gelände der ehemaligen Rheinwerft ein weiterer Zweigbetrieb mit Schwerpunkt Ceran fertiggestellt. Derzeit arbeiten 2.400 der 15.500 Schott-Angestellten weltweit am Standort Mainz.Im Jahr 1965 begann IBM, in Mainz-Hechtsheim ein Werk für Speichersysteme zu errichten. Später wurden hier vor allem Festplatten hergestellt. 2002 wurde mit dem Verkauf des Festplattengeschäfts an Hitachi das Mainzer Werk geschlossen. An dem IBM-Standort arbeiteten aber weiterhin etwa 1700 Mitarbeiter im Bereich der Unternehmensberatung und Softwareentwicklung, deren Zahl bis auf 750 im Jahr 2015 sank. Der Mietvertrag für das Mainzer Areal endete im September 2016; die Verlagerung der bestehenden Arbeitsplätze an die Frankfurter IBM-Standorte Kelsterbach und Sossenheim ist abgeschlossen. Das nun als „Heilig-Kreuz-Areal“ bezeichnete Gelände wird als Baugebiet vermarktet.
Als weiteres Unternehmen im Bereich der Hochtechnologie ist das Pharmaunternehmen Novo Nordisk seit 1958 in der Stadt ansässig. Anfang 2008 arbeiteten dort ca. 450 Menschen. In der Oberstadt konnte 2008 mit Biontech eine expansive Biotechfirma auf dem Gelände der GFZ-Kaserne angesiedelt werden. Auf ältere Wurzeln kann die Niederlassung von Siemens zurückblicken. Sie entstand schon nach der Übernahme des ersten in Mainz errichteten Elektrizitätswerks (erbaut 1898) im Jahr 1903. Ebenfalls im Jahr 1903 wurde die Gewürzmühle Moguntia gegründet, die bis 2001 bestand.
In Mombach gab es die Waggonfabrik Gebrüder Gastell, in der später Straßenbahnen von Westwaggon und Omnibusse von Magirus-Deutz und Iveco gebaut wurden. In Weisenau befindet sich neben der Autobahnbrücke über den Rhein ein mittlerweile stillgelegter Steinbruch der HeidelbergCement, die Produktion wird im Zementwerk Weisenau mit Schiffstransporten weiterversorgt. Daneben befindet sich eine Anlage der ADM Mainz GmbH (früher ADM Soya Mainz) mit Biodiesel-Herstellung.
Im Jahr 1919 wurde in Mainz die Brezelbäckerei Ditsch gegründet, die im September 2012 an die Schweizer Valora-Gruppe veräußert wurde.Mit dem Zukunftsprojekt „BioTechHub“ will die Stadtspitze Mainz zum bedeutenden Biotechnologie-Standort machen. 30 Hektar Fläche sollen für neue Unternehmen im Stadtbereich bereitgestellt werden. Weitere Flächen von 50 Hektar werden seit April 2022 beplant.
=== Weinhauptstadt Mainz/Rheinhessen ===
Seit Mai 2008 sind Mainz und Rheinhessen Mitglied des 1999 gegründeten Great Wine Capitals Global Network (GWC) – einem Zusammenschluss bekannter Weinbaustädte weltweit. Neben Mainz befinden sich in diesem Verbund Städte und Regionen wie Bilbao: Rioja, Bordeaux: Bordeaux (Weinbaugebiet), Florenz: Toskana, Lausanne, Mendoza: Mendoza, Christchurch: South Island von Neuseeland, Porto: Dourotal sowie San Francisco: Napa Valley. Jedes Jahr präsentiert sich einer dieser Partner beim Mainzer Weinmarkt mit Weinen aus der jeweiligen Region und kulinarischen Spezialitäten.
=== Energieversorgung ===
In Mainz wird Strom von den Kraftwerken Mainz-Wiesbaden (KMW), die ein GuD-Kraftwerk Und Kraft-Wärmekopplungs Kraftwerk auf der Ingelheimer Aue betreiben. Das Unternehmen plante dort ab Mitte der 2000er Jahre den Bau eines neuen Kohleheizkraftwerks (KHKW) mit einer elektrischen Bruttoleistung von 820 Megawatt (MW). Obwohl der Bau des Kraftwerks anfangs von den Mainzer und Wiesbadener Stadtparlamenten mehrheitlich befürwortet wurde, scheiterte das Projekt aber an der Akzeptanz in der Bevölkerung. Nach einem Baustopp kurz nach Baubeginn 2009 wurde es im Juni 2012 offiziell beendet.Die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden betreiben gemeinsam mit Remondis und der Stadt Mainz auch eine thermische Abfallverwertungsanlage neben dem GuD-Kraftwerk. Diese Entsorgungsgesellschaft ließ im Zeitraum von Juni 2001 bis November 2003 eine Anlage zur Müllverbrennung errichten, welche 2008 um einen dritten Ofen ergänzt wurde. Als weitere „Investition in die Zukunft“ wurde von 2017 bis 2021 eine Klärschlammverbrennungsanlage in Mainz-Mombach errichtet. Die Betreibergesellschaft der Anlage, die Thermische Verwertung Mainz (TVM) GmbH, setzt sich zusammen seit dem Beginn des Planungsprozesses 2011 aus den beteiligen Gebietskörperschaften, deren Klärschlamm zentral in Mainz verwertet wird, Mainz, Kaiserslautern und der Zweckverband Unterer Selz aus Ingelheim. Inzwischen hat sich auch die benachbarte Landeshauptstadt Wiesbaden entschieden, Klärschlamm in Mainz verbrennen zu lassen. Dieses Projekt rief ebenso wie die Müllverbrennungsanlage Widerstand in der Mombacher Bevölkerung hervor.
Bei den erneuerbaren Energien ist Mainz mit verschiedenen Technologien vertreten. Neben einigen Windenergieanlagen rund um die Stadtteile Ebersheim und Hechtsheim werden immer mehr Photovoltaikanlagen errichtet. Beispiele sind das Staatstheater, das Abgeordnetenhaus, das Bruchwegstadion oder Aussiedlerhöfe bei Bretzenheim. Zukünftig will sich die Stadt, die auf Platz 15 unter den Großstädten in der Solarbundesliga liegt (Stand April 2010) bzw. Platz 21 (Stand Januar 2018), noch stärker als bisher als Solarstadt profilieren.Der Bau eines großen Blockheizkraftwerks in Kombination mit einem Fernwärmespeicher auf dem KMW-Gelände sollte bis Frühjahr 2019 fertiggestellt werden. Die Inbetriebnahme fand tatsächlich am 12. Februar 2021 statt.Im Energiepark in Mainz-Hechtsheim wurde 2015 eine Anlage zur Wasserelektrolyse in Betrieb genommen. Als erstes Power-to-Gas-Projekt dieser Größenordnung in Deutschland wird hier mittels überschüssigem Strom Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Seit 2017 befindet es sich im kommerziellen Testbetrieb. Seine Energie bezieht es von den nahe gelegenen Windkraftanlagen zwischen Hechtsheim und Klein-Winternheim. Im Energiepark kann den Strom von bis zu drei 2-MW-Windrädern unter Volllast umgewandelt werden.
=== Medien ===
Die Stadt Mainz ist Sitz des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), des Landesfunkhauses Rheinland-Pfalz des Südwestrundfunks (SWR), des Sendezentrums des Fernsehsenders 3sat, des privaten Radio Rockland Pfalz GmbH & Co. KG (seit Mai 2008) sowie des Studios Rhein-Main der privaten Rheinland-Pfälzischen Rundfunk GmbH & Co KG RPR. Seit Oktober 2011 sendet Antenne Mainz als erster privater Stadtradiosender für Mainz. An regionalen Fernsehangeboten gibt es neben einem Offenen Kanal auch den Sender gutenberg.tv, der sich als „Kultur- und Wissenschaftssender für und in Rheinland-Pfalz“ vorstellt; er wird auf den Kabelkanälen des ehemaligen Mainzer Senders K3 Kulturkanal verbreitet, dessen Sendelizenz im Jahr 2010 auslief. Seit März 2012 sendet gutenberg.tv aus finanziellen Schwierigkeiten nicht mehr.Weitere Medienunternehmen sind die BFE Studio und Medien Systeme GmbH, die komplette Studioeinrichtungen und Einrichtungen für Übertragungswagen produziert, und die VRM, die mit 21 täglich erscheinenden Druckerzeugnissen jeden Tag eine halbe Million Leser in Rheinland-Pfalz und Hessen erreicht.
Als Tageszeitung erscheint die Allgemeine Zeitung Mainz. Ende 2013 wurde der Ableger der Koblenzer Rhein-Zeitung, die Mainzer Rhein-Zeitung, eingestellt, da der Verleger Walterpeter Twer die Ausgabe für nicht mehr profitabel genug hielt. Weitere Printmedien sind die Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte sowie verschiedene Stadtmagazine wie z. B. die STUZ, der Sensor oder Der Mainzer.
Mainz war bis Ende 2010 Sitz des traditionsreichen Verlages Philipp von Zabern. 1802 in Mainz gegründet ist der Zabern-Verlag international auf den Gebieten der Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte führend und seit 2011 in Darmstadt ansässig.
Mainz ist ferner Sitz des Musikverlags Schott Music.
Seit 2001 findet in Mainz mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos das erste Langfilmfestival des Landes Rheinland-Pfalz statt.
Die Medienunternehmen gehören zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Allein das ZDF beschäftigte 2019 rund 3.500 feste Mitarbeiter, die Verlagsgruppe Rhein-Main 1.200 (2005).
=== Sonstige Dienstleistungsunternehmen (Auswahl) ===
In Mainz als Kongressstadt, die durch ihre Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen viele Besucher anlockt, sind zahlreiche Hotels ansässig. Im Transportsektor war die Stadt Sitz der Spedition G.L. Kayser, deren Gründung auf das Jahr 1787 zurückgeht. Das ehemalige Familienunternehmen ging in der Firma Kühne + Nagel auf, deren Mainzer Niederlassung in Mainz-Hechtsheim liegt. Ebenfalls in Mainz-Hechtsheim befindet sich der Sitz der J. F. Hillebrand Group. Der Logistikspezialist mit 48 Tochtergesellschaften ist Weltmarktführer für den Transport von Wein und Spirituosen.Mainz verfügt als Weinstadt über bedeutende Selbsthilfeeinrichtungen der Weinwirtschaft und auch sonst spielt Wein als Wirtschaftsfaktor und Tourismusattraktion eine große Rolle in der Stadt.
Im Mainz befinden sich die Mainzer Volksbank als größte rheinland-pfälzische Volksbank sowie die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB). Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall hat ihre Hauptverwaltung in Mainz-Weisenau. Die Lederindustrie-Berufsgenossenschaft hatte ihre Hauptverwaltung ebenfalls in Mainz. Zum 1. Januar 2010 schloss sie sich mit fünf weiteren Berufsgenossenschaften zur Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie zusammen, die in Mainz mit ihrer Bezirksdirektion für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland vertreten ist. Darüber hinaus hat die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft eine Bezirksverwaltung im Gonsenheimer Gewerbegebiet Kisselberg.Im Gewerbegebiet Kisselberg haben neben der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft Coface Deutschland und die Aareon AG ihren Sitz.
=== Organisationen (Auswahl) ===
Mainz ist Sitz des Landgerichts Mainz und des Amtsgerichts Mainz. Mainz gehörte seit 1803 zum Gerichtsbezirk des Friedensgerichts Mainz I. Dieses wurde 1879 durch das Amtsgericht Mainz abgelöst.
Mainz ist Sitz des Landesverbandes Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland (THW LV HERPSL) sowie des Ortsverbandes Mainz (THW OV MZ) des Technischen Hilfswerks (THW).
Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen hat einen Dienstsitz in Mainz.
Mainz verfügt über eine Berufsfeuerwehr mit zwei Wachen sowie mehreren Freiwillige Feuerwehren in den Stadtteilen.
=== Behörden und Einrichtungen (Auswahl) ===
Neben der Landesregierung von Rheinland-Pfalz befinden sich unter anderem folgende Behörden und Einrichtungen in Mainz:
Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz
Zollamt Mainz
IHK für Rheinhessen
Handwerkskammer Rheinhessen
Landesärztekammer Rheinland-Pfalz
Städtetag Rheinland-Pfalz
Landkreistag Rheinland-Pfalz
=== Bildung und Forschung ===
Mainz war schon in früher Zeit eine Stadt der Bildung. Erstes Zentrum war das Stift St. Alban vor Mainz, dessen Ruhm als Klosterschule auf den Alkuin-Schüler und Mainzer Erzbischof Rabanus Maurus († 856) zurückgeht. 1477 wurde Mainz Universitätsstadt. Nach Aufhebung Ende des 18. Jahrhunderts nahm die neue Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 15. Mai 1946 wieder ihren Lehrbetrieb auf. Für die Studienrichtung Medizin ist die Medizinische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität die einzige Studienmöglichkeit in Rheinland-Pfalz. Ihr steht das Universitätsklinikum Mainz zur Verfügung, das ebenfalls die einzige Einrichtung dieser Art in Rheinland-Pfalz ist. Einmalig in der bundesdeutschen Hochschullandschaft ist die Integration der Hochschule für Musik, der Akademie der Bildenden Künste und des Sports in die Universität. Die Johannes Gutenberg-Universität gehört mit knapp 11.000 Beschäftigten, davon alleine 7700 bei der Universitätsmedizin, zu den größten Arbeitgebern der Stadt.
In Kooperation mit der Universität stehen das Max-Planck-Institut für Chemie (Otto-Hahn Institut) und das Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Die Stadt Mainz ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft.1971 wurde die Hochschule Mainz als Teil der Fachhochschule Rheinland-Pfalz gegründet, die sich über mehrere Standorte verteilt. Vorgängereinrichtungen der Hochschule Mainz waren unter anderem Bildungseinrichtungen für Bauingenieure, Kunsthandwerker und Künstler. 1996 wurde sie als eigenständige Fachhochschule mit drei Fachbereichen neu gegründet (Architektur, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Vermessung; Gestaltung; Wirtschaftswissenschaften).
Ein Jahr später wurde die Katholische Hochschule (KH Mainz) für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Praktische Theologie gegründet. Sie wird von den Bistümern Mainz, Limburg, Fulda, Speyer, Trier und Köln getragen.
Das Peter-Cornelius-Konservatorium bietet Musikstudium (Orchesterfach, Künstlerische Reife, Diplom, auch in Kooperation mit der Hochschule für Musik der Universität) sowie eine umfangreiche Musikschulabteilung.
Daneben gibt es in Mainz noch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die hier 1949 gegründet wurde, das von Land Rheinland-Pfalz und Bund getragene Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Mitglied der AHF) und die Volkshochschule Mainz, die auch eine Sternwarte betreibt.
Das Bildungswerk der Diözese Mainz wurde am 1. Mai 1963 gegründet. Es fördert „… die kirchliche Erwachsenenbildung im Bistum von der Gemeinde- bis zur Bistumsebene …“. Das Bildungswerk ist u. a. Mitglied der Katholischen Erwachsenenbildung Hessen – Landesarbeitsgemeinschaft.
Mit dem Thema Zeit Reise gehörte Mainz zu den zehn deutschen Städten zum Treffpunkt der Wissenschaft im Wissenschaftsjahr 2009. 2011 war Mainz Stadt der Wissenschaft.
=== Medizinische Versorgung ===
Die medizinische Versorgung in Mainz übernehmen insgesamt sechs Krankenhäuser mit unterschiedlichen Verwaltungsträgern sowie 713 niedergelassene Ärzte und 62 Apotheken. (Stand: 30. Juni 2014). Das Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die größte Einrichtung zur medizinischen Versorgung in Mainz. Es teilt sich in 60 verschiedene Fachkliniken, Institute und Abteilungen auf. Mit einer Ausstattung von 1500 Betten werden pro Jahr circa 325.000 Personen behandelt, davon circa 65.000 ambulant. Zusätzlich dient das Klinikum der universitären Ausbildung der rund 3300 Studierenden der medizinischen Wissenschaft.
Das Marienhaus Klinikum Mainz (bis 2021 Katholisches Klinikum Mainz, kurz "kkm") fasste 2017 das St. Hildegardis-Krankenhaus und das St. Vincenz- und Elisabeth-Hospital am Standort „An der Goldgrube“ zusammen. Als Träger fungiert die Marienhaus Gruppe,. In der Einrichtung gibt es spezielle Fachzentren für Brust-, Darm-, Lungen- und Schilddrüsenerkrankungen sowie weiteren 19 Fachabteilungen. Mit insgesamt 717 Betten ausgestattet, werden pro Jahr circa 45.000 Patienten ambulant und stationär behandelt. Für das Klinikum in der Mainzer-Oberstadt wurde das Programm „kkm 2025“ aufgesetzt, welches einen Zuwachs von ca. 4.500 auf mehr als 50.000 Patienten jährlich bedeutet.Das DRK Schmerz-Zentrum Mainz steht unter der DRK Trägergesellschaft Südwest und ist eine Spezialklinik zur Abklärung und Behandlung akuter und chronischer Schmerzen. Mit 80 stationären Betten, 24 teilstationären Plätzen und einer Ambulanz mit 5.000 Patienten im Jahr gehört sie zu den größten Schmerzkliniken Europas. Die FONTANA-Klinik GmbH für Plastische Chirurgie in Mainz-Finthen sowie die Römerwallklinik GmbH als Klinik für HNO-Erkrankungen befinden sich beide in privater Trägerschaft.
Zu den genannten Einrichtungen kommt noch das überregional tätige Kinderneurologisches Zentrum Mainz, ein ambulantes Behandlungszentrum für Sozialpädiatrie mit Spezialambulanz für Spina bifida und Hydrocephalus. Es befindet sich in Trägerschaft des Landeskrankenhauses Rheinland-Pfalz.
=== Bundeswehr ===
Mainz ist seit 1956 Standort der Bundeswehr. Im Stadtgebiet befinden sich derzeit zwei Liegenschaften, in denen insgesamt rund 400 Soldaten und zivile Mitarbeiter beschäftigt sind.
Der größte Standort ist die Kurmainz-Kaserne (KMK) in Hechtsheim, gefolgt von der Generalfeldzeugmeister-Kaserne (GFZ) in der Oberstadt, deren Räumung bis 2021 noch nicht abgeschlossen war. In den Kasernen sind zahlreiche Dienststellen untergebracht, unter anderem die 8./ Feldjägerregiment 2, das Karrierecenter der Bundeswehr Mainz, das Landeskommando Rheinland-Pfalz sowie eine Sanitätsstaffel. Mainz ist außerdem Standort einer Sportfördergruppe sowie einer Außenstelle der MAD-Stelle 4.
Im ehemaligen Neuen Proviantamt an der Rheinallee, auch „Militärbrotbäckerei“ genannt, befand sich bis zu dessen Auflösung das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum Mainz; durch die Wohnbau Mainz wir hier Wohnen und Kultur realisiert. In der Kapellenstraße in Gonsenheim hatte zudem das Kreiswehrersatzamt Mainz bis 2006 seinen Sitz.
Der prominenteste Standort in Mainz war der Osteiner Hof, von dessen Balkon alljährlich die Fastnacht ausgerufen wird. In dem historischen Gebäude am Schillerplatz befand sich der Dienstsitz des Befehlshabers des Wehrbereichskommandos II sowie das Offizierskasino. Der Osteiner Hof diente bis 31. März 2014 auch als Standortkommandantur der Bundeswehr. Die Standorte Osteiner Hof, Rheinallee und Kapellenstraße wurden mittlerweile durch die Bundeswehr aufgegeben und an private Investoren veräußert.
Aus Kosten- und Effizienzgründen gibt es Pläne, den Standort Mainz weiter umzustrukturieren. Alle Truppenteile aus der Generalfeldzeugmeister-Kaserne sollen zukünftig in die erweiterte und modernisierte Kurmainz-Kaserne umziehen.
Die Verbundenheit der Stadt zur Bundeswehr sollte auch durch ein öffentliches Feierliches Gelöbnis am 27. Mai 2008 gezeigt werden. Obwohl in Mainz selbst keine Grundausbildung durchgeführt wird, legten 130 Rekruten des Feldjägerbataillons 251 am 176. Jahrestag des Hambacher Fests vor dem Deutschhaus, dem Sitz des Rheinland-Pfälzischen Landtags, ihr Gelöbnis ab. Bereits 2000 fand in Mainz ein öffentliches Gelöbnis statt.
In Mainz gibt es zudem vier Reservistenkameradschaften (RK), die RK Mainz, die RK Kurmainz, RK Fürst Blücher sowie RK Finthen mit zusammen rund 400 Mitgliedern. Mainz ist auch Sitz der Landesgeschäftsstelle RLP + Kreisgeschäftsstelle Mainz des Vereins Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V.
Die Reservistenkameradschaften sind der Kreisgruppe Rheinhessen angegliedert.
== Kultur ==
=== Überblick ===
Als Stadt in der Großregion nahm Mainz am Programm des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2007 teil.
=== Film ===
Mit dem FILMZ – Festival des deutschen Kinos wurde im Jahr 2001 das erste Langfilmfestival in Rheinland-Pfalz gegründet. Das Festival gibt einen Überblick über die aktuellen deutschsprachigen Produktionen und die Bandbreite der jungen Filmentwicklung. Anfang Dezember jeden Jahres verleiht FILMZ Preise für Lang- und Kurzfilme. Die Regisseure, Schauspieler und weitere Teammitglieder der Filme sind als Gäste anwesend. Neben dem Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken, den Hofer Filmtagen und dem Festival des deutschen Films in Ludwigshafen ist das Mainzer FILMZ eines der wichtigsten Festivals, das die aktuelle Entwicklung des jungen deutschen Films verfolgt.
=== Theater ===
In Mainz gibt es mehrere Bühnen, auf denen Theateraufführungen und Konzerte stattfinden. Das größte und das Stadtbild am meisten prägende Theater ist das Staatstheater am Gutenbergplatz. Das Staatstheater ist unterteilt in das Große Haus (siehe Bild), das Kleine Haus, das Glashaus sowie die Studiobühne U17.
Der nicht nur als Theater fungierende „Frankfurter Hof“ existiert bereits seit 1800 und kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Ursprünglich handelte es sich um ein Gasthaus mit Festsaal. Ab 1842 fanden hier die ersten Fastnachtssitzungen der gerade entstehenden Fastnacht statt. Während der Revolution von 1848 trafen sich hier die Demokraten der Stadt und bereiteten die Wahlen zur Nationalversammlung vor. Danach wurde der Hof mehrmals Schauplatz kirchlicher Veranstaltungen wie z. B. der Katholikentage von 1851 und 1871. 1944 wurde in den Sälen ein Kino eingerichtet. 1972 kaufte die Stadt das mittlerweile weitgehend ungenutzte und verfallene Gebäude. Nach einer Initiative zur Rettung des Hofes wurde er 1991 als „Kulturelles Zentrum“ renoviert und seiner heutigen Bestimmung zugeführt.
Neben diesen größeren Häusern gibt es mehrere kleinere Häuser wie die Mainzer Kammerspiele, das Mainzer Forumtheater unterhaus (mit dem „unterhaus im unterhaus“) oder das Theater im Loft des Tournéetheaters Teatro d’Arte Scarello sowie die 2005 gegründete Showbühne Mainz. In ihnen findet auch Kabarett, Comedy und Boulevardtheater statt. Auch wird hier jungen und unbekannten Künstlern eine Bühne geboten. Außerdem bietet das im Kulturzentrum M8-Bühne (im Haus der Jugend Mainz) beheimatete freie Jugendtheater Junge Bühne Mainz ein vielseitiges Programm für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Theaterinteressierte aller Altersstufen.
=== Orchester ===
Das Philharmonische Staatsorchester Mainz, gegründet 1876, hat seinen festen Sitz im Theatergebäude. Hauptaufgabe des Orchesters ist die musikalische Begleitung von Musiktheaterstücken wie Opern und Operetten am Theater. Daneben bildet die Aufführung von Sinfoniekonzerten einen weiteren wichtigen Bereich.
UniOrchester der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Mainzer Kammerorchester
Bläser-Ensemble Mainz – Das Ensemble wurde 1967 von Klaus Rainer Schöll gegründet und widmet sich der Musik von Gabrieli bis zur Moderne.
Akkordeon-Orchester Mainz
Sinfonisches Blasorchester des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1991 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Bläserensemble des Peter-Cornelius-Konservatoriums, 1981 gegründet von Gerhard Fischer-Münster
Sinfonietta Mainz
Rheinische Orchesterakademie Mainz e. V. (ROAM)
Landespolizeiorchester Rheinland-Pfalz
=== Chöre ===
Der Mainzer Domchor geht auf eine Gründung des Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler im Jahr 1866 zurück. Er bildet sich aus Knaben- und Männerstimmen und umfasst über 160 Mitglieder. Hauptaufgabe des Chores ist die Begleitung der Stifts- und Pontifikalämter im Mainzer Dom.
UniChor der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Domkantorei St. Martin ist ein 1987 gegründeter gemischter Chor. Neben der Begleitung der Domgottesdienste tritt er auch zu regulären Konzerten auf.
Der Mädchenchor am Dom und St. Quintin, Mainz wurde 1994 gegründet. Hauptaufgabe des Chores ist die musikalische Gestaltung der Gottesdienste im Hohen Dom zu Mainz und in der Pfarrkirche St. Quintin.
Bachchor Mainz
Der Mainzer Figuralchor wurde 1979 von Stefan Weiler gegründet und bis zu seiner Auflösung im Jahr 2014 geleitet. Er führte geistliche und weltliche A-cappella-Werke aller Stil-Epochen sowie oratorische Kompositionen auf. Ein besonderer Akzent lag auf den Werken Johann Sebastian Bachs und zeitgenössischer Komponisten.
Johanniskantorei Mainz
Das Ensemble Chordial wurde 2008 von Mainzer Studenten gegründet und probt in der Evangelischen Studierenden-Gemeinde. Das Repertoire des Chores reicht von Werken des Barocks über romantische und impressionistische Stücke bis hin zur Moderne.
Mainzer Singakademie
Colours of Gospel sind ein 1998 gegründeter und von Collins Nyandeje geleiteter Gospelchor
Die Uferlosen wurden 1997 als gemischter lesbischwuler Chor gegründet.
Das Ensemble Vocale Mainz wurde 1984 von Wolfgang Sieber als kleines Vokalensemble gegründet und hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einem Kammerchor entwickelt, der sich vor allem A-cappella-Literatur widmet und mit der Pfarreikirche St. Bonifaz kooperiert.
convivium musicum mainz (Junger Chor am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Capella Moguntina ist ein im Jahr 2006 gegründetes junges Ensemble für Kirchenmusik an St. Quintin. Der Chor besteht derzeit aus 20 Mitgliedern, die sich dem Studium und der Aufführung geistlicher Vokalmusik der Renaissance und des Barocks zur Aufgabe gemacht haben. Das Repertoire ist sowohl in die Liturgie an der Pfarrkirche St. Quintin als auch in verschiedene Konzerte eingebettet und umfasst Werke bis in die Moderne.
Die Kinder- und Jugendkantorei St. Alban, welche 1971 von ihrem Chorleiter Heinz Lamby gegründet wurde, zählt heute rund 40 Mitglieder.
Die 1988 gegründete Chorabteilung des Peter Cornelius Konservatoriums umfasst einen Kinder- und einen Jugendchor sowie den Peter-Cornelius-Chor.
Der 1978 gegründete Mainzer Madrigalchor ist ein gemischter Kammerchor und auf vokale Arrangements aus Renaissance und Barock spezialisiert.
=== Museen ===
Die Mainzer Museenlandschaft ist von historischen Museen geprägt. Das bereits 1852 gegründete Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM) war im Kurfürstlichen Schloss untergebracht und wird als Leibniz-Zentrum für Archäologie in einem Neubau in der südlichen Mainzer Altstadt in direkter Nachbarschaft zum Museum für antike Schifffahrt Ende 2024 neu eröffnet werden. Neben Sammlungen zur Vor- und Frühgeschichte, zur römischen Geschichte und zum frühen Mittelalter besitzt das Museum umfangreiche Restaurierungswerkstätten. Diese gehören zu den weltweit größten Einrichtungen ihrer Art und genießen internationalen Ruf. Sie werden mit der Konservierung und Restaurierung weltweit bedeutender archäologischer Funde wie z. B. des Gletschermanns aus Südtirol oder des Goldschatzes von Sipán (Grabbeigaben eines vorinkazeitlichen Fürsten aus Peru) beauftragt.
Eine breiter angelegte Sammlung von der Steinzeit bis in die Moderne bietet das Landesmuseum Mainz. Das Landesmuseum Mainz wurde 1803 gegründet und ist somit eines der ältesten Museen in Deutschland. Es ist im Zentrum von Mainz in der Großen Bleiche im ehemaligen kurfürstlichen Marstall, der „Golden-Ross-Kaserne“, beheimatet und beherbergt die bedeutendste Kunstsammlung des Landes Rheinland-Pfalz. Aus der Zeit des römischen Mogontiacum wird eine Vielzahl von Exponaten ausgestellt. Beeindruckend sind vor allem die zum Teil monumentalen Steindenkmäler in der sogenannten Steinhalle, unter anderem auch die Originalfunde der Große Mainzer Jupitersäule und des Dativius-Victor-Bogens. Ebenfalls bedeutend sind der „Mainzer Römerkopf“, das qualitativ hochwertige Porträt eines Angehörigen des Julisch-Claudischen Kaiserhauses und der Bronzekopf einer Frau, möglicherweise der Kopf der keltischen Göttin Rosmerta. Die umfangreiche Gemäldesammlung des Museums geht auf eine Schenkung von 36 Bildern durch Napoleon zurück, die auch Anlass der Gründung des Museums war.
Einen weiteren tiefen Einblick in die Geschichte des römischen Mainz ermöglicht das Museum für Antike Schifffahrt, in dem die Römerschiffe ausgestellt sind, die 1980/81 bei den Bauarbeiten für einen Hotelkomplex am Rheinufer gefunden wurden, sowie das Heiligtum der Isis und Mater Magna, das ebenfalls bei Bauarbeiten entdeckt wurde und im Untergeschoss der heutigen Römerpassage zu besichtigen ist. Die im Heiligen Bereich gemachten Funde werden dort zusammen mit den baulichen Überresten seit 2003 in einer nach modernsten museumspädagogischen Aspekten multimedial inszenierten Ausstellung gezeigt.
Im weltweit einmaligen Museum für Druckkunst, dem Gutenberg-Museum, erhält man einen Einblick in die von Johannes Gutenberg in Mainz erfundene Drucktechnik. Das Museum verfügt zudem über zwei der 49 erhaltenen Gutenbergbibeln. Umfangreiche Exponate zur Geschichte der Drucktechnik, der Typographie und des mechanischen Drucks ergänzen die Sammlungen des Museums.
Das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum im Kreuzgang des Mainzer Doms informiert über die Geschichte der romanischen Bischofskirche und des Bistums Mainz. Der närrischen Historie der Stadt ist das Mainzer Fastnachtsmuseum gewidmet. Daneben gibt es für einen allgemeinen Überblick auch noch das Stadthistorische Museum auf dem Gelände der Zitadelle Mainz. Das Naturhistorische Museum ist das größte seiner Art in Rheinland-Pfalz. Schwerpunkte der Museumsarbeit liegen in den Bio- und Geowissenschaften. Das Mainzer Garnisonsmuseum ist stilgerecht auf der Zitadelle in drei Kasematten zwischen dem Kommandantenbau und der Bastion Germanicus untergebracht und zeigt die über 2000-jährige Geschichte der Festungsstadt Mainz. Zeitgenössische Kunst zeigt die Kunsthalle Mainz im Mainzer Zollhafen.
=== Bibliotheken ===
Mainz kann als Geburtsstadt der Druckkunst auf eine lange Tradition von Bibliotheken und Büchersammlungen zurückblicken. Den Anfang machte die Bibliotheca Universitatis Moguntinae der 1477, also im Spätmittelalter, gegründeten Kurfürstlichen Universität. Diese bildete 1805 den Grundstock für die auf direkte Anordnung des französischen Innenministers Champagny gegründete Mainzer Stadtbibliothek. Weitere bis heute erhaltene Altbestände an Büchern der nunmehr städtischen Bibliothek resultieren aus den Büchersammlungen der Ende des 18. Jahrhunderts aufgelösten Klöster wie z. B. Kartause, Reichklara und Altmünster sowie der 1773 nach Aufhebung des Jesuitenordens aufgelösten Niederlassung des Ordens in Mainz.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand die Mainzer Stadtbibliothek ihre dauerhafte Bleibe in einem neu errichteten Jugendstilgebäude an der Mainzer Rheinallee in direkter Nachbarschaft zum Kurfürstlichen Schloss. Die Mainzer Stadtbibliothek gliedert sich heute in die Wissenschaftliche Stadtbibliothek und in die Öffentliche Bücherei mit breitem Angebot, das sich an alle Mainzer Bürger richtet. Diese fand Anfang der 1980er-Jahre als „Öffentliche Bücherei Anna Seghers“ ihren dauerhaften Platz in einem der beiden Hochhaustürme am Bonifaziusplatz in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs. Teile der Öffentlichen Bücherei sind in Form von fünf Stadtteilbüchereien ausgelagert.
Der Aufbau der heutigen Universitätsbibliothek Mainz begann 1946 im Zuge der Wiedereröffnung der Mainzer Universität. Am Anfang der Nachkriegsgeschichte in Mainz stand der Aufbau von dezentralen Bibliotheken. Erst danach wurde die Universitätsbibliothek/Zentralbibliothek gegründet, die 1964 ein eigenes neues Gebäude bezog. Ihr Bestand umfasst in der Hauptsache Werke der letzten hundert Jahre. Das letzte Jahrzehnt stand im Zeichen des Aufbaus von fachübergreifenden Bereichsbibliotheken als Bestandteilen der Universitätsbibliothek und der Bereitstellung eines breiten elektronischen Angebots.
Die Martinus-Bibliothek im Arnsburger Hof in der Mainzer Altstadt ist die wissenschaftliche Diözesanbibliothek des Bistums Mainz. Sie ist mit etwa 300.000 Bänden und 200 dauernd gehaltenen Zeitschriften ausgestattet. Dazu kommen 900 Inkunabeln und 120 Handschriften, die bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Sie ist eine der größten öffentlichen Spezialbibliotheken für Philosophie und Theologie.
=== Literatur ===
Durch die besondere Verbindung der Stadt Mainz mit dem Wirken Gutenbergs widmet sich die Stadt im kulturellen Bereich intensiv der Literatur und der dazugehörenden Druckkunst. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene Mainzer Johannisnacht (drittes Wochenende im Juni) widmet sich im kulturellen Programmbereich mit zahlreichen Aktivitäten der Literatur und dem Andenken Gutenbergs.
Der Mainzer Stadtschreiber ist ein 1984 gestifteter Literaturpreis der Fernsehsender ZDF und 3sat sowie der Stadt Mainz. Namhafte Autorinnen bzw. Autoren werden für ein Jahr zur Mainzer Stadtschreiberin bzw. zum Mainzer Stadtschreiber mit Wohnsitz im Stadtschreiberdomizil des Gutenberg-Museums in Mainz ernannt. Unter den Mainzer Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber finden sich bekannte Autoren wie z. B. Sarah Kirsch (1988), Horst Bienek (1989), Peter Härtling (1995), Hanns-Josef Ortheil (2000), Urs Widmer (2003) oder Monika Maron (2009).
Zusätzlich vergibt die Stadt Mainz den Literaturförderpreis der Stadt Mainz. Dieser Preis wird alle zwei Jahre vergeben. Preisträger sind junge Mainzer Autoren. Die Organisation obliegt dem LiteraturBüro Mainz.
Die Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) ist die größte Buchmesse der Kleinverlage und künstlerischen Handpressen in Europa. Sie findet seit 1970 alle zwei Jahre in Mainz statt, bis 2011 in Großzelten am Mainzer Rheinufer, seit 2013 in der Mainzer Rheingoldhalle. Im Rahmen dieser Messe vergibt die Stadt Mainz seit 1979 zu Ehren von Victor Otto Stomps den V.O. Stomps-Preis für „herausragende kleinverlegerische Leistungen“.
Im November findet das Literaturjahr in Mainz mit der Mainzer Büchermesse im Rathaus seinen Ausklang. Diese Buchmesse wird seit 2001 in der heutigen Form von der Arbeitsgemeinschaft Mainzer Verlage organisiert, die dort ihre Werke vorstellen. Die Buchmesse steht jedes Jahr unter einem anderen Thema, welches in Form von Vorträgen, Lesungen, Workshops usw. dem interessierten Publikum dargeboten wird.
=== Clubs und Diskotheken ===
Die Clubs werden insbesondere von den zahlreichen Studierenden der Stadt besucht. Mittwochs ist der Eintritt in den Clubs vielerorts frei oder günstiger.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
Januar/Februar/März: Mainzer Fastnacht mit zahlreichen Prunksitzungen (darunter Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht), Mainzer Rosenmontagszug und Fastnachtsbällen (z. B. der Prinzengardenball)
Februar: Verleihung des deutschen Kleinkunstpreises im unterhaus
März: Rheinland-Pfalz Ausstellung bis 2004 im Volkspark, ab 2005 im Gewerbepark Hechtsheim-Süd
März: Mainzer-Tanztage (9 Tage Programm zu Bewegung, Rhythmus und Tanz in Mainz und Umgebung bzw. Rheinhessen)
Mai: Mainzer Minipressen-Messe; Gutenberg-Marathon
Mai/Juni: Open-Ohr-Festival in der Zitadelle
Mai bis September: Kulturprogramm „Mainz lebt auf seinen Plätzen“
Juni: Johannisnacht (Volksfest)
Juni: Run for children – Benefiz-Veranstaltung für Kinderhilfsprojekte
Juli: Mainzer Bierbörse
Juli: Mainzer Sommerlichter
Letzter Samstag im Juli: Sommerschwüle – lesbisch-schwules Fest mit überregionalem Publikum (jährlich seit 1993; bis 2003 in der Alten Ziegelei, ab 2004 im KUZ)
Juli/August: Skate Nights
August/September: Mainzer Weinmarkt
September: Interkulturelle Woche; Mainzer Museumsnacht
Oktober: Mainzer Oktoberfest
Oktober: Mantelsonntag
Oktober: Stijlmarkt
November/Dezember: FILMZ – Festival des deutschen Kinos, Mainzer Büchermesse; Weihnachtsmarkt; ein- bis zweijährlich Akut-Festival für Jazz
=== Kulinarische Spezialitäten ===
Mainz ist sowohl aufgrund der Historie wie auch der geografischen Lage eng mit dem Weinanbau verbunden. Im Stadtgebiet von Mainz gibt es verschiedene Weinlagen, aus denen hochprämierter Mainzer Wein gewonnen wird. Der Wein wird dabei noch oft in der Mainzer Stange als „Schoppen“ serviert. Wer den Wein lediglich probieren will, trinkt aus einem Piffche. Aus der Weinkultur stammen auch einige der traditionellen Gerichte, die im Mainzer Raum seit langem nachzuweisen sind: Spundekäs, Handkäs mit Musik und der Mainzer Käse sind Gerichte, die in Weinstuben zum Wein gereicht werden. Auch die Kombination von Pellkartoffeln (im Dialekt Quellmänner), Butter, Leberwurst und Salz hat als früheres Mainzer Gericht für arme Bevölkerungsschichten noch überlebt. Auch Nierenspieße oder Nierenragout sind in der Mainzer Küche zu finden. Ebenfalls als typisches Mainzer Gericht gilt in dieser Kombination auch Weck, Worscht un Woi. Die Nähe zu Rheinhessen sorgt dafür, dass auch die kulinarischen Spezialitäten des Umlandes gerne gegessen werden und eine echte Abgrenzung nicht existiert. Durch die lange Tradition der Mainzer jüdischen Gemeinde haben sich auch Spezialitäten aschkenasischer Juden (miminhagei jehudei ashkenas) erhalten, die erstmals von Jakob ben Moses haLevi Molin beschrieben wurden. Dazu zählt beispielsweise die Grüne Sauce.
Zu den bekanntesten Sektkellereien gehört die Kupferberg-Sektkellerei. Aber auch Bier wurde früher in Mainz gebraut. Bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Gasthaus- und Großbrauereien. Zu den bekanntesten, heute nicht mehr existierenden Brauereien zählten die Mainzer Aktien-Bierbrauerei und die früh auf die Frankfurter Binding-Brauerei übergegangene Schöfferhof-Brauerei. Heute gibt es neben der Gasthausbrauerei Eisgrub auch die zwei Brauereien KuehnKunzRosen und Eulchen Brauerei, die für den lokalen und überregionalen Markt Bier herstellen.
Das Dom-Café wurde 1792 als erstes Kaffeehaus in Mainz und eines der ältesten überhaupt im heutigen Deutschland eröffnet. Franz-Anton Aliski erhielt vom Mainzer Domkapitel im Frühjahr 1792 die Konzession, in einem der gerade von Franz Neumann geschaffenen Domhäuser am Marktportal des Domes ein Kaffeehaus mit handwerklich produzierten Torten, Kuchen, Pralinés, Petits Fours, Speiseeis und Pâtisserie nach Wiener Art einzurichten. Mainz war zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum der Konterrevolutionäre und beherbergte viele heimatlose Adelige. Die spätere österreichische Garnison nahm dieses heimatliche Angebot gerne an. Seitdem besteht in Mainz eine florierende Kaffeehausszene. Aus dieser Tradition heraus stammt auch noch die Beliebtheit von Brezeln und Salz-/Kümmelstangen.
Der Mainzer Schinken war eine Spezialität der Mainzer Metzger, die vor allem in Frankreich sehr populär war. Bis zum Ersten Weltkrieg exportierte Mainz die Delikatesse in die Markthallen von Paris. Von François Rabelais wird diese Spezialität in seinem mehrbändigen humoristischen Romanzyklus um die beiden Riesen Gargantua und Pantagruel mit dem Bayonner Schinken qualitativ gleichgestellt. In Frankreich wird der Jambon de Mayence nach wie vor in einem Kinderlied besungen und im heutigen Mainz als alte Mainzer Spezialität gerade wiederentdeckt und hergestellt.
== Sport ==
=== Sportveranstaltungen und Wettkämpfe (Auswahl) ===
Seit dem Jahr 2000 findet in Mainz alljährlich der Gutenberg-Marathon statt.
Von 2001 bis 2010 fand in Mainz die zuvor in Frankfurt durchgeführte Veranstaltung Chess Classic statt, bei der in der Rheingoldhalle der inoffizielle Titel des Schnellschachweltmeisters vergeben wurde.
Seit 2002 richtet der TriathlonClub EisheiligenChaos Triathlonwettkämpfe in Mainz aus, seit 2003 unter dem Namen Mainzer City-Triathlon. Seit dem Jahr 2004 werden außerdem Kinder- und Schülerwettkämpfe organisiert.
=== Mannschaftssport (Auswahl) ===
Mainz weist im sportlichen Bereich vor allem in den Stadtteilen und Vororten eine Vielfalt von Vereinen auf, so auch im Fußball. Der erfolgreichste Fußballverein der Stadt Mainz ist der 1. FSV Mainz 05. Die erste Mannschaft spielte seit ihrer Gründung nie tiefer als in der dritthöchsten Liga. Von 2004 bis 2007 gehörte sie der ersten Bundesliga an, in die sie 2009 wieder aufstieg. 2005 konnte sie sich zwar sportlich nicht für einen europäischen Wettbewerb qualifizieren, nahm aber über die Fairplay-Wertung und ein Losverfahren am UEFA-Cup teil. In der Saison 2010/2011 erreichte der 1. FSV Mainz 05 zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte die sportliche Qualifikation zu einem europäischen Wettbewerb, in der sie jedoch am rumänischen Verein Gaz Metan Mediaș scheiterte. Die Mannschaft trägt ihre Heimspiele in der im Jahr 2011 eingeweihten MEWA-Arena aus. Die zweite Mannschaft spielt derzeit in der Fußball-Regionalliga Südwest. In den Saisons 2004/05 und 2014/15 spielten alle Mannschaften der 05er in der höchstmöglichen Spielklasse. Zum Abschluss der Saison 2015/2016 der Ersten Bundesliga belegten die Mannschaft den 6. Tabellenplatz und konnte sich damit direkt für die Gruppenphase der UEFA Europa League qualifizieren, der zurzeit beste sportliche Erfolg der 05er.
Die erste Damenmannschaft des Basketballvereins ASC Theresianum Mainz spielte schon ein Jahr nach ihrer Gründung in der ersten Bundesliga, nun wieder in der zweiten Bundesliga, während die erste Herrenmannschaft in der neu formierten ersten Regionalliga spielt. Die unteren Mannschaften spielen unter anderem in der Regionalliga, Oberliga (Damen) und Landes- und Bezirksliga (Herren). Auch im Jugendbereich ist der ASC einer der erfolgreichsten Vereine in Rheinland-Pfalz.
Die Mainz Athletics zählen zu den süddeutschen Spitzenmannschaften des Baseballs. Seit 1994 sind sie jedes Jahr in der Play-off-Runde um die deutsche Meisterschaft vertreten. 2007 und 2016 wurden sie Deutscher Meister. Im Juni 2011 zog der Verein ins neue Stadion im Gonsbachtal um.
Der TSV Schott ist der größte Mainzer Breitensportverein, er hat ca. 3700 Mitglieder und bietet 25 verschiedene Sportarten an. Die American Footballer des TSV Schott, die „Mainz Golden Eagles“, wurden 2007 Meister in der Oberliga und spielten zwei Jahre in der Regionalliga Mitte. Zurzeit spielt die Mannschaft wieder in der Oberliga. Die zur Saison 2009 erstmals angetretene Damenmannschaft gewann direkt in der Debütsaison die Meisterschaft der 2. Bundesliga. Gleichzeitig stellten sie für die Saison 2010 sechs Mitglieder der aktuellen deutschen Damen-Football-Nationalmannschaft. Auch die Jugendmannschaften der Golden Eagles errangen einige Erfolge, unter anderem die Qualifikation zu den deutschen Meisterschaften im Hallen-Flag-Football.
Der Rugby Club Mainz wurde 1999 als eigenständiger Verein gegründet. Seit dem Beginn der Saison 2012/2013 spielt die Herrenmannschaft in der 1. Bundesliga. Zuvor war der RCM in der 2. Bundesliga Süd vertreten. Die Reservemannschaft tritt in der rheinland-pfälzischen Regionalliga an. Größter Erfolg der bisherigen Vereinsgeschichte sind der Gewinn der deutschen Hochschulmeisterschaft 2009 in Zusammenarbeit mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der vorzeitige Erstliga-Klassenerhalt in der Saison 2012/2013. Die Damenabteilung des RC Mainz nimmt in mehreren Spielgemeinschaften am Ligabetrieb teil: In der SG Rhein-Main wird gemeinsam mit Eintracht Frankfurt Bundesliga-Rugby gespielt, die SG Mainz-Aachen tritt in der 7er-Regionalliga West an.Das SPORT-Netz Mainz e. V., Abteilung Lacrosse (Mainz Musketeers), ist seit 2007 in der Westdeutschen Lacrosse-Liga WDLL, jetzt 1. Bundesliga West, vertreten.
Die 1. Herrenmannschaft der Hockeyabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Bundesliga, Gruppe Süd.
Floorball Mainz spielt in der Regionalliga West, setzt intensiv auf Nachwuchsarbeit und blickt auf eine erfolgreiche Deutschland-Pokal und Zweitliga-Vergangenheit zurück.
=== Sonstige Sportarten (Auswahl) ===
Der USC Mainz stellte bereits mehrere Teilnehmer an Olympischen Spielen, darunter Ingrid Mickler-Becker, Olympiasiegerin mit der 4 × 100-m-Staffel 1972, Lars Riedel, Diskus-Olympiasieger 1996, Marion Wagner, Niklas Kaul, Dekathlon-Weltmeister 2019, und Florence Ekpo-Umoh.
Der Mainzer Turnverein von 1817 ist der zweitälteste noch existierende Sportverein Deutschlands. Der MTV besteht aus den Sparten Turnen-Gymnastik, Badminton, Basketball, Fechten, Fußball, Handball, Kegeln, Modern Sports Karate, Ski, Tennis und Volleyball.
Die 1. Herrenmannschaft der Schachabteilung des TSV Schott Mainz spielt in der 2. Schachbundesliga, Gruppe West. Der 1. Damenmannschaft gelang in der Saison 2006/2007 der Aufstieg in die 1. Bundesliga, die 2. Damenmannschaft stieg in die 2. Bundesliga auf.
Der ASV Mainz 1888 errang in den Jahren 1973, 1977 und 2012 den Titel „Deutscher Mannschaftsmeister“, 1975 war er Vizemeister und 1969 Pokalsieger. Durch das Erreichen der Meisterschaft in der 2. Ringer-Bundesliga West 2006/07 tritt der Verein seit der Saison 2007 wieder in der 1. Ringer-Bundesliga an.
Der Mainzer Ruder-Verein (MRV) von 1878 ist seit 1912 im internationalen Spitzensport vertreten und ist einer der erfolgreichsten deutschen Rudervereine. Der erste internationale Titel konnte 1913 bei der Europameisterschaft in Gent errudert werden. Nach der Anzahl der Mitglieder (ca. 600) gehört er seit Jahren zu den größten deutschen Rudervereinen. Seit 2003 ist das Bootshaus des MRV am Winterhafen Sitz eines Landesleistungszentrums des Landesruderverbandes Rheinland-Pfalz, außerdem Olympiastützpunkt Rheinland-Pfalz/Saarland und seit 2013 Bundesstützpunkt Nachwuchs Mainz/Frankfurt. Im Jahr 2020 qualifizierte sich Jason Osborne in seiner Bootsklasse für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio.
Die SG EWR Rheinhessen-Mainz ist ein Zusammenschluss aus insgesamt sechs Schwimmvereinen.
Die 1. Herrenmannschaft schwimmt seit der Saison 2006/07 in der 1. Bundesliga, die Damenauswahl in der 2. Bundesliga Süd. Darüber hinaus starten regelmäßig Sportler der Startgemeinschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen. Bekannte Sportler der Trainingsgruppe von Nikolai Evseev sind Christian Hein, Angela Maurer und Johanna Manz.
Zu den leistungsstärksten und erfolgreichsten deutschen Hallenradsportvereinen gehören der Radsportverein 1925 Ebersheim, der Radfahrerverein 1905 Finthen und der Radfahrerverein 1910 Hechtsheim. Als Leistungssport, der seine nationalen und internationalen Erfolge einer guten Jugendarbeit verdankt, pflegen diese Vereine das Kunstradfahren (Einer-, Zweier-, Vierer- und Sechser-Kunstfahren) sowie den Radball. Bei den Weltmeisterschaften im Zweier-Radball knüpften Thomas Abel und Christian Hess 2006 und 2007 an die Titelgewinne Hechtsheimer Radsportler seit den frühen 1950er Jahren an; Katrin Schultheis und Sandra Sprinkmeier (RV Ebersheim) errangen seit 2004 drei Weltmeister-Titel und vier Vizeweltmeisterschaften und sind Inhaberinnen des aktuellen Weltrekordes. Julia und Nadja Thürmer (RV Finthen) gehören als Junioreneuropameisterinnen 2007 und Vizeweltmeisterinnen 2009 zur nationalen und internationalen Spitze im Zweier-Kunstfahren.
Der Tanz-Club Rot-Weiss Casino Mainz wurde im Jahr 1949 gegründet. Er gehört zu den zehn größten Tanzsportclubs in Deutschland und ist der zweitgrößte Tanzsportverein in Rheinland-Pfalz nach dem Tanzclub Rot-Weiss Kaiserslautern. Aushängeschilder des Clubs sind das Ehepaar Kiefer, amtierender Weltmeister der Senioren II Standard Klasse, und die Standardformationen, von denen das A-Team seit sechs Jahren in der ersten Bundesliga tanzt. Als einziger Verein in Deutschland hatte der Club in der Saison 2006/2007 drei Standardmannschaften am Start.
Der MGC Mainz, ein Minigolfverein, spielt in der ersten Bundesliga und ist mit vielen Nationalspielern besetzt.
Die 1. Herrenmannschaft des TriathlonClub EisheiligenChaos (TCEC) startete im Jahr 2013 in der Regionalliga.
=== Weitere Sportvereine (Auswahl) ===
TSV Schott Mainz (u. a. Fußball, Hockey, Leichtathletik, Kegeln, Schach, American Football, Tennis, Eishockey)
Mombacher Turnverein 1861, der drittgrößte Mainzer Verein
DLRG Mainz e. V.
Sektion Mainz des Deutschen Alpenvereins – Bergsteigen, Klettern, Wandern, Hochtouren, Expeditionen, Skisport
Luftfahrtverein Mainz e. V.
Budo-Sportclub Mainz 92 e. V.
Polizei-Sportverein Mainz e. V.
Postsportverein Mainz e. V.
Rugby Club Mainz 1997 e. V.
Schachfreunde Mainz 1928 e. V.
Segelclub Mainspitze e. V.
SVW Mainz e. V.
TriathlonClub EisheiligenChaos 1988 e. V. (abgekürzt: TCEC)
TC Manta Mainz e. V. – Tauchclub
YCM Yacht-Club Mainz e. V.
SC Moguntia 1896 e. V.
Taekwon-Do Armare Mainz e. V.
Weißer Kranich, Freunde des Taijiquan und Wushu e. V.
KSV Mainz 08 e. V.Hinweis: Sportvereine, die sich einem Stadtteil zuordnen lassen, befinden sich in den jeweiligen Stadtteilartikeln.
== Namenspatenschaften ==
Die Stadt Mainz war in der Geschichte schon mehrfach Namenspate:
Auswanderer im 18. und 19. Jahrhundert gründeten in den Vereinigten Staaten die Städte Mentz (New York) und Mentz (Texas).
Die SMS Mainz war ein Kleiner Kreuzer der deutschen Kaiserlichen Marine, der im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam.
Die Mainz war ein Raddampfer der 1928/29 für die Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschifffahrt gebaut wurde.
Die Mainz ist ein Bereisungsschiff, das 1943 gebaut wurde und heute vorrangig für Veranstaltungen der Bundesregierung genutzt wird, darunter Staatsbesuche und internationale Konferenzen.
Der Mainzer Schinken war eine Bezeichnung der Metzger in und um Mainz für einen nach einem bestimmten Rezept hergestellten Schinken.
Als Mainzer Modell bezeichnet man eine Form des Lohnkostenzuschusses.
Die Lufthansa hat einen Airbus A340-600 (Kennung D-AIHK) nach der Stadt benannt.
Die Deutsche Bahn hat seit Herbst 2006 einen ICE T der Baureihe 411 (Tz 1182) mit Zulassung für die Schweiz nach der Stadt benannt. Zuvor gab es seit dem 17. Januar 2003 ebenfalls einen ICE T, allerdings aus der Baureihe 415 (Tz 1582), der den Namen der Stadt trug.
Der hochalpine Mainzer Höhenweg in den Ötztaler Alpen wird von der DAV Sektion Mainz betreut. Um die Stadt Mainz herum befindet sich der Kleine Mainzer Höhenweg.
Der Name des Asteroiden (766) Moguntia ist abgeleitet von der lateinischen Bezeichnung der Stadt Mainz, Mogontiacum.
== Partnerstädte ==
Vereinigtes Konigreich Watford (Vereinigtes Königreich), seit 1956
Frankreich Dijon (Frankreich), seit 1958
Kroatien Zagreb (Kroatien), seit 1967
Spanien Valencia (Spanien), seit 1978
Israel Haifa (Israel), seit 30. März 1987
Deutschland Erfurt (Thüringen, Deutschland), seit 20. Februar 1988
Vereinigte Staaten Louisville (Kentucky, Vereinigte Staaten), seit Mai 1994Partnerstädte Mainzer Stadtteile:
Frankreich Longchamp (Frankreich), seit 1966 mit Mainz-Laubenheim
Italien Rodeneck (Südtirol, Italien), seit 1977 mit Mainz-FinthenFreundschaftliche Beziehungen:
Ruanda Kigali (Ruanda), seit 1982
Aserbaidschan Baku (Aserbaidschan), seit 1984
== Persönlichkeiten ==
Zu Personen, die in Mainz geboren sind oder in dieser Stadt gewirkt haben, siehe:
Liste Mainzer Persönlichkeiten
Liste von Söhnen und Töchtern der Stadt Mainz
Liste der Ehrenbürger von Mainz
Liste der Bischöfe von Mainz
Liste der Mainzer Weihbischöfe
Liste der Stadtoberhäupter von Mainz
Liste der Gouverneure der Festung Mainz
Liste der Klassischen Philologen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Liste der Künstler am Mainzer Dom
== Literatur ==
=== Allgemeine Schriften ===
(nach Erscheinungsjahr geordnet)
Karl Anton Schaab: Geschichte der Stadt Mainz. vier Bände, Mainz 1841–1851. Davon direkt zu Mainz Band 1 (1841) und Band 2 (1844).
Johann Heinrich Hennes: Bilder aus der Mainzer Geschichte, Verlag Franz Kirchheim Mainz 1857.
Städtebuch Rheinland-Pfalz und Saarland. Bd. 4,3. Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Teilband. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages, hrsg. von Erich Keyser. Kohlhammer, Stuttgart 1964.
Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte. Hrsg. v. d. Stadt Mainz. Krach, Mainz 1981ff. ISSN 0720-5945
Franz Dumont (Hrsg.), Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz: Mainz – Die Geschichte der Stadt. Zabern, Mainz 1999 (2. Aufl.), ISBN 3-8053-2000-0.
Wilhelm Huber: Das Mainz-Lexikon. Hermann Schmidt, Mainz 2002, ISBN 3-87439-600-2.
Michael Matheus, Walter G. Rödel (Hrsg.): Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte. Mainzer Kolloquium 2000 (Geschichtliche Landeskunde 55). Franz Steiner, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-08176-3.
Peter C. Hartmann: Kleine Mainzer Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2005, ISBN 978-3-7917-1970-2.
Wolfgang Dobras, Frank Teske: Kleine Geschichte der Stadt Mainz. Braun Verlag, Karlsruhe 2010, ISBN 3-7650-8555-3.
Franz Xaver Bischof, Maria Lehner-Helbig: Mainz. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Mechthild Dreyer/Jörg Rogge (Hrsg.): Mainz im Mittelalter. von Zabern, Mainz 2009, ISBN 978-3-8053-3786-1.
Jörg Koch: Mainz. 55 Meilensteine der Geschichte. Menschen, Orte und Ereignisse, die unsere Stadt bis heute prägen. Sutton, Erfurt 2022, ISBN 978-3-96303-373-5.
=== Einzelthemen ===
==== Personen ====
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Wolfgang Balzer: Mainz, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Kügler, Ingelheim 1985–1993.
Bd. 1: Mainzer Ehrenbürger, Mainzer Kirchenfürsten, militärische Persönlichkeiten, Mainzer Bürgermeister. ISBN 3-924124-01-9.
Bd. 2: Personen des religiösen Lebens, Personen des politischen Lebens, Personen des allgemein kulturellen Lebens, Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Musiker. ISBN 3-924124-03-5.
Bd. 3: Geschäftsleute, epochale Wegbereiter, Baumeister, Fastnachter, Sonderlinge, Originale. ISBN 3-924124-05-1.
Hans Berkessel, Hedwig Brüchert, Wolfgang Dobras, Ralph Erbar, Frank Teske (Hrsg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen, Mainz 2016, ISBN 978-3-945751-69-5.
==== Architektur ====
Denkmaltopographien nach Erscheinen geordnet
Angela Schumacher, Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.1 = Stadt Mainz. Stadterweiterungen des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts:
1. Auflage: 1986. ISBN 978-3-590-31032-2
2. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-138-7
Ewald Wegner: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.2 = Stadt Mainz. Altstadt.
1. Auflage: Schwann, 1988. ISBN 978-3-491-31036-0
2. Auflage: Schwann, 1990. ISBN 3-491-31036-9
3. Auflage: Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-139-4
Dieter Krienke: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Rheinland-Pfalz 2.3 = Stadt Mainz. Vororte mit Nachträgen zu Band 2.1 und Band 2.2. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-140-0Weitere Literatur nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet
Hedwig Brüchert (Hrsg.): Die Neustadt gestern und heute. Festschrift 125 Jahre Mainzer Stadterweiterung. Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter. Veröffentlichungen des Vereins für Sozialgeschichte, Mainz 1997.
Heinz Duchhardt: „Römer“ in Mainz. Ein Doppelporträt aus der Frühgeschichte der „neuen“ Mainzer Universität. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Band 94, 2015, S. 292–310 (Digitalisat).
Günther Gillessen (Hrsg.): Wenn Steine reden könnten – Mainzer Gebäude und ihre Geschichten. Philipp von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1206-7.
Ernst Stephan: Das Bürgerhaus in Mainz. Das deutsche Bürgerhaus. Bd. 18. Wasmuth, Tübingen 1974, 1982, ISBN 3-8030-0020-3.
Petra Tücks: Zur urbanistischen und architektonischen Gestaltung der Stadt Mainz während der napoleonischen Herrschaft. Die Entwürfe von Jean Fare Eustache St. Far. In: INSITU. Zeitschrift für Architekturgeschichte 1 (2/2009), S. 7–26.
Claus Wolf: Die Mainzer Stadtteile. Emons, Köln 2004, ISBN 3-89705-361-6.
==== Weitere Themen ====
(nach Autoren/Herausgebern alphabetisch geordnet)
Friedhelm Jürgensmeier: Das Bistum Mainz. Knecht, Frankfurt/Main 1988, ISBN 3-7820-0570-8.
Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein – Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz. Casimir Katz, Gernsbach 2005, ISBN 3-925825-89-4.
== Siehe auch ==
== Weblinks ==
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Mainz
Literatur von und über Mainz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Literatur über Mainz in der Rheinland-Pfälzischen Landesbibliographie
Linkkatalog zum Thema Mainz bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Digitales Stadtmodell: Mainz um 800 auf YouTube
Digitales Stadtmodell: Mainz um 1250 auf YouTube
Alte Stadtansichten von Mainz aus J. F. Dielmann, A. Fay, J. Becker (Zeichner): F. C. Vogels Panorama des Rheins, Bilder des rechten und linken Rheinufers, Lithographische Anstalt F. C. Vogel, Frankfurt 1833
Die Inschriften der Stadt Mainz. Teil 1: Die Inschriften des Domes und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350 via Deutsche Inschriften Online
F. K. Luft: Das neue Stadtkassen- und Verwaltungsgebäude der Stadt Mainz in: Deutsche Bauzeitung, 1926.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Mainz |
Martin Van Buren | = Martin Van Buren =
Martin Van Buren (* 5. Dezember 1782 in Kinderhook, Columbia County, New York; † 24. Juli 1862 ebenda) war vom 4. März 1837 bis zum 4. März 1841 der achte Präsident der Vereinigten Staaten und gilt mit Andrew Jackson als Begründer der modernen Demokratischen Partei.
Van Buren kam in eher einfachen Verhältnissen zur Welt und wuchs in einem stark niederländisch geprägten Umfeld auf. Er erlernte den Rechtsanwaltsberuf, ohne eine akademische Ausbildung genossen zu haben. In den 1810er Jahren war er Staatssenator in New York und ab 1821 Abgeordneter für die Demokratisch-Republikanische Partei im Senat der Vereinigten Staaten. In dieser Zeit schuf er mit der Parteimaschine Albany Regency (deutsch: „Albany-Regentschaft“) ein einflussreiches Patronage- und Klientelsystem. Bei der Präsidentschaftswahl 1828 war er der maßgebliche Architekt des Sieges von Jackson, dem er als Außenminister, Botschafter in London und zuletzt als Vizepräsident diente. An Gründung und Aufbau der Demokratischen Partei in den 1830er Jahren war er wesentlich beteiligt und einer der wichtigsten Berater des Präsidenten im sogenannten Küchenkabinett.
Van Buren war nach seiner erfolgreichen Wahl 1836 der erste Natural born citizen als Präsident. Die Amtszeit wurde von der verheerenden Wirtschaftskrise von 1837 überschattet, die ihm angelastet wurde und die er nicht durch außenpolitische Erfolge in den Beziehungen zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland sowie Frankreich ausgleichen konnte. Van Burens ökonomische Gegenmaßnahmen hatten zudem mit Widerständen im Kongress zu kämpfen und blieben nach ihrer Verabschiedung wirkungslos. In der Sklavenfrage, die die Nation zunehmend polarisierte, bezog er keine eindeutige Position, während er die brutale Indianerpolitik Jacksons gegenüber den Fünf Zivilisierten Stämmen mit dem Pfad der Tränen fortsetzte.
Bei der Präsidentschaftswahl 1840 unterlag Van Buren dem Kandidaten der Whigs, William Henry Harrison. Nach einem vielversprechenden Comeback galt er 1844 lange Zeit als aussichtsreichster Bewerber für die Nominierung zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten, jedoch wurde ihm seine Ablehnung der Annexion der Republik Texas zum Verhängnis. Bei der Präsidentschaftswahl 1848 war er Kandidat der Free Soil Party, ohne in einem Bundesstaat Wahlmännerstimmen erringen zu können. Als Elder statesman widmete er sich seiner Autobiographie, ohne diese vor seinem Tod im Jahr 1862 abschließen zu können.
== Leben ==
=== Familie und Ausbildung ===
Van Buren kam am 5. Dezember 1782 als drittes von fünf Kindern von Abraham van Buren (1737–1817) und Maria van Alen (1747–1818) in dem südlich von Albany gelegenen Ort Kinderhook in Upstate New York zur Welt. Van Burens Familie stammte über beide Elternteile aus der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen und war seit fünf Generationen keine Ehe mit Amerikanern anderer ethnischer Herkunft eingegangen, er ist daher einer der wenigen Präsidenten,die keine englischen Vorfahren hatten. Das obere Hudson Valley dieser Zeit war noch sehr kolonial geprägt und weniger demokratisch als die meisten anderen Regionen der jungen Vereinigten Staaten: Politische Teilhabe, sozialer Status und wirtschaftlicher Erfolg hingen vom Grundbesitz ab, den einige wenige Familien wie zum Beispiel die Livingstons und Van Rensselaers unter sich aufteilten. In dieser starr hierarchisch organisierten Gesellschaftsordnung des Hudson Valley war Kinderhook einer von wenigen Orten, der nicht Eigentum dieser Machtelite war. Die niederländischen Amerikaner stellten hier nach wie vor die Bevölkerungsmehrheit, während im Bundesstaat zunehmend die aus England stammenden Bürger dominierten. Der eigentümliche Lokalkolorit Kinderhooks inspirierte den Autor Washington Irving, der hier 1809 für einige Zeit lebte, und findet sich in den Erzählungen Rip Van Winkle und The Legend of Sleepy Hollow wieder.
Die Mutter, Maria Van Alen, hatte als 29-jährige Witwe mit drei Kindern im Jahr 1776 seinen Vater, Abraham Van Buren, geheiratet, der zehn Jahre älter war als sie. Aus dieser Ehe gingen erst zwei Töchter und dann drei Söhne hervor, von denen Martin Van Buren der älteste war. Die Van Burens stammten von Cornelis Maessen ab, der im Jahr 1631 aus Buren im Gelderland in die niederländische Kolonie Nieuw Nederland ausgewandert war und Land nicht weit von Kinderhook erworben hatte. 1780 lebten sieben Van Buren-Familien im Township, nicht zuletzt da es in der Vergangenheit zu Heiraten unter Verwandten gekommen war. In Kinderhook wurde üblicherweise niederländisch gesprochen, das so die Muttersprache des zukünftigen Präsidenten wurde. Auch die Gottesdienste in der Niederländisch-reformierten Kirche des Ortes wurden in dieser Sprache gefeiert. Abraham Van Buren war ein Kleinbauer sowie nebenberuflich Hauptmann in der Ortsmiliz und später dazu gezwungen, das Farmhaus in eine Schankwirtschaft umzuwandeln, um die Familie versorgen zu können. Die Familie besaß zwar sechs Sklaven, was für die Gegend nicht ungewöhnlich war, aber zählte in Kinderhook allenfalls zur unteren Mittelschicht. Abraham Van Buren musste zunehmend um das wirtschaftliche Überleben kämpfen und konnte daher nur wenig Mittel für die Ausbildung der Kinder aufbringen. Er war während der Amerikanischen Revolution ein Patriot gewesen und später ein Antiföderalist und Anhänger von Thomas Jefferson. Im föderalistischen Columbia County, das im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine Hochburg der Torys gewesen war, gehörte er damit jeweils zur Opposition. Abraham Van Buren stellte seine Taverne den Antiföderalisten und späteren Jeffersonian Republicans beziehungsweise Demokratischen-Republikanern für Versammlungen zur Verfügung und war ein führender politischer Akteur in Kinderhook. In der als Raststätte beliebten Schankwirtschaft fanden sich neben Boten, die Nachrichten zwischen der Hauptstadt des Bundesstaats, Albany, und New York City transportierten, außerdem auch politische Führer ein, darunter Aaron Burr.
Während der Jugendzeit Van Burens wandelte sich das obere Hudson Valley wirtschaftlich und zog zunehmend Kapital an, das in neue Unternehmen oder Spekulationsgeschäfte investiert wurde. Dies führte unter anderem zur Gründung der nahe Kinderhook gelegenen Walfängerstadt Hudson. Außerdem wanderten zunehmend Siedler aus Neuengland nach New York ein, um frei gewordenes Land von Indianern oder vertriebenen Loyalisten zu bewirtschaften. Auf der einen Seite führte dies zu wirtschaftlichen und ethnischen Spannungen zwischen den niederländischen und angelsächsischen Gemeinden, auf der anderen Seite erhöhte dies die Durchlässigkeit der sozialen Schichten. Als im August 1807 Robert Fultons Raddampfer Clermont New York City und Albany miteinander verband, beschleunigte dies den Wandel im Hudson Valley noch mehr und erschütterte die Stabilität des alten und isoliert gelegenen Kinderhooks. Durch die vermehrte Zuwanderung bedingt, übertrafen die angelsächsischen Amerikaner im Bundesstaat bald an Zahl und Einfluss die angestammten niederländischen Amerikaner. New York insgesamt erlebte zu dieser Zeit ein enormes Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum und wurde in den 1800er Jahren zur wichtigsten Exportregion der Vereinigten Staaten.Van Buren besuchte eine kleine, aus nur einem Klassenzimmer bestehende Dorfschule. Er lernte schnell, musste aber mit 13 Jahren die Schule verlassen, da seinem Vater das Geld fehlte. Wegen dieser nicht vollwertigen Schulbildung fühlte sich Van Burens zum einen bis zum Lebensende im Umgang mit höher Gebildeten unsicher, zum anderen mag hier der Grund für sein späteres gutes Verhältnis mit Andrew Jackson liegen, dessen Schullaufbahn ähnlich ausgesehen hatte. Im Jahr 1796 verließ Van Buren das Elternhaus und ging bei dem Anwalt Francis Silvester in die Lehre. Dieser war einer der angesehensten Bürger von Kinderhook und ein überzeugter Föderalist. Silvester setzte seinen Lehrling unter Druck, den Föderalisten beizutreten, doch dieser sah Jefferson mehr vom Geiste der Amerikanischen Revolution beseelt als Alexander Hamilton. Als Francis Silvesters Vater, Peter Silvester, 1798 in den Senat von New York gewählt wurde, schlug Van Buren die Einladung aus, mit der Familie zu feiern, und blieb trotz aller Überredungsversuche durch die Silvesters in seinem Zimmer. Laut Ted Widmer nahm hier die Verachtung, mit der Van Buren während seiner gesamten politischen Karriere durch bestimmte Kreise verfolgt wurde, ihren Anfang. Ihm wurde bald nachgesagt, mit der Französischen Revolution, Maximilien de Robespierre und Jean Paul Marat zu sympathisieren, was vor dem Hintergrund des Quasi-Kriegs mit Frankreich ein beleidigender Vorwurf war. Zu dieser Zeit begannen sich die Brüder John Peter und William P. Van Ness für den jungen Anwaltslehrling zu interessieren, der es mittlerweile verstand, mit ausgewählter Kleidung seinen einfachen Stand zu kaschieren. Die Brüder Van Ness gehörten einer anderen einflussreichen Familie in Kinderhook an und waren überzeugte Jeffersonian Republicans. Als Van Buren im Jahr 1801 John Peter erfolgreich bei einem Caucus unterstützte, der diesem die Nominierung für das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten einbrachte, revanchierte sich die Van Ness-Familie. Sie finanzierte Van Buren 1802 eine Reise nach New York City, wo er gemeinsam mit William P. seine Anwaltslehre fortsetzte. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Föderalisten und Republicans zu dieser Zeit bildeten das Frühstadium eines Mehrparteiensystems und dienten Van Buren für das weitere Leben als eine Idealvorstellung politischen Wettbewerbs.Über William P. Van Ness, der einer der engsten Vertrauten von Vizepräsident Burr und einige Jahre später sein Sekundant beim tödlichen Duell mit Hamilton war, betrat Van Buren just in dem Moment in die Politik New Yorks, als die Republicans den Föderalisten die Kontrolle über den Bundesstaat entrissen. Burr schenkte ihm zudem so viel Aufmerksamkeit, dass er sich ihm zunehmend verbunden fühlte. Für die später aufgekommenen Gerüchte, er sei ein illegitimer Sohn des Vizepräsidenten gewesen, gibt es keine Beweise. Allerdings können sie faktisch auch nicht widerlegt werden. Auffällig ist jedoch, dass dieses Gerücht erst aufkam, als es politisch schädlich war, in enger Beziehung zu Burr gestanden zu haben. Im November 1803 erhielt Van Buren die Zulassung als Anwalt und kehrte nach Kinderhook zurück, wo er mit seinem Halbbruder James Van Alen eine Anwaltskanzlei eröffnete, die schnell zu einem Geschäftserfolg wurde. Trotz seiner großen Wertschätzung für Burr ordnete er diese Freundschaft der Parteidisziplin unter und unterstützte bei den, zu dieser Zeit alle drei Jahre stattfindenden, Gouverneurswahlen im April 1804 dessen Gegner Morgan Lewis, den regulären Kandidaten der Demokratisch-Republikanischen Partei, die nun die offizielle Parteiorganisation der Jeffersonian Republicans war. Daraufhin kam es zum Zerwürfnis mit der Van Ness-Familie, die Burr unterstützten.
In den nächsten Jahren entwickelte Van Buren sein politisches Engagement parallel zur Anwaltstätigkeit. Mit großer Begeisterung unterstützte er die Präsidentschaft von Jefferson, wo er nur konnte. Als es im Jahr 1807 bei den Gouverneurswahlen in New York erneut zu parteiinternen Kämpfen kam, stand er mit George Clinton und DeWitt Clinton auf Seiten des regulären Kandidaten Daniel D. Tompkins, der für ihn zu einem wichtigen politischen Verbündeten wurde. Van Buren zog aus diesem erneuten internen Konflikt den Schluss, dass die Partei einer strafferen Disziplin bedurfte. Am 21. Februar 1807 heiratete er Hannah Hoes, mit der er zusammen in Kinderhook aufgewachsen war. Als Enkeltochter eines Onkels mütterlicherseits war sie eine Nichte 2. Grades von Van Buren. Hannah brachte vier Söhne zur Welt, bevor sie am 5. Februar 1819 nach drei Jahren Krankheit an einer Tuberkulose verstarb. Van Burens Gefühle für Hannah bleiben ein Rätsel, da er sie in seiner erhaltenen Korrespondenz und Autobiographie so gut wie gar nicht erwähnte. Van Buren blieb danach unverheiratet. Aus der Korrespondenz Van Burens geht hervor, dass er zumindest bis 1810 Sklavenhalter war.Nach der Hochzeit zog das junge Paar nach Hudson, wo Van Buren fortan seine Anwaltskanzlei betrieb. Schnell agierte er geschäftlich erfolgreich und erwarb sich den Ruf, einer der talentiertesten Anwälte im Hudson-Valley zu sein. Van Buren vertrat oft kleine Landpächter, die sich gegen die aus kolonialer Vorzeit stammenden fragwürdigen Besitztitel der Großgrundbesitzer zur Wehr setzten, so im Jahr 1811 gegen die Familien Livingston und Van Rensselaer, wovon er bei der Senatswahl im folgenden Jahr profitierte. Er scheute sich nicht, die Lehrmeinung des berühmten Juristen James Kent anzugreifen und die damals noch weit verbreitete Praxis der Schuldgefängnisse infrage zu stellen. Van Buren entwickelte in diesem Lebensabschnitt Fähigkeiten, wie zum Beispiel akribische Vorbereitung, Arbeitseifer, Gewieftheit und eine leicht verständliche Sprache, die ihn später als Politiker auszeichneten und in Verbindung mit seiner geringen Körpergröße von knapp 1,68 m den Spitznamen Little Magician (deutsch: „Kleiner Zauberer“) einbrachten. Hinzu kamen ein hervorragendes Gedächtnis, hohe soziale Kompetenz und ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit. Van Burens frühe Biographen, darunter George Bancroft, betonten die zentrale Rolle dieser Jahre für Van Burens späteren Werdegang. Bis zum Jahr 1821, als er in den Senat der Vereinigten Staaten einzog, blieb die Anwaltstätigkeit seine Hauptbeschäftigung, und er war laut dem Biographen Donald B. Cole einer der fähigsten Rechtsanwälte, der jemals amerikanischer Präsident wurde.
=== Politische Laufbahn bis zur Präsidentschaft ===
==== Im Senat von New York ====
Im Jahr 1812 kandidierte Van Buren für den Senat von New York, der wie die gesamte State Legislature alle 12 Monate gewählt wurde. Für dieses Vorhaben erwies sich seine Reputation als Anwalt der einfachen Leute als sehr nützlich. Bei der Stimmenauszählung im April deutete erst alles auf einen Sieg des föderalistischen Konkurrenten Edward Livingston hin. Van Buren hatte sich in der ersten Maiwoche in Hudson bereits auf einen Raddampfer nach New York City eingeschifft, um seine Anwaltstätigkeit wieder aufzunehmen, und gerade abgelegt, als sein Schwager auf einem Ruderboot zu ihm stieß. Von ihm erfuhr er, dass er mit einem Vorsprung von 200 Stimmen, was etwa ein halbes Prozent war, die Wahl für sich entschieden hatte. Er war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt und der zweitjüngste Senator in der Geschichte des Bundesstaates. Er trat sein Amt am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, an. Nahezu zeitgleich begannen die Kampfhandlungen im Britisch-Amerikanischen Krieg, dessen Gefechte zum großen Teil in New York stattfanden und Neuengland an den Rand der Sezession trieb, während die Bundesregierung in Washington, D.C. zerstritten und führungsschwach agierte. Der Krieg von 1812 und dessen Folgen blieben bis 1820 die zentralen Themen der New Yorker Politik. Van Buren, der schon vor der Wahl Stellung gegen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland bezogen hatte, zählte zur Kriegsfraktion. Er sah durch den britischen Angriff nicht nur das Land gefährdet, sondern auch dessen republikanische und freiheitliche Grundordnung.Bei der Präsidentschaftswahl 1812 unterstützte er wie viele Demokratische-Republikaner New Yorks anfangs DeWitt Clinton gegen James Madison, da es Vorbehalte gab, stets hinter Kandidaten aus Virginia zurückzustecken. Um die Anhänger Madisons darüber hinwegzutäuschen, dass Clinton geheime Absprachen mit den Föderalisten getroffen hatten, berief Van Buren einen Caucus ein; ein Mittel, auf das er während seiner politischen Laufbahn häufig zurückgriff. Erst als Clinton diesen gewonnen hatte, kam es zur Abstimmung über die Wahlmänner für das Electoral College, die damals in New York von der State Legislature gewählt wurden. Die anschließende Niederlage Clintons gegen Madison sowie dessen Avancen in Richtung der Föderalisten, die einer friedlichen Verständigung mit Großbritannien das Wort redeten, schädigten Van Burens innerparteiliche Stellung kurzfristig.
Clinton war das erste bedeutende Hindernis für Van Burens politischen Aufstieg. Zuerst kooperierten sie miteinander und Clinton unterstützte Van Burens Wahl in den Senat von New York. Als Clinton zu seinem autoritären Habitus zurückkehrte und Van Buren im Vorfeld der Gouverneurswahlen 1813 das Gefühl bekam, von ihm angelogen zu werden, zerbrach dieses Bündnis. In vielen Aspekten waren sie gegensätzliche Naturen: Clinton, der aus einer reichen und mächtigen Familie kam und eine große Statur hatte, war ein politischer Führer mit großer persönlicher Ausstrahlung, einem Sinn für Theatralik und sehr viel Selbstbewusstsein bis hin zur Arroganz, weshalb er auch Magnus Apollo genannt wurde. Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende, gesellige Van Buren dagegen lebte vor allem von seinem organisatorischen Geschick und setzte nicht seine persönlichen Launen, sondern die Partei an erste Stelle. Der konkrete Anlass für den offenen Bruch zwischen den beiden ergab sich, als Clinton Van Buren bat, ihn für das Amt des Vizegouverneurs zu nominieren. Van Buren kam dieser Bitte zwar formal nach, machte aber in der sarkastischen Ansprache deutlich, dass er eigentlich John Tayler für den besseren Kandidaten hielt. Durch diese Emanzipation von Clinton und Annäherung an das Lager von Tompkins konnte er sich in der Folge als der führende Politiker im Senat von New York etablieren. Dies alles festigte Van Burens Überzeugung, dass systematischer Parteienwettbewerb an die Stelle interner Fraktionskämpfe treten sollte. In einer Adresse für die Gouverneurswahl 1813 äußerte er sich in diesem Sinne und schlug nationalistischere Töne an, als sie im Republikanismus Jeffersons zu hören waren, und einen Vorgeschmack auf die spätere Jacksonian Democracy gaben.Zu Jahresbeginn 1814 engagierte sich Van Buren stark in der Kriegsgesetzgebung und bei den Wahlen für die State Legislature, bei denen die Föderalisten im April eine klare Niederlage erlitten. Im selben Jahr diente er als Rechtsoffizier im Kriegsgerichtsverfahren gegen General William Hull, der sich wegen der Aufgabe von Detroit verantworten musste. Zwei Wochen nachdem der britische Vormarsch in New York durch die Schlacht bei Plattsburgh gestoppt wurde, traf sich die State Legislature Ende September 1814 zu einer Notfallsitzung, um Kriegsmaßnahmen zu beschließen. Das Herzstück dieser Beschlüsse war die am 24. Oktober verabschiedete Classification Bill (deutsch: „Eingruppierungsgesetz“) von Van Buren. Dieses Gesetz legte die auf zwei Jahre befristete Aushebung von 12.000 Rekruten im Bundesstaat fest, trat aber nicht in Kraft, da der Krieg vorher endete. Der Politiker Thomas Hart Benton bewertete es später als das energischste Kriegsgesetz der amerikanischen Geschichte. Kriegsminister James Monroe nutzte die Classification Bill im Dezember 1814 als Vorlage für ein ähnliches Gesetz auf Bundesebene. Am Ende des Kriegs war Van Buren einer der führenden Republicans von New York, auch weil er populäre Themen besetzte, indem er sich gegen Schuldgefängnisse und eine Neugründung der First Bank of the United States positionierte.Van Buren spürte zu dieser Zeit, dass der Bundesstaat einen politischen Wandel brauchte. Da er mit dieser Wahrnehmung nicht alleine dastand, bildete er ein Netzwerk mit Gleichgesinnten, das vor allem durch die Abneigung gegen Clinton zusammengehalten wurde. Bei diesem Unternehmen erwies sich der historische Kontext als hilfreich: Das in der amerikanischen Geschichte wahrscheinlich unübertroffene Wirtschaftswachstum New Yorks in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und der damit einhergehende Wandel hatten dazu geführt, dass Macht und Einfluss nicht mehr bei einigen wenigen Großgrundbesitzer-Familien im Hudson-Valley lagen, sondern sich in Manhattan bei Kapital und Handel konzentrierten. Die Zeit der aristokratischen Familien, die mit persönlichen Beziehungen die Geschicke des Bundesstaats lenkten, war vorüber. Zu Van Burens Netzwerk gehörten auch junge Journalisten und Anwälte, darunter Männer wie Benjamin Franklin Butler, John W. Edmonds, William L. Marcy und Silas Wright, die später den engeren Machtzirkel der New Yorker Demokraten bildeten.Das erste Ziel der frühen Seilschaft um Van Buren war, Ambrose Spencer die Kontrolle über die Demokratischen-Republikaner New Yorks zu entreißen. Ein erster Erfolg war diesbezüglich die Wahl Van Burens zum Attorney General von New York im Jahr 1815. Bei der Nominierung für den Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen-Republikaner für die Wahlen 1816 war er sich nicht sicher, ob er Monroe, Tompkins oder William Harris Crawford unterstützen sollte. Van Buren favorisierte zwar Tompkins, aber er fühlte, dass die Zeit noch nicht reif war für eine Ablösung der sogenannten Virginia-Dynastie, zu der die Präsidenten Jefferson, Madison und Monroe gerechnet werden. Er konzentrierte sich daher auf seine Wiederwahl als Attorney General, die ihm im April 1816 trotz der Opposition von Spencer gelang. Im folgenden Jahr musste Van Buren eine Niederlage einstecken, als sein größter politischer Gegner Clinton mit Unterstützung von Spencer zum Gouverneur von New York gewählt wurde. Persönlich begannen für Van Buren nach der politischen Niederlage gegen Clinton 1817 drei schwere Jahre, die von Trauerfällen im engsten Familienkreis gekennzeichnet waren. Nachdem sein Vater 1817 und die Mutter im Februar 1818 verstorben waren, erlag Hannah im Februar 1819 ihrer schweren Krankheit, was ihn in eine psychologische Krise stürzte. Clinton erkannte Van Burens Schwäche und nutzte die Gelegenheit, um ihn im Juli gleichen Jahres als Attorney General zu entlassen.In Van Buren reifte nach und nach die Erkenntnis, dass er mit seiner Seilschaft nicht die Kontrolle über die Demokratischen-Republikaner erreichen konnte, weshalb er im Frühjahr 1817 eine eigene politische Organisation gründete, die bis 1821 zur bis dahin ausgeklügeltsten Gruppierung dieser Art in der Geschichte New Yorks und zum Fundament der Jacksonian Democracy wurde. Ihre Mitglieder wurden als Bucktails (deutsch: „Bockschwänze“) bekannt, da sie an ihren Hüten wie die Angehörigen der politischen Interessengruppe von Tammany Hall die Schwänze von Hirschen trugen. Einflussreiche Mitglieder der Bucktails waren der Senator Nathan Sanford, Samuel Young aus der Erie Canal Commission, Erastus Root aus der New York State Assembly, Walter Bowne, Lucas Elmendorf und Peter R. Livingston aus dem Senat von New York und am bedeutendsten Vizepräsident Tompkins. Sie entwickelten ein klares Parteiprogramm, großen Zusammenhalt und nutzten in brillanter Weise die Presse als Herz der Organisation. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zeitung Albany Argus, deren Gründung Van Buren im Jahr 1813 finanziell unterstützt hatte und deren Hauptinvestor er ab 1820 war. Die ideologischen Grundlagen der Bucktails waren die Prinzipien Jeffersons, die sie jedoch an die wirtschaftliche Dynamik New Yorks anpassten. Zwar traten sie wie ihr Vorbild insbesondere für die Interessen der Bauern ein und verteidigten sie gegen Ausbeutung durch Spekulanten und Banken, aber hatten als weitere Machtbasis die rasant wachsende Bevölkerung von New York City auf ihrer Seite. Obwohl sie wie Jefferson prinzipiell hohe staatliche Investitionen ablehnten, unterstützten sie angesichts des öffentlichen Drucks ab Frühjahr 1817 doch den Bau des Eriekanals. Trotz der Verständigung in dieser Sache blieben Bucktails und Clintonians zwei gegnerische Lager innerhalb der Demokratisch-Republikanischen Partei, die sich diametral gegenüber standen.Die Stärke der Bucktails offenbarte sich erstmals auf einem Caucus der Demokratischen-Republikaner im Januar 1819, als ihr Kandidat für den Speaker der New York State Assembly den Sieg davon trug. Im gleichen Jahr konnten sie ein Mitglied auf einen freigewordenen Posten in der Erie Canal Commission platzieren und begannen eigene Caucuse abzuhalten. Mit den Clintonians rangen sie darum, die schwindende Anzahl der Föderalisten in der State Legislature auf ihre Seite zu ziehen. Dazu unterstützten sie im Dezember 1819 die Wahl des Föderalisten Rufus King in den Senat der Vereinigten Staaten. Problematisch für Van Buren gestaltete sich zudem die Debatte um den Beitritt Missouris in die Vereinigten Staaten, die eng mit der Sklavereifrage verbunden war. In New York erstarkten mit Unterstützung der Clintonians und Föderalisten die Abolitionisten, während sich im Senat King, nun ein Bündnispartner Van Burens, gegen eine Ausweitung der Sklaverei aussprach. Da Van Buren eine Annäherung Kings an Clinton fürchtete und andererseits angesichts der Stimmungslage nicht wagen konnte, für die Sklaverei Partei zu ergreifen, agierte er vorsichtig. Er unterzeichnete zwar eine Petition der Clintonians, die eine Versammlung zu diesem Thema in Albany initiierte, blieb dieser aber am Ende fern. Später warfen ihm deshalb seine Gegner in den Südstaaten vor, ein Abolitionist zu sein, während ihm in den Nordstaaten das Gegenteil vorgehalten wurde. Mit Hilfe ihrer Presseorgane erstarkten die Bucktails 1820 erheblich, wenngleich ihr Erfolg bei den Wahlen im April nicht so groß war, wie von Van Buren erhofft, da Clinton als Gouverneur wiedergewählt wurde. Van Buren selbst hatte nicht wieder für den Senat von New York kandidiert; einer der Gründe war Unsicherheit wegen seiner Siegchancen. Als wichtig erwies sich die erreichte Mehrheit im Council of Appointments, einem für die Postenvergabe im Öffentlichen Dienst zuständigen Regierungsgremium. Dies erlaubte Van Buren Ämterpatronage in seinem Sinne und den Austausch von hunderten Föderalisten und Clintonians gegen Bucktails, darunter Samuel A. Talcott als Attorney General und sein Schwager als Leiter der Staatsdruckerei von New York. Im Frühjahr 1821 trat Van Buren gegen den Bucktail Sanford, der von Clinton unterstützt wurde, für einen Senatssitz im 17. Kongress der Vereinigten Staaten an. Am Ende erwies sich die Parteidisziplin der Bucktails dem auf eine Verschmelzung von Parteien setzenden Führungskonzept Clintons überlegen, da sie nahezu geschlossen für Van Buren stimmten, obwohl etliche Bucktails Sanford präferierten. Damit hatten sich die Bucktails endgültig als politische Macht etabliert und aus dem komplexen Geflecht konkurrierender republikanischer und föderalistischer Fraktionen ein Zweiparteiensystem gemacht, in dem sich Clintonians und Bucktails gegenüberstanden.In New York setzten die Bucktails bei den Wahlen 1821 die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung durch, um die von 1777 stammende Verfassung New Yorks zu erneuern. Sie sahen dies als Möglichkeit, konstitutionell die Rolle der Parteien zu stärken und die des Gouverneurs zu schwächen. Der Konvent, in dem die Bucktails eine Dreiviertelmehrheit hatten, tagte ab dem 28. August 1821 in Albany. Van Buren verhielt sich auf der Versammlung moderat und vermittelte zwischen dem radikalen und konservativen Flügel. Einig waren sich beide Seiten in der Abschaffung des Council of Revisons, einem Regierungsgremium, das die Gesetzgebung der State Legislature kontrollierte. Die Amtszeit des Gouverneur wurde um ein Jahr auf zwei Jahre verkürzt. Das Wahlrecht wurde erweitert, so dass sich die Zahl der Wahlberechtigten im Bundesstaat auf 260.000 erheblich vergrößerte. Das Wahlrecht für freie Afroamerikaner war stark umstritten. Zwar opponierte Van Buren gegen die Kräfte, die es den Schwarzen komplett verweigern wollten, aber er setzte mit anderen das erforderliche Vermögen auf 250 US-Dollar an, wodurch vielen von ihnen das Wahlrecht verwehrt wurde. Als es um die Postenbesetzung ging, setzte sich Van Buren mit Ausnahme der Bestimmung von Friedensrichtern bei fast allen seinen Vorschlägen durch, die eine Auflösung des Council of Appointments und Ämtervergabe je nach Position durch Senat, Gouverneur oder in den meisten Fällen lokale Wahlen vorsahen, was die Parteikontrolle stärkte. Er war gleichfalls erfolgreich bei der Justizreform, die unter anderem eine Neubesetzung des New York Supreme Courts, also des Obersten Gerichts des Bundesstaats, vorsah, wodurch er Gegner wie Spencer und William W. Van Ness loswurde. Außerdem gelang es dem die Versammlung dominierenden Van Buren in der Verfassung einen neuen Zuschnitt der Senatsdistrikte festzuschreiben, der die Bucktails bei künftigen Wahlen begünstigte. Die Verfassunggebende Versammlung von 1821 war ein wichtiger Schritt im Wandlungsprozess Van Burens von einem Politiker regionaler zu einem von nationaler Bedeutung. In den Monaten nach dem Konvent erlangten die Bucktails als Parteimaschine auf Grundlage der neuen Verfassung durch Ämterpatronage und Klientelismus immer mehr politische Kontrolle über New York, so dass sie bald als Albany Regency (deutsch: „Albany-Regentschaft“) bekannt wurden, an deren Spitze Van Buren thronte. Obwohl die Albany Regency auf dem Spoils system aufbaute, war ihre Führung nicht korrupt, da sie Posten aus politischen und nicht persönlichen Gründen vergaben. Die Regency und Van Buren wurden bald zum Synonym für ein neues politisches Konzept, das die Konsensorientierung der Gründerväter mit ihrer Verachtung für Parteien überwand und diese als demokratische Organisationen verstand, die mehr politische Teilhabe und das Austragen grundlegender, unvermeidlicher Konflikte ermöglichten. Als im Sommer 1822 Clinton bekannt gab, nicht mehr als Gouverneur zu kandidieren, hatte Van Buren endgültig über seinen politischen Erzfeind triumphiert.
==== Im Senat der Vereinigten Staaten ====
Nach der Verfassunggebenden Versammlung begab sich Van Buren nach Washington, um seinen Sitz im 18. Kongress der Vereinigten Staaten einzunehmen. Da er bis dahin für alle Söhne Pflegeeltern gefunden hatte, konnte er sich jetzt voll auf die Politik konzentrieren. Sein erster Auftritt im United States Capitol begann katastrophal, als er in seiner Rede vollständig den Faden verlor, verstummte und sich öffentlich erniedrigt wieder setzte. Nachdem er sich beruhigt hatte, setzte er die Rede fort und entschied die Debatte für sich. Trotz dieses schweren Starts wurde er schnell zu einer Führungsfigur im Senat und unter anderem Vorsitzender des Justizausschusses des Senats. Außerdem gelang es Van Buren, den Clintonian John W. Taylor als Sprecher des Repräsentantenhauses auszuschalten und durch Philip Pendleton Barbour zu ersetzen. Er entwickelte insbesondere zu den Old Republicans (deutsch: „Alte Republikaner“) um Nathaniel Macon, John Taylor of Caroline und John Randolph of Roanoke ein enges politisches Verhältnis. Diese Fraktion hing den klassischen republikanischen Idealen Jeffersons an und lehnte wie die Radikalen des Nordens, zu denen Van Buren und James Buchanan zählten, den Nationalismus Monroes ab. Zwar stimmten ihre Positionen in der Zollfrage und hinsichtlich der Subvention von Verkehrsprojekten nicht immer überein, doch insgesamt war die politische Nähe zu den Old Republicans richtungsweisend für Van Burens weitere Laufbahn. Van Burens Ziel war es, die Demokratischen-Republikaner innerhalb eines Mehrparteiensystems wiederzubeleben. Dazu strebte er die Gründung einer neuen nationalen Parteiorganisation von bisher nicht gekannter Stärke und Reichweite an, deren Fundament zum einen eine Allianz seines Heimatstaats mit Virginia bildete und zum anderen ein attraktives Programm, das den Interessen von möglichst vielen Regionen und Gesellschaftsgruppen entgegenkam. Anfangs gestaltete sich der Fortschritt bei diesem Vorhaben langsam. Van Buren geriet früh in einen Konflikt um Ämterpatronage mit Präsident Monroe, was das Misstrauen in den Präsidenten weiter verschärfte. Für ihn war der sich mit vielen Föderalisten umgebende Monroe nur an der Oberfläche ein Republikaner. Zu dieser Zeit wurde offensichtlich, dass George Washingtons Ideal von einem Staat ohne Parteienkonkurrenz in einem Land, das keine einfache Agrargesellschaft mehr war, sondern nach Westen expandierte und wie insbesondere New York zunehmend durch Urbanisierung, Industrialisierung und Finanzkapital geprägt wurde, nicht funktionieren konnte.Van Buren pflegte zur Damenwelt Washingtons vielerlei freundschaftliche Beziehungen, ohne Affären zu beginnen. Insbesondere seine Verbindung mit Ellen Randolph, einer Enkelin von Jefferson, sorgte in der Stadt für Klatsch. Ab dieser Zeit knüpfte Van Buren zu außergewöhnlich vielen Politikern aus den Südstaaten enge Beziehungen, darunter von Anfang an einflussreiche Personen wie John C. Calhoun oder Randolph. Zukünftig bedeutsame Freundschaften mit jüngeren Südstaatlern schloss er mit Louis McLane und William Cabell Rives. Früher als andere erkannte er das politische Potenzial von Reisen und besuchte regelmäßig für längere Zeit den Süden. Eine seiner Verbindungen hier baute er zu dem Journalisten Thomas Ritchie auf, dem führenden Kopf der Richmond Junto (deutsch: „Richmond-Clique“), die als Parteimaschine Virginias das Pendant zur Albany Regency war. Im Mai 1824 besuchte er für mehrere Tage Jefferson in Monticello. Die Begegnung mit seinem Idol hauchte Van Burens republikanischen Idealen neues Leben ein und bestärkte ihn in seiner prinzipiellen Abneigung gegen Präsident Monroe. Gleichfalls im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 1824 begann Van Buren eine Korrespondenz mit Ex-Präsident Madison und besuchte mit John Adams einen weiteren in Quincy.Die um Vereinigung politischer Gegensätze und Verschmelzung von Parteien bemühte Präsidentschaft Monroes, die das Kennzeichen der Era of Good Feelings (deutsch: „Ära der guten Gefühle“) war, hatte durch ihre Passivität die Rivalitäten zwischen Personen und Fraktionen verstärkt. So kam es, dass die Präsidentschaftswahl 1824 mit Außenminister John Quincy Adams, Finanzminister Crawford, Kriegsminister Calhoun, Henry Clay und Jackson ein außergewöhnlich starkes Teilnehmerfeld verzeichnete. Van Buren unterstützte nach reiflicher Überlegung ab Frühjahr 1823 Crawford, der den Positionen der Old Republicans am nächsten stand und nach Van Burens Einschätzung am ehesten die Nord- und Südstaaten hinter sich vereinigen konnte. Im Februar 1824 berief Van Buren einen Caucus der Demokratisch-Republikanischen Kongressabgeordneten ein; dies war seit 1796 das Mittel zur Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten. Zu dieser Zeit galt diese Form der Nominierung aber bereits als anachronistisch und zu wenig demokratisch, weshalb bis auf Crawford keiner der anderen Kandidaten und auch nur wenige Kongressmitglieder anwesend waren. Diese Rumpfversammlung von 66 Kongressabgeordneten wählte Crawford zum Präsidentschaftskandidaten und Albert Gallatin zu seinem Running Mate. Wichtiger als diese Wahl ist die Tatsache, dass diese Versammlung den Aufstieg einer neuen mächtigen Koalition von Politikern aus Nord- und Südstaaten signalisierte, einer Proto-Partei, die unter Führung von Van Buren und Ritchie stand und die Basis für Jacksons Sieg im Jahr 1828 bildete. Kurze Zeit später versuchte Adams, Van Buren in New York als politischen Gegner aus dem Weg zu räumen, indem er ihn Präsident Monroe vergeblich für eine Berufung in den Obersten Gerichtshof vorschlug.Ein Schlaganfall ließ Crawford im Spätsommer 1823 weitgehend stumm, taub und bewegungsunfähig zurück; für die Wahlkampagne bedeutete das einen herben Rückschlag, auch wenn er sich später etwas erholte. Dass Van Buren als Hauptverantwortlicher den Wahlkampf dennoch nicht abbrach, wurde ihm später als Fehlverhalten angelastet. In New York hatte Van Buren mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Um die wichtigen Wahlmännerstimmen aus New York im Electoral College zu sichern, verhinderte Van Buren die Einführung eines Popular Vote, die von Gegnern der Albany Regency vorangetrieben wurde, so dass die Wahlmänner weiterhin von der State Legislature bestimmt wurden. Als hinderlich für die Kampagne erwies sich die durch einen Bucktail vorgenommene Entlassung Clintons aus der Erie Canal Commission. Diese Demütigung erregte in der Öffentlichkeit so viel Mitleid, dass Clinton erneut zum Gouverneur gewählt wurde. Bei der Abstimmung über die Wahlmänner in der State Legislature im November 1824 wurde Van Buren schließlich politisch ausmanövriert, als sich die Lager von Clay und Adams auf eine gemeinsame Liste verständigten und Crawford in New York so nur vier Wahlmänner blieben. Später kam es zu einem Patt im Electoral College und das Repräsentantenhaus wählte im Februar 1825 Adams zum Präsidenten, wobei entscheidend war, dass Stephen Van Rensselaer III. trotz anderslautender Zusage an Van Buren am Ende doch für Adams stimmte. Für Van Buren war es in dreifacher Hinsicht eine Niederlage: Er hatte auf den falschen Mann gesetzt, zu lange an diesem festgehalten und die Wahl von Adams nicht verhindern können, der für den Quasi-Föderalismus der Regierung Monroes stand. Daneben schädigte dieses Ereignis Van Burens Parteiorganisation und die Albany Regency.Eines von Van Burens Hauptanliegen war, das rapide gestiegene wirtschaftliche und demographische Gewicht New Yorks in mehr politischen Einfluss innerhalb der amerikanischen Union umzumünzen. Zu diesem Zweck und um die geschwächte Parteibasis in New York zu stärken, verständigte er sich nach der verlorenen Präsidentschaftswahl mit Clinton. Durch dieses Bündnis konnte Van Buren seine Proto-Partei für die kommende Präsidentschaftswahl hinter Jackson vereinigen, in dem er die stärkste Alternative zu Adams sah, und seine Wiederwahl in den 20. Kongress im Februar 1827 sichern. Als Lehre aus der Niederlage von 1824 zog er die Erkenntnis, dass für einen Sieg die Integration divergierender Interessen in eine Plattform notwendig war. Als diese gemeinsame Basis diente der Missouri-Kompromiss von 1820, an dessen Entstehung und Etablierung fast alle der bedeutenden politischen Führungsfiguren der folgenden Jahrzehnte beteiligt waren. Die unbeholfene und unpopuläre Präsidentschaft Adams’, der etliche frühere Föderalisten in wichtige Positionen hievte, spielte Van Buren dabei in die Hände, den Republikanismus im klassischen Sinne Jeffersons zu erneuern und diese Bewegung zu einer vollwertigen Oppositionspartei zu entwickeln. Eine wichtige Rolle spielte eine Sommerfrische Van Burens im Jahr 1826 in Saratoga Springs, wo er begann, die gegnerischen Fraktionen von Calhoun, Crawford und Jackson zusammenzuführen. Als erste gemeinsame Anstrengung dieser Kräfte im 19. Kongress erwies sich die in der Tradition von Washington, Jefferson und Monroe stehende isolationistische Opposition gegen die Teilnahme der Vereinigten Staaten am Panama-Kongress vom Juli 1826. Über Weihnachten 1826 begab sich Van Buren nach South Carolina und gewann dort von Calhoun, der Vizepräsident im Kabinett John Quincy Adams war, die Unterstützung für Jackson als Präsidentschaftskandidaten. Calhoun wurde später Vizepräsident unter Jackson, diente also unter zwei konkurrierenden Präsidenten in dieser Funktion, ein bis heute einmaliger Vorgang in der amerikanischen Politikgeschichte. Auf einer weiteren Reise in die Südstaaten gewann Van Buren Crawford für das Jackson-Lager. Van Buren verbündete sich zudem mit weiteren politischen Führungsfiguren aus anderen Bundesstaaten, wie zum Beispiel Buchanan in Pennsylvania, Amos Kendall und Francis Preston Blair in Kentucky, Isaac Hill in New Hampshire, Benton in Missouri und John Henry Eaton und Sam Houston von der Nashville Junto, der Parteimaschine Tennessees. Im Herbst 1827 konzentrierte sich Van Buren auf die Wahlen zur New York State Assembly, wo er die aufkommende Anti-Masonic Party bekämpfte, und konnte für die Jacksonians einen klaren Sieg erreichen. Er festigte zu dieser Zeit die Beziehung zu Jackson, der lange Zeit unschlüssig war, ob er es in New York mit Van Buren oder Clinton als Verbündeten halten sollte. Nach dem Tod Clintons im Februar 1828 war diese Frage zugunsten Van Burens geklärt und die politische Freundschaft zu Jackson vertiefte sich.Die meisten dieser Operationen verbarg Van Buren vor der Öffentlichkeit, wobei es ihm fast immer gelang, die Spuren zu verwischen. Einblicke in die Tätigkeiten dieser Zeit gibt vor allem ein Brief an Ritchie vom Januar 1827. Darin gab er der Hoffnung Ausdruck, mit seiner neuen Organisation, die er Democracy (deutsch: „Demokratie“) nannte, die politische Landschaft substanziell zu verändern. Ziel sei es, die Unordnung der Kandidatenauswahl für die Präsidentschaft so zu systematisieren, dass sie weniger von den betreffenden Persönlichkeiten, sondern von politischen Inhalten bestimmt werde. Durch das Entstehen einer nationalen Partei, die „die Pflanzer des Südens und einfachen Republicans des Nordens“ vereine, könnten die mit der Sklavereifrage verbundenen Spannungen zwischen Nord- und Südstaaten, insbesondere die abolitionistischen Attacken auf die Institution der Sklaverei als solches, aufgefangen werden. Von Historikern wurde dieser Brief später häufig als Beleg dafür angeführt, dass Van Buren ein Anhänger der Sklaverei gewesen sei. Laut dem Historiker Sean Wilentz ging es Van Buren jedoch nicht um den Schutz der Sklaverei, sondern darum, dieses Thema aus der Wahl herauszuhalten, um so die in der Democracy versammelten, gemäßigten Kräfte in Nord und Süd zu stärken. Ohne es explizit zu artikulieren, ging Van Buren davon aus, dass in diesem Bündnis Ritchies Virginia der Juniorpartner von New York sein werde. Der Aufbau dieser landesweit operierenden Parteimaschine konnte jedoch nicht lange verborgen werden. Schon bald arbeiteten sich die politischen Gegner daran ab, diese neue politische Einheit begrifflich einzugrenzen, wobei es zu schrillen Tönen kam und Van Buren unter anderem vorgeworfen wurde, eine zentralistische Junta zu schaffen, die die Spitze einer kabbalistischen Organisation bildete. Präsident Adams entging dies alles nicht und er meinte, starke Parallelen zwischen dem Intrigengeflecht Burrs im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1800 und Van Burens aktuellem Handeln erkennen zu können.
==== Präsidentschaftswahlen 1828 ====
Jackson und Van Buren, die sich vom Bundessenat her kannten, begegneten sich zu Anfang ihres politischen Bündnisses mit gegenseitigem Argwohn. Einerseits eilte Van Buren der Ruf des gerissenen und gewieften Little Magicians voraus, andererseits war auf Jacksons Prinzipientreue zu den republikanischen Idealen Jeffersons nicht immer Verlass. Auf der anderen Seite gab es einige biographische Gemeinsamkeiten wie die einfache Herkunft und eine frühe Faszination für Burr. Die politische Schnittmenge bestand vor allem in der Opposition zur Adams-Clay-Fraktion, aus der bis 1828 die National Republican Party entstand, und Skepsis gegenüber der privilegierten Oberschicht. Als wichtige Hürde im Kongress, in dem die Jacksonians seit den Wahlen von 1827 in der Mehrheit waren, erwies sich die Lösung der Zollfrage. Hier galt es die divergierenden und teilweise gegensätzlichen Interessen des produzierenden Gewerbes, der Landwirtschaft und des Handels sowie der Nord- und Südstaaten zusammenzubringen. Mit Unterstützung von Wright konnte Van Buren hier einen Kompromiss erreichen, wobei in erster Linie die Interessen der Schafzüchter und anderer Farmer im Norden und Nordwesten berücksichtigt wurden und in zweiter die der Fernhändler in New York, was Jacksons Popularität in diesen Regionen erhöhte. Die verarbeitenden Unternehmen in Neuengland und den nördlichen Mittelatlantikstaaten beklagten dagegen fehlende Protektion durch den „Zolltarif der Abscheulichkeiten“. Trotz dieser Kritik verdeutlichte die Verabschiedung der Zollgesetze zum einen einmal mehr Van Burens Fähigkeiten als Politiker, zum anderen gab sie einen Hinweis auf die künftige Stärke der Jacksonian Democrats sowohl als Partei des Präsidenten als auch als Macht im Kongress.Anders als bei der vorigen Präsidentschaftswahl konzentrierte sich Van Buren 1828 darauf, die Wahlmännerstimmen in New York zu gewinnen. Um dies zu erreichen und auf Druck der Albany Regency kandidierte er daher bei den Gouverneurswahlen, wobei ihm zugutekam, dass sich die Anti-Masonic Party und die National Republicans zu keinem Bündnis durchringen konnten. Van Buren setzte sich am Ende gegen Smith Thompson und Solomon Southwick durch, während Jackson einen Erdrutschsieg bei der Präsidentschaftswahl erreichte, wobei er die Mehrheit der Wahlmänner New Yorks gewann. In seiner Rede zur Amtseinführung im Januar 1829 widmete sich Van Buren modernen Problemen, die immer mehr New Yorker in Mitleidenschaft nahmen, nämlich Jugendkriminalität, Wahlrechtsreformen und Bankenregulierung. Er blieb nur kurz in diesem Amt, da Präsident Jackson Van Buren als Außenminister in sein Kabinett berief. Die Leitung des State Departments war der prestigeträchtigste Ministerposten, der in der Vergangenheit häufiger zur späteren Präsidentschaft geführt hatte. Van Buren hatte wenig außenpolitische Erfahrung und in dieser Beziehung nur dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass er sich in schrillen Tönen gegen Adams und Clay und für einen ziemlich einfach strukturierten Isolationismus ausgesprochen hatte. Größter Konkurrent Van Burens im Kabinett war Vizepräsident Calhoun.
==== Außenminister ====
Van Buren erreichte Washington erst einige Wochen nach Jacksons Amtseinführung als amerikanischer Präsident im März 1829. In der Hauptstadt wurde er sofort auf Schritt und Tritt von Bewerbern bedrängt, die bei ihm innerhalb des spoils systems auf eine öffentliche Anstellung drängten. Der erkrankte und noch um seine verstorbene Gattin, Rachel Jackson, trauernde Präsident Jackson empfing Van Buren wenige Stunden nach seiner Ankunft am 22. März sehr herzlich im Weißen Haus. Es war ihr erstes Treffen, seitdem sie ihr Bündnis eingegangen waren, und war der Anfang einer engen persönlichen Beziehung, in der die Gemeinsamkeiten überwogen, obwohl sie in der Öffentlichkeit oft als gerissener Berufspolitiker und willensstarker Kriegsheld gegenübergestellt wurden. Hierbei nahm Jackson die Rolle des Mentors ein und Van Buren die des Protegés. Van Buren gelang es mit seinem Verhandlungsgeschick und ausgeprägtem strategischen Verständnis, das schwer zu zügelnde Temperament des politisch unerfahrenen Jackson in produktive politische Bahnen zu lenken. Für die Administration, die er bei seiner Ankunft unorganisiert vorfand, bot die Albany Regency ein Handlungsschema, das eine ausgefeilte Ämterpatronage, enge Beziehungen zum Kongress und eigene Presseorgane vorsah. Zu einem ersten Rückschlag für Van Buren kam es, als er schwerwiegende Fehlbesetzungen im Rahmen des spoils systems nicht verhindern konnte. In einem Fall handelte es sich um die lukrative Schlüsselposition des Zolleintreibers im New Yorker Hafen, die entgegen seinem Rat vom leichtgläubigen Jackson mit dem zwielichtigen Bodenspekulanten Samuel Swartwout besetzt wurde, der später in diesem Amt mehr als eine Million US-Dollar öffentlicher Gelder veruntreute. Durch die Berufung der Verbündeten McLane und Rives als Botschafter in London und Paris konnte Van Buren sein politisches Ansehen wieder stärken. Er konkurrierte mit dem Calhoun-Lager und einer Fraktion von Politikern aus dem Westen, zu der Andrew Jackson Donelson, Eaton und Kendall gehörten, um Macht und Einfluss auf den Präsidenten. Allmählich entstand um Jackson ein sogenanntes Küchenkabinett aus engen Beratern, zu denen Van Buren zählte. Als schwerwiegendes Problem der ersten Amtszeit erwies sich das konfrontative Verhalten von Vizepräsident Calhoun, der sich von einem Nationalisten zu einem glühenden Vertreter der Südstaaten entwickelte. Auf den „Zolltarif der Abscheulichkeiten“ von 1828 reagierte er mit der Protestnote Exposition and Protest, die die Grundlage der Nullifikationsdoktrin bildete. Demnach besäßen einzelne Bundesstaaten im Rahmen des amerikanischen Föderalismus das Recht, das Umsetzen ihnen nicht genehmer Bundesgesetze zu verweigern.Diese Gemengelage aus Jacksons Temperament, der Rivalität zwischen Calhoun und Van Buren sowie einer klatschsüchtigen Hauptstadt mit allen negativen Begleiterscheinungen bildete die Grundlage für die Petticoat Affair, die enorme politische Folgen zeitigte. Auslöser dieser Affäre war die Gattin des Kriegsministers Eaton, Margaret „Peggy“ O’Neale, die noch während ihrer ersten Ehe eine sexuelle Beziehung zu Eaton angefangen hatte. Dies machte sie in der High Society Washingtons zur Unperson. Die Ehefrauen der Kabinettsmitglieder, allen voran Floride Calhoun, und die inoffizielle First Lady, Jacksons Nichte Emily Donelson, verweigerten O’Neale ihren Respekt, obwohl der Präsident sie in Schutz nahm. Van Buren, der sich als einziges Kabinettsmitglied um Aussöhnung bemühte, ging aus dieser Affäre politisch gestärkt hervor. Bis Dezember 1829 entschied sich Jackson deshalb gegen Calhoun und für Van Buren als seinen Nachfolger. Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielte außerdem Van Burens Erfolg im State Department. So konnte er ein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich aushandeln, das im November 1830 die Häfen der British West Indies für amerikanische Schiffe öffnete, wobei ihm seine Anglophilie zugutekam. Von Frankreich erreichte er im Juli 1831 eine Entschädigungszahlung für Beschlagnahmungen im Seehandel, die noch in die Zeit der Koalitionskriege zurückreichten. Außerdem gelang es ihm, ein Abkommen mit dem Osmanischen Reich auszuhandeln, das die Basis für die spätere strategische Allianz dieser beiden Staaten wurde. Van Burens Bemühen, Texas aufzukaufen, scheiterte jedoch am Widerwillen Mexikos. Auch innenpolitisch beriet er den Präsidenten und schuf die Grundlage für ein Veto Jacksons, das Bundesmittel für ein Straßenbauprojekt in Kentucky verhinderte. Van Burens Linie war es, solche Infrastrukturmaßnahmen, die angesichts der Westexpansion und des wirtschaftlichen Wachstums Amerikas an Häufigkeit deutlich zunahmen, nur zu fördern, wenn sie mehrere Bundesstaaten betrafen.
Innenpolitisch versuchte Van Buren zwischen dem Nationalismus Jacksons und den die Rechte der Bundesstaaten stark betonenden Old Republicans zu vermitteln, was in der ersten Jahreshälfte 1830 auf eine schwere Probe gestellt wurde. Am 13. April 1830, kurz nach einer intensiven Debatte im Senat zwischen Robert Young Hayne und Daniel Webster über den Vorrang des Bundes über die Einzelstaaten, kam es auf einem Empfang anlässlich des Geburtstags von Jefferson zum offenen Bruch zwischen Calhoun und Jackson. Da dieses Dinner vom Calhoun-Anhänger Hayne organisiert wurde, hatten Van Buren und Jackson schon im Vorfeld eine Falle geahnt und sich vorbereitet. Als Jackson am späten Abend einen Trinkspruch auf die amerikanische Union ausbrachte, reizte dies Calhoun so sehr, dass er im Zorn mit einem Toast auf die Freiheit der Bundesstaaten antwortete. Typischerweise versuchte Van Buren mit seinem Trinkspruch noch zu vermitteln, ohne diesen öffentlichen Bruch zwischen Präsident und Vizepräsident kitten zu können. Für Calhoun verschlechterte sich die Situation noch weiter, als der Präsident erfuhr, dass sich jener 1818 als Kriegsminister im Kabinett Monroe für seine Verhaftung und Verurteilung wegen der Invasion der spanischen Kolonie Florida ausgesprochen hatte. Um die eigene Nachfolge als Präsident zu sichern und ein neues Kabinett ohne Calhoun-Anhänger herbeizuführen, überredete Van Buren Jackson, seinen Rücktritt als Außenminister anzunehmen. Zudem hatte er das Gefühl, in diesem Amt bereits das Bestmögliche erreicht zu haben. Jackson ernannte daraufhin Van Buren zum amerikanischen Botschafter in London.
==== Botschafter im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland ====
Mitte August 1831 brach Van Buren in das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland auf und nahm seinen Sohn John als persönlichen Assistenten mit. Jackson stattete ihn mit einer sehr großzügigen Versorgung aus, die er vollends ausschöpfte. Er stand bald auf freundschaftlichem Fuß mit der britischen Königsfamilie. Eine besonders bedeutsame Freundschaft entwickelte sich zu dem Schriftsteller Irving, der als Sekretär in der Botschaft arbeitete und die Van Burens in die englische Kultur und Geschichte einführte. Bei einer Gelegenheit begegnete er Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, wobei eine lange Unterhaltung zwischen den beiden stattfand, da sie sich auf Anhieb sympathisch waren. Da der mit dem Vereinigten Königreich umstrittene Grenzverlauf des Nordostens der Vereinigten Staaten unter Vermittlung des niederländischen Königs Wilhelm I. kurz zuvor beigelegt worden war, hatte Van Buren wenig diplomatische Verpflichtungen. Van Buren entwickelte so starke Sympathien für die englische Klassengesellschaft – er stand dort beispielsweise in der Frage einer Wahlrechtsreform eher auf Seiten des konservativen House of Lords –, dass ihn ein Landsmann daran erinnerte, ein amerikanischer Republikaner zu sein. Im Februar 1832, kurz vor einem Empfang bei Königin Victoria, erfuhr Van Buren, dass der Senat seine Ernennung zum Botschafter mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt hatte, wobei das entscheidende Votum im 22. Kongress Vizepräsident Calhoun abgegeben hatte, der zuvor die Demokraten verlassen hatte. Dieses Ereignis führte ähnlich wie bei Clintons Entlassung aus der Erie Canal Commission im Jahr 1824 zu einer Welle der Sympathie mit dem Geschassten, der im Status eines Märtyrers nach Amerika zurückkehrte. Bevor Van Buren die Heimreise antrat, besuchte er das Königreich der Vereinigten Niederlande und Köln, um Ahnenforschung zu betreiben.
==== Vizepräsident ====
Auf der ersten Democratic National Convention im Mai 1832 in Baltimore wurde Van Buren in Abwesenheit zum Running Mate Jacksons für die Präsidentschaftswahl des gleichen Jahres gewählt. Als Van Buren am 5. Juli wieder amerikanischen Boden betrat, stellte er schnell fest, dass seine einjährige Abwesenheit in einen politisch günstigen Zeitraum gefallen war. In dieser Zeit hatten im Kongress die Debatten um den Ablauf der Charta der Second Bank of the United States, die als „Bankenkrieg“ bekannt wurden, sowie eine neue Zollgesetzgebung das Lager der Demokraten bis in das Kabinett hinein tief gespalten. Insbesondere zwischen den Nord- und Südstaaten öffnete sich ein tieferer Graben. Nur wenige Tage nach seiner Ankunft führte Jackson mit einem Veto das Ende der Second Bank of the United States herbei. Als New Yorker blickte Van Buren wesentlich wohlwollender auf das Konzept einer Zentralbank als die Vertreter der westlichen Bundesstaaten, die Jackson umgaben. Trotzdem blickte Van Buren dem Ende der Second Bank of the United States machtlos entgegen und blieb auch in der darauf folgenden Frage, nämlich der Auslagerung der Bundesmittel aus der Zentralbank und Einlagerung in andere Banken, passiv. Die Nullifikationskrise spitzte sich 1832 so weit zu, dass Calhoun mit der Sezession South Carolinas drohte und Jackson im Gegenzug im Januar 1833 mit Bundestruppen und dem Ausrufen des Ausnahmezustands, wobei Van Buren dieses sogenannte Force Bill (deutsch: „Streitkräftegesetz“) persönlich ablehnte. Letztendlich konnte der Konflikt für beide Seiten gesichtswahrend entschärft werden, aber vergiftete das Klima zwischen den Nord- und Südstaaten bis in die 1860er Jahre. Van Buren und sein politisches Lager konnten sich bei all diesen Auseinandersetzungen zugutehalten, eine gemäßigte Position zwischen den Extremen einzunehmen. Diese Konflikte schärften das ideologische Profil der Jacksonian Democracy, das drei miteinander verwobene Leitlinien bildeten: einen robusten, an der Verfassung orientierten Nationalismus, der durch Zurückhaltung bei der Ausgabenpolitik der Bundesregierung gezügelt wurde, ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der Macht konzentrierten Kapitals und die absolute Priorisierung des demokratischen Volkswillens.Zu dieser Zeit gab es erste Initiativen, eine neue Partei zu formieren, die als oberstes Ziel den Erhalt der amerikanischen Union hatte und dagegen ankämpfen wollte, dass der wirtschaftlich rückständige Süden über so viel Macht im Kongress verfügte. Van Buren sah diese Entwicklung mit Sorge und unterdrückte sie mit aller Macht, da er um seine Chancen fürchtete, Jackson nachzufolgen, und die Macht der Demokraten als nationale Partei gefährdet sah. Als Bündnis fast ausschließlich von der Abneigung gegen Jackson und Van Buren zusammengehalten, kam es zu einer Parteibildung aus einer anderen Richtung. Diese Bewegung, die in Anlehnung an die britischen Whigs und ihren Kampf gegen König Georg III., mit dem Präsident Jackson identifiziert wurde, bald als United States Whig Party bekannt wurde, war eine überraschende Allianz aus Quasi-Föderalisten aus den Nordstaaten und Politikern aus den Südstaaten, die die Rechte der Einzelstaaten über die des Bundes setzten. Prominente Angehörige der Whigs waren Clay, Webster und für eine Zeit lang Calhoun. Trotz allem siegten Jackson und Van Buren bei der Präsidentschaftswahl 1832 gegen Clay und John Sergeant von der National Republican Party. Im Sommer 1833 bereiste er mit Jackson öffentlichkeitswirksam New York und Neuengland und stärkte damit den Zusammenhalt der Demokraten.
==== Präsidentschaftswahlen 1836 ====
Gewöhnlich beginnt die Debatte um die Präsidentennachfolge zwei Jahre vor der Wahl; so war es auch in diesem Fall. Im Jahr 1834 fingen die Diskussionen darüber an, inwieweit Van Buren ein würdiger und fähiger Nachfolger für Jackson sei. Da er während seiner Karriere etliche Politiker ausmanövriert hatte, darunter viele, die von besserer Herkunft waren und deswegen ihre Niederlage wie Calhoun persönlich nahmen, sah er sich stellenweise Hass ausgesetzt. Hinzu kam, dass Jacksons Präsidentschaft beispielsweise durch die Zolltarife und das Ende der Second Bank of the United States vielerorts für Irritationen gesorgt hatte, für die Van Buren mitverantwortlich gemacht wurde. In den Südstaaten wurde ihm vorgeworfen, mit den Abolitionisten zu sympathisieren, wobei seine Haltung während des Missouri-Kompromisses und die Freundschaft zum Sklavereigegner Rufus King als Belege dienten. Viele in dieser Region hielten ihm zudem seine persönliche Fehde mit Calhoun vor. In den Nordstaaten dagegen stieß Van Buren häufig auf Ablehnung, weil er als ein Befürworter der Sklaverei angesehen wurde. Viele störten sich auch daran, dass Van Buren ein Berufspolitiker war. Er wurde von etlichen Humoristen als Sujet aufgegriffen, wobei häufig seine geringe Körpergröße und kräftigere Statur thematisiert wurden. Der Politiker Davy Crockett karikierte Van Buren als verweiblichtes und androgynes Wesen und verpasste ihm den Spitznamen Aunt Matty (deutsch: „Tante Matty“). In die gleiche Richtung ging die mit Unterstützung Calhouns 1836 veröffentlichte Erzählung The Partisan Leader von Nathaniel Beverley Tucker.Als größter Vorteil Van Burens für die Präsidentschaftswahl erwies sich die Unterstützung durch Jackson, der ihn gezielt als seinen Nachfolger aufbaute. Dazu nutzte er die ihm ergebenen Parteiführer als auch die demokratisch kontrollierte Presse. Dies war entscheidend dafür, dass parteiinterne Auseinandersetzungen endeten und Van Buren auf der zweiten Democratic National Convention im Mai 1835 in Baltimore mit klarer Mehrheit als Präsidentschaftskandidat gewählt wurde. Sein Running Mate wurde Richard Mentor Johnson, der sich im Britisch-Amerikanischen Krieg militärisch ausgezeichnet hatte. Wie damals üblich und von den Kandidaten erwartet wurde, verhielt sich Van Buren im Wahlkampf passiv. Er profitierte stark davon, dass die regional zerstrittenen Whigs mit William Henry Harrison, Daniel Webster und Hugh Lawson White drei unterschiedliche Kandidaten aufstellten. Am Ende siegte Van Buren mit einem Popular Vote von 50,8 % und 170 zu 124 Wahlmännern im Electoral College. Er wurde damit der bis dahin jüngste Präsident der amerikanischen Geschichte. Noch vor seinem Amtsantritt erkannten einige Analysten in der Wirtschaft erste Anzeichen für eine kommende Krise.
=== Präsidentschaft ===
Die Amtseinführung am 4. März 1837 hatte mehr als 20.000 Zuschauer. Jackson warnte in seiner Abschiedsrede vor Spekulantentum und der zunehmenden Macht des Kapitals. Van Buren betonte in der Antrittsrede sein für einen Präsidenten jugendliches Alter. Ein zentrales Thema war die amerikanische Verfassung, die im Jahr zuvor ihr 50. Jubiläum gefeiert hatte. Van Buren gab einen umfassenden Abriss ihrer Geschichte und führte aus, dass ihr demokratischer Geist so lange blühen werde, wie untereinander Kompromissbereitschaft herrsche. Des Weiteren richtete er die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Neuerungen in Transport, Wirtschaft und Parteienwettbewerb. Zum Abschluss kam er auf die Sklaverei zu sprechen und versprach, sich in dieser Angelegenheit nie als Präsident einzumischen. Insgesamt wies seine allgemein gehaltene Antrittsrede auffällige Ähnlichkeiten zu Jacksons Abschiedsadresse auf. Um die Kontinuität zur Politik seines Vorgängers zu wahren, übernahm Van Buren die meisten Amtsträger aus der Regierung Jacksons. Wenn er Positionen neu besetzte, zeigte er eine Präferenz für Bewerber aus den Südstaaten. Da Van Buren verwitwet war, blieb die Rolle der First Lady zuerst unbesetzt und wurde nach der Hochzeit seines ältesten Sohnes im November 1838 von der Schwiegertochter Angelica Van Buren übernommen.Van Burens Amtsantritt bedeutete einen Generationenwechsel; er war der erste als natural born citizen zur Welt gekommene amerikanische Präsident. Da er deutlich jünger und geselliger als Jackson war, brachte er frischen Wind in das Gesellschaftsleben der Hauptstadt, wozu auch seine vier zu dieser Zeit unverheirateten Söhne beitrugen. Von diesen fand besonders John allgemeines Gefallen und begann, selbst als Politiker auf sich aufmerksam zu machen. Im Weißen Haus fanden große Gesellschaften statt, die wie im Falle der Veranstaltung des „offenen Hauses“ im Frühling 1838 bis zu 5000 Gäste hatten. Beachtung fanden außerdem die verschwenderischen Dinners, die er als Gastgeber ausrichtete. Van Buren brach mit einer Tradition seiner Vorgänger und akzeptierte Einladungen zu Empfängen von Kabinettsmitgliedern und sogar prominenten Oppositionspolitikern. Unmittelbar nach Amtsantritt ließ er die in die Jahre gekommene Inneneinrichtung des Weißen Hauses erneuern. Van Buren war ein leidenschaftlicher Leser und lud viele junge Literaten in das Weiße Haus ein, die er ermunterte, Artikel in der United States Magazine and Democratic Review zu veröffentlichen. Etlichen von ihnen verschaffte er Dienstposten in der Regierung, darunter George Bancroft und James Kirke Paulding. Da der hitzig geführte Dauerkonflikt zwischen Whigs und Demokraten zu einem immer weiter verbreiteten Interesse an politischen Nachrichten führte, was nicht zuletzt Van Buren befördert hatte, gab es außerdem mehr Publikationsplattformen für talentierte Autoren als in der Vergangenheit. Er zeigte auch Interesse an den Naturwissenschaften. So setzte er sich persönlich für den Forscher Charles Wilkes ein und ermöglichte ihm, die United States Exploring Expedition durchzuführen. Die umfangreichen Kartierungsdaten dieser Expedition waren sehr bedeutsam und fanden später im Pazifikkrieg Gebrauch.
==== Wirtschaftskrise von 1837 ====
Nachdem das Jahr für den frisch gewählten Präsidenten noch vielversprechend begonnen hatte, brach nur kurz nach seiner Amtseinführung die Wirtschaftskrise von 1837 aus, die bis zur Great Depression im Jahr 1929 die schlimmste Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten war. Bereits im Februar hatte es in New York City erste Ausschreitungen gegeben, als die Menge gegen hohe Mehlpreise protestierte. Dass es sich hier um eine schwere Krise nationaler Tragweite handelte, wurde der Öffentlichkeit ab Mitte März 1837 klar. Die Krise steckte neben New York City rasch andere Städte wie Philadelphia, Baltimore und New Orleans an und verschonte kein anderes Geschäftszentrum der Vereinigten Staaten. Sie breitete sich über den Atlantik nach Europa aus, das in hohem Maße in die boomende amerikanische Wirtschaft investiert hatte. Schon im frühen Mai mussten die großen Banken in New York City schließen. Am 15. Mai berief Van Buren schließlich den 25. Kongress der Vereinigten Staaten für September zu einer außerordentlichen Sitzung ein.Die Frage nach den Ursachen der Wirtschaftskrise von 1837 wird bis heute diskutiert. Bis zu diesem Jahr hatte Amerika ein extremes Wachstum erlebt, das mit einem nicht nur auf die Wall Street beschränkten, sondern die ganze Nation ergreifenden Spekulationsfieber einherging. Einige Tycoons wie zum Beispiel Johann Jakob Astor waren zu extremem Wohlstand gelangt, insbesondere im Immobiliengeschäft, das von der Westexpansion der Vereinigten Staaten profitierte. Hinzu kamen neuartige Wirtschaftsunternehmen wie die florierende Zeitungsindustrie, die in der Bevölkerung die Gier nach Sensationen nährte und Informationen zu einem Wettbewerbsvorteil machte. Wahrscheinlich am besten symbolisiert der Siegeszug der Eisenbahn in Amerika die aufgewühlte wirtschaftliche Stimmung dieser Zeit. Der Streckenbau hier kam der exorbitanten Nachfrage schon lange nicht mehr hinterher. Die meisten dieser erfolgreichen Unternehmen waren im industrialisierten Norden ansässig, so die Stahl- und Eisenindustrie und der Schiffbau. Obgleich der Wohlstand die Bevölkerung erreichte und allerseits Optimismus vorherrschte, kam das verstörende Gefühl auf, mit der einfachen republikanischen Vergangenheit etwas Kostbares zu verlieren. So war bis 1830 ein genereller Mentalitätswandel eingetreten, wonach Wettbewerb und das prätentiöse Streben nach Popularität nicht mehr verpönt, sondern überwiegend honoriert wurden. Damit einher ging eine Kommerzialisierung und Individualisierung der Gesellschaft, die prominent von Alexis de Tocqueville in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika 1835 beschrieben wurde. Die Epoche der Vereinigten Staaten als ländlich geprägte Agrarrepublik war somit unwiderruflich zu einem Ende gekommen.Dieser Bewusstseinswandel stieß bei den Demokraten, die sich immer noch den klassischen Idealen Jeffersons verpflichtet fühlten, auf Widerstand. Insbesondere im Westen betrachtete man mit großer Abscheu die durch die immer zahlreicher werdenden Banken lancierten Landspekulationen, die Siedlern diese Flächen nahmen. Diese Geschäfte wurden oft über dubiose Banken und Mittelsmänner abgewickelt. Der sich den Interessen des Westens verpflichtet fühlende und Banken abgeneigte Jackson hatte 1836 darauf mit dem Specie Circular (deutsch: „Hartgeld-Rundschreiben“) reagiert. Diese Direktive schrieb vor, dass Landkäufe nur noch mit Gold- oder Silbermünzen abgewickelt werden durften. Abgesehen davon, dass viele Demokraten bankenfreundlicher eingestellt waren, hatten andere Maßnahmen Jacksons, insbesondere die Überweisung der Haushaltsüberschüsse des Bundes an die Einzelstaaten, die Spekulationsfreude noch weiter angeheizt. Nach dem Specie Circular trat der gegenteilige Effekt ein, denn die nun eine Verknappung des Geldumlaufs fürchtenden Banken riefen ihre Kredite zurück, was zur Panik beitrug. Außerdem bestand zu Großbritannien ein unvorteilhaftes Handelsdefizit. Als es in England und Irland zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten kam, forderten die Gläubiger ihre Kredite aus Übersee ein. Da zeitgleich die Preise für Baumwolle sanken und die Vereinigten Staaten insgesamt unter Ernteausfällen litten, brachte dies die amerikanischen Banken in Zahlungsschwierigkeiten.
Die unmittelbaren Auswirkungen der Depression waren eine Pleitewelle, ein massiver Verlust an Liquidität und Massenarbeitslosigkeit. Es kam zur Verarmung ganzer Gesellschaftsschichten und selbst zu Hungertoten. Es dauerte nicht lange und die Wirtschaftskrise wurde zu einem politischen Desaster für den Präsidenten, dem die Whigs die Verantwortung für die Depression zuwiesen. Van Buren, der als Anhänger Jeffersons seine ganze politische Karriere danach gestrebt hatte, die Macht der Bundesregierung zu beschränken, war nun an den Grenzen dieser klassischen republikanischen Ideale angelangt. Den ganzen Sommer über suchte er nach Rat bei führenden Demokraten, doch ein tiefer Riss zog sich durch die Partei. Das westliche Lager um Jackson bestand dogmatisch auf Münzpolitik und strikter Trennung von Staat und Finanzkapital. Andere Demokraten, insbesondere aus den entscheidenden Staaten New York und Virginia, sprachen sich für die Ausgabe von Papiergeld und Unterstützung der Bundesstaatsbanken aus. Auf der außerordentlichen Sitzung des Kongresses am 5. September 1837, der ersten, die nicht einen militärischen Anlass hatte, hielt Van Buren eine viel beachtete, sich durch Klarheit und Präzision auszeichnende Rede. Er versuchte mit seinen Vorschlägen, beide Lager innerhalb der Demokraten zufriedenzustellen. Für die Anhänger einer harten Währung sah er Gesetze vor, die den Transfer der Haushaltsüberschüsse des Bundes an die Banken der Bundesstaaten aussetzten, sowie die Einlagerung der Bundesmittel in ein bankenunabhängiges Schatzamt. Den bankenfreundlichen Demokraten bot Van Buren Maßnahmen an, die einen Aufschub von Bundesklagen gegen säumige Zahler sowie die Ausgabe von Banknoten beinhalteten. Bis auf einen dieser Gesetzesvorschläge wurden in der Folge alle im Kongress verabschiedet. Das wichtigste Gesetz jedoch, die Einrichtung eines unabhängigen Schatzamtes, wurde nach einem knappen Sieg im Senat im Repräsentantenhaus abgelehnt. Die Wirtschaftskrise schwächte Van Buren als Präsidenten in weiterer Hinsicht, indem sie die bis dahin zersplitterten Whigs im Kampf gegen die vorgeblichen Verursacher der Depression, die Demokraten, einte. Auf der anderen Seite zerstörte sie den Zusammenhalt bei den Demokraten als nationale Partei. Des Weiteren offenbarte diese Krise, dass Van Buren kein charismatischer und inspirierender Führer wie Jackson war, der Partei und Nation hinter sich sammeln konnte.Selbst in seinem Heimatstaat New York geriet Van Buren in die Defensive. Hier hatte sich während der 1830er Jahre ein radikaler Flügel innerhalb der Demokraten gebildet, die sogenannten Locofocos (deutsch: „Streichhölzer“). Zu dieser Bezeichnung waren sie gekommen, als ihnen ihre Gegner bei einer Versammlung das Licht gelöscht hatten und sie zu Streichhölzern als Leuchtmittel gegriffen hatten. Die in den Großstädten beheimateten Locofocos verachteten die privilegierte Oberschicht, waren Anhänger der Münzgeldpolitik Jacksons und begrüßten das Ende der Second Bank of the United States. Ihr übergeordnetes Ziel war eine egalitäre Gesellschaft. Als Van Buren in seinen Vorschlägen vom September 1837 einige ihrer Punkte aufgriff, insbesondere hinsichtlich Banken, reagierte die Albany Regency darauf mit Besorgnis. Erwartungsgemäß straften die Wähler angesichts der Wirtschaftskrise die gespaltenen Demokraten bei den Wahlen in New York im Herbst 1837 ab und bescherten den Whigs einen klaren Sieg. Bis zum Frühling 1839 trat eine wirtschaftliche Erholung ein und das Preisniveau erreichte fast den Stand von vor der Krise, was aber der feindseligen Stimmung gegenüber Van Buren keinen Abbruch tat. Im Herbst 1839 folgte eine zweite, etwas schwächere Depressionsphase, die den Markt wieder auf Talfahrt schickte und die Machtlosigkeit des Präsidenten diesen Mechanismen gegenüber unterstrich. Zwar gelang es 1840 endlich, das Gesetz zur Bildung eines unabhängigen Schatzamtes durch den Kongress zu bringen, jedoch wurde es nicht der große, vom Präsidenten erhoffte Durchbruch. Insgesamt blieb Van Burens Präsidentschaft durch die Wirtschaftskrise 1837 stark beschädigt zurück, während die Nation nicht nur einen finanziellen, sondern auch einen psychologischen Schock davontrug, der das bis dahin vorherrschende Selbstvertrauen schwer erschütterte. Die durch die Depression ausgelöste düstere Stimmung ist in der amerikanischen Geschichte nur mit der Great Depression etwas über 100 Jahre später vergleichbar und in den Werken von Hawthorne und Edgar Allan Poe zu erahnen.Die Wirtschaftskrise von 1837 hatte auch positive Aspekte für Van Buren und die ganze Nation. Sie offenbarte, dass Van Buren zwar die dynamische politische Landschaft nach der Era of Good Feelings neu gestaltet hatte, dass aber fast jeder andere Aspekt der amerikanischen Gesellschaft gleichfalls starke Änderungen erlebte und einer angepassten Organisation bedurfte. Außerdem wurde nun jedem außerhalb und innerhalb Amerikas klar, dass die Vereinigten Staaten kein verschlafener Agrarstaat mehr waren, sondern eine einflussreiche Wirtschaftsmacht, deren Krisen weltweit Auswirkungen hatten. Ferner zeigte sich Van Burens geschickter Umgang mit der Presse, der der Zeit weit voraus war: Schon in Vorbereitung seiner Präsidentschaft hatte er den Journalisten John L. O’Sullivan finanziell dabei unterstützt, 1837 die ehrgeizige Zeitschrift United States Magazine and Democratic Review zu gründen. Das monatlich erscheinende Periodikum wurde schnell das lebendigste seiner Art in Amerika. Neben politischen Kommentaren aus Sicht der Demokraten enthielt es Texte bekannter Literaten; so veröffentlichten hier Nathaniel Hawthorne und Walt Whitman Erzählungen. Während der Depression leistete das United States Magazine and Democratic Review wichtige Dienste bei der Verteidigung des heftigen Angriffen ausgesetzten Van Burens. Einige wirtschaftliche Gegenmaßnahmen des Präsidenten wie die Unabhängigkeit des Schatzamtes oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gingen auf die egalitären Locofocos zurück. So erließ Van Buren am 31. März 1840 eine Präsidentenverfügung, die für Beschäftigte des Bundes den Zehnstundentag vorschrieb. Van Buren war somit der erste Präsident, der in seiner Programmatik die städtische Armut berücksichtigte, wobei er jedoch dem Zeitgeist folgend staatliche Wohlfahrt scheute. Der bedeutende amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner sah deshalb in Van Buren einen Vorläufer des politischen Progressivismus der Jahrhundertwende.
==== Sklavenfrage ====
Unter anderem durch die erhöhte internationale Aufmerksamkeit, die Amerika während der Wirtschaftskrise von 1837 erlebte, geriet die Sklavenfrage wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und in die politische Debatte. Empfindlich hinsichtlich ihrer Außenwirkung nahmen viele Bürger in den Vereinigten Staaten mit Unbehagen die Berichte ausländischer Korrespondenten zu diesem Thema wahr. Diese drückten oft ihre Verwunderung über eine Nation mit zwei Gesichtern aus, die durch die Mason-Dixon-Linie geteilt werde. Während der Norden durch fortschrittliche Technologie, Industrialisierung und Unternehmergeist gekennzeichnet sei, sei der Süden durch eine feudale und rassistische Pflanzeraristokratie geprägt, deren Wirtschaft im Wesentlichen auf Sklaverei beruhe. Zu weiterem Druck in dieser Frage führte, dass 1833 im Britischen Weltreich und 1829 selbst im vergleichsweise rückständigen Mexiko die Sklaverei aufgehoben wurde. Immer breitere Bevölkerungsgruppen in Amerika nahmen die Sklaverei als ein abstoßendes Übel wahr. Dies alles hatte zur Folge, dass der bisherige politische Konsens, die Sklavenfrage auf Bundesebene nicht zu erörtern, geschweige denn gesetzlich zu regulieren, allmählich aufgebrochen wurde. Dies destabilisierte das parteipolitische Fundament, das Van Buren bis zu seiner Präsidentschaft gelegt hatte. Schon allein seine Wahl zum Präsidenten hatte die Sklavenfrage wieder etwas mehr ins allgemeine Bewusstsein rücken lassen, da er ein Yankee war und seine Haltung in dieser Frage für die Öffentlichkeit undurchsichtig war. Dies führte oft dazu, dass Beobachter ihre eigene Haltung in seine Person projizierten. Van Burens tatsächliche Position in dieser Frage zu ermitteln ist schwer und hängt stark vom Zeitpunkt und Kontext seiner Äußerung ab. In seiner persönlichen Korrespondenz finden sich so gut wie keine Bemerkungen zu diesem Sachverhalt. Van Buren bewies zudem großes Geschick darin, bei entscheidenden Abstimmungen zur Sklavenfrage dem Kongress oder der State Legislature fernzubleiben. Seine Darstellung als rückgratloser Höfling der Sklavenstaaten in dem bekannten Spielfilm Amistad entspricht jedoch nur sehr oberflächlich der Wahrheit.Auf den ersten Blick spricht viel dafür, dass Van Buren sich nicht an der Sklaverei in den Vereinigten Staaten störte oder zumindest nicht bereit war, aufgrund diesbezüglicher moralischer Skrupel seine politische Karriere zu riskieren. Seitdem er seine öffentliche Ämterlaufbahn im Jahr 1812 begonnen hatte, verfolgte er eine geschickte Strategie in den Südstaaten, indem er in dieser Region gezielt nach Bundesgenossen suchte, die ihm bei seinem Weiterkommen helfen konnten und in New York die gleichen Gegner hatten wie er. Aus diesen Gründen lag es in seinem ureigenen Interesse, mit der Thematisierung der Sklavenfrage diese Freunde nicht zu verunsichern. Bei der Rede zur Amtseinführung als Präsident erwähnte er erstmals öffentlich die Sklavenfrage, nur um gleich zu versichern, dass er in dieser Angelegenheit nichts zu unternehmen gedachte. Als im November 1838 Van Burens ältester Sohn Abraham die aus South Carolina stammende Pflanzertochter Angelica Singleton heiratete, bestand für den Präsidenten auch eine familiäre Verbindung zur Sklavenhaltergesellschaft des Südens. Wie genau auch immer es um seine persönliche Einstellung zur Sklaverei bestellt gewesen sein mag, tat er alles in seiner Macht stehende, um die Verbreitung von abolitionistischen Schriften zu verhindern. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 1836 sorgte er über die Albany Regency für die Unterdrückung der Antisklavereibewegung in ihrer Hochburg New York. Im Mai 1836 unterstützte er die von Henry L. Pinckney erfolgreich durch den Kongress gebrachte Gag Rule (deutsch: „Diskussionsverbot“), die eine Zurückstellung aller abolitionistischen Gesetzesvorschläge auf unbestimmte Zeit vorsah und somit jede Debatte zur Sklavenfrage verhinderte. Allerdings war dieses Gesetz weniger radikal als der weitergehende Vorschlag aus dem Calhoun-Lager, der eine pauschale Ablehnung aller derartigen Eingaben vorsah. Andererseits gab es Indizien, wie vor allem seine grundsätzliche Zustimmung zum Wahlrecht für Afroamerikaner auf der Verfassunggebenden Versammlung New Yorks im Jahr 1821, die dafür sprachen, dass Van Buren persönlich der Sklaverei ablehnend gegenüberstand, weshalb viele Südstaatler fürchteten, dass es sich bei ihm insgeheim um einen Abolitionisten handelte. Van Burens große und bis dahin allgemein wertgeschätzte Stärke als vernunftbestimmter Vermittler, der gegensätzliche Positionen aussöhnen konnte, wurde angesichts der immer heftiger werdenden Polarisierung in der Sklavenfrage immer mehr als Führungs- und Entscheidungsschwäche wahrgenommen.In diesem Konflikt störten sich die Südstaaten nicht nur am einflussreicher werdenden Abolitionismus im Norden, sondern betrachteten mit großer Sorge das rasante Bevölkerungswachstum und steigende politische Gewicht der Nordstaaten. Abgesehen von diesen langwierigen historischen Prozessen gab es konkrete Ereignisse, die die Südstaaten um die Sklaverei als Institution fürchten ließen, darunter vor allem der Sklavenaufstand von Nat Turner im Jahr 1831, der in der ganzen Region für Panik sorgte und ein langwieriges Trauma auslöste. Dass die Antisklavereibewegung danach mit ihren Schriften auf ein breites Publikum stieß und dabei auf modernste Drucktechnik zurückgreifen konnte, fassten viele Südstaatler als eine weitere Beleidigung auf. Das bereits zu Van Burens Amtsantritt derart angespannte Verhältnis verschärfte sich im November 1837 noch mehr, als der abolitionistische Journalist und Pfarrer Elijah Parish Lovejoy von Sklavereianhängern ermordet wurde. Van Buren befand sich nun, da die Lage einer starken Führung bedurfte, in einer Zwickmühle. Wenn er die Sklaverei angriff, kehrte ihm die Hälfte der Partei den Rücken, blieb er andererseits zu sehr auf Seiten der Sklavenhalter, verlor er seinen in großen Teilen abolitionistisch gesinnten Heimatstaat. Gerade in dieser Phase zeigte der Präsident eine menschliche Seite, als er dem Autor und Journalisten William Leggett half. Leggett, damals einer der bekanntesten Journalisten in New York City, war ein Demokrat und Abolitionist, der Van Buren während der Präsidentschaftswahl 1836 und danach scharf wegen seiner südstaatenfreundlichen Politik angriff. Kurz darauf erkrankte er sehr schwer. Van Buren verschaffte Leggett daraufhin einen Posten in der amerikanischen Botschaft in Guatemala in der Hoffnung, das Klima dort könnte seine Gesundung befördern.Trotzdem blieb Van Buren in gewissem Sinne ein Gefangener seiner eigenen Kreation, da durch die Erneuerung der Demokraten gleichzeitig das Interesse der Allgemeinheit an der Politik gestiegen war. Als öffentliche Person und unter enger ständiger Pressebeobachtung war es ihm nicht mehr wie früheren Politikern möglich, seine eigentliche Position zu verbergen und je nach Ort und Gelegenheit dem Publikum etwas anderes zu erzählen. Während in Sichtweite des Kapitols in Washington, das ausgesprochen sklavereifreundlich war und auf manchen ausländischen Besucher, wie zum Beispiel den Reiseschriftsteller James Silk Buckingham, abstoßend und verkommen wirkte, weiterhin Sklavenmärkte stattfanden, fiel es dem Präsidenten immer schwerer, auf der einen Seite die Diskussion der Sklavenfrage innerhalb der Demokraten zu unterdrücken und andererseits den Parteinamen so nicht zu einer leeren Hülse verkommen zu lassen. So kam es im Herbst 1837 zu einer langen Debatte über die Sklaverei im District of Columbia. Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Streit um die Sklaverei befeuerte, war die Frage der Aufnahme der Republik Texas als Bundesstaat in die amerikanische Union. Texas hatte 1836 seine Unabhängigkeit erklärt und sich damit von Mexiko gelöst. In Präsident Jackson fand Texas einen leidenschaftlichen Unterstützer seines Wunsches, Teil der Vereinigten Staaten zu werden. Da die Republik Texas ein Sklavenstaat war und er das brüchige Gleichgewicht zwischen Nord- und Südstaaten nicht weiter belasten wollte, schob Van Buren die Annexion auf die lange Bank, was die Südstaaten erzürnte und selbst Jackson zu gereizten Briefen an seinen Nachfolger veranlasste.In den Kongressdebatten bildeten der Sklavenhalter Calhoun im Senat und der Ex-Präsident und Abolitionist Adams im Repräsentantenhaus die Antipoden. Dass Calhoun als der Vertreter der Interessen der Südstaaten für seine Resolutionen, die in bis dahin nie gehörten starken Worten die Sklaverei verteidigten, auf eine klare demokratische Mehrheit zählen konnte, impliziert eine Unterstützung durch das Weiße Haus. Einen Hinweis auf die explosive Stimmung in dieser Frage gibt die Auseinandersetzung zwischen den Abgeordneten Jonathan Cilley und William J. Graves, die in einem tödlichen Duell endete. Brisanz erhielt die Sklavenfrage im Senat durch den Umstand, dass der Senatspräsident Johnson mit einer seiner Sklavinnen zusammenlebte und wahrscheinlich mit ihr verheiratet war, was in der Hauptstadt ein offenes Geheimnis war. Trotz des Entsetzens, das dieses Verhältnis bei den Südstaatlern auslöste, und des Drucks, den Jackson auf den Präsidenten ausübte, auf Johnson zu verzichten, hielt Van Buren an Johnson fest und setzte ihn bei der nächsten Präsidentschaftswahl als seinen Running Mate durch. Ein Ereignis, das die Spaltung der Nation wegen der Sklavenfrage offenbarte und künftige, noch härtere Konflikte erahnen ließ, ereignete sich zum Ende von Van Burens Amtszeit. Im Jahr 1840 verurteilte ein Militärgericht der United States Navy in North Carolina einen Offizier für die Auspeitschung von Seeleuten, obwohl die Belastungszeugen als Schwarze in diesem Bundesstaat gar nicht zugelassen waren. Als Van Buren ihr Aussagerecht bestätigte, löste er damit in den Südstaaten eine Welle der Empörung aus.
Das heutzutage bekannteste Ereignis bezüglich Sklaverei in Amerika während der Präsidentschaft Van Burens war der Sklavenaufstand auf der Amistad und seine rechtlichen Folgen. 1839 revoltierten die Sklaven auf diesem spanischen Schiff, brachten es in ihre Gewalt und landeten auf Long Island. Sie wurden in Connecticut inhaftiert und Van Buren beorderte rasch ihre Überstellung an ihre spanischen Besitzer durch ein Schiff der Marine. Der Fall landete vor den Gerichten und hatte die Amistad-Prozesse zur Folge. Im Februar 1841 wurde über das Schicksal der Gefangenen vor dem Obersten Bundesgericht verhandelt, wo Ex-Präsident Adams ihre Freilassung erreichte. Dieser Fall wirft ein sehr schlechtes Licht auf Van Buren, das durch die bekannte Verfilmung von Steven Spielberg verstärkt wurde. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass der Präsident in dieser Zeit um seine Wiederwahl bemüht war und dafür auf die Unterstützung durch die Südstaaten angewiesen war. Insgesamt zeigte Van Buren in seiner Herangehensweise an die Sklavenfrage ein für Politiker typisches Verhalten, indem er es vermied, eine klare Position zu beziehen. Somit nahm er sich selbst aus dem Spiel und beraubte sich aktiver Gestaltungsmöglichkeiten. In diese Lücke stießen nun andere Kräfte vor: In New York gewannen abolitionistische Whigs immer mehr an Stärke und an anderen Orten brach das Zweiparteiensystem aus Demokraten und Whigs auf, indem aus der Antisklavereibewegung heraus die Liberty Party entstand.
==== Indianerpolitik ====
Früher hatte Van Buren die Umsiedlung der Indianer stets zurückhaltend behandelt, da er in ihr vorrangig ein Anliegen des Südens sah und sie bei den Wählern in seinem Heimatstaat unpopulär war. Prinzipiell teilte er die damals vorherrschende Einstellung der Überlegenheit der Weißen gegenüber den Indianern. Als Präsident setzte er zur Befriedigung der Südstaaten die rücksichtslose und brutale Indianerpolitik Jacksons fort, die die Vertreibung der Fünf Zivilisierten Stämme aus dem Territorium der Vereinigten Staaten zum Ziel hatte. Die im südöstlichen Kulturraum noch lebenden Indianer wurden deportiert und das freigewordene Land zur Besiedlung freigegeben. Davon waren vor allem die Cherokees betroffen, die zu Tausenden zusammengetrieben und auf den Pfad der Tränen von Georgia nach Oklahoma gezwungen wurden. Zeitgleich sahen sich die Seminolen in Florida massiver Verfolgung ausgesetzt, der ihr Anführer Osceola im Januar 1838 zum Opfer fiel. Dennoch reklamierte Van Buren vor dem Kongress die humane Behandlung der Indianer durch die amerikanische Regierung. In den Nordstaaten entstand zunehmend das Gefühl, dass die Scheinheiligkeit und Brutalität gegenüber den Seminolen in Florida und in anderen Angelegenheiten von den übermächtigen Sklavenstaaten im Hintergrund gelenkt werden, die in Washington über die Politik bestimmten.
==== Außenpolitik ====
Ab Herbst 1837 nahmen die Rebellionen von 1837 in dem unter britischer Kolonialherrschaft stehenden Nieder- und Oberkanada ihren Anfang. Die Aufstände fanden nahe der amerikanisch-kanadischen Grenze statt. Der Kampf der Rebellen gegen die britische Kolonialherrschaft fand viele Sympathisanten in New York, die den Aufstand aktiv unterstützten. Die Briten reagierten auf die fortlaufenden Provokationen aus Amerika, indem sie im Winter 1837 die Caroline aufbrachten, die auf dem Niagara River lag und Nachschub für die Rebellen geladen hatte. Dabei verletzte die britische Miliz das Territorium der Vereinigten Staaten und tötete einen Amerikaner, was einige Jahre später noch zur Caroline/McLeod-Affäre führte. Gerüchte, die diese Operation stark übertrieben, breiteten sich aus und heizten die Stimmung an. Während Van Buren offiziell beim Botschafter des Vereinigten Königreichs gegen diese Operation protestierte, arbeitete er hinter den Kulissen daran, die Situation zu beruhigen. Dabei wurde er von Gouverneur Marcy und General Winfield Scott unterstützt, der mit Truppen die nördliche Grenze sicherte. Im Winter 1838 kam es zu einer ähnlichen Konfliktlage im nordöstlichen Grenzgebiet von Maine und der britischen Kolonie New Brunswick, als der Gouverneur von Maine Milizen in das Tal des Saint John River entsandte und so den Aroostook-Krieg auslöste. Erneut betraute Van Buren General Scott damit, die Situation zu beruhigen. Nach einigen angespannten Gesprächen einigten sich Washington und London auf einen beidseitigen Truppenabzug aus diesem Grenzgebiet. Dadurch wendete Van Buren nicht nur einen erneuten britisch-amerikanischen Krieg ab, sondern ebnete auch den Weg für das Webster-Ashburton-Treaty zwei Jahre später. Diese Krisenbewältigung war ein Erfolg der Diplomatie Van Burens und auch der Aufschub der Annexion der Republik Texas wurde von vielen als eine mutige und durchdachte Entscheidung gesehen, wenngleich sie den Präsidenten viel Zustimmung im damaligen Südwesten der Vereinigten Staaten kostete und ihm den Vorwurf der Rückgratlosigkeit einbrachte. Insgesamt ist die außenpolitische Bilanz Van Burens als Präsident sehr positiv zu beurteilen.
==== Präsidentschaftswahlen 1840 ====
Van Buren hatte im Wahlkampf von Anfang an mit einem starken Imageproblem zu kämpfen. Mehr als jedem anderen Präsidenten in der bisherigen amerikanischen Geschichte wurden ihm die politischen Ränke und Manöver vorgeworfen, mit denen er sich in das Weiße Haus navigiert hatte. Die Wirtschaftskrise von 1837 hatte dieses Misstrauen weiter verstärkt. Die in Amerika zu dieser Zeit populär werdenden politischen Karikaturisten fanden in Van Buren mit seiner geringen Körpergröße und dem markanten Backenbart einen dankbaren Gegenstand des Spotts. Des Weiteren warfen ihm viele politische Gegner alle möglichen moralischen Verfehlungen vor. Am schlimmsten wog dabei angesichts der Wirtschaftskrise und ihrer verheerenden gesellschaftlichen Folgen der Vorwurf von Verschwendungssucht, der von Charles Ogle in einer Rede vor dem Kongress am 14. April 1840 gegen Van Buren erhoben wurde. Der Whig Ogle führte in seiner Ansprache eine so detaillierte Liste aller Ausgaben an, die der Präsident für das Weiße Haus einschließlich des Gartens getätigt und dem Kongress in Rechnung gestellt hatte, dass sie bis heute Historikern als exakte Bestandsliste der Inneneinrichtung des damaligen Weißen Hauses dient. Die Vorwürfe, Van Buren habe sich einen Königspalast eingerichtet, entbehrten jeder Grundlage, wie Beschreibungen von zeitgenössischen Besuchern wie Buckingham bestätigen. Die entstandenen Kosten hingen damit zusammen, dass er das Weiße Haus bei Amtsantritt in stark renovierungsbedürftigem Zustand vorgefunden hatte. Ogle startete mit der Schmährede auf den vermeintlich luxuriösen Lebensstil des amtierenden Präsidenten eine unrühmliche Tradition in der amerikanischen Wahlkampfgeschichte, wobei diese Angriffe zumeist von Vertretern der Partei ausgingen, die für die Interessen der privilegierten Schichten eintraten.Die Whigs waren sich ihrer Siegchancen bewusst und warfen alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen in den Wahlkampf, der als einer der denkwürdigsten in der amerikanischen Geschichte gilt, wenngleich er für den Triumph von Marketing über Programmatik steht. Als die demokratische Presse den Präsidentschaftskandidaten der Whigs, William Henry Harrison, als einen Niemand verspottete, der in einer bescheidenen Blockhütte lebte, nutzten dies die Whigs zu ihrem Vorteil. Sie setzten zur Werbung die schnell zur Folklore werdende Legende in Umlauf, Harrison sei ein in einer kargen Hütte in der Wildnis aufgewachsener bescheidener Soldat, während Van Buren als Dandy ein opulentes Luxusleben führte. Tatsächlich war Van Burens Herkunft wesentlich bescheidener als die Harrisons, der aus einer virginischen, politisch einflussreichen Pflanzerfamilie stammte. Insgesamt bewiesen die Whigs großes strategisches Geschick darin, in der Bevölkerung den Hass auf Van Buren zu schüren. Dazu nutzten sie unter anderem die von Horace Greeley herausgegebene Zeitung Log Cabin (deutsch: „Blockhütte“), die eine Auflage von 80.000 erreichte. Wahlkampfparaden der Whigs zogen mehrere Zehntausend Besucher an und ihr Wahlkampfslogan Tippecanoe and Tyler Too, der sich auf Harrison, den Helden der Schlacht bei Tippecanoe und seinen Running Mate John Tyler bezog, wurde wie viele andere auch vertont und ein Gassenhauer. Die Wahl fesselte die Öffentlichkeit wie keine der bis dahin abgehaltenen, was der Wirtschaftskrise von 1837 geschuldet sein mag oder der Ausweitung des Wahlrechts.Die Demokraten hatten im Wahlkampf Probleme, ein einigendes Thema zu finden. Auf dem Nominierungsparteitag der Democratic National Convention, die im Mai 1840 in Baltimore abgehalten wurde, gab es von allen Seiten große Widerstände gegen Johnson als erneuten Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Van Buren setzte sich zwar mit dieser Personalie durch, ließ damit aber viele in der Partei inklusive Jackson unzufrieden zurück. Die Versuche, Van Buren als besonnenen Politiker und Führer der Demokraten für die Wähler attraktiv zu machen, stießen auf wenig Resonanz. Als überdauernd erwies sich nur die Wortfindung OK, die Anhänger Van Burens aus der Umgangssprache Bostons übernahmen, wo die Abkürzung für oll korrect (deutsch: „Alles in Ordnung“) stand. Sie passten es für ihren Wahlkampf entsprechend an und machten daraus OK für Old Kinderhook, was auf den Geburtsort Van Burens anspielte und von diesem selbst als Kürzel neben seine Unterschrift gesetzt wurde. Van Buren brach mit einem bis dahin geltendem Tabu für Präsidentschaftskandidaten und beteiligte sich aktiv am Wahlkampf, indem er das Land bereiste und auf Kundgebungen Reden hielt. Am Ende verlor er die Wahl deutlich und konnte nur sechs Bundesstaaten exklusive New Yorks für sich gewinnen. Die Whigs verzeichneten bei einer außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung von 80 % einen vollständigen Sieg, da sie neben der Präsidentschaft auch die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus gewannen. Für Van Buren bedeutete diese Niederlage trotz seines vergleichsweise jungen Alters das Ende seiner Ämterlaufbahn.
=== Nach der Präsidentschaft ===
==== Gescheiterte Nominierung für die Präsidentschaftswahl 1844 ====
Als Van Buren nach der Amtsübergabe in seinen Heimatstaat zurückkehrte, wobei er weder Groll noch Bitterkeit verspürte, war er überrascht im Hafen von Manhattan von einer großen Menge der städtischen Armen feierlich begrüßt zu werden. Nach einigen Wochen in New York City reiste er im Mai 1841 nach Kinderhook, wo er seine Residenz Lindenwald bezog, die er zwei Jahre zuvor gekauft hatte. Lindenwald war ursprünglich ein Anwesen der Van Ness-Familie gewesen. In den nächsten Jahren baute er das adrette, im klassischen Stile des 18. Jahrhunderts gestaltete Gebäude in ein opulentes Herrenhaus um, das sich am venezianischen Dogenpalast orientierte. Ohne politisches Amt gab sich Van Buren nicht der Muße hin, sondern beschäftigte sich neben Lektüre und umfangreicher Korrespondenz intensiv mit der Bewirtschaftung von Lindenwald. So konnte er durch landschaftliche Baumaßnahmen die Erträge seines Farmbetriebs erheblich steigern. Als die nächste Präsidentschaftswahl näherrückte und Präsident Tyler, der Nachfolger des verstorbenen Harrison war, sich politisch immer mehr isolierte, verfestigten sich Van Burens Pläne, ein politisches Comeback zu wagen und um eine Rückkehr in das Weiße Haus zu kämpfen.Wie damals, als er den Aufbau der Demokraten betrieb, startete er dieses Vorhaben zum Jahresbeginn 1842 mit einer ausgedehnten Reise durch Amerika. Die Tour führte ihn durch alle Regionen der damaligen Vereinigten Staaten und übertraf alle seine vorherigen Unternehmungen dieser Art. Da er in allen Orten von großen Menschenmengen freundlich empfangen wurde, sah er sich in seinen politischen Rückkehrplänen bestärkt. In Tennessee besuchte er Jackson in dessen Residenz Hermitage und später in Kentucky seinen früheren Gegner Clay. Die Tour führte ihn weiter nach Chicago, womit er der erste ehemalige oder amtierende Präsident war, der diese rapide wachsende Stadt sah. In Rochester in Illinois kam es zu einem denkwürdigen Zusammentreffen, als er in einer Taverne nächtigte und den Abend in angeregter und heiterer Unterhaltung mit dem jungen Whig Abraham Lincoln verbrachte. Später bezeichnete Van Buren diese Abendgesellschaft als eine der humorvollsten seines Lebens. Der Aufenthalt in dieser Region freier Bundesstaaten, dem damaligen Nordwesten der Vereinigten Staaten, verstärkte seine Aversion gegen die Institution der Sklaverei. Nach einer Reise von mehr als 10.000 km erreichte Van Buren Ende Juli 1842 Kinderhook.Zu Beginn des Jahres 1844 rückte die Frage nach der Annexion von Texas wieder in den Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gegen die Aufnahme der Republik Texas in die Vereinigten Staaten gab es gute Gründe, sie gefährdete aber auch das sensible Gleichgewicht zwischen freien und Sklavenstaaten im Kongress. Obwohl dieses Vorhaben angesichts der Manifest Destiny, also der amerikanischen Expansion, allgemein sehr populär war und von Jackson unterstützt wurde, sprach sich Van Buren am 20. April 1844 in einer Antwort an den Repräsentanten William H. Hammett klar dagegen aus. Er begründete dies unter anderem damit, dass die Annexion sicher zu einem Krieg mit Mexiko führen und das Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt schädigen werde. Zudem habe Calhoun, der mittlerweile Außenminister im Kabinett Tyler war, aus dieser Frage eine Abstimmung über die Zukunft der Sklaverei gemacht, die er als Institution gegen britische Einflussnahme verteidigte. Insbesondere in den Südstaaten löste diese Äußerung Van Burens Empörung aus und viele sahen sich in ihrem Misstrauen gegenüber dem New Yorker Ex-Präsidenten bestätigt. Andere nahmen verwundert zur Kenntnis, dass Van Buren eine prinzipielle Grundüberzeugung artikuliert hatte, obwohl er damit seine Wahlchancen erheblich geschmälert hatte.Trotzdem reisten die Anhänger Van Burens zuversichtlich auf die Democratic National Convention im Mai 1844 in Baltimore, da seine Gegenkandidaten allgemein schwächer eingestuft wurden und sein Erzfeind, der zu den Demokraten zurückgekehrte Calhoun, zum Jahresanfang aus den Primaries ausgestiegen war. Bald stellte sich heraus, dass Van Burens Gegner das Fundament für eine Palastrevolution gelegt hatten, indem sie Delegationen versprachen, jeweils ihren Kandidaten zu unterstützen. So gaben die Annexionisten Pennsylvania die Zusage, für Buchanan zu stimmen, wenn es im Gegenzug für die Beibehaltung der Zweidrittelmehrheit zur Nominierung votierte. Auf ähnliche Art gewannen sie Michigan, Tennessee und New Hampshire für dieses Vorhaben. So kam es, dass Van Buren auf dem Nominierungsparteitag zwar eine klare Mehrheit erreichte, aber in jedem Wahldurchgang an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit scheiterte. Die Spannung auf der Democratic National Convention war phasenweise so aufgeladen, dass es fast zu Handgreiflichkeiten zwischen den Delegationen aus New York und den Südstaaten kam. Am Ende siegte nach drei Tagen und neun Abstimmungen mit James K. Polk ein klassischer „dark horse“-Kandidat, also ein unbekannter Außenseiter, der von Jackson unterstützt wurde. Der innerparteiliche Graben, der sich auf dieser Convention zwischen Nord- und Südstaaten aufgetan hatte, bestand für lange Zeit fort. Trotz dieser schmerzlichen Niederlage blieb Van Buren den Demokraten treu und unterstützte Polk bei der Präsidentschaftswahl. Am Ende gelang es ihm, mit knapper Mehrheit die 36 Wahlmänner New Yorks im Electoral College zu sichern, was für den Sieg Polks entscheidend war. Daher war es für Van Buren enttäuschend, als Polk keine seiner Vorschläge bei der Kabinettsbildung berücksichtigte, sondern politische Gegner der Albany Regency aus New York mit Ämtern belohnte.
==== Kandidat der Free Soil Party ====
Vor dem Hintergrund des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs kam es innerhalb der New Yorker Demokraten zu einer Spaltung in abolitionistische Barnburners (deutsch: „Scheunenanzünder“) und konservative Hunkers, die für den Parteierhalt bereit waren, eine Ausdehnung der Sklaverei zu akzeptieren. Die Van Buren am nächsten stehenden politischen Freunde wie auch sein Sohn John, der ein talentierter Redner war und sich als Führungsfigur bei den Demokraten zu etablieren begann, standen im Lager der Barnburners. Die Versuche des Ex-Präsidenten die Partei in seinem Heimatstaat wieder zu einen, blieben erfolglos. Zum Jahresanfang 1848 bezog er ein Hotel in New York City und erarbeitete ein längeres Positionspapier. Van Buren forderte darin die nationale Parteiführung auf, die Barnburners als legitime Repräsentanten der New Yorker Demokraten anzuerkennen. Außerdem sollte im mittlerweile annektierten Texas die Sklaverei verboten werden, wobei Van Buren geltend machte, dass die amerikanischen Gründerväter an keiner Stelle die Absicht gezeigt hätten, die Sklaverei weiter zu verbreiten oder als Institution außerhalb der Südstaaten zu schützen. Diese Argumentation wurde später von Lincoln in seiner historischen Rede im Februar 1860 vor der Cooper Union übernommen. Das Positionspapier wurde nach seiner Veröffentlichung eine Sensation und John fragte seinen Vater, ob er sich eine Präsidentschaftskandidatur für eine dritte Partei vorstellen könnte.Van Buren hielt erst der Partei die Treue, die er mitbegründet hatte, bewegte sich aber stetig in die vom Sohn gewünschte Richtung. Dass für ihn die Gründung einer dritten Partei kein Gräuel mehr war, war einerseits sicher dem Drängen Johns geschuldet und mag andererseits mit den turbulenten Ereignissen im Jahr 1848, die unter anderem Amerika im Vertrag von Guadalupe Hidalgo einen enormen territorialen Zugewinn bescherten und Europa die Revolutionen 1848/1849, zu tun haben. Sicher ausschlaggebend waren Van Burens Enttäuschung und Zorn wegen seiner Entmachtung bei den Demokraten selbst in New York. Einige seiner engsten Anhänger konnten ihm diese Abkehr von der Parteidisziplin nie verzeihen. Als im Mai die Democratic National Convention die Hunkers als New Yorker Delegation anerkannte, rief Van Buren zu einer eigenen Versammlung der Barnburners in Utica auf. Am 20. Juni verfasste er in Form eines Antwortschreibens an seine Anhänger ein weiteres Positionspapier, das in einigen Punkten noch weiter ging als das vom Januar des gleichen Jahres. Van Buren betonte darin, dass der Kongress die Macht habe, die Ausbreitung der Sklaverei zu verhindern, und er diese Gewalt nutzen sollte. Der Konvent der Barnburners reagierte begeistert auf diesen Text und erkor Van Buren zum Entsetzen vieler Demokraten in Washington zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Am 9. August hielten die Barnburners einen weiteren Parteikonvent in Buffalo ab, zu dem 20.000 Anhänger kamen, darunter ehemalige Whigs und Demokraten aus den Nordstaaten. Zum Running Mate Van Burens wurde Charles Francis Adams, Sr. gewählt, der Sohn des sechsten Präsidenten. Diese neue Partei wurde bald in Anlehnung an ihren Wahlslogan “Free Soil, Free Speech, Free Labor and Free Men!” (deutsch: „Freier Boden, freie Rede, freie Arbeit und freie Männer!“) als Free Soil Party bekannt. Neben abolitionistischen Inhalten hatte die Partei auch klassische Programmpunkte der Whigs und Jacksonian Democrats wie zum Beispiel Bundesmittel für größere Bauprojekte und Vergünstigungen für Landkäufe im amerikanischen Westen.Zwar waren Van Buren und seine Anhänger nun das Problem losgeworden, sich für die Unterstützung von Gag Rule, Sklaverei und anderen Verbrechen an der Freiheit rechtfertigen zu müssen, aber dafür war die Free Soil Party bei den Wahlen chancenlos. Van Buren war in der Partei nicht unumstritten, sondern manchen zu radikal und anderen wiederum zu moderat. Er beteiligte sich am Wahlkampf, indem er von Lindenwald aus Briefe in alle Landesteile schrieb. Insgesamt legte die Free Soil Party das Fundament für die spätere Republikanische Partei. Am Ende erreichten sie, obwohl nur in den Nordstaaten angetreten, mit knapp 10 % im Popular Vote einen Achtungserfolg, konnten aber keinen Bundesstaat gewinnen. Dennoch sorgten sie mit ihrem Stimmenanteil dafür, dass der Demokrat Lewis Cass, der maßgeblich an der Intrige gegen Van Buren auf der Democratic National Convention von 1844 beteiligt gewesen war, in der Präsidentschaftswahl dem Whig Zachary Taylor unterlag. Insgesamt war das Resultat der Free Soil Party der erste nennenswerte Wahlerfolg einer dritten Partei auf Bundesebene in der amerikanischen Geschichte. Zudem war es ihr Verdienst, die Sklavenfrage erstmals zu einem wichtigen Wahlkampfthema gemacht zu haben, wobei sich der zuspitzende regionale Konflikt zwischen Nord und Süd im Wahlergebnis deutlich zeigte. Laut dem Biographen Widmer war diese Episode der letzte Abschnitt im politischen Kampf zwischen den Rivalen Van Buren und Calhoun, der seit 30 Jahren andauerte und dessen Konfliktlinie vielen Auseinandersetzungen im Kapitol und andernorts zugrunde lag.
==== Elder Statesman ====
Nach der Präsidentschaftswahl von 1848 verabschiedete sich Van Buren endgültig aus der aktiven Politik und genoss seinen Ruhestand in Lindenwald, wo zeitweise einige seiner Söhne mit ihren Familien lebten. Dass sie zum Teil finanziell immer noch von ihm abhängig waren, erfüllte ihn mit Sorge. John war 1852 für kurze Zeit als Kandidat für die Vizepräsidentschaft im Gespräch, verlor aber den Rückhalt, als Gerüchte über sein Nachtleben bekannt wurden. Van Buren bildete daher selbst in seinem Alter das unerschütterliche Rückgrat der Familie; aus dieser Zeit stammende Daguerreotypien vermitteln ein Bild seiner Gelassenheit. Da im Laufe der Jahre viele der Freunde und politischen Weggefährten Van Burens starben, fanden immer weniger Besucher den Weg auf sein Anwesen. Er näherte sich wieder den Demokraten an und unterstützte Clay, mit dem er mittlerweile befreundet war, beim Kompromiss von 1850 zwischen den Nord- und Südstaaten. Auch bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1852 stand er zu seiner alten Partei, wenngleich sie immer noch viele Anhänger der Sklaverei in ihren Reihen hatte. Während der 1850er Jahre, als sich der Konflikt zwischen Nord und Süd immer mehr zuspitzte, sympathisierte er mit gemäßigten, jüngeren Politikern wie zum Beispiel Stephen A. Douglas.Van Buren unterstützte seinen Freund Benton beim Verfassen von dessen Memoiren, die unter dem Titel Thirty Years View erschienen und als eine der besten literarischen Werke dieser Gattung in den Vereinigten Staaten gelten. Der Ex-Präsident half dem Autor bei diesem Werk insbesondere mit eigenen Kommentaren und Erinnerungen. Ebenso unterstützte er John Church Hamilton, als dieser eine Biographie über seinen Vater Alexander Hamilton verfasste. Durch diese Beschäftigung mit politischer Geschichte und den eigenen Erinnerungen reifte in Van Buren der Wunsch heran, eine Autobiographie zu schreiben, wobei ihm der Historiker Jabez Delano Hammond beratend zur Seite stand. Er begann mit dem Werk im Jahr 1854 während einer ausgedehnten Europareise, als er ab Juni für längere Zeit sein Domizil in Sorrent aufschlug. Neben dieser Autobiographie arbeitete er in den nächsten Jahren außerdem an einem Buch über die Parteiengeschichte der Vereinigten Staaten, wobei er keines der Projekte bis zu seinem Tod abschließen konnte. Seine Memoiren, die 1920 herausgegeben wurden, hatten mehr den Charakter einer lose miteinander verbundenen Sammlung anekdotenhafter Erinnerungen als den einer stringent aufgebauten Autobiographie. Einige Lebensepisoden, wie zum Beispiel seine Zeit als Botschafter in London, beschrieb er überaus detailliert, während er andere nur sehr oberflächlich behandelte, darunter den Aufbau der demokratischen Partei. Die Autobiographie endet abrupt in der ersten Hälfte der 1830er Jahre, ist aber trotzdem die bisher ausführlichste eines ehemaligen Präsidenten. Van Burens gelehrtes Werk zur Parteiengeschichte erschien sechs Jahre nach seinem Tod unter dem Titel Inquiry into the origin and course of political parties in the United States in Herausgeberschaft seiner Söhne Abraham und John. Das Buch konzentriert sich vor allem auf die Rivalität von Jefferson und Hamilton und weniger auf die Konflikte innerhalb der Generation Van Burens. Im Jahr 1858 schrieb er einen sehr langen Brief an seinen Sohn John, in dem er ihm Ratschläge für dessen politische Zukunft erteilte. So solle er für den Erfolg einer Kandidatur hart arbeiten, ohne dabei zu sehr auf das angestrebte Amt fixiert zu wirken. Er warnte ihn davor, ein Berufspolitiker zu werden, da das Volk diesen misstraue, und Ämterpatronage auszuüben.Der Sezessionskrieg war für Van Buren ein schwerer Schlag, den er aber mit der ihm typischen Gelassenheit ertrug. Zuvor hatte er allen noch zur Verfügung stehenden politischen Einfluss genutzt, um den Ausbruch des Bürgerkriegs zu verhindern. Dazu hatte er die radikalen Stimmen in Nord und Süd zur Mäßigung aufgefordert und einen Verfassungskonvent zur Beilegung des Konflikts vorgeschlagen. Als die Südstaaten aus der amerikanischen Union austraten und die Konföderierten Staaten bildeten, stand Van Buren unerschütterlich zur Union und Lincoln, obwohl er als Jeffersonian Republican Zeit seines Lebens Sympathien für den Süden gehabt hatte. Obwohl er schon lange nicht mehr aktiv in der Politik war, hatte seine Stimme Gewicht, als er die Demokraten New Yorks dazu aufrief, den Republikaner Lincoln zu unterstützen. Mit dem Start der Kriegshandlungen begann sich Van Burens Gesundheit rapide zu verschlechtern. Er starb am frühen Nachmittag des 24. Juli 1862 in Lindenwald. Lincoln revanchierte sich für Van Burens solidarisches Verhalten im Jahr zuvor mit einem sehr wohlwollenden Kondolenzschreiben und der Anordnung von öffentlichen Trauerzeremonien, die das in diesen Fällen übliche Maß überschritten. So trugen zum Gedenken an Van Buren alle Offiziere der United States Army und United States Navy in den folgenden sechs Monaten Trauerflor am linken Arm.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung ===
Das biographische Interesse an Van Buren ist von unregelmäßiger Natur. Im Jahr 1862 erschien Martin Van Buren: Lawyer, Statesman and Man von William Allen Butler, der ein Sohn von Van Burens politischem Weggefährten Benjamin Franklin Butler war. 27 Jahre später brachte der bekannte Historiker Bancroft seine lang erwartete Biographie heraus, die den Titel Martin Van Buren to the End of His Public Career trug. Die in der Library of Congress verwahrten Schriften Van Burens wurden bis 1910 von Elizabeth Howard West abschließend dokumentiert und als Calendar of the Papers of Martin Van Buren herausgegeben. In den 1930er Jahren erwachte das Interesse an Van Buren erneut, möglicherweise weil dieses Jahrzehnt mit der Great Depression, dem New Deal und anderen Charakteristika gewisse Parallelen zur Epoche Van Burens aufwies. In dem 1945 erschienenen Werk The Age of Jackson ging Arthur M. Schlesinger dezidiert auf Van Buren ein und identifizierte viele Verbindungen nicht nur zu Jackson, sondern auch zu Franklin D. Roosevelt, der wie Theodore Roosevelt ein entfernte Verwandter Van Burens war. Der Historiker Horst Dippel hebt drei Biographien aus den frühen 1980er Jahren als lesenswert hervor: The Romantic Age of American Politics (1983) von John Niven, Martin Van Buren and the American Political System (1984) von Donald B. Cole und The presidency of Martin Van Buren (1984) von Major L. Wilson. Während Niven und Cole die gesamte Vita Van Burens betrachten, fokussiert sich Wilson auf die Amtszeit als Präsident. Lesenswerte Veröffentlichungen jüngeren Datums sind Martin Van Buren: Law, Politics, and the Shaping of Republican ideology (1997) von Jerome Mushkat und J.G. Rayback, Martin Van Buren and the emergence of American popular politics (2002) von Joel H. Silbey sowie die Kurzbiographie Martin Van Buren (2005) von Ted Widmer.Widmer erkennt in Van Buren das größte politische Talent einer Generation, die besonders reich an begnadeten Politikern war. Seine Persönlichkeit entzieht sich bis heute einem klaren Urteil, nicht zuletzt da Van Buren wahrscheinlich den intimsten Teil seiner Korrespondenz vernichtete und er zu den „vergessenen“ Präsidenten zwischen Jackson und Lincoln gehört. Zeitgenossen nahmen Van Burens undurchsichtige Manöver und schwer fassbaren Handlungsmotive oft als Listigkeit wahr, was ihm Spitznamen wie Sly Fox (deutsch: „Schlauer Fuchs“), Careful Dutchman (deutsch: „Vorsichtiger Niederländer“), The Enchanter (deutsch: „Der Charmeur“) und viele andere dieser Art einbrachte. Zwei prägnante Charaktermerkmale Van Burens waren neben Fleiß und Gewissenhaftigkeit eine bemerkenswerte Umgänglichkeit, die selbst politische Gegner als angenehm empfanden, und es ihm leicht machte, Netzwerke aufzubauen. Dennoch reizte etwas an seinem Wesen manche Gegner so sehr, dass sie ihn mit besonderer Verachtung verfolgten und nie als legitimen Nachfolger Jacksons akzeptierten. Aus der Reihe der früheren Präsidenten sticht seine einfache Herkunft hervor; nur Jackson und Lincoln stammten aus ärmeren Verhältnissen. Van Buren war zudem neben Grover Cleveland der einzige Präsident, der weder eine militärische noch eine akademische Ausbildung absolvierte.Trotz der Behauptung mancher Zeitgenossen und späterer Beobachter, mit Van Burens Einzug in das Weiße Haus habe die dritte Amtsperiode Jacksons begonnen, stand er in vielerlei Hinsicht für einen Neuanfang. Da er den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nicht bewusst erlebt hatte, war das Verhältnis zu Großbritannien entspannter, und er besaß ein moderneres Verständnis von der grundlegenden Bedeutung des Parteienwettbewerbs für eine Demokratie, den er in die Institutionen der Verfassung integrierte. Er gehörte zur zweiten Generation amerikanischer Politiker, die zwischen 1820 und 1850 die Geschicke der Vereinigten Staaten lenkten. Van Buren war der erste Präsident, der den armen, ethnisch durch die Zuwanderung von Iren und Deutschen zunehmend gemischten Bevölkerungsschichten der Großstädte eine Stimme gab, wobei er insbesondere an das rasant wachsende New York City in seinem Heimatstaat dachte. Damit brach er den klassischen Republikanismus seines Vorbildes Jefferson auf, der eine angelsächsisch geprägte Agrargesellschaft freier Bauern als Ideal hatte. Die Sklavenfrage ließ er wie alle Politiker des Antebellum unbeantwortet; eine mutigere Haltung hätte ihm im Verständnis jener Zeit politisch geschadet. Van Burens grundlegende Erfahrung in diesem Konflikt war, dass es nicht länger möglich war, eine gemäßigte Position zwischen den Lagern einzunehmen, da dies von beiden Seiten als Verrat aufgefasst wurde. Diese Dynamik prägte auch die folgenden Präsidentschaften. Gleich vielen Jacksonian Democrats ignorierte er daher die Sklavenfrage und führte stattdessen moralische Feldzüge gegen die Banken, indem er sich unter anderem hartnäckig bemühte, ein unabhängiges Depositensystem innerhalb der staatlichen Finanzverwaltung aufzubauen.Van Buren weist in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten zu den demokratischen Präsidenten John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Bill Clinton auf. Wie diese wurde Van Buren aus Teilen der Geschäftswelt mit einer extremen, ins Irrationale gehenden Feindschaft verfolgt, die nicht davor zurückscheute, ihr Privatleben zu skandalisieren. Laut Widmer wirke die reißerische und persönlich beleidigende Wahlkampagne von 1840 gegen Van Buren bis heute im Klima der parteipolitischen Auseinandersetzungen in den Vereinigten Staaten nach. Im Falle Johnsons besteht eine weitere Gemeinsamkeit in der Vorliebe für das Agieren hinter der Bühne, wie zum Beispiel Hinterzimmer-Absprachen und interne Stimmenauszählung bis auf die Ebene des einzelnen Abgeordneten, und im Geschick, für die Preisgabe von Informationen den richtigen Moment abzupassen, um so die öffentliche Meinung zu manipulieren. Diese Fähigkeit ließ viele der Zeitgenossen mit Verwunderung wahrnehmen, wie Van Buren immer mehr Macht zufloss, obwohl er keine Anstrengungen in dieser Richtung zeigte, die typischerweise in stürmischen Reden oder prätentiöser Selbstinszenierung ihren Ausdruck fanden. Für den am häufigsten gegen ihn gerichteten Vorwurf, dass er in entscheidenden politischen Fragen keinen eigenen Standpunkt gehabt habe, gibt es laut Widmer keine fundierte Grundlage. Er stellt Van Buren in eine Reihe mit den Präsidenten Buchanan, Herbert Hoover und George H. W. Bush, die gleichfalls in ihrer ersten Amtsperiode mit einer schweren Krise konfrontiert und dann abgewählt worden seien. Obwohl Van Buren einer der weniger bekannten Präsidenten bleiben wird, hat er unabhängig von seiner Amtszeit ein Vermächtnis hinterlassen, das ihm einen wichtigen Platz in der amerikanischen Politikgeschichte sichert. Sein neuartiges Verständnis für die Rolle der Regierung bei der Stärkung politischer Partizipation, das sich deutlich von dem der standesbewussten und Parteien prinzipiell ablehnenden Gründerväter unterschied, lieferte einen wichtigen Beitrag in der demokratischen Entwicklung Amerikas. Das von Van Buren mitinitiierte liberalere Wahlrecht und die Jacksonian Democracy als neuartige Partei, die nationalistischer, also weniger von Bundesstaaten dominiert, und zukunftsorientierter sowie wirtschaftsfreundlicher war als die von Pflanzern dominierten Jeffersonian Republicans, überwanden das First Party System und ermöglichten Millionen Bürgern die politische Teilhabe. Das so geschaffene politische System war besser an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepasst als die überkommene Ordnung der Era of Good Feelings.Einerseits beinhaltete die von ihm begründete Parteimaschine fragwürdige Mittel wie Ämterpatronage und ein Klientelsystem, andererseits aber die Liberalisierung des Wahlrechts und somit politische Teilhabe für breitere Bevölkerungsschichten. Van Buren war wesentlich an der Einführung von parteiinternen Caucusen, Nominierungsparteitagen in Form der Democratic National Conventions und Parteipresse beteiligt. Die Organisation, die er in den 1810er und 1820er Jahren aufbaute, ist bei genauerer Betrachtung der eigentliche Vorläufer der Demokratischen Partei und weniger die Jeffersonian Republicans, wie allgemeinhin angenommen. Diese neuartige politische Entität hatte Van Buren als wichtigsten Manager und Verfechter ihrer weiteren Verbreitung. Die Basis für den Erfolg der Demokraten als nationale Partei bildete die Nord-Süd-Achse aus den Schlüsselstaaten New York und Virginia, wobei sich Van Buren an seinen Vorbildern Burr und Jefferson orientierte, die mit dieser Allianz bei der Präsidentschaftswahl von 1800 den Sieg davongetragen hatten. Dieses Erfolgsmodell wurde in ähnlicher Form von Präsident Franklin Delano Roosevelt übernommen. Dass Van Buren mit der Kandidatur für die Free Soil Party 1848 die Einheit seiner eigenen Schöpfung, der Demokratischen Partei, gefährdete, weist wiederum Parallelen zu Theodore Roosevelts Engagement für die Progressive Party bei der Präsidentschaftswahl des Jahres 1912 auf. Er blickte weiter in die Zukunft als jeder andere Politiker seiner Generation, indem er das durch die demographische Entwicklung bedingte stärkere politische Gewicht des städtischen Nordens gegenüber dem durch Plantagenwirtschaft geprägten Süden vorhersah. Das im Wesentlichen von Van Buren geschaffene neue Parteiensystem mit dem hohen Stellenwert von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sorgte in einem gewissen Sinne für seinen persönlichen Bedeutungsverlust, da nun immer mehr das Charisma und die Popularität der Kandidaten für den Wahlsieg entscheidend waren und weniger ihr Programm. Dies schadete ihm, führte aber in den kommenden Dekaden zu den Erfolgen von Kriegshelden wie Harrison und Taylor sowie Lincoln, der als „ehrlicher Abe“ Sympathien gewann.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
In Arkansas, Iowa, Michigan und Tennessee sind insgesamt vier Countys nach Van Buren benannt. Es existierte auch ein Van Buren County in Missouri, dieses wurde jedoch 1849 in Cass County umbenannt. Van Burens Alterswohnsitz Lindenwald erhielt am 16. Oktober 1974 durch den Kongress den Status einer National Historic Site zuerkannt.
=== Belletristik ===
Am Ende des 19. Jahrhunderts erinnerte Walt Whitman an Van Buren als einen brillanten Manager, der nur von Lincoln überragt werde. Er übernahm zudem das schon lange bestehende Gerücht, dass Van Buren ein illegitimer Sohn von Burr gewesen sei, was später von Gore Vidal in seinem Roman Burr aufgegriffen wurde. Ezra Pound verfasste in The Cantos ein Gedicht über Van Buren, nämlich den 37. Gesang. Darin verherrlichte er den früheren Präsidenten als Nationalhelden und Begründer der wirtschaftlichen Freiheit in den Vereinigten Staaten.
=== Filme ===
Life Portrait of Martin Van Buren auf C-SPAN, 3. Mai 1999, 147 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit Patricia West und Michael Douglas Henderson)
In dem Film Amistad (1997) von Steven Spielberg hat Martin Van Buren eine wichtige Rolle und wird von Nigel Hawthorne als unentschlossener und leicht beeinflussbarer Präsident dargestellt.
== Werkausgaben ==
John C. Fitzpatrick (Hrsg.): The autobiography of Martin Van Buren. United States Government Printing Office, Washington, D.C. 1920, LCCN 21-006224.
Elizabeth Howard West (Hrsg.): Calendar of the papers of Martin Van Buren. United States Government Printing Office, Washington, D.C. 1910, LCCN 10-035009.
Abraham Van Buren, John Van Buren (Hrsg.): Inquiry into the origin and course of political parties in the United States. Hurd and Houghton, New York City 1867, LCCN 12-023638.
== Literatur ==
Horst Dippel: Martin Van Buren (1837–1841): Praktiker des Parteienstaates. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 130–135.
Michael J. Gerhardt: The forgotten Presidents: Their Untold Constitutional Legacy. Oxford University Press, New York 2013, ISBN 978-0-19-938998-8, S. 3–24 (= 1. Martin Van Buren).
Ted Widmer: Martin Van Buren (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 8th President). Times Books, New York City 2005, ISBN 978-1-4668-3271-8.
Donald B. Cole: Martin Van Buren and the American Political System. Neuauflage der Erstausgabe von 1984. Eastern National, Fort Washington 2004, ISBN 1-59091-029-X.
Joel H. Silbey: Martin Van Buren and the emergence of American popular politics. Rowman & Littlefield, Lanham 2002, ISBN 0-7425-2243-1.
Jerome Mushkat, J.G. Rayback: Martin Van Buren: Law, Politics, and the Shaping of Republican ideology. Northern Illinois University Press, DeKalb 1997, ISBN 0-8758-0229-X.
Major L. Wilson: The presidency of Martin Van Buren. University Press of Kansas, Lawrence 1984, LCCN 83-017871.
John Niven: The Romantic Age of American Politics. Oxford University Press, New York City 1983, LCCN 82-014528.
George Bancroft: Martin Van Buren to the End of His Public Career. Harper and Brothers, New York 1889, LCCN 10-021678.
== Weblinks ==
Literatur von und über Martin Van Buren im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Martin Van Buren im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Martin Van Buren in der Notable Names Database (englisch)
offizielle Biographie beim Weißen Haus (Memento vom 17. Januar 2009 im Internet Archive) (englisch)
Martin Van Buren in der National Governors Association (englisch)
The Papers of Martin Van Buren, Projekt zur Quellensammlung an der Cumberland University, (englisch, Herausgeber: Mark R. Cheathem)
American President: Martin Van Buren (1782–1862), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Joel Silbey)
The American Presidency Project: Martin Van Buren. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Martin Van Buren in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Van_Buren |
Motörhead | = Motörhead =
Motörhead [ˈmoʊtərhɛd] war eine 1975 in London gegründete Rockband. Die Musik von Motörhead vereinte Einflüsse aus Punk, Hard Rock, Rock ’n’ Roll und Bluesrock. Ihr Einfluss auf andere Musiker und Bands war und ist im Vergleich zum eigenen kommerziellen Erfolg sehr groß.Zwischen 1979 und 1982 hatte die Band ihre kommerziell erfolgreichste Phase. Die Alben aus dieser Zeit wie Overkill, Bomber (beide 1979) und Ace of Spades (1980) gelten als wegweisend für den Heavy Metal und als Klassiker des Genres. Seit den frühen 2000er Jahren verzeichnete Motörhead wieder eine steigende Popularität. Die Bandgeschichte war von zahlreichen Wechseln in der Besetzung, beim Management und der Plattenlabel geprägt. Motörhead stand bei insgesamt 16 verschiedenen Labels unter Vertrag. Seit 1995 war die Gruppe unverändert in der Besetzung Lemmy Kilmister (E-Bass, Gesang), Phil Campbell (E-Gitarre) und Mikkey Dee (Schlagzeug) aktiv. Einen Tag nach dem Tod von Lemmy Kilmister am 28. Dezember 2015 erklärte Mikkey Dee das Ende der Band.
Charakteristisch für Motörhead war, dass der E-Bass die Rolle der Rhythmusgitarre übernahm, wodurch die Klangfarbe der Musik deutlich basslastiger als die vergleichbarer Gruppen wie AC/DC war. Im Auftreten und in den Liedtexten präsentierte die Gruppe sich als „Outlaws“. Damit sicherte sich Motörhead die Sympathien der Punk-Szene der späten 1970er Jahre und diente so als Bindeglied zwischen Punk und Heavy Metal.
== Geschichte ==
=== Gründung und frühe Jahre ===
Die Geschichte von Motörhead ist untrennbar mit der des Sängers und Bassisten Ian „Lemmy“ Kilmister verbunden. Der am 24. Dezember 1945 in Stoke-on-Trent, Staffordshire, England geborene Ian Kilmister, Sohn eines Feldkaplans der Royal Air Force und einer Bibliothekarin, spielte seit 1971 Bass bei der britischen Space-Rock-Band Hawkwind. Während einer Nordamerika-Tournee wurde er an der Grenze der USA zu Kanada im Mai 1975 wegen Besitzes von Amphetaminen festgenommen. Die Band stellte die Kaution für Kilmister und flog ihn für den Auftritt nach Toronto ein, weil sie auf die Schnelle keinen Ersatz finden konnte, allerdings wurde er nach dem Konzert gefeuert.
Kilmister kehrte nach England zurück und begann sofort mit der Zusammenstellung einer neuen Band. Gitarrist Larry Wallis kannte er von gemeinsamen Auftritten mit UFO und den Pink Fairies, Schlagzeuger Lucas Fox wurde ihm von einer Freundin empfohlen. Kilmister spielte Bass und übernahm den Gesang. Ursprünglich sollte die Band Bastard heißen, allerdings hielt der damalige Bandmanager Douglas Smith den Namen nicht für medientauglich. Daraufhin wählte Kilmister „Motörhead“ als Bandnamen. Die Bezeichnung stammt aus dem US-amerikanischen Slang, bedeutet „geschwindigkeitssüchtig“ und ist auch ein Synonym für Konsumenten amphetaminhaltiger Drogen. Zugleich ist „Motorhead“ der Titel des letzten Liedes, das Kilmister für Hawkwind geschrieben hatte. Dieses Lied wurde ursprünglich als B-Seite der Hawkwind-Single Kings of Speed veröffentlicht. Die Verwendung des in der englischen Sprache nicht gebräuchlichen Buchstabens ö im Bandnamen geht auf die Gruppe Blue Öyster Cult zurück. Das Motörhead-Logo mit diesem Umlaut stammt vom Grafiker Joe Petagno, der das Cover für das erste Album der Gruppe anfertigte. Dieser sogenannte Heavy-Metal-Umlaut fand auch Verwendung in den Spitznamen der Bandmitglieder Phil Campbell („Wizzö“) und Mick Burston („Würzel“) sowie in verschiedenen Albumtiteln.
Am 20. Juli 1975 absolvierten Motörhead ihren ersten Auftritt im Londoner Roundhouse im Vorprogramm der Band Greenslade und im Oktober 1975 spielte die Band als Opener für Blue Öyster Cult im Hammersmith Odeon.
United Artists, das Plattenlabel von Hawkwind, nahm Motörhead unter Vertrag und im Frühjahr 1976 ging die Band ins Tonstudio, um ihr erstes Album On Parole aufzunehmen. Bereits während der Aufnahmen kam es zu Spannungen mit Schlagzeuger Lucas Fox, der mit dem von übermäßigem Konsum von Alkohol und anderen Drogen gekennzeichneten Lebensstil der übrigen Musiker nicht mithalten konnte. Durch einen gemeinsamen Freund lernte Kilmister Phil „Philthy Animal“ Taylor kennen, und nach einer Jamsession mit ihm wurde Fox gefeuert, durch Taylor ersetzt und die Aufnahmen in dieser Besetzung fertiggestellt. Allerdings verhinderte das Plattenlabel die Veröffentlichung des Albums und einer Single, die Motörhead für ihr neues Label Stiff Records im Sommer 1976 aufgenommen hatte. Während dieser Zeit kam Kilmister auf die Idee, die Band mit „Fast“ Eddie Clarke um einen zweiten Gitarristen zu erweitern. Zur ersten gemeinsamen Probe erschien Larry Wallis um mehrere Stunden verspätet und verließ danach die Band. Als Hauptgrund für seinen Weggang gab Wallis später an, er hätte wegen der Probleme bei den Aufnahmen die Lust an Motörhead verloren und das Gefühl, Clarke wäre von Anfang an dazu gedacht gewesen, ihn zu ersetzen.
=== Kommerzieller Durchbruch und Erfolg ===
Ende 1976 entließ United Artists die Band aus dem bestehenden Vertrag. Ohne gültigen Plattenvertrag beschloss Motörhead im Frühjahr 1977, sich wegen Erfolglosigkeit aufzulösen und ein letztes Konzert zu geben. Während dieses Konzerts war Ted Carroll von Chiswick Records anwesend und bot den Musikern im Anschluss einen Plattenvertrag für eine Single an. Aus den Aufnahmen zur Single wurden Aufnahmen für ein vollständiges Album, das im September 1977 unter dem Titel Motörhead erschien. Eingespielt wurde es in der Besetzung Kilmister, Taylor und Clarke und bedeutete mit Platz 43 der britischen Albumcharts den ersten kommerziellen Erfolg der Band. Die Beyond the Tresholds of Pain Tour zum Album musste Motörhead nach fünf Auftritten abbrechen, weil Phil Taylor sich das Handgelenk gebrochen hatte.
Nachdem es Mitte 1978 zum Bruch mit Bandmanager Tony Secunda gekommen war, weil dieser den Vertrag mit Chiswick Records gekündigt hatte, übernahm Douglas Smith wieder das Management und besorgte Motörhead einen Vertrag mit Bronze Records. Das erste Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Single Louie Louie, die am 25. August 1978 erschien und Platz 68 der britischen Singlecharts erreichte. Nach einer Tournee im Herbst 1978 wurde das Album Overkill aufgenommen und am 24. März 1979 veröffentlicht. Es erreichte in Großbritannien Platz 24 der Albumcharts und erhielt eine „Silberne Schallplatte“ für mehr als 60.000 verkaufte Einheiten. Nach Abschluss der Tournee zu Overkill nahm Motörhead das nächste Album auf, das am 27. Oktober 1979 unter dem Titel Bomber erschien; es erreichte Platz 12 der britischen Albumcharts und ebenfalls Silber-Status. Damit erzielten die Musiker erstmals Einnahmen, von denen sie leben konnten, und investierten einen Großteil der Tantiemen in die Ausrüstung der Band.Kurz nach Bomber und dem damit verbundenen kommerziellen Erfolg veröffentlichte United Artists Records im Herbst 1979 das bereits 1976 aufgenommene On Parole. Da die Rechte an dem Album beim Plattenlabel lagen, benötigten sie dafür nicht das Einverständnis der Band.
Während der Tournee zu Bomber wurden vier Titel live mitgeschnitten und erschienen im Mai 1980 als EP The Golden Years, die mit Platz 8 die britischen Top Ten erreichte. Die Strapazen des Tourneelebens forderten ihren Tribut, als Kilmister nach einem Konzert in der Stafford Bingley Hall im Juli 1980 kollabierte. Nach einer kurzen Erholungsphase begann die Band Anfang August mit den Aufnahmen zu Ace of Spades, das am 8. November 1980 erschien. Das Album war der größte Erfolg von Motörhead in Großbritannien mit Platz 4 der Albumcharts und Gold-Status für mehr als 100.000 verkaufte Einheiten. Die Single Ace of Spades erreichte Platz 15 der britischen Singlecharts.
Im November begann die Ace-Up-Your-Sleeve-Tour durch Großbritannien und Nordirland. Nach einem Auftritt in Belfast verletzte sich Phil Taylor an der Halswirbelsäule, sodass die für Anfang 1981 geplanten Auftritte in Europa verschoben werden mussten. Während dieser Zeit nahm Motörhead gemeinsam mit Girlschool die EP St. Valentine’s Day Massacre auf, auf der sich mit Please Don’t Touch eine Coverversion von Johnny Kidd & the Pirates befand. Die EP erreichte Platz 5 der Charts. Im März 1981 wurde die Tournee fortgesetzt. Während der Auftritte in Leeds und Newcastle wurden die Aufnahmen gemacht, die auf dem im Juni 1981 veröffentlichten Live-Album No Sleep ’til Hammersmith zu hören sind. Dieses Album stieg in der ersten Chartwoche auf Platz 1 der britischen Albumcharts ein. Für das Album erhielt Motörhead ihre bislang letzte Goldene Schallplatte in Großbritannien.
=== Bandinterne Streitigkeiten und Besetzungswechsel ===
Nach Abschluss der USA-Tournee mit Ozzy Osbourne kehrte Motörhead nach Europa zurück und begann mit den Aufnahmen zum nächsten Album Iron Fist. Während dieser Zeit kam es zu Differenzen zwischen dem Management und der Band, da die Mitglieder von Motörhead vermuteten, dass sie in finanzieller Hinsicht betrogen worden waren. Diese Probleme schlugen sich in den Aufnahmen nieder, weil das Management nicht die nötigen 10.000 Pfund für die Produktion des Albums zur Verfügung stellte. Daraufhin entschied Kilmister, dass Eddie Clarke das Album produzieren sollte. Nachdem Kilmister während der laufenden Tournee zum Iron-Fist-Album Clarke dazu verpflichtet hatte, auch die Aufnahmen zur Stand-by-Your-Man-EP mit Wendy O. Williams zu produzieren, kam es im Studio zum offenen Streit zwischen beiden Musikern, in dessen Folge Clarke Motörhead verließ. Zwar spielte Clarke noch zwei ausstehende Shows in New York und Toronto, war aber zu dem Zeitpunkt kein offizielles Mitglied von Motörhead mehr.
Ersetzt wurde Clarke durch Brian Robertson (ehemals Thin Lizzy), den Kilmister bereits seit Jahren kannte. Weil er kurzfristig verfügbar war, ließ die Band ihn von Europa nach Kanada einfliegen. Nach einer kurzen Probe spielte er das erste Konzert mit Motörhead in Detroit im Juni 1982. Es folgten weitere Auftritte in Japan und Europa, bevor im März 1983 die Aufnahmen zu Another Perfect Day begannen. Das Album gilt wegen Robertsons Gitarrenarbeit als motörhead-untypisch, weil es raffiniertere und extravagantere Melodien als die anderen Alben enthält. Mit dem im Juni 1983 veröffentlichten Album begann der kommerzielle Erfolg von Motörhead nachzulassen, es erreichte nicht mehr die Top Ten der Albumcharts und erhielt keine Auszeichnung für die Anzahl der Verkäufe. Die Fans von Motörhead mochten Another Perfect Day zunächst nicht und warfen der Band vor, eher kommerzielle als musikalische Interessen zu verfolgen; heute gilt das Album als Geheimtipp. Die Zusammenarbeit mit Robertson währte bis zum Herbst 1983. Während der laufenden Tournee weigerte er sich zunächst, alte Motörhead-Lieder zu spielen. Zum Eklat kam es nach einem Konzert in Hannover, bei dem Robertson trotz Ermahnung durch Kilmister dreimal das Lied Another Perfect Day anstimmte. Daraufhin feuerte Kilmister ihn und sagte den Rest der Tour ab.
In einem Interview mit der Musikzeitschrift Melody Maker gab Kilmister bekannt, dass Motörhead auf der Suche nach einem neuen Gitarristen sei. Aus der Vielzahl der Bewerbungen wurden Phil Campbell und Michael „Würzel“ Burston ausgewählt. Um sich für einen entscheiden zu können, setzte Kilmister ein Vorspielen an, zu dem Schlagzeuger Taylor jedoch nicht erschien und stattdessen erklärte, aufhören zu wollen. Auf Vorschlag des Bandmanagers wurde er durch Pete Gill (ehemals Saxon) ersetzt, den Kilmister seit einer gemeinsamen Tour 1979 mit Saxon kannte. Weiterhin wurde entschieden, die Band mit zwei Gitarristen fortzuführen. In dieser Besetzung setzte Motörhead im Frühjahr 1984 die im Herbst 1983 unterbrochene Tournee fort. Zur Promotion der neuen Besetzung veröffentlichte Bronze Records im September 1984 das Best-of-Album No Remorse, das neben bereits veröffentlichten Stücken vier in der aktuellen Besetzung aufgenommene neue Titel enthielt. Aufgrund von Problemen mit dem Label, das sich laut Kilmister „nicht mehr für die Band interessierte“, verließ Motörhead Ende 1984 Bronze Records, war aber wegen Rechtsstreitigkeiten bis auf weiteres daran gehindert, ein neues Album zu veröffentlichen. Während dieser Zeit bestritt die Band verschiedene Auftritte, unter anderem zum zehnjährigen Jubiläum im Juni 1985 im Hammersmith Odeon.
Im November 1985 war der Streit mit Bronze Records beigelegt, und Bandmanager Douglas Smith nahm Motörhead bei seinem eigenen Plattenlabel GWR Records unter Vertrag. Das Anfang 1986 aufgenommene Studioalbum Orgasmatron erschien am 9. August 1986, gefolgt von einer Tournee. Anfang 1987 fanden die Dreharbeiten zu Motörheads Cameo-Auftritt im Film Eat the Rich statt. Während des Drehs wurde Pete Gill von Kilmister wegen persönlicher Differenzen gefeuert, und Phil Taylor kehrte zur Band zurück. Mit ihm nahm Motörhead im Juni 1987 das nächste Album Rock ’n’ Roll auf, das im September des Jahres erschien. Die darauf folgende Tournee führte die Band 1988 im Vorprogramm von Alice Cooper in die USA. Im Juli 1988 wurde ein Konzert im finnischen Hämeenlinna beim Giants of Rock aufgenommen und als Live-Album No Sleep at All veröffentlicht. Nach einer kurzen Auszeit Anfang 1989 begann die Band mit dem Songwriting für das nächste Album. Dessen Veröffentlichung verschob sich allerdings erheblich, weil sich Motörhead im Herbst 1989 von ihrem Manager und damit auch von dessen Plattenfirma GWR Records trennte. Grund für die Trennung war der Verdacht finanzieller Unregelmäßigkeiten, der schließlich zu einem Vertrauensbruch zwischen Smith und Motörhead führte.
=== Major-Deals und die Suche nach einem neuen Plattenlabel ===
1990 fand Motörhead mit Phil Carson einen neuen Manager, der bereits für Robert Plant gearbeitet hatte. Carson verschaffte Motörhead einen Plattenvertrag bei WTG Records, einem Sublabel von Sony Music. Der Sitz des Unternehmens war Los Angeles, weshalb Kilmister im Juni 1990 seinen Wohnsitz dorthin verlegte, während die übrigen Bandmitglieder in England blieben. Kurz darauf begannen die Aufnahmen zum Album 1916, das im Februar 1991 erschien. Es erreichte mit Platz 142 die bis dahin höchste Notierung in den US-amerikanischen Billboard-200-Albumcharts. Während der anschließenden Tournee trennte sich Manager Carson von der Band, weil er ein besseres Angebot bekommen hatte. Das Management übernahm zunächst Sharon Osbourne, die allerdings finanzielle Unregelmäßigkeiten während der Japan-Tour der Band anlastete und den Vertrag kündigte. Ohne Management ging Motörhead auf Tour durch Australien. Darauf folgte die vom Sony-Konzern organisierte Operation-Rock-'n'-Roll-Tournee durch Nordamerika. Neben Motörhead nahmen mit Alice Cooper, Judas Priest, Metal Church und Dangerous Toys insgesamt fünf Bands daran teil, die alle bei verschiedenen Labels des Sony-Konzerns unter Vertrag standen. Gegen Ende der Tour fand Motörhead mit Doug Banker einen neuen Manager. Anfang 1992 begannen die Aufnahmen zum Album March ör Die, während der Schlagzeuger Taylor gefeuert wurde. Die Trennung hatte sich bereits abgezeichnet, endgültiger Auslöser war, dass Taylor zu den Aufnahmen erschien, ohne die neuen Stücke einstudiert zu haben.
Als neuer Schlagzeuger wurde der Schwede Mikkey Dee verpflichtet, den Kilmister von einer gemeinsamen Tour mit King Diamond kannte. Dee ist erstmals auf March ör Die zu hören, das im August 1992 erschien. Erneut wechselte Motörhead das Management, neuer Manager wurde Todd Singerman. Zu dieser Zeit zeichnete sich zudem der Bankrott des Labels WTG ab. Anfang 1993 wechselte die Band zu dem auf Dance-Musik spezialisierten deutschen Label ZYX Music, weil es das beste finanzielle Angebot machte. Im November 1993 erschien mit Bastards das nächste Studioalbum. Nach der Tour zum Album trennten sich Motörhead und ZYX und die Band wechselte zu CBH, dem Label ihres deutschen Promoters Rainer Hänsel. Für das im März 1995 veröffentlichte Album Sacrifice konnte mit CMC Records erst im Nachhinein ein Distributor für die Märkte außerhalb Europas gefunden werden. Kurz darauf verließ Gitarrist Michael „Würzel“ Burston die Band, der gemeinsam mit seiner Ehefrau Lemmy Kilmister beschuldigte, ihn finanziell auszunehmen. Motörhead beschloss, keinen Ersatz für Burston zu suchen, und war seitdem als Trio in der Besetzung Kilmister, Campbell und Dee aktiv.
Nach einer Tournee erschien im Oktober 1996 das nächste Studioalbum Overnight Sensation. Die dazugehörige Tournee führte die Band erstmals nach Russland, wo sie vier Auftritte in Moskau, Rostow und Sankt Petersburg bestritt. Im März 1998 erschien das Album Snake Bite Love. Auf der anschließenden Tour wurde ein Auftritt in Hamburg mitgeschnitten und 1999 als Live-Album Everything Louder than Everyone Else veröffentlicht. Ebenfalls im Jahr 1999 wurde während der Pausen der laufenden Tournee das fünfzehnte Studioalbum aufgenommen. Am 16. Mai 2000 erschien We Are Motörhead, gefolgt von einer gut ein Jahr dauernden Tournee.
=== Steigende Popularität ===
Einen Wendepunkt in kommerzieller Hinsicht stellte das im April 2002 veröffentlichte Album Hammered dar. Motörhead verkaufte von der Platte innerhalb eines Monats mehr Exemplare als von den beiden vorangegangenen Alben bis dahin zusammen. Da die Band wieder für größere Konzertveranstaltungen gebucht wurde, bedeutete dies einen finanziellen Aufschwung für die Musiker. Es folgte ein Plattenvertrag beim renommierten deutschen Independentlabel SPV und 2004 das Album Inferno. Weiterhin nahm Motörhead im Jahr 2004 das Lied You Better Swim für den SpongeBob-Schwammkopf-Film auf. Für ihren Titel Whiplash, eine Metallica-Coverversion, erhielt Motörhead 2005 den Grammy Award in der Kategorie Best Metal Performance.
Am 16. Juni 2005 wurde im Hammersmith Apollo in London das 30-jährige Bandjubiläum gefeiert. Für Motörhead eröffneten die langjährigen Weggefährten von Saxon und Girlschool. Ebenfalls im Jahr 2005 spielte Motörhead auf dem Vaya-con-tioz-Abschiedsfestival der Böhsen Onkelz auf dem Lausitzring.
Motörhead hat seit 2000 mehrmals mit der amerikanischen Wrestling-Promotionsfirma World Wrestling Entertainment (WWE) zusammengearbeitet. So wurden drei Lieder aufgenommen (The Game, Line in the Sand (Evolution) und King of Kings), die als Einzugsmusik für den Wrestler Triple H verwendet werden. Auch sind die Lieder auf den verschiedenen CDs der Promotion zu finden. Zudem hatte Motörhead Auftritte bei Wrestlemania 17 (1. April 2001) und WrestleMania 21 (3. April 2005), wo sie Triple Hs Einzüge live begleiteten.
Im August 2006 wurde das Album Kiss of Death veröffentlicht – das erste seit dem 1992er-Album March ör Die, das sich in den britischen Albumcharts platzieren konnte. In Deutschland stieg es in der ersten Chartwoche auf Platz 4 der Albumcharts ein. Im Jahr 2008 erschien das Album Motörizer. Für einen Teil der Amerika-Tour 2009 wurde als Ersatz für Schlagzeuger Mikkey Dee, der wegen der Teilnahme an der schwedischen Ausgabe des Dschungelcamps nicht verfügbar war, Ex-Guns-N’-Roses-Schlagzeuger Matt Sorum verpflichtet. Im Zuge der Vorarbeiten zum 20. Studioalbum The Wörld Is Yours, das im Dezember 2010 anlässlich des 65. Geburtstages von Lemmy Kilmister und des 35-jährigen Bandjubiläums erschien, gründete die Band ein eigenes Plattenlabel unter dem Namen Motörhead Music. Während der Tournee zum Album The Wörld Is Yours wurde ein Auftritt in Santiago de Chile am 9. Juli 2011 mitgeschnitten und im November 2011 als DVD The Wörld Is Ours Vol. 1: Everywhere Further Than Everyplace Else veröffentlicht. Aufgenommen wurde das Konzert von Sam Dunns Produktionsfirma Banger Films.
Seit 2011 bietet Motörhead eine eigene Getränkekollektion an. Sie besteht aus dem Rotwein Motörhead Shiraz, einem Rosé und einem Wodka mit dem Namen Vödka. Daneben wird verschiedenes Zubehör wie Wein- und Whiskygläser angeboten.
=== Gesundheitliche Probleme ===
Da Kilmister nach einer Operation und einem Sturz körperlich stark geschwächt war, sagten Motörhead am 2. Juli 2013 alle Festivalauftritte des Jahres ab. So musste der Auftritt der Band beim Wacken Open Air 2013 wegen Kilmisters schlechtem Zustand nach einer halben Stunde abgebrochen werden. Die gesundheitlichen Probleme des Frontmanns überschatteten auch die Aufnahmen für das 21. Studioalbum Aftershock, das am 18. Oktober 2013 erschien. Die für den Winter 2013 geplante Europatour musste zunächst verschoben und letztlich abgesagt werden. Als Grund wurde Kilmisters schlechter Gesundheitszustand genannt, bedingt durch eine seit Jahren bestehende Diabetes.2014 nahmen Motörhead gemeinsam mit Biff Byford den Song Starstruck für ein Ronnie-James-Dio-Tributealbum auf. Es wurde am 1. April 2014 veröffentlicht und heißt This Is Your Life. Im selben Jahr hatten sie ein Konzert in Birmingham, bei dem sie zum ersten Mal wieder mit Phil Taylor und Eddie Clarke auf der Bühne standen. Diese hatten bei Ace of Spades einen Gastauftritt. Im September 2014 fand die erste Motörhead-Kreuzfahrt unter dem Titel The Motörboat Experience statt.
In einem Interview mit dem Magazin Rock Hard kündigte Kilmister für 2015 ein neues Studioalbum an. Dieses wurde mit dem Titel Bad Magic am 28. August 2015 veröffentlicht. Es erreichte in der ersten Woche nach Veröffentlichung Platz 1 der deutschen Albumcharts und ist damit das erste Nummer-eins-Album der Band nach No Sleep ’til Hammersmith, das 1981 Platz 1 der britischen Albumcharts erreichte. Am Vorabend der Albumveröffentlichung musste Motörhead ein Konzert in Salt Lake City abbrechen, weil Kilmister über Atemnot klagte, das Konzert in Denver am darauf folgenden Tag wurde aus diesem Grund abgesagt. Es folgten Anfang September 2015 weitere Konzertabsagen, begründet wurde dies mit der Höhenkrankheit, die sich Kilmister in Salt Lake City zugezogen haben soll. Am 8. September setzte Motörhead die begonnene Tour in St. Louis fort.
=== Tod von Lemmy Kilmister ===
Am 28. Dezember 2015 verstarb Lemmy Kilmister an einer Krebserkrankung. In einem Interview mit der schwedischen Zeitung Expressen sagte der Schlagzeuger Mikkey Dee, dass durch den Tod des Sängers die Band nicht mehr bestehen würde. Künftige Tourneen und neue Alben schloss er kategorisch aus, womit das Ende der Band offiziell besiegelt wurde.UDR Music gab bekannt, am 27. Mai 2016 mit Clean Your Clock ein Live-Album der Band veröffentlichen zu wollen. Das Album, welches Material ihrer Shows vom 20. und 21. November 2015 im Münchner Club Zenith zeigt, wurde als DVD, Blu-Ray-Disc, CD, Vinyl und als Boxset veröffentlicht. Das letzte Konzert der Band fand am 11. Dezember 2015 in der Max-Schmeling-Halle in Berlin statt, nachdem es am 27. November 2015 aufgrund einer Erkrankung von Gitarrist Phil Campbell verschoben wurde.
== Stilistische Einordnung ==
Motörhead wird in der Literatur und in Musikzeitschriften meist dem Genre des Heavy Metal zugeordnet, obwohl in die Musik Stilelemente aus dem Hard Rock, dem Punk- und dem Bluesrock einfließen. Der Musikwissenschaftler Dietmar Elflein kommt in einer Analyse der Musik der Band 2010 zu dem Schluss, dass aufgrund der Backbeat-Technik im Schlagzeugspiel, der Shuffles sowie der verwendeten Bluesschemata musiktheoretisch eine Zuordnung der Band zum Heavy Metal nicht in Betracht kommt, in einem Interview mit der taz bezeichnete er die Musik von Motörhead als „Chuck Berry, nur verzerrter und lauter“. Steve Waksman schreibt in einer Studie aus dem Jahr 2009, dass Motörhead im musikalischen Gesamtkontext die erste Band war, die Punk und Heavy Metal kombinierte. Ian Christe bezeichnet Motörhead als das Bindeglied zwischen Black Sabbath und dem aufkommenden Punk Mitte/Ende der 1970er Jahre. Black Sabbath habe den Heavy Metal erfunden, Judas Priest habe ihn bekannt gemacht und Motörhead habe ihn definiert. Das Musikmagazin Rolling Stone schreibt, dass die Musik der Band „der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Punk und Metal“ sei. Das deutsche Musikmagazin Rock Hard bezeichnet das Debütalbum Motörhead als „völlig eigenständigen Bastard aus Rock ’n’ Roll und Punk“. Jörg Scheller nennt Motörhead einen Sonderfall, da die Band einerseits eine klassische Heavy-Metal-Band sei, andererseits aber auch eine Rock-’n’-Roll-Band. Im Tagesspiegel präzisiert Scheller: „Aus den sechziger Jahren brachten sie [Motörhead] den Freiheitsdrang mit, aus ihrer Gegenwart sogen sie den Anarchismus und Nihilismus des Punk auf, verquirlten ihn mit der maschinellen Kälte des Heavy Metal und konterkarierten diesen mit der Lebenslust urwüchsigen Rock’n’Rolls.“Die Gruppe selbst und besonders der Bandgründer Lemmy Kilmister betrachtete die Gruppe allerdings nicht als Metal-Band. In einem Interview mit dem Rolling Stone anlässlich der Veröffentlichung des 2004er-Albums Inferno äußerte Kilmister, dass es Zeit sei, für die Musik eine neue Kategorie zu schaffen: „Motörhead Music“. In anderen Interviews weist er darauf hin, dass er sich dem Punk stets mehr verbunden fühlte als dem Metal, Motörhead habe mehr mit The Damned als mit Black Sabbath gemeinsam und keine Gemeinsamkeiten mit Judas Priest; für ihn sind Bands wie Black Sabbath und Judas Priest Metal, schnellere Bands wie die der New Wave of British Heavy Metal (NWoBHM) und Metallica klingen für ihn mehr nach Punk als nach Metal. Punks seien interessanter und wütender, Metaller verlören ihre Wut schnell, wenn Geld im Spiel sei, und Metal habe seinen revolutionären Geist verloren, als er in die Arenen kam, wo Punks niemals gespielt hätten. Die Band selbst bezeichnet ihren Stil als Rock ’n’ Roll und beruft sich damit auf das Lebensgefühl, die Thematiken und die Songstruktur des 1950er-Genres betreffende Traditionen, was besonders bei Liedern wie Angel City, Going to Brazil, Don’t Waste Your Time und Coverversionen wie Blue Suede Shoes und Hoochie Coochie Man deutlich wird. Allerdings ist dies nicht als Motörheads Hauptgenre zu bezeichnen, da die Band auch andere Stile bedient oder von ihnen beeinflusst ist. Einige Stücke sind dem Hard Rock zuzuordnen, so ist You Better Run mit Bad to the Bone von George Thorogood vergleichbar, auf das auch die Textzeile „I’m iron & steel, I’m bad to the bone“ anspielt. Titel wie R.A.M.O.N.E.S., ein Lied über die US-amerikanische Band Ramones, sind wiederum eindeutig dem Punk zuzuordnen, die Band trat unter anderem mit The Damned auf, und Lemmy hatte Kontakte zur frühen Punk-Subkultur, unter anderem zu Sid Vicious und Wendy O. Williams.
== Musikalische Bedeutung ==
Motörhead wird zu den Wegbereitern des Speed Metal gezählt. Das Billboard Magazine weist auf den weitreichenden Einfluss von Motörhead hin und schreibt, dass der „überwältigende, laute und schnelle Heavy Metal [der Band] einer der wegweisendsten Stile der späten 1970er war“, die Musik der Band sei kein Punk-Rock, vielmehr war sie die erste Metal-Band, die „dessen Energien gebündelt und damit den Grundstein für spätere Genres“ des Heavy Metal legte. So werden Lieder wie Overkill oder Bomber als Basis für den Thrash Metal angesehen. Dem 1979er-Album Overkill wird eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der New Wave of British Heavy Metal zugesprochen, das 1980er-Album Ace of Spades wird als eines der wichtigsten Alben der Rock-Geschichte bezeichnet. Des Weiteren bereitete Motörhead mit der Kombination aus schnellem Tempo und Doublebass-Technik, die erstmals auf Overkill (1979) zu hören war, den Weg für spätere Schlagzeugtechniken wie den Blastbeat.Über alle Subgenres des Metals sind Musiker und Bands von Motörhead beeinflusst. Bereits Ende der 1970er Jahre spielten Gruppen wie die Tygers of Pan Tang Coverversionen der Band, und die Black-Metal-Pioniere Venom und Bathory ließen sich neben anderen Bands wie Black Sabbath auch von Motörhead inspirieren. Motörhead gehörte zu den Haupteinflüssen der Anfang der 1980er Jahre aufkommenden Metal-Szene in den USA. Lars Ulrich, Schlagzeuger von Metallica, begleitete Motörhead auf deren 1981er-USA-Tournee und war Leiter des US-amerikanischen Motörhead-Fanklubs. In Bezug auf die soziale gemeinschaftsbildende Wirkungsmacht von Motörhead innerhalb der Hard-Rock-Szene erklärte Lars Ulrich in dem Dokumentarfilm Classic Albums: Motörhead – Ace of Spades von 2004: „Damals gab es eine große Kluft zwischen Punks und Metalfans. Aber Motörhead rissen all diese Schranken nieder.“ Jeff Becerra, Sänger der US-amerikanischen Death-Metal-Pioniere Possessed, verwies darauf, dass der Anspruch von Possessed gewesen sei, „so schnell und so laut zu spielen … wie Motörhead“. Die ebenfalls zu den Pionieren dieser Musikrichtung zählenden Bands Master und Death Strike von Paul Speckmann zählen Motörhead ebenfalls zu ihren Einflüssen. Auch die Kanadier Voivod zeigten sich auf ihrem 1984er-Debüt War and Pain hörbar unter dem Einfluss der Musik von Motörhead. Die Mitte der 1980er Jahre in den USA aufkommende Metalcore-Bewegung bezieht sich ebenso auf Motörhead wie die 1990er-Crust-Bewegung. Der Einfluss der Band reicht bis in die heutige Zeit. Fenriz von der norwegischen Band Darkthrone verwies darauf, dass er sich bei dem in den 2000ern vollzogenen Stilwechsel von den frühen Veröffentlichungen von Motörhead inspirieren ließ und nannte die von Motörhead praktizierte Verbindung von Heavy Metal und Punk „Metalpunk“.
== Musik und Texte ==
Die Musik von Motörhead wird als Kombination aus schnellem Schlagzeugspiel, stark verzerrtem und übersteuertem Bass, Lautstärke und einem Gesang, der traditionelle Gesangstechniken mit Shouting kombiniert, bezeichnet. Die frühen Veröffentlichungen zeigten sich stark von Rock ’n’ Roll und Punk beeinflusst. So ist das Debütalbum Motörhead (1977) von 12-taktigen Gitarrenriffs und Doppelgriffen nach Art von Rock-Musikern wie Chuck Berry geprägt. Mit der Veröffentlichung von Overkill (1979) definierte Motörhead seinen Stil durch stark verzerrte, um einen Halbton tiefer gestimmte Gitarren, den verstärkten Einsatz der Doublebass-Schlagzeugtechnik, verbunden mit schnellen Sechzehntel-Rhythmen nach dem Vorbild von Gruppen wie Deep Purple neu. Die Musik basierte weitgehend auf zwei statt auf drei Akkorden. Als eher untypisch für Motörhead wird das Album Another Perfect Day angesehen, das wegen der Mitwirkung von Gitarrist Brian Robertson (ehemals Thin Lizzy) raffiniertere und extravagantere Melodien als andere Veröffentlichungen der Gruppe bietet.Als typisch für Motörhead wird der Klang des E-Bass bezeichnet, der weitestgehend die zweite Gitarre ersetzt. Beim Spielen wird durchgehend eine Leersaite angeschlagen, die in Kombination mit gegriffenen Saiten einen Klang erzeugen, der den E-Bass die Rolle der Rhythmusgitarre übernehmen lässt. Ein weiteres stilistisches Merkmal ist dabei, dass viele Lieder mit einem markanten Bassriff eröffnet werden. Dies ist beispielsweise der Fall bei Motörhead, Stone Dead Forever, Ace of Spades und Overnight Sensation. Die Klangfarbe der Gitarren wird als stark verzerrt beschrieben und verzichtet außer bei Soli auf klangformende Effekte wie Wah Wahs. Dadurch ist die Klangfarbe der Musik von Motörhead deutlich basslastiger als die vergleichbarer Bands wie AC/DC. Der Schlagzeugklang ist unverzerrt und erzeugt durch eine Wall of Sound eine klangliche „Konzertsituation“. Ausgangspunkt des Schlagzeugspiels ist stets ein Backbeat. Der raue Gesang von Lemmy Kilmister hat seinen Ursprung im Shouting, wie es im traditionellen Blues verwendet wurde. Obwohl die Stimmlage Kilmisters als Tenor anzusehen war, wirkte sie durch die gutturalen Elemente tiefer.Motörhead adaptierte seit Bandgründung Elemente der Biker-Szene. Während zeitgenössische Gruppen wie Judas Priest die Verbindung durch das Tragen von Lederkleidung mit Nieten und Ketten dokumentierten, äußerte sich die Verbindung bei Motörhead durch die Adaption des Ethos des Verlierers in den Liedtexten. Durch diese eher einfache und bescheidene Sichtweise erschien Motörhead bodenständiger als andere Bands und sicherte sich so die Sympathien der Punk-Bewegung der späten 1970er Jahre.Lemmy Kilmister schrieb den überwiegenden Teil der Liedtexte, die Themen sind breit gefächert. So wird das Titellied des Debütalbums Motörhead als Rock-’n’-Roll-Ode an die Droge Amphetamin bezeichnet. Als weiteres Thema findet sich in Liedtexten wie Born to Lose das Image des Verlierers und Outlaws. Aber auch das Textkonzept gesamter Alben wie Ace of Spades beruht auf diesem Thema. Auch Kilmisters Faszination für Militärgeschichte spiegelt sich in den Texten wider. So handelt Bomber vom Einsatz einer Bomber-Besatzung im Zweiten Weltkrieg, 1916 thematisiert die Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg und Marching off to War handelt von der empfundenen Sinnlosigkeit des Krieges. Kritik brachten Kilmister einige seiner Texte über Frauen wie Jailbait oder I’m So Bad ein, die als sexistisch und frauenverachtend angesehen wurden. In einigen Texten übt Kilmister Kritik an Missständen in der Gesellschaft und besonders an Religionen ((Don’t Need) Religion, God Was Never on Your Side). Ein besonderer Liedtext ist (We Are) The Roadcrew, den Kilmister zu Ehren der Roadies von Motörhead schrieb.
== Das Band-Maskottchen Snaggletooth ==
Zusätzlich zum Band-Logo benutzt Motörhead, ähnlich wie die Heavy-Metal-Band Iron Maiden, eine speziell für die Gruppe entworfene Fantasiefigur, die als Maskottchen dient und die in verschiedenen Variationen auf vielen ihrer Albumhüllen sowie auf Bühnenhintergründen und Band-T-Shirts abgebildet ist. Die Figur stellt einen Schädel mit bedrohlich aufgerissenem Maul dar und trägt den Fantasienamen „Snaggletooth“ (englisch in etwa für „Krummzahn“ oder „Schiefzahn“), vollständig „Snaggletooth B. Motörhead“. Die Figur besteht aus dramatisch überzeichneten Elementen eines Keiler- und eines Hundeschädels sowie einigen martialisch anmutenden militärischen Elementen – darunter ein mit Stacheln besetzter Stahlhelm, ein Eisernes Kreuz und eine an den übergroßen Hauern befestigte Kette. Snaggletooth erschien erstmals auf dem Plattencover des 1977er-Debütalbums Motörhead. Entworfen wurde die Figur 1975 vom Künstler Joe Petagno, der damit seine Vorstellungen eines Hells-Angels-Schädels umsetzen wollte. Im Jahr 2007 beendete Petagno die Zusammenarbeit mit Motörhead.
== Motörhead-Alkoholika ==
Seit 2016 braut die Camerons Brewery in Hartlepool, England, Motörhead Roadcrew Beer, ein American Pale Ale mit 5 % ABV, das von Gitarrist Phil Campbell und Schlagzeuger Mikkey Dee mitentwickelt wurde.
Bereits seit 2012 gibt es das Motörhead Bastards Lager, ein untergäriges Bier mit 4,7 % ABV, das von der Krönleins-Brauerei in Schweden hergestellt wird. Außerdem gibt es noch ein Imperial Pils Lager sowie eine eigene Whisky-Marke und den ebenfalls in Schweden hergestellten Motörhead Vödka.
== Diskografie ==
Studioalben
Das erste von Motörhead aufgenommene Studioalbum war On Parole (1975). Es wurde wegen eines Rechtsstreits zunächst nicht veröffentlicht, erst 1979 erschien es ohne Einwilligung der Band bei United Artists Records. Aus diesem Grund wird es in dieser Aufstellung nicht geführt.
grau schraffiert: keine Chartdaten aus diesem Jahr verfügbar
Da die Rechte der frühen Motörhead-Alben nicht bei der Band liegen, werden diese Alben immer wieder in verschiedenen Formaten herausgebracht. Neben den offiziellen 22 Alben gibt es noch diverse Bootlegs und dutzende Best-of-Alben.
== Literatur ==
Holger Stratmann (Hrsg.): RockHard Enzyklopädie. 700 der interessantesten Rockbands aus den letzten 30 Jahren. Rock Hard Verlag, Dortmund 1998, ISBN 3-9805171-0-1, S. 264–266.
Lemmy Kilmister mit Janiss Garza: White Line Fever – Die Autobiographie. I.P. Verlag Jeske/Mader, Berlin 2004, ISBN 3-931624-25-0.
Jake Brown with Lemmy Kilmister: Motörhead: In The Studio. John Blake Publishing, 2010, ISBN 978-1-84454-978-8.
Verschiedene Autoren: Motörhead. Sonderausgabe der Zeitschrift Rock Hard. Rock Hard Verlag, Dortmund 2011. ISSN 2190-7285
Steve Waksman: This Ain’t the Summer of Love: Conflict and Crossover in Heavy Metal and Punk. University of California Press, 2009, ISBN 978-0-520-25310-0, Chapter 4: Metal, Punk and Motörhead: The Genesis of Crossover, S. 146–171.
Andrew L. Cope: Black Sabbath and the Rise of Heavy Metal Music. Ashgate Publishing, 2010, ISBN 978-0-7546-6881-7.
Dietmar Elflein: Schwermetallanalysen: Die musikalische Sprache des Heavy Metal. transcript Verlag, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1576-0.
Mick Stevenson: The Motörhead Collector’s Guide. Cherry Red Books, 2011, ISBN 978-1-901447-27-9.
Marvin Chlada, Jerk Götterwind (Hrsg.): Lemmy. Eine Hommage. Verlag Trikont Duisburg und Verlag Dialog-Edition, Duisburg-Istanbul 2017, ISBN 978-3-945634-19-6.
== Weblinks ==
Offizielle Webpräsenz
Motörhead bei laut.de
WDR Rockpalast, Motörhead live am 15. Dezember 2014
Motörhead bei AllMusic (englisch)
Motörhead bei Discogs
Motörhead bei Musik-Sammler.de
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Mot%C3%B6rhead |
Nagetiere | = Nagetiere =
Die Nagetiere (Rodentia) sind eine Ordnung der Säugetiere (Mammalia). Mit etwa 2500 bis 2600 Arten stellen sie rund 40 % aller Säugetierspezies und sind somit die bei weitem artenreichste Ordnung dieser Gruppe. Zugleich sind sie die Gruppe mit den meisten Neubeschreibungen innerhalb der Säugetiere; zwischen 2000 und 2017 wurden mindestens 248 Arten innerhalb der Ordnung neu beschrieben oder neu etabliert.Sie sind nahezu weltweit verbreitet und haben eine Vielzahl von verschiedenen Lebensräumen besiedelt. Nur sehr wenige Nagetiere sind als Kulturfolger oder Heimtiere verbreitet, jedoch prägen diese das Bild der gesamten Gruppe. Viele Arten sind hingegen kaum erforscht und haben ein sehr eingeschränktes Verbreitungsgebiet.
== Körperbau ==
Die Mehrzahl der Nagetiere ist kurzbeinig, quadruped (sich auf allen vieren fortbewegend) und relativ klein. Wichtigstes gemeinsames Merkmal sind die jeweils zwei vergrößerten, dauerwachsenden Nagezähne im Ober- und Unterkiefer, die nur auf der äußeren Seite von Schmelz umgeben sind. Je nach Lebensraum und Lebensweise haben sich jedoch die unterschiedlichsten Formen gebildet.
=== Äußerer Körperbau ===
Die Größe der Nagetiere variiert zwischen Zwergformen wie der Afrikanischen Zwergmaus (Mus minutoides) und der Eurasischen Zwergmaus (Micromys minutus), die oft weniger als fünf Gramm wiegen, und dem Capybara, dem größten lebenden Nagetier, das eine Kopfrumpflänge von 100 bis 130 Zentimetern und ein Gewicht von 50 bis 60 Kilogramm erreichen kann. Andere großgewachsene Nagetiere sind beispielsweise Biber, Pakaranas und Pakas. Die meisten Nagetiere sind jedoch etwa mäuse- bis rattengroß und erreichen Kopf-Rumpflängen von etwa 8 bis 30 Zentimetern.
Nagetiere haben meist ein dichtes Fell aus Woll- und Deckhaaren. Nur der Schwanz ist bei manchen Arten nahezu unbehaart, und es gibt nur eine einzige generell fast haarlose Art, den Nacktmull. Die Fellfärbung ist meist in unauffälligen, tarnenden Farben gehalten, oft grau oder braun, bei Wüstenbewohnern auch gelblich. Allerdings kommen bei manchen tropischen Hörnchen wie Schön- oder Riesenhörnchen auch bunte Fellfarben vor.
Die Mehrzahl der Nagetiere besitzt einen Schwanz, lediglich bei einigen großgewachsenen oder unterirdisch lebenden Arten ist er nur rudimentär ausgebildet und äußerlich nicht vorhanden. Bei manchen baumbewohnenden Arten ist er zum Greifschwanz ausgebildet, bei den Bibern zu einem abgeplatteten, unbehaarten Steuerorgan. Bei vielen Arten kann der Schwanz leicht abbrechen, um so die Flucht vor Fressfeinden zu erleichtern; in solchen Fällen wächst er zum Teil wieder nach.
An der Spitze der Schnauze haben Nagetiere eine meist kurze, abgerundete Nase. Der Nasenspiegel ist nur ansatzweise ausgebildet oder fehlt völlig.
Die Mundhöhle ist durch eine enge Öffnung in zwei Teile geteilt, der vordere Teil enthält die Schneidezähne, der hintere die Backenzähne. Die dazwischen liegende zahnfreie Lücke ermöglicht das Einziehen der Lippe. Zudem setzt sich hinter den Schneidezähnen die behaarte Haut des Gesichts fort (Inflexum pellitum). Beides verhindert, dass beim Nagen unverdauliche Fremdkörper in die Mundhöhle gelangen. Die Oberlippe ist häufig gespalten, so dass die Schneidezähne auch bei geschlossenem Maul sichtbar sind.
Die Zunge ist kurz und kompakt mit einer stumpfen Spitze, die niemals über die Schneidezähne hinausragt. Die zur Zungenspitze hin befindlichen Geschmackspapillen sind klein und fadenartig, bei den Stachelschweinen auch teilweise vergrößert und hart. An der Zungenwurzel gibt es bei den meisten Arten drei Wallpapillen.
Manche Arten haben große, bis hinter die Ohren reichende, mit Fell ausgekleidete Backentaschen, die zum Reinigen ausgestülpt werden können. Bei Hamstern befinden sich deren Öffnungen in den Mundwinkeln, bei Taschennagern an den Außenseiten der Wangen.
=== Schädel ===
Der Schädel der Nagetiere ist wie bei kaum einer anderen Säugetiergruppe auf eine Stärkung des Kauapparates ausgelegt.
Die Augenhöhle ist hinten immer offen und nie von Knochen umgeben.
Der hinter der Augenhöhle liegende Jochbeinfortsatz des Stirnbeins ist nur ansatzweise ausgebildet oder fehlt ganz.
Eine Ausnahme bilden die Hörnchen, bei denen dieser Fortsatz vorhanden ist.
Auch das Jochbein bildet selten einen entsprechenden Stirnbeinfortsatz aus, so dass die Augenhöhle mehr oder weniger vollständig in die Schläfengrube übergeht.
Das Tränenloch befindet sich immer im Augenhöhlenrand.
Bei vielen Arten ist das Foramen infraorbitale sehr groß, bei manchen so groß wie die Augenhöhle, und wird von einem Teil des Masseter durchzogen.
Der Jochbogen ist unterschiedlich entwickelt und setzt vor der Backenzahnreihe an.
Das Nasenbein ist mit wenigen Ausnahmen groß und erstreckt sich weit nach vorn.
Es ist durch das große Zwischenkieferbein vollständig vom Oberkiefer getrennt.
Die Schneidezahnlöcher des Gaumens sind klein und deutlich ausgeprägt.
Das Gaumenbein ist kurz, bei den Sandgräbern sogar kürzer als ein Backenzahn.
Zwischen Schneide- und Backenzähnen befindet sich eine große zahnfreie Lücke.
Der Hirnschädel ist im Vergleich zum Gesichtsschädel klein.
Das Scheitelbein ist klein, das Zwischenscheitelbein dagegen gewöhnlich deutlich ausgeprägt.
Die das Mittelohr umgebende Bulla tympanica ist immer vorhanden und grundsätzlich groß.
Bei Renn- und Springmäusen bildet die zusätzliche Bulla mastoidea große, halbkugelförmige Schwellungen an der Rückseite des Schädels.
Bei diesen Tieren ist der Gehörgang röhrenförmig ausgebildet und verläuft nach oben und hinten.
Der Körper des Unterkiefers ist vorne verengt und abgerundet und trägt die unteren Schneidezähne.
Der Muskelfortsatz ist klein, das kantige, untere Hinterteil des Unterkiefers groß und ausgeprägt.
Der Gelenkkopf und die dazugehörige Gelenkhöhle des Kiefergelenks sind nach hinten verlängert.
Die Anordnung des Jochbeins und die Form des Unterkiefers sind Merkmale zur Klassifizierung der Familien.
=== Gebiss ===
Das relativ einheitliche Gebiss der Nagetiere ist trotz der Vielfalt in Körperbau und Lebensweise ihr deutlichstes morphologisches Kennzeichen.
Ursprünglich besaßen Nagetiere 22 Zähne: vier Schneidezähne, sechs vordere Backenzähne, davon vier im Oberkiefer und zwei im Unterkiefer, und zwölf hintere Backenzähne.
Während die Anzahl der Schneidezähne immer gleich blieb, hat sich in vielen Gruppen die Anzahl der Backenzähne verringert.
Eckzähne waren nie vorhanden und zwischen Schneide- und Backenzähnen befindet sich eine große zahnfreie Lücke (Diastema).
==== Nagezähne ====
Die als Nagezähne bezeichneten vier vergrößerten Schneidezähne sind das charakteristischste Merkmal der Nagetiere.
Schon bei den ersten bekannten Nagetieren waren diese auf je ein Paar in Ober- und Unterkiefer reduziert.
Die Nagezähne sind wurzellos oder besitzen kleine, offene Zahnwurzeln, haben eine zum Zahnfach hin offene Zahnhöhle und wachsen ein Leben lang nach.
Durch das Benagen von hartem Futter oder sonstigen Gegenständen und durch den Abrieb an den gegenüberliegenden Zähnen bleiben sie in einer gewissen Längenkonstanz.
Die Wachstumsrate der Nagezähne schwankt zwischen zwei und drei Millimetern pro Woche bei nichtgrabenden Arten und fünf Millimetern bei den mit den Nagezähnen grabenden Taschenratten.
Bei Winterschlaf haltenden Tieren wachsen sie mit verminderter Geschwindigkeit weiter.
Die vorderen 30 bis 60 % der Nagezähne sind mit Zahnschmelz bedeckt, so dass bei der schnelleren Abnutzung der weicheren Bestandteile dahinter eine scharfe, meißelförmige Kante stehen bleibt.
Die Nagezähne sind regelmäßig gekrümmt, die des Oberkiefers mehr als die des Unterkiefers.
Bei fehlender Abnutzung wachsen die Nagezähne immer weiter und können einen Teil des Schädels durchstoßen.
Die unteren Nagezähne wachsen dabei nach vorn und oben aus der Mundhöhle heraus und werden vollständig unbenutzbar.
Die oberen Nagezähne dagegen krümmen sich um sich selbst und können spiralförmig aus der Mundhöhle herauswachsen oder nach Austritt aus der Mundhöhle Unter- und Oberkiefer von unten nach oben durchstoßen und die Schnauze damit verschließen.
Diese Entwicklung endet tödlich, wurde von wildlebenden Nagetieren jedoch schon längere Zeit überlebt.
Die Nagezähne können zu verschiedensten Zwecken verwendet werden, dienen meist jedoch dem Aufbrechen hartschaliger Nahrung.
Die südamerikanischen Fischratten, deren Nagezähne zugespitzt sind, verwenden sie zum Erlegen ihrer Beute und einige unterirdisch lebende Gruppen wie die Taschenratten und die Sandgräber zum Graben. Bei diesen Arten wachsen die Lippen nach innen und trennen so die Nagezähne von der Mundhöhle. Das bewirkt, dass bei der Nagetätigkeit keine Partikel nach hinten gelangen können.
Die Kraft und Schärfe der Nagezähne kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Biber einen Baum mit zwölf Zentimetern Durchmesser in einer halben Stunde fällen können und von manchen Arten berichtet wird, dass sie mit ihren Zähnen sogar Konservendosen aufbrechen können.
==== Backenzähne ====
Von den vorderen Backenzähnen (Prämolaren) ist bei vielen Familien einer pro Quadrant vorhanden, nur wenige Hörnchen und Sandgräber haben zwei. Bei den Mäuseartigen sind hingegen nie Prämolaren ausgebildet.
Bei den meisten Arten sind pro Quadrant drei hintere Backenzähne (Molaren) vorhanden. Einige wenige Arten der Mäuseartigen haben nur zwei, die Shaw-Mayer-Maus (Mayermys germani) aus Neuguinea nur einen Molar pro Kieferhälfte – insgesamt also nur acht Zähne und somit die wenigsten aller Nagetiere. Die Gesamtzahl der Zähne liegt bei den Nagetieren nie über 22, mit Ausnahme des Silbergrauen Erdbohrers (Heliophobius argenteocinereus), einer Sandgräberart, die aufgrund einer sekundären Zahnvermehrung 28 Zähne besitzt.
Die Backenzähne haben im Gegensatz zu den Nagezähnen bei vielen Arten ein begrenztes Wachstum. Bei einigen Gruppen jedoch, beispielsweise den Stummelschwanzhörnchen, Taschenratten, Springhasen, Chinchillas und Meerschweinchen, sind auch die Backenzähne wurzellos und wachsen somit zeitlebens.
Ein Zahnwechsel findet bei den Nagezähnen meist nicht statt (Monophyodontie), lediglich manche Meerschweinchenartige (Cavioidea) besitzen hier Milchzähne, die allerdings schon vor der Geburt durch die bleibenden ersetzt werden.
=== Skelett ===
Das Skelett der Nagetiere ist üblicherweise das eines vierfüßigen, sich laufend fortbewegenden Säugetiers mit gedrungenem Körperbau, kurzen Vorderbeinen, etwas längeren Hinterbeinen, Sohlengang und langem Schwanz.
In Anpassung an verschiedenste Lebensräume haben sich jedoch auch andere Formen entwickelt.
Die Wirbelsäule besteht gewöhnlich aus sieben Halswirbeln, dreizehn Brustwirbeln, sechs Lendenwirbeln, drei bis vier Kreuzwirbeln und einer unterschiedlichen Anzahl von Schwanzwirbeln.
Die Form der Wirbel ist unterschiedlich. Bei sich rennend oder springend fortbewegenden Arten sind die beiden Querfortsätze der Lendenwirbel gewöhnlich sehr lang.
Die Länge der Schwanzwirbelsäule schwankt zwischen sehr kurz und über körperlang.
Die Gliedmaßen sind je nach Lebensweise unterschiedlich entwickelt.
Das Schulterblatt ist üblicherweise schmal und besitzt ein langes Acromion.
Ein Schlüsselbein ist bei den meisten Arten vorhanden, bei einigen jedoch unvollständig entwickelt oder es fehlt ganz.
Das Becken besitzt große Sitz- und Schambeine mit einer langen und gewöhnlich knöchernen Schambeinfuge.
Die Vorderbeine weisen eine ausgeprägte Trennung zwischen Elle und Speiche auf.
Die Vorderpfoten besitzen meist fünf Zehen mit normal entwickelten Zehenknochen.
Die Großzehe ist allerdings bei einigen Arten zurückgebildet oder fehlt ganz und kann den anderen Zehen nicht oder kaum gegenübergestellt werden.
Die Hinterbeine besitzen einen in der Form beträchtlich schwankenden Oberschenkelknochen, der jedoch am Gelenkkopf gewöhnlich drei Rollhügel aufweist.
Schienbein und Wadenbein sind bei sich springend fortbewegenden Arten miteinander verwachsen.
Dies sorgt für eine größere Stabilität des oberen Sprunggelenks.
Das Wadenbein bildet kein Gelenk mit dem Fersenbein.
Bei den Springmäusen weisen die Hinterpfoten stark verlängerte Mittelfußknochen auf, bei manchen Arten sind diese auch miteinander verwachsen.
Die Anzahl der Zehen an den Hinterpfoten schwankt zwischen drei und fünf.
=== Innere Anatomie ===
Die Kiefer sind mit einer ausgesprochen starken Kaumuskulatur versehen, deren Anordnung auch eine wichtige Rolle bei der Klassifizierung dieser Tiere spielt.
Der Masseter ist groß und bringt die Hauptkraft beim Nagen auf. Er ist dreigeteilt und erstreckt sich von der Unterseite des Jochbogens vorne bis zur Außenseite des senkrechten Teils des Unterkieferastes hinten. Dadurch zieht er den Unterkiefer nicht nur nach oben, sondern auch nach vorne und sorgt somit für die Nagebewegung.
Der Schläfenmuskel ist im Vergleich zum Masseter vergleichsweise klein. Der zweibäuchige Musculus digastricus besitzt eine klar abgegrenzte, mittige Zwischensehne. Bei vielen Arten sind die beiden vorderen Bäuche des Muskels zwischen den beiden Unterkieferästen vereint.
Der Verdauungstrakt der Nagetiere ist auf eine pflanzliche Nahrung ausgerichtet, ungeachtet der Tatsache, dass es auch einige alles- oder vorwiegend fleischfressende Arten gibt. Sie sind Enddarmfermentierer, das heißt, sie können in ihrem Blinddarm (Caecum) mittels symbiotischer Bakterien auch Zellulose aufschließen. Der Grimmdarm (Colon) ist zu diesem Zweck modifiziert und weist oft komplexe Falten auf. Viele Arten praktizieren Caecotrophie, das heißt, sie scheiden vorverdaute Darminhalte (Caecotrophe) aus und nehmen sie erneut auf, um sie der endgültigen Verdauung zuzuführen. Der Magen ist bei den meisten Arten einkammerig und einfach gebaut, einige Wühlmäuse wie die Lemminge haben – ähnlich den Wiederkäuern – einen drüsenlosen Magenabschnitt, in dem ebenfalls eine Vorverdauung stattfindet.
Das Urogenitalsystem entspricht in weiten Zügen dem der übrigen Höheren Säugetiere. Die Geschlechtsorgane sind sehr unterschiedlich gebaut. In den Penis ist meist ein Penisknochen (Baculum) eingelagert, die Hoden können entweder in der Bauchhöhle oder außerhalb liegen, bei einigen Arten kommt es zu einem saisonalen Hodenabstieg. Die Weibchen haben stets eine paarige Gebärmutter (Uterus duplex).
Das Gehirn ist klein und die meist glatten (lissenzephalen) Hemisphären des Großhirns erstrecken sich nicht weit nach hinten und ragen somit nicht über das Kleinhirn hinaus.
=== Vielfalt im Körperbau ===
Als Anpassung an verschiedenste Habitate und die Realisierung unterschiedlicher ökologischer Nischen haben die Nagetiere eine bemerkenswerte Vielfalt in ihrem Körperbau entwickelt. Zwei Gruppen, die Gleithörnchen und die Dornschwanzhörnchen, haben unabhängig voneinander eine Gleitmembran zwischen den Gliedmaßen ausgebildet, mit deren Hilfe sie Segelflüge zwischen Bäumen unternehmen können. Einige Nagetiere haben sich mit einem plumpen, walzenförmigen Körper, kurzen Gliedmaßen, verkleinerten oder rückgebildeten Augen und teilweise vergrößerten Grabhänden an eine unterirdisch grabende Lebensweise angepasst. Dazu zählen unter anderem die Taschenratten, die Blindmäuse und -mulle aus der Gruppe der Spalacidae, die Kammratten und die Sandgräber. Bei einigen Arten kam es zu einer Verlängerung der Hinterbeine und damit zu einer hüpfenden Fortbewegungsweise, wie etwa bei den Kängururatten, den Springmäusen und dem Springhasen. Die Agutis und die Pampashasen Amerikas entwickelten verlängerte Gliedmaßen mit hufähnlichen Zehen und bilden gewissermaßen das ökologische Äquivalent kleiner Paarhufer und Hasen.
Zahlreiche Arten haben sich unabhängig voneinander mittels stromlinienförmigem Körper, wasserabweisendem Fell und teilweise Schwimmhäuten zwischen den Zehen und Ruderschwanz an eine aquatische (im Wasser stattfindende) Lebensweise angepasst. Beispiele hierfür sind die Biber, die Bisamratte, die Biberratte oder Nutria, die südamerikanischen Fischratten oder die australischen Schwimmratten. Zur Abwehr von Fressfeinden haben mehrere Nagergruppen wie etwa Stachelschweine, Baumstachler oder teilweise die Stachelratten ein stacheliges Fell. Ein Gutteil der Arten schließlich ist in seinem gedrungenen Körperbau mit den eher kurzen Beinen und dem kurzen Hals den Ratten oder Mäusen ähnlich, dazu zählen viele Mäuseartige, die Bilche und andere Gruppen.
Im Miozän lebte mit Ceratogaulus der einzige gehörnte Vertreter der Nagetiere. Die Funktion der Hörner ist ungeklärt, wobei Vermutungen geäußert wurden, dass sie eine Rolle bei der Partnerwerbung, der Verteidigung oder als weiteres Grabwerkzeug gespielt haben könnten. Gegen eine Rolle bei der Partnerwahl spricht, dass die Hörner bei beiden Geschlechtern vorkamen.
== Verbreitung ==
Nagetiere haben eine nahezu weltweite Verbreitung erreicht, sie fehlten ursprünglich lediglich in der Antarktis und auf abgelegenen Inseln – etwa Neuseeland und den meisten pazifischen Inseln. Sie sind neben den Fledertieren das einzige Taxon der Plazentatiere, das ohne menschlichen Einfluss den australischen Kontinent besiedelt hat, nämlich in Gestalt einiger Altweltmäuse (Murinae). Obgleich es eine Reihe aquatischer (im Wasser lebender) Arten gibt, haben die Nagetiere die Meere nicht als Lebensraum erobert.
Als Kulturfolger haben einige Arten, etwa die Hausmaus, die Haus- oder die Wanderratte eine weltweite Verbreitung erreicht, daher sind Nagetiere heute faktisch überall zu finden, wo es Menschen gibt.
== Lebensweise ==
Nagetiere haben fast alle Lebensräume der Erde besiedelt, man findet sie sowohl in Wüsten als auch in tropischen Regenwäldern, im Hochgebirge und in Polarregionen. Auch aufgrund der vielfältigen Habitate und der unterschiedlichsten Formen im Körperbau lassen sich über die Lebensweise der Nagetiere nur sehr wenige verallgemeinernde Aussagen treffen.
=== Sozialverhalten und Aktivitätszeiten ===
Die Aktivitätszeiten der Nagetiere sind je nach Art und Lebensraum unterschiedlich, allerdings ist die Mehrzahl dämmerungs- oder nachtaktiv. Bei einigen Gruppen, beispielsweise den Hörnchen, finden sich jedoch vorwiegend tagaktive Tiere. Manche Bewohner kälterer Regionen halten einen ausgeprägten Winterschlaf (bekannte Beispiele aus dem europäischen Raum sind Siebenschläfer und Murmeltiere), andere wie etwa die Lemminge sind auch während des Winters aktiv. Manche Bewohner tropischer Regionen fallen im Gegenzug während der heißen oder trockenen Jahreszeit in eine Hitze- oder Trockenstarre, z. B. Fettmäuse.
Auch im Hinblick auf das Sozialverhalten finden sich innerhalb der Nagetiere sämtliche Formen, von strikt einzelgängerischen Arten, die außerhalb der Paarungszeit jeden Kontakt zu Artgenossen meiden, über Arten, die paarweise zusammenleben bis zu Arten, die ein ausgeprägtes Sozialsystem entwickelt haben. Insbesondere die in großen unterirdischen Bauen lebenden Nager wie beispielsweise Viscachas oder Präriehunde sind dafür bekannt. Einzigartig unter den Säugetieren ist die eusoziale Lebensweise mancher Sandgräber wie des Nacktmulls oder der Graumulle: Ähnlich wie bei manchen Insekten ist in einer Kolonie ein einziges Weibchen, die „Königin“, fruchtbar und paart sich mit mehreren Männchen, während die übrigen Tiere als unfruchtbare Arbeiter die notwendigen Tätigkeiten zur Versorgung der Gruppe verrichten.
=== Ernährung ===
Nagetiere sind überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, Pflanzenfresser. Je nach Art, Lebensraum oder Jahreszeit werden alle Teile von Pflanzen konsumiert: Gräser, Blätter, Früchte, Samen und Nüsse, aber auch Zweige, Rinde, Wurzeln und Knollen. Als einer der Hauptgründe für den evolutionären Erfolg der Nagetiere gilt vermutlich die Tatsache, dass sie wie kaum eine andere Säugetiergruppe Herbivorie mit geringer Körpergröße verbinden – die meisten anderen pflanzenfressenden Säuger sind deutlich größer.
Es gibt zahlreiche rein herbivore Arten, einige Arten sind jedoch zum Teil Allesfresser (omnivor) und nehmen zumindest als Beikost Insekten, Würmer und andere Wirbellose, aber auch Vogeleier und kleine Wirbeltiere zu sich, dazu zählen unter anderem die Hörnchen, die Bilche, einige Mäuseartige oder die Sandgräber.
Es gibt jedoch auch einige wenige Arten, die sich vorrangig oder fast ausschließlich von Insekten und anderen Kleintieren ernähren. Beispiele hierfür sind einige Gattungen der Neuweltmäuse, wie etwa die Grashüpfermäuse (Onychomys, benannt nach ihrer Hauptnahrung), die Grabmäuse (Oxymycterus) oder die Gruppe der Fischratten (Ichthyomyini), die sich von Wasserinsekten, Krebsen und Fischen ernähren. Auch die Afrikanische Wasserratte und die australischen Schwimmratten (Hydromyini), die vorzugsweise Fische verzehren, oder Vertreter der Deomyinae wie die Kongo-Waldmaus oder die Bürstenhaarmäuse, die sich hauptsächlich von Insekten ernähren, zählen dazu.
=== Fortpflanzung und Entwicklung ===
Die Nagetiere gehören zu den Plazentatieren oder Höheren Säugetieren (Eutheria), als solche ist ihre Fortpflanzung charakterisiert durch die Plazenta und den Trophoblast (die äußere Zellschicht des frühen Embryos), der eine immunologische Barriere darstellt und ein im Vergleich zu den Beutelsäugern längeres Heranwachsen der Föten im Mutterleib ermöglicht. Abgesehen davon lässt sich aber kaum etwas Allgemeines über die Fortpflanzung dieser Tiergruppe feststellen.
Viele Arten, etwa die Mäuseverwandten, sind durch eine ausgesprochen hohe Fertilität gekennzeichnet (r-Strategie). Das Weibchen kann mehrmals im Jahr Nachwuchs zur Welt bringen, die Trächtigkeitsdauer ist kurz und die Wurfgröße hoch. Die Neugeborenen sind Nesthocker, oft unbehaart und hilflos, wachsen aber sehr schnell und erreichen binnen Wochen oder Monaten die Geschlechtsreife. So haben manche Hamsterarten mit nur 16 Tagen die kürzeste Tragzeit aller Plazentatiere und sind bereits mit sieben bis acht Wochen geschlechtsreif. Vielzitzenmäuse haben bis zu 24 Zitzen und Nacktmulle können bis zu 27 Neugeborene pro Wurf austragen.Auf der anderen Seite gibt es auch eine Reihe von Gruppen, bei denen es geradezu umgekehrt ist, etwa bei den Meerschweinchenverwandten. Deren Tragzeit ist vergleichsweise lang (beispielsweise bis zu 280 Tage bei der Pakarana), es gibt nur wenige Jungtiere pro Wurf und der Entwicklungsstand bei der Geburt ist recht hoch (K-Strategie). Gerade der Nachwuchs größerer Arten kommt mit vorhandenem Fell und geöffneten Augen zur Welt; viele Jungtiere können schon nach wenigen Stunden laufen und sind kurze Zeit später von der Mutter unabhängig.
=== Feinde und Lebenserwartung ===
Nagetiere haben zahlreiche Fressfeinde und sind aufgrund ihrer Häufigkeit Nahrungsgrundlage vieler Beutegreifer. Viele Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien, aber auch Wirbellose – wie etwa manche Vogelspinnen oder Fangschrecken – machen Jagd auf sie. Gerade die kleineren Vertreter verfügen kaum über aktive Verteidigungsstrategien, dafür vertrauen sie auf Vorsicht, Tarnung, Verbergen oder Flucht – einigen Arten hilft auch ihr gut entwickeltes Sozialverhalten. Krankheiten und Parasiten stellen weitere Bedrohungen für Nagetiere dar.
Für zahlreiche Arten bildet der Mensch die größte Bedrohung. Während die gezielte Bejagung von als „Schädlingen“ betrachteten Nagetieren oft nicht den gewünschten Erfolg bringt, haben die Zerstörung des Lebensraumes und die Einschleppung von Neozoen zur Ausrottung einiger Arten geführt, etliche andere wurden bereits an den Rand des Aussterbens gedrängt (Näheres siehe unten).
Die Lebenserwartung ist sehr variabel. Auch ohne die Bedrohung durch die allgegenwärtigen Fressfeinde erreichen viele Arten, etwa Mäuseartige, nur ein Höchstalter von ein bis zwei Jahren. Es gibt aber auch längerlebige Nagetiere. Beim Gewöhnlichen Stachelschwein ist ein Höchstalter von 27 Jahren bekannt, den Altersrekord hält – soweit bekannt – ein Nacktmull mit geschätzten 28 Jahren.
== Systematik und Stammesgeschichte ==
=== Äußere Systematik ===
Die Nagetiere werden im Regelfall als Ordnung Rodentia mit den Hasenartigen (Ordnung Lagomorpha), ihrer vermutlichen Schwestergruppe, als Glires zusammengefasst. Die Glires werden innerhalb der Euarchontoglires den als Euarchonta zusammengefassten Ordnungen der Spitzhörnchen, Riesengleiter und Primaten gegenübergestellt. Eine grafische Darstellung der möglichen Verwandtschaftsbeziehungen sieht wie folgt aus:
Die Verwandtschaft mit den Hasenartigen ist morphologisch gut begründet, und jene wurden schon 1735 in Carl von Linnés Systema Naturae als Untergruppe zu den Nagetieren (Ordnung Glires) gestellt.
Anfang des 20. Jahrhunderts aufgekommene Zweifel an dieser Verwandtschaft, die sich auch in einer Aufspaltung in zwei Ordnungen spiegelten, konnten durch neuere molekulargenetische Untersuchungen weitgehend ausgeräumt werden.
Demnach trennten sich Nagetiere und Hasenartige vermutlich in der mittleren Oberkreide.
Die Einordnung in die Euarchontoglires ist noch jung und wird bisher lediglich durch die Molekulargenetik gestützt. Sowohl die gemeinsame Abstammung als auch die Schwestergruppenverhältnisse innerhalb der Euarchontoglires sind noch unsicher.
Einige Säugetiere werden aufgrund äußerer Ähnlichkeiten als „Mäuse“ oder „Ratten“ bezeichnet, ohne dass sie zu den Nagetieren gehören. Dazu gehören die Spitzmäuse aus der Ordnung der Insektenfresser, die Beutelmäuse und Beutelratten aus der Gruppe der Beutelsäuger und andere. Auch die Fledermäuse sind keine Nagetiere.
=== Innere Systematik ===
Die Nagetiere sind die bei weitem größte Ordnung der Säugetiere. Nachdem ihr Artenreichtum noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die unkritische Anwendung des biologischen Artbegriffs verschleiert wurde, setzt sich die Anerkennung neuer Arten in jüngerer Zeit stetig fort:
1980: 1591 Arten
1982: 1719 Arten bzw. etwa 41,2 Prozent aller Säugetiere
1986: 1738 Arten
1993: 2015 Arten bzw. etwa 43,5 Prozent aller Säugetiere
2005: 2277 Arten bzw. etwa 42,0 Prozent aller Säugetiere und 481 GattungenDie hier vorgenommene Unterteilung der rezenten Nagetiere in fünf Unterordnungen mit 34 Familien folgt weitgehend Carleton & Musser (2005).Ordnung Nagetiere (Rodentia)
Unterordnung Hörnchenverwandte (Sciuromorpha)
Die Bilche oder Schläfer (Gliridae) sind äußerlich hörnchen- oder mausähnliche Tiere der Alten Welt, dazu gehören unter anderem der Siebenschläfer und die Haselmaus.
Überfamilie Hörnchenartige (Sciuroidea)
Das Stummelschwanzhörnchen (Aplodontia rufa, Aplodontiidae) ist ein urtümlich wirkendes Nagetier des westlichen Nordamerikas.
Die Hörnchen (Sciuridae) sind eine artenreiche, vielgestaltige und nahezu weltweit verbreitete Gruppe. Dazu gehören beispielsweise Eichhörnchen, Gleithörnchen, Ziesel und Murmeltiere.
Unterordnung Biberverwandte (Castorimorpha)
Die Biber (Castoridae) sind große, aquatische Nager mit zwei Arten in Nordamerika und Eurasien.
Die Taschennager (Geomyoidea) sind nach ihren außenliegenden Backentaschen benannt und leben in Nord- und Mittelamerika.
Die Taschenratten (Geomyidae) sind maulwurfähnliche, grabend lebende Nager.
Die Taschenmäuse (Heteromyidae) umfassen neben einigen mäuseartigen Arten auch die springmausähnlichen Kängurumäuse und Kängururatten.
Unterordnung Dornschwanzhörnchenverwandte (Anomaluromorpha)
Die Springhasen (Pedetes, Pedetidae) sind zwei Arten von känguruähnlichen Nagern aus Afrika.
Die Dornschwanzhörnchen (Anomaluridae) sind ebenso in Afrika beheimatet. Sie besitzen eine Flughaut.
Der Dornschwanzbilch (Zenkerella insignis) ist ein lebendes Fossil.
Unterordnung Mäuseverwandte (Myomorpha)
Die Springmäuse (Dipodidae), Hüpf- (Zapodidae) und Birkenmäuse (Sminthidae) sind durch verlängerte Hinterbeine gekennzeichnet und kommen in der Alten Welt und Nordamerika vor.
Überfamilie Mäuseartige (Muroidea)
Die Stachelbilche (Platacanthomyidae) leben im tropischen Asien und ähneln äußerlich den Bilchen.
Die Spalacidae bestehend aus Blindmäusen und -mullen sowie Wurzel- und Maulwurfsratten sind vorwiegend unterirdisch lebende Tiere.
Eumuroida
Die Maushamster (Calomyscidae) sind eine artenarme Gruppe hamsterähnlicher Tiere aus West- und Zentralasien.
Die Nesomyidae sind mausähnliche Tiere aus Madagaskar (Madagaskar-Ratten) und Afrika (z. B. Baummäuse).
Die Wühler (Cricetidae) fassen die Hamster, Wühlmäuse und Neuweltmäuse zusammen. Die artenreiche Gruppe lebt in Amerika und Eurasien.
Die Langschwanzmäuse (Muridae) sind eine artenreiche, ursprünglich in Eurasien, Afrika und Australien verbreitete Gruppe. Dazu gehören Altweltmäuse (wie Mäuse und Ratten), aber auch Rennmäuse und andere Gruppen.
Unterordnung Stachelschweinverwandte (Hystricomorpha)
Die Laotische Felsenratte (Laonastes aenigmamus, Diatomyidae (incertae sedis)) wurde erst 2005 entdeckt. Ihre Systematische Stellung ist noch unklar.
Kammfingerartige (Ctenodactylomorphi)
Die Kammfinger oder Gundis (Ctenodactylidae) leben in trockenen Regionen Afrikas und haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Meerschweinchen.
Hystricognathi
Die Stachelschweine (Hystricidae) sind durch lange Stacheln charakterisierte Tiere aus Eurasien und Afrika.
Teilordnung Phiomorpha
Die Sandgräber (Bathyergidae) wie der Nacktmull sind unterirdisch grabende Tiere aus Afrika.
Überfamilie Thryonomyoidea
Die Felsenratte (Petromus typicus, Petromuridae) bewohnt trockene Gebiete im südlichen Afrika.
Die Rohrratten oder Grasnager (Thryonomyidae) sind große Nagetiere aus Afrika, die auch wegen ihres Fleisches gezüchtet werden.
Die Meerschweinchenverwandten (Teilordnung Caviomorpha) leben auf dem amerikanischen Doppelkontinent.
Überfamilie Baumstachlerartige (Erethizontoidea)
Die Baumstachler (Erethizontidae) einschließlich des Borstenbaumstachlers ähneln den altweltlichen Stachelschweinen, sind aber vorwiegend Baumbewohner.
Überfamilie Meerschweinchenartige (Cavioidea)
Die Pakas (Cuniculidae) sind zwei Arten relativ großer, stämmiger Waldbewohner.
Die Meerschweinchen (Caviidae) umfassen auch Pampashasen und das Capybara.
Agutis und Acouchis (Dasyproctidae) sind große, eher langbeinige Tiere.
Überfamilie Chinchillaartige (Chinchilloidea)
Die Pakarana (Dinomys branicki, Dinomyidae) ist ein großes, scheues Tier aus dem nördlichen Südamerika.
Die Chinchillas (Chinchillidae) umfassen auch Hasenmäuse und Viscachas.
Überfamilie Trugrattenartige (Octodontoidea)
Die Chinchillaratten (Abrocomidae) bewohnen Gebirgsregionen in den Anden. Ihr Fell ähnelt dem der Chinchillas.
Die Trugratten (Octodontidae) leben im südlichen Südamerika. Dazu gehört der Degu.
Die Kammratten (Ctenomyidae) bilden eine Gruppe in unterirdischen Bauen lebender Nagetiere.
unbenanntes Taxon (N. N.)
Die Stachelratten (Echimyidae) sind durch ihr meist borstiges oder stacheliges Fell charakterisiert und kommen auch auf den Westindischen Inseln vor.
Die Biberratte oder Nutria (Myocastor coypus, Myocastoridae) ist als Gefangenschaftsflüchtling mittlerweile auch in Europa beheimatet.
Die Baumratten oder Hutias (Capromyidae) leben auf den Westindischen Inseln. Viele Arten sind hochgradig gefährdet oder bereits ausgestorben.
Die Riesenhutias (Heptaxodontidae) waren auf den Westindischen Inseln lebende, zum Teil riesige Tiere, die allesamt ausgestorben sind. Ihre systematische Stellung ist noch unklar.Die Nagetiere bilden aufgrund einiger abgeleiteter, morphologischer Merkmale (Synapomorphien) und molekulargenetischer Ergebnisse eine gut begründete Verwandtschaftsgruppe. Eine grafische Darstellung der möglichen phylogenetischen Verwandtschaftsverhältnisse nach Heritage und Kollegen (2016)
sieht wie folgt aus:
Innerhalb der Hörnchenverwandten bilden Stummelschwanzhörnchen und Hörnchen eine seit langem gut belegte Verwandtschaftsgruppe. Die vermutete Verwandtschaft mit den Bilchen hat in letzter Zeit vermehrt Unterstützung erfahren. Auch die Verwandtschaft der Biber und Taschennager miteinander und damit die Zusammenfassung als Biberverwandte ist inzwischen recht sicher. Die Mäuseverwandten bilden eine gut belegte Verwandtschaftsgruppe.
Die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Stachelschweinverwandten sind inzwischen recht gut belegt.
Demnach bilden die Kammfinger die Schwestergruppe aller anderen Familien.
Auch die Phiomorpha und die Meerschweinchenverwandten erfahren als Verwandtschaftsgruppen gute Unterstützung.
Lediglich das Schwestergruppenverhältnis zwischen Phiomorpha, Meerschweinchenverwandten und Stachelschweinen ist noch nicht klar.
=== Traditionelle Klassifizierungsmerkmale ===
Traditionell werden zwei morphologische Merkmale zur Klassifizierung der Familien herangezogen.
Zwei Ausprägungen des Unterkiefers werden unterschieden:
sciurognath: Der Unterkieferkörper und die Außenseite des Unterkieferastes liegen auf einer nahezu geraden Linie.
hystricognath: Der Unterkieferkörper und die Außenseite des Unterkieferastes bilden einen Winkel.Vier Ausprägungen der Kaumuskulatur werden unterschieden:
protrogomorph: Bei der ursprünglichen Ausprägung ist die Schnauze unverändert. Der Masseter-Muskel ist klein und setzt nur an der Unterseite des Jochbogens an. Diese Ausprägung findet sich bei ausgestorbenen Familien aus dem Paläozän und bei den Stummelschwanzhörnchen. Bei den Sandgräbern hat sich dieses Merkmal aus der Ausprägung hystricomorph zurückentwickelt.
sciuromorph: Die Unterseite des Jochbogens neigt sich vorne zu einer senkrechten Fläche. Der Masseter lateralis setzt zwischen Auge und Schnauze an und bewegt den Unterkiefer beim Nagen vorwärts. Der Masseter superficialis setzt entlang des Jochbogens und der Masseter medialis an der Unterseite des Jochbogens an. Er ist kurz und dient nur zum Schließen des Kiefers. Diese Ausprägung findet sich bei den meisten Hörnchen, den Bibern, den Taschennagern sowie der ausgestorbenen Familie Eomyidae.
hystricomorph: Der Masseter medialis ist vergrößert, durchzieht das ebenfalls vergrößerte Foramen infraorbitale und ist für das Nagen zuständig. Der Masseter superficialis setzt an der Vorderkante des Jochbogens an, während der Masseter lateralis entlang des Jochbogens ansetzt. Beide dienen nur zum Schließen des Kiefers. Diese Ausprägung findet sich bei den Stachelschweinverwandten, den Dornschwanzhörnchen und dem Springhasen, den Springmäusen, einigen fossilen Mäuseartigen und bei den Afrikanischen Bilchen.
myomorph: Die Unterseite des Jochbeins neigt sich wie bei der Ausprägung sciuromorph vorne zu einer senkrechten Fläche, der Masseter lateralis setzt zwischen Auge und Schnauze an und der Masseter superficialis entlang des Jochbogens. Beide setzen weit hinten am Unterkiefer an und ersterer kreuzt den vergrößerten Masseter medialis. Dieser verläuft unter dem Jochbogen, durchzieht wie bei der Ausprägung hystricomorph das ebenfalls vergrößerte Foramen infraorbitale und führt durch die Augenhöhle zum vorderen Oberkiefer. Diese Ausprägung ermöglicht das effektivste Nagen und findet sich bei den Mäuseartigen sowie konvergent bei einigen Bilchen (hier manchmal auch als pseudomyomorph bezeichnet). Eine ähnliche Ausprägung findet sich eventuell auch bei den ausgestorbenen Cedromurinae.
=== Geschichte der Systematik ===
Hauptartikel: Geschichte der Systematik der Nagetiere
Schon Carl von Linné fasste in seiner Systema Naturae ab 1735 ursprünglich alle Nagetiere einschließlich der Hasenartigen in der Ordnung Glires zusammen. Daneben enthielt diese Ordnung mit Spitzmäusen, Desmanen, Beutelratten, Nashörnern, Fledermäusen und dem Fingertier zeitweise auch nicht verwandte Säugetierarten. Von 1821 stammt die Bezeichnung Rodentia für die Ordnung der Nagetiere einschließlich der Hasenartigen. Nach der unterschiedlichen Ausprägung ihrer Kaumuskulatur wurden diese 1855 in Sciuromorpha („Hörnchenartige“), Myomorpha („Mäuseartige“), Hystrichomorpha („Stachelschweinartige“) und Lagomorpha („Hasenartige“) unterteilt. Erstere drei Gruppen, die Nagetiere im heutigen Sinn, wurden 1876 als Simplicidentata zusammengefasst und den Hasenartigen (Duplicidentata) gegenübergestellt. Nach der Struktur ihres Unterkiefers hingegen wurden die Nagetiere im heutigen Sinn 1899 in die Sciurognathi und die Hystricognathi unterteilt. Neben der Dreiteilung in Sciuromorpha, Myomorpha und Hystricomorpha ist diese Zweiteilung bis in die heutige Zeit weit verbreitet. 1912 wurde erstmals vermutet, dass Nagetiere und Hasenartige nicht näher miteinander verwandt sind, und die beiden Gruppen wurden fortan als separate Ordnungen geführt.
Anfang der 1990er-Jahre wurde mit der provokanten Veröffentlichung Is the Guinea-Pig a Rodent? („Ist das Meerschweinchen ein Nagetier?“) in der Zeitschrift Nature die Theorie aufgestellt, die Meerschweinchenverwandten seien nicht mit den übrigen Nagetieren verwandt, sondern hätten sich zu einem früheren Zeitpunkt als andere Säugetierordnungen abgespalten. Andere Untersuchungen von morphologischen und molekularer Daten bestätigten hingegen die Monophylie (die gemeinsame Abstammung aller Arten von einem gemeinsamen Vorfahren) der Nagetiere, was heute weitgehend als Konsens betrachtet wird.
=== Stammesgeschichte ===
Die ersten zweifellos den Nagetieren zuzuordnenden Funde stammen aus dem oberen Paläozän, entstanden dürfte die Gruppe aber bereits in der Kreidezeit sein. Als mesozoische Vorläufer werden manchmal die Zalambdalestidae angeführt, eine in der Oberkreide in Asien lebende Gruppe. Diese für mesozoische Säugetiere relativ großen Tiere hatten einen den Rüsselspringern vergleichbaren Körperbau und wiesen im Bau der vergrößerten unteren Schneidezähne Ähnlichkeiten mit den Nagern auf. Ob sie tatsächlich die Vorfahren der Nagetiere oder der Glires (des gemeinsamen Taxons aus Nagern und Hasenartigen) darstellen, ist umstritten.
Im unteren Paläozän lebte in Asien die Familie der Eurymylidae, die wie die heutigen Nager bereits nur mehr zwei vergrößerte Schneidezähne pro Kiefer aufwies, sich in Details im Aufbau der Zähne aber von diesen unterscheidet. Heute werden die Eurymylidae eher als Schwestergruppe der Nagetiere und nicht als dessen basale Vertreter klassifiziert. Ähnliches gilt für die Alagomyidae, die ebenfalls im Paläozän in Asien und Nordamerika lebte.
Als älteste bekannte Vertreter der Nagetiere gelten die Ischyromyidae (eventuell gemeinsam mit den Paramyidae), die im späten Paläozän in Nordamerika verbreitet waren und die noch ein etwas ursprünglicheres Gebiss mit einem vorletzten Prämolaren und generell niederkronigen Backenzähnen aufwiesen. Die Aufspaltung in die fünf Unterordnungen war bereits gegen Ende der Kreidezeit vollendet. Im Eozän breiteten sich die Nagetiere dann auch in Eurasien und Afrika aus, und gegen Ende dieser Epoche kam es zu einer fast explosionsartigen Radiation und viele der heutigen Gruppen entstanden. Unter anderem sind Hörnchen, Biber, Dornschwanzhörnchen, Mäuseartige, Kammfinger und Bilche aus dieser Zeit oder spätestens aus dem frühen Oligozän belegt.
Eine Gruppe von Nagern, die heute als Meerschweinchenverwandte zusammengefasst werden, erreichte im frühen Oligozän (vor rund 31 Millionen Jahren) Südamerika – vermutlich von Afrika auf Treibholz über den damals viel schmaleren Atlantik schwimmend. Südamerika war damals – wie während des größten Teils des Känozoikums – von den übrigen Kontinenten isoliert, sodass sich eine eigene Fauna bilden konnte, vergleichbar mit der Situation in Australien. Es gab dort nur wenige Säugetiergruppen (die Beutelsäuger, die ausgestorbenen Südamerikanischen Huftiere und die Nebengelenktiere), weswegen die Meerschweinchenverwandten einige ökologische Nischen einnehmen konnten, die für Nagetiere untypisch sind und sich in dieser Form nur bei dieser Gruppe finden. Einige grasfressende Arten stellen gewissermaßen das ökologische Äquivalent zu den Paarhufern dar, auch entwickelten sich riesenhafte Formen. Noch heute gehört mit dem Capybara der größte Nager zu dieser Gruppe, ausgestorbene Formen wie Phoberomys erreichten sogar die Ausmaße von Flusspferden.
Bemerkenswert ist, dass die Nagetiere vor der weltweiten Ausbreitung des Menschen als einzige Gruppe landgebundener Plazentatiere den australischen Kontinent besiedeln konnten. Diese Einwanderung geschah in mehreren Wellen vor fünf bis zehn Millionen Jahren. Heute gibt es eine Reihe auf diesem Kontinent endemischer Gattungen, darunter die Schwimmratten, die Australischen Kaninchen- und die Häschenratten. Zu einem späteren Zeitpunkt haben auch die Ratten mit mehreren Vertretern Australien erreicht.
== Nagetiere und Menschen ==
=== Nagetiere als Nutztiere ===
Eine Reihe von Nagetierarten wird vom Menschen als Nutztiere gehalten, das heißt, um sich einen wirtschaftlichen Zweck zugutezumachen. Die wichtigsten Zwecke sind der Genuss ihres Fleisches, die Verwendung des Fells und Tierversuche.
Der Genuss des Fleisches von Nagetieren ist heute im mitteleuropäischen Kulturraum unüblich, wenn auch in früheren Zeiten insbesondere in Notsituationen auch diese Tiere verspeist wurden. In anderen Regionen der Erde hingegen werden sie gegessen, manche Arten gelten sogar als Delikatesse. Bekannte Beispiele sind die Hausmeerschweinchen, die in Südamerika – insbesondere in Peru – millionenfach gezüchtet und verspeist werden, die Rohrratten, die in einigen westafrikanischen Ländern wie Ghana gehalten werden und deren Zucht von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) propagiert wird, oder der Siebenschläfer, der im alten Rom als Leckerbissen galt und in eigens angelegten Glirarien gemästet wurde. Daneben werden Nagetiere nicht nur für den Genuss des Menschen gezüchtet, sondern auch als Futtertiere verwendet, beispielsweise für Echsen und Schlangen und andere in Zoos oder privaten Terrarien gehaltene Tiere.
Einige Nagetiere werden auch ihres Felles wegen gejagt oder auch gezüchtet. Die in Mitteleuropa bekanntesten Vertreter sind die Eigentlichen Chinchillas, die Bisamratte und die Biberratte oder Nutria; weltweit dienen jedoch die verschiedensten Arten als Pelzlieferanten.
Einen bedeutenden Bereich der Nutzung von Nagetieren stellen Tierversuche dar. Diese Tiere werden vorwiegend verwendet, da sie klein, leicht zu züchten und zu halten sind und sich sehr schnell vermehren. Über 80 %, teilweise sogar über 90 %, der eingesetzten Tiere sind Nagetiere, allen voran Farbmäuse, gefolgt von Farbratten und Hausmeerschweinchen. Die Kontroverse um den tatsächlichen Nutzen dieser Praktiken wird äußerst heftig geführt. Ebenfalls zu den Tierversuchen kann die Verwendung von Nagetieren in der Raumfahrt gezählt werden. Erstmals wurden Hausmäuse und Hausmeerschweinchen an Bord des sowjetischen Raumschiffs Wostok 3 A im März 1961 ins All geflogen, später kamen auch Wanderratten und Taschenmäuse hinzu.
=== Nagetiere als Heimtiere ===
Zahlreiche Nagetiere werden auch als Heimtiere oder Streicheltiere gehalten, das heißt aus Freude und persönlicher Zuneigung und nicht aus einem direkten wirtschaftlichen Nutzen. Die Gründe für die Haltung von Nagern sind unter anderem die geringe Körpergröße und die damit verbundenen niedrigen Haltungskosten. Etliche Arten sind jedoch aufgrund ihrer nachtaktiven Lebensweise und ihrer Unwilligkeit gegenüber Berührungen nur bedingt als Heimtier geeignet, auch ist bei vielen Arten, die in großen Gruppen leben oder viel Auslauf brauchen, eine artgerechte Haltung kaum realisierbar. Zu den Arten, die als Heimtiere gehalten werden, zählen Hausmeerschweinchen,
Gold-, Zwerg- und andere Hamster, Haus-, Renn-, Spring- und andere Mäuse, Wanderratten, Degus, Chinchillas, Gleit-, Streifen- und andere Hörnchen, mehrere Bilcharten und andere mehr.
=== Nagetiere als „Schädlinge“ und Gefahr für den Menschen ===
Etwa 200 bis 300 Arten gelten als Landwirtschafts- oder Nahrungsmittelschädlinge. Zum Teil halten sie sich in den zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Flächen auf, wo sie die Feldfrüchte selbst verzehren oder durch ihre unterirdische Lebensweise an Wurzeln und Knollen der Pflanzen Schäden anrichten. Häufig ist der Mensch die Hauptursache dafür, indem er massiv in den natürlichen Lebensraum der Tiere eingreift. Durch die Umwandlung der Habitate in landwirtschaftlich genutzte Flächen und die Verringerung des Nahrungsangebotes werden viele Arten gezwungen, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen. In Indonesien gehen beispielsweise 17 % der Reisernte durch Nagetiere verloren. Diese stehen dann in Konkurrenz zu den wirtschaftlichen Interessen und leiten die Verfolgung ein. Die hemerophilen Arten (Kulturfolger), beispielsweise Mäuse und Ratten, suchen auch direkt in den Aufbewahrungsorten von Lebensmitteln nach Nahrung. Darüber hinaus kommt es durch die Nagetätigkeit oft zu weiteren materiellen Schäden, zum Beispiel an Dämmmaterialien, Strom- und Wasserleitungen.
Neben den materiellen Schäden, die Nagetiere anrichten, sind einige Arten auch als Überträger von Krankheiten bekannt und stellen so eine Bedrohung für den Menschen dar. Infektionen können auf verschiedenste Weise geschehen: durch Bisse können unter anderem Pasteurellose und Tollwut übertragen, wenngleich Nagetiere seltener vom Tollwutvirus betroffen sind als andere Säugetiergruppen. Durch ihre Exkremente kann es unter anderem zur Übertragung von Salmonellose und Leptospirose (Weil-Krankheit) sowie von hämorrhagischem Fieber (Hantaviren) kommen; durch den Verzehr von Nagern, der wie oben erwähnt in außereuropäischen Ländern recht häufig vorkommt, zur Trichinose. Am bekanntesten sind wohl die Krankheiten, die von auf diesen Tieren parasitierenden Flöhen übertragen werden wie das murine Fleckfieber und die Pest, die in mehreren Pandemien Millionen Menschen das Leben gekostet hat.
=== Bedrohung ===
Die weite Verbreitung einiger kulturfolgender Arten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Nagetierarten ein kleines Verbreitungsgebiet haben und zu den gefährdeten oder bedrohten Arten zählen. Die Gründe dafür sind unter anderem die gezielte Verfolgung von als Schädlinge betrachteten Tieren (zum Beispiel bei den Präriehunden), die Bejagung aufgrund des Fleisches oder des Felles (wie beim Kurzschwanz-Chinchilla), die Zerstörung des Lebensraumes, die vor allem waldbewohnende Arten trifft und die Verdrängung durch eingeschleppte oder eingewanderte Neozoen.
Die IUCN listet 2021 38 Nagetierarten als ausgestorben, neben einigen australischen handelt es sich dabei vorwiegend um Arten, die auf Inseln endemisch waren. Dazu zählen unter anderem sämtliche Riesenhutias, einige Vertreter der Baum- und Stachelratten der Karibischen Inseln, die Karibische Riesenreisratten, eine Südamerikanische Baumstachlerart, die Kanarische Riesenratte, sowie aus Australien die Weißfuß-Kaninchenratte, die Kleine Häschenratte und mehrere Arten der Australischen Hüpfmäuse. Des Weiteren gelten laut IUCN 59 Arten als vom Aussterben bedroht (critically endangered) und 144 als stark gefährdet (endangered) und 129 als gefährdet (vulnerable), für 407 Arten liegen zu wenig Daten vor, weswegen sie als (data deficient) gelistet werden.
=== Nagetiere in der Kultur ===
Nur sehr wenige Nagetiergattungen spielen in der menschlichen Kultur eine Rolle. Auffallend ist jedoch, dass sie im Gegensatz zu ihrem Ruf als Schädlinge häufig positive Rollen einnehmen. Sie werden – vermutlich aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit – oft als klug und gewieft dargestellt, die sich gegen größere, oft dümmere Gegner erfolgreich zur Wehr setzen.
Mäuse und Ratten sind sicher die häufigsten derart dargestellten Nagetiere. In der Chinesischen Astrologie gelten Menschen, die im Jahr der Ratte oder Maus (鼠, shu) geboren sind als angriffslustig, aber auch intelligent und selbstbewusst. Auch in Indien sind Ratten ein Symbol für Intelligenz und Stärke, beispielsweise wird der Gott Ganesha häufig auf einer Ratte oder Maus reitend dargestellt. Im westlichen Kulturkreis sind Ratten deutlich negativer besetzt, sie gelten oft als bösartig. Die weit verbreitete Abscheu oder Angst vor Ratten wird etwa in Die Rättin von Günter Grass oder in 1984 von George Orwell zur Sprache gebracht.
Mäuse hingegen verkörpern eher den „süßen“, gutartigen Charakter. Dementsprechend häufig tauchen positiv besetzte Mäuse insbesondere in Kinderliteratur und Zeichentrick auf, beispielsweise Walt Disneys Micky Maus oder die Figur in der Sendung mit der Maus. Der stereotype Kampf Mäuse gegen Katzen, bei dem meist die Katzen unterliegen, wird ebenfalls oft dargestellt, etwa in Trickfilmserien wie Tom und Jerry oder Speedy Gonzales. In allegorischer Weise finden sich Mäuse beispielsweise in Franz Kafkas Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse oder in dem die NS-Zeit behandelnden Comic Maus – Die Geschichte eines Überlebenden.
Die Tätigkeiten oder Eigenschaften einiger weiterer Nagetiere sind sprichwörtlich geworden, beispielsweise der lange Winterschlaf der Murmeltiere oder Siebenschläfer. Die Sammeltätigkeit der Hamster steht Pate für einen übertriebenen Hortungsdrang, und die Bautätigkeit der Biber wird als Inbegriff des Fleißes betrachtet.
== Literatur ==
Michael D. Carleton, Guy G. Musser: Order Rodentia. In: Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, S. 745–752, ISBN 0-8018-8221-4.
Thomas S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, 331 Seiten, ISBN 0-19-850761-5.
Wolfgang Maier: Rodentia, Nagetiere. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2004, 712 Seiten, ISBN 3-8274-0307-3.
Grant Singleton, Christopher R. Dickman, D. Michael Stoddart: Nager. In: David W. Macdonald (Hrsg.): Die große Enzyklopädie der Säugetiere. Könemann Verlag, Königswinter 2004, S. 578–587, ISBN 3-8331-1006-6 (deutsche Übersetzung der Originalausgabe von 2001).
Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 (englisch).
Malcolm C. McKenna, Susan K. Bell: Classification of Mammals: Above the Species Level. Columbia University Press, New York 1997, XII + 631 Seiten, ISBN 0-231-11013-8.
Hans-Albrecht Freye: Die Nagetiere. In: Bernhard Grzimek et al. (Hrsg.): Grzimeks Tierleben. Bd. 11. Säugetiere 2. Kindler Verlag, Zürich 1969, S. 204–211.
Richard Lydekker: Rodentia. In: The Encyclopædia Britannica. 11. Ausgabe. Bd. 13. University of Cambridge, New York 1911, S. 437–446.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Nagetiere |
Ruthenium | = Ruthenium =
Ruthenium (v. lateinisch Ruthenia „Ruthenien“, „Russland“) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ru und der Ordnungszahl 44. Es zählt zu den Übergangsmetallen, im Periodensystem steht es in der 5. Periode und der Gruppe 8 (früher Teil der 8. Nebengruppe) oder auch Eisengruppe. Es ist ein silberweißes, hartes und sprödes Platinmetall.
Ruthenium wurde 1844 vom deutsch-baltischen Chemiker Karl Ernst Claus in sibirischen Platinerzen entdeckt. Es ist sehr selten und wird nur in geringen Mengen genutzt. Die Hauptanwendungsgebiete des Metalls liegen in der Elektronikindustrie beim Perpendicular Recording, einem Datenspeicherverfahren für Festplatten, und als Katalysator in verschiedenen chemischen Verfahren wie Hydrierungen, Methanisierung oder bei der Ammoniaksynthese. Einige Rutheniumverbindungen, z. B. die Grubbs-Katalysatoren, spielen ebenfalls eine Rolle in chemischen Synthesen.
Ruthenium besitzt keine bekannten biologischen Funktionen, jedoch werden einige Komplexe des Metalls hinsichtlich ihrer Wirkung als Mittel gegen Krebs erforscht.
== Geschichte ==
Nachdem zwischen 1803 und 1804 kurz hintereinander die vier Platinmetalle Palladium, Rhodium, Iridium und Osmium von William Hyde Wollaston und Smithson Tennant in Platinerzen entdeckt wurden, versuchten andere Chemiker ebenfalls, aus derartigen Erzen bislang unbekannte Elemente zu isolieren.
Zunächst meldete der polnische Chemiker Jędrzej Śniadecki 1808, dass er im Jahr zuvor in seltenen südamerikanischen Platinerzen ein neues Element entdeckt habe. Er nannte dieses nach dem kurz zuvor entdeckten Asteroiden Vesta Vestium. Nachdem diese Entdeckung von anderen Chemikern jedoch nicht verifiziert werden konnte, wurde die Entdeckung wieder verworfen.Nach der Entdeckung großer Platinerzlagerstätten im Ural 1819 begannen Jöns Jakob Berzelius in Stockholm und Gottfried Osann in Tartu, diese zu untersuchen. Dabei erhielt Osann 1828 zunächst ein unbekanntes weißes Oxid, dessen Eigenschaften zu keinem anderen Oxid passten, und nach Reduktion ein unbekanntes goldgelbes Metall. Dieses nannte er nach dem Herkunftsland des Erzes Russland Ruthenium. Nachdem jedoch Berzelius diese Entdeckung nicht bestätigen konnte, wiederholte Osann seine Arbeiten, konnte aber die Isolierung des Rutheniums nicht wiederholen und zog daraufhin seine Entdeckung zurück.Der deutsch-baltische Chemiker Karl Ernst Claus versuchte seit 1841 an der Universität Kasan, Osanns Experimente zu wiederholen und unbekannte Elemente aus Platinerzen zu extrahieren. Dies gelang ihm schließlich 1844, als er sechs Gramm eines unbekannten hellgrauen Metalls gewinnen konnte. Er nannte das neue Element wie Osann ebenfalls Ruthenium. Ebenso wie Osann bat Claus Berzelius, die Experimente zu überprüfen und das neue Element zu bestätigen. Da dieser 1845 die Ergebnisse bestätigen konnte, gilt seitdem Claus als Entdecker des Rutheniums.
== Vorkommen ==
Ruthenium zählt zu den seltensten nicht-radioaktiven Elementen auf der Erde. Seine Häufigkeit beträgt etwa 1 ppb Masseanteil in der Erdkruste, während es in der Erdhülle (Kruste bis 16 km Tiefe) mit einem Masseanteil von 20 ppb enthalten ist.
Die Häufigkeit ist vergleichbar mit der von Rhodium, Iridium oder Rhenium. Es ist meist mit anderen Platinmetallen vergesellschaftet, so beträgt der Anteil des Rutheniums in der wichtigsten Platinmetalllagerstätte, dem südafrikanischen Bushveld-Komplex, zwischen acht und zwölf Prozent.Wie andere Platinmetalle kommt es gediegen in der Natur vor und ist darum von der IMA als Mineral mit der System-Nr. 1.AF.05 (Klasse: Elemente, Abteilung: Metalle und intermetallische Verbindungen, Unterabteilung: Platingruppen-Elemente) anerkannt.Seine Typlokalität, in der das Mineral 1974 erstmals von Y. Urashima, T. Wakabayashi, T. Masaki und Y. Terasaki gefunden wurde, liegt am Fluss Uryū auf der japanischen Insel Hokkaidō. Neben dieser sind weitere 21 Fundorte elementaren Rutheniums bekannt. Zu diesen zählen unter anderem Nischni Tagil und der Miass-Fluss in Russland, der Yuba River in Kalifornien oder der Bushveld-Complex in Südafrika.Neben elementarem Ruthenium sind auch verschiedene rutheniumhaltige Minerale bekannt. Bei den 13 zurzeit bekannten (Stand: 2010) handelt es sich um Legierungen mit anderen Platinmetallen wie Rutheniridosmin, Sulfide wie Laurit (RuS2) oder Arsenide wie Ruthenarsenit (Ru,Ni)As.
Ruthenium befindet sich auch als Spaltprodukt in abgebrannten Brennelementen von Kernreaktoren. Da die radioaktiven Isotope von Ruthenium verhältnismäßig kurzlebig sind (siehe oben), ist das Ruthenium, welches in Brennstäben nach Entnahme aus dem Abklingbecken enthalten ist, nicht radioaktiv. Problematisch ist jedoch das Vorhandensein von 107Pd, das als Platinmetall Ruthenium chemisch sehr ähnlich ist und langlebige Radioaktivität aufweist. Trotz hoher Ruthenium-Preise unterbleibt Stand 2022 die Gewinnung von Ruthenium aus abgebrannten Kernbrennstoff, es ist jedoch einer von mehreren potentiell nutzbaren Bestandteilen des „Atommülls“, der einige Menschen zu der Forderung bringt, ein potentielles Endlager mit „Rückholbarkeit“ zu planen.
== Gewinnung und Darstellung ==
Durch die Ähnlichkeiten und geringe Reaktivität der Platinmetalle ist eine Trennung dieser Elemente kompliziert. Es existieren mehrere Möglichkeiten, Ruthenium zu isolieren. Enthält ein Erz eine hohe Rutheniumkonzentration, erfolgt die Abtrennung des Rutheniums am besten zuerst und wird durch Destillation erreicht. Dazu wird eine drei- oder sechswertiges Ruthenium enthaltende Lösung mit Oxidationsmitteln wie Chlor, Chloraten oder Kaliumpermanganat versetzt. Durch dieses wird das Ruthenium zum leicht flüchtigen Ruthenium(VIII)-oxid oxidiert. Dieses kann in verdünnter Salzsäure aufgefangen und zu wasserlöslichen Chlororuthenat-Komplexen reduziert werden. Der Grund für dieses Vorgehen sind die Gefahren, die durch die Bildung von Ruthenium(VIII)-oxid während der Trennung bestehen. So können durch Reaktion von Ruthenium(VIII)-oxid mit Ammoniumsalzen explosive Stickstoff-Chlor-Verbindungen entstehen.Sind nur geringe Mengen Ruthenium im Ausgangsmaterial enthalten, werden zunächst die übrigen Platinmetalle abgetrennt. Dazu gibt es für die verschiedenen Metalle unterschiedliche Verfahren, insbesondere die Extraktion mit geeigneten Lösungsmitteln oder das Ausfällen der schwerlöslichen Salze. Schließlich bleibt das gelöste Ruthenium übrig. Die Lösung wird von vorhandenem Ammonium befreit, das Ruthenium zu Ruthenium(VIII)-oxid oxidiert und durch Destillation abgetrennt.Um metallisches Ruthenium zu erhalten, wird es entweder als Ammoniumhexachlororuthenat oder als Ruthenium(IV)-oxid ausgefällt und bei 800 °C in einer Wasserstoffatmosphäre reduziert.
R
u
O
2
+
2
H
2
⟶
R
u
+
2
H
2
O
{\displaystyle \mathrm {RuO_{2}+2\ H_{2}\longrightarrow Ru+2\ H_{2}O} }
Neben Platinerzen ist auch der Anodenschlamm, der bei der Nickelproduktion anfällt, ein wichtiger Rohstoff für die Gewinnung von Ruthenium und den anderen Platinmetallen.
Ein weiteres Vorkommen von Ruthenium sind abgebrannte Brennelemente, da bei der Kernspaltung auch Platinmetalle entstehen. Eine Tonne dieser Brennelemente enthält über zwei Kilogramm Ruthenium, jedoch auch wertvollere Platinmetalle wie Rhodium oder Palladium. Dieses Ruthenium aus abgebrannten Brennelementen enthält knapp 4 % radioaktives 106Ru (weicher Betastrahler, Halbwertszeit ca. 1 Jahr), das zu 106Rh zerfällt. Das Rhodium zerfällt sofort (Halbwertszeit 30 s) unter Aussendung von Gammastrahlung. Eine Nutzung des Rutheniums aus Atomreaktoren ist daher unter derzeitigen Umständen nicht absehbar.Die Weltproduktion an Ruthenium liegt im Bereich von ca. 20 t pro Jahr (Stand 2008).
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Ruthenium ist ein silberweißes, hartes und sprödes Metall. Mit einer Dichte von 12,37 g/cm3 ist es nach Palladium das zweitleichteste Platinmetall. Ruthenium schmilzt bei 2606 K und siedet bei etwa 4423 K. Unterhalb von 0,49 K wird das Element zum Supraleiter.Ebenso wie Osmium kristallisiert Ruthenium in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 270,6 pm und c = 428,1 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Mitunter werden vier verschiedene polymorphe Formen des Rutheniums angegeben, in die sich das Metall beim Erhitzen auf Temperaturen von 1308, 1473 und 1770 K umwandelt. Diese beruhen jedoch auf kalorimetrischen Messungen aus dem Jahr 1931, die in der Folgezeit nicht bestätigt werden konnten. Daher ist es wahrscheinlich, dass das Element bis zum Schmelzpunkt lediglich eine Modifikation besitzt. Eine metastabile tetragonale Modifikation wurde in sehr dünnen Filmen auf einer Molybdän-Oberfläche gefunden. Diese zeigt bei Raumtemperatur ferromagnetische Eigenschaften.
=== Chemische Eigenschaften ===
Innerhalb der Eisengruppe besitzt Ruthenium ähnliche Eigenschaften wie das Osmium, während es sich von denen des Eisens deutlich unterscheidet. Es ist wie andere Platinmetalle und im Gegensatz zum Eisen ein reaktionsträges Edelmetall. Mit dem Sauerstoff der Luft reagiert es erst bei Temperaturen über 700 °C und bildet dabei Ruthenium(VIII)-oxid. Hierbei unterscheidet es sich auch vom Osmium, das schon bei Raumtemperatur beim Kontakt mit Sauerstoff in Spuren das entsprechende Osmium(VIII)-oxid bildet. Auch mit Fluor und Chlor reagiert Ruthenium erst in der Hitze und bildet dabei Ruthenium(VI)-fluorid beziehungsweise Ruthenium(III)-chlorid.
Das Metall löst sich nicht in Säuren wie z. B. Flusssäure, Schwefelsäure, Salpetersäure oder auch Königswasser. Angegriffen wird es dagegen langsam von wässrigen Chlor- und Bromlösungen, schnell von Cyanidlösungen und von Quecksilber(II)-chlorid. Starke Oxidationsmittel wie Kaliumhydroxid-Kaliumnitrat- oder Natriumhydroxid-Natriumperoxid-Schmelzen oxidieren Ruthenium schnell.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 33 Isotope und weitere sechs Kernisomere des Rutheniums zwischen 87Ru und 120Ru bekannt. Von diesen sind sieben stabil und kommen auch in der Natur vor. Am häufigsten ist dabei das Isotop 102Ru mit einem Anteil von 31,6 % an der natürlichen Isotopenzusammensetzung. Vier Isotope, 104Ru, 101Ru, 100Ru und 99Ru sind mit Anteilen zwischen 12 und 19 % ähnlich häufig. Die seltensten der stabilen Isotope sind 96Ru und 98Ru mit Anteilen von 5,52 beziehungsweise 1,88 %. Von den instabilen Isotopen besitzen lediglich 97Ru (2,9 Tage), 103Ru (39,26 Tage) und 106Ru (373,59 Tage) Halbwertszeiten von einigen Tagen; die der anderen liegen im Bereich von Millisekunden (103m1Ru: 1,69 ms) bis Stunden (105Ru: 4,44 h).Rutheniumisotope, vor allem 101Ru, 102Ru und 104Ru entstehen bei der Kernspaltung und sind daher in abgebrannten Brennelementen vorhanden. Eine Tonne bei der Kernspaltung eingesetztes Uran enthält als Spaltprodukt etwa 1,9 Kilogramm Ruthenium. Dieses kann bei der Wiederaufarbeitung durch Oxidation zu flüchtigem Ruthenium(VIII)-oxid aus dem in Salpetersäure gelösten Gemisch abgetrennt werden. Da dieses Ruthenium aber auch einen Anteil des radioaktiven und mit einer Halbwertszeit von 373 Tagen relativ langlebigen Isotopes 106Ru enthält, kann es nicht direkt für andere Zwecke eingesetzt werden. Nach Durchlauf einer ausreichenden Anzahl Halbwertszeiten wäre aber prinzipiell die Gewinnung nutzbaren Rutheniums aus abgebrannten Brennelementen denkbar. Auch die Transmutation des – sowohl als nuklearmedizinischer Abfall wie auch als Spaltprodukt anfallenden – Technetium-99 durch Neutroneneinfang und anschließenden Betazerfall wird verschiedentlich sowohl zur Produktion von Ruthenium als auch zur sicheren Entsorgung des langlebigen und stark radiotoxischen Technetium diskutiert. Die schweren Ruthenium-Isotope zerfallen hauptsächlich zu Rhodium, das noch höhere Preise erzielt als Ruthenium selbst. Aus kerntechnisch erzeugtem Ruthenium könnte also auch nach Ablauf entsprechender Halbwertszeiten Rhodium gewonnen werden. Problematisch ist hierbei, dass 103Rh das einzige stabile Isotop des Rhodium ist, wobei Rhodium-Isotopen mit Massezahlen größer 103 sämtlich kurzlebig sind und bevorzugt zu Palladium-Isotopen betazerfallen.
== Verwendung ==
Ruthenium wird nur in geringem Maß genutzt. Der größte Teil des Metalls wird dabei in der Elektronikindustrie verwendet. Hier spielt seit dem Jahr 2006 vor allem das Perpendicular Recording eine Rolle, ein Verfahren zur Speicherung von Daten auf Festplatten, bei dem eine dünne Schicht Ruthenium die Speicherschicht aus einer Cobalt-Chrom-Platin-Legierung von einer weichmagnetischen Unterschicht trennt. Der Grund dafür, dass Ruthenium genutzt wird, liegt in seiner hexagonalen Kristallstruktur, die eine ähnliche Gitterkonstante wie die verwendete Speicherschicht-Legierung besitzt. Dünne Rutheniumschichten werden in elektrischen Kontakten wie Schleifringen oder Reed-Relais eingesetzt. Sie sind im Vergleich zu anderen einsetzbaren Metallen wie cobalt-gehärtetem Gold härter und damit beständiger gegen Abrieb.Wie andere Platinmetalle wirkt auch Ruthenium katalytisch. So kann es etwa zur Hydrierung von Aromaten, Säuren und Ketonen verwendet werden. Ruthenium wirkt auch katalytisch bei der Methanisierung, der Herstellung von Methan aus Wasserstoff und Kohlenstoffmonoxid bzw. Kohlenstoffdioxid. Ruthenium hat bislang jedoch nur geringe Anwendungen für die Methanisierung gefunden, meist werden Nickel-Katalysatoren genutzt. Die zur Methanisierung mit Ruthenium benötigten niedrigeren Temperaturen könnten für Langzeit-Weltraummissionen interessant sein, da das von den Astronauten ausgeatmete Kohlenstoffdioxid umgesetzt und so der Sauerstoffkreislauf geschlossen werden könnte.Analog zu Eisen und Osmium katalysiert auch Ruthenium die Ammoniak-Synthese aus Stickstoff und Wasserstoff. Es besitzt eine höhere Katalysatoraktivität als Eisen und ermöglicht so eine höhere Ausbeute bei niedrigeren Drücken. Der Einsatz des Metalls ist vor allem durch den Preis limitiert. Industriell eingesetzt wird ein Rutheniumkatalysator, der auf einer Kohlenstoffmatrix geträgert und durch Barium und Caesium als Promotoren verbessert wurde, seit 1998 in zwei Produktionsanlagen von KBR auf Trinidad. Da die langsame Methanisierung des Kohlenstoffträgers beim Prozessablauf stört, wird an kohlenstofffreien Rutheniumkatalysatoren für die Ammoniaksynthese geforscht.In kleinen Mengen wird Ruthenium in Legierungen von Palladium oder Platin zur Erhöhung der Härte eingesetzt. Rutheniumhaltige Legierungen werden unter anderem für Federspitzen von Füllfederhaltern oder für Zahnfüllungen gebraucht. Titanlegierungen werden durch geringe Mengen an Ruthenium (0,1 %) korrosionsbeständiger, was für Anwendungen in der chemischen Industrie oder der Ölförderung wichtig ist. Es ist dabei eine mögliche Alternative zu Palladium. Auch in Superlegierungen auf Nickelbasis, die für Turbinenschaufeln verwendet werden, kann Ruthenium ein Legierungsbestandteil sein, es bewirkt hier eine erhöhte Phasenstabilität.Ein großer Teil des Rutheniums wird nicht in Form des Metalls, sondern als Verbindung, vor allem als Ruthenium(IV)-oxid eingesetzt, das unter anderem als Material für Widerstände und Elektroden, beispielsweise für die Beschichtung von Titananoden in der Chloralkali-Elektrolyse.Der Betastrahler 106Ru wird zur Strahlentherapie des Aderhautmelanoms eingesetzt.
== Biologische Bedeutung ==
Wie andere Platinmetalle besitzt Ruthenium keine biologische Bedeutung und kommt im Körper normalerweise nicht vor. Verschiedene Rutheniumkomplexe haben ein pharmakologisches Potenzial. Es werden verschiedene Anwendungen als Wirkstoff erforscht. Einige Verbindungen werden schon in klinischen Studien erprobt. Am wichtigsten hierfür ist die Wirkung als Zytostatikum, also als Mittel zur Therapie von Krebs. Hier gelten Rutheniumkomplexe als mögliche Alternativen zu Cisplatin beziehungsweise Carboplatin. Neben der tumorhemmenden Wirkung, die die Verbindungen mehrerer Platinmetalle besitzen, begründet sich dies vor allem auf drei Eigenschaften von Rutheniumkomplexen:
Sie besitzen einen langsamen Ligandenaustausch, so dass der Komplex die richtige Stelle im Körper erreichen kann, ohne dass er mit Wasser oder anderen Molekülen reagiert,
mehrere mögliche Oxidationsstufen (+2, +3, +4) unter physiologischen Bedingungen, sowie
eine große Ähnlichkeit zu Eisen, so dass sie dieses in Proteinen wie Transferrin ersetzen können.Da dreiwertiges Ruthenium relativ inaktiv ist, während zweiwertiges eine starke tumorhemmende Wirkung zeigt, sollte es möglich sein, dreiwertiges Ruthenium in einem Tumor zum zweiwertigen zu reduzieren und so zu aktivieren. Damit wäre eine selektivere Wirkung als bei anderen Zytostatika möglich. Bisher ist noch kein Arzneimittel auf der Basis von Ruthenium zugelassen.Neben der Verwendung in der antineoplastischen Chemotherapie werden auch Anwendungen von Rutheniumverbindungen als Immunsuppressivum, Antibiotikum und antimikrobielle Substanz, beispielsweise zur Bekämpfung von Malaria oder der Chagas-Krankheit, untersucht.
== Vorsichtsmaßnahmen ==
Ruthenium ist als Metall ungiftig. Im Gegensatz zu Osmium bildet sich auch das giftige und leicht flüchtige Tetraoxid nicht durch Reaktion mit Sauerstoff bei Raumtemperatur, sondern nur bei der Reaktion mit starken Oxidationsmitteln. In Pulverform ist Ruthenium brennbar, bei Bränden darf nicht mit Wasser, sondern nur mit Löschpulver oder Metallbrandlöschern gelöscht werden.
== Verbindungen ==
Ruthenium bildet Verbindungen in den Oxidationsstufen −2 bis +8, die stabilsten und häufigsten sind dabei +3 und +4. Es zählt damit zusammen mit Osmium und Xenon zu den Elementen, bei denen die höchste Oxidationsstufe +8 chemisch erreicht werden kann.
=== Sauerstoffverbindungen ===
Ruthenium bildet mit Sauerstoff drei binäre Oxide, Ruthenium(VIII)-oxid, Ruthenium(VI)-oxid und Ruthenium(IV)-oxid. Dazu sind noch Ruthenium(III)-oxid, dieses jedoch nur als Hydrat, und verschiedene Ruthenate, unter anderen orangefarbenes Ruthenat(VI), Salze deren Anion eine Ruthenium-Sauerstoffverbindung ist, bekannt. Ruthenium(VIII)-oxid ist, wie Osmium(VIII)-oxid, eine gelbe, leicht flüchtige und giftige Verbindung, die durch Reaktion von Ruthenium oder dessen Verbindungen mit starken Oxidationsmitteln gewonnen wird und die als starkes Oxidationsmittel und für die Abtrennung von Ruthenium von anderen Platinmetallen von Bedeutung ist. Während Ruthenium(VI)-oxid nur in der Gasphase bekannt ist, ist Ruthenium(IV)-oxid ein stabiles, in der Rutilstruktur kristallisierendes Salz, das unter anderem in Widerständen verwendet wird und zur Beschichtung von Elektroden dient.
Im Gegensatz zu Osmium ist vom Ruthenium kein achtwertiges Ruthenat bekannt, in wässrigen Lösungen entsteht bei Reaktion mit starken Oxidationsmitteln ein siebenwertiges, dem Permanganat entsprechendes gelbgrünes Perruthenat. Dieses wirkt ebenfalls als Oxidationsmittel, ist jedoch milder und damit selektiver als Ruthenium(VIII)-oxid oder Osmium(VIII)-oxid. So werden primäre Alkohole durch Perruthenate nicht zu Carbonsäuren, sondern nur zu Aldehyden oxidiert. Häufig wird es in organischen Synthesen in Form von Tetrapropylammoniumperruthenat (TPAP) eingesetzt. Es wird dabei zu vierwertigem Ruthenium reduziert.
=== Komplexe ===
Vom Ruthenium sind zahlreiche Komplexverbindungen sowohl mit anorganischen als auch organischen Liganden bekannt. Diese können in sehr unterschiedlichen Oxidationsstufen von −2 bis +8 vorliegen. In mittleren Stufen, wie +2, +3 und +4, sind auch nichtklassische Komplexe synthetisiert worden, die Metallcluster mit Ruthenium-Ruthenium-Bindungen enthalten.
Einige Rutheniumkomplexe haben Anwendung als Katalysatoren in verschiedenen organischen Synthesen gefunden. So ist Ruthenium das Zentralmetall in den Komplexen der Grubbs-Katalysatoren, die zu den wichtigsten Katalysatoren für die Olefinmetathese zählen. Ein weiterer, in der organischen Synthese bedeutender Komplex ist der Noyori-Katalysator, ein Ruthenium-Chlor-BINAP-Komplex, der eine effiziente asymmetrische Hydrierung von β-Keto-Estern ermöglicht.
Rutheniumkomplexe sind in der Lage, Polymerisationen zu katalysieren. Neben der auf der Metathese beruhenden Ringöffnungspolymerisation (ROMP) können auch lebende freie radikalische Polymerisationen durch Rutheniumkomplexe ermöglicht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Polymerisation von Methylmethacrylat mit RuCl2(PPh3)3 als Katalysator.Zu den bekanntesten Rutheniumkomplexen zählt der Amin-Komplex Rutheniumrot, der in der Histologie als Färbemittel sowie als Redoxindikator und zur Untersuchung von Textilfasern verwendet wird. Ein weiteres Beispiel für einen Rutheniumkomplex ist (1,5-Cyclooctadien)(1,3,5-cyclooctatrien)ruthenium, das erstmals 1963 von Ernst Otto Fischer synthetisiert wurde.
=== Weitere Rutheniumverbindungen ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Ruthenium eine Reihe von Verbindungen. Am stabilsten sind dabei die dreiwertigen Rutheniumhalogenide, diese sind auch von allen Halogenen bekannt. In höheren Oxidationsstufen sind lediglich die Fluoride bis zum Ruthenium(VI)-fluorid sowie das instabile Ruthenium(IV)-chlorid bekannt. Die wichtigste dieser Verbindungen ist Ruthenium(III)-chlorid, die ein Ausgangsstoff für die Synthese vieler anderer Rutheniumverbindungen ist.
Einen Überblick über Rutheniumverbindungen bietet die Kategorie:Rutheniumverbindung.
== Freisetzung von 106Ru südlich des Urals 2017 ==
Im Oktober 2017 wurden in mehreren Ländern Europas erhöhte atmosphärische 106Ru-Konzentrationen in der Größenordnung 10 mBq/m3 gemessen, die allerdings weit unterhalb normaler Luftaktivitäten lagen. Die Analyse der Luftströmungen ließ auf eine Quelle südlich des Urals in Russland schließen.
In jenem Zeitraum wurde für das Experiment SOX-Borexino in Gran Sasso, das »sterile« Neutrinos finden soll, eine kompakte, extrem aktive Strahlungsquelle benötigt. Diese bestellte man in einer Wiederaufarbeitungsanlage in Majak.
Das dafür nötige stark angereicherte Cer liefern nur frisch ausgebrannte Kernbrennstäbe. Der Anteil von 103Ru in den Proben legt nahe, dass die abgebrannten Brennelemente nur zwei Jahre nach dem Ende des Kraftwerksbetriebs in Majak aufgearbeitet wurden. Derart stark radioaktive Brennelemente sind schwer zu verarbeiten. Dabei wird Ruthenium ohnehin abgetrennt. Es entweicht als gasförmiges Rutheniumtetroxid.
30 Kilometer entfernt von Majak in der Gemeinde Argajasch wurden hohe Luftkonzentrationen von 106Ru gemessen. Die freigesetzte Aktivität wurde mit 100–300 Terabecquerel abgeschätzt, eine für die lokale Bevölkerung riskante Menge. Die französische Zeitung Le Figaro beschrieb im Februar 2018 den Auftrag französischer und italienischer Forscher. Majak teilte im Dezember 2017 mit, das bestellte Cer-144 sei nicht zu liefern, weil der Prozess das erforderliche Niveau nicht erreichte.
Diese Ursachen-Vermutung wird auch in einer 2019 veröffentlichten Studie erläutert.
== Literatur ==
Eintrag zu Ruthenium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 26. Mai 2014.
Hermann Renner u. a.: Platinum Group Metals and Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2001, doi:10.1002/14356007.a21_075.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1.
== Weblinks ==
Abbildung in der Elementansammlung von Pniok.de
Mineralienatlas:Ruthenium (Wiki)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Ruthenium |
Wale | = Wale =
Die Wale (Cetacea, auch Cetaceen) bilden eine Ordnung der Säugetiere mit etwa 90 Arten, die ausschließlich im Wasser leben. Es werden zwei Unterordnungen unterschieden: die Bartenwale (Mysticeti), die sich als Filtrierer von Plankton ernähren und zu denen die größten Tiere der Evolutionsgeschichte zählen, sowie die räuberisch lebenden Zahnwale (Odontoceti), zu denen auch die Familie der Delfine (Delphinidae) gehört. Der Begriff „Wal“ kann in einem sprachlich engeren Sinne die als „Delfin“ bezeichneten Arten ausklammern (die nicht ganz deckungsgleich mit der Familie sind), so dass die ganze Ordnung auch als „Wale und Delfine“ bezeichnet wird.
Der alte, im Neuhochdeutschen zunächst dominierende, heute volkstümliche Name „Walfisch“ entspricht nicht dem heutigen wissenschaftlichen Verständnis, da Wale keine Fische sind, sondern aquatische (wasserlebende) Säugetiere (Meeressäuger). In der Antike und bis in die Mitte der Neuzeit wurden sie jedoch, auf Aristoteles zurückgehend, als Fische betrachtet, obgleich schon der Philosoph des vierten vorchristlichen Jahrhunderts vielfältige physiologische Ähnlichkeiten mit den Landwirbeltieren erkannt hatte. Erst durch Carl von Linné wurden Wale 1758 den Säugetieren zugeordnet.
Mit Ausnahme einzelner Delfine und der verschiedenen Gruppen der Flussdelfine leben Wale im Meer. Den Übergang zum Wasserleben vollzog diese Säugergruppe vor etwa 50 Millionen Jahren im frühen Eozän. Wale sind eng verwandt mit den Paarhufern (Artiodactyla), beide Gruppen bilden gemeinsam das Taxon Cetartiodactyla.
Die Bestände vieler Walarten sind infolge von Umweltverschmutzung, der Fischerei und des industriell betriebenen Walfangs deutlich zurückgegangen. Bei wiederholt auftretenden Walstrandungen – an den Ursachen wird geforscht – sterben bis zu hunderte Wale.
== Merkmale ==
=== Allgemeines ===
Wale sind neben den Seekühen die einzigen vollständig an das Leben im Wasser angepassten Säugetiere. Sie sind nicht in der Lage, an Land zu überleben. Bei gestrandeten Walen drückt das Körpergewicht ihre Lungen zusammen oder bricht ihnen die Rippen, da die Unterstützung durch den Auftrieb des Wassers fehlt. Kleinere Wale sterben aufgrund ihrer guten Wärmeisolation an Hitzschlag. Der Körperbau der Wale ist an ihren Lebensraum angepasst, dennoch teilen sie weiterhin wesentliche Merkmale mit allen anderen höheren Säugetieren (Eutheria):
Wale sind Luftatmer und besitzen Lungen. Je nach Art können sie zwischen einigen Minuten bis zu mehr als zwei Stunden (zum Beispiel Pottwal) untergetaucht bleiben.
Wale besitzen ein besonders leistungsfähiges Herz. Dadurch wird der im Blut aufgenommene Sauerstoff sehr effektiv im Körper verteilt.
Wale gehören zu den gleichwarmen Tieren, d. h. sie halten im Gegensatz zu den wechselwarmen Tieren eine konstante, von der Umgebung unabhängige Körpertemperatur.
Wale gebären vollentwickelte Kälber und säugen sie mit extrem fettreicher Muttermilch aus speziellen Milchdrüsen. Die Embryonalentwicklung findet im Körper der Mutter statt. Während dieser Zeit wird der Embryo durch ein spezielles Nährgewebe, die Plazenta, ernährt.Zu den Walen gehören die größten Tiere, die jemals auf der Erde gelebt haben. Der Blauwal (Balaenoptera musculus) ist mit einer Körperlänge von bis zu 33 Metern und einem Gewicht von bis zu 200 Tonnen das größte bekannte Tier der Erdgeschichte. Der Pottwal (Physeter macrocephalus) ist das größte räuberisch lebende Tier der Erde. Die kleinsten Walarten erreichen dagegen nur eine maximale Körperlänge von etwa 1,5 Metern, wie etwa der La-Plata-Delfin, der Hector-Delfin und der Kalifornische Schweinswal.
Wale zeichnen sich auch durch eine für höhere Säugetiere ungewöhnliche Lebenserwartung aus. Manche Arten, wie etwa der Grönlandwal (Balaena mysticetus), können ein Alter von über 200 Jahren erreichen. Anhand der Jahresringe der knöchernen Ohrkapsel konnte das Alter des ältesten bekannt gewordenen Exemplars, eines Männchens, auf 211 Jahre zum Zeitpunkt seines Todes bestimmt werden.
=== Äußere Anatomie ===
Der Körperumriss der Wale ähnelt dem von großen Fischen, was sich auf die Lebensweise und die besonderen Bedingungen des Lebensraums zurückführen lässt (Konvergenz). So besitzen sie eine stromlinienförmige Gestalt, und ihre Vorderextremitäten sind zu Flossen (Flipper) umgestaltet. Auf dem Rücken tragen sie eine weitere Flosse, die als Finne bezeichnet wird und je nach Art verschiedene Formen annimmt. Bei wenigen Arten fehlt sie völlig. Sowohl die Flipper als auch die Finne dienen ausschließlich der Stabilisierung der Wale im Wasser und der Steuerung. Der Schwanz endet in einer großen Schwanzflosse, die Fluke heißt und wie die Finne eine knorpelige Fläche ohne Knochenteile darstellt. Die Fluke setzt waagerecht statt senkrecht am Körper an, ein von außen sehr gut erkennbares Unterscheidungsmerkmal zu den Fischen. Sie ermöglicht durch vertikales Schlagen die Fortbewegung.
Die Hinterbeine fehlen den Walen vollständig, ebenso alle weiteren Körperanhänge, welche die Stromlinienform behindern könnten, wie die Ohren und auch die Haare. Die männlichen Genitalien und die Milchdrüsen der Weibchen sind in den Körper versenkt.
Alle Wale haben einen langgestreckten Kopf, der besonders bei den Bartenwalen durch die weit ausladenden Kiefer extreme Ausmaße annimmt. Die Nasenlöcher der Wale bilden das Blasloch, eines bei Zahnwalen, zwei bei Bartenwalen. Sie liegen auf der Oberseite des Kopfes, so dass der Körper beim Atmen untergetaucht bleiben kann. Beim Ausatmen kondensiert meist die Feuchtigkeit der Atemluft und bildet den so genannten Blas. Bei den Zahnwalen existiert eine bindegewebige Melone als Kopfwölbung. Diese ist von Luftsäcken und Fett erfüllt und hilft beim Auftrieb sowie bei der Schallbildung. Eine besonders ausgeprägte Melone haben die Pottwale; hier wird sie als Spermacetiorgan bezeichnet und enthält das namensgebende Spermaceti bzw. Walrat. Die Kiefer enthalten bei den Zahnwalen eine unterschiedliche Anzahl von Zähnen, von zwei flachen Hauern bei den Zweizahnwalen über eine große Anzahl gleichförmiger (homodonter) Zähne bei den Delfinen. Auch der lange Stoßzahn des männlichen Narwals ist ein umgebildeter Eckzahn. Bei den Bartenwalen sitzen im Oberkiefer an Stelle der Zähne lange hornige Filterplatten, die Barten.
Der Körper ist von einer dicken Speckschicht, dem sogenannten Blubber, eingehüllt. Dieser dient der Wärmeisolation und verleiht den Walen eine glatte, stromlinienförmige Körperform. Bei den großen Arten kann der Blubber bis zu einem halben Meter Dicke erreichen. Der sehr spezielle Aufbau der Haut oberhalb der Speckschicht sorgt für ein Phänomen, welches als Graysches Paradoxon bekannt ist: Der Körper vor allem der schnelleren Schwimmer, etwa der Delfine, verfügt in der Realität über weit bessere Strömungseigenschaften als dies bei einem Festkörper mit der gleichen Form der Fall ist. Dies wird auf die Dämpfungseigenschaft der Haut zurückgeführt, die störende Wirbelbildungen abmildert. Zu diesem Zweck besitzt die Lederhaut (Corium oder Dermis) lange Papillen, die einen Saum bilden und mit der darüber liegenden Epidermis verzahnt sind. Die Papillen der Lederhaut sitzen dabei auf Lamellen, die weitgehend quer zur Körperlängsachse und damit auch zur Strömungsrichtung gestellt sind. Aufgrund ihrer Länge hielt man die Papillen zuerst für Ausführungsgänge von Schweißdrüsen. Heute kennt man allerdings ihre reale Funktion und weiß auch, dass Wale keine Hautdrüsen mit Ausnahme der Milchdrüsen besitzen. Neben diesen Dämpfungsstrukturen verfügt die Haut über ein mikroskopisch feines Reliefmuster. Aufgrund der Ergebnisse physiologischer Experimente wird auch eine aktive Reaktion der Haut angenommen. Die Optimierung der Strömungseigenschaften konnte bei Versuchen mit künstlicher Walhaut nachgestellt werden.
=== Skelett ===
Das Walskelett kommt weitestgehend ohne kompakte Knochen aus, da es vom Wasser stabilisiert wird. Aus diesem Grunde sind die bei den Landsäugetieren üblichen Kompaktknochen durch feinmaschige Spongiosaknochen ersetzt. Diese sind leichter und elastischer. An vielen Stellen sind außerdem Knochenelemente durch Knorpel und sogar Fettgewebe ersetzt, dadurch werden die hydrostatischen Eigenschaften des Walkörpers weiter verbessert. Im Ohr und an der Schnauze findet sich eine nur bei Walen zu findende Knochenform mit extrem hoher Dichte, die an Porzellan erinnert. Diese hat besondere akustische Eigenschaften und leitet den Schall besser als andere Knochen.
Der Schädel aller Wale ist charakteristisch verlängert, was gut bei dem hier dargestellten Bartenwal ersichtlich ist. Dabei bilden die Kiefer- und die Nasenbeinknochen ein vorspringendes Rostrum. Die Nasenöffnungen liegen am Scheitelpunkt des Kopfes oberhalb der Augen. Der hintere Teil des Schädels mit dem Hirnschädel ist deutlich verkürzt und verformt. Durch die Verlagerung der Nasenlöcher auf die Kopfoberseite verlaufen die Nasengänge senkrecht durch den Schädel. Bei den Zahnwalen reicht der Kehlkopf schnabelartig in diesen Gang hinein, bei den Bartenwalen weicht selbiger dem Gang seitlich aus. Die Zähne bzw. die Barten sitzen im Oberkiefer ausschließlich am Maxillarknochen. Der Hirnschädel wird durch den Nasengang nach vorn eingeengt und ist entsprechend höher ausgebildet, wobei sich einzelne Schädelknochen übereinanderschieben (Teleskoping). Die knöcherne Ohrkapsel, das Petrosum, ist mit dem Schädel nur knorpelig verbunden, damit sie unabhängig von selbigem schwingen kann. Aus diesem Grunde stellen isolierte Ohrkapseln häufige Walfossilien dar, die als Cetolithen bezeichnet werden. Bei vielen Zahnwalen ist der Schädel aufgrund der Ausbildung einer großen Melone und mehrerer Luftsäcke zudem asymmetrisch ausgebildet.
Die Anzahl der Wirbel der Wirbelsäule beträgt abhängig von der Art zwischen 40 und 93 Einzelwirbel. Die Halswirbelsäule besteht wie bei fast allen Säugetieren (Ausnahmen: Faultiere und Rundschwanzseekühe) aus sieben Wirbeln, die bei den meisten Walen jedoch stark verkürzt oder miteinander verschmolzen sind, was Stabilität beim Schwimmen auf Kosten der Beweglichkeit verschafft. Die Rippen werden von den Brustwirbeln getragen, deren Anzahl zwischen 9 und 17 betragen kann. Das Brustbein ist nur knorpelig und stark zurückgebildet. Die letzten zwei bis drei Rippenpaare sind bei allen Walen nicht mit dem Brustbein verbunden und liegen als Fleischrippen frei in der Körperwand; bei den Bartenwalen liegen alle Rippen mit Ausnahme des ersten Paares frei. Daran schließt sich der stabile Lenden- und Schwanzteil der Wirbelsäule an, dem alle weiteren Wirbel angehören. Unterhalb der Schwanzwirbel haben sich die Chevron-Knochen aus den Hämalbögen der Wirbel entwickelt, die zusätzliche Ansatzstellen für die Schwanzmuskulatur bieten.
Die vorderen Gliedmaßen sind paddelförmig mit verkürzten Arm- und verlängerten Fingerknochen, um die Fortbewegung zu unterstützen. Sie sind durch Knorpel verwachsen. Am zweiten und dritten Finger kommt es zudem zu einer Vermehrung der Fingerglieder, einer so genannten Hyperphalangie. Das einzige funktionelle Gelenk ist das Schultergelenk, alle anderen sind (außer bei den Amazonas-Flussdelfinen (Inia)) unbeweglich. Ein Schlüsselbein fehlt vollständig. Da eine Fortbewegung des Wals auf dem Land nicht mehr erforderlich ist und bei den großen Arten aufgrund des Körpergewichtes auch nicht mehr möglich wäre, sind die Hintergliedmaßen stark verkümmert und nur noch als Skelettrudimente ohne Verbindung zur Wirbelsäule vorhanden.
=== Innere Anatomie und Physiologie ===
Besonders wichtig für die Lebensweise der Wale im Wasser ist der Aufbau des Atmungs- sowie des Kreislaufsystems. Der Sauerstoffhaushalt der Wale ist entsprechend hocheffektiv. Bei jedem Atemzug kann ein Wal bis zu 90 Prozent des gesamten Luftvolumens der Lunge austauschen, bei einem Landsäugetier liegt dieser Wert etwa bei 15 Prozent. In der Lunge wird der eingeatmeten Luft durch das Lungengewebe etwa doppelt so viel Sauerstoff entzogen wie bei einem Landsäuger. Die Lunge selbst beinhaltet in den Alveolen ein doppeltes Kapillarnetz. Der Sauerstoff wird außer im Blut und der Lunge in verschiedenen Geweben der Wale gespeichert, vor allem in der Muskulatur, in welcher der Muskelfarbstoff Myoglobin für eine effektive Bindung sorgt. Diese lungenexterne Sauerstoffspeicherung ist beim Tieftauchen überlebenswichtig, da ab einer Tauchtiefe von etwa 100 Metern das Lungengewebe durch den Wasserdruck nahezu vollständig komprimiert wird. Beim Tauchvorgang wird der Sauerstoffverbrauch durch Absenkung der Herztätigkeit und der Blutzirkulation massiv gesenkt, einzelne Organe werden während dieser Zeit nicht mit Sauerstoff versorgt. Manche Furchenwale können dadurch bis zu 40 Minuten tauchen, Pottwale zwischen 60 und 90 Minuten und Entenwale sogar zwei Stunden. Die Tauchtiefen liegen dabei im Durchschnitt bei etwa 100 Meter, Pottwale tauchen bis zu 3000 Meter tief.
Der Magen der Wale besteht aus drei Kammern. Der erste Bereich wird von einem drüsenlosen und sehr muskulösen Vormagen gebildet (der bei den Schnabelwalen fehlt), danach folgen der Hauptmagen und der Pylorusmagen, die beide mit Drüsen zur Verdauung ausgestattet sind (s. Wiederkäuer, dort Tiere mit ähnlichem Verdauungssystem). An die Mägen schließt sich ein Darm an, dessen Einzelabschnitte nur histologisch unterschieden werden können. Die Leber ist sehr groß und besitzt keine Gallenblase.
Die Nieren sind stark abgeflacht und sehr lang. Sie sind in mehrere tausend Einzelläppchen (Reniculi) aufgeteilt, um effektiv arbeiten zu können. Die Salzkonzentration im Blut der Wale ist niedriger als die im Meerwasser; die Nieren dienen daher auch zur Salzausscheidung. Das ermöglicht es den Walen, Meerwasser zu trinken.
=== Gemeinsamkeiten in der Chromosomen-Genetik ===
Der ursprüngliche Karyotyp der Wale beinhaltet einen Chromosomensatz von 2n = 44. Sie besitzen vier Paare telozentrischer Chromosomen (Chromosomen, deren Zentromer an einem der Telomere sitzt), zwei bis vier Paare subtelozentrischer und ein bis zwei große Paare submetazentrischer Chromosomen. Die übrigen Chromosomen sind metazentrisch – haben also das Zentromer etwa in der Mitte – und sind eher klein. Bei den Pottwalen (Physeteridae), den Schnabelwalen (Ziphiidae) und den Glattwalen (Balaenidae) kam es konvergent zu einer Reduktion der Chromosomenzahl auf 2n = 42.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Wale sind vor allem Meerestiere und in allen Meeren der Welt anzutreffen. Einige Arten schwimmen dabei auch in die Flussdeltas und sogar bis in die Flüsse hinein. Nur wenige Arten leben dagegen ausschließlich im Süßwasser, dabei handelt es sich um mehrere als Flussdelfine bezeichnete Arten verschiedener Familien. Während viele marine Arten der Wale wie etwa der Blauwal, der Buckelwal und auch der Schwertwal ein Verbreitungsgebiet haben, das fast alle Meere umfasst, gibt es auch einzelne Arten, die nur lokal vorkommen. Dazu gehören etwa der Kalifornische Schweinswal in einem kleinen Teil des Golfs von Kalifornien sowie der Hector-Delfin in einzelnen Küstengewässern bei Neuseeland. In den Meeren gibt es sowohl Arten, die die tieferen Meeresgebiete bevorzugen als auch Arten, die häufig oder ausschließlich in Küstennähe und Flachwasserbereichen leben.
Die Aufteilung der Lebensräume ergibt sich im Normalfall entlang bestimmter Temperaturgrenzen in den Ozeanen, entsprechend liegen die Verbreitungsgebiete der meisten Arten entlang spezifischer Breitengrade. Viele Arten leben entsprechend nur in tropischen oder subtropischen Gewässern, etwa der Brydewal oder der Rundkopfdelfin, andere findet man nur im Bereich des südlichen (etwa den Südlichen Glattdelfin oder den Stundenglasdelfin) oder nördlichen Polarmeeres (den Narwal und den Weißwal). Diese vertikale Ausbreitung wird vor allem durch Landmassen als natürliche Barrieren unterbrochen. So existieren von vielen kosmopolitischen Arten einzelne Populationen im pazifischen, im atlantischen und im indischen Ozean, außerdem kommen einige Arten grundsätzlich nur in einem dieser drei getrennten Ozeane vor. So findet man etwa den Sowerby-Zweizahnwal und den Clymene-Delfin nur im Atlantik, den Weißstreifendelfin und den Nördlichen Glattdelfin nur im Nord-Pazifik. Bei wandernden Arten, deren Fortpflanzungsgründe häufig in tropischen und deren Nahrungsgründe in polaren Regionen liegen, kommt es zudem sowohl im Atlantik als auch im Pazifik zur Ausbildung von südlichen und nördlichen Populationen, die durch die Wanderungen genetisch voneinander getrennt werden. Bei einigen Arten führt diese Separierung der Populationen schlussendlich zur Bildung neuer Arten, so etwa beim Südkaper und den beiden Nordkaperarten im Atlantik und Pazifik.
In europäischen Gewässern konnten insgesamt 32 Walarten nachgewiesen werden, darunter 25 Arten, die zu den Zahnwalen und sieben, die zu den Bartenwalen gehören.
== Lebensweise ==
=== Sozialverhalten ===
Die meisten Wale sind äußerst gesellige Tiere mit einem hoch entwickelten Sozialverhalten, nur wenige Arten leben paarweise oder als Einzelgänger. Die Walgruppen, als Schulen bezeichnet, bestehen dabei meistens aus 10 bis 50 Tieren, zu bestimmten Gelegenheiten (bei Massenauftreten von Nahrung oder zur Paarungszeit) können die Gruppen jedoch auch weit über 1000 Tiere umfassen. Auch Vergesellschaftung mit anderen Walarten ist dabei möglich.
Die einzelnen Schulen haben eine feste Hierarchie, wobei die vorrangigen Stellungen durch Beißen, Schieben oder Rammen bestimmt werden. Das Verhalten in der Gruppe ist nur in äußersten Stresssituationen wie Nahrungsmangel und in Gefangenschaft aggressiv, im Normalfall ist der Umgang friedlich. Dabei spielen Kontaktschwimmen, gegenseitiges Streicheln und Stupsen eine große Rolle. Ebenfalls bekannt sind die spielerischen Verhaltensweisen der Tiere, die sich in Luftsprüngen, Saltos, Wellenreiten oder Flossenschlagen äußern und auch bei ausgewachsenen Tieren vorkommen.
Zur Kommunikation untereinander geben die männlichen Tiere gesangsähnliche Töne und Melodien ab, die über hunderte Kilometer im Wasser zu hören sind. Mit bis zu 190 Dezibel zählen Walgesänge nicht nur zu den vielfältigsten, sondern auch zu den lautesten Tönen, die im Tierreich erzeugt werden. Japanische Forscher konnten nachweisen, dass Wale auf die Anwesenheit von Menschen reagieren. So werden beispielsweise Buckelwale deutlich leiser oder stellen ihre Gesänge völlig ein, sobald sich ihnen ein Schiff nähert.
Neuere Forschungen haben ergeben, dass nicht nur jede Walschule ihren eigenen typischen Gesang entwickelt, sondern dass darüber hinaus ein Austausch der Melodien zwischen den einzelnen Gruppen stattfindet. Eine Melodie, die zunächst von Buckelwalpopulationen aus dem Indischen Ozean gesungen wurde, konnte später im Südpazifik erneut identifiziert werden. Forscher der University of Queensland unterschieden, in einem Zeitraum von zehn Jahren (1998-2008), zwischen elf verschiedenen Gesangsmuster, die die männlichen Tiere verwendeten und verbreiteten, indem sie diese nachahmten.Manchmal lässt sich sogar ein einzelner Wal an seinem spezifischen, unverwechselbaren Gesang identifizieren, so etwa der 52-Hertz-Wal, der in einer höheren Frequenz als andere Wale singt. Manche Walarten sind zur Erzeugung von bis zu 622 unterschiedlichen Lauten fähig.
Die Wale jagen auch in der Gruppe, wobei sie sich häufig mit anderen Tierarten zusammentun. So findet man viele Delfinarten gemeinsam mit großen Thunfischen auf Jagdzügen, die großen Fischschwärmen folgen. Der Schwertwal (Orcinus orca) jagt in Schulen auch andere, sogar größere Wale. Buckelwale (Megaptera novaeangliae) bilden in Gemeinschaftsarbeit Blasenteppiche, mit denen sie Kleinfisch- und Krillschwärme eingrenzen und in denen sie dann mit geöffnetem Maul auftauchen.
=== Fortpflanzung und Entwicklung ===
Bei den meisten Walarten konnte man einen jahreszeitlichen Fortpflanzungszyklus feststellen, bei dem der Eisprung der Weibchen mit der Hauptaktivität der Hoden bei den Männchen zusammenfällt. Dieser Zyklus ist meistens mit saisonalen Wanderungen gekoppelt, die bei vielen Arten zu beobachten sind. Zur Paarung gehen die meisten Zahnwale keine festen Bindungen ein, bei vielen Arten haben auch die Weibchen mehrere Partner während einer Saison. Die Bartenwale gelten dagegen als weitgehend monogam innerhalb der einzelnen Fortpflanzungsperioden, dauerhafte Bindungen gehen sie jedoch ebenfalls nicht ein.
Die Tragezeit der Wale dauert zwischen neun und 16 Monate, wobei die Dauer nicht zwingend abhängig von der Größe ist. Schweinswale tragen ebenso wie die riesigen Blauwale etwa 11 Monate. Wale bringen in der Regel immer nur ein Junges zur Welt, bei Zwillingsgeburten stirbt meistens ein Jungtier, da die Mutter nicht genügend Milch für beide Jungtiere aufbringen kann. Die Geburt erfolgt bei den Zahnwalen meistens mit dem Schwanz voran, so dass die Gefahr des Ertrinkens für das Neugeborene minimal ist, bei den Bartenwalen mit dem Kopf voran. Nach dem Geburtsvorgang wird das Jungtier schnell zum ersten Atemzug zur Oberfläche transportiert, wobei bei vielen Arten mehrere Artgenossen als „Hebammen“ tätig werden. Die Jungtiere haben bei der Geburt etwa ein Drittel der Körpergröße der Erwachsenen und sind sehr schnell eigenständig aktiv, vergleichbar mit den Nestflüchtern oder Laufjungen der landlebenden Säuger. Beim Säugen spritzt die Walmutter die Milch aktiv mit Hilfe der Muskulatur der Milchdrüsen in das Maul des Jungen, da es keine Lippen zum Saugen hat. Diese Milch hat in der Regel einen sehr hohen Fettanteil von 16 bis 46 Prozent, wodurch die Jungtiere sehr rasch an Größe und Gewicht zunehmen.
Die Säugezeit ist meistens lang, sie beträgt bei vielen Kleinwalen etwa vier Monate und bei großen Arten häufig über ein Jahr, was mit einer engen Bindung der Mutter an ihre Nachkommen einhergeht. Für die Aufzucht der Jungtiere sind bei allen Walen allein die Muttertiere zuständig, bei einigen Walarten gibt es jedoch sogenannte „Tanten“, die die Jungtiere ebenfalls gelegentlich säugen. Die meisten Wale werden spät geschlechtsreif, typischerweise mit sieben bis zehn Jahren. Diese Fortpflanzungsstrategie erbringt wenige Nachkommen, die dafür eine hohe Überlebensrate haben. Auch hier gibt es sowohl schnellere Arten wie den La-Plata-Delfin, der bereits mit zwei Jahren geschlechtsreif ist, jedoch nur etwa 20 Jahre alt wird. Der Pottwal erreicht die Geschlechtsreife dagegen erst mit etwa 20 Jahren, kann dafür aber zwischen 50 und 100 Jahre alt werden.
=== Wanderung ===
Ein Grauwal, 2013 relativ ausgezehrt vor Namibia, Südwestafrika vorgefunden, stammt nach genetischer Untersuchung im Jahr 2021 aus einer Population im Nordpazifik. Mit demnach 27.000 km zurückgelegter Distanz (über die nun offene Arktis) hält er den Rekord eines im Wasser lebenden Wirbeltiers.
== Ökologie ==
=== Feinde ===
Neben dem Menschen haben die meisten Walarten aufgrund ihrer Größe nur sehr wenige natürliche Feinde. Besonders nennenswert sind an dieser Stelle nur größere Haie, die gelegentlich kleinere Walarten angreifen und töten, sowie andere, meist größere, Zahnwale. Beinahe berüchtigt ist in diesem Zusammenhang der Schwertwal, der neben Robben, Pinguinen und anderen Meerestieren auch fast alle anderen Kleinwale attackiert. In Schulen genannten Gruppen greifen Schwertwale auch große Bartenwale an, meist um ihre Jungtiere zu erbeuten.Der Mensch stellt noch immer die größte Bedrohung für Wale dar. Durch den Walfang, der mittlerweile nur noch in wenigen Ländern (darunter Japan, Island und Norwegen) praktiziert wird, wurden viele Arten fast ausgerottet. Doch auch die Verschmutzung der Meere, Mikroplastik, Temperaturanstieg des Meerwassers durch den Klimawandel, sowie Kollisionen mit Schiffen oder Tod als Beifang, sowie durch Geisternetze, dezimieren den Bestand der Wale.
=== Walkadaver als Lebensraum in der Tiefsee ===
Erzählungen über „Walfriedhöfe“, an denen sich die Überreste dutzender verendeter Wale angesammelt haben sollen, sind – ähnlich wie die Geschichten über „Elefantenfriedhöfe“ – wissenschaftlich nicht haltbar. Dennoch stellen sogenannte Walstürze – Walkadaver, die auf den Ozeanboden abgesunken sind – wichtige abgeschlossene Ökosysteme auf dem Meeresgrund der Tiefsee dar.
Möglicherweise sind schon der Aufprall der tonnenschweren Wale auf dem Meeresgrund und die sich dadurch ausbreitenden Druckwellen ein Signal für viele Tierarten, den Kadaver aufzusuchen. Zu den ersten Besuchern zählen Haie und Raubfische. Schleimaale finden den Weg entlang einer chemischen „Duftspur“, die durch Meeresströmungen verbreitet wird.
Die verwesende Karkasse eines Walsturzes kann jahrzehntelang von unterschiedlichen Tiefseebewohnern als Nahrungsquelle genutzt werden. Die Bewohner dieses speziellen Ökosystems wurden unter anderem von der Chinesische Akademie der Wissenschaften erforscht, die spezielle, evolutionäre Anpassung an die einzigartigen Lebensbedingungen feststellen konnten. Die Zersetzung von Fett und Fleisch der Wale kann mehrere Jahre dauern und wird von einer Abfolge verschiedener Lebensgemeinschaften begleitet. Dabei herrscht Arbeitsteilung; Fett und der Speck werden zum Beispiel überwiegend von Haien und anderen großen Fischen gefressen.Auch die fettreichen Knochen der Wale können noch mehrere Jahre lang als Energielieferanten dienen. Spezialisierte Mikroben, Bakterien und Archaeen, die mit Hilfe der durch die Verwesung entstehenden Schwefelwasserstoffe Chemosynthese in der lichtlosen Tiefsee betreiben können, sind dann die Basis für die Ernährung von Muscheln und Krebstieren.
Erst neuere, aufwändige Expeditionen mit Hilfe von Tiefsee-U-Booten ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen (ROVs), ermöglichten taxonomische und ökologische Forschungen an Walkadavern. Derzeit sind etwa dreißig Tierarten bekannt, die sich allem Anschein nach ausschließlich von Walkadavern ernähren. Dazu gehören unter anderem Ringelwürmer wie die Osedax-Arten.Im Jahr 2019 gelang es Forschern der Nautilusexpedition vor der Küste Kaliforniens den Walsturz eines Bartenwals zu filmen, der etwa 400 unterschiedlichen Arten als Nahrung diente. An dem relativ frischen Kadaver, der sich im über 3000 Metern Tiefe befand, wurden unter anderem Aalmuttern, Tintenfische, Krabben und Grenadierfische gefilmt. Aber auch Polychaetenwürmern, wie die roten Osedax-Würmer, die in der Lage sind die Knochen der Wale fressen und Tiefseeoktopusse (Bathypolypus arcticus, sowie Tiere der Gattung Muusoctopus) wurden am Walsturz beim Fressen gefilm.
=== Walkot als Lebensgrundlage für Kleinstlebewesen ===
Wale scheiden mit ihrem Kot wichtige Nährstoffe aus, von denen Pflanzen (insbesondere Kleinstlebenwesen wie das Phytoplankton) profitieren, die klimaschädliches CO2 aus der Atmosphäre filtern und binden. Neuen Erkenntnissen zufolge könnten Wale im Ozean sogar eine vergleichbare Bedeutung für den Klimaschutz haben, wie Bäume an Land. Walkot treibt an der Meeresoberfläche und enthält unter anderem Nährstoffe, wie Eisen und Stickstoff, freigesetzt. An manchen Orten könnte Walkot für bis zu 25 Prozent des Pflanzenwachstums verantwortlich sein.Da insbesondere die Großwale vom Menschen bis an den Rand der Ausrottung gebracht wurden, ist auch deutlich weniger von ihrem Kot vorhanden und fehlt zur Düngung des Phytoplanktons und zur CO2-Bindung. Aufgrund seiner ökologisch wertvollen Eigenschaften wird mittlerweile an der Herstellung von künstlichem Walkot geforscht, um so das Wachstum des Phytoplanktons künstlich anzuregen. Ein von David King angeführtes Team von Wissenschaftlern hat Anfang des Jahres 2022 angekündigt, erstmals im Indischen Ozean großflächig künstlichen Walkot aus leeren Reishüllen und Nährstoffen, wie Silikaten, Phosphaten und Eisen, einzusetzen.Künstlicher Walkot wäre als groß angelegtes Geoengineering-Projekt ein gezielter Eingriff in einen biogeochemischen Stoffkreislauf und wird daher kontrovers diskutiert, unter anderem weil ökologischen Folgen nicht in Vorfeld abschätzbar sind.
== Evolution der Wale ==
=== Verwandtschaftsverhältnisse und stammesgeschichtliche Entwicklung ===
Lange Zeit hatten Paläontologen wegen der ähnlichen Beschaffenheit von Schädel und Zähnen geglaubt, die Vorfahren der Wale seien die Mesonychia gewesen, eine Gruppe von fleischfressenden Huftieren mit umstrittener systematischer Stellung. Später kam es zu Studien auf den Gebieten Molekularbiologie und Immunologie, die nachwiesen, dass die Wale stammesgeschichtlich eng mit den Paarhufern (Artiodactyla) verwandt sind. Die Entwicklungslinie der Wale begann also im frühen Eozän, vor mehr als 50 Millionen Jahren, mit frühen Paarhufern.
Fossilfunde zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben dies bestätigt. Das auffälligste gemeinsame Merkmal von Walen und Paarhufern betrifft das Sprungbein (Astragalus), einen Knochen im oberen Sprunggelenk (Knöchel). Es ist bei den frühen Walen durch doppelte Gelenkrollen („Rollbein“) gekennzeichnet, ein anatomisches Merkmal, das sonst nur noch bei den Paarhufern in Erscheinung tritt. Entsprechende Funde liegen aus den früheozänen Ablagerungen des Tethysmeeres in Nordindien und Pakistan vor. Das Tethysmeer erstreckte sich während dieser Zeit als flaches Meer zwischen dem asiatischen Kontinent und der nordwärts strebenden Indischen Platte.
Den meisten molekularbiologischen Befunden zufolge sind die Flusspferde die nächsten lebenden Verwandten (Schwestergruppe) der Wale. Für diese Auffassung sprechen auch einige gemeinsame anatomische Merkmale, etwa Übereinstimmungen in der Morphologie der hinteren Backenzähne. Der Fossilbericht kann diese vermutete Verwandtschaft jedoch nicht untermauern, denn die ältesten bekannten Fossilbelege der Flusspferde reichen nur etwa 15 Millionen Jahre zurück. Die ältesten Walfossilien sind hingegen etwa 50 Millionen Jahre alt. Unter Einbeziehung der Anthracotheriidae als potentielle fossile Vorläufer und nahe Verwandte der Flusspferde verringert sich die zeitliche Lücke auf rund 10 Millionen Jahre.2007 erstellte eine Gruppe um den Paläontologen Hans Thewissen einen alternativen Stammbaum. Demnach waren die nächsten Verwandten der frühen Wale die Raoellidae, eine ausgestorbene Gruppe von Paarhufern. Beide Taxa bilden demzufolge gemeinsam die Schwestergruppe der übrigen Paarhufer einschließlich der Flusspferde:
Die vermutete nahe Verwandtschaft gründet sich Thewissen zufolge auf Merkmale des Raoelliden Indohyus. Dies sind vor allem der knöcherne Ring am Felsenbein (Bulla tympanica), dem Involucrum, ein Schädelmerkmal, das bislang nur von Walen bekannt war, sowie weiteren Merkmalen der Vorbackenzähne (Prämolare) und der Knochenstruktur.Mithilfe des Fossilberichts lässt sich der allmähliche Übergang vom Land- zum Wasserlebewesen nachvollziehen. Die Rückbildung der Hinterbeine gestattete der Wirbelsäule eine höhere Flexibilität. Dadurch wurde es möglich, dass Wale sich mit dem vertikalen Schwanzschlagen im Wasser fortbewegen. Die Vorderbeine wandelten sich zu Flossen um und verloren dabei ihre ursprüngliche Beweglichkeit.
Das Ohr der heutigen Wale ist nicht mehr nach außen geöffnet, die Nasenlöcher wanderten von der Kopfspitze nahe der Mundöffnung nach oben, so dass der Wal „im Vorüberschwimmen“ durch das dorsale Blasloch atmen kann. Während bei den Vorfahren der Wale auf dem Land die Zähne in Schneide-, Eck- und Backenzähne unterteilt sind, glichen sich die Zähne des Wals einander an, was das Fischfressen erleichtert (Übergang von der Heterodontie zur Homodontie). Eine besondere und relativ späte Entwicklung trat bei den Bartenwalen auf: Sie bekamen Barten, das sind Strukturen aus einem hornähnlichen Protein.
=== Übergang vom Land ins Meer ===
Anlass für den dramatischen Wechsel des Lebensraumes war zumindest teilweise der gravierende Klimawandel im Eozän. Der Temperaturanstieg verursachte Dürren. Daraus folgender Mangel an ausreichender Nahrung beeinträchtigte Pflanzenfresser und indirekt Fleischfresser. Durch die Erwärmung stieg der Wasserspiegel bis zu fünf Meter; die Meere boten Küstenbewohnern eine Ausweichmöglichkeit.
=== Übergangsformen ===
Einer der ältesten Vertreter der frühen Wale (Archaeoceti) war Pakicetus im Unteren Eozän vor annähernd 50 Millionen Jahren. Das etwa wolfsgroße Tier, dessen Skelett nur zum Teil bekannt ist, besaß (noch) funktionstüchtige Beine und lebte in Ufernähe. Auch sein gut ausgebildetes Rollbein lässt auf einen Archaeoceten schließen, der sich gut an Land fortbewegen konnte. Seine lange Schnauze weist eine ursprüngliche, carnivore Bezahnung auf. Dementsprechend wird Pakicetus in frühen Rekonstruktionsversuchen als ein amphibisch lebender Räuber dargestellt.
Als wichtigste Übergangsform vom Land- zum Meeresleben gilt der etwa 49 Millionen Jahre alte in Pakistan entdeckte Ambulocetus („laufender Wal“), der bis zu drei Meter lang wurde. Die Gliedmaßen dieses Archaeoceten waren an das Schwimmen angepasst, eine Fortbewegung an Land war aber noch möglich. Dort bewegte er sich in gebeugter Haltung und robbte wahrscheinlich wie ein Seehund. Seine Schnauze war langgestreckt mit weit oben liegenden Nasenlöchern und Augen. Der Schwanz der Tiere war sehr kräftig und unterstützte die Fortbewegung. Ambulocetus lebte in Mangrovenwäldern im Brackwasser und ernährte sich in der Uferzone als Beutegreifer von Fischen und anderen Wirbeltieren. Bereits wenig später hatten vierbeinige Wale Südamerika erreicht, wie der Fund eines Teilskeletts von Peregocetus aus der Paracas-Formation in Peru zeigt. Die Überreste deuten auf ein rund vier Meter langes Tier hin, welches amphibisch lebte. Sie datieren mit rund 42,6 Millionen Jahren in das Mittlere Eozän. Vermutlich erreichten die frühen Wale über Afrika kommend den südamerikanischen Kontinent. In Nordamerika tauchten Wale erstmals vor gut 41,2 Millionen Jahren auf.Aus der Zeit vor etwa 45 Millionen Jahren wurden weitere Arten wie Indocetus, Kutchicetus, Rodhocetus und Andrewsiphius entdeckt, die deutlich an das Leben im Wasser angepasst waren. Die Hinterbeine dieser Arten waren bereits stark zurückgebildet, und die Körperform erinnert an die der Robben. Rodhocetus, ein Vertreter der Protocetidae, wird als der erste „hochseetüchtige“ Wal angesehen. Sein Körper war stromlinienförmig und er hatte feingliedrige und verlängerte Hand- und Fußknochen entwickelt, zwischen denen wahrscheinlich eine Schwimmhaut gespannt war. Die bei Landsäugern im Bereich des Beckens verschmolzene Lendenwirbelsäule bestand bei ihm aus losen Einzelknochen, die eine Unterstützung der Schwimmbewegung des Rumpfes und Schwanzes ermöglichten. Daher war er ein guter Schwimmer, konnte sich an Land dagegen wahrscheinlich nur relativ schwerfällig bewegen.
=== Bewohner der Ozeane ===
Seit dem späten Eozän vor etwa 40 Millionen Jahren bevölkerten Walarten das Meer, die keine Verbindung zum Land mehr besaßen, wie beispielsweise der bis zu 18 Meter lange Basilosaurus (früher Zeuglodon genannt). Der Übergang vom Land zum Wasser war also innerhalb von etwa 10 Millionen Jahren abgeschlossen. Im ägyptischen Wadi al-Hitan („Tal der Wale“, auch „Wadi Zeuglodon“) sind zahlreiche Skelette von Basilosaurus und anderen marinen Landwirbeltieren erhalten.
Die direkten Vorfahren der heutigen Wale findet man wahrscheinlich innerhalb der Dorudontidae, deren bekanntester Vertreter Dorudon zur selben Zeit wie Basilosaurus lebte. Beide Gruppen hatten bereits das für die heutigen Wale typische Gehör entwickelt, das deutliche Anpassungen an ein Leben im Wasser zeigt wie die feste Bulla, die das Trommelfell der Landsäuger ersetzt, sowie schallleitende Elemente für das Richtungshören unter Wasser. Die Handgelenke dieser Tiere waren versteift und trugen wahrscheinlich bereits die für heutige Wale typischen Flipper. Die Hinterbeine waren ebenfalls noch vorhanden, jedoch deutlich verkleinert und mit einem verkümmerten Becken verbunden.
In der Folgezeit traten viele verschiedene Formen von Walen auf. Heute kennt man Fossilien von etwa 1000 Arten, die in der Mehrzahl verschwunden sind, aber deren Nachfahren heute alle Ozeane bevölkern.
== Systematik ==
Die Ordnung Cetacea wird klassisch in zwei Unterordnungen aufgeteilt:
Bartenwale (Mysticeti) verdanken ihren Namen den Barten, kammartigen, an den Enden aufgefaserten Hornplatten, mit denen die Wale Kleintiere wie Plankton aus dem Meerwasser filtern, indem sie eine große Menge Meerwasser ins Maul nehmen und es durch die Barten auspressen. Beim Grönlandwal können die Barten über vier Meter lang werden. Zu dieser Gruppe gehören die größten lebenden Tiere.
Zahnwale (Odontoceti), zu denen auch die Delfine zählen, haben eine Reihe kegelförmiger Zähne, in beiden Kiefern (beispielsweise Delfine) oder nur im Unterkiefer, beispielsweise beim Pottwal oder den Schnabelwalen. Zahnwale zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, ihre Umgebung mittels Echoortung wahrzunehmen.Während es bis in die 1970er Jahre noch Meinungen gab, dass Zahn- und Bartenwale sich aufgrund der Unterschiede im Körperbau, dem Schädel und auch der Lebensweise unabhängig voneinander entwickelt hätten, geht man heute von einem gemeinsamen Vorfahren aus und hält die Wale für monophyletisch. Für diese Annahme sprechen eine Reihe von neuen, gemeinsamen Merkmalen aller Wale (Synapomorphien), vor allem der typische Aufbau der Ohrkapsel und auch des Gehirns, sowie die Fossilfunde, die eine Rückführung aller heute lebenden Wale auf eine gemeinsame Stammgruppe zulassen.
Das folgende Kladogramm zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse der Stammgruppenvertreter der Wale und der ausgestorbenen Wale nach Gatesy et al. 2013:
Das folgende Kladogramm zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse der rezenten Wale nach McGowen et al. 2020:
Nach der klassischen Systematik werden die Wale (Cetacea) auf Artebene wie folgt klassifiziert:
Ordnung Wale (Cetacea)
Bartenwale (Mysticeti)
Glattwale (Balaenidae)
Balaena
Grönlandwal (Balaena mysticetus)
Eubalaena
Atlantischer Nordkaper (Eubalaena glacialis)
Pazifischer Nordkaper (Eubalaena japonica)
Südkaper (Eubalaena australis)
Neobalaenidae
Zwergglattwal (Caperea marginata)
Grauwale (Eschrichtiidae)
Grauwal (Eschrichtius robustus)
Furchenwale (Balaenopteridae)
Megaptera
Buckelwal (Megaptera novaeangliae)
Balaenoptera
Nördlicher Zwergwal (Balaenoptera acutorostrata)
Südlicher Zwergwal (Balaenoptera bonaerensis)
Finnwal (Balaenoptera physalus)
Blauwal (Balaenoptera musculus)
Brydewal (Balaenoptera edeni; Synonym B. brydei)
Seiwal (Balaenoptera borealis)
Omurawal (Balaenoptera omurai)
Rice-Brydewal (Balaenoptera ricei)
Zahnwale (Odontoceti)
Pottwale (Physeteridae, Physeter)
Pottwal (Physeter catodon)
Zwergpottwale (Kogiidae, Kogia)
Kleiner Pottwal (Kogia simus)
Zwergpottwal (Kogia breviceps)
Schnabelwale (Ziphiidae)
Zweizahnwale (Mesoplodon)
Peruanischer Schnabelwal (Mesoplodon peruvianus)
Hector-Schnabelwal (Mesoplodon hectori)
True-Wal (Mesoplodon mirus)
Gervais-Zweizahnwal (Mesoplodon europaeus)
Japanischer Schnabelwal (Mesoplodon ginkgodens)
Camperdown-Wal (Mesoplodon grayi)
Hubbs-Schnabelwal (Mesoplodon carlhubbsi)
Andrew-Schnabelwal (Mesoplodon bowdoini)
Stejneger-Schnabelwal (Mesoplodon stejnegeri)
Sowerby-Zweizahnwal (Mesoplodon bidens)
Bahamonde-Schnabelwal (Mesoplodon traversii)
Perrin-Schnabelwal (Mesoplodon perrini)
Layard-Wal (Mesoplodon layardii)
Blainville-Schnabelwal (Mesoplodon densirostris)
Deraniyagala-Zweizahnwal (Mesoplodon hotaula)
Entenwale (Hyperoodon)
Nördlicher Entenwal (Hyperoodon ampullatus)
Südlicher Entenwal (Hyperoodon planifrons)
Ziphius
Cuvier-Schnabelwal (Ziphius cavirostris)
Schwarzwale (Berardius)
Südlicher Schwarzwal (Berardius arnuxii)
Baird-Wal (Berardius bairdii)
Berardius minimus
Tasmacetus
Shepherd-Wal (Tasmacetus shepherdi)
Indopacetus
Longman-Schnabelwal (Indopacetus pacificus)
Gangesdelfine (Platanistidae, Platanista)
Gangesdelfin (Platanista gangetica)
Indusdelfin (Platanista minor)
Lipotidae
Chinesischer Flussdelfin (Lipotes vexillifer)
Pontoporiidae
La-Plata-Delfin (Pontoporia blainvillei)
Amazonas-Flussdelfine (Iniidae)
Amazonasdelfin (Inia geoffrensis)
Araguaia-Delfin (Inia araguaiaensis)
Bolivianischer Amazonasdelfin (Inia boliviensis)
Gründelwale (Monodontidae)
Weißwal (Delphinapterus leucas)
Narwal (Monodon monoceros)
Schweinswale (Phocoenidae)
Phocoena
Gewöhnlicher Schweinswal (Phocoena phocoena)
Kalifornischer Schweinswal (Phocoena sinus)
Burmeister-Schweinswal (Phocoena spinipinnis)
Brillenschweinswal (Phocaena dioptrica, Australophocaena dioptrica)
Glattschweinswale (Neophocaena)
Glattschweinswal (Neophocaena phocaenoides)
Östlicher Glattschweinswal (Neophocaena asiaeorientalis)
Phocoenoides
Weißflankenschweinswal (Phocoenoides dalli)
Delfine (Delphinidae)
Pseudorca
Kleiner Schwertwal (Pseudorca crassidens)
Orcinus
Schwertwal (Orcinus orca)
Delphinus
Gemeiner Delfin (Delphinus delphis)
Langschnäuziger Gemeiner Delfin (Delphinus capensis)
Tursiops
Indopazifischer Großer Tümmler (Tursiops aduncus)
Burrunan-Delfin (Tursiops australis)
Großer Tümmler (Tursiops truncatus)
Kurzschnauzendelfine (Lagenorhynchus)
Weißschnauzendelfin (Lagenorhynchus albirostris)
Weißseitendelfin (Lagenorhynchus acutus)
Weißstreifendelfin (Lagenorhynchus obliquidens)
Schwarzdelfin (Lagenorhynchus obscurus)
Peale-Delfin (Lagenorhynchus australis)
Stundenglasdelfin (Lagenorhynchus cruciger)
Steno
Rauzahndelfin (Steno bredanensis)
Glattdelfine (Lissodelphis)
Nördlicher Glattdelfin (Lissodelphis borealis)
Südlicher Glattdelfin (Lissodelphis peronii)
Lagenodelphis
Borneodelfin (Lagenodelphis hosei)
Fleckendelfine (Stenella)
Ostpazifischer Delfin (Stenella longirostris)
Clymene-Delfin (Stenella clymene)
Blau-Weißer Delfin (Stenella coeruleoalba)
Schlankdelfin (Stenella attenuata)
Zügeldelfin (Stenella frontalis)
Grindwale (Globicephala)
Gewöhnlicher Grindwal (Globicephala melas)
Kurzflossen-Grindwal (Globicephala macrorhynchus)
Grampus
Rundkopfdelfin (Grampus griseus)
Peponocephala
Breitschnabeldelfin (Peponocephala electra)
Feresa
Zwerggrindwal (Feresa attenuata)
Orcaella
Irawadidelfin (Orcaella brevirostris)
Australischer Stupsfinnendelfin (Orcaella heinsohni)
Schwarz-Weiß-Delfine (Cephalorhynchus)
Commerson-Delfin (Cephalorhynchus commersonii)
Weißbauchdelfin (Cephalorhynchus eutropia)
Heaviside-Delfin (Cephalorhynchus heavisidii)
Hector-Delfin (Cephalorhynchus hectori)
Sotalia
Sotalia (Sotalia fluviatilis)
Sousa
Kamerunflussdelfin (Sousa teuszii)
Chinesischer Weißer Delfin (Sousa chinensis)
Bleifarbener Delfin (Sousa plumbea)
Australischer Buckeldelfin (Sousa sahulensis)Dreizehn Walarten werden als Großwale bezeichnet. Dies ist jedoch keine systematische Kategorie, sondern eine zusammenfassende Bezeichnung für die Kolosse der verschiedenen Walfamilien.
In dem Artikel Systematik der Wale befindet sich ein Vergleich des Verbreitungsgebietes, der Häufigkeit und Bedrohung, sowie der Größe der verschiedenen Spezies.
== Walstrandungen ==
== Menschen und Wale ==
=== Etymologie ===
Der Ursprung des deutschen Wortes „Wal“ lässt sich eindeutig bis ins Urgermanische zurückverfolgen, dessen Tochtersprachen die Bezeichnung (niederländisch walvis, englisch whale, schwedisch val, isländisch hvalur) aus der germanischen Wurzel *hwalaz ableiten, auf der auch das Wort „Wels“ beruht. Namen für Meeres- und Seetiere sind innerhalb der indogermanischen Sprachen schwer vergleichbar. Vermutet wird derweil eine Verbindung zum romanischen (lateinisch squalus „Meersaufisch“) oder baltischen Zweig (altpreußisch kalis „Wels“). Möglich ist allerdings auch, dass es sich um eine Entlehnung aus einer nicht-indogermanischen Sprache zu (früh-)germanischer Zeit handelt.Das Wort „Walfisch“ ist im Althochdeutschen nachgewiesen und wird im Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen gebräuchlich. Grimms Wörterbuch interpretiert es als „verdeutlichende Zusammensetzung“ (gegenüber dem älteren und damals in seiner Bedeutung wohl nicht mehr klar verständlichen Wort „Wal“).Der Ordnungsname Cetacea leitet sich vom lateinischen cetus „Wal“ (von altgriechisch κῆτος kêtos „großer Fisch, Seeungeheuer“) und dem lateinischen Suffix -acea ab.
=== Forschungsgeschichte ===
In der Antike waren Wale durch Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) den Fischen zugeordnet aufgrund ihrer äußeren Erscheinungsform, obgleich Aristoteles bereits viele physiologisch-anatomische Ähnlichkeiten mit den Landwirbeltieren feststellen konnte wie Blut(kreislauf), Lungen, Gebärmutter und Flossenanatomie. Seine detaillierten Beschreibungen wurden von den Römern zwar übernommen, aber inhaltlich mit den Erkenntnissen über die Delfine vermischt. Hier ist vor allem Plinius der Ältere zu nennen, der eine umfassende Naturgeschichte verfasste. Auch in der Kunst dieser und nachfolgender Zeiten findet sich diese Vermischung wieder, so wurden Delfine seitdem mit einem hochgewölbten, für Schweinswale typischen Kopf und einer langen, für Delfine typischen Schnauze dargestellt. Der Schweinswal stellt neben den Delfinen einen der am frühesten für die Forschung zugänglichen Wale dar, da er als Bewohner der flachen Küstenbereiche Europas auch vom Land aus beobachtet werden konnte. Ein großer Teil der Erkenntnisse, die für die Gesamtheit der Wale bzw. der Zahnwale gelten, wurden erstmals an Schweinswalen gewonnen. Eine der ersten anatomischen Beschreibungen der Atemwege der Wale anhand eines Schweinswals stammt aus dem Jahr 1671 von John Ray, der den Schweinswal dennoch den Fischen zuordnete, wie seit Aristoteles üblich.
John Ray vollzog 1693 erstmals die Trennung in die Unterordnungen der Bartenwale und Zahnwale. Erst Carl von Linné ordnete 1758 mit dem Schweinswal erstmals einen Wal den Säugetieren zu.
=== Gefährdung ===
Die Gefährdung der Wale geht bis auf wenige Ausnahmen direkt vom Menschen aus. Die Bedrohungen durch den Menschen lassen sich unterteilen in die direkte Bejagung durch den Walfang sowie die indirekten Gefahren wie die Fischerei und die Umweltbelastung.
==== Walfang ====
Im Mittelalter waren die Gründe für den Walfang die enormen Mengen Fleisch, der als Brennstoff verwertbare Waltran und die Kieferknochen, die man im Hausbau verwendete. Am Ende des Mittelalters fuhren bereits ganze Flotten aus, um die großen Wale, mehrheitlich Glattwale wie den Grönlandwal, zu jagen. Die niederländische Flotte besaß beispielsweise im 16. und 17. Jahrhundert etwa 300 Walfangschiffe mit 18.000 Männern Besatzung.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurden vor allem Bartenwale bejagt, um den Bedarf der Korsett- und Reifrockhersteller an Fischbein zu decken. Außerdem diente das Spermaceti der Pottwale als Schmiermittel für Maschinen und das Ambra als Grundstoff für die Pharmaindustrie und zur Parfumherstellung. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sprengharpune erfunden und eingesetzt wurde, kam es zu einem massiven Ansteigen der erlegten Wale.
Große Schiffe wurden zu Mutterschiffen für die Walverarbeitung ausgebaut und von Fangflotten mit Dampfantrieb beliefert. Ungefähr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten Wale eine sehr große Bedeutung als Rohstofflieferant für die Industrie. In dieser Zeit wurde intensiv gejagt, in den 1930er Jahren wurden jedes Jahr über 30.000 Wale getötet. Eine weitere Steigerung auf über 40.000 Tiere pro Jahr erfolgte bis in die 1960er Jahre, wodurch vor allem die Bestände der großen Bartenwalarten zusammenbrachen.
Die meisten bejagten Walarten sind heute in ihrem Bestand bedroht. Bei einigen Großwalarten wurden die Populationen bis an den Rand der Ausrottung ausgebeutet. Heute sind sie stark dezimiert, da ein Zuwachs nur langsam möglich ist. Vollständig ausgerottet wurden bereits der atlantische und der koreanische Grauwal, beim Atlantischen Nordkaper rechnet man heute noch mit etwa 300 bis 600 Tieren, der Blauwalbestand beträgt wahrscheinlich maximal 14.000 Tiere.
Die ersten Bestrebungen zum Schutz der Wale wurden 1931 beschlossen. Dabei wurden besonders bedrohte Arten wie etwa der Buckelwal, der damals noch etwa 100 Tiere zählte, unter internationalen Schutz gestellt, außerdem wurden erste Schutzzonen eingerichtet. 1946 wurde die Internationale Walfangkommission gegründet, die die Bestände der Wale kontrollieren und sichern sollte. Das Töten von Walen zu kommerziellen Zwecken wurde durch diese Organisation 1985 weltweit bis zum Jahr 2005 verboten. Allerdings werden auch heute noch Wale gejagt. Vor allem japanische Walfangschiffe jagen Wale verschiedener Arten zu vorgeblich wissenschaftlichen Zwecken. Grönland und einigen indigenen Völkern der Welt ist der Walfang aus traditionellen Gründen und um ihr Überleben zu sichern erlaubt. Island und Norwegen erkennen das Verbot nicht an und betreiben einen offenen kommerziellen Walfang.
==== Fischerei ====
Auch die für den Walfang uninteressanten Kleinwale – vor allem einige Delfinarten – sind teilweise stark dezimiert. Sie fallen sehr häufig der Thunfischfischerei zum Opfer, weil sie sich oft in der Nähe von Thunfischschwärmen aufhalten. Dies ist auch den Fischern bekannt, weshalb sie oft nach Delfinen Ausschau halten, um Thunfische zu fangen. Delfine sind wesentlich leichter auszumachen als Thunfische, da sie regelmäßig an der Oberfläche Luft holen müssen. Die Fischer ziehen mit ihren Netzen hunderte Meter große Kreise um die Delfingruppen herum, in der Erwartung, dass sie auch einen Thunfischschwarm einschließen. Die Netze werden zusammengezogen, die Delfine verfangen sich unter Wasser und ertrinken. Besonders für Flussdelfine stellt zudem die Leinenfischerei in größeren Flüssen eine Gefahr dar.
Eine weit größere Bedrohung als durch den Beifang erwächst Kleinwalen allerdings aus der gezielten Bejagung. Im südostasiatischen Raum werden sie in ärmeren Ländern als Fisch-Ersatz an die einheimische Bevölkerung verkauft, da die eigentlichen Speisefische der Region im Export höhere Einnahmen versprechen. Im Mittelmeer werden Kleinwale als Nahrungskonkurrenten verfolgt: Da der Stoffwechsel der Meeressäuger einen ungleich höheren Energiebedarf als bei Raubfischen zur Folge hat, werden sie gezielt vernichtet, um die Bestände der Speisefische nicht mit ihnen teilen zu müssen.
==== Umweltgefahren ====
Die zunehmende Meeresverschmutzung stellt auch für die Meeressäuger ein ernst zu nehmendes Problem dar. Schwermetalle, Reste vieler Pflanzen- und Insektengifte sowie Plastikmüll-Treibgut sind biologisch nicht abbaubar. Bei der Nahrungsaufnahme direkt oder über die Meerespflanzen und Beutetiere gelangen sie dann in den Körper der Wale. In der Folge werden die Tiere anfälliger gegenüber Krankheiten und bekommen weniger Nachwuchs.
Auch die Zerstörung der Ozonschicht wirkt sich auf die Wale aus, denn Plankton reagiert sehr empfindlich auf Strahlung und vermehrt sich weniger stark. Dadurch schrumpft das Nahrungsangebot für viele Meerestiere, besonders betroffen sind aber die Bartenwale. Auch das Nekton wird, neben der intensiven Befischung, durch die intensivere UV-Einstrahlung geschädigt und ist als Futterquelle quantitativ und qualitativ eingeschränkt.
Ähnliche Auswirkungen kann zumindest längerfristig eine Übersäuerung der Ozeane durch vermehrte Aufnahme von Kohlenstoffdioxid (CO2) darstellen, ein Effekt, welcher der globalen Erwärmung entgegenwirkt, da er der sich erwärmenden Atmosphäre wieder Kohlenstoff abnimmt. CO2 reagiert mit dem Wasser zu Kohlensäure. Das saure Wasser stört den Bau der Kalkskelette verschiedener Algen und Kleinstlebewesen. Von diesem Plankton sind wiederum Wale abhängig, da es für viele Arten die Hauptnahrungsquelle darstellt.
Vor allem das Militär bedient sich starker Sonare, die Erdölindustrie und der Meeresbergbau auch künstlichen seismischen Quellen (sog. Airguns), starken Pumpen und Sprengungen, woraus zusammen mit dem allgemeinen Schiffsverkehr in zunehmendem Maße Lärm in den Ozeanen resultiert. Meeressäuger, die Biosonare zur Orientierung und Kommunikation verwenden, werden dadurch nicht nur behindert, sondern regelmäßig auch zu panischem Auftauchen veranlasst. Dabei kommt es zum Ausperlen von im Blut gebundenen Gasen, woran das Tier dann verendet, da die Gefäße blockiert sind, sogenannte Dekompressions-Unfälle (beim Menschen als „schwerer Tauchunfall“ bekannt). Auch beim Kontakt mit Schiffsschrauben kommt es immer wieder zu schweren Verletzungen.Nach Marineübungen mit Sonareinsatz werden regelmäßig verendete Wale angespült, die Gasblasen in den Gefäßen haben. Der Schall reicht sehr weit und entfaltet seine verhängnisvolle Wirkung noch in über hundert Kilometern Umkreis. Abhängig von den eingesetzten Frequenzen sind unterschiedliche Arten stärker oder weniger betroffen. Es wird die Forderung erhoben, dass vor entsprechenden ausgedehnten Einsätzen von Sonartechnik zunächst, gegebenenfalls ebenfalls mit Sonar, ausgeschlossen werden muss, dass sich viele Meeressäuger in der Umgebung befinden.
=== Kulturelle Bedeutung ===
Wale spielen in der Kultur von Bewohnern meeresnaher Gebiete und Inseln eine große Rolle. Dabei sind es vor allem Kleinwale wie die Delfine und Schweinswale, die intensiver beobachtet werden konnten und somit in die Mythologie dieser Völker eingehen konnten. Großwale waren dagegen vor allem bekannt durch Walstrandung (besonders Pottwale) oder sie wurden von Seefahrern beschrieben.
==== Vorzeit ====
Felszeichnungen aus der Steinzeit, wie sie etwa in Roddoy und Reppa (Norwegen) gefunden wurden, zeigen, dass die Tiere auch frühen Kulturen bekannt waren. Wal-Knochen wurden zu zahlreichen Zwecken verwendet. In der neolithischen Siedlung Skara Brae auf Orkney fertigte man aus Wirbeln Kochtöpfe. Manche der Gefäße enthalten Farbspuren, Childe deutet sie als Farbeimer. Aus Foshigarry in Schottland stammt eine Schale aus Walknochen.
==== Altertum ====
Bei den antiken Griechen wurde der Wal bereits von Homer erstmals erwähnt. Hier wird er kétos genannt, ein Begriff, der zunächst alle großen Meerestiere beinhaltete. Von diesem leitete sich auch die lateinische Bezeichnung der Römer für Wal, cetus, ab. Andere Bezeichnungen waren phálaina (Aristoteles, lateinische Form ballaena) für das weibliche und, mit ironischem Duktus, musculus (Mäuschen) für das männliche Tier. Nordseewale wurde physetér genannt, wobei möglicherweise damit speziell der Pottwal (heute Physeter catodon) gemeint war. Besonders ausführlich werden Wale bei Aristoteles, Plinius und Ambrosius beschrieben. Alle erwähnen sowohl die Viviparie als auch die Säugung der Jungtiere. Plinius beschreibt die mit den Lungen verbundenen Spritzröhren, und Ambrosius behauptet sogar, Wale nähmen ihre Jungtiere zum Schutz ins Maul. Bartenwale sind offenbar nur Aristoteles bekannt.
Mythologisch kann man Wale aufgrund der Gleichsetzung mit anderen großen Meerestieren und Untieren schlecht nachweisen. Anzunehmen ist jedoch, dass das Ungeheuer, dem die eitle Kassiopeia im Auftrag des Meeresgottes Poseidon ihre Tochter Andromeda opfern sollte, die schließlich vom Helden Perseus gerettet wurde, ein Wal war.
In der Bibel spielt vor allem der Leviathan als Meeresungeheuer eine Rolle. Das Wesen vereint Züge eines riesigen Krokodils oder eines Drachen und eines Wales, wurde laut Ps 104,26 von Gott erschaffen und soll auch wieder von ihm zerstört werden (Ps 74,14 ; Jes 27,1 ). Im Buch Ijob wird der Leviathan detaillierter beschrieben (Ijob 40,25 –41,26).
Eindeutiger als Wal erkennbar ist dagegen die Beschreibung des Propheten Jona, der auf seiner Flucht vor der göttlichen Aufgabe, der Stadt Ninive den Untergang zu prophezeien, von einem Wal verschluckt und am Strand ausgespien wird (Jona 2,1-11 ).
Weitaus häufiger als von Großwalen ist in der Antike von Delfinen die Rede. Aristoteles widmet den heiligen Tieren der Griechen in seiner historia animalium einen größeren Raum und geht ausführlich auf ihre Rolle als Wassertiere ein. Die Griechen bewunderten den Delfin als „König der Wassertiere“ und bezeichneten ihn irrtümlicherweise als Fisch. Gerühmt werden seine Schnelligkeit, seine Sprünge, seine Intelligenz und seine geringe Menschenscheu. Sein geistiges Vermögen wird sowohl durch seine Fähigkeit, aus den Fangnetzen von Fischern entkommen zu können als auch bei seiner Zusammenarbeit mit Fischern beim Fischfang wahrgenommen.
Flussdelfine sind aus dem Ganges und – mit hoher Wahrscheinlichkeit fälschlicherweise – dem Nil bekannt. Bei Letzteren erfolgte offenbar eine Gleichsetzung mit Haien und Welsen. Angeblich griffen sie dort sogar Krokodile an. Im Schwarzen Meer jagten die Thraker Delphine, um sie zu essen und Tran aus ihnen herzustellen.
In der Mythologie der Griechen nehmen Delfine einigen Raum ein. Aufgrund ihrer Intelligenz retteten sie mehrfach Menschen vor dem Ertrinken. Da man ihnen eine besondere Liebe für Musik nachsagte – wohl nicht zuletzt wegen ihres eigenen Gesanges – retteten sie in den Legenden sehr oft berühmte Sänger wie Arion von Lesbos aus Methymna oder Kairanos aus Milet. Ebenso bekannt waren sie für ihre Anhänglichkeit an schöne Knaben, mit denen sie zum Teil sogar in den Tod gingen. Aufgrund der geistigen Fähigkeiten hielt man Delfine für vom Gott Dionysos verzauberte Menschen.
Delfine gehörten zum Gefolge des Poseidon und führten diesem auch seine Gattin Amphitrite zu. Doch werden Delphine auch mit anderen Göttern, beispielsweise Apollon, Dionysos und Aphrodite in Verbindung gebracht. Die Griechen würdigten sowohl den Wal als auch den Delphin mit einem eigenen Sternbild. Das Sternbild des Wals (Kétos, lat. Cetus) befindet sich südlich, das Sternbild des Delphins (Delphís, lat. Delphinus) nördlich des Tierkreises.
In der antiken Kunst gibt es häufig Delfindarstellungen. Schon bei den kretischen Minoern wurden sie dargestellt. Später fand man sie häufig auf Reliefs, Gemmen, Lampen, Münzen, Mosaiken, Grabsteinen usw. Eine besonders beliebte Darstellung ist die des auf einem Delphin reitenden Arion oder auch des Taras. Auch in der frühchristlichen Kunst ist der Delphin ein beliebtes Motiv, nicht zuletzt, da er neben dem Fisch teilweise als Symbol für Christus verwendet wurde.
==== Mittelalter bis 19. Jahrhundert ====
Der irische Mönch St. Brendan der Reisende beschrieb in seiner Reiseerzählung Navigatio Sancti Brendani eine Begegnung mit einem Wal, die er in den Jahren zwischen 565 und 573 gemacht haben soll. Dort schilderte er, wie er und seine Begleiter eine baumlose Insel betraten, die sich in der Folge als riesiger Wal herausstellte, den er Jasconicus nannte. Diesen Wal trafen sie sieben Jahre später erneut und ruhten auf seinem Rücken aus.
Die meisten Beschreibungen großer Wale aus der Zeit bis zum Walfangzeitalter ab dem 17. Jahrhundert stammten allerdings von gestrandeten Walen, die durch ihre Leibesfülle und ihr Aussehen keinem anderen bekannten Tier glichen. Dies traf insbesondere für den Pottwal zu, der sehr häufig auch in größeren Gruppen strandet. So strandeten – nach einer Auswertung alter Unterlagen von Raymond Gilmore aus dem Jahre 1959 – um 1723 17 Pottwale in der Mündung der Elbe und 1784 31 Tiere an der Küste Großbritanniens. 1827 trieb ein Blauwal mit einer Länge von 28,5 Metern vor der Küste von Ostende, der skelettiert über sieben Jahre lang durch Europa geschickt wurde. Während dieser Zeit wurden weltweit auch andere Wale gezeigt und lockten als Attraktionen von Museen und Wanderausstellungen Besucher an.
Vor allem die Matrosen der Walfangflotten des 17. bis 19. Jahrhunderts lieferten konkretere und anschaulichere Darstellungen der freilebenden Wale und die Geschichten von Walbeobachtungen führten zu Geschichten, die zu einem großen Teil dem Seemannsgarn zugeordnet werden können. Obwohl ihnen mittlerweile bekannt war, dass die meisten Wale harmlose Riesen darstellen, beschrieben sie vor allem den Kampf mit den harpunierten Tieren als Gemetzel. Mit der Intensivierung des Walfangs mehrten sich auch die Beschreibungen von Meeresungeheuern, zu denen neben riesigen Walen auch Haie, Seeschlangen sowie Riesenkalmare und -oktopusse gehörten.
Zu den ersten Walfängern, die ihre Erlebnisse auf den Walfangreisen beschrieben, gehörte der britische Kapitän Wilhelm Scoresby, der 1820 das Buch Northern Whale Fishery veröffentlichte und darin die Jagd auf die großen Bartenwale der nördlichen Meere beschrieb. 1835 folgten Thomas Beale, ein britischer Chirurg, mit dem Buch Einige Beobachtungen zur Naturgeschichte des Pottwals und 1840 Frederick Debell Bennett mit der Erzählung von einer Waljagd…. Auch in die erzählende Literatur und der Malerei fanden die Wale Eingang, vor allem in die Romane Moby-Dick von Herman Melville und 20.000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne. In dem 1882 erschienenen Kinderbuch Abenteuer des Pinocchio von Carlo Collodi kommt allerdings kein Wal vor, obwohl dies gemeinhin angenommen wird. Die Holzfigur Pinocchio und ihr Erschaffer Geppetto wurden in der Romanvorlage von einem Hai verschlungen. In Otto Julius Bierbaums 1905 erschienen, freien Nacherzählung der Pinocchio-Geschichte, Zäpfel Kerns Abenteuer, werden die Marionette Zäpfel Kern und ihr Vater Pflaume hingegen von einem Wal verschlungen. Erst im 1940 erschienenen Pinocchio-Film der Walt-Disney-Studios wurde auch der Hai der Pinocchio-Geschichte zu einem riesigen, bösartigen Wal.
Auch in historischer Zeit wurden Walknochen als Rohmaterial genutzt. Teilweise bestanden nur einzelne Gefäßbestandteile aus Walknochen, wie der Boden eines Eimers im Schottischen Nationalmuseum Edinburgh. Aus Howmae stammt ein Stuhlsitz aus Walbein.
In der Wikingerzeit wurden verzierte Platten aus Walknochen angefertigt, die manchmal als Bügelbretter gedeutet werden.
In der Kanadischen Arktis (Ostküste) wurden Pottwalknochen in der Punuk- und Thule-Kultur (1000–1600 n. Chr.) zur Haus-Konstruktion genutzt. Sie dienten mangels Holz als Dachstütze der Winterhäuser, die halb in die Erde eingetieft waren. Das eigentliche Dach bestand vermutlich aus Fellen, die mit Erde und Moos abgedeckt wurden.
==== Moderne Kultur ====
Anders als in den vergangenen Jahrhunderten wurden Wale im 20. Jahrhundert nicht mehr als Meeresungeheuer und gefährliche Bestien betrachtet. Mit ihrer zunehmenden Erforschung galten sie nach und nach immer mehr als intelligente und friedfertige Tiere, die von Menschen grundlos gejagt und getötet werden. Vor allen anderen erhielten insbesondere die Delfine diese Rolle, welche sich auch in Filmen und Romanen der 1960er bis 1990er Jahre widerspiegelt. So wurde etwa die Hauptfigur der Serie Flipper, ein Großer Tümmler, ab dem Jahr 1962 neben anderen tierischen Helden wie Rin Tin Tin, Lassie und Fury zu einem Sinnbild tierischer Intelligenz. Dieses Motiv wurde auch in der Serie SeaQuest DSV (1993–1996), dem Walt-Disney-Film Free Willy – Ruf der Freiheit (1993) und der Buchreihe Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams sowie in vielen weiteren Filmen und Büchern aufgegriffen.
Das Ansehen der Großwale, bis dahin vor allem durch die Moby-Dick-Verfilmungen geprägt, wandelte sich ebenfalls drastisch. Die Tiere gelten seit dem 20. Jahrhundert teilweise sehr verklärt als „sanfte Giganten“, die friedfertig durch die Meere ziehen. Vor allem die Erforschung des Walgesangs führte zudem zu einer immer stärker werdenden Positionierung im Bereich der Esoterik, die sich der Gesänge bis heute als entspannende Meditationsmusik bedient. Im Film Star Trek IV: Zurück in die Gegenwart stellen Buckelwale mit ihrem Gesang die einzige Rettung für die Menschheit dar. Der Asteroid (2089) Cetacea wurde nach der wissenschaftlichen Bezeichnung der Wale benannt.
== Tonaufnahmen ==
== Siehe auch ==
Systematik der Wale, Artikel enthält eine detaillierte Liste aller Wale mit weiteren Informationen
== Literatur ==
Nigel Bonner: Whales of the World. Octopus Publishing, Blandfort 2002, ISBN 0-7137-2369-6 (nicht-technisches, informatives Buch).
T. Cahill: Dolphins. National Geographic, Washington DC 2003, ISBN 0-7922-3372-7 (Prachtbildband).
M. Carwardine: Wale und Delfine in europäischen Gewässern. Beobachten – Bestimmen – Erleben Delius Klasing, Bielefeld 2003, ISBN 3-7688-1456-4.
M. Carwardine: Delphine – Biologie, Verbreitung, Beobachtung in freier Wildbahn. Naturbuch Verlag, Augsburg 1996, ISBN 3-89440-226-1.
M. Carwardine, E. Hoyt, R. E. Fordyce, P. Gill: Whales & Dolphins – the ultimate guide to marine mammals. HarperCollins, London 1998, ISBN 0-00-220105-4 (umfangreicher Bildführer).
P. Clapham: Whales. World Life Library. Colin Baxter Photography, Grantown-on-Spey 2001, ISBN 1-84107-095-5.
A. Coenen: The whale book, whales and other marine animals as described by Adriaen Coenen in 1585. Reaktion Books, London 2003, ISBN 1-86189-174-1 (Auszug aus Coenens Manuskripten mit farbgetreu wiedergegebenen Original-Illustrationen (erste illustrierte Wal-Darstellung Europas) mit Übersetzung in modernes Englisch und Kommentar zu Meeresbiologie und geschichtl. Hintergrund Coenens).
Ralf Kiefner: Wale und Delfine weltweit. Pazifischer Ozean, Indischer Ozean, Rotes Meer, Atlantischer Ozean, Karibik, Arktis, Antarktis. Jahr Top Special, Hamburg 2002, ISBN 3-86132-620-5 (Führer der Zeitschrift „tauchen“, sehr detailliert).
C. C. Kinze: Photographic Guide to the Marine Mammals of the North Atlantic. University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-852625-3 (wissenschaftlich orientierter Führer).
J. Mann, R. C. Connor, P. L Tyack, H. Whitehead (Hrsg.): Cetacean Societies – Field Studies of Dolphins and Whales. University of Chicago Press, Chicago 2000, ISBN 0-226-50340-2.
T. Martin: Whales, Dolphins & Porpoises. World Life Library. Colin Baxter Photography, Grantown-on-Spey 2003, ISBN 1-84107-173-0.
T. Nakamura: Dolphins. Chronicle Books, San Francisco Ca 1997, ISBN 0-8118-1621-4 (Fotoband).
J. Niethammer, F. Krapp (Hrsg.): Handbuch der Säugetiere Europas. Band 6: Meeressäuger. Teil 1B: Wale und Delphine. 1. AULA, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-559-X (sehr detailliertes Fachbuch).
R. M. Nowak: Walker’s Marine Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2003, ISBN 0-8018-7343-6 (Auszug aus dem Gesamtwerk).
R. R. Reeves, B. S. Stewart, P. J. Clapham, J. A. Powell: Sea Mammals of the World – a complete Guide to Whales, Dolphins, Seals, Sea Lions and Sea Cows. A&C Black, London 2002, ISBN 0-7136-6334-0 (Führer mit zahlreichen Bildern).
Gérard Soury: Das große Buch der Delphine. Delius Klasing, Bielefeld 1997, ISBN 3-7688-1063-1 (detailreicher Bildband).
B. Wilson: Dolphins. World Life Library. Colin Baxter Photography, Grantown-on-Spey 2002, ISBN 1-84107-163-3 (Meeresbiologisch, persönlich geprägt, zahlreiche Bilder, auch Flussdelfine).
M. Würtz, N. Repetto: Underwater world. Dolphins and Whales. White Star Guides, Vercelli 2003, ISBN 88-8095-943-3 (Bestimmungsbuch).
== Weblinks ==
Wale und Delphine
Die Welt der Wale und Delfine
Wale, Delfine und Menschen
== Einzelnachweise ==
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Wale |
Gepard | = Gepard =
Der Gepard [ˈgeːpart/geˈpart] (Acinonyx jubatus) ist ein hauptsächlich in Afrika verbreitetes Raubtier, das zur Familie der Katzen gehört. Die in ihrem Jagdverhalten hoch spezialisierten Geparde sind die schnellsten Landtiere der Welt. Damit verbunden gibt es in Gestalt und Körperbau deutliche Unterschiede zu anderen Katzenarten, weshalb dem Gepard traditionell eine Sonderstellung in der Verwandtschaft eingeräumt wurde. Genetische Untersuchungen zeigten jedoch, dass sie entwicklungsgeschichtlich nicht gerechtfertigt ist; die nächsten Verwandten des Gepards sind amerikanische Katzen (Puma und Jaguarundi).
== Wortherkunft ==
Das Wort Gepard stammt über das französische guépard vom italienischen gattopardo ab, das sich aus gatto für ‚Katze‘ und pardo für ‚Panther‘ zusammensetzt.Der Gattungsname Acinonyx wiederum besteht aus den griechischen Wörtern ἀκίνητος akínetos, deutsch ‚unbeweglich‘ und ὄνυξ ónyx, deutsch ‚Kralle‘. Der Artname jubatus (deutsche Schreibweise) stammt von lateinisch iubatus ‚mit Mähne‘.
== Merkmale ==
Das Gepardfell hat eine goldgelbe Grundfarbe, wobei die Bauchseite meist deutlich heller ist. Es ist mit schwarzen Flecken übersät, die auffallend kleiner sind als die eines Leoparden und keine Rosetten bilden. Das Gesicht ist dunkler und ungefleckt, trägt aber zwei schwarze Streifen, die von den Augen zu den Mundwinkeln laufen (Tränenstreifen).
In Bezug auf die Fleckung ähnelt der Gepard zwar dem Leoparden, in seiner Gestalt unterscheidet er sich jedoch beträchtlich von ihm wie auch von allen anderen Katzen. Geparde haben extrem lange, dünne Beine und einen sehr schlanken Körper, der dem eines Windhundes sehr ähnelt. Der Kopf ist klein und rund, der Schwanz lang. Die Pfoten tragen dicke, schuppige Sohlen; die Krallen sind nur bedingt einziehbar (daher der Gattungsname). Aufgrund seines Körperbaus ist der Gepard das schnellste Landtier der Welt. Es werden Spitzengeschwindigkeiten jenseits der 100 km/h angenommen. Während der Jagd durch Vegetation wurden Geschwindigkeiten bis 93 km/h nachweisbar gemessen, Er kann diese hohe Geschwindigkeit aber nur etwa ein bis zwei Sekunden durchhalten. Die durchschnittliche Jagdgeschwindigkeit des Gepards liegt mit rund 53 km/h deutlich darunter, was mit dem Aufrechterhalt einer möglichst hohen Manövrierfähigkeit und der Motivation erklärt wird. Die Anatomie des Gepards ist auch in weiteren Punkten auf Schnelligkeit ausgelegt: seine Nasengänge sind erheblich verbreitert, so dass wenig Platz für das Gebiss bleibt, das gegenüber anderen Katzen stark verkleinert und damit eine relativ schwache Waffe ist. Auch Lungen, Bronchien und Nebennieren sind proportional stark vergrößert.
Ein Gepard erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 150 cm, hinzu kommen 70 cm Schwanz. Die Schulterhöhe beträgt 80 cm. Trotz dieser stattlichen Größe bringt er es nur auf ein Gewicht von 60 kg.
Nach neueren Untersuchungen gibt es nur zwei Unterarten oder gar nur zwei Populationen, nämlich den Afrikanischen und den Asiatischen Gepard. Zugleich stellte man eine auffällig niedrige genetische Variabilität mit Inzuchtraten fest, die beinahe denen von Labormäusen entsprechen; demzufolge vermutete man, die Geparde könnten auch gegenüber Krankheiten und Umweltveränderungen anfällig sein. Es ist jedoch noch nicht geklärt, ob diese genetische Einförmigkeit in freier Wildbahn einen wesentlichen Nachteil für die Tiere bedeutet.
Als weitgehend gesichert gilt, dass man ohne Abstoßungsreaktion Gewebe unter Geparden übertragen kann – etwas, das sonst nur bei genetischer Identität für möglich gehalten wurde (→ eineiige Zwillinge). Durch genetische und immunologische Untersuchungen konnte ermittelt werden, dass die heutigen Geparde Süd- und Ostafrikas wahrscheinlich alle von einer sehr kleinen Stammgruppe abstammen (→ genetischer Flaschenhals), die vor etwa 10.000 Jahren gelebt hat. Damals starb der Amerikanische Gepard aus, und der Gewöhnliche Gepard entging offenbar nur knapp diesem Schicksal. Er breitete sich danach in den Savannen Afrikas und Asiens wieder aus (→ Purging) und konnte daher bis in unsere Zeit überleben. Diese Untersuchung genießt in Fachkreisen hohes Ansehen und wird mittlerweile als klassisches Beispiel in der Populationsgenetik benutzt.
== Verbreitungsgebiet und Lebensraum ==
Der Gepard war einst über fast ganz Afrika mit Ausnahme der zentralafrikanischen Waldgebiete verbreitet; außerdem waren Vorderasien, die indische Halbinsel und Teile Zentralasiens besiedelt. Heute ist er fast nur noch in Afrika südlich der Sahara anzutreffen. In Asien gibt es winzige Restbestände, die von Ausrottung bedroht sind (siehe Unterarten). Der letzte Gepard wurde in Indien in den Jahren 1967/1968 gesichtet, und die Art galt seitdem als dort ausgestorben. Am 17. September 2022 wurden die ersten zwei von zunächst acht Geparden aus Namibia im Kuno-Nationalpark in Madhya Pradesh freigelassen.
Geparde sind reine Savannen- und Steppentiere. Sie bevorzugen Bereiche mit hohem, Deckung bietendem Gras und Hügeln als Ausschaupunkten. Zu viele Bäume und Sträucher machen eine Landschaft für Geparde ungeeignet, da sie dort ihre Schnelligkeit nicht ausnutzen können. In Halbwüsten kommen Geparde dagegen gut zurecht, wenn sie genügend Beutetiere finden.
== Aktuelle Populationsgröße und Schutzstatus ==
Man schätzt, dass noch etwa 7500 Geparde (Stand 2017) in 25 afrikanischen Ländern in freier Wildbahn leben, wobei im südlichen Afrika die größte Subpopulation vorkommt (Namibia, Botswana, Südafrika). Dabei ist Namibia Heimat der weltweit größten Population mit etwa 3500 Tieren (Stand 2016). Weitere 60 bis 100 Tiere leben schätzungsweise im Iran (siehe Unterarten). Die meisten befinden sich nicht in Schutzgebieten, was vielfach zu Konflikten mit Viehzüchtern führt. Die Art wird auf der roten Liste der IUCN als „gefährdet“ gelistet, wobei die afrikanischen Unterarten als „gefährdet“ bis „stark gefährdet“, die asiatische Unterart als „vom Aussterben bedroht“ gelten. Zuchtprogramme in Zoos und die Anwendung von künstlicher Befruchtung sind erfolgreich. Die Sterblichkeit ist jedoch hoch. 2015 wurden 216 Geparde geboren. Davon starben 67, bevor sie 6 Monate alt waren.
== Unterarten ==
Man unterschied bisher üblicherweise fünf Unterarten des Gepards; von diesen leben vier in Afrika und eine in Asien. Alle Unterarten müssen als gefährdet eingestuft werden; zwei gelten sogar als vom Aussterben bedroht.
Asiatischer Gepard (A. j. venaticus): Einst von Nordafrika nördlich der Sahara über Zentralasien bis Indien verbreitet; heute nur noch im Iran. Es gibt nach Schätzung der Iranischen Umweltbehörde etwa 60 bis 100 Tiere im Norden des Iran, vor allem im Kawir-Nationalpark, dem Touran-Nationalpark, dem Naybandan-Wildreservat und zwei weiteren Reservaten um die Wüste Dascht-e Kawir. Um den Schutz der stark vom Aussterben bedrohten Unterart zu verbessern, wurden einige Tiere mit GPS-Halsbändern ausgestattet. Im Jahr 2022 erfolgte in einer Einrichtung im Iran die erste Nachzucht von Asiatischen Geparden in Menschenhand weltweit.
Nordwestafrikanischer Gepard (A. j. hecki): Zu dieser Unterart werden meist alle Geparde des nordwestlichen Afrika gerechnet, bisweilen aber auch nur die westafrikanischen Vorkommen südlich der Sahara. Die Unterart kennzeichnet sich durch ein besonders blasses Fell, besitzt allerdings die typischen Augenstreifen. Der Gesamtbestand dürfte bei unter 250 Tieren liegen. Gesicherte Vorkommen existieren nur noch in den Staaten Algerien, Niger, Benin und Burkina Faso. In Algerien existieren nur noch wenige Tiere in der Zentralsahara im Bereich der Nationalparks Ahaggar und Tassili n’Ajjer. Grobe Schätzungen gehen von 20 bis 40 Tieren in diesem Bereich aus. Im Niger gibt es im Bereich des Aïr und Ténéré Naturreservates noch über 50 Geparde. Im Schutzgebiet wurden in den letzten Jahren regelmäßig ausgewachsene und junge Geparde beobachtet. Etwas südlich davon, um das Termit-Massiv, hält sich noch ein schrumpfender Bestand von etwa 30–40 Tieren. Außerhalb der Sahara existiert im Niger ein weiteres wichtiges Vorkommen im Gebiet des W-Nationalparks. Man geht von mindestens 15–25 Tieren in diesem Bereich aus, mit steigender Tendenz. Im angrenzenden Pendjari-Nationalpark in Benin dürften weitere 5–20 Exemplare leben. Wenige leben in dieser Region auf dem Territorium des Nachbarstaates Burkina Faso.
Nordostafrikanischer Gepard (A. j. soemmeringii): Nordostafrika, zwischen dem Tschadsee und Somalia. Blass gefärbt. In Ägypten scheint die Unterart im Aussterben begriffen zu sein.
Ostafrikanischer Gepard (A. j. fearsoni): Östliches Afrika. Dieses Gebiet stellt neben dem Südlichen Afrika einen Populationsschwerpunkt dar. Das Östliche Afrika (Äthiopien, Südsudan, Uganda, Kenia und Tansania) besitzt etwa 2.500 ausgewachsene Geparde. Der wichtigste Reservatskomplex in diesem Bereich liegt im Serengeti-Ökosystem.
Südafrikanischer Gepard (A. j. jubatus): Südliches Afrika, das die Hochburg der heutigen Gepardpopulation darstellt. Im südlichen Afrika leben insgesamt etwa 4.500 ausgewachsene Tiere. Hier befinden sich mehrere Schutzgebiete, die große Populationen beherbergen, darunter der Kgalagadi-Transfrontier-Nationalpark, Chobe, Nxai-Pan, die Reservate im Okavangodelta, Etosha und Liuwa-Plain. Ein Großteil der Population lebt allerdings, ähnlich wie in Ostafrika, auch hier außerhalb von Schutzgebieten auf Farmland.Genetischen Analysen zufolge sind Südafrikanische und Ostafrikanische Geparde eng verwandt und nahezu identisch. Die übrigen Unterarten wurden diesbezüglich bisher nicht untersucht: Deshalb erkennt die Cat Specialist Group der IUCN in ihrer im Jahr 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik nur vier Unterarten an und synonymisiert A. j. fearsoni mit A. j. jubatus.
Als weitere Unterart des Gepards galt lange der Königsgepard – ein Tier, dessen Existenz bis 1975 angezweifelt wurde. Die Flecken sind bei ihm zu Längsstreifen verschmolzen. Inzwischen steht fest, dass es sich hierbei nicht um eine Unterart (A. j. rex), sondern um eine seltene Mutation handelt, die über ein rezessives Gen vererbt wird. In einem Wurf können sich normal gefleckte Geparde zusammen mit Königsgeparden befinden. Königsgeparde sind in ganz Afrika verbreitet, und obwohl sie immer noch große Seltenheit haben, scheint ihre Anzahl in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen zu haben. Biologen beobachten diese Entwicklung mit Interesse, da sie auf eine wachsende genetische Diversität bei den Geparden hinweist. Der Zoo Wuppertal beherbergte mit dem Weibchen Helen (auch Marula gerufen) das erste Exemplar eines Königsgepards, das in Europa geboren wurde. Helen stammte aus der Zucht des Tiergartens Nürnberg und verstarb im Frühjahr 2010 an Nierenversagen.
== Externe Systematik ==
Da sich der Gepard morphologisch und anatomisch sehr stark von anderen Katzen unterscheidet, war es bisher üblich, ihn in eine eigene Unterfamilie Acinonychinae zu stellen und weder den Groß- noch den Kleinkatzen zuzuordnen. Man sah in ihm eine Sonderentwicklung der Katzen, die er in konvergenter Evolution zu den Hunden nachvollzogen hatte. Allerdings können Geparde wie alle Kleinkatzen nicht brüllen; im Gegenteil, ihre sehr leisen Laute erinnern stark an die Lautäußerungen von Hauskatzen. Ebenso können Geparde wie alle Kleinkatzen beim Ein- und Ausatmen schnurren, was Großkatzen nicht können.
Neue genetische Untersuchungen haben nun zu der Erkenntnis geführt, dass der Gepard den anderen Katzen doch nicht so fernsteht und seine nächsten lebenden Verwandten mit ziemlicher Sicherheit der Puma und der Jaguarundi sein dürften.
Der Amerikanische Gepard (Miracinonyx) des Pleistozäns wurde bis vor kurzem für einen nahen Verwandten des rezenten Gepards gehalten. Tatsächlich sieht er diesem morphologisch sehr ähnlich. Es scheint sich jedoch vielmehr um eine Schwesterart des Pumas gehandelt zu haben, die sich aufgrund ähnlicher ökologischer Voraussetzungen konvergent zum afrikanisch-asiatischen Gepard entwickelte.Die ältesten Überreste des modernen Gepards (A. jubatus) stammen aus Afrika, doch wenig später erschien die Art auch in Eurasien. Die europäische Gepardart Acinonyx pardinensis aus dem Pleistozän war um einiges größer als heutige Geparde. Die letzten Funde dieser Art sind 500.000 Jahre alt und stammen aus den Mosbacher Sanden bei Wiesbaden.
== Lebensweise ==
=== Sozialverhalten ===
Geparde sind tagaktive Tiere. Dadurch vermeiden sie weitgehend Begegnungen mit den eher nachtaktiven Löwen, Leoparden, Tüpfel-, Streifen- und Schabrackenhyänen, die Geparden leicht die Beute streitig machen können und auch eine große Gefahr für den Nachwuchs darstellen. Sie sind geselliger als die meisten anderen Katzen. Die Weibchen leben meistens allein – mit Ausnahme der Zeit, in der sie Junge führen. Männchen hingegen formen Verbände, in denen sie (meistens Wurfbrüder) zu zweit oder dritt leben. Selten gibt es größere Gepardgruppen von bis zu 15 Individuen. Männchen und Weibchen kommen nur zur Paarung zusammen und trennen sich gleich darauf wieder. Das Revier wird durch Urinmarkierungen abgegrenzt.
=== Fortpflanzung ===
Im Alter von etwa drei Jahren ist ein Gepard geschlechtsreif. Die Tragzeit beträgt etwa 95 Tage, ein Wurf besteht zumeist aus einem bis fünf Jungen. Es kommen aber auch Würfe mit bis zu acht Jungtieren vor. Das Weibchen bringt sie in einem Bau zur Welt, in dem sie für etwa acht Wochen bleiben. Dies ist nötig, da Geparde nicht die körperlichen Voraussetzungen besitzen, ihren Nachwuchs erfolgreich gegen die stärkeren Großkatzen – Löwe und Leopard – oder auch Hyänen zu verteidigen. Die Jungen haben auf dem Rücken lange silbrige Haare, die wahrscheinlich der Tarnung dienen und die sie nach etwa drei Monaten rasch verlieren. Trotz dieser natürlichen Schutzvorrichtungen ist die Mortalität während des ersten Lebensjahres hoch; meistens fallen sie Raubfeinden zum Opfer. Haben sie die erste kritische Phase überstanden, können sie ein Lebensalter von 15 Jahren erreichen.
=== Ernährung und Jagd ===
Das Spektrum der Beutetiere eines Gepards ist für gewöhnlich nicht besonders breit und er gilt unter den mittelgroßen Katzenarten als am stärksten spezialisierte Art. Seine bevorzugte Beute sind kleinere Huftierarten wie Gazellen und Böckchen und seine Verbreitung ist eng an das Vorkommen dieser Beutetiere gebunden. In Ostafrika ernähren sich Geparde fast ausschließlich von Thomson-Gazellen, Grant-Gazellen und Impalas. Regional, vor allem in der Serengeti und im Kalahari-Gemsbok-Nationalpark, kann der Anteil der Thomson-Gazellen an der Beute mehr als 90 % betragen, im Kruger-Nationalpark und im Transvaal sind Impalas die Hauptbeute. Zudem sind etwa 50 % der Beutetiere Jungtiere oder Heranwachsende. Diese Antilopen sind leicht und sehr viel einfacher zu überwältigen als ausgewachsene Zebras oder Gnus, die für einen Gepard nahezu unbezwingbar sind. Allerdings werden die Jungtiere beider Arten gelegentlich von in der Gruppe jagenden Geparden überwältigt. Normalerweise halten sich die schnellen Jäger jedoch an Beutetiere unter 60 kg Körpergewicht, im Schnitt liegt das Gewicht der Beute bei weniger als 40 kg. In Notzeiten jagt ein Gepard auch Hasen, Kaninchen und Vögel.
Zur Jagd pirschen sich Geparde in der Regel zunächst auf eine erfolgversprechende Distanz an ihre Beutetiere heran. Teils treten sie dann mit einem lockeren Trab hervor, um in dieser Phase anhand des Verhaltens zu klären, welches Individuum genau die Beute sein soll. Dann erfolgt der Angriff mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 km/h. Die Angaben der Höchstgeschwindigkeit sind selbst bei wissenschaftlichen Quellen unterschiedlich und reichen von 93 km/h bis 102 km/h. Nahe beim Beutetier bremst der Gepard etwas ab, um besser auf ein etwaiges Hakenschlagen reagieren zu können. Ob erfolgreich oder nicht, die Jagd ist auf jeden Fall nach wenigen hundert Metern bzw. im Schnitt 38 Sekunden beendet. Somit legt der Gepard – wie auch der Löwe – unter den Katzen zwar unüblich lange Strecken dabei zurück, innerhalb der Formen der Hetzjagd handelt es sich dennoch um das Gegenmodell zur ausdauernden Vorgehensweise z. B. von Wölfen und Hyänen. Bei Erreichen versucht der Gepard das Beutetier meist mit einem Prankenschlag ins Straucheln zu bringen und niederzureißen. Dann drückt er ihm mit den Zähnen die Kehle zu. Er zerbeißt also nicht die Nacken- oder Halswirbel, um seine Beute zu töten, sondern erstickt sie. Seine Erfolgsquote von 50 bis 70 % wird von keinem anderen einzeln jagenden Raubtier übertroffen, nur von rudelweise jagenden. Anschließend muss sich der Gepard erst einmal eine ganze Weile von der Anstrengung erholen, bevor er fressen kann. Während dieser Zeit kann es passieren, dass er die Beute an die stärkeren Raubtiere Tüpfelhyäne, Löwe oder Leopard verliert; auch er selbst befindet sich dann in gewisser Gefahr.
== Kulturgeschichte ==
Schon früh hat der Mensch es verstanden, den Gepard zu dressieren und als Jagdbegleiter nutzbar zu machen. Deswegen hat man ihn für die Jagd abgerichtet, und er erhielt seinen synonym verwendeten Namen „Jagdleopard“. Sowohl in Mesopotamien als auch im alten Ägypten hat man – seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend – Geparde auf diese Weise verwendet. Im mittelalterlichen Europa war die Jagd mit Geparden ein Luxus, den man sich nur an Königshöfen leisten konnte. Da sich diese Katze aber in Gefangenschaft nicht vermehrte, musste man immer neue Geparde fangen.
In den Golfstaaten sind Geparde beliebte Luxushaustiere, obwohl sie als Haustiere nicht geeignet sind. Zu ihrer Dezimierung trug außerdem bei, dass sie wegen ihres Fells getötet wurden.
Im Januar 2023 wurde vermeldet, dass Indien mehr als hundert Südafrikanische Geparde über einen Zeitraum von 10 Jahren aus Südafrika zur „Wiederansiedlung“ importieren will. In Indien lebten lange Asiatische Geparde, bis diese Subspezies im Jahr 1952 für im Land ausgerottet erklärt wurde.
== Literatur ==
Matto Barfuss: Leben mit Geparden. Naturbuch Verlag, Augsburg 1998, Goldmann, München 2005, ISBN 3-442-15311-5.
Fritz Pölking, Norbert Rosing: Geparde. Die schnellsten Katzen der Welt. Tecklenborg, Steinfurt 1993, ISBN 3-924044-11-2.
P. Leyhausen: Katzen. In: Grzimek’s Enzyklopädie. Band 3: Nagetiere, Raubtiere. Brockhaus – Die Bibliothek. Brockhaus Verlag, Leipzig/Mannheim 1997, ISBN 3-7653-6111-9.
R. Conniff: Geparden – Die Geister der Savanne. In: National Geographic. Deutsche Ausgabe. Dezember 1999, S. 10. ISSN 0027-9358.
Luke Hunter, D. Hamman: Cheetah. Struik Publishers, Cape Town 2003, ISBN 1-86872-719-X.
Gus Mills, M. Harvey: African Predators. Struik Publishers, Cape Town 2001, ISBN 1-86872-569-3.
Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 6. Auflage. Band 1, Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9, S. 834.
Richard D. Estes: The behaviour guide to African mammals. Chapter 21. Univ. of Calif. Press, Berkeley 1991, ISBN 0-520-05831-3, S. 377.
Reinhard Künkel: Geparde: Ich nannte sie Tanu, Tatu und Tissa. In: Geo-Magazin. Hamburg 5/1978, S. 60–78. („Einen Monat lang lebte und jagte Reinhard Künkel in der Serengeti mit den schnellsten Landtieren der Erde.“) ISSN 0342-8311.
== Weblinks ==
www.catsg.org: Artenprofil Gepard (Acinonyx jubatus); IUCN/SSC Cat Specialist Group (englisch)
www.catsg.org: Artenprofil Asiatischer Gepard (Acinonyx jubatus venaticus); IUCN/SSC Cat Specialist Group (englisch)
Website ausschließlich über Geparde auf Gepardenland.de
Acinonyx jubatus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2006. Eingestellt von: Cat Specialist Group, 2002. Abgerufen am 11. Mai 2006.
Sendermarkierung des Asiatischen Gepards im Iran (mit Foto)
High-Speed-Videoaufnahmen von National Geographic
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Gepard |
Potsdam | = Potsdam =
Potsdam [ˈpɔt͡sdam] ist die Hauptstadt des Landes Brandenburg mit 185.750 Einwohnern (31. Dezember 2022). Sie ist eine kreisfreie Stadt und die bevölkerungsreichste Stadt des Landes. Das an der Havel gelegene Potsdam grenzt südwestlich an Berlin und zählt zu den prosperierenden Orten in dessen Ballungsraum, der rund 4,7 Millionen Einwohner umfasst.
Die Stadt ist bekannt für ihr Vermächtnis als ehemalige Residenzstadt der Könige von Preußen mit zahlreichen Schloss- und Parkanlagen und der bedeutenden bürgerlichen Kernstadt. Die Kulturlandschaften wurden 1990 von der UNESCO als größtes Ensemble der deutschen Welterbestätten in die Liste des Weltkultur- und Naturerbes der Menschheit aufgenommen. Seit 2019 ist Potsdam UNESCO-Filmstadt im Netzwerk der kreativen Städte.Das in Potsdam 1912 als erstes großes Filmatelier der Welt gegründete Studio Babelsberg zählt zu den modernsten Zentren der Film- und Fernsehproduktion in Deutschland und Europa.Potsdam entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem europäischen Wissenschaftszentrum. Drei öffentliche Hochschulen und mehr als 30 Forschungsinstitute sind in der Stadt ansässig.
== Geographie ==
=== Lage ===
Potsdam befindet sich südwestlich von Berlin, an das es direkt angrenzt, am Mittellauf der Havel in einer Wald- und Seenlandschaft. Sie ist geprägt durch den Wechsel von breiten Talniederungen und Moränenhügeln, wie dem südlich gelegenen Saarmunder Endmoränenbogen. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet ist der Kleine Ravensberg mit 114,2 Metern. Die tiefste Stelle ist der mittlere Wasserspiegel der Havelgewässer mit 29 m ü. NHN. Das Stadtgebiet besteht zu rund 75 Prozent aus Grün-, Wasser- und Landwirtschaftsfläche, 25 Prozent sind bebaut.Insgesamt befinden sich über 20 Gewässer in Potsdam. Im urbanen Zentrum sind dies unter anderem der Heilige See, der Aradosee, der Templiner See, der Tiefe See und der Griebnitzsee. In den ländlich geprägten Außenbereichen befinden sich unter anderem der Sacrower See, der Lehnitzsee, der Groß Glienicker See, der Fahrlander See und der Weiße See.
Zu den Gewässern gehören neben der Potsdamer Havel, die viele der Seen verbindet, der Sacrow-Paretzer Kanal, der Teltowkanal, die Nuthe und die Wublitz. Die Potsdamer Havel fließt am Strandbad Babelsberg bei 29,4 m ü. NHN. Ablagerungen der Nuthe bildeten früher Teile der Freundschaftsinsel.
Potsdam und Berlin sind neben Wiesbaden und Mainz die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze.
Im Stadtgebiet befinden sich fünf ausgewiesene Naturschutzgebiete (Stand: 2018) und mehr als 50 Naturdenkmale.
=== Region ===
Potsdam liegt innerhalb der Agglomeration Berlin, einem Einzugsgebiet von rund 4,7 Millionen Einwohnern (Stand: 2020). Es gehört damit auch der europäischen Metropolregion Berlin-Brandenburg an, deren Außengrenze mit der des Landes Brandenburg identisch ist.
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an Potsdam, Auflistung im Uhrzeigersinn, beginnend im Nordosten:
Berlin sowie Stahnsdorf, Nuthetal, Michendorf, Schwielowsee (Geltow, Caputh, Ferch) und Werder (Havel) im Landkreis Potsdam-Mittelmark sowie Ketzin/Havel, Wustermark und Dallgow-Döberitz im Landkreis Havelland.
=== Stadtgliederung ===
Die Stadt Potsdam ist in 32 Stadtteile gegliedert, die sich in 86 statistische Bezirke unterteilen.Es wird unterschieden zwischen den älteren Stadtteilen, die aus Arealen der historischen Stadt und spätestens 1939 eingemeindeten Orten gebildet wurden – das sind die Innenstadt, die westlichen und nördliche Vorstädte, Bornim, Bornstedt, Nedlitz, Potsdam-Süd, Babelsberg sowie Drewitz, Stern und Kirchsteigfeld –, und den nach 1990 eingegliederten Gemeinden, die seit 2003 als Ortsteile gemäß Potsdamer Hauptsatzung eigene, von der Bevölkerung gewählte Ortsbeiräte und einen Ortsvorsteher besitzen – das sind Eiche, Fahrland, Golm, Groß Glienicke, Grube, Marquardt, Neu Fahrland, Satzkorn und Uetz-Paaren. Die neuen Ortsteile liegen im Wesentlichen im Norden der Stadt. Zum geschichtlichen Verlauf aller Eingemeindungen siehe den entsprechenden Abschnitt zu Ein- und Ausgliederungen.
Gliederung mit statistischer Nummerierung:
Zu Potsdam gehören 56 Ortsteile, Gemeindeteile und sonstige Siedlungsplätze.
Zum Ende des Jahres 2019 erfolgte eine Änderung der Gebietsstruktur:
Der Stadtteil 41 wurde umbenannt: bisher Nördliche Innenstadt, nun Historische Innenstadt.
Der Stadtteil 42 (Südliche Innenstadt) wurde in die zwei Stadtteile 43 (Zentrum Ost und Nuthepark) und 44 (Hauptbahnhof und Brauhausberg Nord) geteilt. Die Nummer 42 entfiel damit.
Einige sehr dünn besiedelte Stadtteile wurden aufgelöst:
Der Stadtteil 33 (Wildpark) wurde dem Stadtteil 32 (Potsdam-West) angegliedert.
Der Stadtteil 66 (Industriegelände) wurde dem Stadtteil 64 (ehemals: Waldstadt I ) angegliedert. Der Stadtteil wurde daraufhin in Waldstadt I und Industriegelände umbenannt.
Der Stadtteil 67 (Forst Potsdam Süd) wurde dem Stadtteil 61 (Templiner Vorstadt) angegliedert.
=== Ein- und Ausgliederungen ===
Das Stadtgebiet Potsdams war bis Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ klein. Zur Stadt Potsdam zählten außer der Innenstadt nur die Teltower, Brandenburger, Berliner, Jäger- und Nauener Vorstadt. Durch das Anwachsen der Bevölkerung und Bebauung musste das Stadtgebiet mehrmals erweitert werden. Dies geschah in mehreren Abschnitten mit der Eingliederung von benachbarten Rittergütern beziehungsweise Teilen davon. Damit wuchs das Stadtgebiet von 893 Hektar im Jahr 1836 auf 1350 Hektar im Jahr 1905. 1928 wurde der Park von Sanssouci mit den Schlössern sowie ein großer Teil der Insel Tornow (später: Hermannswerder) sowie sechs Gutsbezirke mit Brauhaus- und Telegrafenberg in das Stadtgebiet eingegliedert. Danach betrug die Stadtfläche 3206 Hektar. 1935 wurden Bornim, Bornstedt, Eiche und Nedlitz eingemeindet, 1939 folgten die Industriestadt Babelsberg und weitere Dörfer. 1952 wurden die meisten dieser Gemeinden im Rahmen der Gebietsreform der DDR wieder selbstständig. Im Oktober 2003 erreichte das Stadtgebiet nach zwei neuen Eingemeindungsprozessen im Rahmen der landesweiten Kreisgebietsreform seine heutige Ausdehnung. Dabei kam unter anderem Groß Glienicke hinzu; die Fläche Potsdams wurde allein durch Eingemeindungen von 2003 um 60 % vergrößert, die Einwohnerzahl stieg jedoch nur um 12 %.Übersicht
Hinweis: Die nicht mehr zu Potsdam gehörenden Orte werden kursiv dargestellt.
=== Klima ===
In Potsdam herrscht ein gemäßigtes Klima, das sowohl von Norden und Westen her vom atlantischen Klima als auch vom kontinentalen Klima aus Osten beeinflusst wird. Wetterextreme wie Stürme, starker Hagel oder starke Schneefälle sind selten. Die Stadt liegt in der jahresdurchschnittlich wärmsten und niederschlagärmsten Region Deutschlands.Der Temperaturverlauf entspricht ungefähr dem bundesdeutschen Durchschnitt. Die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen sind geringer als im üblichen kontinentalen Klima, aber höher als im ausgeglicheneren Meeresklima der Küstenregionen. Die Niederschlagsmenge ist mit einer Jahressumme von 590 mm relativ gering. So liegt diese zum Beispiel in Barcelona ebenfalls bei 590 mm, in München hingegen bei etwa 1000 mm. Seit Beginn der Aufzeichnungen erlebte Potsdam ungefähr jedes vierte Jahr weiße Weihnachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts schwanken die Jahresmitteltemperaturen zwischen 6,5 °C und 11 °C.Die Klimaforschung ist seit etwa 1874 auf dem Telegrafenberg in Potsdam ansässig. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung prognostiziert im Rahmen der globalen Erwärmung eine Zunahme der durchschnittlichen Temperaturen und eine weitere Abnahme des Niederschlages für die nächsten Jahrzehnte in der Region Brandenburg.
== Geschichte ==
Die ältesten urkundlichen Belege des Namens der Stadt sind aus den Jahren 993 Poztupimi, 1317 postamp sowie um 1500 Potstamp. Sie gehen auf Slawisch zurück und beschreiben die „Siedlung eines Mannes namens Potstampin“. Die verbreitete Namendeutung „unter den Eichen“ (aus slawisch pod „unter“ und dubimi „Eiche“) ist wissenschaftlich nicht haltbar. Andere Erklärungen (z. B. der Vergleich mit Sorbisch Podstupim „Vorstufe“ oder „Vorposten“) gelten als fragwürdig.
=== Entstehung und Entwicklung im Mittelalter ===
Das heutige Stadtgebiet Potsdams war wahrscheinlich seit der frühen Bronzezeit besiedelt. Nach den Völkerwanderungen errichtete im 7. Jahrhundert der slawische Stamm der Heveller gegenüber der Einmündung der Nuthe eine Burganlage an der Havel.
Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes erfolgte in einer Schenkungsurkunde des späteren Kaisers Otto III. des Heiligen Römischen Reiches an das Stift Quedlinburg als „Poztupimi“ am 3. Juli 993. Die Bedeutung des Ortes beruhte auf der Beherrschung des Havelübergangs.
Im Jahr 1157 eroberte Albrecht der Bär die Stadt und gründete die Mark Brandenburg. Durch Albrecht kamen Teile der ehemaligen Nordmark als Mark Brandenburg auch faktisch zum Heiligen Römischen Reich. Potsdam war der südöstliche Eckpfeiler der Mark bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Am Havelübergang wurde eine deutsche steinerne Turmburg erbaut. Im Jahr 1317 wurde die Stadt erstmals als Burg und vor allem Stadt urkundlich unter dem Namen Postamp erwähnt. 1345 erhielt Potsdam das Stadtrecht und blieb die nächsten Jahrhunderte eine kleine Marktstadt. Von 1416 an bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 und dem damit verbundenen Untergang der Monarchie in Deutschland verblieb Potsdam im Besitz der Hohenzollern. Der verheerende Dreißigjährige Krieg und zwei Großbrände verwüsteten die Stadt.
=== Preußische Residenzstadt und Aufschwung ===
Mit dem kurmärkischen Landtag 1653, auf dem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm die Macht des Landadels einschränkte, begann die absolutistische Zeit in Brandenburg. Seine Regierungszeit war eine der einflussreichsten in der Geschichte Potsdams. Er kaufte die einzelnen verpfändeten Stadtgebiete zusammen und entschloss sich, die Stadt zu seiner zweiten Residenz neben Berlin auszubauen. Mit dem Ausbau des Stadtschlosses und der Verschönerung der Umgebung entstand ab 1660 ein Entwicklungsschub.
Erst mit Hilfe des Toleranzediktes von Potsdam im Jahr 1685 konnten aufgrund steigender Immigration die Landstriche neu bevölkert werden. Vor allem die verfolgten, protestantischen Hugenotten aus Frankreich flohen in den Schutz der brandenburgischen Gebiete. Etwa 20.000 Menschen folgten dem Angebot und verhalfen der Wirtschaft mit ihrem Fachwissen zum Aufschwung.
Unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wurde die Stadt ein wichtiger Garnisonsstandort. Dies führte zu einem starken Anwachsen der Bevölkerung und dem Bau neuer Wohnquartiere in der ersten und zweiten Barocken Stadterweiterung. Weiter ordnete er den Bau der Garnisonkirche, der Kirche St. Nikolai und der Heilig-Geist-Kirche an, die fortan das Stadtbild prägten. Im neugeschaffenen Militärwaisenhaus in der Breiten Str. wurden Kinder Militärangehöriger verpflegt, unterrichtet und später ausgebildet.
Sein Sohn Friedrich II. („der Große“) schätzte die Gedanken der Aufklärung und reformierte den preußischen Staat. Er entschied sich endgültig, Potsdam auch vom Stadtbild her zur Residenzstadt zu machen und veranlasste daraufhin massive Umbauten am Aussehen von Straßen und Plätzen. So wurden unter anderem der Alte Markt komplett neu gestaltet und die Bürgerhäuser erhielten neue Barockfassaden. Friedrich II. ließ auch den späteren Park Sanssouci umgestalten. Ab 1745 entstand hier sein Sommersitz, das Schloss Sanssouci. Später folgte dann noch das Neue Palais. Das Stadtschloss und der Lustgarten in der Stadtmitte wurden zu seinem Wintersitz gestaltet, besonders hervorzuheben war hier die Leistung des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Ab 1793 entstand das Königliche Schauspielhaus.
1806 erreichte Napoleon mit seinen Truppen die Stadt Potsdam. Die nachhaltige Wirkung der Besatzungszeit führte zu Reformen im Staatswesen. Nach dem Ende der napoleonischen Besatzung entwickelte Friedrich Wilhelm III. die Stadt ab 1815 zu einem Verwaltungszentrum. Es siedelten sich zahlreiche Regierungsbeamte in Potsdam an. 1838 ging mit der Strecke Potsdam-Berlin die erste Eisenbahnlinie Preußens in Betrieb.
Die zunehmenden Spannungen des Vormärzes entluden sich in der Märzrevolution von 1848. Das Volk kämpfte auf den Barrikaden in Berlin für eine liberale Verfassung. Im März siedelte der König Friedrich Wilhelm IV. in die vermeintlich ruhigere Nachbarstadt Potsdam um. Als sich meuternde Soldaten vor dem Neuen Palais versammelten und versuchten, gefangene Kameraden zu befreien, wurde der Aufstand schnell von preußischen Elitetruppen niedergeschlagen. Nach den Wirren der unvollendeten Revolution war die Restauration der alten Machtverhältnisse das vorherrschende Ziel. Es wurden zahlreiche ambitionierte Bauprojekte vorangetrieben, so auch die Nikolaikirche und die katholische Kirche St. Peter und Paul. Seit 1911 hatte Potsdam einen Luftschiffhafen an der Pirschheide.
Im Jahr 1914 unterzeichnete der letzte preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais die Generalmobilmachung gegen die Entente-Mächte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs endete auch die Ära der Monarchie mit der Novemberrevolution und Wilhelm II. floh 1918 in die Niederlande. Die Stadt Potsdam verlor damit ihren Status als Residenzstadt endgültig.
=== Weimarer Republik und Nationalsozialismus ===
Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 ging das umfangreiche Eigentum der Hohenzollern in Potsdam zum größten Teil in Staatseigentum über. Die Zeit der Weimarer Republik war gekennzeichnet durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den politischen und paramilitärischen Kräften im Staat. Die Stadtgemeinde hingegen blieb weiterhin ein von wohlhabenden Bürgern getragener Ort.
Zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus fand am 21. März 1933 der Tag von Potsdam statt. Bei dem inszenierten Staatsakt reichte der Reichspräsident Paul von Hindenburg dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler die Hand. Dies sollte als symbolische Geste für ein Bündnis der alten Ordnung mit dem Nationalsozialismus verstanden werden. Die konstituierende Sitzung des Reichstags fand ohne die Sozialdemokraten und Kommunisten in der Garnisonkirche statt. Das Ereignis wurde landesweit im Rundfunk übertragen.
Hans Friedrichs ließ in Potsdam zahlreiche Siedlungen und Kasernen errichten.
Das Stadtzentrum Potsdams wurde am 14. April 1945 in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges durch einen alliierten Bombenangriff stark beschädigt. Besonders betroffen war das Gebiet zwischen der Havel, dem Alten Markt und dem Bassinplatz. Hauptbahnhof, Stadtschloss, Langer Stall und Garnisonkirche brannten vollkommen aus. Ähnlich beschädigt wurden auch weite Teile der nordöstlichen Vorstadt in der Nähe der Glienicker Brücke. Weitgehend erhalten blieben jedoch das Gebiet um den Neuen Markt, das Holländische Viertel und die nördlichen Teile der Altstadt. In den Kämpfen der letzten Kriegstage wurden weitere Gebäude beschädigt, so die Heilige-Geist-Kirche und das Alte Rathaus. Am 27. April 1945 wurde Potsdam durch die Rote Armee eingenommen.
Potsdam war Abwurfziel besonders vieler Bomben in Deutschland. Bis in die Gegenwart hinein werden neu entdeckte Blindgänger entschärft und die in der Gegend wohnende Bevölkerung zu solchen Anlässen evakuiert.
=== Besatzungszeit und deutsche Teilung ===
Im Schloss Cecilienhof, dem Wohnsitz des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen, fand vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 die Potsdamer Konferenz der Siegermächte Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich und Sowjetunion statt. Die Konferenz endete mit dem Potsdamer Abkommen, das die deutsche Teilung und Besetzung in vier Zonen besiegelte.
In der DDR war Potsdam von 1952 bis 1990 Verwaltungssitz des neugegründeten Bezirkes Potsdam. Die sozialistische Regierung hatte ein gespaltenes Verhältnis zum Erbe Preußens. Einerseits wurden die kulturellen und künstlerischen Leistungen anerkannt, andererseits sollten zahlreiche Bauwerke ein Ausdruck des Militarismus sein. 1951 wurde die Pädagogische Hochschule Karl Liebknecht gegründet, aus der später die Universität Potsdam hervorging. Aufgrund des Wohnungsmangels entstanden vor allem im Süden der Stadt neue Stadtviertel wie der Schlaatz, die Waldstadt II und Drewitz.
Mit dem Berliner Mauerbau verlor Potsdam im Jahr 1961 seinen direkten Anschluss zur Nachbarstadt (West-)Berlin, während Ost-Berlin nur über ländliche Umwege erreichbar war und „weit entfernt“ erschien. Damit unterbrach die Mauer auch in Potsdam das städtische Leben zu einem erheblichen Teil. Die kleine Berliner Exklave Steinstücken verblieb isoliert in Babelsberg. Der Übergang an der Glienicker Brücke wurde während des Kalten Krieges zum Austausch von Spionen genutzt.
Während der 1960er Jahre befand sich in Potsdam ein bezirkliches Aufnahmelager für Westflüchtlinge. Als die Einwanderung in die DDR abnahm, wurde die Aufnahmestätte abgerissen.
Im Jahr 1966 wurde das Alte Rathaus umgebaut und erweitert und dann als Kulturhaus eröffnet und unter dem Namen Hans Marchwitza-Haus der Öffentlichkeit übergeben. Darin waren Veranstaltungssäle, Vortragsräume, ein Kinosaal und eine Gaststätte untergebracht und es diente damit verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und Einzelpersonen als Treffpunkt.
=== Nach der deutschen Wiedervereinigung ===
Mit der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Brandenburg im Jahr 1990 wurde Potsdam dessen Landeshauptstadt.
Im Jahre 1990 wurden weite Teile der Potsdamer Kulturlandschaft zum UNESCO-Welterbe ernannt. 1993 konnte die Stadt dann ihr tausendjähriges Bestehen feiern und war im Jahre 2001 unter dem Motto „Gartenkunst zwischen gestern und morgen“ Gastgeber der Bundesgartenschau. Zu diesem Anlass wurde in der Yorckstraße das erste, etwa 300 Meter lange Teilstück des in den 1960er Jahren zugeschütteten Stadtkanals wieder freigelegt. 2004 erhielt die Stadt die Goldmedaille beim Bundeswettbewerb Unsere Stadt blüht auf.
In den Jahren 1999, 2006 und 2021 wurden die stadtpolitischen Entscheidungen getroffen, die Potsdamer Mitte zum Sanierungsgebiet zu erklären und die Innenstadt in Grund- und Aufriss an die Situation vor 1945 anzunähern. Die im Jahre 1990 beschlossene „Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild“ soll u. a. mit der Rekonstruktion des Glockenturms der Garnisonkirche realisiert werden. Am Wiederaufbau der Gebäude-Carees nach historischen Vorbild rund um die Nikolaikirche am Alten Markt wird bis 2029 gearbeitet.
== Bevölkerung ==
=== Bevölkerungsentwicklung ===
Die Stadt Potsdam blieb seit der Ersterwähnung 993 bis in die frühe Neuzeit eine kleine Stadt mit geringer und relativ konstanter Einwohnerzahl. Aufgrund der Verwüstungen und der Hungersnöte des Dreißigjährigen Krieges fiel die Einwohnerzahl auf einen Tiefpunkt von 700 im Jahr 1660. Nach der Entwicklung als brandenburgische Residenzstadt stieg die Einwohnerzahl deutlich an. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verdreifachte sich die Bevölkerung bis 1900 auf 60.000. Am 1. April 1939 wurde Potsdam durch die Eingemeindung der ca. 30.000 Einwohner zählenden Stadt Babelsberg und anderer Orte zur Großstadt. Während des Zweiten Weltkrieges sank die Einwohnerzahl, in den folgenden Jahren stieg sie jedoch wieder an.
Seit der deutschen Wiedervereinigung sank die Potsdamer Bevölkerung bis 1999 zunächst um 13.000 auf 129.000 Einwohner ab. Seit 2000 ist hierbei durch Zuzug und eine vergleichsweise hohe Geburtenzahl aber eine beständige Erholung zu verzeichnen. Eingemeindungen im Jahre 2003 setzten die Einwohnerzahl dabei auch auf eine höhere Basis. In den 2010er Jahren hat sich das Bevölkerungswachstum dann noch einmal verstärkt fortgesetzt. 2008 wurde der 150.000ste Einwohner gezählt, 2017 dann der 175.000ste. Nach Bevölkerungsprognosen geht die Stadt Potsdam seit 2019 davon aus, dass die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2030 auf über 200.000 steigen wird.Neben den Einwohnern mit Hauptwohnsitz sind zusätzlich 5.758 Menschen mit Nebenwohnsitz gemeldet (Stand: 31. Dezember 2020). In Potsdam lebten Ende 2020 17.452 Ausländer, was einem Anteil von rund 9,58 % entspricht.
=== Religion ===
Laut Statistischem Jahresbericht waren im Jahr 2011 in der Landeshauptstadt Potsdam 14,5 % der Einwohner evangelisch, 4,6 % römisch-katholisch und 80,8 % konfessionslos, gehörten einer anderen Religionsgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2020 waren 12,7 % evangelisch, 4,9 % katholisch und 82,5 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe.Die Geschichte des Christentums in der Stadt Potsdam ist geprägt von einem Nebeneinander der Glaubensgemeinschaften. Die Stadt Potsdam gehörte anfangs zur christlichen Propstei Spandau des 949 gegründeten Bistums Brandenburg. Im Jahr 1541 führte der Kurfürst von Brandenburg die Reformation ein, die Stadt war damit über Jahrhunderte eine überwiegend protestantisch geprägte Stadt. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis, jedoch gehörten Herrscher und Hof seit 1613 der reformierten Kirche an. Ab 1723 gab es eine Französisch-Reformierte Gemeinde, die 1753 die Französische Kirche erhielt.
Im Jahr 1817 wurden die beiden evangelischen Konfessionen innerhalb Preußens zur Evangelischen Kirche in Preußen vereinigt („uniert“). Den Anfang machten die lutherische Gemeinde und die reformierte Gemeinde an Potsdams Garnisonkirche. Das Oberhaupt (summus episcopus) war der König von Preußen als Landesherrliches Kirchenregiment. Nach weiteren Namensänderungen 1846 und 1875 nannte sich die Landeskirche ab 1922 Evangelische Kirche der Altpreußischen Union, deren märkische Kirchenprovinz sich 1947 als Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg verselbstständigte. 2004 fusionierte diese Kirche mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz, die ebenfalls aus einer altpreußischen Kirchenprovinz hervorgegangen war, zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die evangelischen Kirchengemeinden Potsdams gehören zum Kirchenkreis Potsdam, dessen Sitz (Superintendentur) sich ebenfalls in Potsdam befindet. Seit 2010 gibt es den Sprengel Potsdam, der das nordwestliche Gebiet der Landeskirche umfasst und seinen Sitz in der Landeshauptstadt hat.
Als Reaktion auf die Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirchen zur unierten Kirche setzte sich in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Preußens die ursprüngliche lutherische Kirche in Preußen fort, welche sich jedoch erst 1841 nach langer Verfolgungszeit seitens der unierten evangelischen Landeskirche und des preußischen Staates konstituieren konnte. Diese Kirchengemeinde gehört zum Kirchenbezirk Berlin-Brandenburg der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
Neben den landeskirchlichen Gemeinden gibt es mehrere Freikirchen, wie die Herrnhuter Brüdergemeine.
Da Potsdam Garnisonsstadt war, gab es zahlreiche katholische Soldaten. 1868 entstand die katholische Kirche St. Peter und Paul. 1821 wurde die Fürstbischöfliche Delegatur für Brandenburg und Pommern errichtet. 1930 wurde das Bistum Berlin als Suffraganbistum von Breslau errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet der Kirchenprovinz Breslau getrennt und damit exemt, es unterstand geradewegs dem Papst. Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde 1994 das Bistum Berlin zum Erzbistum Berlin erhoben, zu dem die beiden Pfarrgemeinden Potsdams gehören.
Die russisch-orthodoxe Kirchengemeinde entstand in Potsdam nach 1716 durch Schenkungen Russischer Riesen von Peter dem Großen an Friedrich Wilhelm I. für dessen Lieblingsregiment der „Langen Kerls“. Der König ließ 1734 den nördlichen Kopfbau des Langen Stalls als turmlose Garnisonkirche für die inzwischen 300 Gemeindemitglieder einweihen. Sie existierte, immer weiter zusammenschmelzend, bis 1809. Mit der Errichtung der Russischen Kolonie Alexandrowka in Potsdam kam es zur Neugründung einer russisch-orthodoxen Gemeinde um die Alexander-Newski-Gedächtniskirche. Sie gehört zur Berliner Diözese des Moskauer Patriarchats und umfasst etwa 1000 Gläubige.Der Anteil der Christen verringerte sich während der Zeit der DDR erheblich (siehe dazu: Christen und Kirchen in der DDR). 2014 lebten in Potsdam mehr als 30.000 Christen verschiedener Konfessionen, dies entspricht 20 Prozent der Bevölkerung. Davon gehören etwa 25.000 den 22 evangelischen und rund 5000 den beiden katholischen Gemeinden der Stadt an. Die verschiedenen freien Kirchengemeinschaften zählen zusammen ebenfalls mehrere Tausend Gläubige.
In Potsdam gibt es zwei jüdische Gemeinden. Eine gehört dem Zentralrat der Juden in Deutschland an und hat in den 2010er Jahren etwa 400 Mitglieder. Die zweite Gemeinde ist vom Zentralrat unabhängig und nennt sich Gemeinde gesetzestreuer Juden. Zudem ist Potsdam Sitz des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs, des bislang einzigen Rabbinerseminars im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Alte Synagoge in Potsdam wurde während der Novemberpogrome 1938 geplündert. Endgültig zerstört wurde das Gebäude durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg. Seitdem gab es keine Synagoge in der Stadt. Im Rahmen der Neugestaltung der Potsdamer Mitte wurde 2018 der Wiederaufbau einer Synagoge in der Schloßstraße beschlossen. 2021 wurde eine weitere Synagoge als Teil des Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit der Universität Potsdam eröffnet.Aktuelle Zahlen der in Potsdam lebenden Muslime, Buddhisten oder der Angehörigen weiterer Glaubensbekenntnisse liegen im Jahr 2015 nicht vor. Eine muslimische Gemeinde existiert seit 1998. Historisch war Preußen tolerant in religiösen Angelegenheiten. Der preußische König Friedrich der Große erklärte 1740: „alle Religionen Seindt gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren [öffentlich bekennen], Erliche leute seindt, und wen Türken und Heiden Kähmen und Wolten das Landt Pöplieren [bevölkern], so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.“ Zwar baute Friedrich später keine Moscheen, jedoch hatte sein Vater Friedrich Wilhelm I. schon im Jahr 1739 ein Zimmer des Militärwaisenhauses als Gebetssaal für 22 muslimische „Lange Kerle“ und damit die erste Moschee auf deutschem Boden einrichten lassen. Die nur wenige hundert Meter entfernte „Potsdamer Moschee“ aus dem 19. Jahrhundert war dagegen nie ein sakrales Gebäude, sondern seit jeher ein profanes Maschinenhaus in der äußeren Gestalt einer Moschee.
== Politik ==
=== Verwaltungsgeschichte ===
An der Spitze der Stadt stand seit 1345 ein Consul beziehungsweise ab 1450 ein Bürgermeister. Ein Stadtrat ist ab 1465 nachweisbar. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte der Rat vier bis fünf Mitglieder, darunter auch den Bürgermeister. Später hatte der jeweilige Landesherr einen starken Einfluss auf die Stadtverwaltung. Ab 1722 gab es für die Altstadt und die Neustadt einen Magistrat, an der Spitze stand ein Stadtdirektor. 1809 wurde Potsdam eine kreisfreie Stadt mit einem Oberbürgermeister an der Spitze sowie mit einer Stadtverordnetenversammlung als gewähltem Gremium.In der Zeit des Nationalsozialismus wurde diese aufgelöst und der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildete die sowjetische Besatzungsmacht 1945 den Rat der Stadt mit einem Oberbürgermeister neu. Der Rat wurde durch eine Einheitsliste der Nationalen Front in unfreien Wahlen bestimmt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde Potsdam Standort verschiedener Landes- und Bundesbehörden, darunter die Direktion III der Generalzolldirektion, das Bundespolizeipräsidium und eine Außenstelle des Bundesrechnungshofs, sowie zahlreicher Körperschaften des öffentlichen Rechts.
=== Stadt Potsdam ===
Potsdam ist seit 1990 eine kreisfreie Stadt im Land Brandenburg. Die Potsdamer Stadtverwaltung hat ihren Sitz im Stadthaus in der Friedrich-Ebert-Straße. Die Stadt Potsdam tritt offiziell unter der Bezeichnung Landeshauptstadt Potsdam auf.Der Oberbürgermeister wird alle acht Jahre, die Stadtverordnetenversammlung alle fünf Jahre bei den Kommunalwahlen gewählt. Oberbürgermeister von Potsdam ist seit dem 28. November 2018 Mike Schubert (SPD).
Der kommunale Schuldenstand der Stadt gehörte 2014 zu den geringsten in Deutschland.
=== Wappen und Flagge ===
Die Flagge der Stadt Potsdam ist „zweistreifig Rot-Gelb mit dem in der Mitte aufgelegten Wappen“.
=== Städtepartnerschaften ===
Potsdam ist aus seiner Vergangenheit heraus eine international geprägte Stadt, dies zeigt sich auch in der Vielfalt der Städtepartnerschaften. Es lassen sich stets Gemeinsamkeiten in der Historie, Architektur oder Bedeutung zu den Partnerstädten entdecken. Bemerkenswert – bereits zur damaligen Zeit – war seit 1988 die Partnerschaft zur seinerzeit westdeutschen Hauptstadt Bonn, noch während der Zeit der deutschen Teilung. Potsdam unterhält Partnerschaften mit den folgenden Städten:
=== Kommunale Themen ===
Die Gestaltung des Stadtbildes, insbesondere der Wiederaufbau der historischen Mitte, wird seit 1990 vielschichtig diskutiert. Nach 2014 gab es Kontroversen um die zukünftige Nutzung des Lustgartenareals und den Abriss verschiedener Gebäude im Stadtgebiet.Mit der 2012 eingeführten Umweltorientierten Verkehrssteuerung sollen Grenzwertüberschreitungen bei Stickstoffdioxid und Feinstaub vermieden werden.Zu den wirtschafts- und baupolitischen Problemen der Stadt Potsdam zählt die – trotz zunehmender Nachfrage nach Wohnraum – abnehmende Zahl an Baugenehmigungen und der dadurch eingebrochene Wohnungsbau (Stand: 2018–2020). Darüber hinaus haben die Stadtwerke in bestimmten Bereichen mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen.
=== Land Brandenburg ===
Potsdam ist die Landeshauptstadt des Landes Brandenburg. Der Landtag Brandenburg hat seinen Sitz in der Stadt. Die Landesregierung und der Ministerpräsident Brandenburgs sind in der Brandenburgischen Staatskanzlei untergebracht und haben ihren Standort in der Heinrich-Mann-Allee 107 bezogen. Zahlreiche Ministerien sind im Stadtgebiet verteilt. Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg befindet sich in der Jägerallee 9–12.
Der Landtag Brandenburg hatte seinen Sitz seit der Wiederbegründung des Landes 1990 im Gebäude der ehemaligen königlichen Kriegsschule auf dem Brauhausberg. Da das Gebäude den Ansprüchen an ein modernes Parlament nicht mehr genügte, beschloss der Landtag einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen Stadtschlosses am Alten Markt. Nachdem der TV-Moderator Günther Jauch 2002 mit dem Neubau des Fortunaportals ein erstes Zeichen gesetzt hatte, beschloss die Stadtverordnetenversammlung 2005 den Wiederaufbau. Seit 2010 wurde das Stadtschloss weitgehend mit der originalgetreuen Fassade von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, die der SAP-Gründer Hasso Plattner gespendet hat, wieder aufgebaut. 2014 wurde der Landtag mit dem im Inneren modern entworfenen Neubau offiziell eröffnet.
=== Sicherheitsbehörden ===
Potsdam hat seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine wechselhafte Vergangenheit als Standort für militärische Einrichtungen. Die jeweiligen Befehlshaber waren zahlreich: von der preußischen über die kaiserliche Armee, Reichswehr, Wehrmacht, Roter Armee bis zur NVA und nun zur Bundeswehr.
Als zweite Residenz der preußischen Könige (neben Berlin) wurde die Stadt durch den Soldatenkönig zur Garnisonsstadt ausgebaut und die Soldaten überwiegend in Bürgerhäusern einquartiert. Zeitweise stellten Soldaten fast die Hälfte der Potsdamer Einwohner. Militärische Anlagen prägten lange Zeit das Stadtbild und die Struktur der Bevölkerung, so dass Alexander von Humboldt die Stadt 1854 als „öde Kasernenstadt“ bezeichnete. Bekannt wurden die Langen Kerls, die preußischen Gardesoldaten mit überdurchschnittlicher Körpergröße, das 1. Garde-Regiment zu Fuß und das Infanterie-Regiment 9, aus letzterem sich viele Mittäter des Attentat vom 20. Juli 1944 rekrutierten.
1945 übernahm die Rote Armee – und später die Nationale Volksarmee – die Mehrzahl der Kasernen. Bis 1991 war Potsdam zudem Standort der 34. Artilleriedivision der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Nach der deutschen Wiedervereinigung war eine Armee in der bisherigen Größe nicht mehr erforderlich. Die zahlreichen, zum großen Teil historisch und architektonisch bedeutenden, Kasernen und Militäranlagen wurden seitdem einer neuen Nutzung zugeführt.
Seit 2001 hat das Einsatzführungskommando der Bundeswehr direkt am Wildpark vor der Stadtgrenze in Geltow seinen Sitz. Dort sind ca. 500 Generalstabsoffiziere beschäftigt.
Seit 2013 residiert das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in der Villa Ingenheim am Havelufer. Hier wird militärgeschichtliche Forschung zur deutschen Geschichte betrieben; das ZMSBw hat rund 120 Mitarbeiter. Dem ZMSBw ist auch das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden unterstellt.
Seit 2008 hat das Bundespolizeipräsidium seinen Sitz in Potsdam. Die Bundesoberbehörde ist dem Bundesministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet und übt die Dienst- und Fachaufsicht über die Bundespolizei aus.
== Wirtschaft ==
=== Kennzahlen ===
Im Jahr 2016 erwirtschaftete Potsdam, auf seinem Stadtgebiet, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6,67 Milliarden Euro und belegte damit Rang 53 in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Die Stadt hat damit einen Anteil von zehn Prozent an der brandenburgischen Wirtschaftsleistung. Das BIP lag im selben Jahr bei 39.293 Euro pro Kopf (Brandenburg: 26.887 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Je Erwerbstätigem betrug es 60.422 Euro, deren Zahl ca. 110.400. Aufgrund der Nähe zu Berlin entwickelt sich die Wirtschaft sehr dynamisch. 2016 wuchs das BIP der Stadt nominell um 3,1 %, im Vorjahr betrug das Wachstum 4,7 %. Potsdam ist Teil der Metropolregion Berlin-Brandenburg, die ein BIP von mehr als 180 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die integrierte Gesamtverschuldung der Stadt betrug Ende 2021 rund 1,05 Milliarden Euro (5750 Euro/Kopf).Etwa 81.500 Potsdamer hatten im selben Jahr einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, rund 1200 mehr als im Vorjahr. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,6 % und damit unter dem Durchschnitt von Brandenburg von 5,9 %. Die durchschnittlich verfügbaren Einkommen und die Gewerbesteuerrealeinnahmen steigen seit dem Jahr 2000 beständig.Über 100 junge Firmen sind im Jahr 2021 in der Landeshauptstadt ansässig. Mit einer Quote von 38,4 Unternehmensgründungen pro 100.000 Personen zwischen 2019 und 2021 rangiert Potsdam nach Berlin, München und Heidelberg bundesweit auf Platz 4 unter allen deutschen Großstädten.
=== Standort und Lebensqualität ===
Die positive Entwicklung Potsdams seit 1990 kann u. a. auf den Standort als Kultur-, Dienstleistungs- und Forschungszentrum zurückgeführt werden, der die Anpassung an die Erfordernisse einer modernen Marktwirtschaft mit höheren Ausbildungsniveaus ermöglichte. Der Wirtschaftsstandort ist einer von 15 Regionalen Wachstumskernen im Land Brandenburg und wird dadurch gezielt gefördert. Zudem ist die geografische Lage im Ballungsraum von Berlin attraktiv für Firmenansiedlungen. Der Anschluss an Infrastrukturen wie Autobahn, Zugstrecken, Brücken und Flughafen wird stetig ausgebaut.Im sogenannten „Zukunftsatlas“ aus dem Jahr 2019 belegte die kreisfreie Stadt Potsdam Platz 92 von 401 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „gewissen Zukunftschancen“ und belegt den ersten Platz innerhalb Brandenburgs. In einer Studie des ZDF zur Lebensqualität in 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten belegte Potsdam im Jahr 2018 den vierten Platz.
=== Technologie und Gewerbe ===
In Potsdam waren 2016 mehr als 13.000 Gewerbe angemeldet, was einem Zuwachs von knapp 380 gegenüber 2015 entspricht. Forschungsnahe Unternehmen haben sich aufgrund der Vielzahl der Forschungsinstitute in und um Potsdam angesiedelt. Die Region ist einer der führenden Biotech-Standorte in Deutschland. Potsdam ist Sitz der international tätigen Medizintechnikfirma Christoph Miethke.Die Firma Oracle investierte im Jahr 2001 in eine Zweigniederlassung in der Stadt. Daneben entstand eine von weltweit drei VW-Designzentralen. Das Konsortium Toll Collect hat einen Standort in Potsdam. Die Firma Katjes errichtete 2006 am Produktionsstandort Babelsberg eine „gläserne Bonbonfabrik“. In den 2020er Jahren soll in Potsdams Südlicher Innenstadt ein Standort der IT-Wirtschaft entwickelt werden.Zu den größten Arbeitgebern in Potsdam zählen 2018 u. a. die Universität Potsdam, die Stadt Potsdam, die Stadtwerke Potsdam, die AOK Nordost, die Mittelbrandenburgische Sparkasse, das Land Brandenburg sowie die Investitionsbank des Landes Brandenburg.
=== Medien ===
Das 1911 gegründete Filmstudio Babelsberg in Babelsberg ist das älteste Großfilmstudio der Welt und gleichzeitig das flächenmäßig größte Filmstudio in Europa. Das Studio ist jedoch seit 2022 mehrheitlich im Besitz eines US-Immobilienkonzerns.
Die UFA, ein Tochterunternehmen des international tätigen Medienkonzerns Bertelsmann, zählt zu den gegenwärtig umsatzstärksten deutschen Firmen im Bereich der Fernsehfilm- und TV-Produktionen und hat ihren Sitz in Potsdam. Das Medienboard Berlin-Brandenburg, ein Filmförderungsunternehmen der Länder Berlin und Brandenburg, ist ebenfalls in der Stadt ansässig.
In Potsdam erscheinen als Tageszeitung die Potsdamer Neuesten Nachrichten, die Märkische Allgemeine Zeitung mit Potsdamer Regionalteil und die Regionalausgabe des Tagesspiegels.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sendet vom Standort Potsdam-Babelsberg. Dort werden unter anderem die Radiosender Antenne Brandenburg, Radio Fritz und Radio Eins sowie die Fernsehsendungen Brandenburg aktuell und zibb produziert. Außerdem gibt es in Potsdam den lokalen Fernsehsender Hauptstadt.TV sowie den Lokalradiosender Radio Potsdam und den Kindersender Radio Teddy.
Seit 1997 erscheint monatlich das Magazin events, das Veranstaltungen und Gastronomietipps enthält. Seit 2004 gibt es das monatlich erscheinende Familienmagazin PotsKids!, seit 2010 das Monatsmagazin friedrich.
=== Tourismus ===
Der Tourismus hat für Potsdam große Bedeutung. Von 1995 bis 2019 stieg die Zahl der Besucher kontinuierlich an.
2016 übernachteten mehr als 400.000 Besucher zusammen über eine Million Mal in der Stadt. 2018 gab es 58 Hotels und Pensionen mit etwa 5900 Betten in Potsdam.In der Medienstadt Babelsberg befindet sich der Filmpark Babelsberg, ein Themenpark, der den Besuchern mit der Studiotour über das Gelände, sowie mit Ausstellungen, Stuntshows, Kulissen und Requisiten aus zahlreichen bekannten Produktionen die Welt des Films näher bringt. 330.000 zahlende Besucher verzeichnete der Filmpark im Jahr 2016. Mit ebenfalls etwa 330.000 Besuchern jährlich ist der Park Sanssouci der zweite große Anziehungspunkt in Potsdam.
Potsdam hat sich außerdem zu einem beliebten Ort für Tagungen, Kongresse und Hochzeitsfeierlichkeiten entwickelt.
=== Verbände ===
Die IHK Potsdam hat ihren Hauptsitz in Potsdam und vertrat im Jahr 2018 insgesamt 77.738 Mitgliedsunternehmen in Westbrandenburg. Die Handwerkskammer Potsdam vertritt die Interessen von 17.463 Handwerksbetrieben (Stand: 2021) im Kammerbezirk Potsdam.
== Infrastruktur ==
Nachdem seit den 1990er Jahren in Potsdam überwiegend vorhandene Bausubstanz saniert wurde, gilt seit 2010 das Integrierte Leitbautenkonzept, nach dem die Stadt an vielen Stellen durch Wiedererrichtungsprojekte ihren früheren, klassizistisch geprägten, Stadtkern zurückerhalten soll. 2017 begann der Wiederaufbau von Teilen der Garnisonkirche. Langfristig soll auch der Stadtkanal wieder freigelegt werden.Die Stadtentwicklungsgebiete am Bornstedter Feld und in der Speicherstadt befinden sich im Bau (Stand: 2018). Im Stadtteil Krampnitz sollen in den 2020er Jahren kohlendioxidneutrale Wohnsiedlungen für 7000 Einwohner entstehen. Im Jahr 2018 gab es in Potsdam 20.737 Wohngebäude. Die Anzahl der Wohnungen in der Stadt belief sich im selben Jahr auf 90.111 (+1.581 im Vergleich zum Vorjahr).Für die lokale Umsetzung der UN-Konvention über „die Rechte des Kindes“ trägt die Stadt seit 2017 das UNICEF-Siegel Kinderfreundliche Kommune.
=== Straßenverkehr ===
Potsdam ist im Westen und Süden durch den Berliner Ring der A 10 mit dem Autobahndreieck Potsdam und im Osten durch die A 115 (im Berliner Stadtgebiet auch als AVUS bezeichnet) an das Bundesautobahnnetz angeschlossen.
Mehrere Bundesstraßen verlaufen durch das Stadtgebiet, so die B 1, B 2 und B 273. Die Stadt liegt an der deutsch-niederländischen Ferienstraße Oranier-Route.
Die Potsdam mit den Bundesstraßen B 101, B 96 und B 179 verbindende Landesstraße L 40 erschließt das südliche Berliner Umland über Stahnsdorf, Teltow, Mahlow, Schönefeld nach Berlin (Treptow-Köpenick) und trägt im Potsdamer Stadtgebiet die Bezeichnung Nuthe-Schnellstraße.
Die Dichte an privaten Personenkraftwagen (Pkw) in der Stadt lag mit 376 Pkw pro 1000 Einwohner im Jahr 2014 unter dem Brandenburger Durchschnitt von 510 Pkw pro 1000 Einwohner. Insgesamt waren 82.830 Kraftfahrzeuge in Potsdam im Jahr 2017 zugelassen (+10.306 im Vergleich zu 2010).
=== Fahrradverkehr ===
Die Stadt verfolgt seit 2008 ein Radverkehrskonzept, das immer wieder erneuert wird. 2017 wurden zwölf Prozent aller Wege in Potsdam per Fahrrad zurückgelegt (in Berlin: 15 %, im Land Brandenburg: 11 %, in Deutschland insgesamt: 11 %). Auch im Jahr 2017 besaßen 83 % der Potsdamer Bevölkerung ein eigenes Fahrrad (in Berlin: 77 %, in Brandenburg: 85 %; in Deutschland insgesamt: 77 %). Innerhalb der Stadt sind 177 km mit Radspuren oder Radwegen ausgestattet (Stand: 2016). Am Hauptbahnhof gibt es ein Parkhaus für Fahrräder. In der ganzen Stadt zerstreut gibt es über 30 Stationen mit insgesamt mehr als 300 Fahrrädern, die rund um die Uhr zum Verleih bereitstehen.Potsdam ist an einige Radfernwege angeschlossen, unter anderem an den Europaradweg R1 (verläuft von Frankreich bis Russland), den Fernradweg Amsterdam-Berlin, den Havelradweg (verläuft von der Quelle bis zur Mündung), an den Berliner Mauerradweg (verläuft entlang der ehemaligen Berliner Mauer einmal um das damalige West-Berlin), den Radweg Alter Fritz (Rundtour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt) und an die F1-Havelseetour.
=== ÖPNV ===
Der Nahverkehr in Potsdam umfasst, neben der S-Bahn Berlin (Linie S7), verschiedene Angebote der Verkehrsbetriebe Potsdam (ViP): sieben Straßenbahnlinien, diverse Stadtbuslinien und eine Fährlinie, die Hermannswerder mit den Wohngebieten auf dem nordwestlichen Havelufer verbindet. Hinzu kommen die Regionalbuslinien, welche Potsdam mit dem Umland verbinden: die Linien der Havelbus Verkehrsgesellschaft verkehren in den Landkreis Havelland, die Linien der Regiobus Potsdam-Mittelmark in den Landkreis Potsdam-Mittelmark und die Linien der Verkehrsgesellschaft Teltow-Fläming in den Landkreis Teltow-Fläming.
Durch den PlusBus des Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg verkehren folgende Verbindungen ab Potsdam:
Linie X1: Potsdam ↔ Güterfelde ↔ Stahnsdorf ↔ Teltow
Linie 580: Potsdam ↔ Werder ↔ Lehnin ↔ Golzow ↔ Bad Belzig
Linie 643: Potsdam ↔ Michendorf ↔ Neuseddin ↔ Beelitz
Linie 715: Potsdam ↔ Nudow ↔ Ahrensdorf ↔ LudwigsfeldeNachts ist Potsdam vom Berliner S-Bahnhof Nikolassee mit der Nachtbuslinie N16 erreichbar. Auch innerhalb der Stadt Potsdam verkehren in jeder Nacht durchgehend mehrere Nachtbuslinien.
Auf der Südseite des Hauptbahnhofs befindet sich ein größerer Busbahnhof, an dem zwischen vielen Stadt- und Regionalbuslinien sowie zwischen den Nachtbuslinien umgestiegen werden kann. Zentraler Umsteigepunkt im Straßenbahnnetz ist der Platz der Einheit.
Alle Angebote des Nahverkehrs können zu einheitlichen Tarifen im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) genutzt werden.
=== Eisenbahnverkehr ===
Durch das Stadtgebiet führen mehrere Eisenbahnstrecken. Die Verbindungen zwischen Potsdam und Berlin sind die von Berufspendlern meistfrequentierten Strecken in der Metropolregion Berlin-Brandenburg.Die Berlin-Potsdamer Eisenbahn (Stammbahn) war die erste Eisenbahnstrecke Preußens (1838). Sie schuf eine Verbindung zwischen Berlin und Potsdam über Zehlendorf. 1845 wurde die Strecke bis nach Magdeburg fortgeführt. Auf Potsdamer Gebiet liegen an dieser Strecke und der parallelen S-Bahn-Strecke fünf Bahnhöfe und Haltepunkte: Griebnitzsee, Babelsberg, Potsdam Hauptbahnhof, Charlottenhof und Park Sanssouci.
Die 1879 eröffnete Berlin-Blankenheimer Eisenbahn (Wetzlarer Bahn) berührt das Stadtgebiet im Osten mit dem Bahnhof Potsdam Medienstadt Babelsberg und den an der Potsdamer Stadtgrenze liegenden Bahnhof Potsdam-Rehbrücke. An dieser Strecke liegt auch der wichtige Rangierbahnhof Seddin südlich von Potsdam. Ihr östlichstes Teilstück führt schnurgerade durch den Grunewald und hat über den Bahnhof Berlin-Charlottenburg Anschluss an die Berliner Stadtbahn. Nachdem 1945 die Stammbahn zwischen Berlin-Zehlendorf und Griebnitzsee unterbrochen wurde, läuft der gesamte Regional- und Fernverkehr zwischen Berlin und Potsdam über die Stadtbahn.
Die Wannseebahn wurde 1874 als Vorortstrecke angelegt, auf dem Abschnitt zwischen dem Bahnhof Berlin-Wannsee und der heutigen Stadtgrenze verläuft parallel dazu die Fernstrecke der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn. 1891 wurden die Vorortgleise der Wannseebahn komplett von den Ferngleisen getrennt. Seit 1902 ist Potsdam über Vorortgleise der Grunewaldstrecke mit direkten Vorortzügen von der Berliner Stadtbahn aus zu erreichen. Im Jahr 1928 wurde auf den Vorortgleisen der elektrische S-Bahn-Betrieb aufgenommen.
Die Bahnstrecke Jüterbog–Nauen als Teil der Umgehungsbahn ging im Potsdamer Raum zwischen 1902 und 1908 in Betrieb. Die Strecke kreuzte die Bahnstrecke nach Magdeburg im Bahnhof Park Sanssouci (früher: Wildpark). Ihr Abschnitt nördlich des Bahnhofs Golm ging im Berliner Außenring auf. Nach 1945 entstand eine Verbindungskurve, die direkte Fahrten aus Richtung Süden zum Bahnhof Potsdam Stadt (seit 1999 Potsdam Hauptbahnhof) möglich machte. Der Abschnitt zwischen Potsdam und der Kreuzung mit der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn bei Seddin wurde zur Hauptbahn ausgebaut, über die zeitweise sogar Transitzüge von Süddeutschland nach Westberlin fuhren.
Der Berliner Außenring mit seinem Damm durch den Templiner See wurde 1956 eröffnet. Hier liegt der (1999 geschlossene) obere Teil des zeitweiligen (1960–1993) Potsdamer Hauptbahnhofs (seit 1993: Potsdam Pirschheide). Weitere Stationen am Außenring auf Potsdamer Gebiet sind der Bahnhof Golm und der Haltepunkt Marquardt. Die Anbindung Potsdams an den Eisenbahnfernverkehr ist stark eingeschränkt, seit die meisten Fernzüge seit Mitte der 2000er Jahre über die Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin geführt werden.
Von der Stadt aus führen Regionalexpress- und Regionalbahnlinien in folgende Richtungen:
Ab Hauptbahnhof (teilweise auch ab Charlottenhof, Park Sanssouci und Golm)
Berlin (RE 1, z. T. RB 21/22) – Frankfurt (Oder) (RE 1)
Brandenburg an der Havel – Magdeburg (RE 1)
Golm – Hennigsdorf – Oranienburg (RB 20)
Golm – Wustermark – Berlin-Spandau (RB 21)
Golm – Flughafen BER – Königs Wusterhausen (RB 22)
Golm / Berlin – Flughafen BER (RB 23)
Beelitz – Jüterbog (RB 33)
Ab Medienstadt Babelsberg und Rehbrücke:
Berlin – Flughafen BER – Senftenberg: RE 7
Bad Belzig – Dessau: RE 7
Beelitz: RB 37
=== Schiffsverkehr ===
Potsdam wird tangiert von der Unteren Havel-Wasserstraße. Sie ist die wichtigste Ost-West-Verbindung der Binnenschifffahrt zwischen der Oder, Berlin und der Elbe. Die Frachtschifffahrt benutzt den Sacrow-Paretzer Kanal. Der Hafen an der Langen Brücke in Potsdam wird von den Schiffen des Unternehmens Weisse Flotte Potsdam und Gastliegern von Schifffahrtsunternehmen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern genutzt. In der Saison gibt es einen täglichen Linienverkehr vom Hafen an der Langen Brücke nach Berlin-Wannsee, Spandau–Lindenufer und der Greenwichpromenade am Tegeler See. sowie in Richtung Caputh, Ferch und Werder. In der Alten Fahrt der Havel an der Freundschaftsinsel stehen Anleger für den privaten Wassersport zur Verfügung.
=== Luftverkehr ===
Potsdam ist über den rund 40 Kilometer in östlicher Richtung entfernten Flughafen Berlin Brandenburg (BER) an den nationalen und internationalen Luftverkehr angeschlossen. Der Flughafen BER ist mit der Regionalbahnlinie RB 22 und der Schnellbuslinie BER 2 bzw. über die Schnellstraße Potsdam–Schönefeld erreichbar.
== Bildung ==
=== Hochschulen ===
Potsdam ist eine international renommierte Universitätsstadt mit drei öffentlichen Hochschulen. Im Wintersemester 2020/21 sind 26.555 Studenten in den Hochschulen eingeschrieben. 2019 hatten 26,3 Prozent der Einwohner einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss oder Promotion (Bundesdurchschnitt von 18,5 Prozent).
Die Universität Potsdam wurde 1991 als Universität des Landes Brandenburg gegründet. Die Universität ist auf die drei Hauptstandorte Am Neuen Palais, Golm und Griebnitzsee verteilt und hat insgesamt über 20.000 Studenten. Das Hasso-Plattner-Institut ist in Deutschland die einzige privatfinanzierte Fakultät an einer öffentlichen Universität, der Universität Potsdam.Die Filmuniversität Babelsberg ist die älteste und größte Medienhochschule Deutschlands und seit 2014 Universität. Sie wurde 1954 als Deutsche Hochschule für Filmkunst gegründet und trug seit 1985 den Namen Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. Der Campus der Universität befindet sich auf dem Gelände des Filmstudios Babelsberg und wird aktuell von etwa 800 Studenten besucht. An der Hochschule werden die jährlichen Sehsüchte, ein internationales Studentenfilmfestival, organisiert. Die EMS Electronic Media School bildet Journalisten aus.
Die Fachhochschule Potsdam ist eine junge Hochschule, die 1991 in Trägerschaft des Landes Brandenburg gegründet wurde. Sie wird von über 3500 Studenten besucht.
Neben den staatlichen Hochschulen gibt es in der Stadt auch die privat geführte Fachhochschule für Sport und Management Potsdam, die kirchliche beziehungsweise private Hochschule Clara Hoffbauer Potsdam und die private HMU Health and Medical University.
=== Forschung ===
Die Stadt Potsdam hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Forschungsstandort entwickelt. In keiner deutschen Stadt gibt es mehr Forschungseinrichtungen je Einwohner als in Potsdam. Das wissenschaftliche Potenzial erstreckt sich auf mehr als 30 Forschungseinrichtungen in den Bereichen Geist und Gesellschaft, Geowissenschaften und Umwelt, Biologie und Leben sowie Physik und Chemie, darunter drei Max-Planck-Institute und zwei Fraunhofer-Institute. Viele der Institute sind an die Universität Potsdam angegliedert.
Zu den Forschungsinstituten zählen unter anderem das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, das Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, das Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie, das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut), das Geoforschungszentrum Potsdam, das Leibniz-Institut für Astrophysik, das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, das Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Bergholz-Rehbrücke (Ortsteil der Gemeinde Nuthetal) und das Zentrum für Zeithistorische Forschung am Neuen Markt.
=== Schulen ===
Laut Daten des Statistischen Bundesamts erlangen in keiner anderen deutschen Großstadt mehr Schüler eines Jahrgangs die allgemeine Hochschulreife als in Potsdam. Im Jahr 2017 schlossen 1942 Schüler an Potsdamer weiterführenden Schulen 1124 mit einem Abitur ab, was einer Abitur-Quote von 58 Prozent entsprach. Der deutschlandweite Durchschnitt lag bei rund 34 Prozent.
== Architektur ==
=== Welterbe ===
Bereits 1990 wurden die Potsdamer Schlösser und Parks auf gemeinsamen Antrag beider deutscher Staaten zum UNESCO-Welterbe erklärt. Seitdem gehören die Parkanlagen Sanssouci, Neuer Garten, Babelsberg, Glienicke und die Pfaueninsel mit ihren Schlössern sowie seit 1992 Schloss und Park Sacrow mit der Heilandskirche zum Weltkulturerbe. 1999 wurde das Potsdamer Welterbe um 14 Denkmalbereiche erweitert, darunter Schloss und Park Lindstedt, die russische Kolonie Alexandrowka, das Belvedere auf dem Pfingstberg, der Kaiserbahnhof und die Sternwarte am Babelsberger Park. Insgesamt erstreckt sich das Welterbe im Potsdamer Stadtgebiet auf 1337 ha Parkanlagen mit 150 Gebäuden aus der Zeit von 1730 bis 1916. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft (mit Gesamtfläche von 2064 ha) ist damit die drittgrößte der deutschen Welterbestätten.Das Ensemble erfüllt die Ansprüche gemäß den Kriterien I, II und IV der UNESCO. Es ist zuerst eine einzigartige künstlerische Leistung, ein Meisterwerk des schöpferischen Geistes (I). Es hat beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Architektur, des Städtebaus und der Landschaftsgestaltung ausgeübt (II). Zudem ist es ein herausragendes Beispiel von architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die bedeutsame Abschnitte in der menschlichen Geschichte darstellen (IV).
=== Schlösser und Gärten ===
Potsdam ist vor allem als Stadt der Schlösser und Gärten bekannt. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft umfasst fast 20 Schlösser oder Palais. Die prominenteste Sehenswürdigkeit und Wahrzeichen der Stadt ist das Schloss Sanssouci mit seinen Parkanlagen. Nach eigenen Skizzen ließ der preußische König Friedrich der Große in den Jahren 1745–1747 ein kleines Sommerschloss im Stil des Rokoko errichten. Die Lage des Sommersitzes im Südwesten der Residenzstadt Berlin erinnert an die Funktion von Versailles im Verhältnis zu Paris.
Das Neue Palais ist das größte Schloss der Stadt Potsdam. Es befindet sich am westlichen Ende des Parks Sanssouci. Der Bau wurde 1763 nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges durch Friedrich den Großen begonnen und bereits 1769 fertiggestellt. Es gilt als letzte bedeutende Schlossanlage des preußischen Barocks. Friedrich plante es allein zu Repräsentationszwecken. Über 200 Räume, vier Festsäle und ein Rokokotheater standen bereit. Über 400 Statuen aus der antiken Götterwelt schmücken die Fassade und die Dachbalustrade.
Das Orangerieschloss auf dem Höhenzug zwischen Klausberg und Schloss Sanssouci ließ der „Romantiker auf dem Thron“, Friedrich Wilhelm IV. in den Jahren von 1851 bis 1864 erbauen. Die Errichtung des Orangerieschlosses stand in Verbindung mit der Planung einer Triumphstraße. Am Triumphtor sollte die Prachtstraße beginnen und am Belvedere auf dem Klausberg enden. Höhenunterschiede sollten durch Viadukte ausgeglichen werden. Wegen der politischen Unruhen der Märzrevolution und der fehlenden finanziellen Mittel wurde das gigantische Projekt jedoch nie vollendet. Das Orangerieschloss wurde mit einer Frontlänge von 300 Metern im Stil der italienischen Renaissance errichtet, nach dem architektonischen Vorbild der Villa Medici in Rom und der Uffizien in Florenz.
Im Potsdamer Neuen Garten, dicht am Ufer des Heiligen Sees, ließ Friedrich Wilhelm II. in den Jahren 1787–1792 das Marmorpalais errichten. Die Architekten Carl von Gontard und ab 1789 Carl Gotthard Langhans schufen ein Schlossgebäude im Stil des Frühklassizismus. Das aus rotem Backstein errichtete Marmorpalais ist ein zweigeschossiges Gebäude mit quadratischem Grundriss. Wegen der schönen Aussicht wurde auf das flache Dach des kubischen Baukörpers ein Rundtempel gesetzt. Als Blickfang dient unter anderem das weiße Schloss auf der Pfaueninsel.
Auch das italienisch anmutende Schloss Belvedere auf dem Pfingstberg im Potsdamer Norden ist ein bedeutender Bestandteil der Potsdamer Schlösserlandschaft. Zwischen 1847 und 1863 nach Plänen Friedrich Wilhelms IV. erbaut, bietet es aus 100 Metern Höhe eine Aussicht über die Potsdam umgebende Kulturlandschaft bis hin zum Berliner Fernsehturm. In der Zeit der Teilung Deutschlands war es aufgrund der Lage nahe der KGB-Zentrale am Fuße des Pfingstberges geschlossen worden und verfiel. Erst die späteren Gründer des Förderverein Pfingstberg in Potsdam e. V. sorgten ab 1987 mit ihrem unermüdlichen Engagement dafür, dass es wiederhergestellt werden konnte.
Neben den Schlössern verfügt Potsdam über sieben Parklandschaften. Die bekannteste Gartenanlage ist der Park Sanssouci. Auf Anweisung Friedrichs des Großen wurde der Wüste Berg 1744 durch die Anlage von Weinterrassen kultiviert. Durch die Ausweitung nach Westen, bildete sich bis zum Neuen Palais eine schnurgerade rund 2,5 Kilometer lange Hauptallee. Die Sehenswürdigkeiten im Park Sanssouci sind zahlreich. Neben Schlossgebäuden, Pavillons, Tempeln und Skulpturen befindet sich auch der Botanische Garten auf dem Areal, sowie die Historische Mühle, um die sich eine Legende spannt.
Der Neue Garten entstand ab 1787. Er sollte dem Zeitgeist entsprechend ein gartenarchitektonisch modernes Bild wiedergeben und sich von den Formen des barocken Parks Sanssouci abheben. Der freien Natur nachgebildet, betonte man in der Gestaltung den landschaftlichen Charakter. Die Bäume und Pflanzen sollten ungeschnitten in freier Wuchsform natürlich erscheinen. Die bekanntesten Gebäude sind das Schloss Cecilienhof und das Marmorpalais, aber auch eine kleine Pyramide, eine Sphinx am Ägyptischen Portal der Orangerie und ein Obelisk sind zu entdecken.
Peter Joseph Lenné und Fürst Hermann von Pückler-Muskau gestalteten den Park Babelsberg. Das zur Havel abfallende, hügelige Gelände wurde ab 1833 in eine Parklandschaft umgewandelt. Neben den zwei Schlössern im Park bietet der 46 Meter hohe Flatowturm eine Aussicht über die Stadt. Den tiefsten Einschnitt erfuhr der Park durch den Bau der Berliner Mauer 1961. Das Grenzgebiet durfte nicht betreten werden und verwilderte, es ist wieder kultiviert und zugängig. In dem Park befindet sich ein Studentenwohnheim der Universität Potsdam.
Das Jagdschloss Stern wurde von 1730 bis 1732 unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. erbaut, der leidenschaftlicher Anhänger der Parforcejagd war. Zu diesem Zweck ließ dieser ein riesiges Jagdgebiet – die Parforceheide – vor den Toren Potsdams einhegen, das mit 16 Schneisen durchzogen wurde, die alle von einem Kreuzungspunkt ausgingen. An diesem Wegestern ließ er durch niederländische Baumeister ein kleines Jagdschloss im Stile holländischer unverputzter Ziegelsteinhäuser errichten. Dabei sammelte man nebenbei auch Erfahrungen für den späteren Bau des Holländischen Viertels auf dem sandigen Potsdamer Baugrund. Es blieb der einzige Schlossbau des Soldatenkönigs in Potsdam.
Die Freundschaftsinsel mit Freilichtbühne, Ausflugslokal, Ausstellungspavillon und einem Schau- und Sichtungsgarten für Stauden- und Rosenpflanzungen liegt im Zentrum der Stadt zwischen den beiden Havelarmen Alte und Neue Fahrt.Der älteste Garten der Stadt Potsdam ist der Lustgarten, den der Große Kurfürst 1660 vor dem ehemaligen Stadtschloss anlegen ließ. Im Rahmen der Bundesgartenschau 2001 wurde er in moderner Form wieder hergerichtet.
Der Wildpark Potsdam gilt als „Lennés vergessener Garten“. Er wurde 1843 eingerichtet und ist über 875 Hektar groß. Erreichbar ist er über die Bahnstation Potsdam Park Sanssouci mit dem bekannten Kaiserbahnhof.
Der Volkspark Potsdam ist der neueste Park in der Stadt. Er wurde zur Bundesgartenschau 2001 auf einem ehemaligen militärisch genutzten Gelände in Potsdam-Bornstedt angelegt. Die dort errichtete Biosphäre ist eine Tropenhalle mit rund 20.000 Gewächsen.
Im Stadtteil Bornim befindet sich der öffentlich zugängliche Karl-Foerster-Garten des Staudenzüchters und Garten-Philosophen Karl Foerster.
=== Viertel und Plätze ===
Seit dem Ausbau als Residenzstadt ist Potsdam eine europäisch geprägte Stadt. Dies spiegelt sich auch in der Kultur und Architektur wider. Neben zahlreichen Baustilen aus unterschiedlichen Epochen finden sich auch Wohnhäuser nach dem Vorbild niederländischer und russischer Bauweise, die für ehemalige Siedler errichtet wurden. Dem Zeitgeist entsprachen exotische Gebäude wie das Chinesische Haus aus dem 18. Jahrhundert oder die Schweizerhäuser in Klein Glienicke aus dem 19. Jahrhundert. Im norwegischen Stil wurde die Matrosenstation Kongsnæs errichtet (1945 größtenteils zerstört) und im englischen Landhausstil das Schloss Cecilienhof im Neuen Garten. Obwohl die Stadt eine über eintausendjährige Geschichte hat, sind keine Bauten aus dem Mittelalter erhalten. Die jeweiligen Regenten zeigten mit ihren ambitionierten Bauvorhaben ihre Vorliebe für Kultur und technische Leistungsfähigkeit.
Um niederländische Handwerker nach Potsdam zu locken, ließ der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. zwischen 1733 und 1740 das Holländische Viertel errichten. Der zu den ersten Siedlern gehörende Baumeister Jan Bouman bekam die Leitung übertragen. Das zentral gelegene und in sich geschlossene Quartier besteht aus 134 Häusern aus rotem Ziegelstein, die durch zwei Straßen in vier Blöcke aufgeteilt werden. Das Viertel wird durch das Nauener Tor und die Peter-und-Paul-Kirche begrenzt.
Im Norden der Stadt entstand in den Jahren 1826/1827 die russische Kolonie Alexandrowka für die letzten zwölf russischen Sänger eines Chores. Peter Joseph Lenné gab der Anlage die Form eines Hippodroms mit eingelegtem Andreaskreuz. Durch die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Häusern Hohenzollern und Romanow wurde die Kolonie als Denkmal der Erinnerung nach dem 1825 verstorbenen Zar Alexander I. benannt. Die Siedlung besteht aus insgesamt dreizehn Fachwerkhäusern. Die Außenwände der freistehenden ein- und zweigeschossigen Giebelhäuser sind mit halbrunden Baumstämmen verkleidet und erinnern an russische Blockhäuser. Die für die Kolonisten erbaute russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Gedächtniskirche steht in der Nähe auf dem Kapellenberg. Direkt gegenüber, im Volkspark, befindet sich noch eins der letzten Lenindenkmäler in Deutschland.Das Weberviertel Nowawes im heutigen Babelsberg mit der Friedrichskirche in seiner Mitte, ließ Friedrich der Große 1751 für böhmische Protestanten errichten. Friedrich II. gewährte den Glaubensflüchtlingen Steuer- und Religionsfreiheit. Die meist fünfachsigen Weberhäuser wurden von je zwei Familien bewohnt. Der König gab die Anweisung Nussbäume zu pflanzen, um das Holz für die Produktion von Gewehren zu nutzen. Ab 1780 pflanzte die Forstverwaltung Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht.
Der Alte Markt ist das historische Zentrum der Stadt. Hier wurden einst die Bauten des Stadtschlosses mit Marstall und Lustgarten, der Nikolaikirche, des Alten Rathauses und des Palasts Barberini errichtet. Während der DDR-Zeit entstanden hier zusätzlich ein markantes Hotelhochhaus. Das zerstörte Stadtschloss hinterließ in dieser Zeit eine große Stadtlücke, die aber durch dessen Wiederaufbau, durch den wiedererrichteten Palast Barberini und das neu erbaute Humboldt Quartier wieder geschlossen werden konnte. Auch eine neue Bittschriftenlinde steht wieder inmitten dieses Ensembles.
Der Neue Markt aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist einer der besterhaltenen Barockplätze Europas. In seiner Mitte errichtete Jan Boumann die Ratswaage. Im Südwesten des Platzes steht der ehemalige Kutschstall, in dem sich das Haus der Brandenburg-Preußischen Geschichte befindet. Das Kabinetthaus am Neuen Markt 1 war ein Stadtpalais. In ihm wurden der spätere König Friedrich Wilhelm III. und Wilhelm von Humboldt geboren. Es befinden sich in den Gebäuden am Neuen Markt eine Reihe kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen. Der Neue Markt liegt versteckt hinter Häuserreihen.
Der Luisenplatz verbindet die Fußgängerzone der Brandenburger Straße mit der Allee zum Eingang des Parks Sanssouci am Grünen Gitter. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Luisenplatz durch Peter Joseph Lenné gärtnerisch gestaltet und mit einem Brunnenbecken mit Fontäne in der Mitte versehen. Die Gartenanlage wich in den 1930er Jahren einem Umbau zum Parkplatz und der damit verbundenen Pflasterung. Zwischen dem Luisenplatz und der Brandenburger Straße steht seit 1770 das kleine Brandenburger Tor, ein paar Meter östlich davon die Spieluhrenskulptur von Gottfried Höfer.
=== Stadttore ===
Als Garnisonstadt verfügte Potsdam über eine Stadtmauer, die aber nicht der Befestigung diente, sondern vor allem die Desertion der Soldaten und den Warenschmuggel verhindern sollte. Die Stadtmauer verband die Stadttore, von denen noch drei erhalten sind: das Brandenburger Tor, das Nauener Tor und das Jägertor. Die Grenze der sogenannten Accise- und Desertations-Communikation wurde erst im Jahr 1718 unter Friedrich Wilhelm I. erbaut. Es sind nur wenige Reste der Stadtmauern erhalten. Drei Stadttore sind nicht mehr erhalten. Das Teltower Tor stand an der südöstlichen Seite der Langen Brücke. Das ehemalige Berliner Tor wurde 1945 fast völlig zerstört, erhalten blieb nur eine Seitenwand. Vom Neustädter Tor ist nur noch ein einzelner Obelisk erhalten geblieben.
Das Brandenburger Tor, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Berliner Wahrzeichen, wurde 1770 errichtet. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges wurde das ursprüngliche Tor abgetragen und durch einen monumentalen Neubau als Zeichen des Sieges ersetzt. Als Vorbild diente auf Anweisung Friedrichs II. unter anderem der Konstantinsbogen in Rom. Das Tor hat zwei Baumeister und daher auch zwei Gesichter. Carl von Gontard entwarf die Stadtseite, sein Schüler Georg Christian Unger übernahm die Feldseite.
Das älteste erhalten gebliebene Tor ist das Jägertor. Es wurde 1733 errichtet und bildete einen der Ausgänge nach Norden. Seinen Namen erhielt es nach dem vor der Stadt liegenden kurfürstlichen Jägerhof. Architrav und Bekrönung bestehen aus Sandstein, während die rustizierten Pfeiler aus verputztem Ziegelmauerwerk errichtet wurden.
Das wesentlich größere Nauener Tor stammt aus dem Jahr 1755 und entstand auf direkte Anordnung Friedrichs II. Ob dieser damit eines der ersten Beispiele der von England ausgehenden Neogotik auf dem europäischen Kontinent schaffen, oder an „sein“ Schloss Rheinsberg erinnern wollte, ist unklar. Der Platz vor dem Nauener Tor ist mit vielen Cafés, Restaurants und Bars ein Treffpunkt der Potsdamer und deren Gäste. Direkt hindurch führt eine Straßenbahnlinie.
== Kultur ==
=== Historie ===
Aus der Zeit der ersten Besiedelung bis zum Mittelalter sind nur wenige kulturelle Spuren erhalten geblieben. Bei Ausgrabungen am Alten Markt wurden die Reste einer slawischen Burg und weniger Häuser gefunden. Auch nach der deutschen Eroberung blieb Potsdam eine kleine Stadt mit lokalem Handwerk. Ein kultureller Aufschwung ging einher mit dem Aufbau als zweite Residenzstadt durch den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm ab dem 17. Jahrhundert. Zu den ältesten erhaltenen Gebäuden zählt deshalb der Marstall des Stadtschlosses aus dem Jahr 1669.
Die Zuwanderung von gut ausgebildeten französischen Hugenotten förderte ab 1685 die kulturelle Entfaltung in Brandenburg und Preußen. In der Stadt Potsdam wurde ein französisches Viertel errichtet. Aus dieser Zeit erhalten blieb die Französische Kirche.
Potsdam entwickelte sich neben Berlin zu einem kulturellen Zentrum in Preußen. Friedrich der Große schätzte die Gedanken der Aufklärung und förderte die Wissenschaft und Kunst. So beendete er als erster in Europa die Zensur für nichtpolitische Teile der Zeitungen und stellte fest, dass „Gazetten wenn sie interreßant seyn sollten nicht geniret werden müsten“. Der bedeutende Philosoph der Aufklärung Voltaire wurde auf Wunsch des Königs 1750 an den Hof von Sanssouci eingeladen und blieb bis 1757.
Nach 1945 wurde Potsdam ein Zentrum der Kultur und Wissenschaft der DDR, deren sozialistische Staatsregierung allen Bürgern Zugang zum kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen wollte. Laut Programm sollte die Gesellschaft nach dem Vorbild der UdSSR erzogen werden. In allen Bereichen der Gesellschaft sollte Ausbeutung und Profitstreben beendet werden. Historische Gebäude und Traditionen wurden vernachlässigt.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 entwickelte sich das kulturelle Leben in Potsdam nach anfänglichem Zögern dynamisch voran. Dabei wirkte die Nähe zur Kulturmetropole Berlin belebend. Das zunehmende Interesse an der Stadt führte zu zahlreichen Wiederaufbauinitiativen, die auch durch ein ausgeprägtes Mäzenatentum ihren Ausdruck fanden. So konnte sich die Kulturlandschaft stetig weiterentwickeln.
=== Film ===
Potsdam ist seit der Weimarer Zeit eines der bedeutendsten Filmzentren in Deutschland und in der Welt. Die UFA produzierte dort Werke der Filmgeschichte wie etwa Metropolis, Melodie des Herzens, Der blaue Engel oder Die Feuerzangenbowle. Die DEFA stellte später Filme wie Der Untertan, Spur der Steine oder Die Legende von Paul und Paula her.Seit dem späten 20. Jahrhundert widmen sich die Filmstudios in Babelsberg und zahlreiche Filmproduktionsfirmen mit Sitz in Potsdam vor allem nationalen und internationalen Kino-, Serien- und Fernsehproduktionen wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Sonnenallee, Wege zum Glück, Dark oder Babylon Berlin.
Durch die hohe Anzahl der in Potsdam beheimateten Filmunternehmen hat sich der Standort zu einem Zentrum der Popkultur in Europa entwickelt.
=== Museen und Sammlungen ===
Die Potsdamer Museen decken eine breite Themenvielfalt ab. Die Stadt verfügt über eine Vielfalt an Bildender Kunst in Form von Gemälden und Skulpturen.
Die Hauptwerke sind in den Schlössern oder Museen zu besichtigen. Die Gemälde verteilen sich vor allem auf die Bildergalerie. Die Bildergalerie wurde auf Wunsch des Königs Friedrich II. in den Jahren 1755 bis 1764 erbaut. Sie befindet sich östlich des Schlosses Sanssouci und ist der älteste erhaltene freistehende fürstliche Museumsbau in Deutschland. Der Galeriesaal ist prachtvoll gestaltet mit reich vergoldeter Ornamentik an der leicht gewölbten Decke. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Gemälden des Barock, des Manierismus und der Renaissance. Berühmte italienische und flämische Maler wie Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck, Antoine Watteau und Caravaggio sind mit ihren Werken vertreten.
Neben den bestehenden Museumshäusern erweiterten in den letzten Jahren einige Neugründungen die Museumslandschaft. Dazu zählt das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, das 2003 gegründet wurde. Das 1981 gegründete Filmmuseum Potsdam im Marstall am Alten Markt zeigt die Entwicklung der Filmgeschichte mit Betonung auf den Standort der Filmstudios in Babelsberg.
Weitere Museen umfassen die Gedenkstätte zum Attentat vom 20. Juli 1944 und die Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit (MfS) mitten im Zentrum der Stadt. Auf dem Hof der weitgehend originalgetreu erhaltenen Untersuchungshaftanstalt des MfS ist seit einigen Jahren eine Plastik von Wieland Förster aufgestellt. Das Jan Bouman Haus präsentiert die Geschichte und Architektur des Holländischen Viertels. Am Park Sanssouci befindet sich das Mühlenmuseum in der Historischen Mühle, mit mühlenkundlicher Ausstellung und praktischer Darstellung des Mahlvorgangs. Die Gedenk- und Begegnungsstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Potsdam dokumentiert die Geschichte des KGB in der DDR.
Das 2017 im wiederaufgebauten Palast Barberini eröffnete Museum Barberini präsentiert ausgehend von der Kunstsammlung der Hasso-Plattner-Förderstiftung wechselnde Ausstellungen mit Leihgaben aus internationalen Museen und Privatsammlungen. Das ebenfalls von der Hasso-Plattner-Stiftung betriebene Kunsthaus Das Minsk präsentiert Kunst aus der DDR und Künstler der Gegenwart.
Das Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte am Alten Markt bietet eine Dauerausstellung zur Stadtgeschichte sowie Sonderausstellungen. Es befindet sich im Alten Rathaus, das durch ein modernes Gebäude mit dem Knobelsdorffhaus verbunden ist. Die Nowaweser Weberstube im Weberviertel zeigt die wechselhafte Geschichte der Weberkolonie Nowawes im heutigen Stadtteil Babelsberg.
Das Naturkundemuseum Potsdam hat mehr als 220.000 Objekte zur Tierwelt Brandenburgs zusammengetragen. Das Museum ist im ehemaligen Ständehaus der Zauche untergebracht. Es wurde 1770 nach Plänen von Georg Christian Unger erbaut und gehört zu einem Ensemble mit dem Großen Militärwaisenhaus in der Innenstadt.
Im Museum FLUXUS+ in der Schiffbauergasse, einem Museum für moderne Kunst, sind unter anderem Werke von Wolf Vostell, Emmett Williams, Christo, Niki de Saint Phalle zu sehen. Auf dem rbb-Gelände in Babelsberg befindet sich ein Standort des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA).
Kai Desinger öffnete im April 2012 mit der Garage du Pont eine Mischung aus Restaurant und Automuseum. In den Räumen einer ehemaligen Tankstelle sind einige alte Autos ausgestellt, wobei der Schwerpunkt bei französischen Klassikern liegt. Ende 2019 wurde der Betrieb vorübergehend eingestellt. Im Juni 2020 wurde über die Wiedereröffnung berichtet.
=== Theater und Musik ===
Seit 2006 ist das Hans-Otto-Theater in der Schiffbauergasse mit seiner neuen Hauptspielstätte beheimatet. Das Ensemble spielt aber auch im historischen Rokokotheater im Neuen Palais, welches zu den schönsten erhaltenen Theaterräumen des 18. Jahrhunderts zählt. Es nimmt die beiden oberen Stockwerke des Südflügels ein.
Es gibt mehrere Orchester in Potsdam: die Kammerakademie Potsdam (bestehend aus dem Ensemble Oriol und dem Persius-Ensemble), das Collegium musicum Potsdam, das Neue Kammerorchester Potsdam (als ein Ensemble der Musik an der Erlöserkirche), das Junge Orchester Potsdam und das Jugendsinfonieorchester. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg ist das einzige professionelle Orchester für Filmmusik in Deutschland. Der Nikolaisaal wurde als Konzert- und Veranstaltungshaus 2000 neu eröffnet; die Kammerakademie Potsdam ist das Hausorchester des Nikolaisaals.
Der SG Fanfarenzug Potsdam e. V. ist ein Fanfarenorchester aus Brandenburg, das auf dem Gebiet der reinen Naturfanfarenmusik aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen international bekannt wurde. Der Fanfarenzug zieht regelmäßig musizierend durch Potsdam.
Bekannte Bands aus Potsdam sind u. a. Ruffians, Subway to Sally oder Krogmann. Musikalische Festivals und Partys, finden im Lindenpark und im Bahnhof Potsdam Pirschheide statt. Daneben haben sich diverse Clubs und Tanzbars etabliert.
=== Potsdamlied ===
Das Potsdamlied wurde im April 2004 beim Sender PotsdamTV und im RBB in der Sendung Sonntagsvergnügen mit Ekkehard Göpelt uraufgeführt. Gesungen hat es Holger Hillmann, die Melodie stammt von Christoph Wirsching, verfasst wurde es von Jens Erdmann. Lob und Anerkennung gab es von Bürgermeister Jann Jakobs und dem Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Auch der in Potsdam geborene Modedesigner Wolfgang Joop äußerte sich positiv über das Lied für seine Geburtsstadt.
=== Szene und Gastronomie ===
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich das Gebiet um die Schiffbauergasse in der Berliner Vorstadt, auf dem John B. Humphreys im 19. Jahrhundert Raddampfer baute, zum populären Kulturzentrum in Potsdam. Vor Kultureinrichtungen wie die fabrik Potsdam, das T-Werk, der Kunstraum Potsdam, die Schinkelhalle und das Waschhaus liegt dort das Theaterschiff Potsdam, wo sich der Tiefe See wieder zur Havel verengt.In der Innenstadt Potsdams befinden sich außerdem seit 2019 zwei Restaurants, die mit je einem Stern im Guide Michelin geführt werden.
=== Sport und Freizeit ===
Der Olympiastützpunkt Potsdam ist eine sportart- und länderübergreifende Beratungs- und Betreuungseinrichtung für den Spitzen- und Nachwuchsleistungssport in Verbindung mit der Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“. Die Schule trägt den offiziellen Titel Eliteschule des Sports, der ihr 2006 vom Deutschen Olympischen Sportbund verliehen wurde. Die Schule und der Olympiastützpunkt liegen am Ufer des Templiner Sees, neben der Potsdamer Ruder-Gesellschaft und dem Brandenburgischen Schwimmzentrum, das seit 2017 auch Bundesstützpunkt Schwimmen des Deutschen Olympischen Sportbunds ist.2021 hatte sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin beworben. 2022 war die Stadt als Gastgeber für Special Olympics Australien ausgewählt worden. Damit wurde Potsdam Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
In Potsdam sind rund 130 Sportvereine mit insgesamt fast 20.000 Mitgliedern ansässig. Der SC Potsdam ist der mitgliederreichste Verein in der Stadt und im Land Brandenburg. Der 1. FFC Turbine Potsdam gehört zu den erfolgreichsten Vereinen im deutschen Damen-Bundesliga. Während seiner Erstligazeit wurde der Verein in den Jahren 2004 bis 2012 sechsmal Deutscher Meister und konnte dreimal den DFB-Pokal gewinnen. Im Jahr 2005 konnte der UEFA Women’s Cup gewonnen werden und 2010 wurde der 1. FFC Turbine erster Gewinner der neu eingeführten UEFA Women’s Champions League. Die Herren-Mannschaft des SV Babelsberg 03 beziehungsweise die BSG Motor Babelsberg spielte sowohl in der DDR-Liga und 2. Bundesliga, der jeweils zweithöchsten Spielklasse. Seit der Saison 2018/19 spielt der Verein in der Regionalliga.
Der Kanu-Club Potsdam zählt zu den erfolgreichsten Kanurennsportvereinen der Welt und hat bereits zahlreiche Olympiasieger und Weltmeister hervorgebracht. Im Volleyball spielt der SC Potsdam in der ersten Bundesliga der Frauen, der Handballverein 1. VfL Potsdam in der dritten Liga. Die Wasserballer des OSC Potsdam spielen in der Deutschen Wasserball-Liga, der 1. Bundesliga. Der USV Potsdam war mehrere Spielzeiten in der 1. Rugby-Bundesliga vertreten.
Die Potsdam Royals sind eine American-Football-Mannschaft, die seit 2018 in der höchsten deutschen Liga spielt. Im Judo kämpft der UJKC Potsdam bei den Herren in der 1. Bundesliga. Die Damen wurden 2005, 2007 und 2008 Deutsche Mannschaftsmeister.
Die Gewichtheber des AC Potsdam treten ab der Saison 2022/23 erneut in der 1. Bundesliga an. Im Triathlon ist Triathlon Potsdam sowohl bei den Herren als auch bei den Damen mit je einem Team in der 1. Bundesliga vertreten.
Jährlich im April wird in Potsdam auf einem Rundkurs mit Start und Ziel auf der Glienicker Brücke einer der wenigen Drittelmarathon-Läufe in Deutschland ausgetragen.Die bedeutendsten Sportstätten in der Stadt sind das Karl-Liebknecht-Stadion mit einer Zuschauerkapazität von 10.787 Plätzen, Heimspielstätte des SV Babelsberg 03 und des 1. FFC Turbine Potsdam, das Stadion am Luftschiffhafen, die MBS Arena Potsdam und die Schwimmhalle im Blu-Bad.
Seit 2008 gibt es auf dem Telegrafenberg mit dem Abenteuerpark Potsdam den größten Kletterwald Brandenburgs. Auf sieben Parcours mit 115 Elementen, darunter einer 200 Meter langen Seilrutsche, können sich Kletterer bis zu zwölf Metern hoch hinaus wagen.
=== Veranstaltungen ===
Die alljährliche Potsdamer Schlössernacht findet in den verschiedenen Schlössern und Parks statt. Sie öffnet zur abendlichen Stunde ihre Tore und bietet Einblicke in die Räumlichkeiten. Hunderte Künstler treten zu der Veranstaltung in den Parkanlagen auf.
Außerdem werden jährlich das Internationale Filmfest Potsdam sowie die Sehsüchte, das größte internationale Studentenfilmfestival Europas, abgehalten. Im Holländischen Viertel finden jahreszeitlich der Weihnachtsmarkt Sinterklaas und das Tulpenfest nach niederländischem Brauch statt. Darüber hinaus haben sich zahlreiche weitere Veranstaltungen, wie die im Mai stattfindenden Potsdamer Tanztage, das Literaturfest LIT:potsdam oder das Theaterfestival UNIDRAM, etablieren können.
Das M100 Sanssouci Colloquium ist ein jährliches internationales Medientreffen in den Schlössern und Gärten der Stadt. Der Prix Europa ist eines der größten trimedialen Festivals in Europa und ein Wettbewerb für Fernseh-, Hörfunk- und Online-Produktionen. Seit 2018 findet die Preisverleihung in Potsdam statt.
== Persönlichkeiten ==
=== Baumeister und Landschaftskünstler ===
Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff war als Baumeister beeinflusst durch den französischen Barock-Klassizismus. Mit seinen Bauten schuf er die Grundlage für das friderizianische Rokoko. Er gestaltete unter anderem das Schloss Sanssouci und das Stadtschloss. Karl Friedrich Schinkel zählt zu den herausragenden Architekten der klassizistischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Sein erster realisierter Entwurf ist der Pomonatempel auf dem Pfingstberg. Seine bedeutendsten Werke in Potsdam sind das Schloss Charlottenhof und die Nikolaikirche. Mit dem Schloss Babelsberg entwarf er ein Gebäude im Stil der englischen Neogotik. Ludwig Persius war ein Schüler und enger Mitarbeiter Schinkels und Vertreter der Schinkelschule. Charakteristisch sind seine einfache Formensprache und Elemente der Neugotik. Zu seinen Bauwerken zählen die Heilandskirche am Port von Sacrow, die Friedenskirche und das Dampfmaschinenhaus im Park Babelsberg. Sein wohl außergewöhnlichstes Gebäude ist das Dampfmaschinenhaus im Stil einer maurischen Moschee. Jan Bouman war ein niederländischer Zuwanderer. Er leitete unter anderem den Bau des Holländischen Viertels, des Alten Rathauses, der Friedrichskirche in Babelsberg und zahlreicher Bürgerhäuser. Boumann war maßgeblich am Umbau des Potsdamer Stadtschlosses beteiligt.
Der Garten- und Landschaftskünstler Peter Joseph Lenné prägte fast ein halbes Jahrhundert die Gartenkunst in Preußen. Er gestaltete weiträumige Parkanlagen nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten mit vielfältigen Sichtachsen und wirkte in der Stadtplanung, indem er Grünanlagen für die Naherholung der Bevölkerung schuf. Lenné war seit 1863 Ehrenbürger der Stadt und starb 1866 in Potsdam. Fürst Hermann von Pückler-Muskau machte sich in Potsdam um die Vollendung des Parks Babelsberg verdient, dessen Gestaltung Peter Joseph Lenné begonnen hatte. Karl Foerster war ein deutscher Gärtner, Staudenzüchter und Garten-Schriftsteller. Sein Name ist verbunden mit dem Karl-Foerster-Garten in Potsdam-Bornim und dem auf seine Anregung hin nach Entwürfen seines Mitarbeiters Hermann Mattern angelegten Sicht- und Schaugarten auf der Freundschaftsinsel. Mit der Entstehung und Erhaltung der Potsdamer Gartenlandschaft beschäftigten sich zahlreiche Gartendirektoren und Hofgärtner, wie die Gartendirektoren Johann Gottlob Schulze und Ferdinand Jühlke und die Hofgärtnerfamilien Sello, Nietner und Fintelmann. Hans Kölle leitete von 1907 bis 1945 die öffentlichen Grünanlagen der Stadt, von denen er viele anlegte.
=== Mit Potsdam verbunden ===
Zu den bekannten Persönlichkeiten, die in Potsdam geboren sind, gehören u. a. Wilhelm von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Ernst Haeckel und Peter Weiss. Der Modedesigner Wolfgang Joop, der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, Entertainer Bürger Lars Dietrich, der mehrfache Bob-Olympiasieger Kevin Kuske und die Moderatorin Enie van de Meiklokjes zählen zu den bekannten lebenden Söhnen und Töchtern der Stadt.
Potsdam ist Wohn- und Arbeitsort weiterer Prominenter, von denen sich einige privat für die Stadt engagieren. Dazu zählen u. a. der Fernsehmoderator Günther Jauch, der Manager Mathias Döpfner, das Model Franziska Knuppe, die Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt, Georg Friedrich Prinz von Preußen, die Schauspielerin Nadja Uhl und der Dirigent Christian Thielemann (Stand: 2019).Zu den Ehrenbürgern der Stadt Potsdam gehören der Naturforscher Alexander von Humboldt (1849), der Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné (1863), der Reichspräsident Paul von Hindenburg (1933), der Gärtner Karl Foerster (1959), der Dichter Hans Marchwitza (1960) und Hasso Plattner (2017).
=== Zitate ===
== Literatur ==
Allgemeines
Im friderizianischen Potsdam, sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche-Verlag, Berlin 1920.
Gustaf von Dickhuth-Harrach: Potsdam. Mit 48 Federzeichnungen und einem farbigen Umschlagbild von Otto H. Engel sowie 12 Tafeln. Velhagen & Klasing, Bielefeld/Leipzig 1925.
Manfred Hamm, Hans-Joachim Giersberg: Potsdam. Die Stadt, die Schlösser und die Gärten. Berlin 1993.Geschichte
Elke Fein et al.: Von Potsdam nach Workuta – Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer-Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge. Potsdam 2002, ISBN 3-932502-19-1.
Peter-Michael Hahn: Geschichte Potsdams. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beck Verlag, München 2003, ISBN 3-406-50351-9.
Erich Konter, Harald Bodenschatz: Potsdam: Von der Residenz zur Landeshauptstadt. Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-116-8.
Bernhard R. Kroener (Hrsg.): Potsdam – Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte. (im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard R. Kroener unter Mitarbeit von Heiger Ostertag). Propyläen, Frankfurt am Main/Berlin 1993, ISBN 3-549-05328-2.
Joachim Nölte: Potsdam. Wie es wurde, was es ist. Die Geschichte der Stadt in 10 Kapiteln. terra press Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-942917-35-3.
Mehrere Autoren: Potsdamer Ge(h)schichte. 6 Bde. Edition Q, Be.Bra-Verlag, Berlin 2005–2007.Stadtbilder
Im friderizianischen Potsdam, Sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche Verlag, Berlin 1920.
Ulrike Bröcker: Die Potsdamer Vorstädte 1861–1900. von der Turmvilla zum Mietwohnhaus. (= Forschungen und Beiträge zur Denkmalpflege im Land Brandenburg. 6). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2004, ISBN 3-88462-208-0.
Horst Drescher, Renate Kroll: Potsdam – Ansichten aus drei Jahrhunderten. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1981.
Mandy Kasek (Hrsg.): Luftbildatlas Potsdam. DOM publishers, Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-140-3.
Otto Zieler: Potsdam – ein Stadtbild des 18. Jahrhunderts. Verlag Weise & Co., Berlin 1913.Stadt- und Architekturführer
Ingrid Bartmann-Kompa, Aribert Kutschmar u. a.: Architekturführer DDR. Bezirk Potsdam. Berlin 1981.
Uta Keil: Architekturführer Potsdam. Berlin 2015, ISBN 978-3-86922-185-4.
Joachim Nölte: Potsdam. Der illustrierte Stadtführer. Edition Terra, 7. Aufl. Berlin 2019, ISBN 978-3-9810147-6-1.
Paul Sigel, Silke Dähmlow, Frank Seehausen, Lucas Elmenhorst: Architekturführer Potsdam. Architectural Guide to Potsdam. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-496-01325-7.Heimatkunde
Potsdam und seine Umgebung (= Werte der deutschen Heimat. Band 15). 1. Auflage. Akademie Verlag, Berlin 1969.Einzelaspekte
Christine Anlauff: Die schönsten Sagen und Legenden aus Potsdam. be.bra verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86124-684-8.
== Weblinks ==
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Potsdam
Potsdam-ABC, Portal für Potsdam
Linkkatalog zum Thema Potsdam bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Literatur zu Potsdam im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Potsdam |
Zachary Taylor | = Zachary Taylor =
Zachary Taylor (* 24. November 1784 in Barboursville, Orange County, Virginia; † 9. Juli 1850 in Washington, D.C.) war der zwölfte Präsident der Vereinigten Staaten. Er amtierte vom 4. März 1849 bis zu seinem Tod und war nach William Henry Harrison der zweite Präsident, der während seiner Amtszeit verstarb.
Taylor wurde in eine wohlhabende Pflanzer-Familie geboren und wuchs im Grenzland, der „Frontier“ von Kentucky auf. Wie sein ältester Bruder entschied sich Taylor für die Laufbahn als Offizier und trat 1808 der United States Army bei. Daneben bewirtschaftete er eigene Plantagen und betätigte sich als Bodenspekulant, so dass er am Lebensende über bedeutenden Wohlstand verfügte. Als militärischer Führer machte er erstmals während des Britisch-Amerikanischen Kriegs auf sich aufmerksam, als er 1812 Fort Harrison gegen einen Angriff von Indianern verteidigte. Nach kurzzeitiger Entlassung aus der Armee nach dem Krieg folgten mehrere dienstliche Verwendungen in der „Frontier“. In den 1830er Jahren kämpfte Taylor im Black-Hawk-Krieg und im Zweiten Seminolenkrieg, wo er 1837 bei Okeechobee die einzige offene Feldschlacht in diesem Konflikt herbeiführte. Danach kommandierte er einen das Indianer-Territorium umfassenden Militärbezirk, der am Ende des Pfades der Tränen lag. Während des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs führte er eine eigene Armee, mit der er die Siege bei den Schlachten von Buena Vista, Palo Alto und Monterrey errang, was ihn zum Nationalhelden machte und 1847 die Beförderung zum Generalmajor einbrachte.
Im Jahr 1848 nominierte ihn die Whig Party zu ihrem Präsidentschaftskandidaten, nicht zuletzt weil sie mit Taylors Kriegsruhm ihre eigene Opposition gegen den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg vergessen machen wollte. Folgerichtig führten die Whigs einen personalisierten, ausschließlich auf Taylor fokussierten Wahlkampf und verzichteten auf ein Programm. Bei der Wahl setzt er sich gegen den Demokraten Lewis Cass durch. Beherrschendes Thema seiner von politischer Unerfahrenheit gekennzeichneten Präsidentschaft war die Sklavenfrage, die die Debatte über die Aufnahme von New Mexico, Kalifornien und Utah in die Union bestimmte. Taylor umgab sich mit einem Kabinett, dem es an Einfluss auf den Kongress fehlte, und er selbst zeigte wenig Bemühen, sich eine Basis in Repräsentantenhaus oder Senat zu verschaffen. Er näherte sich während seiner Amtszeit immer mehr dem abolitionistischen Nordstaaten-Flügel der Whigs an und entfremdete sich von den Pflanzern der Südstaaten. Noch bevor dieser Konflikt im Kompromiss von 1850 vorübergehend beruhigt werden konnte, starb Taylor nach nur 16 Monaten im Amt. Die größte von nur wenigen Errungenschaften seiner historiographisch überwiegend negativ bewerteten Amtszeit war der Abschluss des Clayton-Bulwer-Vertrags. Außerdem wird Taylors standfeste Verteidigung der Union gegenüber ersten Sezessionsbestrebungen der Sklavenstaaten positiv hervorgehoben.
== Leben ==
=== Familie und Erziehung ===
Taylor kam am 24. November 1784 auf der Plantage Montebello im Orange County in Virginia als drittgeborener Sohn und eines von insgesamt neun überlebenden Kindern von Richard Taylor (1744–1829) und Sarah Dabney Taylor (1760–1822), geborene Strother, zur Welt. Der Geburtsort lag nahe Montpelier, dem Landsitz des späteren Präsidenten James Madison, der sein Cousin 2. Grades war. Taylors Vater war während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges Offizier in der Kontinentalarmee, zeitweise Abgeordneter in der Virginia General Assembly und Mitglied einer der bedeutendsten Pflanzer-Familien des Bundesstaates, die seit 150 Jahren in Amerika lebte. 1779 heiratete er seine Frau, die ebenfalls aus wohlhabenden Verhältnissen stammte. Für seinen Offiziersdienst erhielt er eine umfangreiche Landschenkung nahe Louisville in Kentucky. Da Taylors Plantage in der Tidewater-Region kleiner war und durch übermäßigen Tabakanbau der Boden auslaugte, entschloss er sich zum Umzug. Für eine erste Erkundung ließ er die schwangere Frau mit beiden Söhnen in Virginia bei einem Cousin zurück, wo schließlich Zachary Taylor geboren wurde. Nachdem der Vater das Land bei Louisville in Besitz genommen und für die Besiedlung vorbereitete hatte, holte er nach sieben Monaten die Familie nach. Im August 1785 bezogen die Taylors schließlich die wenige Kilometer östlich von Louisville am Beargrass Creek liegende, 160 Hektar große Plantage Springfield.Taylor wuchs im damaligen Grenzland der Vereinigten Staaten, der in den Augen der Siedler durch „Wildnis“ geprägten „Frontier“ auf. Die im weiteren Sinne europäischen Siedler sahen sich im Recht, diese Wildnis zu bewohnen und ökonomisch nutzbar zu machen, und dabei den Indigenen auch gegen ihren Willen die von Gott gewollte Ordnung und Kultur zu bringen. Dabei fassten sie die Indianer als heidnische Wilde auf, die es zu bekehren galt. Diese hingegen sahen das Vordringen der Siedler als einen Angriff auf ihre Rechte und ihre wirtschaftlich-kulturellen Grundlagen an. Die zugewanderten Bewohner mussten aus diesem Grund bis zum Sieg von Anthony Wayne in der Schlacht von Fallen Timbers im Jahr 1794 immer wieder mit Angriffen dieser Wilden rechnen und sich, was für Europäer inzwischen ungewohnt war, vor gefährlichen und häufig unbekannten Tieren in Acht nehmen. So lernte Taylor früh, wie spätere Historiker mutmaßten, mit Bedrohungslagen umzugehen. Obwohl der Vater Friedensrichter und Abgeordneter in der State Legislature war und als Bodenspekulant bald über erheblichen Grundbesitz verfügte, genoss Taylor nur eine spärliche Schulbildung. Lesen und Schreiben erlernte er, wie in der dünn besiedelten „Frontier“ üblich, von der Mutter. Schwerpunkt der Erziehung war die praktische Ausbildung in Plantagenwirtschaft und Selbstversorgung. Taylor wurde später zu einem fähigen Pflanzer und gewitzten Geschäftsmann. Neben seiner militärischen Karriere erwirtschaftete er in längeren Phasen der Dienstbefreiung bedeutenden Wohlstand in Form von Grundbesitz. Taylor maß der Bildung seiner Kinder einen hohen Wert bei.
=== Militärische Laufbahn ===
==== Anfänge als junger Offizier ====
Spätestens als der älteste Bruder William im Februar 1807 den Dienst als Artillerieoffizier antrat, erwachte Taylors Interesse an einer militärischen Laufbahn. Zur Zeit seiner Bewerbung bestand wegen der Chesapeake-Leopard-Affäre akute Kriegsgefahr mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland, weshalb die United States Army um annähernd das Dreifache vergrößert wurde. Aufgrund dieses enormen Aufwuchses erhielt Taylor sofort ein Offizierspatent mit einer Verpflichtungszeit von fünf Jahren. Im Mai 1808 wurde er als Oberleutnant in das 7. Infanterieregiment eingestellt und entwickelte sich im Weiteren zu einem Vorgesetzten, der bei Äußerlichkeiten wie zum Beispiel Stil und Uniform ungezwungen bis zur Nachlässigkeit war, aber mit strenger Hand führte und das Kriegshandwerk verinnerlichte. Das Regiment stand unter dem Kommando von Oberst William Russell und wurde gerade aufgestellt. Taylor wurde nach Washington und Maysville in Kentucky abgeordnet, um dort Freiwillige zu werben. Bis April 1809 hatte er eine Kompanie rekrutiert und schiffte sich mit ihr nach New Orleans ein, um die Truppen von Brigadegeneral James Wilkinson zu verstärken. Gesundheit und Moral der dort stationierten Soldaten war wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen und der Nähe zum Nachtleben von New Orleans, das mit Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten einherging, in einem äußerst besorgniserregenden Zustand.Schließlich ordnete Kriegsminister Henry Dearborn den Abzug aus New Orleans nach Natchez an. Trotzdem verlegte Wilkinson mit seinen Truppen im Juni nur ungefähr 20 km flussabwärts des Mississippi nach Terre aux Boeufs im heutigen St. Bernard Parish. Das Lager wurde in einer sumpfigen Ebene aufgeschlagen, die sich einen Meter unter dem Flussniveau erstreckte, und litt unter mangelhafter Lebensmittelversorgung. Insbesondere die Soldaten aus Kentucky, die zuvor in ihrer Heimat noch einen extrem kalten Winter erlebt hatten, litten unter hoher Sterblichkeit. Wie viel Taylor von dieser Episode mitbekam ist unklar, da er im Mai und Juni das Kommando über Fort Pickering nahe Memphis innehatte und seine Rückkehr nach New Orleans fraglich ist. Eine Überlieferung besagt, dass er in Terre aux Boeufs an Gelbfieber erkrankte und zur Erholung in den Heimaturlaub entlassen wurde. Gesichert ist sein Aufenthalt in Louisville ab September; während dieser Zeit lernte er im benachbarten Jefferson County seine spätere Frau Margaret Mackall Smith kennen. Wie auch immer blieb ihm das Schicksal vieler seiner Kameraden erspart, von denen knapp die Hälfte gestorben war, bis Wilkinson schließlich im September Natchez erreichte.
Taylor und Smith heirateten am 21. Juni 1810. Seine Frau stammte aus einer Pflanzerfamilie in Calvert County, Maryland und war eine streng gläubige Episkopalistin. Taylor und seine Frau blieben einander lebenslang verbunden. Im April nächsten Jahres kam ihre erste Tochter, Ann, zur Welt. Margaret schenkte noch fünf weiteren Kindern das Leben, von denen insgesamt vier das Erwachsenenalter erreichten. Vom Vater erhielt Taylor 130 Hektar Land als Hochzeitsgeschenk, womit seine Karriere als Grundbesitzer und Bodenspekulant begann. Im November desselben Jahres wurde er zum Hauptmann befördert. Als Taylor im April 1811 in das Indiana-Territorium beordert wurde, hatte sich die Kriegsgefahr mit Großbritannien gelegt, weshalb die Armee nun an der westlichen Staatsgrenze stationiert wurde, die zu dieser Zeit der Ohio River bildete. Sie sollte die Siedler gegen Überfälle der Indianer schützen. Die Truppen waren über eine Kette von vielen Forts verteilt, die in der Regel eine Besatzung von um die 20 Mann und zwei Offizieren hatten. Taylor wurde mit dem Kommando über Fort Knox betraut, das im heutigen Vincennes am Wabash River liegt. Da sein Vorgänger vor dem Kriegsgericht angeklagt war, einen untergebenen Offizier erschossen zu haben, war Taylors Auftrag, die militärische Ordnung wiederherzustellen, was ihm schnell gelang. Im August machte er sich auf den Weg nach Frederick (Maryland), wo er als potenzieller Zeuge im Kriegsgerichtsverfahren gegen Wilkinson vorgeladen war. Wilkinson stand für sein Verhalten in Terre aux Boeufs und die Verwicklung in die „Burr-Verschwörung“ unter Anklage. Außerdem waren Wilkinsons enge Beziehungen zu Spanien, die später als verräterisch aufgedeckt wurden, Thema der Verhandlung. Noch bevor Taylor in den Zeugenstand gerufen werden konnte, kam es zum Freispruch. Danach kehrte Taylor nach Louisville zurück und wurde erneut mit der Anwerbung von Freiwilligen betraut.
==== Britisch-Amerikanischer Krieg ====
Im Zuge der Vorbereitungen für den Britisch-Amerikanischen Krieg erhielt Taylor im April 1812 den Befehl, eine Kompanie Rekruten in das nördlich von Vincennes am Ostufer des Wabash im heutigen Terre Haute gelegene Fort Harrison zu führen. Auf dem Marsch und auch nach Ankunft in der Garnison Anfang Mai hatten die Soldaten mit Krankheiten zu kämpfen, so dass Taylor Anfang September über nicht einmal 20 gesunde Männer verfügte. Im Juni erklärte Präsident Madison dem Vereinigten Königreich den Krieg. Ursächlich dafür war nicht nur, wie offiziell verlautbart, die Praxis der Royal Navy, amerikanische Seeleute zwangsweise zu rekrutieren, sondern auch, dass Großbritannien die Indianer gegen die Vereinigten Staaten aufstachelte. Anfang August war Taylor sicher, dass ein Angriff durch Indianer kurz bevorstand, nicht zuletzt da die Briten und der mit ihnen verbündete Tecumseh seit Kriegsbeginn mehrere Stützpunkte der Amerikaner, am bedeutendsten davon Detroit, erobert hatten. Am Morgen des 4. September wurden außerhalb des Forts zwei skalpierte Siedler gefunden und am Abend näherte sich Häuptling Joseph Lemar unter weißer Flagge mit einem Gefolge von 40 Indianern, die aus Winnebago, Kickapoo, Potawatomi und Shawnee bestanden und als Anhänger des „Shawnee-Propheten“ Tenskwatawa erkennbar waren, dem Stützpunkt. Lemar bat darum, ihnen am nächsten Tag Nahrungsmittelhilfe zu gewähren, da seine Leute vom Hungertod bedroht seien. Taylor erkannte darin schnell eine Falle, da dieses Vorgehen eine bekannte List der Indianer war, zumal alle diese Stämme aus dem nördlichen Indiana-Territorium kamen und im Jahr zuvor bei der Schlacht bei Tippecanoe gegen Gouverneur William Henry Harrison gekämpft hatten.Kurz vor Mitternacht kam es zu einer Attacke von mehr als 400 Mann gegen das Fort, wobei sie eine Blockhütte innerhalb der Befestigung in Brand setzen konnten. In dieser Notsituation, der sich zwei Soldaten durch Desertion entzogen, zeigte Taylor Führungsstärke, indem er reaktionsschnell mit klaren Kommandos die Soldaten beruhigte und die Löscharbeiten koordinierte. Danach ließ er bis zur Morgendämmerung eine behelfsmäßige, mannshohe Brustwehr errichten, um die durch den Brand entstandene Lücke in der Befestigung zu füllen. Am Ende wurde der Angriff abgewehrt, wobei zwei Soldaten fielen. Die Angreifer zogen sich daraufhin etwas zurück, brandschatzten die nähere Umgebung und umzingelten das Fort. Nach einem Hilfeersuchen von Gouverneur John Gibson, der von der Belagerung erfuhr, entsetzte Russell Fort Harrison am 16. September. Taylor erntete große Anerkennung für die Verteidigung von Fort Harrison und wurde im Oktober 1812 durch Präsident Madison mit dem Brevet-Rang eines Majors gewürdigt; es war die erste Auszeichnung dieser Art im Krieg von 1812. Dieser erste amerikanische Sieg im Krieg stoppte den Vormarsch von Briten und mit ihnen verbündeten Indianern zumindest im Indiana-Territorium.Taylors nächste Verwendung war die als Chef des Stabes unter General Samuel Hopkins, der Fort Harrison als Operationsbasis nutzte und umfangreich Milizen einsetzte. Ein Feldzug zur Zerstörung einer Kickapoo-Siedlung am Illinois River endete im Oktober 1812 wegen Nachschubproblemen und mangelnden Kampfesmutes der Truppen in einem kompletten Fehlschlag. Bei einer weiteren Mission im Folgemonat marschierten die Truppen entlang des Wabash Rivers nordwärts nach Prophetstown und vernichteten einige Indianersiedlungen. Die Indianer verlegten sich auf Hinterhalte und mieden eine offene Feldschlacht. Taylor entwickelte in dieser Zeit eine sehr niedrige Meinung über die Leistungsfähigkeit von Milizen und setzte sie später deshalb ungerne ein. Danach war Taylor auf Heimaturlaub in Louisville und leitete im Anschluss von Fort Knox die Personalgewinnung im Indiana-Territorium und Illinois. Nach einem erfolglos verlaufenen sommerlichen Feldzug unter dem Kommando von Russell kehrte er nach Vincennes zurück und holte in Erwartung einer längeren Stehzeit in Fort Knox die Familie nach. Dort wurde die zweite Tochter Sarah Knox geboren. Im Jahr 1814 konzentrierte sich die amerikanische Kriegsführung im Westen auf die Verteidigung des oberen Mississippi-Tals. Dazu wurde Taylor im Frühjahr zu General Benjamin Howard versetzt, der von St. Louis aus die Truppen im Missouri-Territorium befehligte. Beide befürchteten, dass die Briten beabsichtigten St. Louis einzunehmen, da diese bereits die Forts in Prairie du Chien und das in Rock Island (Illinois) erobert hatten, das an der Einmündung des Rock River in den Mississippi lag. Howard plante deswegen, selbst zum Rock River zu marschieren, dort mehrere indianische Siedlungen zu zerstören und auf dem Rückweg ein Fort an der Einmündung des Des Moines River in den Mississippi zu bauen. Vor dem Abmarsch erkrankte der General schwer und betraute Taylor mit dieser Operation.
Ende August 1814 verließ Taylor mit einer Truppe von 430 Mann auf acht verstärkten Keelboats St. Louis. Nach wenigen Tagen brachen die Masern aus, so dass viele Soldaten noch vor der Feindberührung unter starker Erschöpfung litten. Am 4. September erreichten sie den Rock River, sichteten Indianer und lagerten für die Nacht auf einer Flussinsel nahe dem heutigen Davenport (Iowa). In der frühen Morgendämmerung wurden sie angegriffen, konnten die Indianer jedoch auf das südlich gelegene Credit Island zurückwerfen. Bald gerieten sie vom westlichen Flussufer aus unter Granatfeuer durch ein Infanteriegeschütz der British Army, die mit 30 Soldaten ihre Verbündeten unterstützte. Angesichts dieser Feuerunterstützung und einer Unterlegenheit von 1:3 befahl Taylor nach einem Kriegsrat den Rückzug. Trotz der faktischen Niederlage blieb als ein Erfolg dieser Unternehmung, dass zukünftig keine feindlichen Truppen mehr südlich von Credit Island operierten. Wie von Howard angeordnet, ließ Taylor an der Einmündung des Des Moines Rivers in den Mississippi ein Fort errichten. Ende Oktober wurde er noch vor der Fertigstellung der Befestigung nach St. Louis zurückbeordert, da General Howard verstorben war. Im November übernahm Russell das Kommando im Missouri-Territorium und Taylor kehrte nach Vincennes zurück, wo er bis zum Kriegsende blieb.Im Herbst 1814 störte er sich daran, dass sein regulärer Rang immer noch Hauptmann war. Dies hing mit der Praxis zusammen, dass Beförderungen nur innerhalb eines Regiments und nicht in der Armee insgesamt erfolgten; Taylor konnte also erst befördert werden, wenn ein entsprechender Dienstposten in seinem Regiment frei wurde. Er machte für den Karrierestillstand Oberst William P. Anderson verantwortlich, der einen Groll gegen ihn hegte, seitdem er einen Befehl von ihm selbständig abgeändert und einen Rekrutierungsoffizier zur Unterstützung von Gouverneur William Clark in das Missouri-Territorium befohlen hatte. Tatsächlich hatte Anderson eine Serie von Briefen an Kriegsminister James Monroe geschrieben und sich über Taylor beschwert. Taylor bat unter anderem General Hopkins und den Repräsentanten Jonathan Jennings, sich für ihn einzusetzen. Taylor erkundigte sich in einem Brief an den Generaladjutant Parker, inwieweit Beschwerden anderer über seine Person einer Beförderung entgegenstanden. Am 2. Januar 1815 antwortete Parker, dass er einen sehr guten Ruf im Kriegsministerium habe und teilte ihm die zum 1. Februar wirksam werdende Beförderung zum Major mit. Am 1. März 1815 entschied jedoch der Kongress angesichts des Friedens von Gent die Armee von 60.000 auf 10.000 Mann zu verkleinern. Taylor wurde zwar im aktiven Dienst belassen, aber da sein Regiment mit drei anderen zusammengeschlossen wurde, auf den Dienstgrad Hauptmann herabgestuft. Nachdem er nach Washington, D.C. gereist war, in seiner Sache erfolglos vorgesprochen und selbst Präsident Madisons Einsatz für ihn nicht gefruchtet hatte, lehnte er am 9. Juni 1815 das Offizierspatent ab und setzte sich in Louisville zur Ruhe.
==== Rückkehr in die Armee und Jahre im Routinedienst ====
Taylors anfängliche Freude, das Leben als Familienvater und Pflanzer zu genießen, wurde bald von Langeweile abgelöst. Als ihm ein freigewordener Major-Dienstposten im 3. Infanterieregiment unter Oberst John Miller angeboten wurde, akzeptierte er und trat am 17. Mai 1816 wie auch sein Bruder wieder der Army bei. Nach der Geburt der dritten Tochter Octavia Taylor meldete er sich im späten September bei General Alexander Macomb in Detroit zum Dienst, der ihm ab dem Frühling des nächsten Jahres mit dem Kommando über Fort Howard am Fox River im heutigen Green Bay betraute. Der Militärposten war von hoher Bedeutung, da er das nordwestliche Ende der damaligen „Frontier“ bildete, das überwiegend von Franzosen besiedelt war. Das wuchtige Fort lag an exponierter Stelle, womit es die immer noch pro-britischen Indianer der Umgebung einschüchtern sollte. Zuerst war Taylor mit der Fertigstellung der Festung beschäftigt. Wegen Unterstellungsfragen kam es zum Zerwürfnis zwischen Macomb und Taylor. In dieser Zeit befreundete er sich mit Oberstleutnant Thomas Jesup, der sein wichtigster Mentor und Förderer in der Armee wurde. Im September 1818 wurde Taylor beurlaubt und kehrte für ein Jahr nach Louisville zurück.Dort beaufsichtigte er die Rekrutierungsstellen seines Regiments und wurde am 20. April 1819 zum Oberstleutnant befördert. Im Juni empfingen ihn Präsident Monroe und General Andrew Jackson bei einem Frühstück in Frankfort; er begleitete den Präsidenten beim Besuch des Repräsentanten Richard Mentor Johnson. Kurz nach der Geburt der vierten Tochter Margaret Smith wechselte Taylor im August 1819 in das 8. Infanterieregiment unter Oberst Duncan Lamont Clinch. Im März 1820 meldete er sich bei seinem Regiment nahe dem Stammesgebiet der Choctaw, das eine Militärstraße vom Pearl River bis an die Golfküste nach Bay St. Louis, Mississippi baute. Die Familie lebte derweil bei der Schwester seiner Gattin in St. Francisville in Louisiana. Dort erkrankten Margaret und ihre vier Töchter an Malaria. Im September 1820 erfuhr Taylor, der das Bauprojekt mittlerweile abgeschlossen hatte, vom Tod der beiden jüngsten Töchter. Im nächsten Jahr wechselte er in das 7. Infanterieregiment und errichtete im November vor dem Hintergrund des Adams-Onís-Vertrags an der neu gezogenen Südwestgrenze nahe Natchitoches Fort Selden, das im Folgejahr durch das stärkere Fort Jesup abgelöst wurde.Bis 1832 folgten weitere typische Kommandierungen für den Routinedienst eines Armeeoffiziers in der „Frontier“: Er war von Oktober 1821 bis März 1824 in Baton Rouge stationiert und danach bis Dezember 1826 Inspizient der Personalgewinnung im westlichen Militärbezirk, wo er die meiste Zeit über in Louisville bei der Familie verbringen konnte. Während dieser Verwendung wurden die Tochter Mary Elizabeth und der Sohn Richard geboren. Im Anschluss diente er bis Mai 1828 als Garnisonskommandant in New Orleans. Bis Juli 1829 hatte er das Kommando über Fort Snelling inne und danach das über Fort Crawford in Prairie du Chien. Wie überall in der Armee vor der Wirtschaftskrise von 1837 war Taylor mit Rekruten geringer Qualifikation konfrontiert, bei denen es sich häufig um Zuwanderer handelte. So klagte er als Kommandant von Fort Crawford regelmäßig über den verbreiteten Alkoholismus und Desertionen in der Mannschaft. Ab Juli 1830 war er für längere Zeit auf Heimaturlaub und für kurze Zeit in Baton Rouge sowie New Orleans eingesetzt, bis er im Herbst 1831 zu seinem Ärger zurück nach Fort Crawford befohlen wurde, was er so lange wie möglich hinauszögerte. Erst im Mai 1832 traf er in Fort Armstrong ein, wo er Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Oberst Morgan als Kommandeur des 1. Infanterieregiments wurde.
==== Black-Hawk-Krieg ====
Ab 8. Mai 1832 befehligte Taylor das verstärkte 1. Infanterieregiment im dreimonatigen Black-Hawk-Krieg. Der Konflikthintergrund war das zunehmende Vordringen weißer Siedler in das Territorium der Sauk und Winnebago. Ab Frühjahr 1831 begann ein bedeutender Teil der im nördlichen Illinois und nordwestlich von Rock Island lebenden Sauk sich unter Führung von Häuptling Black Hawk gegen ihre Verdrängung zu wehren. Der Kriegsanlass war Black Hawks Entschluss, im April 1832 Land östlich des Mississippis zurückzugewinnen, das General Edmund P. Gaines ihnen im Jahr zuvor abgenommen hatte. Dazu überquerte er mit mehreren hundert Indianern, die meisten davon Frauen und Kinder, den Fluss und zog – durch das von Taylor stark kritisierte Zögern des Brevet-Brigadegenerals Henry K. Atkinson ermutigt – entlang des Rock River nordostwärts. Als Gouverneur John Reynolds Atkinson endlich zum Handeln bewegte, befahl dieser Taylor, sich mit seinen Truppen in Dixon einem größeren Milizverband anzuschließen und von dort aus Black Hawk zu verfolgen. Nachdem sich dessen Spur verloren hatte, blieb Taylor in Dixon und errichtete dort ein Fort als Operationsbasis für die weitere Suche.Einmal kam es zu einer Befehlsverweigerung durch einen Milizsoldaten, der von seinem Offizier gedeckt wurde, was Taylors Vorbehalte gegen das Volksheer weiter verstärkte. Am 26. Juli 1832 begann Taylor mit der Verfolgung des mittlerweile aufgespürten und sich zurückziehenden Black Hawk. Am 1. August wurde er an der Einmündung des Bad Axe Rivers in den Mississippi gestellt und seine Streitmacht am nächsten Tag in einem Gefecht, das mehr einem Massaker glich, fast vollständig aufgerieben, da sie am vermeintlich rettenden westlichen Ufer des Mississippi feindlich gesinnte Sioux erwarteten. Taylor traf erst sehr spät auf dem Schlachtfeld ein und spielte keine entscheidende Rolle. Black Hawk wurde am 25. August gefangen genommen und in Fort Crawford interniert, wo Taylor mittlerweile das Kommando übernommen hatte. Anfang September überführten ihn die beiden Offiziere Robert Anderson und Jefferson Davis in die Obhut von General Winfield Scott.Wesentlich folgenreicher als der Black-Hawk-Krieg war für Taylor die Liebesbeziehung, die sich ab 1832 zwischen der zweitältesten Tochter und seinem Adjutanten Davis entwickelte. Er war gegen eine Hochzeit, weil er keine seiner Töchter mit einem Offizier verheiratet wissen wollte, um ihnen die damit verbundenen Entbehrungen im Familienleben zu ersparen. Bald entstand zwischen Davis und Taylor eine große persönliche Abneigung. Da Davis Hausverbot für die Quartiere Taylors erhielt, musste das Paar die Treffen ausgefeilt planen. Die Situation entspannte sich ab März 1833, weil Davis für zwei Jahre zu einem Dragonerregiment versetzt wurde, was ihrem intensiven Briefwechsel keinen Abbruch tat. Als Davis’ Entlassungsgesuch aus der Armee für Ende Juni 1835 bewilligt wurde, heiratete er Sarah Knox am 17. Juni 1835 ohne Einverständnis des Vaters im Hause einer Tante der Braut nahe Louisville. Als Taylor davon erfuhr, akzeptierte er es und hegte keinen Groll gegen die beiden. Die Hochzeitsreise führte das Paar flussabwärts des Mississippi zu einem älteren Bruder von Davis. Dort infizierten sich beide im August mit Malaria, an der Sarah am 15. September verstarb. Dieser Verlust war die größte Tragödie in Taylors Leben.
==== Zweiter Seminolenkrieg ====
Nach dem Black-Hawk-Krieg war Taylor bis zum Sommer 1837 in Fort Crawford stationiert. Dort bestand seine Aufgabe unter anderem darin, das Indianerterritorium jenseits des Mississippi vor eindringenden Bergleuten und dem Import von Alkohol zu schützen, wobei er eng mit dem Bureau of Indian Affairs zusammenarbeitete. Im Sommer 1835 unterstützte er mit seiner Garnison ein Straßenbauprojekt östlich des heutigen Portages über eine Strecke von ungefähr 170 Kilometern. Ab November 1836 war er für einige Monate im westlichen Bezirkskommando nahe St. Louis eingesetzt. In dieser Phase vor der Wirtschaftskrise von 1837 verzeichnete er als Pflanzer die größten Gewinne durch Bodenspekulationen und Baumwollanbau. Nachdem das erste Infanterieregiment im Juni 1837 an die Südwestgrenze befehligt worden war, änderte das Kriegsministerium kurz darauf die Pläne und schickte es in das Florida-Territorium. Der Grund lag darin, dass es Oberbefehlshaber Jesup dort nicht gelang, den Zweiten Seminolenkrieg zu beenden. Im Gegenteil heizte er den Konflikt durch die heimtückische Gefangennahme Häuptling Osceolas, der unter weißer Flagge einen Waffenstillstand aushandeln wollte, im Oktober 1837 noch weiter an, zumal Osceola nur einen Monat später unter fragwürdigen Umständen in der Haft starb.Dieser Krieg war von allen militärischen Auseinandersetzungen der United States Army mit den Indianern eine der teuersten, desillusionierendsten und am wenigsten beachteten. Dies lag weniger an der Kampfstärke der Seminolen, sondern vielmehr an dem Geschick, mit dem sie das Gelände ausnutzten und sich dem Gegner entziehen konnten. Taylor landete Mitte November in Fort Brooke in Tampa Bay und hatte etwa 1400 Mann unter seinem Kommando, darunter reguläre Soldaten aus zwei Infanterieregimentern, Milizen aus Missouri und verbündete Indianer der Lenni Lenape und Shawnee. Er erhielt als Operationsgebiet das südliche Florida zwischen Kissimmee River und den Everglades. Jesup gab ihm Befehl, tief in das Siedlungsgebiet der Seminolen vorzudringen und dann entlang des Kissimmee Rivers in Richtung des Okeechobeesees zu marschieren. Dabei sollte er alle Streitkräfte der Seminolen vernichten, auf die er traf. Anfang Dezember erreichten sie das Quellgebiet des Kissimmee und errichteten dort Fort Gardiner, bevor sie am Westufer des Flusses Richtung Süden marschierten. Taylor stellte einige Seminolenkrieger und ließ sie in Forts internieren. Darunter war Ote Emathla, bei den Weißen als „Springer“ bekannt und einer der Anführer des Dade-Massakers vom 28. Dezember 1835, bei dem zwei Kompanien der Armee mit mehr als hundert Mann vollständig vernichtet worden waren.Am Weihnachtstag 1837 stieß Taylor auf eine Abwehrstellung der Seminolen am Okeechobeesee. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, in der sie zu einer derartigen Defensivtaktik griffen. Die 380 bis 480 Seminolen stellten die durch Palmen und hochgewachsenes Gras verdeckte Gefechtslinie hinter einem knapp einen Meter tiefen Sumpf auf. Ihre Schwäche war, dass sie aus drei unterschiedlichen Gruppen bestanden, die mit „Alligator“, „Wildkatze“ und Sam Jones jeweils einen eigenen Führer hatten und unabhängig voneinander operierten. Taylors taktischer Ideenreichtum war beschränkt und zeigte eine Vorliebe für Frontalangriffe. Kurz nach Mittag schickte er deshalb einen Trupp Milizsoldaten aus Missouri, die unerfahrensten Männer, entgegen dem Protest ihres Einheitsführers Richard Gentry als Plänkler nach vorne. Möglicherweise tat er dies, weil er sie wegen ihrer Impulsivität und Unorganisiertheit als geeignete erste Angriffswelle gegen einen gleichfalls wenig diszipliniert kämpfenden Gegner sah. Wahrscheinlich aber spricht aus dieser Entscheidung Taylors Geringschätzung von Milizen. In der zweiten Linie folgten Angehörige des 4. und 6. Infanterieregiments, während Taylor die stärkste Einheit, das 1. Infanterieregiment, als Reserve zurückbehielt. Außerdem schickte er zwei berittene Kompanien aus, um den linken Flügel des Gegners zu umgehen. Die Seminolen ließen die Milizen nahe an ihre Stellung heranrücken, bis sie das Feuer eröffneten. Als Gentry fiel, löste sich ihre Linie auf. In der zweiten Linie nahm das 6. Infanterieregiment am rechten Flügel große Verluste hin; fast alle Offiziere dieser Einheit fielen. Am linken Flügel hingegen zogen sich die Seminolen nach schwacher Gegenwehr schnell zurück. Als die berittenen Kompanien die Seminolen an ihrer linken Seite fassten, warf Taylor das in Reserve gehaltene Regiment ins Gefecht, das letztendlich mit einem Bajonettangriff am rechten Flügel die Seminolen aus ihrer Stellung werfen konnte. Nach einer Kampfdauer von zweieinhalb Stunden hatte Taylor mit 26 Gefallenen und über hundert Verwundeten einen Pyrrhussieg errungen, da sich die Seminolen bei bedeutend geringeren Verlusten einer weiteren Verfolgung entziehen konnten und so kein strategischer Fortschritt gemacht wurde. Es blieb die einzige offene Feldschlacht im zweiten Seminolenkrieg. Sie brachte Taylor große Anerkennung und den Brevet-Rang eines Brigadegenerals ein.Folgenreicher waren die psychologischen Auswirkungen der Schlacht bei Okeechobee, die große Beachtung fand. Es entstand eine Kontroverse zwischen Taylor und Missouri: Während dieser der Miliz aus Missouri, die bis auf Gentry fast keine Verluste zu beklagen hatte, Feigheit vor dem Feind vorwarf, kreidete ihm die Öffentlichkeit Missouris an, die Miliz geopfert zu haben, um die regulären Truppen zu schonen. Die State Legislature Missouris verabschiedete konkrete Anklagepunkte gegen Taylor. Kriegsminister Joel Roberts Poinsett gab ihm volle Rückendeckung und verhinderte einen Untersuchungsausschuss in dieser Angelegenheit. Die Schlacht bei Okeechobee brachte Taylor den Spitznamen „Old Rough and Ready“ (deutsch: „Altes Raubein“) ein, da er im Verlauf des Gefechts gemeinsam mit seinen Männern durch den Sumpf auf die feindliche Stellung zugewatet war. Weitere Suchaktionen in den Everglades blieben erfolglos, weshalb sich Taylor darauf beschränkte, die Seminolen von besiedelten Regionen abzuhalten. Im Frühling 1838 ergab sich „Alligator“ mit hunderten Gefolgsleuten. Im Mai erhielt Taylor in Nachfolge Jesups den Oberbefehl im Florida-Territorium und plante in einem Abnutzungskrieg, die Seminolen südöstlich einer Linie von St. Augustine nach Tampa Bay abzudrängen und so von ihrem Nachschub abzuschneiden. Die Gegner entzogen sich diesem Vorhaben mit Erfolg und als Taylor für die Suche Spürhunde einsetzen wollte, löste dies im Kongress Proteste aus. Ein weiterer Feldzug im Winter 1838/39 mit über 3500 Soldaten blieb gegen die Guerillataktik der Seminolen wirkungslos. Er entwickelte nun den sogenannten „squares“ (deutsch: „Quadrate“)-Plan, der das fragliche Territorium in gleich große quadratische Bezirke mit einer Seitenlänge von jeweils 32 km einteilte. Jeden dieser Distrikte sollte ein zentral gelegener Militärposten kontrollieren. Diese langfristig wahrscheinlich vielversprechende Vorgehensweise, die die Amerikaner im Vietnamkrieg und im Philippinisch-Amerikanischen Krieg wiederholten, war den Bewohnern Floridas zu passiv, so dass im März 1839 Generalmajor Macomb dorthin entsandt wurde. Dieser bemühte sich ohne Erfolg um eine diplomatische Lösung. Nach einem weiteren ergebnislosen Winterfeldzug bat Taylor im Februar 1840 um seine Ablösung und verließ im Mai das Florida-Territorium.
Im Anschluss war Taylor auf Heimaturlaub und danach für mehrere Monate in Baton Rouge und New Orleans eingesetzt, so dass er die Baumwollplantagen, die er seit 1823 in Louisiana besaß, beaufsichtigen konnte. Als sein früherer Vorgesetzter aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg, William Henry Harrison, in das Weiße Haus zog, zeigte Taylor ein bisher unbekanntes politisches Interesse. Er beschwerte sich in einem Brief an den neuen Präsidenten über die „Korruption“ und „Nichteignung“ der Amtsvorgänger Jackson und Martin Van Buren. Da Harrison nur kurz nach der Amtseinführung starb, blieb die Korrespondenz ohne Konsequenzen. Es war die erste Gelegenheit, bei der sich Taylor als ein Anhänger der United States Whig Party zu erkennen gab.
Ab Juni 1841 diente er in Fort Gibson als Kommandeur des Zweiten Militärbezirks, der das Indianer-Territorium umfasste. Das Fort, das wegen der krankmachenden Bedingungen berüchtigt war und als Hauptquartier später von Fort Smith abgelöst wurde, diente als Endpunkt des Pfades der Tränen: Die im Rahmen der Indianerpolitik der Vereinigten Staaten vertriebenen Indianer wurden bis hierhin deportiert. Ab Fort Gibson wurden sie dann auf das Indianer-Territorium verteilt. Unter Taylors Kommando entstanden im Indianer-Territorium die Forts Washita und Scott. Als zwischen der Republik Texas und Mexiko akute Kriegsgefahr bestand, hielt er die Indianer davon ab, die Gelegenheit für Raubzüge nach Texas auszunutzen. Dazu besuchte er in den Jahren 1842 und 1843 zwei große Ratsversammlungen der Prärie-Indianer. Während dieser Jahre verkaufte er drei Plantagen in Mississippi und Louisiana und erwarb die knapp 800 Hektar große, nördlich von Natchez liegende Plantage Cypress Grove inklusive 80 Sklaven als neuen Familiensitz. Die wenigen überlieferten Zeugnisse in diesem Kontext deuten darauf hin, dass Taylor seine Sklaven vergleichsweise gut behandelte und auf ihre Gesundheit sowie Ernährung achtete.
==== Mexikanisch-Amerikanischer Krieg ====
===== Von Fort Jesup nach Matamoros =====
Im April 1844 wurde Taylor Kommandeur des Ersten Militärbezirks mit Fort Jesup als Dienstsitz, das nur durch den Sabine River von der Republik Texas getrennt war. Damit verbunden war der Befehl über den Kern eines noch aufzustellenden Korps. Der Auftrag von Taylors sogenannter „Army of Observation“ („Beobachtungsarmee“) war der Schutz von Texas, das die Aufnahme als Bundesstaat in die Union debattierte, gegen eine mexikanische Intervention. Kern des Konflikts waren die zwischen Mexiko und Texas umstrittenen Grenzfragen. Während Mexiko den Nueces River als Grenze betrachtete, beanspruchte Texas ein Territorium das über 200 km darüber hinaus bis an den Rio Grande reichte. Trotz der Vorbehalte des texanischen Präsidenten Sam Houston war eine klare Mehrheit für die von Mexiko mit großem Widerwillen betrachtete Annexion absehbar und die Kriegsgefahr entsprechend hoch. Deswegen stand Taylor bereit, sofort die Westgrenze von Texas zu schützen, sollte ihn der amerikanische Botschafter in Texas, Andrew Jackson Donelson, anfordern. Als Präsident John Tyler im Juni 1844 die Annexion nicht durch den Senat brachte, ließ der Druck auf die „Beobachtungsarmee“ nicht nach. Anfang nächsten Jahres traf Taylor per Zufall den früheren Schwiegersohn Davis. Die beiden entwickelten trotz erheblicher politischer Meinungsunterschiede eine sehr enge Beziehung. Als nur wenige Tage vor der Amtseinführung von James K. Polk der Anschluss von Texas doch noch verabschiedet wurde, war die nächste Hürde ein Konvent in Texas am 4. Juli 1845. Donelson drängte die Texaner Ende Juni, offiziell um Schutz durch die „Beobachtungsarmee“ zu bitten. Dies war ganz im Sinne von Polk, denn obwohl die öffentliche Meinung und die meisten Offiziere Taylors gegen die Einmischung in diesen Grenzstreit waren, stand er auf Seiten der Texaner. Laut George Gordon Meade, zu dieser Zeit Leutnant in der „Beobachtungsarmee“, war selbst Taylor Gegner des Anschlusses von Texas an die Vereinigten Staaten. Taylor entschied sich für das am Südufer des Nueces Rivers gelegene Corpus Christi als Feldlager und erhielt von Kriegsminister William L. Marcy strikte Order, jede Feindseligkeit gegen die mexikanische Armee zu unterlassen.
Mitte August 1845 erreichte Taylor mit dem 3. Infanterieregiment das Südufer des Nueces Rivers und begann mit dem Bau eines Feldlagers. Schon bald betrug die Truppenstärke in Corpus Christi deutlich über 4000 Mann, was knapp die Hälfte der gesamten Army ausmachte. Als sich das 2. Dragonerregiment unter Führung von David Twiggs auf einer alternativen Marschroute über das Landesinnere dem Camp näherte, beschloss Taylor diesem mit nur wenigen Männern entgegenzureiten, um es in San Patricio zu treffen. Ausritte dieser Art waren typisch für Taylor und für Offiziere seines Ranges die Ausnahme. Da Polk trotz der Weigerung Mexikos weiter versuchte, den Verkauf eines Teils des umstrittenen Territoriums, der als „Amerikanischer Südwesten“ bekannt war, sowie von Oberkalifornien zu erreichen, blieb die „Beobachtungsarmee“ länger als erwartet in Corpus Christi. Bald taufte Taylor seine Streitkräfte in „Army of Occupation“ („Besatzungsarmee“) um. Er nutzte die Zeit und setzte für die Verbände umfangreiche Manöver an, da seine Truppen bisher nur operative Erfahrungen auf Kompanieebene hatten.
Aus dieser Ruhephase vor dem Krieg sind einige persönliche Beobachtungen von Zeitzeugen zum Charakter Taylors überliefert, die sein lässiges Auftreten und den Umstand betonen, dass er fast nie eine ordnungsgemäße Uniform trug. Als sich die Wartezeit bis in den Spätherbst hinzog, sank die Moral der „Army of Occupation“, wozu die rasch um das Camp entstehenden Spielhallen und Bordelle ihren Teil beitrugen. Es kam zudem zu Übergriffen von Armeeangehörigen gegen in der Nähe des Camps lebende Mexikaner. Nach einem besonderen Vorkommnis ordnete Taylor eine Heerschau an, um die Disziplin wiederherzustellen. Über die Frage, wer die Truppen zu diesem Anlass Taylor vorführen sollte, entbrannte ein Streit zwischen den Obersten William J. Worth und Twiggs. Taylor entschied sich für Twiggs, der zwar eine höhere Dienststellung aber keinen Brevet-Rang eines Brigadegenerals wie Worth hatte. Dieser Zwist spaltete die ganze Armee und ließ Oberst Ethan A. Hitchcock eine Beschwerdeschrift in Form eines Runden Robins an den Senat schicken, um gegen diesen Entscheid zu protestieren. Von dieser Entwicklung angewidert, sagte Taylor daraufhin die Heerschau ab.Nachdem sich der mexikanische Präsident José Joaquín de Herrera im Dezember 1845 geweigert hatte, den amerikanischen Unterhändler John Slidell zu empfangen, kehrte dieser zurück. Polk war nach diesem Affront zum Krieg entschlossen und befahl Taylor an den Rio Grande, also an den äußersten Rand des von Texas beanspruchten Territoriums, womit er die Verantwortung über Krieg und Frieden auf die Ebene der Feldkommandeure delegierte. Taylor, der inzwischen über drei Infanteriebrigaden verfügte und seiner Abneigung getreu auf die mögliche Verstärkung durch Milizen verzichtete, entschied sich für den Landweg nach Heroica Matamoros, während Versorgung und Ausrüstung über den Seeweg transportiert werden sollten. Als ihm Marcy Begleitschutz durch die amerikanische Flotte versagte, gewann er Kommodore David Conner und die von ihm befehligte Home Squadron als Unterstützung in Form von zwei Kanonenbooten. Am 1. März verließ die Vorhut Corpus Christi. Wie erwartet stieß Taylor bis zum Erreichen des Arroyo Colorados auf keinen Widerstand. Dort war am Südufer des Flusses eine kampfbereit scheinende Kavallerieeinheit der mexikanischen Armee in Stellung. Noch vor Eintreffen der dritten Brigade wagte Taylor einen Angriff, der von Brevet-General Worth geführt wurde. Am anderen Ufer angekommen, stellten sie jedoch fest, dass sich die Mexikaner zurückgezogen hatten. Taylor ritt daraufhin mit einem Dragonerregiment nach Port Isabel, um es für den Nachschub zu sichern, und ließ den Rest der Armee ein Camp kurz vor Matamoros in Palo Alto aufschlagen. In Port Isabel waren das Versorgungsschiff und die beiden Kanonenboote bereits eingetroffen, so dass Taylor den Offizier John Munroe mit dem Kommando über die Nachschubbasis betraute und zur Hauptstreitmacht zurückkehrte. Am 28. März nahm diese eine günstige Stellung am Nordufer des Rio Grandes gegenüber Matamoros ein. Noch vor dem Abmarsch aus Corpus Christi hatte Taylor strikte Order ausgegeben, die Rechte der mexikanischen Bürger zu achten. Während sich die Armee in dieser Phase noch an die Vorgabe hielt, wurden Übergriffe auf die Zivilbevölkerung später nach Überschreiten des Rio Grandes ein ernsthaftes Problem, das Taylor nicht mehr unter Kontrolle brachte.Am Tag ihrer Ankunft war von Feindseligkeit wenig zu spüren, so dass die Soldaten ungestört im Fluss schwimmen gehen konnten. Taylor entsandte am Nachmittag Worth, um mit dem mexikanischen General Francisco Mejia zu verhandeln. Dieser weigerte sich mit jemand anderem als Taylor selbst zu sprechen und ließ seinen Stellvertreter die Gespräche mit Worth führen, die zu keinem Ergebnis führten. Die Mexikaner forderten den Rückzug der “Army of Occupation” und verweigerten Worth einen Besuch des amerikanischen Konsuls in Matamoros. Die Spannungen stiegen danach rasch an. Noch vor Einbruch der Dunkelheit errichtete die mexikanische Armee eine Brustwehr und brachte eine 12-Pfünder-Kanone in Stellung, die das amerikanische Camp, das den Namen Fort Texas trug, bestrich. Einige Tage später erfuhr Worth, dass der Präsident in seinem Streitfall mit Twiggs gegen ihn entschieden hatte, worauf er bei Taylor seinen Abschied einreichte und den Heimweg antrat. Das größte Problem der “Army of Occupation” zu dieser Zeit war Desertion, die sich verstärkte, als zwei Dragoner, die nach Heroica Matamoros gelangten, dort wie Ehrengäste behandelt worden waren. In der Armee waren viele Ausländer, vor allem Deutsche und Iren, deren Patriotismus oft gering war, da ihnen die volle Staatsbürgerschaft verweigert worden war. Vor allem die katholischen Iren zeigten sich anfällig für Desertionen, da sie vom Katholizismus Mexikos angelockt wurden. Mitte April wurden zwei Offiziere außerhalb des Lagers tot aufgefunden wurden. Für ihren Tod war wahrscheinlich der separatistische Politiker und General Antonio Canales Rosillo verantwortlich, der aus der mexikanischen Armee desertiert war. Die Lage verschärfte sich Ende April durch die Ablösung von General Mejia durch Mariano Arista, der eine Truppe vom mehr als 3000 Mann mitführte und den Auftrag hatte, Taylors Armee zu vernichten. Am 25. April legte eine starke Kavallerieeinheit Aristas einen Hinterhalt nördlich des Rio Grande und nahm eine Patrouille der “Army of Occupation” gefangen, wobei elf Amerikaner fielen. Dies war der erhoffte Kriegsanlass und Taylor meldete dem Präsidenten, dass „nun die Feindseligkeiten als begonnen betrachtet werden könnten“.Am 8. Mai berief Polk sein Kabinett ein, um über das weitere Vorgehen im Falles Mexikos zu beraten. Die Nachricht von Taylor hatte ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht. Dafür war inzwischen der Gesandte Slidell aus Mexiko eingetroffen, dessen Abweisung durch Herrera vom Präsidenten als nationale Beleidigung aufgefasst wurde, die einen Krieg rechtfertigte. Außerdem beruhigte sich zu dieser Zeit der Grenzdisput mit Großbritannien im Pazifischen Nordwesten, da Außenminister James Buchanan kurz davor stand, eine Einigung zu erreichen, die den 49. Breitengrad als Grenze zwischen der Provinz Kanada und den Vereinigten Staaten vorsah. Wegen dieser Entspannung im Oregon Boundary Dispute sah Polk die Gefahr eines Zweifrontenkriegs mit Großbritannien und Mexiko als äußerst gering an. Im Kabinett votierten nur Buchanan und Marineminister George Bancroft gegen einen Krieg mit Mexiko. Als ihn am nächsten Abend die Nachricht Taylors über den Ausbruch der Feindseligkeiten erreichte, gab er zwei Tage später, am 11. Mai, eine Kriegserklärung vor dem Kongress ab. Die Begründung lautete, dass „amerikanisches Blut auf amerikanischem Boden vergossen worden sei“, wobei Polk auf subtile Art die Schuld für die prekäre Lage der „Army of Occupation“ auf Taylor schob. Im Kongress erhielt die Kriegserklärung Polks eine überwältigende Mehrheit; als prominente Gegner traten nur John C. Calhoun und Thomas Hart Benton in Erscheinung. Das Kapitol bewilligte die Aushebung einer Freiwilligenarmee von bis zu 50.000 Mann. Diese Mehrheit spiegelte keine Kriegsbegeisterung wider, sondern lediglich die als patriotische Verpflichtung wahrgenommene Rettung der gefährdeten Armee Taylors. In großen Teilen der Bevölkerung herrschte das Gefühl vor, von Präsident Polk gegen ihren Willen mit manipulativen Mitteln in den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg gedrängt worden zu sein.
===== Die Schlachten von Palo Alto und Resaca de la Palma =====
Taylors Position am Rio Grande war zusehends gefährdet, weshalb er lediglich die Stellung hielt, um die zwischenzeitlich angeforderte Verstärkung abzuwarten. Problematisch war, dass sich die Amerikaner auf Fort Texas und das knapp 50 km entfernte Port Isabel verteilten. Als Taylor das Fort ausreichend befestigt und mit knapp 500 Mann Besatzung gesichert hatte, verlegte er am 1. Mai nach Port Isabel, da er hier einen Angriff der mexikanischen Generale Arista und Pedro de Ampudia erwartete, die den Rio Grande mit zwei Brigaden überquerten. Kurz nach Taylors Abmarsch begann Ampudia mit dem Bombardement von Fort Texas, das sich aber halten konnte. Nachdem Verstärkung aus der Heimat eingetroffen war und Taylor Port Isabel gut verteidigt wusste, marschierte er am 7. Mai zurück nach Matamoros. Am folgenden Tag stieß er gegen Mittag bei Palo Alto auf die Infanterie Aristas, die bald durch die eintreffenden Truppen Ampudias verstärkt wurde. Insgesamt befehligte Arista somit knapp 3300 Mann, wodurch die “Army of Occupation” in der Schlacht von Palo Alto mit einem Verhältnis von 1:2 in der Unterzahl war.Taylor positionierte die schwere Artillerie aus 18-Pfünder-Kanonen im Zentrum und streute zwischen seine fünf Infanterieregimenter vier leichte Batterien ein. Um den aus Port Isabel mitgeführten Tross an seiner rechten Flanke zu schützen, verwendete er eine neuartige Form mobiler Artilleriegeschütze, die den mexikanischen Kanonen an Reichweite, Treffgenauigkeit und Sprengkraft weit überlegen waren. Taylor folgte der Schlacht Tabak kauend auf seinem Pferd “Old Whitey”. Dank der überlegenen Artillerie wurden zwei Kavallerieattacken General Anastasio Torrejóns auf den Tross abgewehrt. Als im Chaparral Feuer ausbrach und Rauchentwicklung die Sichtweite erheblich einschränkte, schwiegen die Waffen für eine Stunde. Danach folgten zwei weitere erfolglose Kavallerieattacken der Mexikaner, deren rechter Flügel unter dem Granatfeuer kurz vor dem Zusammenbruch stand. Als der mexikanischen Artillerie die Munition ausging, zog Arista seine Truppen am frühen Abend zurück auf eine unmittelbar an das Schlachtfeld anschließende Hochebene. Zwar hatte die mexikanische Armee mit 92 Gefallenen weitaus empfindlichere Verluste erlitten als die “Army of Occupation” mit neun Gefallenen, aber Arista hielt weiterhin eine starke Stellung. Die Auswirkung der Schlacht war weniger taktischer als psychologischer Natur. Taylor hatte mit dem Erfahrungshorizont der Indianerkriege der Artillerie bisher kaum Wert beigemessen, aber erkannte jetzt ihre Schlagkraft. Tragischerweise war Major Ringgold, der erheblichen Anteil an der praktischen Entwicklung der mobilen Artillerie gehabt hatte, unter den Gefallenen. Auf die Moral der Truppen Aristas, die der verheerenden Wirkung der Artillerie hilflos gegenübergestanden hatten, wirkte sich die Schlacht von Palo Alto äußerst negativ aus.
Am frühen Morgen des folgenden Tages trat Arista mit seiner Armee den Rückzug Richtung Matamoros an und bezog knapp 10 km hinter Palo Alto bei einem ausgetrockneten Flussarm des Rio Grandes namens Resaca de la Palma neue Stellung. Dabei verteilte er seine Truppen derart weit, dass ihre zahlenmäßige Überlegenheit weitgehend bedeutungslos wurde. Gegen die Mehrheit seines Stabs befahl Taylor die Verfolgung Aristas. Als Taylor am frühen Nachmittag Resaca de la Palma erreichte, hoffte er erneut, die Überlegenheit der Artillerie entscheidend ausspielen zu können, was aber der dicht bewachsene, die Sichtweite signifikant einschränkende Chaparral verhinderte. Deswegen konzentrierte Taylor den Angriff auf die Straße nach Matamoros, die durch eine mexikanische Batterie gehalten wurde. Eine Dragonereinheit unter Hauptmann Charles May führte die Attacke, konnte die Batteriestellung nehmen und einige Gefangene machen, wurde aber rasch von mexikanischer Infanterie zurückgeworfen. Auf der anderen Seite des Schlachtfelds wehrte die mobile Artillerie unterdessen eine Kavallerieattacke von Torrejón ab. Nach Mays Scheitern befahl Taylor Oberst William G. Belknap mit dem 8. Infanterieregiment die mexikanische Batterie zu nehmen und zu halten, was dieser umsetzen und zudem General Rómulo Díaz de la Vega gefangen nehmen konnte. Als die übrigen Linien der Mexikaner den Verlust dieses zentralen Punktes ihrer Stellung beobachteten, brachen sie zusammen und flohen vollkommen ungeordnet über den Rio Grande, wobei viele von ihnen ertranken. Taylor schätzte die Anzahl der Toten auf der mexikanischen Seite auf 300, während Arista sie offiziell mit 154 bezifferte. Die “Army of Occupation” beklagte 49 Gefallene. Typischerweise verzichtete Taylor auf eine energische Verfolgung des geschlagenen Gegners. In Matamoros erfuhr er, dass der Kommandant Jacob Brown bei der Belagerung von Fort Texas ums Leben gekommen war, aber die Verteidiger nur wenig Verluste erlitten hatten. Er ordnete die Umbenennung der Befestigung in Fort Brown an.Nachdem er am 17. Mai ein Waffenstillstandsangebot Aristas abgelehnt hatte und dieser sein Ultimatum verstreichen ließ, setzte die “Army of Occupation” am nächsten Tag über den Fluss und fand Matamoros verlassen vor. Für die nächsten Monate übernahm Taylor die Stadtverwaltung, wobei er die Bevölkerung wirtschaftlich großzügig behandelte und sich nicht in ihre Angelegenheiten mischte. In dieser Zeit verstärkte sich sein Stab um mehrere, ausnahmslos demokratische und sich überwiegend als fähig erweisende Generale. Unter diesen waren William Orlando Butler und John A. Quitman; außerdem war Worth wieder zurückgekehrt. Die Nachricht von Taylors Sieg erreichte Polk am 23. Mai 1846 und stürzte den Präsidenten in ein Dilemma. Als Demokrat missgönnte er einerseits Whig-Generalen wie Scott, John E. Wool und Taylor politisch den Triumph im Felde, andererseits durfte er dies als Oberbefehlshaber nicht offen zeigen. Im Falle Taylors war die Begeisterung über seinen Erfolg so groß wie diejenige nach Jacksons Sieg in der Schlacht von New Orleans, so dass allgemein sein Verbleib als Kommandeur der “Army of Occupation” gefordert wurde und Polk ihm den Brevet-Rang eines Generalmajors verlieh. Der Präsident gab Taylor bis auf die vage Order, „nicht völlig in der Defensive zu bleiben“, weiterhin freie Hand. Er hatte schon dem Subtext der vorigen Befehle entnommen, dass Washington eine Invasion Mexikos wünschte. Marcy und kurze Zeit später Polk baten Taylor um Prüfung, ob er bis auf Mexico City vorstoßen könne, wovon er dringend abriet und stattdessen die Eroberung der Grenzprovinzen mit San Luis Potosí als Endpunkt vorschlug. Außerdem forderten sie, dass er Waffenstillstandsangebote nur akzeptierte, wenn sie „hinreichend offiziell und aufrichtig“ gemeint seien, also einer Kapitulation gleichkamen. Taylor beabsichtigte, Matamoros einzunehmen und dann weiter westlich auf Monterrey vorzurücken. Durch militärische Aufklärung war ihm bekannt, dass die direkte Route nach Monterrey an zu knapper Wasserversorgung scheiterte, weshalb der Weg entlang des Rio Grandes bis nach Camargo erfolgen musste, um dort den Fluss zu queren. Für den Schutz der Nachschubbasis gegen die mexikanische Marine stimmte er sich mit Conner ab, wobei er sich zu diesem Anlass das einzige Mal während des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs in einen Dienstanzug kleidete, der seinem Rang angemessen war. Taylor war mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Zustrom von immer mehr Freiwilligen zu bewältigen. Im Camp wurden die sanitären Bedingungen immer schwieriger, so dass vermehrt Dysenterie auftrat. Der ausgeprägte Antikatholizismus der Freiwilligen verschlechterte das Verhältnis zur lokalen Bevölkerung derart, dass schließlich katholische Militärseelsorger bestellt wurden.
===== Die Schlacht von Monterrey =====
Nach Eintreffen von Dampfschiffen als Transportmitteln verlegte die „Army of Occupation“ ab Anfang Juli nach Camargo, wo Taylor Anfang August eintraf. Die Armee lagerte nahe der Einmündung des Río San Juan in den Rio Grande. Im Camp traten dramatische Unterschiede zwischen den regulären Soldaten und den unerfahrenen Freiwilligen auf, was sich vor allem in Hygiene und Disziplin zeigte. In Verbindung mit der lagebedingten Feuchtigkeit und Hitze führte dies dazu, dass ein Achtel der Männer, fast alles Freiwillige, an Krankheiten starben. In der Heimat wuchs der öffentliche Druck auf Taylor, den Feldzug fortzuführen, so dass er ab Mitte August mit drei Divisionen gegen Monterrey marschierte. Am Morgen des 15. September kam die Vorhut in die knapp 40 km von Monterrey entfernte Kleinstadt Marín, in dessen Nähe Taylor in Erwartung einer entscheidenden Schlacht um das stark befestigte Monterrey in den nächsten drei Tagen seine gesamten Streitkräfte, die über 7200 Mann zählten, sammelte. Pioniere identifizierten den Hügel Independencia mit dem Bischofspalast als Schlüssel zum Sieg. Beim Angriff musste Taylor nördlich von Monterrey einen von den Mexikanern stark befestigten, unfertigen Kathedralenbau, den die Amerikaner „Schwarzes Fort“ nannten, berücksichtigen.
Der Schlachtplan der Amerikaner war komplex und wahrscheinlich zu anspruchsvoll, um vom konservativ operierenden Taylor zu stammen. Eine Division unter Führung von Worth nahm am 21. September, dem ersten Tag der Schlacht von Monterrey den Independencia von Süden her ein und schnitt die Stadt vom Nachschub ab. Das Ablenkungsmanöver durch die restliche Armee auf die Stadt östlich des „Schwarzen Forts“ verlief nicht wie geplant, so dass die Amerikaner schwere Verluste erlitten und am Folgetag inaktiv blieben. Am 23. September setzten die Divisionen Butlers und Wiggs’ gemeinsam mit Wood ihren Angriff erfolgreich fort. Am Folgetag beschlossen Ampudia und Taylor ein Waffenstillstandsabkommen. Die Mexikaner zogen sich hinter eine Linie von Linares nach Parras de la Fuente zurück, während Taylor acht Wochen lang die mexikanischen Armee nicht verfolgte. Entgegen der Order aus Washington ging er angesichts der Erschöpfung und Versorgungslage der Armee auf das Angebot ein. Polk reagierte zornig auf diese Nachricht, während die Öffentlichkeit Taylor erneut feierte. Polk machte gute Miene zum bösen Spiel und beförderte Taylor zum regulären Generalmajor mit entsprechender Dienststellung. Er forderte Taylor zum Vertragsbruch und sofortigen Verfolgen der Mexikaner auf. Dieser Befehl erreichte ihn allerdings erst einige Tage vor Ende des Abkommens. Taylor sah sich zunehmend in einen Zweifrontenkrieg mit Mexiko und der Polk-Administration verwickelt; Scott bestärkte ihn in diesem Misstrauen gegenüber Washington. In Monterrey wüteten insbesondere die texanischen Freiwilligen gegen die Zivilbevölkerung, bis zur Erleichterung Taylors ihre Regimenter unter James Pinckney Henderson abgezogen wurden.
===== Die Schlacht von Buena Vista =====
Trotz der Niederlagen war der mexikanische Präsident Antonio López de Santa Anna nicht zu territorialen Zugeständnissen an Polk bereit. Das Weiße Haus sicherte daher vorerst die eroberten Gebiete, zu denen neben Monterrey unter anderem die Republik Kalifornien gehörte, und wartete die Reaktion Mexikos ab. Als sich der ursprüngliche Kriegsgegner und einflussreiche Senator Benton gegen diese Strategie aussprach und eine Invasion in Veracruz samt Einnahme von Mexico City forderte, war Polk damit sofort einverstanden und betraute widerwillig Scott als General-in-chief mit dem Oberbefehl. Taylor hatte sich in der Zwischenzeit um die militärische Sicherung einer Linie bemüht, die von Saltillo über Monterrey nach Tampico verlief, das als Nachschubbasis diente. Mitten in diesem Vorhaben erhielt Taylor vom Kriegsminister den „Vorschlag“, von Saltillo abzulassen und die “Army of Occupation” in Monterrey zu massieren. Da die Botschaft nicht explizit als Befehl formuliert war und er der Regierung immer feindseliger gegenüberstand, ignorierte Taylor die Mitteilung und nahm Mitte November kampflos Saltillo und Tampico ein. Gegen Weihnachten traf Scott in Camargo ein und requirierte in Abwesenheit Taylors kurzerhand alle Divisionen vor Ort für seine Expeditionsarmee nach Vera Cruz. Taylor, der bis dahin in freundlicher Beziehung zu Scott gestanden hatte, reagierte darauf mit Empörung und sah es als Versuch an, ihn zur Aufgabe seines Kommandos zu bewegen. Ihm blieben fast nur noch Freiwilligenregimenter und Butler und Wool als Kommandeure. Dennoch betrachtete er die gut ausgebildete Armee von knapp 20.000 Mann, die Santa Anna im Januar 1847 in San Luis Potosí sammelte, ohne große Sorge, da zwischen ihr und Saltillo über 320 km und eine Wüste lagen. Davon ließ sich Santa Anna jedoch nicht abhalten, wobei er die Entbehrungen der Wüste unterschätzte und auf dem Marsch nach Saltillo in drei Wochen ein Viertel seiner Armee verlor.
Nachdem ihn Wool Ende Januar über den Anmarsch Santa Annas informiert hatte, konzentrierte Taylor seine Streitkräfte von knapp 5000 Mann, die in der Zwischenzeit mit einem Regiment aus Mississippi unter Führung von Davis verstärkt worden waren, am 21. Februar 1847 an einem Ort südlich der Hazienda de Buena Vista, der als die „Engstelle“ bekannt war und dessen Gelände eine Defensivstellung begünstigte. Eine Aufforderung von Santa Anna zur Kapitulation lehnte Taylor am Vormittag des 22. Februar ab. Die Schlacht begann am frühen Nachmittag mit einem Ablenkungsangriff am rechten Flügel der Amerikaner und einem Umfassungsmanöver der Mexikaner am linken Flügel, der bis zum Abend gestoppt wurde. Am Morgen flammten die Kämpfe mit einem erneuten mexikanischen Ablenkungsangriff in der „Engstelle“ auf, der zurückgeschlagen wurde. Auf dem linken Flügel Taylors wurde ein unerfahrenes Regiment aufgerieben, jedoch konnte eine Linie parallel zur Straße zu gehalten werden. Als zwei mexikanische Divisionen unter Artilleriefeuer wankten, gingen die Amerikaner zum Gegenangriff über.Am Vormittag wurde die Division Francisco Pachecos am linken Flügel der Amerikaner durch zwei Regimenter aus einer umgekehrten V-Formation heraus zurückgeschlagen und brach zusammen, was den Wendepunkt der Schlacht darstellte. Einen letzten Angriff Santa Annas entschieden die hinzueilenden Batterien der Hauptleute Braxton Bragg und Thomas W. Sherman durch Kartätschen, wonach sich die Mexikaner zurückzogen. Taylors Armee hatte am Ende des Tages knapp 700 Mann verloren; unter den Gefallenen waren der Sohn Henry Clays und der Gouverneur Archibald Yell. Die mexikanische Armee hatte Verluste von knapp 3500 Mann und trat über Nacht den Rückzug an. Zuhause machte Taylors Sieg in diesem David-gegen-Goliat-Gefecht aus ihm über Nacht einen Nationalheld. Mit diesem Prestige geriet er auf einen nicht mehr aufzuhaltenden politischen Erfolgskurs.Taylor verlegte daraufhin seine Streitmacht nach Saltillo und später Monterrey, wobei er zwei Regimenter zum Schutz der Straße zwischen Monterrey und Saltillo gegen hinter den Linien operierende mexikanische Kavallerie einteilte. Da Taylor die Übergriffe seiner Truppe gegen die Zivilbevölkerung nicht in den Griff bekam, wobei die Texas Rangers am schlimmsten wüteten und am 28. März ein Massaker an 24 Mexikanern verübten, unterstützten viele Mexikaner Guerillaoperationen. Das Verhältnis zu Polk wurde noch feindseliger, da Taylor dem Weißen Haus vorwarf Verstärkungen vorenthalten zu haben, weil es ihn als potenziellen Präsidentschaftskandidaten der Whigs fürchtete. Ihm wurde ein Vorrücken auf San Luis Potosí zugestanden, aber als im Mai die Verpflichtungszeit vieler Freiwilligen ablief, war er zur Untätigkeit verdammt. Im Juli wurde ein Großteil der noch übrigen „Army of Occupation“ Scott zur Verstärkung für den Feldzug gegen Mexico City zugeteilt. Frustriert wie der Großteil seiner restlichen Streitkräfte bat Taylor kurz nach Scotts Einnahme von Mexiko City, die seinen eigenen Ruhm für einige Zeit überstrahlte, im Oktober um einen sechsmonatigen Heimaturlaub. Anfang Dezember kam er in New Orleans an, wo seine Ankunft als großes Ereignis gefeiert wurde. Wenige Tage später war er in Cypress Grove und seine Karriere als Feldkommandeur zu Ende. Der Biograph K. Jack Bauer sieht Taylors Ruf als großen Militärführer als unverdient an, da sein Erfolg im Wesentlichen darauf beruht habe, dass die gegnerischen Befehlshaber über noch weniger taktische Fähigkeiten verfügten als er. Zudem habe er von hervorragend ausgebildeten und selbstbewussten Untergebenen profitiert sowie im Feld den Instinkt missen lassen, mit vernichtenden Schlägen einen vollständigen Sieg zu sichern.
=== Präsidentschaftswahl 1848 ===
Wann sich Taylor zur Präsidentschaftskandidatur 1848 entschloss, kann nicht genau bestimmt werden. Die politische Antipathie gegen Scott und Polk ging anfangs nicht zwangsläufig mit eigenen Ambitionen einher. Noch kurz vor der Schlacht von Buena Vista verneinte er explizit, welche zu haben. Im Sommer 1846 warb der Parteichef der New Yorker Whigs Thurlow Weed um ihn und erste überparteiliche Versammlungen riefen ihn als „Kandidaten des Volkes“ aus. Im Dezember dieses Jahres gründete der Kongressabgeordnete Alexander Hamilton Stephens mit anderen jungen Whigs, die als „Young Indians“ (deutsch: „Junge Indianer“) bekannt waren, einen in der Folge schnell wachsenden Taylor-Club, zu dem auch Abraham Lincoln, Robert Augustus Toombs und Truman Smith gehörten. Gegen diese Begeisterung für Taylor sträubte sich innerparteilich der Flügel der radikalen Abolitionisten, also der Sklavereigegner. Diese wollten das Wilmot Proviso zur Eindämmung der Sklaverei als Wahlprogramm durchsetzen und keinen Sklavenhalter im Weißen Haus haben. Politischer Mentor und Förderer Taylors war sein alter Freund Senator John J. Crittenden aus Kentucky, der innerhalb der Whigs als Königsmacher galt. Seit Ausbruch des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs korrespondierte er mit Scott und Taylor, die ihm im Schriftverkehr ungezwungen ihre Gefühle anvertrauten, und schätzte ihre Eignung zum Präsidentschaftskandidaten ab. Als später Briefe Scotts an die Öffentlichkeit gelangten, in denen er voller Selbstmitleid und seinem Spitznamen „old Fuss and Feathers“ (deutsch: „alter Wichtigtuer“) gerecht werdend vom Kriegsminister die Ablösung Taylors von seinem Feldkommando forderte, hatte er sich damit derart desavouiert, dass Crittenden ihn als Präsidentschaftskandidaten ausschloss. Neben dem Sieg von Buena Vista, der aus ihm den führenden aller möglichen Präsidentschaftskandidaten machte, war es vor allem diese sich ab Juli 1846 entwickelnde politische Allianz mit Crittenden, die Taylor ins Weiße Haus brachte. Für die Whigs wiederum war Taylors Kriegsruhm sehr vorteilhaft, weil sie ihre Opposition gegen den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg übertünchen konnten.Nach Buena Vista stritt Taylor vorerst weiter Ambitionen auf das Präsidentenamt ab, denn solange er noch im aktiven Dienst in Mexiko stand, sah er es als seine soldatische Pflicht an, sich nicht politisch zu exponieren. Freimütig räumte er ein, noch nie in seinem Leben gewählt zu haben. Trotzdem kürten ihn 1847 immer mehr öffentliche Versammlungen zum „Kandidaten des Volkes“. Mit der wachsenden Feindseligkeit gegen die Polk-Regierung sank sein Widerstand gegen eine Kandidatur stetig. Als er sich im Mai 1847 in einem Leserbrief derart missverständlich äußerte, dass es als Zustimmung zum Wilmot Proviso aufgefasst werden konnte, verlor er viele Südstaaten-Whigs in der Anhängerschaft und Crittenden riet ihm von weiteren politischen Meinungsäußerungen dringend ab. Ab August 1847 signalisierte Taylor seine Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, wenn ihn eine überparteiliche Organisation und keine etablierte Partei nominierte. In persönlichen Gesprächen und Korrespondenzen war er hingegen willens, seine politischen Positionen offenzulegen, und identifizierte sich als Anhänger der Prinzipien Thomas Jeffersons. Bei innerstaatlichen Angelegenheiten sollte seiner Überzeugung nach die Hoheit bei der Legislative liegen, während das Feld der Außenpolitik, wie in der Verfassung vorgesehen, für den Präsidenten reserviert sein sollte. Er hielt die Wiederherstellung der Second Bank of the United States für nicht machbar und war ein Gegner von Schutzzöllen. Anders als die meisten Südstaatler befürwortete er öffentliche Bauprojekte und lehnte eine Ausdehnung der Sklaverei auf neue Bundesstaaten ab. Taylor zeigte für einen Laien mitunter sehr gute Analysefähigkeiten; so sagte er zutreffend die Abspaltung eines abolitionistischen Flügels bei den Nordstaaten-Demokraten vorher. Als im November 1847 Clay seine Kandidatur bekannt gab, sah Taylor seine Siegesaussichten erst schwinden, aber fasste durch seinen triumphalen Empfang nach der Rückkehr aus Mexiko wieder neuen Mut. Daher versicherte er Crittenden explizit, seine Kandidatur aufrechtzuerhalten. Als Clays Momentum Anfang 1848 schwand, kristallisierte sich immer mehr Taylor als der Favorit für die Nominierung heraus, obwohl seine fortwährende Weigerung, sich zu den Whigs zu bekennen, in der Partei auf Verwunderung stieß.Das Wahljahr 1848 war durch turbulente politische Auseinandersetzungen darüber geprägt, ob die neuen Territorien als Sklavenstaaten oder als freie Bundesstaaten in die Union aufgenommen werden sollten. Hatte bis dahin der Missouri-Kompromiss von 1820 den Konflikt um die Sklaverei zwischen Nord- und Südstaaten noch ausreichend beruhigen können, bedrohte die Annexion von Texas das regionale Gleichgewicht in Senat und Repräsentantenhaus, zumal als Folge der Gebietsgewinne im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg das New-Mexico- und das Utah-Territorium sowie die Republik Kalifornien ebenfalls zum Beitritt anstanden. Insgesamt waren die Whigs in den Nordstaaten abolitionistischer geprägt als die dortigen Demokraten, während sie im Upland South, wo ihre Parteihochburg lag, und im Deep South die Sklaverei schwächer befürworteten als die demokratische Konkurrenz. Da sich im Nord-Süd-Konflikt kein nationaler Konsens abzeichnete, war es für Demokraten und Whigs vorteilhaft, hier vage zu bleiben. Taylor hatte seit 1846 eine bunt zusammengewürfelte Anhängerschaft gewinnen können, die aus Whigs und Demokraten aus Nord- und Südstaaten bestand; so kam es, dass Simon Cameron ihn auf dem Parteitag der Demokraten Pennsylvanias als Präsidentschaftskandidaten vorschlug. Selbst die migrationsfeindlichen Nativisten warben um ihn als Spitzenkandidaten.Im April 1848 gelangten Taylors Berater schließlich zu der Überzeugung, dass seine Wahl durch ein Bekenntnis zum Whig-Programm abgesichert werden musste. Als er in Briefen weiterhin die Parteizugehörigkeit abstritt, schickten Weed und Crittenden Mitte April 1848 Boten zu Taylor, unter denen sich sein ehemaliger Generaladjutant William Wallace Smith Bliss befand. Sie legten ihm den Entwurf für eine Erklärung vor, in der er sich als Whig bekannte, und nahmen die Anmerkung Taylors auf, dass er Präsident des ganzen Volkes sein werde und der einer Partei. Das Dokument enthielt zudem das Versprechen, das präsidiale Veto nur dann einzusetzen, wenn der Kongress einen klaren Verfassungsbruch beging. Dieser „Erste Allison-Brief“ überzeugte diejenigen unter den Whigs, die bis dahin an Taylors politischer Ausrichtung gezweifelt hatten, so dass bis Ende Mai allgemein mit ihm als Präsidentschaftskandidaten gerechnet wurde. Der Nominierungsparteitag der Whigs, die Whig National Convention, tagte ab dem 7. Juni in Philadelphia. Wie damals üblich war er als einer der Kandidaten auf dem Nominierungsparteitag nicht anwesend.Unter den potenziellen Kandidaten der Whigs hatte Taylor bei der Präsidentschaftsvorwahl nur drei zu fürchten: Clay, Scott und Horace Greeley. Clay war 71 Jahre alt, politisch äußerst erfahren und hatte schon drei Präsidentschaftswahlen verloren. Sein Nachteil war, dass er einer der Wortführer gegen den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg gewesen war, aber die Whigs für ihren Wahlsieg zumindest einige Bundesstaaten gewinnen mussten, die die Invasion befürwortet hatten. General Scott war durch die Siege als Oberbefehlshaber im selben Krieg und als West-Point-Absolvent auf den ersten Blick besser geeignet als Taylor, allerdings schadete ihm neben seinem „Old-Fuss-and-Feathers“-Image ein Untersuchungsausschuss, den Polk gegen ihn wegen seiner Kriegsführung in Mexiko anberaumt hatte. Dieser sprach ihn zwar von allen Vorwürfen frei, doch kostete ihn dieser Prozess wertvolle Zeit für die Vorbereitung seiner Wahlkampagne. Zudem hatte Taylor sich mit den Schlachterfolgen am Rio Grande im Mai 1846 bereits weit vor Scott einen Namen gemacht. Greeley war ein überzeugter Abolitionist, einflussreicher Herausgeber der New York Tribune und Führungsfigur des radikalen Flügels der Nordstaaten-Whigs. Er konnte sich nicht durchsetzen, da viele Whigs in den Nordstaaten zwar die Sklaverei ablehnten, aber mit einem moderaten Kandidaten die besseren Siegesaussichten zu haben glaubten. Als treibende Kraft innerhalb dieser Fraktion und neben Crittenden wichtigster Unterstützer etablierte sich Weed.
Crittenden war Führer des Taylor-Lagers auf der Whig National Convention. Er hielt einen Sieg bereits in der ersten Abstimmung für möglich, obwohl das Sitzungspräsidium von Anhängern Clays kontrolliert wurde. Da Crittenden keinen Zweifel an Taylors letztendlichem Sieg hatte, ließ er die unabhängigen Delegierten und Bundesstaaten mit aussichtslosen Landeskindern als Kandidaten anfangs gewähren. Im ersten Durchgang wurden neben Taylor, Scott und Clay Daniel Webster und John Middleton Clayton aufgestellt. In der ersten Abstimmung erhielt Taylor die meisten Stimmen, verfehlte jedoch die absolute Mehrheit. Von Wahlgang zu Wahlgang gewann er hinzu, bis er sich im vierten Durchgang mit 171 von 283 Stimmen die Nominierung sicherte. Sein Sieg war laut Bauer ein Triumph der Südstaaten, weil die meisten seiner Stimmen und wichtigsten Wahlkämpfer von südlich der Mason-Dixon-Linie kamen. Dieser Triumph bildete den Abschluss eines Unternehmens, das als Rachefeldzug gegen die Polk-Administration und Scott begonnen hatte. Unter den Nordstaaten-Whigs führte dieses Ergebnis zur Abspaltung einer Gruppe, die als „Conscience Whigs“ („Gewissen-Whigs“) bekannt war und Taylor ablehnte, da er sich nicht eindeutig gegen die Ausweitung der Sklaverei aussprach. Bei der Nominierung von Taylors Running Mate fielen etliche Namen, unter denen sich der erfahrene und landesweit relativ bekannte Millard Fillmore als Vizepräsidentschaftskandidat durchsetzen konnte. Taylor hatte derweil immer noch die Führung des „Western Command“ (deutsch: „Westliches Kommando“) inne, dessen Führungsstab er in unmittelbarer Nähe seiner Plantage eingerichtet hatte. Dort erreichte ihn die offizielle Mitteilung über seine Nominierung aufgrund eines Missverständnisses erst Wochen später. Bereits im späten Mai hatten die Demokraten ihre National Convention in Baltimore abgehalten. Polk entfiel, da er eine zweite Amtsperiode für sich ausgeschlossen hatte. In einer stark polarisierten Debatte siegte mit Senator Lewis Cass und General William O. Butler, der Taylors militärischen Ruhm kontern sollte, ein respektables aber farbloses Duo. Der aus dem Ostküsten-Establishment von New Hampshire stammende Cass vertrat das erstmals von Vizepräsident George M. Dallas formulierte Prinzip der Volkssouveränität, also das Recht der Bevölkerung in den Territorien selbst über die Legitimität von Sklaverei zu bestimmen, womit der Missouri-Kompromiss von 1820 hinfällig und das Wilmot Proviso umgangen wurde. Er stellte die Partei damit vor eine Zerreißprobe; insbesondere in den freien Staaten verloren die Demokraten dadurch Wähler.
Eine Besonderheit der Wahl war die Konkurrenz durch eine dritte Partei, die Free Soil Party, die wegen ihres Mottos „Free Soil, Free Speech, Free Labor and Free Men!“ („Freier Boden, freie Rede, freie Arbeit und freie Männer!“) unter diesem Namen bekannt war. Anders als die Liberty Party, aus der sie entstanden war, forderte sie kein Verbot der Sklaverei, sondern lediglich die Durchsetzung des Wilmot Proviso. Die Free Soil Party setzte sich aus ehemaligen Whigs und Demokraten zusammen; ihr Spitzenkandidat war der demokratische Ex-Präsident Van Buren mit dem „Conscience Whig“ Charles Francis Adams, Sr. als Running Mate. Die hauptsächlich durch Weed, Thomas Ewing und Crittenden getragene Kampagnenführung der Whigs war vollständig auf Taylors Persönlichkeit fokussiert, legte kein Wahlprogramm vor und mied jede Festlegung in der Sklavenfrage. Da Taylor weiterhin im aktiven Militärdienst verblieb, verzichtete er zur Erleichterung seiner Berater auf eine Teilnahme am Wahlkampf. Das Wahlkampflied „Old Rough and Ready“ thematisierte Taylors militärische Karriere. In der Frühphase des allgemeinen Wahlrechts für weiße Männer sprach dieses Image von Taylor als Raubein viele Wähler an. Die Nordstaaten-Whigs waren für das Wilmot Proviso und lehnten das „Popular-sovereignity“-Prinzip ab. Die deswegen im Süden drohenden Stimmverluste wendete die Tatsache ab, dass Taylor selbst Pflanzer und Sklavenhalter war. Insbesondere in dieser Region bemühten sich die Whigs um Einheit, wodurch sie die Stimmen vieler Demokraten gewannen. Im Juli wehrte Taylor sich gegen Versuche einiger Whigs, ihn noch enger der Parteidoktrin zu verpflichten, und sprach sich gegen die übliche Ämterpatronage aus, als ihn Bittbriefe erster Postenjäger erreichten. Als er im Monat darauf aus Sicht der Whig-Führung zu freundlich auf einen Abwerbeversuch durch demokratische Dissidenten aus South Carolina reagierte, nötigten sie ihn Anfang September zu einem „zweiten Allison-Brief“. Da weder Whigs noch Demokraten sich in der Sklavenfrage festlegten, entschieden lokale Themen die Wahl, die erstmals landesweit an einem einzigen Tag durchgeführt wurde. Taylor siegte beim Popular Vote mit 47,3 % und gewann wie auch Cass 15 Bundesstaaten, darunter die Schlüsselstaaten New York und Pennsylvania, die ihm die Mehrheit im Electoral College sicherten, im Wahlmännerkollegium. Insgesamt schadete die Free Soil Party den Demokraten mehr als den Whigs, vor allem in New York. Schwach schnitt Taylor dagegen in den westlichen Bundesstaaten ab, die sämtlich an Cass gingen. Taylor wurde somit als erster Berufssoldat zwölfter Präsident Amerikas. Bei den gleichzeitigen Kongresswahlen reichte es dagegen in keinem der beiden Häuser für eine Whig-Mehrheit.
=== Präsidentschaft ===
==== Im Weißen Haus ====
Taylor blieb nach der Wahl noch bis zum 31. Januar 1849 im aktiven Dienst, um weiter Sold als Generalmajor zu beziehen. Während dieser Phase traf er erstmals auf Clay, der ihn zuerst nicht erkannte. Im Dezember 1848 heiratete die jüngste Tochter Mary Elizabeth Bliss. Da Margaret Taylor die Öffentlichkeit mied und sich für Staatsdinners und ähnliche Veranstaltungen dieser Art zu schwach fühlte, erfüllte das junge Paar später wichtige Funktionen im Weißen Haus. Bei Empfängen übernahm Mary Elizabeth die Rolle der inoffiziellen First Lady, während Bliss Taylor als Privatsekretär diente. Die wichtigste politische Aufgabe im Präsidentschaftsübergang war die Besetzung des Kabinetts. Da mit dem Innenministerium eine neue Behörde mit Kabinettsrang eingeführt wurde, galt es sieben Ressortchefs zu bestimmen, wobei Taylor die Auswahl vor allem nach regionalen Gesichtspunkten traf. Dieser Prozess erwies sich als schwer, zumal er ihn bis zu einem Treffen mit Crittenden im Februar 1849 hinauszögerte. Als der Parteiführung klar wurde, dass Taylor die Beteiligung an Ämterpatronage und am Spoils system ablehnte, die damals essenziell für den Aufbau einer Administration waren, rief sie vergeblich Crittenden zu Hilfe. Später überließ Taylor als erster Präsident diese Postenbesetzungen vollständig dem Kabinett. Zudem zeigte er zu seinem späteren politischen Nachteil kein Bemühen, mit einer versöhnlichen Geste Clay und andere konservative Whigs für sich zu gewinnen. Ende Januar trat Taylor ohne seine Frau die Reise in die Hauptstadt an. Unterwegs begegnete er Crittenden, der das Amt des Außenministers ablehnte, da er sich nach der gewonnenen Gouverneurswahl von Kentucky diesem Amt verpflichtet fühlte. Statt seiner gewann er den gut mit den führenden Whigs Crittenden, Weed und William H. Seward vernetzten John Middleton Clayton als Secretary of State. Nach einer witterungsbedingt sehr kräftezehrenden Anreise, die Fußmärsche und Fahrten per Pferdeschlitten beinhaltete, traf Taylor am 23. Februar mit einer schweren Erkältung, einer durch einen fallenden Koffer verletzten Hand und deutlichen Alterserscheinungen im Washingtoner Willard Hotel ein. Polk blickte der kommenden Amtsübergabe mit Verdruss entgegen und untersagte seinen Kabinettsmitgliedern ein Treffen mit Taylor, bevor dieser sich nicht bei ihm vorgestellt hatte. Am 26. Februar empfing er schließlich Taylor im Weißen Haus; es war die erste persönliche Begegnung der beiden. Das kurze Treffen fand in einer freundlichen, jedoch sehr formalen Atmosphäre statt. Für den 1. März wurde Taylor zu einem Abendessen in größerem Personenkreis in das Weiße Haus eingeladen.Als Fillmore und Seward am 27. Februar mit Taylor über die Auswahl des Kabinetts diskutieren wollten, hatte dieser bereits auf Grundlage von Crittendens Ratschlägen das Personaltableau fertig erstellt. Dieser Prozess nahm von allen politischen Vorbereitungen Taylors für die Präsidentschaft am meisten Zeit ein. Wie im Falle Crittendens musste er oft auf die zweitbeste Lösung zurückgreifen, da der Wunschkandidat absagte. Außenminister Clayton entpuppte sich aufgrund seiner übergroßen Gutmütigkeit als wenig geeigneter Ressortchef und war zu träge, um die Funktion des Kabinettschefs zu erfüllen. William M. Meredith, der nach der Absage von Taylors Wunschkandidat Horace Binney das Finanzministerium leitete, stellte sich als gute Wahl heraus. Er wurde eines der stärksten Kabinettsmitglieder. Im Falle des Marineministers kam mit William B. Preston sogar nur die dritte Wahl hinter Abbott Lawrence und Thomas Butler King zum Zug. Preston war ein ausgezeichneter Verwaltungsleiter, der sich allerdings kaum für die Marine interessierte, sondern vorwiegend um Vermittlung im Nord-Süd-Konflikt bemühte. Nachdem Toombs als Kriegsminister abgesagt hatte, ging dieser Posten an George Walker Crawford. Dieser konnte in der Regierung nur wenig Akzente setzen und machte vor allem durch die Galphin-Affäre von sich reden. Mit Reverdy Johnson wurde jemand Attorney General, der sich aktiv um diese Position bemüht hatte. Johnson war ein entfernter Verwandter von Taylors Gattin und galt als der fleißigste Minister im Kabinett. Er führte das Ressort erfolgreich und entfaltete großen Einfluss auf den Präsidenten und die anderen Minister. Ewing, der erst als Postminister vorgesehen war, erhielt das Innenministerium, nachdem Truman Smith und John Davis diesen Posten abgelehnt hatten. Er war ein sehr erfahrener Parteisoldat und installierte das Spoils system in seinem Ressort. Postminister wurde Jacob Collamer. Da er Ämterpatronage ablehnte, aber das Ministerium führte, das von jeher verdiente Parteimitglieder mit der Bestellung zum Postmeister belohnte, entpuppte sich diese Personalie als befremdend. In der Folge wurde Collamer im Kabinett bei der Postenvergabe oft übergangen. Mit Preston gilt er als der schwächste Minister der Taylor-Administration. Insgesamt entstand so ein respektables, aber glanzloses Kabinett, dem nationale Bekanntheit und wichtiger noch Einfluss auf den Kongress fehlte, was sich als schwerwiegendste Schwäche erwies. In den folgenden Monaten war Ämterpatronage die Hauptbeschäftigung des Kabinetts; hier ging Lincoln leer aus und Nathaniel Hawthorne verlor seine Sinekure im Zoll. Der wichtigste Ratgeber Taylors war anfangs Fillmore, der in dieser Rolle und als Leiter der Ämterpatronage für New York zunehmend von Seward abgelöst wurde.
Statt wie üblich am 4. März fand die Amtseinführung des Präsidenten einen Tag später statt, da sie sonst auf einen Sonntag gefallen wäre. Auf dem Weg dorthin teilte Taylor Polk zu dessen Entsetzen über ein so hohes Maß an vermeintlicher Unbildung und außenpolitischer Ignoranz mit, dass er Kalifornien und das Oregon-Territorium für zu weit entfernt für eine Aufnahme in die Union halte und sie souveräne Staaten werden sollten. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Missverständnis, da es keinen Hinweis für eine solche Überzeugung Taylors gibt. Er hielt die Antrittsrede vor dem östlichen Portikus des Kapitols vor 10.000 Zuschauern. Die Ansprache drückte vor allem Taylors Überzeugung von einer deutlich beschränkten Führungsrolle des Präsidenten aus. So räumte er ganz anders als Polk in innerstaatlichen Angelegenheiten wie Haushaltspolitik dem Kongress Vorrang gegenüber dem Weißen Haus ein. Im Vergleich zu anderen Antrittsreden dieser Epoche stach die Ehrerbietung hervor, die er George Washington zollte. Insgesamt war die Rede unverbindlich und bot keinerlei Lösungsansätze für die drängenden Probleme, die die Sklavenfrage und die neuen Bundesterritorien stellten. Danach nahm ihm der oberste Bundesrichter Roger B. Taney den Amtseid ab.In den ersten Wochen im Weißen Haus war Taylor vor allem mit Postenjägern beschäftigt, die ihn dort bis in sein Arbeitszimmer verfolgten. Noch vor seiner Abreise in die Hauptstadt hatte er dem Vorschlag Albert T. Burnleys zugestimmt, eine regierungsfreundliche Zeitung in Washington herauszugeben. Im Juni 1849 erschien die erste Ausgabe von The Republic, die weitgehend als Sprachrohr des Weißen Hauses fungierte. Als Burnley von dieser Linie abwich, forcierte Taylor im Mai 1850 seine Ablösung durch Allen A. Hall. In seine Amtszeit fielen mehrere bedeutende Beerdigungen, die seine Anwesenheit als Präsident erforderten. So starb Polk nur wenige Monate nach seinem Abschied und kurze Zeit später Dolley Madison, die Witwe des vierten Präsidenten. In seiner Trauerrede prägte Taylor den Begriff „First Lady“ für die Ehefrauen von Präsidenten. Neben den Taylors und ihrer jüngsten Tochter nebst Gatten lebte die Nichte Rebecca Taylor die meiste Zeit über im Weißen Haus. Weil sowohl Zachary als auch Margaret aus großen und weit verzweigten Familien stammten, waren ständig Verwandte sowie Freunde der Taylors als Gäste im Haus anwesend. In der Rolle der privaten Gastgeberin fand die zurückgezogen im ersten Stock des Weißen Hauses residierende Margaret Taylor ihre Bestimmung. Taylor dagegen nahm am Gesellschaftsleben Washingtons teil. Weil er die Gewohnheit hatte, regelmäßig längere Spaziergänge zu unternehmen, was zu dieser Zeit noch ohne Sicherheitskräfte möglich war, gehörte seine Erscheinung bald zum gewohnten Straßenbild der Stadt. Da das Weiße Haus damals noch nahe der Sümpfe des Potomac Rivers lag, war das Klima im Sommer nicht nur unangenehm, sondern verursachte auch Krankheiten. Als ab Dezember 1848 eine Cholera-Epidemie in New York und New Orleans wütete und sich bis in den Mittleren Westen ausbreitete, rief Taylor im Juli 1849 für den 3. August einen nationalen Gebets- und Fastentag aus, obwohl er im Unterschied zu Margaret kein religiöser Mensch war und keiner Kirche angehörte.Ab dem 9. August 1849 begab sich Taylor auf eine längere Reise in den Nordosten der Vereinigten Staaten, die ihn durch New York und Pennsylvania führte, eine damals übliche Methode, um das Ansehen als Präsident zu bekräftigen. Die Anstrengungen der von ständigen Feierlichkeiten begleiteten Reise und der nicht nachlassenden Sommerhitze führten bei Taylor bald zu unterschiedlichen Erkrankungen, wovon er sich anfangs nicht in seinen Aktivitäten einschränken ließ. Im Mercer County in Pennsylvania traf er sich mit Whigs aus Warren (Ohio), das eine Hochburg der Free Soil Party war, und machte eine wichtige, seinen Kurs im Folgenden bestimmende Aussage: Er versprach ihnen, keine Ausweitung der Sklaverei in die neuen Territorien der Vereinigten Staaten zuzulassen. Taylor hoffte, so frühere Whigs von der Free Soil Party zurückgewinnen zu können. In Verbindung mit der Freundschaft zum Abolitionisten Seward führte diese politische Positionierung in das Nordstaatenlager der Partei zu schweren Verlusten der Whigs bei den folgenden Wahlen in den Südstaaten. Taylor handelte wahrscheinlich deshalb so, weil er den Erhalt der Union als oberste Priorität eher mit dem Programm der Nordstaaten- als mit dem der Südstaaten-Whigs vereinbar sah. Ende August war Taylor derart schwer erkrankt, dass seine Frau aus der Hauptstadt hinzugerufen wurde, weil der Mitarbeiterstab des Präsidenten das Schlimmste befürchtete. Als er sich nach einer Woche weitgehend erholt hatte, überredeten ihn seine Begleiter, die geplante Weiterreise nach Boston abzusagen, und dafür von Niagara Falls aus über Albany, New York und Philadelphia den Rückweg nach Washington anzutreten, wo er sich schließlich schnell erholte. Insgesamt blieb die Reise zwar hinter den größten Erwartungen zurück, aber Taylor zeigte in seinen Reden eine größere politische Differenziertheit in der Argumentation.Am 4. Dezember 1849 hielt Taylor seine erste und einzige State of the Union Address, die Ansprache zur Lage der Union. Wie damals üblich begann er seine ausschweifende Rede, die sich zum Teil in Trivialitäten verlor, mit einer Diskussion der auswärtigen Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Schwerpunkt auf Europa. Er informierte den Kongress über das Scheitern der deutschen Revolution von 1848/1849 und der Paulskirchenverfassung. Als überzeugter Anti-Royalist bekundete er Sympathie für den ungarischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Habsburgermonarchie. Auf dem Felde der Innenpolitik drückte er seine Missbilligung gegenüber den Filibuster-Expeditionen aus, die die Beziehungen zu Spanien gefährdeten. Taylor thematisierte die Probleme, die die Grenzziehung mit Mexiko bereitete. Weitere Themen waren die Aussichten hinsichtlich des Kanalbaus in Nicaragua, der Staatshaushalt und die Notwendigkeit höherer Zölle, die Ärgernisse in der Armee die Brevet-Ränge betreffend sowie seine Interpretation des Verhältnisses zwischen Präsident und Kongress. Er empfahl dem Kongress, Kalifornien und New Mexico als Bundesstaaten aufzunehmen und forderte unbedarft, die Beitrittsanträge nicht im amerikanischen Nord-Süd-Konflikt zu instrumentalisieren. Er wiederholte die Warnung Präsident Washingtons davor, jemals zuzulassen, dass sich Parteien aufgrund ihrer regionalen Herkunft gegeneinander abgrenzten. Am Ende der Rede bekräftigte Taylor gegenüber einigen separatistischen Stimmen aus den Südstaaten, dass er fest zur Union stehe. Der Stil der Rede verweist darauf, dass Taylor nicht ihr einziger Autor war, sondern sie wahrscheinlich vom Präsidenten, Meredith, Ewing, Robert Letcher und dem Journalisten Alexander C. Bullitt gemeinsam entworfen wurde. Insgesamt zeigte die Rede deutlich, dass Taylor in den ersten neun Monaten im Amt viel von seiner anfänglichen Unbedarftheit abgelegt hatte. Erwartungsgemäß waren die Reaktionen auf die State of the Union Address gemischt.
==== Die Sklavenfrage und der Kompromiss von 1850 ====
Taylor brachte einige feste Überzeugungen mit in das Weiße Haus, wozu die Haltung in der Sklavenfrage gehörte. Obwohl selbst Sklavenhalter und aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu einem Verzicht bereit, lehnte er die Institution prinzipiell ab. Da für ihn der Erhalt der Union oberste Priorität hatte, wollte er diesen weder durch ein Verbot der Sklaverei in den Südstaaten, noch durch ihre Ausbreitung gefährden. Zudem war eine Expansion der Sklaverei in die neuen Territorien wirtschaftlich nicht praktikabel. Die Sklaverei berührte als Kardinalfrage ihrer Zeit alle politische Themen, mit denen sich Taylor als Präsident beschäftigte. Hinsichtlich der Aufnahme Kaliforniens und New Mexicos in die Vereinigten Staaten war strittig, ob dies als freier oder Sklavenstaat geschehen sollte. Die Abgeordneten der Südstaaten sahen durch den Beitritt von Kalifornien, das sich eine abolitionistische Verfassung gegeben hatte, und New Mexico die Balance aus 15 freien und ebenso vielen Sklavenstaaten im Senat unwiderruflich aufgehoben und ihre Heimatstaaten geschwächt. Sie forderten im Gegenzug für ihre Zustimmung vom Präsidenten, die Zukunft der Sklavenwirtschaft insgesamt zu garantieren. Die Sklavenstaaten forderten schon lange eine Verschärfung des Fugitive Slave Acts von 1793, also der Gesetzgebung gegen fliehende Sklaven. Mit den Beitrittsanträgen von New Mexico und Kalifornien wurden entsprechende Drohungen der Sklavenstaaten immer lauter, woran selbst die Tatsache nichts änderte, dass der Präsident ein sklavenhaltender Pflanzer aus Mississippi war.Taylor verlor im Jahresverlauf 1849 immer mehr Rückhalt bei den Südstaaten-Whigs und näherte sich dem Parteiflügel der Neuengland- und Mittelatlantikstaaten um Seward und Weed an. Dies geschah auch, weil die Allianz von Demokraten und Free Soil Party im „alten Nordwesten“ zusehends die Durchsetzungsfähigkeit seiner Regierung bedrohte, zumal er der erste Präsident der Geschichte war, der weder in Senat noch in Repräsentantenhaus eine Mehrheit hatte. Als der Kongress nach einer zweimonatigen Sitzungspause im Dezember 1849 wieder tagte, wurde der Bruch zwischen Nord- und Südstaaten evident und die Gefahr einer Sezession der Südstaaten wurde zum Schlagwort der Krise. Taylor war über die separatistischen Drohungen aus dem Süden so aufgebracht, dass er noch enger an die abolitionistischen Whigs um Seward rückte. Ende Januar 1850 drängte er im Kongress auf die sofortige Aufnahme Kaliforniens und New Mexicos in die Union, wobei er sich gegen das Prinzip der „popular sovereignty“ auf der Ebene der Bundesterritorien und eine westliche Verlängerung der Missouri-Kompromiss-Linie stellte. Ein Hintergedanke war dabei laut dem Historiker James M. McPherson, die Drohkulisse einer Sezession der Südstaaten als Bluff zu entlarven.Im Kongress ging der Nord-Süd-Konflikt innerhalb der Parteien so weit, dass sie nicht mehr als Einheit funktionierten. Clay als Mehrheitsführer im Senat wäre der natürliche Verbündete des Präsidenten gewesen, diese Männer zeigten jedoch kein Interesse an einer Zusammenarbeit. In der Debatte war der als „große Kompromissfinder“ bekannte Clay bald so stark auf der nationalen Bühne präsent, dass einige vermuteten, der Präsident hegte auf ihn Eifersucht. Bis zum 29. Januar entwickelte Clay mit Webster einen Kompromissvorschlag, der die Form mehrerer Resolutionen im Senat hatte und vorsah, Kalifornien als freien Staat aufzunehmen, New-Mexico und Utah als Territorien die Entscheidung über die Sklaverei selbst zu überlassen und Texas für den Verzicht auf seine Gebietsansprüche gegenüber New Mexico finanziell zu entschädigen. Ferner war ein Verbot des Sklavenhandels im District of Columbia beabsichtigt und, um die Südstaaten zufriedenzustellen, ein neuer, restriktiverer Fugitive Slave Act.Dieses Gesetzespaket wurde im Kongress bis April debattiert, ohne eine Mehrheit zu finden. Am 23. Februar trafen die Abgeordneten Stephens, Toombs und Thomas Lanier Clingman den Präsidenten und forderten als Gegenleistung für einen abolitionistischen Bundesstaat Kalifornien eine Freigabe der Sklaverei in allen Bundesterritorien. Dabei deuteten sie eine Sezession der Südstaaten an, sollte kein Kompromiss dieser Art gefunden werden. Dies entfachte Taylors Zorn. Er warf ihnen vor, mit einer Rebellion zu drohen, und kündigte an, dass er jede separatistische Bewegung mit militärischer Gewalt bekämpfen werde. Am 18. April wurde ein Senatskomitees zur Kompromissfindung unter dem Vorsitz Clays eingerichtet.Vizepräsident Fillmore wurde in dieser Debatte von Taylor weitgehend ignoriert, der sich auf Seward als wichtigsten Berater und Verbündeten im Kongress verließ. Dass der Präsident so eng mit einem Sklavereigegner kooperierte, führte dazu, dass viele Südstaatler in Taylor einen Verräter an ihrer Gesellschaftsklasse sahen. Seward war entschieden gegen den Kompromiss und erklärte am 13. März vor dem Senat, dass die Sklaverei eine „rückständige, ungerechte und aussterbende Institution“ sei, die gegen Gottes Gesetz von der Gleichheit aller Menschen verstoße. Als der Präsident nach dieser Rede die Fassung verlor und im Republic eine Gegenerklärung drucken ließ, hofften Sewards Gegner, dass er seinen Einfluss im Weißen Haus verloren hatte. Eine Woche später standen sie jedoch wieder auf freundschaftlichem Fuß zueinander. Dass Taylor trotz der langwierigen Debatte nicht um die Sklaverei als Institution an sich fürchtete, zeigt der Umstand, dass er noch im frühen Juni seinen Sohn Richard anwies, eine neue Plantage mit 85 Sklaven zu kaufen.Am 8. Mai stellte das Senatskomitee sein Ergebnis vor, das stark dem ursprünglichen Kompromissvorschlag von Clays glich. Taylor war entschieden gegen das von ihm spöttisch als „Omnibus Bill“ („Gesetz für alle“) bezeichnete Gesetzespaket, lehnte Verhandlungen darüber mit dem Kongress ab und hätte es im Falle einer Verabschiedung mit einem Veto blockiert. Taylor und die meisten Nordstaaten-Whigs fürchteten mit der Öffnung von New Mexico und Utah als Bundesterritorien für die Sklaverei unwählbar im Norden zu werden. Den vom Senatskomitee vorgeschlagenen Fugitive Slave Act, dessen Überwachung zukünftig Bundessache sein sollte, lehnte der Präsident als zu weitgehendes Zugeständnis an die Sklavenstaaten ab. Er forderte weiterhin den Zweistaatenplan, also Kalifornien und New Mexico ohne Zugeständnisse an den Süden als Bundesstaaten in die Union aufzunehmen. Bis zum Frühsommer waren so aus Clay und Taylor fast schon Rivalen geworden. Die Verantwortung für dieses gestörte Verhältnis verortet Eisenhower hauptsächlich bei Clay, der Taylor immer als politischen Neuling betrachtet und sich so schwer getan habe, sich diesem unterzuordnen. Bauer führt für den Bruch zwischen den beiden im Gegensatz dazu vor allem in der Person Taylors liegende Gründe an. Dem Präsidenten sei es schwergefallen, die Verdienste anderer gebührend anzuerkennen, weshalb er auf Clays großen Einfluss im Kongress gekränkt reagiert habe. Um zu beweisen, dass er nicht auf Clay angewiesen sei, habe er sich von ihm stark abgegrenzt. Verstärkt wurde dies durch einen Vorfall im April 1850, als Clay in Gedanken verloren Taylor nicht grüßte, als sie sich auf der Straße begegneten. Der Präsident empfand dies als persönliche Beleidigung. Zu dieser Zeit versuchte Taylor möglicherweise mit Unterstützung von Clayton, Meredith, Preston und vor allem Seward eine neue Koalition aus abolitionistischen Nordstaaten-Whigs und unionstreuen Südstaaten-Whigs zu schmieden, was große Ähnlichkeiten mit dem Aufbau der Republikaner als Partei der gemäßigten Sklavereigegner durch frühere Whigs einige Jahre später aufwies.Nach Bekanntgabe der Ergebnisse des Senatskomitees fokussierte sich die Debatte im Kongress auf diesen Kompromissvorschlag und die Rufe nach Sezession verstummten. Als Clay am 21. Mai den Zweistaatenplan Taylors attackierte, war ihr Zerwürfnis endgültig. Das Weiße Haus reagierte mit einer vernichtenden Kritik an Clay im Republic und der Entlassung des leitenden Redakteurs Bullitt, als dieser den Druck des Textes verweigerte. Allmählich zeichnete sich eine Mehrheit für die Kompromisslösung ab und am 1. Juli warnte Fillmore den Präsidenten, dass er im Senat dafür stimmen werde. Dies war nicht das einzige Anzeichen für den zunehmenden Zerfall der Taylor-Regierung, denn zwei Wochen zuvor hatte der erschöpfte Clayton sein Rücktrittsgesuch als Außenminister verfasst. In den ersten Julitagen besuchten einige Delegationen von Südstaaten-Whigs Taylor und versuchten vergeblich, ihn vom Zweistaatenplan abzubringen. Er verwies ganz pragmatisch darauf, dass er für die Fraktion der 29 Südstaaten-Whigs im Kongress nicht die Stimmen der 84 Nordstaaten-Whigs riskieren könne. Derweil begann Taylors treuester Anhänger im Senat, John Bell, am 3. Juli im Kapitol eine mehrere Tage lange Rede zur Verteidigung des Zweistaatenplans, die noch andauerte, als Taylor bereits im Sterben lag. Nach Taylors Tod war der Weg zur Kompromisslösung frei, da sie sein Nachfolger Fillmore unterstützte. Im September wurden die fünf den Kompromiss von 1850 bildenden Gesetze verabschiedet, der nur eine vorübergehende Lösung brachte und den Sezessionskrieg im folgenden Jahrzehnt nicht abwendete.
==== Der Beitrittsantrag Kaliforniens ====
Als die Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des Jahres 1846 die Republik Kalifornien besetzten und unter Stephen W. Kearny von San Diego aus eine Militärherrschaft etablierten, lebten dort nicht mehr als 20.000 Weiße und Indianer. Nach dem Friedensschluss mit Mexiko im Vertrag von Guadalupe Hidalgo gelang es dem Kongress zum Unmut der Bewohner nicht, im früheren Oberkalifornien eine Zivilverwaltung aufzubauen. Dies machte sich während des kalifornischen Goldrausches ab 1848 nachteilig bemerkbar. So verlor San Francisco drei Viertel seiner Einwohner, während die überfüllten Häfen zu gefährlichen Orten wurden und die ohnehin kleine Besatzungsarmee von Militärgouverneur Oberst Richard Barnes Mason unter massenhafter Desertion litt. Die militärische Führung und die Bevölkerung forderten jetzt die Einführung einer Zivilverwaltung und fanden dafür volle Unterstützung bei Taylor. Da durch Einwanderung die Bevölkerungszahl stark gewachsen war, befürwortete er die Aufnahme von Kalifornien als Bundesstaat und nicht als Territorium. Taylor sah in dieser Frage den Kongress als zuständig an, der aber mit den Stimmen der Südstaaten im März 1849 einen Gesetzesvorschlag Prestons für die Aufnahme als freien Bundesstaat ablehnte, als Abgeordnete der Nordstaaten ein Sklavereiverbot ergänzten. Er schickte daher den Repräsentanten Thomas Butler King nach Kalifornien, um die Siedler zu ermutigen, sich eine Einzelstaatsverfassung zu geben und eigeninitiativ den Beitritt zu beantragen. Er traf die naive Annahme, dass eine vom kalifornischen Volk selbst verabschiedete Verfassung im Kapitol respektiert werde, auch wenn sie abolitionistisch sei.Einen Tag vor Kings Ankunft begann am 1. September eine Verfassungsgebende Versammlung in Monterey zu tagen. Im Oktober beschloss das Plenum einstimmig den Beitritt zur amerikanischen Union und gab sich eine abolitionistische Verfassung, die sich an der von New York und Iowa orientierte. Im November wählten sie einen Gouverneur und eine State Legislature, die die Aufnahme in die Vereinigten Staaten beantragte, und am 20. Dezember die von Bennett C. Riley geführte Militärverwaltung ablöste. Der Beitrittsantrag im Kongress im Januar 1850 scheiterte nicht nur wegen der Sklavenfrage am Widerstand der Südstaaten-Abgeordneten, sondern auch weil die Kalifornier von Taylor ermutigt Senatoren und Repräsentanten für das Kapitol gewählt hatten, ohne die Genehmigung durch den Kongress abzuwarten. Viele dort fühlten sich übergangen und betrachteten ohnehin die seit Jackson wachsende exekutive Macht des Präsidenten mit Argwohn.
==== Der Beitrittsantrag New Mexicos ====
Die Frage der Aufnahme der früheren mexikanischen Provinz Santa Fe de Nuevo México in die Vereinigten Staaten war deutlich brisanter als im Falle Kaliforniens und wurde von Taylor mit großer Entschlossenheit verfolgt. Die zumeist spanischsprachigen Bewohner des Territoriums lagen im Streit mit Texas, das große Teile des Gebiets beiderseits des Rio Grande zwischen El Paso und Santa Fe beanspruchte. Bereits 1841 hatte die damalige Republik Texas in einer desaströs gescheiterten Militärexpedition versucht, Santa Fe zu erobern, und Gouverneur Henderson 1847 den Anspruch erneuert. Im Jahr zuvor hatte General Kearny Santa Fe de Nuevo México in Besitz genommen und es amerikanischer Militärverwaltung unterstellt. Im Oktober 1848 legte Polk den Rio Grande als Grenze zwischen den Gerichtsbezirken von Texas und New Mexico fest, womit er den Forderungen Hendersons weitgehend stattgab. Ab dem folgenden Monat kam es zu einem Patt, als sich der Militärgouverneur New Mexicos in Santa Fe nicht der Autorität eines von Gouverneur George T. Wood entsandten Richter unterordnete. Als Taylor im Juli 1849 von der Situation erfuhr, führte er einen Kabinettsbeschluss herbei, der besagte, dass die Gebietsaufteilung der von Mexiko eroberten Ländereien eine im Kongress zu entscheidende Bundessache sein. Außerdem erhielt der Militärgouverneur Oberst Washington Order, das Territorium New Mexicos gegen jeden texanischen Übernahmeversuch zu verteidigen. Taylor erklärte Leutnant Alfred Pleasonton, dass er im Falle einer texanischen Invasion selbst wieder als General ins Gefecht ziehen werde, um New Mexico zu verteidigen. Dennoch versicherte der Präsident dem Senat noch im Juni 1850, dass er der Army in Santa Fe nie befohlen habe, die Autorität von Texas östlich des Rio Grande anzuzweifeln. Ende September 1849 beschloss eine Versammlung in Santa Fe, um Aufnahme als Territorium in die Union zu bitten. Mitte November 1849 sprach sich Taylor für einen Beitritt New Mexicos als Bundesstaat aus, wiederum in der zu optimistischen Annahme, dass der Kongress zustimmen werde, weil er so nicht selbst über eine Territorialverfassung mit der leidigen Sklavenfrage abstimmen müsse. Außerdem war dadurch eine Klärung der Grenzdispute auf gerichtlichem Weg zwischen den Bundesstaaten möglich.Der neue texanische Gouverneur Peter Hansborough Bell, ein “fire eater”, erhielt Ende Dezember 1849 von der State Legislature das Mandat, die Gebietsansprüche von Texas gegenüber Santa Fe notfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Außerdem genehmigten sie Bell, alles texanische Territorium nördlich des Breitengrades 36° 30′ an den Bund zwecks Schuldentilgung zu verkaufen. Letztendlich war keinem dieser Vorhaben Erfolg beschieden. Das Säbelrasseln gegen New Mexico erwies sich als Bluff, spätestens als Taylor kurz vor seinem Tod der Garnison in Santa Fe befahl, ihre Stellung zu halten. Den Gesandten in der Hauptstadt traf der volle Zorn Taylors, als er dem Präsidenten mit der Sezession Texas’ drohte. Die Berichte über den genauen Wortlaut Taylors variieren, einer bekannten Überlieferung nach soll er angekündigt haben, in diesem Fall selbst die Armee ins Feld zu führen und jeden Rebellen ohne zu zögern hängen zu lassen. Am 24. Mai 1850 verabschiedete eine von Militärgouverneur Munroe auf Order Taylors hin initiierte verfassungsgebende Versammlung in Santa Fe mit überwältigender Mehrheit eine abolitionistische Staatsverfassung in Kraft; damit verbunden war die Bitte um Beitritt zur Union als Bundesstaat. Zur gleichen Zeit bemühte sich der Mormonen-Führer Brigham Young für das von seinen Anhängern besiedelte Land, das sie Deseret nannten, ebenfalls die Integration in die Vereinigten Staaten zu erreichen. Da sie fürchteten, dass sie als Utah-Territorium unter die Kontrolle von Ungläubigen gelangten, hatten sie im März 1849 eine Staatsverfassung verabschiedet und mit exorbitanten, bis zur Pazifikküste reichenden Gebietsansprüchen verbunden. In der Debatte um den Kompromiss von 1850 spielte der Beitrittsantrag Utahs im Vergleich zu dem von Kalifornien oder New Mexico eine untergeordnete Rolle.
==== Außenpolitik ====
Taylor fand die von seinem Vorgänger übernommenen auswärtigen Beziehungen in relativ guter Verfassung vor. Sie hatten nur einige Konflikte niedriger Intensität geerbt, die sich teilweise schon über Jahre hinzogen. Dazu gehörten die Beziehungen zur Zweiten Französischen Republik, Spanien, dem Königreich Portugal und der spanischen Kolonie Kuba. Die meisten dieser Streitigkeiten waren schnell beigelegt. Wie üblich ließ Taylor dem Außenminister freie Hand und bestand nur in wichtigen Staatsangelegenheit auf Konsultation. So war er an der Bestellung von Lawrence zum Botschafter in London und anderen Personalentscheidungen vergleichbarer Bedeutung im diplomatischen Dienst beteiligt. Clayton war wie der Präsident auf dem diplomatischen Parkett gänzlich unerfahren und trat derart ungeschickt auf, dass dies unter anderem zu einer schweren Verstimmung mit Frankreich führte. In diesem Fall ging es um zwei Vorfälle im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, aus denen Frankreich Schadensansprüche ableitete, die der Botschafter Guillaume Tell Poussin in unangemessen aggressiver Weise vorbrachte. Taylor autorisierte deshalb eine Beschwerde an den französischen Außenminister Alexis de Tocqueville, der Poussin abberief. Als Clayton einen Brief Tocquevilles missverstand, antwortete er ihm in einer Serie erzürnter Noten, die die diplomatischen Beziehungen derart belasteten, dass der neue amerikanische Botschafter in Paris William Cabell Rives nicht mehr empfangen wurde. Nachdem Napoleon III. Anfang November 1849 eine Kabinettsumbildung durchgeführt hatte, normalisierte sich das Verhältnis schnell wieder.Die Beziehungen zu Portugal belasteten Schadensersatzansprüche, die amerikanische Handelsschiffe betrafen und bis in das Jahr 1814 und in die Zeit der Befreiungskriege zurückreichten. Clayton setzte Lissabon ein Ultimatum, das keine zufriedenstellende Reaktion erbrachte. In seiner State of the Union Address drückte Taylor ernste Besorgnis über die Beziehungen zu Portugal aus. Als es zu keinen Fortschritten kam, erhielt Ende Juni 1850 der amerikanische Botschafter James Brown Clay Order Portugal zu verlassen, sollte Lissabon nicht einlenken. Kurz darauf trat dieser Fall ein; zu dieser Zeit war Taylor bereits tot. Entgegen der Monroe-Doktrin, die jegliche Einmischung fremder Mächte in die westliche Hemisphäre verurteilte, begrüßte Clayton die britische und französische Intervention auf Hispaniola, um den Krieg zwischen dem Kaiserreich Haiti und der Dominikanischen Republik zu unterbinden. Ohne selbst Interesse an einem Kauf Kubas zu haben, fürchtete der Außenminister einen Erwerb der Insel durch Großbritannien. Eine radikale Gruppe um den früheren Außenminister Buchanan drängte auf eine amerikanische Intervention, um dem zuvorzukommen.
Die Polk-Regierung hatte die europäischen Revolutionen 1848/1849 vorsichtig unterstützt, da sie wie die Mehrheit der Amerikaner ihr politisches System für überlegen hielt und deswegen mit Freiheitsbewegungen sympathisierte. So hatte sie im Februar 1849 dem Verkauf und der Umrüstung des Dampfschiffes United States in ein Kriegsschiff der Reichsflotte des Deutschen Reiches von 1848/1849 zugestimmt. Als Taylor Präsident wurde, war der Krieg zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein wieder ausgebrochen und die Ausstattung der United States im Hafen New Yorks wegen der Neutralitätsgesetze nicht mehr möglich. Er ordnete deshalb im März den Baustopp an. Das Schiff wurde im Sommer an die Deutschen übergeben und in Hansa umgetauft. Der baldige Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1848/1849 führte zur Abberufung von Donelson aus Frankfurt und der Auswanderung vieler Revolutionäre nach Amerika. Im Juni 1849 wurde Ambrose Dudley Mann nach Ungarn entsandt, um die Erfolgsaussichten der dortigen Freiheitsbewegung einzuschätzen, die noch vor seiner Ankunft niedergeschlagen wurde. Diese Unternehmung führte zu Protesten durch den Botschafter des österreichischen Kaiserreichs. Harmonischer verlief die Kooperation mit dem Vereinigten Königreich hinsichtlich der spurlos verschwundenen Franklin-Expedition. Im Januar 1850 ersuchte Taylor den Kongress, eine Suchexpedition unter Führung von Edwin De Haven zu genehmigen. Ende August kam es zu Spannungen mit Madrid, als dem spanischen Konsul in New Orleans vorgeworfen wurde, für die Entführung des Kubaners Juan García verantwortlich zu sein, der unter amerikanischen Schutz gestanden hatte. Taylor gab Clayton Erlaubnis für entschiedenste Gegenmaßnahmen, die sich jedoch durch das Nachgeben der spanischen Behörden in Havanna als überflüssig erwiesen.Eine langfristigere außenpolitische Belastungsprobe war die Affäre um den aus Venezuela stammenden Narciso López. Dieser hatte während der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege in der spanischen Armee gedient, danach für einige Zeit auf Kuba gelebt und war in die Vereinigten Staaten geflohen, als ihm sein Grundbesitz entzogen worden war. Er plante eine Invasion Kubas, nicht nur um sein Eigentum zurückzugewinnen, sondern die ganze Insel in Besitz zu nehmen. In den Südstaaten fand er viele Unterstützer für seine Idee, darunter Mississippis Gouverneur Quitman, die so einen Sklavenstaat für die Union gewinnen wollten. Taylor erfuhr im September 1849, dass López etwa 600 Männer auf einer Insel bei Pascagoula für eine Filibuster-Expedition gesammelt hatte und kurz vor der Abfahrt stand. Er verurteilte diese Aktivitäten als kriminell und entsandte Kriegsschiffe, die die Anhänger López zerstreuten, womit er größeren Erfolg gegen die Filibustierer hatte als seine Amtsvorgänger. Unbeirrt versuchte dieser zu Beginn des Jahres 1850 erneut sein Glück, wobei er ohne Erfolg Robert Edward Lee und Davis eine Teilnahme angeboten hatte. Dieses Mal eroberte López im Mai 1850 unter hohen Verlusten das kubanische Cárdenas, musste aber wieder fliehen, als ihn die einheimische Bevölkerung keine Unterstützung gewährte. Ein spanisches Kriegsschiff verfolgte ihn bis nach Key West, wo er sich den amerikanischen Behörden ergab. Obwohl er in den Südstaaten wie ein Held empfangen wurde, klagte die Taylor-Administration López, Quitman und weitere Beteiligte wegen der Verletzung des Neutralitätsgesetzes an. Erbost nahm Taylor zur Kenntnis, dass eine mit López sympathisierende Jury in drei Prozessen zu keinem Urteil kam, woraufhin die Bundesbehörden alle Anklagen fallen ließen. Trotzdem engagierte sich der Präsident für knapp 50 amerikanische Teilnehmer, die von den Spaniern festgesetzt worden waren und in Gefahr standen, wegen Piraterie hingerichtet zu werden. Entgegen dem Rat seines Kabinetts entsandte er Kriegsschiffe nach Havanna und stellte den spanischen Behörden ein am Ende vollständig erfolgreiches Ultimatum zur Freilassung der Angeklagten, mit der Begründung, diese seien vor Beginn der Invasion aufgegriffen worden.
==== Clayton-Bulwer-Vertrag ====
Der größte außenpolitische Erfolg Taylors war der mit dem Vereinigten Königreich und Irland geschlossene Clayton-Bulwer-Vertrag. Bis zur Jahrhundertmitte hatten sich die Interessen der früheren Gegner und nun führenden Nationen im Welthandel stark angenähert; beide hatten freie Seewege und Förderung des Handels als Ziele. Daher betonte Taylor in seiner State of the Union Address die Freundschaft zu Großbritannien überschwänglich. Trotzdem bestanden weiterhin insbesondere in Mittelamerika Interessenkollisionen. Als 1849 wegen des kalifornischen Goldrauschs ein Menschenstrom an die amerikanische Westküste einsetzte, entwickelten sowohl Washington als auch London verstärkt Interesse an einem zentralamerikanischen Kanal, der Atlantik und Pazifik miteinander verband. Zu diesem Zweck hatten amerikanische Unternehmen bereits Verhandlungen mit der Regierung Nicaraguas begonnen. Großbritannien dagegen hatte ein Protektorat an der Miskitoküste etabliert, um zumindest den östlichen Kanalzugang zu kontrollieren. Im Januar 1848 nahmen sie nach einem kurzen Seegefecht San Juan de Nicaragua ein und installierten einen jungen Miskito als König einer Marionettenregierung.
Noch kurz vor der Präsidentschaftswahl hatten erste Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien in dieser Frage begonnen. In Nicaragua hatte der Gesandte Elijah Hise noch vor seiner Ablösung durch E. George Squire im Juni 1849 einen Vertrag mit Nicaragua ausgehandelt, der Washington gegenüber Managua als Garantiemacht für seine Unabhängigkeit stark in die Pflicht nahm. Taylor legte dieses Abkommen daher nicht dem Senat vor. Squire erreichte eine weit weniger verpflichtende Übereinkunft mit Nicaragua, so dass es nun faktisch zwei parallele Verträge zwischen beiden Staaten gab. Die gleichzeitig stattfindenden und ergebnislos verlaufenden Gespräche in London mit dem britischen Außenminister Lord Palmerston führte noch Botschafter Bancroft, da der von Taylors berufene Lawrence schwer erkrankt den Posten vorerst nicht antreten konnte. Als bekannt wurde, dass im Squire-Vertrag die Miskitoküste als Teil Nicaraguas anerkannt wurde, sank die britische Verhandlungsbereitschaft.Aus unbekannten Gründen wurde der Verhandlungsort in der Kanalfrage nach Washington verlegt. Mit Henry Bulwer, der ab Januar 1850 britischer Botschafter in Amerika wurde, trat die Wende ein. Anfang Februar legten Bulwer und Clayton Taylor einen Vertragsentwurf vor. Diesem waren insbesondere die Einlassungen zum britischen Protektorat über die Miskitoküste zu vage, weshalb er um Überarbeitung des Textes bat. Dies geschah bis zum April und hatte bereits die Zustimmung Londons erhalten, als der Präsident es am 22. April dem Senat vorlegte, wobei er das Dokument als ein Wirtschaftsbündnis und eine Absage an die Ausweitung der Manifest Destiny auf Mittelamerika bezeichnete. Beide Seiten versicherten in diesem Abkommen, niemals Herrschaft über Zentralamerika oder exklusive Kontrolle über einen dort zu errichtenden Kanal ausüben zu wollen. Einiges blieb mehrdeutig: Amerika verweigerte die Anerkennung der Miskitoküste, während Großbritannien das Protektorat über diese Region und auch Belize für sich in Anspruch nahm. London sagte aber zu, in Mittelamerika nicht weiter zu expandieren. Taylors Unterschrift unter dieses Gesetz am 4. Juli war der letzte Staatsakt vor seinem Tod. Er unterzeichnete damit ein Gesetz, das noch für Theodore Roosevelt hinsichtlich des Panamakanalbaus ein Problem darstellen sollte. Laut Bauer war der Clayton-Bulwer-Vertrag ein Meilenstein für die auswärtigen Beziehungen der Vereinigten Staaten, weil London die Vorherrschaft Washingtons in Zentralamerika anerkannte und die Monroe-Doktrin ratifiziert werden konnte. Trotzdem seien Taylor und Claytons Fähigkeiten als Außenpolitiker zu begrenzt gewesen, um nicht nur reflexartig zu agieren, sondern aktiv an kohärenten Richtlinien orientiert zu handeln.
==== Galphin-Affäre ====
Der Ursprung dieser Affäre, die Taylor körperlich schwer mitnahm und zu seinem Tod beigetragen haben könnte, lag in Besitzansprüchen aus der Kolonialzeit. Damals hatte George Galphin gegenüber der britischen Krone berechtigte Ansprüche für seine Unterstützung bei Verhandlungen mit Indianern in der Province of Georgia erworben. Da er sich während der Amerikanischen Revolution den Patrioten und nicht den Loyalisten anschloss, wurde er nie ausgezahlt. Der Senat von Georgia erkannte Galphins Ansprüche zwar an, aber er übergab sie 1835 an den Bund, der genauso wenig Willen wie Atlanta zeigte, sie zu begleichen. Galphins Erben verfolgten beharrlich ihr Recht und wurden seit 1833 von Taylors Kriegsminister Crawford rechtlich vertreten. Während der Präsidentschaft Polks hatten die Galphins den prinzipiellen Streitwert ausgezahlt bekommen, nicht jedoch die von ihnen geforderten Zinsen erheblichen Umfangs. Deshalb hielten sie ihre Klage weiter aufrecht. Inwieweit Taylor mit der Mandantschaft Crawfords vertraut war, ist unbekannt. Im April 1850 kam der Fall ins Kabinett und Johnson und Meredith entschieden, der Forderung nachzukommen, die für damalige Zeiten eine spektakuläre Höhe von knapp 200.000 US-Dollar ausmachte. Crawford erhielt als Rechtsvertreter der Nachkommen Galphins knapp die Hälfte der Summe, auf die er trotz heftiger öffentlicher Kritik nicht verzichtete. Taylor, der stark unter dieser Affäre litt, erwog auf Anraten Sewards eine große Kabinettsumbildung, die er aber nicht mehr in die Tat umzusetzen vermochte. Sie sah vor, Crawford, Johnson, Meredith und Clayton durch Edward Stanly, John Bell, Hamilton Fish und Crittenden zu ersetzen, was ein außergewöhnlich starkes Kabinett ergeben hätte. Noch drei Tage vor seinem Tod verabschiedete der Kongress mit knapper Mehrheit einen Tadel für das Verhalten des Präsidenten in der Galphin-Affäre.
==== Tod ====
Am frühen Nachmittag des amerikanischen Nationalfeiertags wohnte Taylor der Grundsteinlegung des Washington Monuments bei. Der Präsident harrte vor der Sonne ungeschützt zwei Stunden in sengender Hitze aus, als er den Reden zu diesem Anlass lauschte. Danach unternahm er einen Spaziergang und kehrte in das Weiße Haus zurück. Dort nahm er große Mengen von Obst sowie eisgekühlte Milch und Wasser zu sich. Insbesondere vor diesen Lebensmitteln waren die Bürger Washingtons gewarnt worden, da die Cholera in mehreren Landesteilen wütete und ein Ausbruch in der Hauptstadt, deren Trinkwasserversorgung und Kanalisation unter mangelnder Hygiene litten, befürchtet wurde. In der Nacht traten erste Beschwerden auf, die ihn erst nicht von den Amtsgeschäften abhielten. Später am Tag zeigte der Präsident alle Symptome einer schweren Gastroenteritis ähnlich derjenigen, an der er im August 1849 erkrankt war. Zur selben Zeit wie Taylor erkrankten auch Seward, Bliss, Clayton und Crawford mit gleicher Symptomatik. Am kommenden Tag, dem 6. Juli, verschlechterte sich der Zustand des Präsidenten so sehr, dass ein Militärarzt hinzugezogen wurde, der ihn mit Kalomel und Opium behandelte und damit kurzfristig eine Verbesserung erreichte. Am 7. Juli verschlechterte sich der Zustand rapide, so dass drei weitere Ärzte hinzugezogen wurden. Am nächsten Tag äußerte Taylor, dass er mit seinem Tod rechne. Am 9. Juli, der Vizepräsident war inzwischen zugegen, verlor er am Abend immer wieder das Bewusstsein und der Kongress unterbrach die laufende Sitzung, nachdem er vom nahen Ende des Präsidenten informiert worden war. Gegen 22 Uhr rief er Margaret zu sich ans Bett, verkündete immer seine Pflicht getan zu haben und bereit zum Sterben zu sein. Danach verlor er das Bewusstsein und starb um 22:30 Uhr. Am nächsten Tag wurde Fillmore am Mittag im Repräsentantenhaus als Nachfolger Taylors vereidigt. Er legte eine sechsmonatige Staatstrauer fest. Danach beruhigten sich wenigstens für einige Zeit die hitzigen Debatten im Kongress und Anhänger wie auch Gegner des verstorbenen Präsidenten wetteiferten darum, dem Nationalhelden des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs ihren Respekt zu bezeugen.Am 12. Juli fand Taylors Aufbahrung im East Room des Weißen Hauses statt. Am Tag darauf wurde er bis zu seiner geplanten Überführung nach Kentucky auf dem Congressional Cemetery in der Hauptstadt beigesetzt. Der Trauerzug hatte ungefähr 100.000 Besucher und startete in den frühen Morgenstunden im East Room mit Bestattungsriten im Beisein von Familie und des Kabinetts Fillmore, während alle militärischen Einrichtungen der Umgebung Salut schossen. Die von Trauer überwältigte Witwe blieb der von General Scott organisierten Prozession am frühen Nachmittag fern und verließ das Weiße Haus nicht. Den Leichenwagen zogen acht weiße Pferde zum etwas über 3 km entfernten Friedhof. Als militärisches Zeichen der Trauer begleitete „Old Whitey“ als reiterloses Pferd mit verkehrt in die Steigbügel gesteckten Stiefeln den Marsch. Auf dem Congressional Cemetery wurde Taylor übergangsweise in einer Gruft beigesetzt, wobei die Trauerrede ein Geistlicher der Episkopalkirche aus Georgetown hielt. Im Oktober wurde der Leichnam von seinem Bruder Joseph Taylor und Bliss nach Kentucky überführt und am 4. November 1850 in ein Mausoleum auf dem Familienfriedhof nahe Louisville umgebettet. Die Bitte des Stadtrats von Frankfort, den früheren Präsidenten in der Hauptstadt Kentucky beisetzen zu lassen, lehnte Margaret Taylor ab. Er hinterließ seiner Familie ein Vermögen von an die 200.000 US-Dollar. Gerüchte, Taylor sei vergiftet worden, verstummten nie und führten 1991 zur Exhumierung seiner Überreste. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass er eines natürlichen Todes gestorben war.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung ===
Von den persönlichen Dokumenten Taylors ist nur sehr wenig erhalten. Die Library of Congress bewahrt zu ihm eine Sammlung von ungefähr 650 Manuskripten. Den Großteil der Zachary Taylor Papers machen Briefe und Familiendokumente aus; daneben sind Geschäftspapiere und Akten zur Militärlaufbahn enthalten. Die detaillierteste Biographie lieferte Holman Hamilton mit dem zweibändigen Werk Zachary Taylor: Soldier of the Republic und Zachary Taylor: Soldier in the White House (1941, 1951). Ein weiteres Standardwerk zum zwölften Präsidenten ist K. Jack Bauers Zachary Taylor: Soldier, planter, statesman of the old Southwest (1985). Als gleichfalls lesenswert stuft der Historiker Jörg Nagler The Presidencies of Zachary Taylor and Millard Fillmore (1988) von Elbert B. Smith, Zachary Taylor (1967) von Brainerd Dyer sowie Old Rough and Ready: The Life and Times of Zachary Taylor (1946) von Silas Bent und Silas Bent McKinley ein, wobei Smith das tendenziell negative Urteil über Taylor zu revidieren versucht. Neuere, einführende Biographien sind Zachary Taylor (2005) von Jeremy Roberts sowie das Buch gleichen Titels von John S. D. Eisenhower, das 2008 erschien. Ein Überblick zur Forschungsliteratur über Zachary Taylor bis zum Jahr 1987 wurde von Bauer und Carol B. Fitzgerald herausgegeben.Benton und viele der Zeitgenossen sahen in Taylors vorzeitigem Ableben einen verhängnisvollen Schicksalsschlag für die Nation. Sein Renommee, die Tatsache, dass er als Sklavenhalter die Expansion dieser Institution ablehnte, und seine unbeirrte Treue zur Union hätten ihm nach ihrer Ansicht das Potenzial gegeben, die Streitfragen der Zeit zu lösen. McPherson betrachtet Taylor als „einen free soil-Wolf im Schafspelz des Hüters der Einzelstaatsrechte“. Er habe Kalifornien und New Mexico direkt als Bundesstaaten aufnehmen wollen, um „das Patt in der Sklavenfrage mit einem Flankenangriff zu brechen“. Bauer sieht die Ablehnung der Expansion der Sklavenwirtschaft möglicherweise darin begründet, dass Taylor in den letzten Lebensjahren erkannte, dass die lukrativen Zeiten billigen Landes und hoher Baumwollpreise vorbei seien, weshalb er privat in Handel, Gewerbe und ganz kurz vor seinem Tod in Bankaktien zu investieren begonnen habe. Mit seinem Kampf gegen die Ausbreitung der Sklaverei und der Abkehr von der Manifest Destiny in Mittelamerika habe er wie kaum ein anderer Präsident das von ihm erwartete Rollenmodell eines Pflanzers und Generals auf den Kopf gestellt.Laut John Eisenhower wäre durch Taylors wahrscheinliche Wiederwahl Amerika die mit der Präsidentschaft von Franklin Pierce verbundene Misere erspart geblieben und der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen. Er zog als einer der politisch unerfahrensten Amtsinhaber der amerikanischen Geschichte in das Weiße Haus und versuchte dies durch Ad-hoc-Entscheidungen zu kompensieren; zudem war seine Regierung für die kommenden Herausforderungen eine der am unzureichendsten vorbereiteten. Kein Punkt zeige so deutlich Taylors politische Naivität, wie das fehlende Bemühen um eine seine Regierung unterstützende Fraktion. Seine Ideen zur Lösung der drängenden Fragen der Zeit fanden in Senat und Repräsentantenhaus daher kaum Gehör. Das einzige zu Lebzeiten abgeschlossene politische Vorhaben war der Clayton-Bulwer-Vertrag. Taylor habe mehr als militärischer Führer denn als Präsident seinen Platz in der nationalen Erinnerung. Die öffentliche Wahrnehmung ähnele der von anderen Präsidenten mit militärischem Hintergrund, zu denen neben ihm vor allem Washington, Jackson, Ulysses S. Grant und Dwight D. Eisenhower gehörten. Sie wiesen einige Gemeinsamkeiten auf: Alle fünf zögerten, die politische Bühne zu betreten, bemühten sich vergeblich um Überparteilichkeit und waren gegenüber ihren Regierungsmitarbeitern zu vertrauensselig. Mit Washington und Jackson habe er gemeinsam, dass sein Umgang mit den Ministern dem eines Feldherren mit seinen Generalen geähnelt habe: Er erteilte klare Aufträge, überließ ihnen dabei freie Hand und schritt erst in Krisensituationen ein. Das Kabinett habe er ähnlich einem Kriegsrat genutzt, um sich die Einschätzungen der Untergebenen einzuholen. Taylors politische Überzeugungen richteten sich demnach nach Jefferson aus; insbesondere seine Ansichten zur Begrenztheit der Exekutivmacht des Präsidenten hatten ihn zum Maßstab. Bauer sieht ihn vor allem konservativ in einem pragmatischen Sinne geprägt, was sich am deutlichsten in seiner Außenpolitik der zaghaften Unterstützung der Revolutionsbewegungen in Deutschland und Ungarn gezeigt habe. In Mittelamerika haben seine außergewöhnliche Zurückhaltung und Vernachlässigung der Monroe-Doktrin eine Annäherung an Großbritannien ermöglicht. Innenpolitisch wäre bei einer längeren Amtszeit ein präsidialer Schwerpunkt auf der Förderung der Industrialisierung in den Mittelatlantikstaaten erwachsen.Taylor war nur geographisch ein Mann des Südens und stellte, möglicherweise durch seinen militärischen Werdegang bedingt, die Einheit der Vereinigten Staaten über regionale Sonderinteressen, was das Hauptmotiv seiner Präsidentschaft wurde. In dieser Hinsicht weist er viele Gemeinsamkeiten mit dem Nationalismus Präsident Jacksons auf. Insgesamt überwiegt laut Nagler eine negative Bewertung der Präsidentschaft Taylors, die politische Unerfahrenheit des Generals „führte zu Handlungen, die der komplexen politischen Situation nicht gerecht wurden“. Taylor hatte ein einfaches, schwarzweißes Weltbild, das bei jedem Gesetzesverstoß eine sofortige Reaktion verlangte.Als Persönlichkeit war er rätselhaft, so dass die Ansichten der Zeitgenossen wie zum Beispiel die der engen Weggefährten Davis und Hitchcock über ihn sehr widersprüchlich waren. Laut Eisenhower hängt dies damit zusammen, dass Taylor in zwei Parallelwelten lebte. In einer war er ein wirtschaftlich erfolgreicher Pflanzer aus privilegierten Verhältnissen, der ein glückliches Familienleben führte. Das Militär aber war der bestimmende Faktor seines Lebens; er sah sich vor allem als Soldat und weniger als Pflanzer. Diese Karriere verlangte ihm große Mühen ab, und er brauchte lange Zeit, bis er Oberst wurde, während andere seiner Generation an ihm vorbeizogen. Dadurch scheint er ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Stabsoffizieren entwickelt zu haben. Er war sicher kein Intellektueller und zeigte außer an Neuerungen in der Landwirtschaft wenig geistige Interessen. Übereinstimmend berichten Zeitzeugen wie John Pope über Taylors explosive Temperamentsausbrüche, die bereits durch Kleinigkeiten ausgelöst werden konnten, sowie seinen verschrobenen Humor, mit dem er erstaunten Besuchern einen Bauerntölpel vorspielte. Ein weiteres klar erkennbares Wesensmerkmal ist seine Sturheit; von einmal getroffenen Entschlüssen ließ er sich weder als militärischer noch als politischer Führer abbringen. Zum fehlenden Einblick in Taylors Persönlichkeit trug maßgeblich bei, dass seine persönlichen Aufzeichnungen während des Sezessionskrieges verloren gingen, als Unionstruppen das Haus seines Sohnes Richard zerstörten, der Generalmajor der Konföderierten war.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Das Zachary Taylor House, in dem Taylor aufwuchs, ist im National Register of Historic Places (NRHP) verzeichnet und hat seit 1961 den Status einer National Historic Landmark. Der Zachary Taylor National Cemetery, auf dem der Präsident bestattet liegt, ist als Historic District im NRHP eingetragen.
1928 erhielt der Friedhof vom Kongress den Status eines Nationalfriedhofs. Nach seinem Tod wurde Fort Zachary Taylor auf Key West, wo sich heute der Fort Zachary Taylor Historic State Park befindet, nach ihm benannt. Dieses Fort ist gleichfalls im NRHP eingetragen und ein anerkanntes National Historic Landmark. Außerdem sind Taylor County in Florida, Taylor County in Georgia, Taylor County in Iowa und Taylor County in Kentucky nach ihm benannt. Des Weiteren trägt der Vulkan Mount Taylor in New Mexico seit 1849 seinen Namen. Die 2007 gestartete Serie der Präsidentendollar prägte im Jahr 2009 Münzen mit den Porträts von Harrison, John Tyler, Polk und Taylor.
== Filme ==
Life Portrait of Zachary Taylor auf C-SPAN, 31. Mai 1999, 134 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Clara Rising und Elbert B. Smith sowie geführter Tour durch das Zachary Taylor House)
== Literatur ==
Jörg Nagler: Zachary Taylor (1849–1850): Der unpolitische Präsident. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 153–157.
Michael J. Gerhardt: The Forgotten Presidents: Their Untold Constitutional Legacy. Oxford University Press, New York 2013, ISBN 978-0-19-938998-8, S. 67–80 (= 4. Zachary Taylor).
Felice Flanery Lewis: Trailing clouds of glory: Zachary Taylor's Mexican War campaign and his emerging Civil War leaders. University of Alabama Press, Tuscaloosa 2010, ISBN 978-0-8173-1678-5.
John S. D. Eisenhower: Zachary Taylor (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 12th President). Times Books, New York 2008, ISBN 978-0-8050-8237-1.
Holman Hamilton: Zachary Taylor (= Neuauflage der zweibändigen Biographie von 1941, 1951). Easton Press, Norwalk 1989, LCCN 91-156817.
K. Jack Bauer: Zachary Taylor: Soldier, planter, statesman of the old Southwest. Louisiana State University, Baton Rouge 1985, ISBN 0-8071-1237-2.
== Weblinks ==
Zachary Taylor in der Notable Names Database (englisch)
Zachary Taylor Papers, Library of Congress (englisch)
The American Presidency Project: Zachary Taylor. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
American President: Zachary Taylor (1784–1850). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Michael Holt)
Zachary Taylor in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Zachary_Taylor |
Andrew Johnson | = Andrew Johnson =
Andrew Johnson (* 29. Dezember 1808 in Raleigh, North Carolina; † 31. Juli 1875 in Carter Station, Tennessee) war ein US-amerikanischer Politiker und von 1865 bis 1869 der 17. Präsident der Vereinigten Staaten. Er trat sein Amt am 15. April 1865 an, am Tag nach dem tödlichen Attentat auf seinen Vorgänger Abraham Lincoln, als dessen Vizepräsident Johnson von März bis April dieses Jahres amtiert hatte. Obwohl Johnson Südstaatler war und der oppositionellen Demokratischen Partei angehörte, hatte Lincoln ihn für dieses Amt ausgewählt, da er die Anhänger der Konföderation nach dem Ende des Bürgerkriegs mit der Union versöhnen wollte. Johnsons Amtszeit als Präsident war jedoch von anhaltenden Konflikten mit dem Kongress geprägt und gilt unter Historikern als eine der schwächsten der US-Geschichte. Johnson war der erste US-Präsident, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt wurde.
Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte Johnson wenig reguläre Schulbildung genossen. Er arbeitete zunächst als Schneider und begann seine politische Laufbahn als Bürgermeister einer Kleinstadt. Später wurde er ins Parlament von Tennessee und ins US-Repräsentantenhaus gewählt. Von 1853 bis 1857 bekleidete Johnson das Amt des Gouverneurs von Tennessee, bevor er diesen Bundesstaat zwischen 1857 und 1862 im US-Senat vertrat. Während des Sezessionskriegs trat er als einziger namhafter Politiker aus den Südstaaten gegen deren Abspaltung von der Union auf. Daher wurde er 1862 zum Militärgouverneur seines von Unionstruppen besetzten Heimatstaates Tennessee ernannt. Zudem nominierte der Republikaner Lincoln ihn vor der Präsidentschaftswahl von 1864 im Rahmen der National Union Party zu seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Dieses Amt übte Andrew Johnson vor Lincolns Ermordung nur sechs Wochen lang aus.
Seine Jahre im Weißen Haus waren geprägt von der sogenannten Reconstruction (der Wiedereingliederung der im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten) sowie einem Zurückdrehen von Lincolns Politik der Gleichbehandlung von Bürgern schwarzer und weißer Hautfarbe: Johnson war der Meinung, dass die Weißen in intellektueller und moralischer Hinsicht die „überlegene Rasse“ seien. Die Frage, ob die ehemaligen Konföderierten unter harten oder milden Bedingungen wieder vollwertig in die USA aufgenommen werden sollten, führte zu erheblichen politischen Spannungen. Senatoren und Abgeordnete der Republikaner, die den Kongress dominierten, traten für eine harte Bestrafung der Südstaaten-Anführer sowie umfassende Bürgerrechte für die ehemaligen afroamerikanischen Sklaven ein, was der Präsident aufgrund seiner rassistischen Weltanschauung bekämpfte. Seine Blockadehaltung gegenüber dem Kongress, vor allem bei weitreichenden Rechten für Schwarze, gipfelte Anfang 1868 in einem nur knapp gescheiterten Amtsenthebungsverfahren. Daher hatte Johnson im Herbst 1868 keine Chance, wiedergewählt zu werden. Im März 1869 löste ihn der Republikaner Ulysses S. Grant ab. Außenpolitisch konnte Johnson jedoch 1867 mit dem Ankauf Alaskas einen Erfolg verzeichnen.
Aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegenüber dem Kongress, vor allem in Fragen der Bürgerrechte für Afroamerikaner, wird seine Amtsführung heute von den meisten Historikern und US-Bürgern in Umfragen regelmäßig als eine der schlechtesten aller Zeiten bewertet. Nach dem Ende seiner Präsidentschaft blieb Johnson politisch aktiv; 1875 wurde er wenige Monate vor seinem Tod nochmals zum US-Senator gewählt, nachdem zwei vorige Bewerbungen für den Kongress gescheitert waren. Bis heute ist er der einzige Präsident, der nach seiner Amtszeit in den Senat gewählt wurde.
== Leben bis zur Präsidentschaft ==
=== Kindheit und Jugend ===
Johnson wurde in Raleigh, North Carolina, als jüngstes von drei Kindern von Jacob Johnson (1778–1812) und Mary Johnson, geb. McDonough (1783–1856), geboren. Jacob Johnson war Konstabler in der Ortsmiliz und Portier bei der State Bank of North Carolina. Als Andrew drei Jahre alt war, starb sein Vater an einem Herzinfarkt, einige Stunden, nachdem er drei Männer vor dem Ertrinken gerettet hatte. Die Familie blieb in Armut zurück. Mary sorgte mit Spinn- und Webearbeiten für den Familienunterhalt und heiratete später den ebenso mittellosen Turner Doughtry. Da die Versorgung der Familie immer prekärer wurde, folgte Johnson mit zehn Jahren seinem Bruder in die Lehre zu dem Schneider John Selby. Er besuchte während dieser Ausbildung keine Schule, erlernte das Lesen durch einen Mitarbeiter in der Schneiderei und brachte sich erst als junger Erwachsener das Schreiben bei. Im Alter von 15 Jahren riss er mit seinem älteren Bruder vor Selby aus und lebte zwei Jahre lang in Laurens im benachbarten South Carolina, wo er in seinem Beruf arbeitete und einem Mädchen im Ort erfolglos einen Heiratsantrag machte. Kurz darauf kehrte er nach Raleigh zurück. Da es ihm nicht gelang, sich aus dem Ausbildungsverhältnis mit Selby freizukaufen, und er somit vertraglich an ihn gebunden blieb, verließ Johnson den Bundesstaat, um eine andere Arbeit zu finden.Über Knoxville, Tennessee, gelangte er nach Mooresville, Alabama und Columbia, Tennessee, und arbeitete weiter als Schneider. Im Jahr 1826 kehrte er zu Mutter und Stiefvater nach Raleigh zurück. Diese sahen dort keine Zukunft mehr und wollten mit Johnson zu seinem Bruder und mütterlichen Verwandten in das östliche Tennessee umsiedeln. Auf dem Weg durch die Blue Ridge Mountains machten ihnen Pumas und Bären zu schaffen, sodass sie in Greeneville stoppten, wo sie mehrere Jahre blieben. Erst kampierten sie außerhalb der Stadt nahe Farnsworth Mill, da sie sonst keine Bleibe hatten. Nachdem er Arbeit bei einem örtlichen Schneider gefunden hatte, mieteten sie Zimmer in einer Taverne. In Greeneville lernte Johnson die Tochter eines Schusters, Eliza McCardle (1810–1876), kennen, seine spätere Frau. Aus beruflichen Gründen zog Johnson nach Rutledge, Tennessee, weiter, kehrte aber bald nach Greeneville zurück und heiratete am 17. Mai 1827 Eliza in Warrensburg, Tennessee, ihrer Heimatstadt. Sie blieben bis zu seinem Tod verheiratet und hatten fünf Kinder. In Greeneville, in der heutigen Andrew Johnson National Historic Site, eröffneten sie eine eigene Schneiderei, mit der sie großen geschäftlichen Erfolg erzielen konnten, während seine Frau ihm besseres Lesen und Rechnen beibrachte.
=== Einstieg in die Politik und Kongressabgeordneter ===
Über sein Interesse an Debatten – er gründete eine entsprechende Gesellschaft und nahm am Tusculum College an Disputen teil – gelangte Johnson in die Politik. Während seiner Jugend machte vor allem der damalige US-Präsident Andrew Jackson (1829–1837) großen Eindruck auf Johnson. Jackson war sowohl der erste demokratische als auch der erste nicht aus der gesellschaftlichen Elite stammende Präsident. Jackson präsentierte sich stets als Vertreter der „einfachen (weißen) Leute“, was sich auch Johnson in seiner politischen Karriere zu eigen machte. In den 1830er Jahren wurde er Bürgermeister von Greeneville. Ab 1835 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Tennessee; im Jahr 1841 gelang ihm der Sprung in den Senat des Staates, vom 4. März 1843 bis zum 3. März 1853 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten. Im Herbst 1844 war er im Präsidentschaftswahlkampf aktiv, bei dem er den demokratischen Bewerber James K. Polk unterstützte. Nach dem Wahlsieg wurde das Verhältnis zwischen Präsident Polk und Johnson belastet, da sich die Hoffnungen des letzteren auf einen Regierungsposten nicht erfüllten. Im Kongress präsentierte sich Johnson wie auch schon in früheren Jahren als Vertreter des einfachen Bürgertums. Seine starke Abneigung gegen die Oberschicht führte er auf seine ärmliche Herkunft zurück, wie er in öffentlichen Ansprachen über seine gesamte politische Laufbahn vortrug. Wie der Biograf Paul H. Bergeron festhält, profitierte Johnsons politische Karriere erheblich von seinen rhetorischen Fähigkeiten: In seinen Reden richtete er sich an die einfache Bevölkerung, deren Stimmen ihm oft zum Sieg verhalfen. Vor allem bei der weißen Unterschicht konnte er sich auf großen Rückhalt stützen. Johnson war der Auffassung, jeder Amtsträger verdanke seine demokratisch legitimierte Stellung allein der einfachen Bevölkerung. Sich selbst betrachtete Johnson dabei als Paradebeispiel, da er nicht aus einem privilegierten Umfeld stamme.Während seiner Abgeordnetenzeit spitzen sich die politischen Differenzen zwischen den sklavenfreien Nordstaaten und den die Sklaverei befürwortenden Südstaaten immer weiter zu. Insbesondere durch die enormen territorialen Zugewinne, die sich aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846–1848) ergaben, drohte das Gleichgewicht zwischen den Landesteilen aus der Balance zu geraten. Strittig war insbesondere, wie in den neuen Gebieten mit der Sklaverei verfahren werden sollte. Johnson, in dessen Haushalt selbst Sklaven beschäftigt waren, sprach sich damals für die Sklaverei aus; das 1846 eingebrachte Wilmot Proviso, das ein komplettes Verbot der Sklaverei in den hinzugewonnenen Gebieten vorsah, fand nicht seine Zustimmung. Letztlich lehnte der Senat den kontrovers diskutierten Entwurf ab. Den vom Whig-Senator Henry Clay verfassten und von Präsident Millard Fillmore vorangetriebenen Kompromiss von 1850, der einen Ausgleich zwischen Nord und Süd vorsah, befürwortete Johnson. Auch der Aufnahme Kaliforniens als sklavenfreiem Bundesstaat stimmte er zu. Johnson votierte im Rahmen dieses Gesetzespakets lediglich gegen das Verbot des Sklavenhandels in der Hauptstadt Washington (das dennoch verabschiedet wurde).Innerparteiliche Konflikte führten Ende 1850 dazu, dass die Demokraten für die nächste Wahl zum Repräsentantenhaus mit Landon Carter Haynes einen Gegenkandidaten zu Johnson aufstellten. Die Whigs sahen darin die Chance, Johnson abzulösen und stellten keinen eigenen Bewerber auf. Dennoch konnte Johnson die Wahl für eine fünfte (zweijährige) Wahlperiode knapp für sich entscheiden. Nach seinem überraschenden Sieg spielte er bereits mit dem Gedanken, für den US-Senat zu kandidieren. Da jedoch die Whigs die Mehrheit in der State Legislature von Tennessee errangen, erwies sich dieses Vorhaben als unmöglich (bis 1914 wurden die Bundessenatoren nicht von den Bürgern, sondern den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt). Die bundesstaatlichen Legislativen entschieden auch über den Zuschnitt der Kongresswahlbezirke; das Parlament Tennessees hatte nach der Volkszählung 1850 die Wahlkreise so gegliedert, dass das demokratische Wählerpotential in Johnsons Bezirk stark verringert wurde. 1852 erklärte er daraufhin: „I don't have a political future [deutsch: Ich habe keine politische Zukunft]“, verzichtete auf eine weitere Bewerbung und schied Anfang März 1853 aus dem Kongress aus.
=== Gouverneur von Tennessee (1853–1857) ===
Da er auf einen nicht unerheblichen Rückhalt bei demokratischen Politikern seines Staates zählen konnte, nominierte ihn seine Partei im Frühjahr 1853 für das Amt des Gouverneurs von Tennessee. Während des Wahlkampfes im folgenden Sommer fanden in mehreren County Seats Rededuelle zwischen Johnson und dem Whig-Kandidaten Gustavus Adolphus Henry statt. Bei der Gouverneurswahl im August 1853 siegte Johnson dann mit 63.413 gegen 61.163 Stimmen. Um sich auch Stimmen aus dem gegnerischen Lager zu sichern, unterstützte Johnson die Wahl des Whig-Politikers Nathaniel Green Taylor ins US-Repräsentantenhaus.Nach seiner Vereidigung zum Gouverneur im Oktober 1853 konnte Johnson einige politische Erfolge verzeichnen, obwohl eine Reihe seiner Vorschläge (wie die Abschaffung der bundesstaatlichen Bank) nicht umgesetzt wurden. Im Gesetzgebungsprozess hatte er im Vergleich zu anderen Gouverneuren wenig Einfluss, da Tennessees Regierungschef Mitte des 19. Jahrhunderts noch über kein Vetorecht verfügte. In seiner Amtszeit favorisierte Johnson eine bessere finanzielle Ausstattung von Bildungseinrichtungen. Dieses Ziel wollte er vor allem durch Steuererhöhungen sowohl auf bundesstaatlicher als auch lokaler Ebene erreichen. Die Legislative stimmte diesem Vorhaben zu. Die nächste Gouverneurswahl 1855 gewann er knapp, was angesichts der starken Whig-Konkurrenz Aufsehen erregte. Obgleich die Whig Party auf nationaler Bühne wegen des Streits um die Sklaverei des Niedergangs begriffen war, konnte sie sich in Tennessee länger halten. Johnson erhoffte sich von seiner Wiederwahl vor allem weitere Profilierung, um für nationale Ämter mehr politisches Gewicht zu erlangen.Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1856 versprach er sich, als Kompromisskandidat nominiert zu werden, nachdem der demokratische Amtsinhaber Franklin Pierce nicht mehr aufgestellt wurde. Johnson betrieb jedoch keinen aktiven Wahlkampf, obwohl er auf lokaler Ebene in Tennessee sehr populär war, und sprach sich für den Kandidaten James Buchanan aus, der dann auch gewählt wurde.
=== US-Senator (1857–1862) ===
Im Sommer 1857 trat Johnson nicht für eine dritte Amtsperiode als Gouverneur an, sondern wollte sich in den US-Senat wählen lassen. Dennoch war er aktiv in die Wahlkampagne für seine Nachfolge involviert. Nachdem die Demokraten mit Isham G. Harris nicht nur den Gouverneursposten halten konnten, sondern auch die Mehrheit in der State Legislature errangen, wurde der scheidende Gouverneur im Oktober 1857 zum Senator gewählt. Kurz darauf trat er dieses Amt an. Seine Familie blieb in Tennessee wohnhaft, während der neue Senator sich meist in der Hauptstadt aufhielt.Als Senator setzte sich Johnson, wie schon als Abgeordneter im Repräsentantenhaus, für ein Besiedlungsgesetz ähnlich dem später von Abraham Lincoln unterzeichneten Homestead Act ein. Mehrere Entwürfe des Senators wurden nicht angenommen oder von Präsident Buchanan mit einem Veto blockiert. Ende der 1850er-Jahre trat er weiterhin als Befürworter der Sklaverei in den Südstaaten auf und erklärte, der in der Unabhängigkeitserklärung enthaltene Satz „Alle Menschen sind gleich geschaffen“, beziehe sich nicht auf Afroamerikaner, sondern „Mr. Jefferson meinte die weiße Rasse“. Mit dieser Auffassung unterschied er sich aber nicht wesentlich von vielen Zeitgenossen.Vor der Präsidentschaftswahl 1860 hoffte Johnson erneut auf seine Chance, als Kompromisskandidat für die Demokraten antreten zu können. Obwohl der demokratische Nominierungsparteitag im Sommer des Jahres schnell festgefahren war, da kein Bewerber die nötige Zweidrittelmehrheit auf sich vereinen konnte, wurde Johnson von führenden Politikern seiner Partei nicht als Kandidat erwogen. Da sich in den zurückliegenden Jahren die Spannungen zwischen Nord und Süd weiter zugespitzt hatten, konnten sich die Demokraten nicht auf einen Präsidentschaftsanwärter für die Nachfolge des nicht mehr kandidierenden James Buchanan einigen. Die Partei stellte schließlich zwei Kandidaten auf; Senator Stephen A. Douglas für die Nord-Demokraten und Vizepräsident John C. Breckinridge für die Süd-Demokraten. Johnson unterstützte im Wahlkampf letzteren, der für die Interessen des Südens eintrat. Als Wahlsieger ging jedoch Abraham Lincoln hervor, der für die neu gegründete Republikanische Partei antrat und als (zu dieser Zeit noch) gemäßigter Gegner der Sklaverei auftrat. Lincolns Wahl ins Weiße Haus wurde von vielen Südstaaten als grundlegende Bedrohung ihrer Interessen angesehen; noch vor der Vereidigung des neuen Staatsoberhauptes erklärten im Winter 1860/61 mehrere Staaten ihren Austritt aus den USA. Obwohl zahlreiche Senatoren und Abgeordnete aus den Südstaaten für die Abspaltung eintraten, sprach sich Johnson vehement für die Einheit des Landes aus. Als sämtliche Senatoren aus den Südstaaten ihre Mandatsniederlegung für den Fall einer Sezession ihres jeweiligen Staates ankündigten, appellierte Johnson an seine Kollegen (vor allem gerichtet an den späteren Präsidenten der Konföderierten Staaten Jefferson Davis), sich nicht aus dem Kongress zurückzuziehen. Johnson verwies darauf, dass dadurch die demokratische Mehrheit verlorengehe, was Präsident Lincoln von einer Zusammenarbeit mit den Demokraten entbinde. Da sich viele Demokraten als Vertreter der Südstaaten sahen, ja dort die führende politische Kraft waren, würden dann die Interessen der Südstaaten im Kongress nicht mehr vertreten. Johnsons Appelle blieben jedoch ungehört. Obwohl sich auch Tennessee den Konföderierten anschloss, blieb Johnson im Senat und trat gegen die Sezession auf, was Politiker der Nordstaaten sehr begrüßten. So erklärte Johnson im Senat:
=== Militärgouverneur (1862–1865) ===
Im Sezessionskrieg, der im April 1861 begann, brachten die Nordstaaten Teile von Tennessee unter ihre Kontrolle, woraufhin Johnson von Präsident Lincoln im März 1862 zum Militärgouverneur seines Heimatstaates ernannt wurde. Der Senat bestätigte die Nominierung binnen kurzer Zeit mit großer Mehrheit. Durch seine Fürsprache für die Einheit des Landes hatte er auch in den Reihen der die Sezession entschieden ablehnenden Republikaner Rückhalt. Als Konsequenz konfiszierte die Regierung der Konföderation weite Teile von Johnsons Eigentum wie sein Haus und seine Sklaven. Während seiner Zeit als Militärgouverneur ging er entschieden gegen Sympathisanten der Konföderation vor; besonders in den östlichen Gebieten des Staates, die weitestgehend noch bis 1863 von Konföderierten kontrolliert wurden.Angesichts des verlustreich ausgetragenen Krieges änderte Johnson seine ursprünglich zustimmende Haltung zur Sklaverei. Johnson erklärte: „Wenn die Institution der Sklaverei zu einem Sturz der Regierung führt, dann sollte die Regierung das Recht haben, sie zu zerstören“. Die zuvor von Lincoln erlassene Emanzipations-Proklamation verstärke die Debatte um die Sklaverei, deren Abschaffung Lincoln nun neben der Bewahrung der Einheit mehr und mehr zum eigentlichen Ziel des Konflikts machte. Als Militärgouverneur trieb Johnson, zunächst widerwillig, die Rekrutierung afroamerikanischer Kämpfer voran. Diese Unterstützung an Truppen war für die Nordstaaten sehr wichtig. Es zeichnete sich schon zu Beginn des Jahres 1864, trotz einiger militärischer Rückschläge für die Union in der ersten Jahreshälfte, ein Sieg des industrialisierten und logistisch deutlicher besser aufgestellten Nordens ab.
=== Wahl von 1864 und Vizepräsidentschaft (1865) ===
Im Wahlkampf 1864 lehnten es die Republikaner unter Präsident Lincoln ab, Verhandlungen mit der Konföderation über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Nach Ansicht Lincolns und vieler seiner Parteifreunde würden solche Verhandlungen eine faktische Anerkennung der Sezession bedeuten, wodurch der seit drei Jahren andauernde Krieg umsonst geführt worden wäre. Sie plädierten daher für eine Fortsetzung der Kämpfe bis zum endgültigen Sieg des Nordens. Die meisten Demokraten sprachen sich für Friedensverhandlungen aus, einige jedoch schlossen sich wie Andrew Johnson Lincolns Positionen an (War Democrats). Daher entschied man sich für die anstehende Wahl gemeinsam als National Union Party („Partei der nationalen Einheit“) anzutreten.
Im Juni wurde in Baltimore der Parteikonvent der National Union Party abgehalten, in deren Verlauf Abraham Lincoln für eine zweite Amtszeit zur Wiederwahl aufgestellt wurde. Aus wahltaktischen Gründen entschied man sich für das Amt des Vizepräsidenten einen Demokraten aus dem Süden aufstellen zu lassen. Damit sollte auch die Absicht deutlich gemacht werden, die abtrünnigen Staaten unter milden Bedingungen wieder in die Union aufzunehmen. Da Lincolns bisheriger Stellvertreter Hannibal Hamlin ohnehin keine wichtige Rolle in der Regierung einnahm, stimmte der Präsident einer Neubesetzung des Postens zu. Er beauftragte den General Daniel E. Sickles mit der Suche nach einem potentiellen Kandidaten. Johnson, der von Beginn an zum engeren Kreis der Bewerber gehörte, machte in Öffentlichkeit deutlich, sich für den Posten zu interessieren. Im Hintergrund sprachen bereits Vertraute des Militärgouverneurs mit dem Lincoln-Team, um Johnsons Kandidatur zu sichern. Von dem neuen Amt erhoffte er sich sowohl Repräsentation der Südstaaten-Demokraten in der Regierung als auch einen Schub für seine politische Karriere. Im Sommer nominierte die National Union Party schließlich Lincoln und Johnson; Vizepräsident Hamlins Versuch, erneut aufgestellt zu werden, scheiterte auf dem Parteikonvent.
Im Wahlkampf absolvierte Johnson sogar mehrere öffentliche Auftritte, wo er für die Fortführung des Krieges bis zur Wiedervereinigung des Landes warb. Die Präsidentschaftswahl im November 1864 fiel klar zu Lincolns Gunsten aus: Er besiegte den Kandidaten der Demokraten, George B. McClellan, mit 55 gegen 45 Prozent der Wählerstimmen. Da die demokratisch dominierten Staaten des Südens größtenteils der Konföderation angehörten, setzte sich das Gespann aus Lincoln und Johnson im Wahlmännergremium mit 212 gegen 21 überlegen durch. Besonderen Anteil an diesem deutlichen Sieg hatte der Kriegsverlauf in den Sommer- und Herbstmonaten 1864, als sich das Blatt entscheidend zu Gunsten des Nordens wendete (wie beispielsweise die Einnahme Atlantas durch die Unionsarmee).Nach der Wahl ging der Krieg einem raschen Ende entgegen. Noch vor Johnsons Vereidigung zum Vizepräsidenten konnte Lincoln den 13. Verfassungszusatz durch den Kongress bringen, der die Sklaverei auf dem gesamten US-Staatsgebiet für unzulässig erklärte. In Tennessee trat Anfang 1865 eine neue bundesstaatliche Verfassung in Kraft, mit der die Sklaverei verboten wurde. Deren Ausfertigung war eine von Johnsons letzten Amtshandlungen als Militärgouverneur. Am 4. März 1865 wurde Lincoln für seine zweite Amtszeit vereidigt, Andrew Johnson legte vor dem Senatsplenum den Eid zum neuen Vizepräsidenten ab. Bei seiner Amtseinführung sorgte der neue Vizepräsident für öffentliches Aufsehen, da er betrunken zu den Feierlichkeiten erschienen war. Lincoln wies Kritik an Johnsons Verhalten daraufhin zurück und betonte, Johnson sei kein Trunkenbold. Als Vizepräsident spielte Johnson keine wichtige Rolle innerhalb der Regierung; kraft seines Amtes übte er den Vorsitz im Senat aus, wo er mehrere Sitzungen ohne signifikante Beschlüsse leitete, da zu Beginn der Wahlperiode eher Organisatorisches auf der Tagesordnung stand.
== Präsidentschaft (1865–1869) ==
=== Amtsübernahme nach Lincolns Tod ===
Am 14. April 1865, dem Karfreitag, traf Johnson den Präsidenten erstmals seit der Vereidigung wieder persönlich. Wenige Tage zuvor hatte die Konföderation kapituliert. Gegenüber Lincoln sprach er sich für eine harte Bestrafung der Anführer der Südstaaten aus. „Treason is a crime and must be made odious“ („Verrat ist ein Verbrechen und muss verhasst gemacht werden“), so der Vizepräsident. Lincoln hatte seinen Stellvertreter an diesem Tag zu einer abendlichen Theatervorstellung eingeladen, was der Vizepräsident jedoch nicht annahm. Während dieser Vorstellung im Ford’s Theater wurde dem Präsidenten vom fanatischen Südstaaten-Sympathisanten John Wilkes Booth in den Kopf geschossen. Am nächsten Morgen wurde Lincoln für tot erklärt. Wie von der Verfassung zwar nicht vorgesehen (das geschah erst mit dem 25. Amendment von 1967), aber seit 1841 durch den Präzedenzfall beim Tod Präsident Harrisons sanktioniert, ging damit das Präsidentenamt für den Rest der Amtszeit auf den Vizepräsidenten über, und Johnson wurde am Vormittag des 15. April 1865 von Chief Justice Salmon P. Chase zum 17. Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt. Johnson stand so unter Schock, dass er sich vor seinem ersten öffentlichen Auftritt als Präsident stark betrank. Noch am selben Tag bat er die bisherigen Minister Lincolns, weiterhin in seinem Kabinett zu bleiben. Außenminister William H. Seward und einige andere Minister blieben bis zum Ende von Johnsons Amtszeit im März 1869 auf ihren Posten. Johnson war nach John Tyler 1841 und Millard Fillmore 1850 der dritte Vizepräsident, der durch den Tod des Präsidenten dessen Nachfolge für den Rest der Amtszeit antreten musste. Außerdem war er der erste von insgesamt vier Präsidenten, die durch ein tödliches Attentat auf ihren Vorgänger ins Amt kamen.Booth hatte geplant, nicht nur Lincoln, sondern mit Hilfe einiger Komplizen auch Johnson, Außenminister William H. Seward und General Ulysses S. Grant zu töten. Während Seward den Angriff schwer verletzt überlebte, entgingen Grant und Johnson den auf sie geplanten Anschlägen. Der auf Johnson angesetzte Attentäter, der aus Thüringen stammende George Atzerodt, war vor der Tat zurückgeschreckt, wurde im Juli 1865 aber dennoch als Mitverschwörer zum Tode verurteilt und gehenkt. Johnson begnadigte Anfang 1869 lediglich den Arzt Samuel Mudd, der Booth auf dessen Flucht medizinisch versorgt und dafür eine Haftstrafe erhalten hatte.
=== Beginn der Reconstruction ===
Hauptaufgabe von Johnsons Präsidentschaft war die sogenannte Reconstruction, also die Wiederaufnahme der ehemaligen Konföderation in die Vereinigten Staaten. Die politischen Auseinandersetzungen darüber prägten seine Amtszeit. Dabei ging es um die Bedingungen, unter denen die Südstaaten wieder vollwertig in die USA integriert, und die Rechte, die den befreiten Sklaven zuteilwerden sollten.
Da der Kongress nach Vereidigung des Präsidenten erst im Dezember 1865 wieder zusammentrat (damals tagte die Legislative deutlich seltener als heute), bot sich Johnson in den kommenden Monaten die Chance, viele seiner Vorstellungen zur Reconstruction mittels präsidialer Verfügungen umzusetzen. Zunächst verfügte er, dass die ehemaligen Führer der Konföderation und reiche Südstaatler den Eid auf die Treue zur Union nur nach einem vom Präsidenten stattgegebenen Gnadengesuch ablegen durften. Bis Sommer 1865 begnadigte Johnson dann mehr als 13.000 wohlhabende Südstaatler. Wie die Historikerin Vera Nünning schreibt, habe Johnson es genossen, dass die südstaatliche Oberschicht, von der er sich vor allem in früheren Jahren unterdrückt gefühlt habe, nun auf seine Gnade angewiesen sei.Zu ersten Spannungen zwischen dem Präsidenten und den Radikalen Republikanern kam es, als er während der ersten Monaten seiner Amtszeit in den besetzten Südstaaten eine Reihe von Militärgouverneuren ernannte, die der ehemaligen Südstaaten-Elite entstammten und zum Teil enge Verbindungen zu den Anführern der Rebellion hatten. Darüber hinaus erteilte er den südlichen Bundesstaaten keine Auflagen für die Ausarbeitung neuer (republikanischer) Staatsverfassungen. Selbst die Ratifikation des Sklavereiverbots machte er nur in Hintergrundgesprächen zur Bedingung. Die Radikalen Republikaner, die 1865 noch in der Unterzahl im Kongress waren, waren neben den konservativen Republikanern und den in der Minderheit befindlichen Demokraten eine Gruppe von Senatoren und Abgeordneten, die für eine harte Bestrafung der ehemaligen Konföderierten eintraten. Auch sprachen sie sich für weitgehende Bürgerrechte für die einstigen Sklaven aus; männliche Schwarze sollten beispielsweise auch das Wahlrecht zugesprochen bekommen. Ferner traten sie dafür ein, die Staaten der ehemaligen Konföderation als besetzte Gebiete zu behandeln. Johnson hingegen wollte die Südstaaten schnellstmöglich und ohne weitgehende Auflagen wieder vollwertig in die Union aufnehmen. Durch milde Aufnahmebedingungen mit Ausnahme des Sklavereiverbots bezweckte er, die alten gesellschaftlichen Strukturen wiederherzustellen und damit auch die Stellung der Demokratischen Partei im Süden zu sichern (anders als heute, da Afroamerikaner überwiegend demokratisch wählen, stimmten damals Schwarze für die Republikaner als die Partei, die die Sklaverei abgeschafft hatte). Darüber hinaus vertrat Johnson, wie er in seiner Jahresbotschaft an den Kongress im Dezember 1865 klarstellte, die Auffassung, die Südstaaten seien niemals legal aus den USA ausgetreten. Durch die Ernennung demokratischer Militärgouverneure aus den Südstaaten-Eliten begrenzte der Präsident zudem das Wahlrecht auf diejenigen, die bereits vor dem Bürgerkrieg ein Stimmrecht hatten. Durch die Einführung von Black Codes, die den früheren Slave Codes sehr ähnlich waren, blieb vielen Afroamerikanern die Teilnahme an Wahlen und damit politischer Einfluss verwehrt. Vor allem die Radikalen Republikaner kritisierten diese Politik scharf, während sich Johnson durch Milde gegenüber dem Süden in der Tradition Lincolns sah. Tatsächlich hatten die Radikalen Republikaner auch Lincolns Reconstruction-Pläne als zu nachgiebig angesehen.Zu weiteren Beeinträchtigungen für die Afroamerikaner kam es durch Johnsons Obstruktionspolitik gegenüber dem Freedmen’s Bureau. Dieses stand unter Aufsicht des Kriegsministeriums und sollte den ehemaligen Sklaven durch konfisziertes Land aus dem Besitz der Pflanzer eine Existenzgrundlage außerhalb der Plantagen verschaffen. Der Präsident bestimmte jedoch, dass dieses Land nicht an Schwarze verpachtet werden durfte, sondern den einstigen Sklavenhaltern zurückgegeben werden musste. Durch die faktischen Einschränkungen im Wahlrecht und die provisorischen, von Johnson eingesetzten Regierungen erfuhren Schwarze weiterhin erhebliche Nachteile. Da vielen Schwarzen somit die Gründung einer eigenen Existenz verwehrt war, arbeiteten sie weiterhin oft unter ähnlichen Bedingungen wie vor dem Krieg auf den Baumwollplantagen.
=== Zuspitzung des Reconstruction-Konflikts ===
Viele republikanische Kongressmitglieder sprachen sich nach Kriegsende zugunsten von weitreichenden Bürgerrechten für die befreiten Sklaven aus. Johnson, der wie viele seiner Zeitgenossen eine rassistische Weltanschauung hatte, betrachtete die Schwarzen nicht nur als der weißen Rasse intellektuell und moralisch unterlegen, auch bezweifelte er, dass ein friedfertiges Zusammenleben überhaupt möglich sei. Lediglich ihre Physis sei stärker, um harte und niedere Arbeiten ausführen zu können. Johnson sagte zu Thomas Clement Fletcher, dem Gouverneur von Missouri: „Dies ist ein Land für Weiße, und bei Gott, so lange ich Präsident bin, soll das auch eine Regierung für Weiße sein“. Ein weiterer Konflikt zwischen Kongressmehrheit und Präsident ergab sich aus der Frage, wer überhaupt für die Wahrung der Bürgerrechte und des Wahlrechts genau zuständig sei. Während Johnson im Wahlrecht die einzelnen Bundesstaaten als zuständig ansah, waren die Republikaner der Auffassung, die Bundesregierung habe Kompetenzen das Wahlrecht langfristig zu schützen. Auf Kritik erwiderte Johnson, es sei eine Machtanmaßung des Weißen Hauses, den Afroamerikanern in den Südstaaten das Wahlrecht zuzusprechen. Dieses falle allein in die Verantwortung der jeweiligen bundesstaatlichen Regierungen. Dies wird auch daran deutlich, dass er sich im Sommer und Herbst 1866 nach tödlichen Übergriffen auf Schwarze und auch Republikaner im Süden weigerte, mit der Autorität der Nationalregierung einzugreifen; beispielsweise durch gesetzliche Maßnahmen oder der Entsendung von Truppen zum Schutz der Minderheit. Radikale wie gemäßigte Republikaner verurteilten Johnsons Politik diesbezüglich scharf. Der Präsident hingegen gab die Schuld an den sich häufenden Ausschreitungen den Republikanern, die durch ihren Kurs die Afroamerikaner gezielt aufgestachelt hätten.Da Johnson sich aber insofern kompromissbereit äußerte, als dass er zusagte, den ehemaligen Sklaven „das Recht auf Freiheit und auf eine entlohnte Arbeit“ zu sichern, arbeiteten die Republikaner im Kongress unter Leitung von Senator Lyman Trumbull einen Kompromiss aus. Ergebnis war der Civil Rights Act von 1866, ein Gesetz zum Schutz jener Rechte von Afroamerikanern, deren Billigung Johnson zuvor angedeutet hatte. Die Einschätzung der Senatoren um Trumbull, der Präsident werde der Vorlage zustimmen, erwies sich als falsch; er legte am 27. März 1866 sein Veto ein. Für Johnson stand die Forderung der Radikalen Republikaner, den Afroamerikanern gesetzlich das Wahlrecht voll einzuräumen, auf gleicher Stufe wie ihnen durch den Civil Rights Act natürliche Rechte zuzugestehen. Wie die Historikerin Vera Nünning ausführt, habe Johnson nach dem Civil Rights Act den Kongress als fast ausschließlich aus Radikalen bestehend gesehen, die sich zum Ziel gesetzt hätten, seine bisherige Reconstruction-Politik durch ein weitgehendes Stimmrecht für Afroamerikaner zunichtezumachen. Damit habe der Präsident jedoch die Kompromissbereitschaft der Senatoren und Abgeordneten vor dem Gesetz fatal verkannt. Auch der Historiker Paul H. Bergeron schreibt, Johnson habe über seine gesamte Amtszeit den Kongress durch seine persönliche Kompromisslosigkeit gegen sich aufgebracht. Denn der Kongress, so auch die Johnson-Biografin Annette Gordon-Reed, sei anfangs durchaus zu Zugeständnissen gegenüber dem Weißen Haus bereit gewesen, um so mit dem Präsidenten zusammenarbeiten zu können. Durch sein Veto brachte Johnson nicht nur die Radikalen gegen sich auf, auch gemäßigte Republikaner betrachteten sein Verhalten, das der Bundesregierung faktisch jedes Einschreiten zum Schutz der schwarzen Minderheit versagte, als Affront. Johnsons Agieren hatte weitreichende politische Folgen, da Radikale und gemäßigte Republikaner fortan weitaus enger kooperierten. Eine Koalition aus beiden Blöcken konnte wenige Wochen später das präsidiale Veto gegen den Civil Rights Act mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit überstimmen, womit die Vorlage auch ohne die Zustimmung des Präsidenten in Kraft trat.Eine weitere Reaktion auf Johnsons Kurs war die Durchsetzung des 14. Verfassungszusatzes, der Schwarze zu Bürgern der Vereinigten Staaten erklärte, was eine formale Gleichbehandlung vor dem Gesetz verfassungsrechtlich garantierte (auch wenn die praktische Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht war). Johnson sprach sich vehement gegen den Zusatz aus, den er als Racheakt des Kongresses gegen den Süden betrachtete. Obwohl der Präsident keine Mittel hat, die Verabschiedung eines Verfassungszusatzes im Kongress zu verhindern, versuchte er letztlich vergeblich, die Bundesstaaten, die den Zusatz noch ratifizieren mussten, zu einer Ablehnung zu bewegen.
=== Kongresswahlen 1866 und Erstarken der Radikalen Republikaner ab 1867 ===
Im Spätherbst 1866 standen zur Mitte der präsidialen Amtszeit Kongresswahlen an. Und obwohl der Präsident nicht zur Abstimmung stand, betrachteten damalige politische Beobachter diese Wahlen faktisch als Referendum über Johnsons bisherige Regierungsarbeit. Johnson hatte durch sein kompromissloses Vorgehen in seiner Reconstruction-Politik die Unterstützung der Republikaner im Kongress weitestgehend verloren. Daher entschied er sich, selbst in den Wahlkampf einzugreifen, um die Bevölkerung von seinem Kurs zu überzeugen. Er hoffte darauf, ein neuer Kongress mit mehr Demokraten werde sein Vorgehen künftig mittragen. Ab Ende August 1866 bereiste er persönlich das ganze Land, was damals als Verstoß gegen die von einem Präsidenten einzuhaltenden Regeln galt. Er „erfand“ dabei den Wahlkampfsonderzug, eine Einrichtung, die in US-Wahlkämpfen für weit über 100 Jahre prägend sein sollte. In Dutzenden Reden versuchte er, gegen die Radikalen Republikaner Stimmung zu machen. So erklärte er bei einer Rede am 3. September 1866 in Cleveland:
Johnson hoffte bei diesem sogenannten Swing around the circle trip die Bevölkerung mit seinen rhetorischen Fähigkeiten zu überzeugen, wie er es in früheren Jahren vermocht hatte. Doch dieses Mal stieß er mit seinen zum Teil äußerst provokanten Auftritten mehrheitlich auf Ablehnung. Auch sein Versuch, den sehr populären Bürgerkriegsgeneral Ulysses S. Grant einzubinden, schlug fehl, da Grant – privat wenig überzeugt von Johnson – den Kurs des Weißen Hauses allenfalls halbherzig zu unterstützen schien. Die Radikalen Republikaner ihrerseits verurteilten nicht nur die bisherige Politik des Präsidenten, sondern bezeichneten seine damals für ein Staatsoberhaupt unüblichen Auftritte als unwürdig.Am Ende erwiesen sich die Kongresswahlen 1866 als Katastrophe für Johnson. Die Radikalen Republikaner konnten massive Zugewinne verbuchen, sie erreichten in beiden legislativen Kammern eine Zweidrittelmehrheit. Ein Journalist aus den Nordstaaten schrieb später, Johnson habe durch seine Wahlkampfauftritte etwa eine Million Stimmen an die Radikalen in den nördlichen Staaten verloren. Johnsons heftige Attacken auf die Republikaner bestärkten diese darin, auf Konfrontationskurs mit dem Weißen Haus zu gehen, indem sie künftig ihre politischen Ziele noch energischer vorantrieben.Noch bevor sich der neu gewählte Kongress im März 1867 konstituierte, hatte sich der Konflikt zwischen Parlament und Präsident weiter zugespitzt: Im Januar 1867 erließ noch der bisherige Kongress ein Gesetz zum Schutz des Wahlrechts für Afroamerikaner in Washington, D.C. Der Präsident machte umgehend von seinem Vetorecht Gebrauch. In seiner Vetobotschaft führte er aus, ein Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten sei allein schon deshalb verfassungswidrig, da noch gar nicht alle Bundesstaaten aus dem Süden in die Union aufgenommen worden seien. Noch am selben Tag setzte sich der Kongress mit den notwendigen Mehrheiten über das Veto hinweg. In den folgenden Monaten brachten die Parlamentarier dann die Reconstruction Acts auf den Weg, welche die bisherige Politik den Weißen Hauses rückgängig machten, wobei sie Johnsons Vetos erneut überstimmten. Mit dem Gesetzesbündel wurden die ehemaligen Konföderierten Staaten in fünf Bezirke untergliedert, die Militärgouverneure durch Generäle aus den Nordstaaten ersetzt. Diesen war es notfalls möglich, das Kriegsrecht auszurufen, um den 14. Verfassungszusatz durchzusetzen. Außerdem wurde festgelegt, dass die Südstaaten nur nach dessen Ratifizierung vollwertig in die Union aufgenommen werden konnten. Dies erfolgte unter diesen Bedingungen zwischen 1867 und 1870. Johnson wehrte sich über den Sommer 1867 hinweg gegen diese Maßnahmen, indem er den Generälen im Rahmen seiner exekutiven Vollmachten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Befehle erteilte, um die Ausführung ihm missfallender Gesetze zu verhindern. Nach und nach ersetzte er die Generäle durch ihm genehmere Persönlichkeiten. Bis Herbst 1867 glaubte er, sein Ziel weitestgehend erreicht zu haben.Über die Reconstruction Acts hinaus verabschiedete der Kongress im Frühjahr 1867, wieder gegen ein präsidiales Veto, den Tenure of Office Act. Dieser war eine Reaktion auf Johnsons Andeutung, er werde Minister entlassen, die in der Reconstruction-Politik nicht seiner Meinung seien. Das neue Gesetz schrieb die Zustimmung des Senats bei der Entlassung von Kabinettsmitgliedern vor. Bisher hatte der Präsident nur zur Berufung, nicht aber zur Entlassung eines Ministers die Zustimmung der Kongresskammer benötigt. Damit sollte aus Sicht der Republikaner insbesondere die Entlassung von Ministern verhindert werden, die noch Lincoln berufen hatte. Johnsons Auffassung, der Tenure of Office Act sei verfassungswidrig, wurde 1926 durch den Obersten Gerichtshof bestätigt, der ein ähnliches Gesetz aufhob (der Tenure of Office Act selbst wurde bereits 1887 durch den Kongress wieder zurückgenommen, nachdem alle folgenden Präsidenten dieses Gesetz ebenfalls kritisiert hatten). Ein vermeintlicher Verstoß Johnsons gegen dieses Gesetz wurde im folgenden Jahr als Hauptgrund für seine angestrebte Amtsenthebung angeführt.
=== Amtsenthebungsverfahren 1868 ===
Bereits über den Sommer und Herbst 1867 gelangten einige Republikaner im Kongress zu der Auffassung, die Lösung der anhaltenden Konflikte mit dem Präsidenten liege in der Amtsenthebung Johnsons. Viele Radikale Republikaner äußerten, „die Reconstruction könne am Widerstand eines starrsinnigen Präsidenten scheitern“. Daher begann man, in den entsprechenden Parlamentsausschüssen nach Beweisen für ein rechtswidriges Handeln Johnsons zu suchen, die eine Absetzung rechtfertigen würden (anders als in parlamentarischen Demokratien kann im Präsidialsystem der USA der Regierungschef nicht aus politischen Gründen, sondern nur bei illegalen Handlungen des Amtes enthoben werden). Als Johnson gegen den Willen der Abgeordneten zwei weitere, ihm unliebsame Generäle im Süden entließ, verhärteten sich die Fronten zwischen ihm und der Kongressmehrheit weiter.Im Spätsommer 1867, während der Senat nicht tagte, versuchte Johnson, aufgrund politischer Differenzen Kriegsminister Edwin M. Stanton, der schon unter Lincoln gedient hatte, aus dem Amt zu entlassen. Als der sich weigerte, zurückzutreten, setzte Johnson General Grant als geschäftsführenden Minister ein. Grant folgte der Aufforderung des Präsidenten, äußerte jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des präsidialen Handelns. Das war der Wendepunkt: Nachdem der Kongress im November 1867 wieder zusammengetreten war, brachte der Justizausschuss eine Resolution ins Repräsentantenhaus ein, dem Senat die Amtsenthebung des Präsidenten vorzuschlagen. Dieser erste Entwurf wurde jedoch am 7. Dezember 1867 mit klarer Mehrheit abgelehnt (57 gegen 108). Vorausgegangen waren lange Debatten im Kongress, ob Johnson tatsächlich illegale Aktivitäten oder „schwerste Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten“ vorzuwerfen seien, wie es die Verfassung als Voraussetzung eines Impeachments vorschrieb.Da Kriegsminister Stanton formal immer noch im Amt war, ersuchte Johnson im Januar 1868 den Senat um die Entlassung des Ministers. Außerdem unterrichtete er die Senatoren, er habe Grant als Interims-Minister eingesetzt. Der Senat wies den Antrag des Präsidenten zurück und erklärte, Stanton und nicht Grant sei mit der Leitung des Kriegsministeriums betraut. Obwohl Johnson sich weigerte, dies anzuerkennen, zog sich Grant mit Verweis auf den Senatsbeschluss zurück. Der im Volk beliebte General wurde ohnehin bereits als republikanischer Präsidentschaftskandidat für die Wahl Ende des Jahres gehandelt. Nach Grants Rückzug setzte sich Johnson dennoch über den Senat hinweg, indem er Stanton für entlassen erklärte und den Bürgerkriegsgeneral Lorenzo Thomas zum neuen Kriegsminister ernannte. Stanton blieb jedoch faktisch auf seinem Posten, da das Vorgehen des Präsidenten ohne Billigung des Senats formal unwirksam war.Mit seinem Vorgehen erreichte die Konfrontation zwischen Johnson und dem Kongress einen neuen Höhepunkt; am 24. Februar 1868 stimmte das Repräsentantenhaus mit 128 gegen 47 für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten. Es war das erste Impeachment gegen einen amerikanischen Präsidenten überhaupt (derartige Pläne hatte es schon gegen John Tyler 1842 gegeben, allerdings waren sie aufgrund ihrer Substanzlosigkeit bereits in den Ausschüssen verworfen worden). Medial fand das Verfahren sehr hohe Resonanz. Hauptanklagepunkt war die Verletzung des Tenure of Office Acts: Johnson habe sich mit Stantons Entlassung und der Berufung von Thomas ohne Senatsbilligung rechtswidrig verhalten. Nach Verabschiedung der Resolution im Repräsentantenhaus begann der Senat mit den Beratungen. Ihm kommt in dem Verfahren die Rolle eines Gerichts zu, das mit Zweidrittelmehrheit den Präsidenten absetzen kann. Während der rund dreimonatigen Beratungen äußerte sich Johnson auf Rat seiner Berater öffentlich weder zu den Anschuldigungen noch zum Impeachment selbst. Hinter den Kulissen jedoch sprach er mit gemäßigten Republikanern und sicherte diverse Zugeständnisse bei seiner künftigen Amtsführung zu, sollte er der Absetzung entgehen. So erklärte er gegenüber Senator James W. Grimes, er werde künftig die Reconstruction-Politik des Kongresses nicht mehr aktiv behindern. Als am 16. Mai 1868 über den weitestgehenden Antrag, Punkt 11, abgestimmt wurde, votierten 35 Senatoren für schuldig, 19 für nicht schuldig. Eine erneute Abstimmung am 26. Mai über zwei weitere Anklagepunkte brachte das gleiche Ergebnis. Damit wurde die zur Absetzung notwendige Zweidrittelmehrheit mit einer Stimme verfehlt, sieben Republikaner hatten sich gegen die Parteilinie gestellt.Neben den Zugeständnissen, die Johnson machte, erklärt der Historiker David O. Steward Johnsons letztendlichen Freispruch mit dem noch geringeren Vertrauen in seinen potentiellen Nachfolger. Da durch Johnsons Aufrücken ins höchste Staatsamt nach Lincolns Ableben das Amt des Vizepräsidenten für den Rest der Amtszeit unbesetzt blieb (die gesetzliche Regelung zur nachträglichen Ernennung eines Vizepräsidenten wurde erst 1967 mit dem 25. Verfassungszusatz geschaffen), hätte gemäß der damals gültigen Fassung des Presidential Succession Act der Präsident pro tempore des Senats die Amtsgeschäfte übernehmen müssen. 1868 war das Benjamin Wade, ein Radikaler Republikaner, dem auch von gemäßigten Republikanern ein allzu harter Wille zur Bestrafung des Südens bescheinigt wurde. Wade wurden auch Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt, und als kommissarischer Präsident hätte er bei der Wahl im November 1868 eine deutlich bessere Ausgangsposition gehabt. Ein Zeitungsartikel aus dieser Zeit formulierte: „Andrew Johnson ist unschuldig, weil Ben Wade schuldig ist, sein Nachfolger zu sein“.Historiker erklären das Zögern einiger Senatoren, für eine Amtsenthebung Johnsons zu votieren, auch mit der signifikanten verfassungsrechtlichen Bedeutung, da im Falle einer Absetzung ein Präzedenzfall geschaffen worden wäre. Aus dem Freispruch wurden folgend überaus restriktive Rechtsmaßstäbe abgeleitet, womit das Impeachment künftig als rein politische Waffe gegen den Präsidenten ausfiel. Das nächste Amtsenthebungsverfahren wurde erst mehr als ein Jahrhundert später, im Jahr 1974 gegen Richard Nixon aufgrund der Watergate-Affäre, eingeleitet. Sowohl beim Watergate-Skandal als auch der gescheiterten Amtsenthebung von Bill Clinton 1999 wurden medial Parallelen zu Johnson 1868 gezogen.
=== Außenpolitik ===
Johnson behielt nach seinem Amtsantritt Lincolns Außenminister William H. Seward bis zum Ende seiner Amtszeit 1869 bei. Beide Politiker kamen überein, dass es keine Neuausrichtung der Außenpolitik geben werde. Damals spielten aufgrund der starken Fokussierung auf die Reconstruction auswärtige Angelegenheiten nur eine untergeordnete Rolle. Zur Zeit von Johnsons Amtsübernahme hatte Frankreich bereits in Mexiko interveniert, mit dem Ziel, den Konservativen in Mexiko nach dem bereits verlorenen Bürgerkrieg nachträglich zur Macht zu verhelfen und eine von Frankreich abhängige Monarchie zu installieren. Die US-Regierung verurteilte dieses Vorgehen entschieden und forderte Frankreich zum Abzug seiner Truppen auf. Die Präsenz der europäischen Macht in einem Nachbarland der USA wurde gemäß der Monroe-Doktrin als unzulässige Einmischung in die amerikanische Hemisphäre angesehen. Johnson konnte sich zunächst eine harte, sogar eine gewaltsame Reaktion auf das französische Vorgehen vorstellen, doch Seward trat mehr für Diplomatie hinter den Kulissen ein. Damit konnte er auch den Präsidenten überzeugen, der ihm bei den Gesprächen freie Hand ließ. Sewards Bemühungen zeigten insofern Wirkung, als sich die französische Regierung zum schrittweisen Abzug ihrer Soldaten bereit erklärte, was bis November 1867 vollzogen wurde.Wichtigstes außenpolitisches Ereignis von Johnsons Präsidentschaft war der Kauf Alaskas von Russland zu einem Preis von 7,2 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft 136 Millionen Dollar). Dieses Vorhaben trieb Seward sehr aktiv voran, wobei ihm der Präsident große Freiheit einräumte. Neben dem amerikanischen Expansionsstreben nach der Ideologie des Manifest Destiny begründete der Außenminister den Ankauf auch mit einem Dienst an Russland. Während des Bürgerkrieges war Russland, anders als das Vereinigte Königreich, als Verbündeter der Nordstaaten aufgetreten, befand sich jedoch 1867 in akuter Geldnot. Damit war der Verkauf des rund 1,7 Millionen Quadratkilometer umfassenden Territoriums eine willkommene Einnahmequelle für das Zarenreich. Der Senat der Vereinigten Staaten ratifizierte den Vertrag am 9. April 1867. Jedoch wurde die Bewilligung der zum Kauf Alaskas benötigten Geldmenge aufgrund des Widerstandes innerhalb des Repräsentantenhauses um über ein Jahr verzögert.
=== Indianerpolitik ===
Johnson verfolgte Fragen der Indianerpolitik recht genau und griff mehrfach an wichtigen Stellen ein. Sein Innenminister James Harlan, zunächst für Indianerangelegenheiten von erheblicher Bedeutung, strebte an, die Einrichtung eines entsprechenden Territoriums unter Bundesaufsicht durchzusetzen, indem er das Indianerterritorium mit der Harlan Bill (Senate Bill No. 459) dem Eisenbahnbau und der wirtschaftlichen Nutzung zu öffnen versuchte. Der Senat lehnte dieses Vorhaben, das dem Gebiet einen beinahe kolonialen Status verliehen hätte, jedoch ab.Präsident Johnson setzte im Juli 1865 einen Freund des Innenministers, Dennis Nelson Cooley, als Commissioner für indianische Angelegenheiten ein. Dieser verhandelte mit den beiden zerstrittenen Cherokee-Gruppen im Indianerterritorium, wobei er mit der südlichen Gruppe eine Einigung erzielte. Doch lehnte es der Präsident ab, den Vertrag dem Senat vorzulegen. Der Commissioner musste erneut verhandeln, was letztlich dazu führte, dass ein beide Gruppen umfassender, einheitlicher Vertrag unterzeichnet und vom Senat angenommen wurde. Dies wiederum verhinderte das Auseinanderbrechen des Stammes, der heute den größten Nordamerikas darstellt.Im November 1868 schloss die Bundesregierung den Vertrag von Fort Laramie 1868, der das Gebiet des gesamten heutigen Bundesstaates South Dakota westlich des Missouri einschließlich der Black Hills als Indianerland zur uneingeschränkten und unbehelligten Nutzung und Besiedlung durch die Great Sioux Nation auswies. Aufgrund eines in den 1870er-Jahren einsetzendes Goldrauschs hatte diese Vereinbarung de facto jedoch keine dauerhafte Gültigkeit. Da die Indianer eine ihnen zugesprochene Geldentschädigung nicht akzeptieren und das Land zurückfordern, ergeben sich daraus bis heute Streitigkeiten zwischen den Stämmen und der Bundesregierung.Relevant in Bezug auf die Indianerpolitik war außerdem, dass der 14. Verfassungszusatz in Reservaten lebende Indianer nicht zu amerikanischen Staatsbürgern machte. Da dies jedoch, anders bei Afroamerikanern, nicht strittig war, ergaben sich hieraus keine Differenzen zwischen dem Kongress und der Johnson-Regierung.
=== Wahl 1868 und Beendigung der Amtszeit ===
Anfang Juli 1868 hielt die Demokratische Partei ihren Nominierungsparteitag für die im November anstehende Präsidentschaftswahl ab, bei der Johnson antreten wollte. Im ersten Wahlgang erhielt er 65 Delegiertenstimmen und erreichte damit nach George H. Pendleton, der von Beginn an als Favorit angesehen wurde, nur das zweitbeste Ergebnis. Dessen 105 Stimmen reichten indes ebenfalls nicht zur Nominierung aus. Mit jedem weiteren Abstimmungsdurchlauf verlor der Amtsinhaber kontinuierlich an Unterstützung, zuletzt stand nur noch die Delegation aus Tennessee hinter ihm. Im 23. Durchlauf wurde schließlich der New Yorker Gouverneur Horatio Seymour aufgestellt. Besonders Delegierte aus dem Norden hatten Johnsons Kandidatur vereitelt. Aber auch Delegierte aus dem Süden waren zu der Erkenntnis gelangt, dass angesichts der heftigen politischen Konflikte in den zurückliegenden Jahren eine Wiederwahl Johnsons ein aussichtsloses Unterfangen war.Nach seiner Niederlage auf dem Parteitag waren auch die letzten acht Monate von Johnsons Präsidentschaft von Konflikten mit dem Kongress geprägt. Obwohl er sich nicht mehr aktiv der Reconstruction-Politik der Legislative in den Weg stellte, machte er weiterhin rege von seinem Vetorecht Gebrauch, etwa gegen ein Gesetz, das ihn verpflichtete, die Ratifizierung des 14. Verfassungszusatzes von einigen Südstaaten schneller dem Kongress zu übermitteln (was Johnson absichtlich verzögerte). Auch dieses Gesetz wurde gegen das Veto des Präsidenten erlassen. Im Herbst 1868 übermittelte er dem Kongress mehrere Vorschläge, etwa die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre zu verlängern und eine Wiederwahl auszuschließen. Auch forderte er eine Amtszeitbegrenzung für Bundesrichter. Die Abgeordneten ignorierten jedoch diese Vorschläge.Im Wahlkampf zwischen Seymour und General Grant, der von den Republikanern aufgestellt worden war, spielte der scheidende Präsident praktisch keine Rolle. Obwohl sich Seymour seine Fürsprache erhofft hatte, erwähnte der Präsident den demokratischen Bewerber nur einmal im Oktober gegen Ende des Wahlkampfes. Eine offizielle Unterstützungserklärung erfolgte nicht. Die Präsidentschaftswahl am 3. November 1868 konnte der politisch unerfahrene, aber aufgrund seiner Leistungen als Befehlshaber im Bürgerkrieg sehr populäre Grant für sich entscheiden. In den verbleibenden vier Monaten bis zur Amtsübergabe im März 1869 erließ Johnson noch mehrere Begnadigungen für ehemalige Konföderierte. So begnadigte er zu Weihnachten 1868 auch den früheren Südstaaten-Präsident Jefferson Davis. In seiner letzten Jahresbotschaft an den Kongress im Dezember 1868 sprach er sich nochmals eindringlich für die Rücknahme des Tenure of Office Act aus.Johnsons Amtszeit als Präsident endete turnusgemäß am 4. März 1869 mit der Amtseinführung von Ulysses S. Grant. Entgegen der Tradition weigerte sich der scheidende Präsident, an der Zeremonie teilzunehmen. Von gegenseitiger Abneigung geprägt, machte auch Grant im Vorfeld deutlich, er wolle nicht mit Johnson in derselben Kutsche zu den Feierlichkeiten fahren, wie es bei präsidialen Amtsübergaben bisher und auch später üblich war. Erst 152 Jahre später, am 20. Januar 2021, ergab sich erneut die Situation, dass der Vorgänger (Donald Trump) nicht an der Amtseinführung seines Nachfolgers (Joe Biden) teilnahm.
== Nach der Präsidentschaft ==
Anders als andere amerikanische Präsidenten sah Johnson seine politische Karriere nach dem Ende seiner Amtszeit nicht als beendet an. Der vorübergehende Rückzug ins Privatleben langweilte Johnson offenbar; auch suchte er eine neue Aufgabe, nachdem er 1869 mit dem Suizid seines Sohnes Robert einen privaten Verlust hatte hinnehmen müssen. Wie bereits von politischen Beobachtern erwartet, kandidierte Johnson im Herbst 1869 erneut für den Senat, nachdem die Demokraten in der State Legislature von Tennessee wieder die Mehrheit erlangt hatten. Dennoch gab es auch in den eigenen Reihen Widerstand, sodass ihm schließlich bei einem Wahlgang nur eine Stimme zum Sieg fehlte. Siegreich ging Henry Cooper aus dieser Abstimmung hervor, der sich mit 54 gegen 51 Stimmen durchsetzte. Im Sommer 1872 kandidierte Johnson für den einzigen Kongresswahlbezirk von Tennessee für das Repräsentantenhaus. Obwohl die Demokraten nicht ihn, sondern Benjamin Franklin Cheatham nominierten, trat er als Parteiloser zur Wahl an. Da somit die Stimmen der demokratischen Stammwähler auf zwei Bewerber verteilt wurden, konnte der Republikaner Horace Maynard die Wahl für sich entscheiden.Im Januar 1875 wurde Johnson dann beim dritten Anlauf durch die State Legislature von Tennessee nochmals in den Senat gewählt. Sein überraschender Triumph fand landesweit große Rezeption in den Printmedien. Die Zeitung St. Louis Republican reflektierte es als „den prächtigsten persönlichen Triumph, welchen die Geschichte der amerikanischen Politik aufweisen kann“. Johnson ist bis heute der einzige Präsident, der nach seiner Zeit im Weißen Haus in den Senat gewählt wurde. Außer ihm war lediglich John Quincy Adams nach der Präsidentschaft Mitglied im Kongress geworden, allerdings im Repräsentantenhaus. Im März 1875 legte Johnson den Eid als Senator ab. Während seiner kurzen Zeit im Senat kritisierte er die Politik von Präsident Grant und forderte diesen auf, die Besatzungstruppen der Union aus den Südstaaten abzuziehen. Grant wies dies jedoch zurück, der Abzug erfolgte erst 1877.Andrew Johnson starb am 31. Juli 1875, kurz nach seinem Einzug in den Senat, nahe Elizabethton im Carter County, Tennessee im Alter von 66 Jahren an einem Schlaganfall. Er wurde vor Greeneville im heutigen Andrew Johnson National Cemetery beerdigt. Gemäß seinem Wunsch wurde er in eine amerikanische Flagge gehüllt, der eine Kopie der Verfassung beigelegt wurde.
== Nachwirkung ==
Nach Umfragen unter Amerikanern gilt Johnson über Parteigrenzen hinweg als einer der am wenigsten geschätzten US-Präsidenten überhaupt. So belegte er bei einer Umfrage des Siena Colleges aus dem Jahr 2010 den letzten Platz der beliebtesten Präsidenten. Im jährlichen Presidential Historians Survey des Fernsehsenders C-SPAN belegte er im Jahr 2021 nur den 43. Rang unter 44 bewerteten Präsidenten.Von Johnson-Biografen wie Hans L. Trefousse wird im 21. Jahrhundert vor allem seine unnachgiebige Haltung gegenüber dem Kongress im Rahmen der Reconstruction und seine damit verbundene Weigerung, Afroamerikanern mehr Rechte zuzugestehen, scharf kritisiert. Durch persönliche Sturheit und eine rassistische Weltanschauung, so Trefousse, sei Johnson nicht in der Lage gewesen, mit dem Kongress effektiv zusammenzuarbeiten. Die Historikerin Vera Nünning ist der Auffassung, durch Johnsons Politik sei die Chance vergeben worden, den nach dem Bürgerkrieg demoralisierten Südstaaten mittels politischem Druck die Gleichberechtigung der Schwarzen aufzuerlegen. Paradoxerweise habe jedoch Johnsons Blockadehaltung gegenüber mehr Rechten für Afroamerikaner den Kongress sowie die Parlamente der Bundesstaaten noch mehr dazu motiviert, den 14. und 15. Verfassungszusatz gegen seinen Willen durchzusetzen.Wie der Johnson-Biograf Albert Castel feststellt, war das heute verbreitete negative Bild des 17. US-Präsidenten historisch aber keineswegs durchgängig. Gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so Castel, erschienen auch positive Darstellungen zu Andrew Johnsons Amtsführung. Beispielsweise beschrieb der Historiker James Schouler in seinem Buch History of the Reconstruction Period von 1913 Johnson als weitsichtigen Politiker, der sich einem gegenüber dem Süden rachsüchtigen Kongress entschieden widersetzte und sich um eine faire Eingliederung der einstigen Konföderation bemühte. Woodrow Wilson, von 1913 bis 1921 selbst US-Präsident, setzte sich in den Jahren seiner akademischen Tätigkeit (vor seiner Amtszeit) ebenfalls mit dem 17. Präsidenten auseinander. So beschrieb er Johnson aufgrund seines sozialen Hintergrunds als politisch ungeschickt, gestand ihm jedoch zu, durchaus in der Tradition Lincolns gehandelt zu haben, indem er die Südstaaten mit Nachsicht behandelte. Lincoln hatte sich gegen Ende des Krieges tatsächlich für milde Aufnahmebedingungen ausgesprochen, um so die ehemalige Konföderation wieder in die USA integrieren zu können, ohne der (weißen) Bevölkerung des Südens ein Gefühl der Erniedrigung zu geben. Auch der Historiker William Archibald Dunning kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Wilson. Mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern, so Castel weiter, wurde Andrew Johnson dann wieder scharf für seine Politik gegenüber Schwarzen verurteilt, die bis in die 1960er-Jahre durch Rassentrennung und diskriminierende Wahltests weiterhin erhebliche Ungleichbehandlung erfuhren. Die Historikerin Vera Nünning hält jedoch fest, dass trotz der allgemein wenig positiven Sichtweise auf Johnson im 21. Jahrhundert sich die Geschichtsschreibung inzwischen um ein ausgewogeneres Bild bemühe, „indem die Schwächen auf seine soziale Herkunft und die im Süden vorherrschenden Werte und Normen zurückgeführt werden, denen er sich ebenso wenig wie die meisten seiner Landsleute entziehen konnte“. Ferner meint sie, Johnson habe das Ausmaß der Rassendiskriminierung im Süden deutlich realistischer als die republikanische Kongressmehrheit eingeschätzt. Die Johnson-Biografin Annette Gordon-Reed verweist auf Johnsons sozialen Hintergrund und die extrem schwierigen Zeiten, in denen er die Führung der USA antrat. Für sie hängt seine lebenslang feindliche Haltung gegenüber Schwarzen damit zusammen, dass er sie als diejenigen identifizierte, die in Kooperation mit den Plantagenbesitzern den Aufstieg der weißen Unterschicht in den Südstaaten blockierten.
== Im Film ==
Im Jahr 1942 erschien mit dem Film Tennessee Johnson eine Verfilmung vom Leben Andrew Johnsons mit Van Heflin in der Hauptrolle. Tennessee Johnson fand jedoch ein mehrheitlich negatives Echo; so kritisierte der Schauspieler Zero Mostel den Film, in dem Johnson als Vorkämpfer der Demokratie porträtiert wird, als zu glorifizierend. Ferner hielt sich die Verfilmung nicht immer an historische Gegebenheiten; beispielsweise erschien Johnson während des Amtsenthebungsverfahrens nie persönlich im Senat. Auch unter kommerziellen Gesichtspunkten war Tennessee Johnson kein Erfolg beschieden, da ein Verlust erwirtschaftet wurde.
== Quellen ==
Findbücher:
Johnson, Andrew (1808–1875) Papers 1846–1875. Tennessee State Library and Archives, Nashville TN 1958 (PDF).
Index to the Andrew Johnson Papers (= Presidents’ Papers Index Series.). Library of Congress, Manuscript Division, Reference Department, Washington 1963 (PDF).Editionen:
Speeches of Andrew Johnson, President of the United States. With a Biographical Introduction by Frank Moore. Little, Brown and Co., Boston 1865 (Digitalisat).
Lilian Foster: Andrew Johnson, President of the United States. His Life and Speeches. Richardson & Co., New York 1866 (Digitalisat).
LeRoy P. Graf, Ralph W. Haskins, Paul H. Bergeron (Hrsg.): The Papers of Andrew Johnson. 16 Bände The University of Tennessee Press, Knoxville 1967–2000 (Rezensionen zu Anfang und Ende des Projekts; Vorschau zu Band 7, Band 12, Band 14, Band 16).
== Literatur ==
Eine kommentierte Bibliographie der Literatur zu Johnson von 1877 bis 1998 bietet:
David A. Lincove: Reconstruction in the United States. An Annotated Bibliography (= Bibliographies and Indexes in American History. Band 43). Vorwort von Eric Foner. Greenwood Press, Westport CT 2000, ISBN 0-313-29199-3, Studies on Andrew Johnson, 1864–1868, S. 82–102 (Vorschau).Weiteres:
Albert Castel: The Presidency of Andrew Johnson (= American Presidency Series.). 4. Auflage, University Press of Kansas, Lawrance 1979, ISBN 978-0-7006-0190-5.
James David Barber: Politics by Humans: Research on American Leadership. Duke University Press, 1988, ISBN 0-8223-0837-1, Kapitel I.2: Life History. S. 24–52 (Vorschau).
Hans L. Trefousse: Andrew Johnson: A Biography. W. W. Norton & Company, New York 1989, ISBN 0-393-02673-6.
David O. Stewart: Impeached. The Trial of President Andrew Johnson and the Fight for Lincoln’s Legacy. Simon & Schuster Paperbacks, New York NY 2010, ISBN 978-1-4165-4750-1.
Paul H. Bergeron: Andrew Johnson’s Civil War and Reconstruction. The University of Tennessee Press, Knoxville 2011, ISBN 978-1-57233-794-7 (Vorschau).
Annette Gordon-Reed: Andrew Johnson (= American Presidents Series.). Times Books/Henry Holt, New York City NY 2011, ISBN 978-0-8050-6948-8.
Vera Nünning: Andrew Johnson (1865–1869): Der Streit um die Rekonstruktion. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten. 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 194–204.
== Weblinks ==
Andrew Johnson im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Biografie (Memento vom 17. Januar 2009 im Internet Archive) auf whitehouse.gov (englisch)
American President: Andrew Johnson (1808–1875), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteurin: Elizabeth R. Varon)
The American Presidency Project: Andrew Johnson. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Andrewjohnson.com – Informationen und Auszüge aus Harper’s Weekly zu Andrew Johnson (englisch)
Andrew Johnson in der NGA
Die Gouverneure von Tennessee (englisch)
Life Portrait of Andrew Johnson auf C-SPAN, 9. Juli 1999, 158 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Michael Les Benedict und Robert Orr sowie Führung durch die Andrew Johnson National Historic Site)
Andrew Johnson in der Datenbank von Find a Grave (englisch)
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Andrew_Johnson |
Americium | = Americium =
Americium (; Elementsymbol Am) ist ein chemisches Element mit der Ordnungszahl 95. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Americium ist neben Europium das einzige nach einem Erdteil benannte Element. Es ist ein leicht verformbares radioaktives Metall silbrig-weißen Aussehens.
Von Americium gibt es kein stabiles Isotop. Auf der Erde kommt es ausschließlich in künstlich erzeugter Form vor. Das Element wurde erstmals im Spätherbst 1944 erzeugt, die Entdeckung jedoch zunächst nicht veröffentlicht. Kurioserweise wurde seine Existenz in einer amerikanischen Radiosendung für Kinder durch den Entdecker Glenn T. Seaborg, den Gast der Sendung, der Öffentlichkeit preisgegeben.
Americium wird in Kernreaktoren gebildet, eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 100 g des Elements. Es wird als Quelle ionisierender Strahlung eingesetzt, z. B. in der Fluoreszenzspektroskopie und in Ionisationsrauchmeldern. Das Americiumisotop 241Am wurde wegen seiner gegenüber Plutonium (238Pu) wesentlich längeren Halbwertszeit von 432,2 Jahren zur Befüllung von Radionuklidbatterien (RTG) für Raumsonden vorgeschlagen, welche dann hunderte Jahre lang elektrische Energie zum Betrieb bereitstellen würden.
== Geschichte ==
Americium wurde im Spätherbst 1944 von Glenn T. Seaborg, Ralph A. James, Leon O. Morgan und Albert Ghiorso im 60-Zoll-Cyclotron an der Universität von Kalifornien in Berkeley sowie am metallurgischen Laboratorium der Universität von Chicago (heute: Argonne National Laboratory) erzeugt. Nach Neptunium und Plutonium war Americium das vierte Transuran, das seit dem Jahr 1940 entdeckt wurde; das um eine Ordnungszahl höhere Curium wurde als drittes schon im Sommer 1944 erzeugt. Der Name für das Element wurde in Anlehnung zum Erdteil Amerika gewählt – in Analogie zu Europium, dem Seltene-Erden-Metall, das im Periodensystem genau über Americium steht: The name americium (after the Americas) and the symbol Am are suggested for the element on the basis of its position as the sixth member of the actinide rare-earth series, analogous to europium, Eu, of the lanthanide series.Zur Erzeugung des neuen Elements wurden in der Regel die Oxide der Ausgangselemente verwendet. Dazu wurde zunächst Plutoniumnitratlösung (mit dem Isotop 239Pu) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2 aufgetragen; die Lösung danach eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (PuO2) geglüht. Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniaklösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst. Die weitere Trennung erfolgte mit Ionenaustauschern. In ihren Versuchsreihen wurden der Reihe nach vier verschiedene Isotope erzeugt: 241Am, 242Am, 239Am und 238Am.
Als erstes Isotop isolierten sie 241Am aus einer Plutonium-Probe, die mit Neutronen bestrahlt wurde. Es zerfällt durch Aussendung eines α-Teilchens in 237Np. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde zunächst auf 510 ± 20 Jahre bestimmt; der heute allgemein akzeptierte Wert ist 432,2 a.
94
239
P
u
→
(
n
,
γ
)
94
240
P
u
→
(
n
,
γ
)
94
241
P
u
→
14
,
35
a
β
−
95
241
A
m
(
→
432
,
2
a
α
93
237
N
p
)
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{240}Pu\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{241}Pu\ {\xrightarrow[{14,35\ a}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{241}Am\ \left(\ {\xrightarrow[{432,2\ a}]{\alpha }}\ _{\ 93}^{237}Np\right)} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.Als zweites Isotop wurde 242Am durch erneuten Neutronenbeschuss des zuvor erzeugten 241Am gefunden. Durch nachfolgenden raschen β-Zerfall entsteht dabei 242Cm, das zuvor schon entdeckte Curium. Die Halbwertszeit dieses β-Zerfalls wurde zunächst auf 17 Stunden bestimmt, der heute als gültig ermittelte Wert beträgt 16,02 h.
95
241
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
242
A
m
(
→
16
,
02
h
β
−
96
242
C
m
)
{\displaystyle \mathrm {^{241}_{\ 95}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{242}Am\ \left(\ {\xrightarrow[{16,02\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{242}Cm\right)} }
Erstmals öffentlich bekannt gemacht wurde die Entdeckung des Elements in der amerikanischen Radiosendung Quiz Kids am 11. November 1945 durch Glenn T. Seaborg, noch vor der eigentlichen Bekanntmachung bei einem Symposium der American Chemical Society: Einer der jungen Zuhörer fragte den Gast der Sendung, Seaborg, ob während des Zweiten Weltkrieges im Zuge der Erforschung von Nuklearwaffen neue Elemente entdeckt wurden. Seaborg bejahte die Frage und enthüllte dabei auch gleichzeitig die Entdeckung des nächsthöheren Elements, Curium.Americium (241Am und 242Am) und seine Produktion wurde später unter dem Namen Element 95 and method of producing said element patentiert, wobei als Erfinder nur Glenn T. Seaborg angegeben wurde.In elementarer Form wurde es erstmals im Jahr 1951 durch Reduktion von Americium(III)-fluorid mit Barium dargestellt.
== Vorkommen ==
Americiumisotope entstehen im r-Prozess in Supernovae und kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor.
Heutzutage wird jedoch Americium als Nebenprodukt in Kernkraftwerken erbrütet; das Americiumisotop 241Am entsteht als Zerfallsprodukt (u. a. in abgebrannten Brennstäben) aus dem Plutoniumisotop 241Pu. Eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 100 g verschiedener Americiumisotope. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die α-Strahler 241Am und 243Am, die aufgrund ihrer relativ langen Halbwertszeiten in der Endlagerung unerwünscht sind und deshalb zum Transuranabfall zählen. Eine Verminderung der Langzeitradiotoxizität in nuklearen Endlagern wäre durch Abtrennung langlebiger Isotope aus abgebrannten Kernbrennstoffen möglich. Zur Beseitigung des Americiums wird derzeit die Partitioning & Transmutation-Strategie untersucht.
== Gewinnung und Darstellung ==
=== Gewinnung von Americiumisotopen ===
Americium fällt in geringen Mengen in Kernreaktoren an. Es steht heute in Mengen von wenigen Kilogramm zur Verfügung. Durch die aufwändige Gewinnung aus abgebrannten Brennstäben hat es einen sehr hohen Preis. Seit der Markteinführung 1962 soll der Preis für Americium(IV)-oxid mit dem Isotop 241Am bei etwa 1500 US-Dollar pro Gramm liegen. Das Americiumisotop 243Am entsteht in geringeren Mengen im Reaktor aus 241Am und ist deshalb mit 160 US-Dollar pro Milligramm 243Am noch wesentlich teurer.
Americium wird über das Plutoniumisotop 239Pu in Kernreaktoren mit hohem 238U-Anteil zwangsläufig erbrütet, da es aus diesem durch Neutroneneinfang und zwei anschließende β-Zerfälle (über 239U und 239Np) entsteht.
92
238
U
→
(
n
,
γ
)
92
239
U
→
23
,
5
m
i
n
β
−
93
239
N
p
→
2
,
3565
d
β
−
94
239
P
u
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 92}^{239}U\ {\xrightarrow[{23,5\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 93}^{239}Np\ {\xrightarrow[{2,3565\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 94}^{239}Pu} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.Danach wird, wenn es nicht zur Kernspaltung kommt, aus dem 239Pu, neben anderen Nukliden, durch stufenweisen Neutroneneinfang (n,γ) und anschließenden β-Zerfall 241Am oder 243Am erbrütet.
94
239
P
u
→
2
(
n
,
γ
)
94
241
P
u
→
14
,
35
a
β
−
95
241
A
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {2(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{241}Pu\ {\xrightarrow[{14,35\ a}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{241}Am} }
Das Plutonium, welches aus abgebrannten Brennstäben von Leistungsreaktoren gewonnen werden kann, besteht zu etwa 12 % aus dem Isotop 241Pu. Deshalb erreichen erst 70 Jahre, nachdem der Brutprozess beendet wurde, die abgebrannten Brennstäbe ihren Maximalgehalt von 241Am; danach nimmt der Gehalt wieder (langsamer als der Anstieg) ab.Aus dem so entstandenen 241Am kann durch weiteren Neutroneneinfang im Reaktor 242Am entstehen. Bei Leichtwasserreaktoren soll aus dem 241Am zu 79 % 242Am und zu 10 % 242mAm entstehen:zu 79 %:
95
241
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
242
A
m
{\displaystyle \mathrm {^{241}_{\ 95}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{242}Am} }
zu 10 %:
95
241
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
242
m
A
m
{\displaystyle \mathrm {^{241}_{\ 95}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ \ \ 95}^{242m}Am} }
Für die Erbrütung von 243Am ist ein vierfacher Neutroneneinfang des 239Pu erforderlich:
94
239
P
u
→
4
(
n
,
γ
)
94
243
P
u
→
4
,
956
h
β
−
95
243
A
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {4(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{243}Pu\ {\xrightarrow[{4,956\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{243}Am} }
=== Darstellung elementaren Americiums ===
Metallisches Americium kann durch Reduktion aus seinen Verbindungen erhalten werden. Zuerst wurde Americium(III)-fluorid zur Reduktion verwendet. Dieses wird hierzu in wasser- und sauerstofffreier Umgebung in Reaktionsapparaturen aus Tantal und Wolfram mit elementarem Barium zur Reaktion gebracht.
2
AmF
3
+
3
Ba
⟶
2
Am
+
3
BaF
2
{\displaystyle {\ce {2 AmF3 + 3 Ba -> 2 Am + 3 BaF2}}}
Auch die Reduktion von Americium(IV)-oxid mittels Lanthan oder Thorium ergibt metallisches Americium.
3
AmO
2
+
4
La
⟶
3
Am
+
2
La
2
O
3
{\displaystyle {\ce {3 AmO2 + 4 La -> 3 Am + 2 La2O3}}}
== Eigenschaften ==
Im Periodensystem steht das Americium mit der Ordnungszahl 95 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Plutonium, das nachfolgende Element ist das Curium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoiden ist das Europium.
=== Physikalische Eigenschaften ===
Americium ist ein radioaktives Metall. Frisch hergestelltes Americium ist ein silberweißes Metall, welches jedoch bei Raumtemperatur langsam matt wird. Es ist leicht verformbar. Sein Schmelzpunkt beträgt 1176 °C, der Siedepunkt liegt bei 2607 °C. Die Dichte beträgt 13,67 g·cm−3. Es tritt in zwei Modifikationen auf.
Die bei Standardbedingungen stabile Modifikation α-Am kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 346,8 pm und c = 1124 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La.Bei hohem Druck geht α-Am in β-Am über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe Fm3m (Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 mit dem Gitterparameter a = 489 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht.
Die Lösungsenthalpie von Americium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −620,6 ± 1,3 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (ΔfH0) von Am3+(aq) auf −621,2 ± 2,0 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Am3+ / Am0 auf −2,08 ± 0,01 V.
=== Chemische Eigenschaften ===
Americium ist ein sehr reaktionsfähiges Element, das schon mit Luftsauerstoff reagiert und sich gut in Säuren löst. Gegenüber Alkalien ist es stabil.
Die stabilste Oxidationsstufe für Americium ist +3, die Am(III)-Verbindungen sind gegen Oxidation und Reduktion sehr stabil. Mit dem Americium liegt der erste Vertreter der Actinoiden vor, der in seinem Verhalten eher den Lanthanoiden ähnelt als den d-Block-Elementen.
Es ist auch in den Oxidationsstufen +2 sowie +4, +5, +6 und +7 zu finden. Je nach Oxidationszahl variiert die Farbe von Americium in wässriger Lösung ebenso wie in festen Verbindungen:Am3+ (gelbrosa), Am4+ (gelbrot), AmVO2+ (gelb), AmVIO22+ (zitronengelb), AmVIIO65− (dunkelgrün).
Im Gegensatz zum homologen Europium – Americium hat eine zu Europium analoge Elektronenkonfiguration – kann Am3+ in wässriger Lösung nicht zu Am2+ reduziert werden.
Verbindungen mit Americium ab Oxidationszahl +4 aufwärts sind starke Oxidationsmittel, vergleichbar dem Permanganat-Ion (MnO4−) in saurer Lösung.Die in wässriger Lösung nicht beständigen Am4+-Ionen lassen sich nur noch mit starken Oxidationsmitteln aus Am(III) darstellen. In fester Form sind zwei Verbindungen des Americiums in der Oxidationsstufe +4 bekannt: Americium(IV)-oxid (AmO2) und Americium(IV)-fluorid (AmF4).
Der fünfwertige Oxidationszustand wurde beim Americium erstmals 1951 beobachtet. In wässriger Lösung liegen primär AmO2+-Ionen (sauer) oder AmO3−-Ionen (alkalisch) vor, die jedoch instabil sind und einer raschen Disproportionierung unterliegen:
3
AmO
2
+
+
4
H
+
⟶
2
AmO
2
2
+
+
Am
3
+
+
2
H
2
O
{\displaystyle {\ce {3 AmO2^+ + 4 H^+ -> 2 AmO2^2+ + Am^3+ + 2 H2O}}}
Zunächst ist von einer Disproportionierung zur Oxidationsstufe +6 und +4 auszugehen:
2
Am
(
V
)
⟶
Am
(
VI
)
+
Am
(
IV
)
{\displaystyle {\ce {2 Am (V) -> Am (VI) + Am (IV)}}}
Etwas beständiger als Am(IV) und Am(V) sind die Americium(VI)-Verbindungen. Sie lassen sich aus Am(III) durch Oxidation mit Ammoniumperoxodisulfat in verdünnter Salpetersäure herstellen. Der typische rosafarbene Ton verschwindet in Richtung zu einer starken Gelbfärbung. Zudem kann die Oxidation mit Silber(I)-oxid in Perchlorsäure quantitativ erreicht werden. In Natriumcarbonat- oder Natriumhydrogencarbonat-Lösungen ist eine Oxidation mit Ozon oder Natriumperoxodisulfat gleichfalls möglich.
=== Biologische Aspekte ===
Eine biologische Funktion des Americiums ist nicht bekannt. Vorgeschlagen wurde der Einsatz immobilisierter Bakterienzellen zur Entfernung von Americium und anderen Schwermetallen aus Fließgewässern. So können Enterobakterien der Gattung Citrobacter durch die Phosphataseaktivität in ihrer Zellwand bestimmte Americiumnuklide aus wässriger Lösung ausfällen und als Metall-Phosphat-Komplex binden. Ferner wurden die Faktoren untersucht, die die Biosorption und Bioakkumulation des Americiums durch Bakterien und Pilze beeinflussen.
=== Spaltbarkeit ===
Das Isotop 242m1Am hat mit rund 5700 barn den höchsten bisher (10/2008) gemessenen thermischen Spaltquerschnitt. Damit geht eine kleine kritische Masse einher, weswegen 242m1Am als Spaltmaterial vorgeschlagen wurde, um beispielsweise Raumschiffe mit Kernenergieantrieb anzutreiben.Dieses Isotop eignet sich prinzipiell auch zum Bau von Kernwaffen. Die kritische Masse einer reinen 242m1Am-Kugel beträgt etwa 9–14 kg. Die Unsicherheiten der verfügbaren Wirkungsquerschnitte lassen derzeit keine genauere Aussage zu. Mit Reflektor beträgt die kritische Masse noch etwa 3–5 kg. In wässriger Lösung wird sie nochmals stark herabgesetzt. Auf diese Weise ließen sich sehr kompakte Sprengköpfe bauen. Nach öffentlichem Kenntnisstand wurden bisher keine Kernwaffen aus 242m1Am gebaut, was mit der geringen Verfügbarkeit und dem hohen Preis begründet werden kann.
Aus denselben Gründen wird 242m1Am auch nicht als Kernbrennstoff in Kernreaktoren eingesetzt, obwohl es dazu prinzipiell sowohl in thermischen als auch in schnellen Reaktoren geeignet wäre. Auch die beiden anderen häufiger verfügbaren Isotope, 241Am und 243Am können in einem schnellen Reaktor eine Kettenreaktion aufrechterhalten. Die kritischen Massen sind hier jedoch sehr hoch. Sie betragen unreflektiert 57,6–75,6 kg bei 241Am und 209 kg bei 243Am, so dass sich durch die Verwendung keine Vorteile gegenüber herkömmlichen Spaltstoffen ergeben.
Entsprechend ist Americium rechtlich nach § 2 Abs. 1 des Atomgesetzes nicht den Kernbrennstoffen zugeordnet. Es existieren jedoch Vorschläge, sehr kompakte Reaktoren mit einem Americium-Inventar von lediglich knapp 20 g zu konstruieren, die in Krankenhäusern als Neutronenquelle für die Neutroneneinfangtherapie verwendet werden können.
== Isotope ==
Von Americium sind 16 Isotope und 11 Kernisomere mit Halbwertszeiten zwischen Bruchteilen von Mikrosekunden und 7370 Jahren bekannt. Es gibt zwei langlebige α-strahlende Isotope 241Am mit 432,2 und 243Am mit 7370 Jahren Halbwertszeit. Außerdem hat das Kernisomer 242m1Am mit 141 Jahren eine lange Halbwertszeit. Die restlichen Kernisomere und Isotope haben mit 0,64 µs bei 245m1Am bis 50,8 Stunden bei 240Am kurze Halbwertszeiten.241Am ist das am häufigsten erbrütete Americiumisotop und liegt auf der Neptunium-Reihe. Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von 432,2 Jahren mit einem α-Zerfall zu 237Np. 241Am gibt nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,35 % die gesamte Zerfallsenergie mit dem α-Teilchen ab, sondern emittiert meistens noch ein oder mehrere Gammaquanten.242Am ist kurzlebig und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 16,02 h zu 82,7 % durch β-Zerfall zu 242Cm und zu 17,3 % durch Elektroneneinfang zu 242Pu. Das 242Cm zerfällt zu 238Pu und dieses weiter zu 234U, das auf der Uran-Radium-Reihe liegt. Das 242Pu zerfällt über die gleiche Zerfallskette wie 238Pu. Während jedoch 238Pu als Seitenarm beim 234U auf die Zerfallskette kommt, steht 242Pu noch vor dem 238U. 242Pu zerfällt durch α-Zerfall in 238U, den Beginn der natürlichen Uran-Radium-Reihe.
242m1Am zerfällt mit einer Halbwertszeit von 141 Jahren zu 99,541 % durch Innere Konversion zu 242Am und zu 0,459 % durch α-Zerfall zu 238Np. Dieses zerfällt zu 238Pu und dann weiter zu 234U, das auf der Uran-Radium-Reihe liegt.
243Am ist mit einer Halbwertszeit von 7370 Jahren das langlebigste Americiumisotop. Es geht zunächst durch α-Strahlung in 239Np über, das durch β-Zerfall weiter zu 239Pu zerfällt. Das 239Pu zerfällt durch α-Strahlung zu Uran 235U, dem offiziellen Anfang der Uran-Actinium-Reihe.
Die Americiumisotope mit ungerader Neutronenzahl, also gerader Massenzahl, sind gut durch thermische Neutronen spaltbar.
→ Liste der Americiumisotope
== Verwendung ==
Für die Verwendung von Americium sind vor allem die beiden langlebigsten Isotope 241Am und 243Am von Interesse. In der Regel wird es in Form des Oxids (AmO2) verwendet.
=== Ionisationsrauchmelder ===
Die α-Strahlung des 241Am wird in Ionisationsrauchmeldern genutzt. Es wird gegenüber 226Ra bevorzugt, da es vergleichsweise wenig γ-Strahlung emittiert. Dafür muss aber die Aktivität gegenüber Radium ca. das Fünffache betragen. Die Zerfallsreihe von 241Am „endet“ für den Verwendungszeitraum quasi direkt nach dessen α-Zerfall bei 237Np, das eine Halbwertszeit von rund 2,144 Millionen Jahren besitzt.
=== Radionuklidbatterien ===
241Am wird wegen besserer Verfügbarkeit von der ESA zur Befüllung von Radionuklidbatterien (RTG) von Raumsonden untersucht. Der Leistungsabfall über eine Missionsdauer von 15 bis 20 Jahren ist mit 3,2 % deutlich geringer als bei Einheiten auf Basis von 238Pu mit 15 %. Die ESA plant, ab Mitte der 2020er Radionuklidbatterien in Missionsstudien zu berücksichtigen.
=== Neutronenquellen ===
241Am als Oxid mit Beryllium verpresst stellt eine Neutronenquelle dar, die beispielsweise für radiochemische Untersuchungen eingesetzt wird. Hierzu wird der hohe Wirkungsquerschnitt des Berylliums für (α,n)-Kernreaktionen ausgenutzt, wobei das Americium als Produzent der α-Teilchen dient. Die entsprechenden Reaktionsgleichungen lauten:
95
241
A
m
⟶
93
237
N
p
+
2
4
H
e
+
γ
{\displaystyle \mathrm {^{241\!\,}_{\ 95}Am\ \longrightarrow \ _{\ 93}^{237}Np\ +\ _{2}^{4}He\ +\ \gamma } }
4
9
B
e
+
2
4
H
e
⟶
6
12
C
+
0
1
n
+
γ
{\displaystyle \mathrm {^{9}_{4}Be\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 6}^{12}C\ +\ _{0}^{1}n\ +\ \gamma } }
Derartige Neutronenquellen kommen beispielsweise in der Neutronenradiographie und -tomographie zum Einsatz.
=== Ionisator ===
Neben dem häufig verwendeten 210Po als Ionisator zur Beseitigung von unerwünschter elektrostatischer Aufladung kam auch 241Am zum Einsatz. Dazu wurde z. B. die Quelle am Kopf einer Bürste montiert mit der man langsam über die zu behandelnden Oberflächen strich und dadurch eine Wiederverschmutzung durch elektrostatisch angezogene Staubpartikel vermeiden konnte.
=== Herstellung anderer Elemente ===
Americium ist Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und auch der Transactinoide. Aus 242Am entsteht zu 82,7 % Curium (242Cm) und zu 17,3 % Plutonium (242Pu). Im Kernreaktor wird zwangsläufig in geringen Mengen durch Neutroneneinfang aus 243Am das 244Am erbrütet, das durch β-Zerfall zum Curiumisotop 244Cm zerfällt.
95
243
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
244
A
m
→
10
,
1
h
β
−
96
244
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{243}_{\ 95}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{244}Am\ {\xrightarrow[{10,1\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{244}Cm} }
In Teilchenbeschleunigern führt zum Beispiel der Beschuss von 241Am mit Kohlenstoffkernen (12C) beziehungsweise Neonkernen (22Ne) zu den Elementen Einsteinium 247Es beziehungsweise Dubnium 260Db.
=== Spektrometer ===
Mit seiner intensiven Gammastrahlungs-Spektrallinie bei 60 keV eignet sich 241Am gut als Strahlenquelle für die Röntgen-Fluoreszenzspektroskopie. Dies wird auch zur Kalibrierung von Gammaspektrometern im niederenergetischen Bereich verwendet, da die benachbarten Linien vergleichsweise schwach sind und so ein einzeln stehender Peak entsteht. Zudem wird der Peak nur vernachlässigbar durch das Compton-Kontinuum höherenergetischer Linien gestört, da diese ebenfalls höchstens mit einer um mindestens drei Größenordnungen geringeren Intensität auftreten.
== Sicherheitshinweise und Gefahren ==
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen, welche eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielt. Eine chemische Gefahr liegt überhaupt nur dann vor, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt.
Da von Americium nur radioaktive Isotope existieren, darf es selbst sowie seine Verbindungen nur in geeigneten Laboratorien unter speziellen Vorkehrungen gehandhabt werden. Die meisten gängigen Americiumisotope sind α-Strahler, weshalb eine Inkorporation unbedingt vermieden werden muss. Das breite Spektrum der hieraus resultierenden meist ebenfalls radioaktiven Tochternuklide stellt ein weiteres Risiko dar, das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigt werden muss. 241Am gibt beim radioaktiven Zerfall große Mengen relativ weicher Gammastrahlung ab, die sich gut abschirmen lässt.Nach Untersuchungen des Forschers Arnulf Seidel vom Institut für Strahlenbiologie des Kernforschungszentrums Karlsruhe erzeugt Americium (wie Plutonium), bei Aufnahme in den Körper, mehr Knochentumore als dieselbe Dosis Radium.Die biologische Halbwertszeit von 241Am beträgt in den Knochen 50 Jahre und in der Leber 20 Jahre. In den Gonaden verbleibt es dagegen offensichtlich dauerhaft.
== Verbindungen ==
→ Kategorie: Americiumverbindung
=== Oxide ===
Von Americium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Am2O3) und +4 (AmO2).
Americium(III)-oxid (Am2O3) ist ein rotbrauner Feststoff und hat einen Schmelzpunkt von 2205 °C.Americium(IV)-oxid (AmO2) ist die wichtigste Verbindung dieses Elements. Nahezu alle Anwendungen dieses Elements basieren auf dieser Verbindung. Sie entsteht unter anderem implizit in Kernreaktoren beim Bestrahlen von Urandioxid (UO2) bzw. Plutoniumdioxid (PuO2) mit Neutronen. Es ist ein schwarzer Feststoff und kristallisiert – wie die anderen Actinoiden(IV)-oxide – im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur.
=== Halogenide ===
Halogenide sind für die Oxidationsstufen +2, +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und in wässriger Lösung stabil.
Americium(III)-fluorid (AmF3) ist schwerlöslich und kann durch die Umsetzung einer wässrigen Americiumlösung mit Fluoridsalzen im schwach Sauren durch Fällung hergestellt werden:
A
m
3
+
(
a
q
)
+
3
F
−
(
a
q
)
⟶
A
m
F
3
(
s
)
↓
{\displaystyle \mathrm {Am^{3+}\ _{(aq)}+\ 3\ F^{-}\ _{(aq)}\longrightarrow \ AmF_{3}\ _{(s)}\downarrow } }
Das tetravalente Americium(IV)-fluorid (AmF4) ist durch die Umsetzung von Americium(III)-fluorid mit molekularem Fluor zugänglich:
2
A
m
F
3
+
F
2
⟶
2
A
m
F
4
{\displaystyle \mathrm {2\ AmF_{3}\ +\ F_{2}\ \longrightarrow \ 2\ AmF_{4}} }
In der wässrigen Phase wurde das vierwertige Americium auch beobachtet.Americium(III)-chlorid (AmCl3) bildet rosafarbene hexagonale Kristalle. Seine Kristallstruktur ist isotyp mit Uran(III)-chlorid. Der Schmelzpunkt der Verbindung liegt bei 715 °C. Das Hexahydrat (AmCl3·6 H2O) weist eine monokline Kristallstruktur auf.Durch Reduktion mit Na-Amalgam aus Am(III)-Verbindungen sind Am(II)-Salze zugänglich: die schwarzen Halogenide AmCl2, AmBr2 und AmI2. Sie sind sehr sauerstoffempfindlich, und oxidieren in Wasser unter Freisetzung von Wasserstoff zu Am(III)-Verbindungen.
=== Chalkogenide und Pentelide ===
Von den Chalkogeniden sind bekannt: das Sulfid (AmS2), zwei Selenide (AmSe2 und Am3Se4) und zwei Telluride (Am2Te3 und AmTe2).Die Pentelide des Americiums (243Am) des Typs AmX sind für die Elemente Phosphor, Arsen, Antimon und Bismut dargestellt worden. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter.
=== Silicide und Boride ===
Americiummonosilicid (AmSi) und Americium„disilicid“ (AmSix mit: 1,87 < x < 2,0) wurden durch Reduktion von Americium(III)-fluorid mit elementaren Silicium im Vakuum bei 1050 °C (AmSi) und 1150–1200 °C (AmSix) dargestellt. AmSi ist eine schwarze Masse, isomorph mit LaSi. AmSix ist eine hellsilbrige Verbindung mit einem tetragonalen Kristallgitter.Boride der Zusammensetzungen AmB4 und AmB6 sind gleichfalls bekannt.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Analog zu Uranocen, einer Organometallverbindung in der Uran von zwei Cyclooctatetraen-Liganden komplexiert ist, wurden die entsprechenden Komplexe von Thorium, Protactinium, Neptunium, Plutonium und auch des Americiums, (η8-C8H8)2Am, dargestellt.
== Literatur ==
Wolfgang H. Runde, Wallace W. Schulz: Americium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1265–1395 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_8).
Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Transurane: Teil A 1 I, S. 30–34; Teil A 1 II, S. 18, 315–326, 343–344; Teil A 2, S. 42–44, 164–175, 185–188; Teil B 1, S. 57–67.
== Weblinks ==
Eintrag zu Americium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 3. Januar 2015.
Rachel Sheremeta Pepling: Americium. Chemical & Engineering News, 2003.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Americium |
Florence Nightingale | = Florence Nightingale =
Florence Nightingale [ˈflɒɹəns ˈnaɪtᵻnɡeɪl] (* 12. Mai 1820 in Florenz, Großherzogtum Toskana; † 13. August 1910 in London, England) war eine britische Krankenschwester, Statistikerin, Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege und einflussreiche Reformerin des Sanitätswesens und der Gesundheitsfürsorge in Großbritannien und Britisch-Indien. Die mathematisch begabte Forscherin Nightingale gilt außerdem als Pionierin der visuellen Veranschaulichung von Zusammenhängen in der Statistik.
Nightingale vertrat die Ansicht, dass es neben dem ärztlichen Wissen ein eigenständiges pflegerisches Wissen geben sollte, und vertrat diese auch in ihren Schriften zur Krankenpflege, die als Gründungsschriften der Pflegetheorie gelten. Unter anderem beschäftigte sie sich darin mit den Auswirkungen der Umgebung auf die Gesundheit. Ihr als Nightingalesches System bezeichnetes Ausbildungsmodell sah eine Ausbildung von Berufsanfängern vor allem durch erfahrene Pflegekräfte vor.
Während des Krimkrieges (1853–1856) leitete sie eine Gruppe von Pflegerinnen, die verwundete und erkrankte britische Soldaten im Militärkrankenhaus im türkischen Scutari (dem heutigen Istanbuler Stadtteil Üsküdar) betreute. Da sie nachts auf ihren Kontrollgängen die Patienten mit einer Lampe in der Hand besuchte, ging Nightingale als Lady with the Lamp („Dame mit der Lampe“) in die britische Folklore ein.
Tatsächlich war Nightingale an der direkten Pflege von Verletzten und Erkrankten kaum beteiligt. Ihre Leistung in Scutari bestand in der Schaffung und Aufrechterhaltung eines rudimentären Krankenhausbetriebes. Aus dem Krimkrieg kehrte Nightingale chronisch krank nach Großbritannien zurück und führte als Invalide von da an ein zurückgezogenes Leben. Durch ihre zahlreichen Veröffentlichungen und Korrespondenzen nahm sie dennoch Einfluss auf mehrere Gesundheitsreformen.
== Bedeutung von Nightingales Wirken ==
=== Für die heutige Pflege ===
Das 19. Jahrhundert wird auch als das „Jahrhundert der Medizin“ bezeichnet. Durch die Fortschritte in Diagnostik und Therapie wandelten sich die „Siechenhäuser“ in Krankenhäuser im heutigen Sinne. Heilungssuchende begannen, gezielt Krankenhäuser aufzusuchen, um sich behandeln zu lassen. Entsprechend wurde nun ausgebildetes Pflegepersonal – anstelle von Krankenwärtern – benötigt, das die Ärzte in der Therapie unterstützen konnte und mit den Patienten angenehmere Umgangsformen pflegte.
Während sich in anderen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich und Deutschland, katholische Orden die Ausbildung von Pflegern zur Aufgabe machten, geschah in Großbritannien wenig. Die wenigsten Klöster und Orden hatten die englische Reformation überlebt. Dieser Umstand wurde der britischen Öffentlichkeit durch Veröffentlichungen von Nightingale schmerzlich bewusst. Die Ausbildung von Pflegepersonal wurde daraufhin als nationale Aufgabe gesehen, für die Spendengelder gesammelt wurden.
Die von Nightingale gegründete Pflegeschule Nightingale School of Nursing am St Thomas’ Hospital in London wurde zur Keimzelle dieser Professionalisierung. Krankenhäuser aus allen britischen Regionen forderten in der Folgezeit Absolventen an, die das Pflegesystem an der eigenen Einrichtung reformieren und eine Ausbildung einführen sollten. Durch eine Art Schneeballsystem breitete sich so das Nightingale Nursing über den gesamten Commonwealth aus. Der Pflegeberuf in angelsächsischen Ländern ist heute anspruchsvoller in der Ausbildung – z. T. auf Hochschulniveau – und weist der Nurse weit mehr Kompetenzen zu als z. B. dem Gesundheits- und Krankenpfleger in Deutschland.
Im Gegensatz dazu lassen sich die Spuren der Ordenspflege bei uns auch heute noch erkennen: Anrede als „Schwester“ und Nächstenliebe als wesentliche Motivation. Nightingale trug in Großbritannien und den zum Empire gehörenden Ländern wesentlich dazu bei, dass sich die Krankenpflege zu einem gesellschaftlich geachteten und anerkannten Berufsweg für Frauen entwickelte, und legte Ausbildungsstandards fest, die zuerst in der von ihr gegründeten Krankenpflegeschule angewandt wurden.
Mit ihrem Satz „Ärzte beschäftigen sich mit Krankheiten, Krankenschwestern beschäftigen sich mit Menschen“ soll sie den Grundstein für eine Philosophie der Krankenpflege gelegt haben.
=== Für die Pflegewissenschaft und Statistik ===
Nightingale gilt als Erfinderin des Polar-Area-Diagramms, eines Kreisdiagramms mit unterschiedlichen Radiuslängen, das sie vor allem zur Darstellung zyklischer Vorgänge nutzte. Außerdem propagierte sie in ihren Notes on Nursing sozialwissenschaftliche Feldexperimente.Ein Großteil ihrer Arbeit bestand in der Informationserfassung und -verarbeitung als Managementaufgabe. So entwickelte sie Fragebögen, die in Kliniken verteilt wurden, um Missstände zu erkennen und nachweislich abzustellen. Diesen wissenschaftlichen Ansatz unter Nutzung von statistischen Analysen hat sie nicht nur in der Gesundheitsfürsorge genutzt, sondern auch bei ihren Bemühungen um die Verbesserung der Lebensumstände in Britisch-Indien.
Nightingale ist die erste Frau, die in die britische Royal Statistical Society aufgenommen wurde; später erhielt sie auch die Ehrenmitgliedschaft der American Statistical Association.
=== Auszeichnungen ===
Für ihre Leistungen wurde Nightingale 1883 durch Queen Victoria mit dem Royal Red Cross ausgezeichnet und 1907 von König Edward VII. als erste Frau in den Order of Merit aufgenommen. Heute wird jeweils an ihrem Geburtstag der Internationale Tag der Pflege (auch Florence-Nightingale-Tag, engl. Herkunftsbezeichnung International Nurses Day, IND) begangen, und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz verleiht seit 1912 im Andenken an sie die Florence-Nightingale-Medaille, die als höchste Auszeichnung gilt, die an Pflegekräfte verliehen werden kann.
=== Internationale Wirkung und Rezeption ===
Nightingales Wirken im Krimkrieg (1854–1856) inspirierte Henri Dunant, den Mitbegründer des Roten Kreuzes, angesichts der Schlacht von Solferino (1859).
== Leben ==
=== 1820 bis 1836: Herkunft und frühe Jahre ===
Florence Nightingales Mutter Fanny Nightingale, geborene Smith, entstammte einer politisch liberalen Familie. Der Großvater mütterlicherseits, der Kaufmann und Politiker William Smith, setzte sich im britischen Unterhaus für die Rechte der unteren Schichten, die weltweite Ächtung der Sklaverei und für Religionsfreiheit ein.Ihr Vater war William Edward Nightingale, geboren 1794 als William Edward Shore, der 1815 ein beträchtliches Vermögen von einem Onkel geerbt hatte. Entsprechend den Bestimmungen des Testaments änderte er seinen Nachnamen von Shore in Nightingale. Er war ein Schulfreund von Fanny Smiths jüngerem Bruder Octavius und lernte 1811 seine spätere, sechs Jahre ältere Frau kennen.
William Nightingale und Fanny Smith heirateten 1818 und reisten unmittelbar nach der Hochzeit zwei Jahre durch Europa. Nightingales ältere Schwester Parthenope wurde 1819 in Neapel geboren und nach der griechischen Bezeichnung ihrer Geburtsstadt benannt. Florence Nightingales Geburtshaus war die Villa Colombaia in Florenz. Wie bei der älteren Tochter wählte das Ehepaar Nightingale einen Vornamen in Anlehnung an den Geburtsort aus. Die Familie kehrte im Winter 1820 nach Großbritannien zurück und ließ sich zunächst in Lea Hurst in der Grafschaft Derbyshire nieder. Fanny Nightingale empfand die dortigen Winter jedoch als zu streng und die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, als zu eingeschränkt. 1825 erwarb William Nightingale zusätzlich den Landsitz Embley Park in Hampshire, der zum Hauptwohnsitz der Familie wurde.
Aus Nightingales Kindheit sind mehrere Briefe an Familienmitglieder erhalten, die nach Ansicht des Biografen Mark Bostridge sehr früh eine große sprachliche Begabung und Beobachtungsgabe zeigen. Bereits mit neun Jahren sprach sie so gut Französisch, dass sie für ihre Mutter eine Predigt in dieser Sprache zusammenfassen konnte. Ab 1831 übernahm der in Cambridge gebildete Vater einen großen Teil der Erziehung seiner Töchter. Er unterrichtete sie in Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch und Italienisch sowie in Mathematik, Geschichte und Philosophie. Die zusätzlich engagierte Hauslehrerin war für den Unterricht in Zeichnen und Musik zuständig.Fanny und William Nightingale waren Anhänger des Unitarismus, einer liberalen und dogmenfreien christlichen Glaubensrichtung, die unter anderem die Lehre der Dreifaltigkeit Gottes ablehnte. Auch wenn Bostridge den im Verlauf ihres Lebens zunehmend heterodoxer werdenden Glauben Nightingales betont, waren einzelne Elemente des unitaristischen Ethos für sie prägend: der Glaube an sozialen Fortschritt und an eine moralische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sowie die große Bedeutung, die dem Dienst an der Gemeinschaft beigemessen wurde. Briefe aus den 1830er-Jahren belegen, dass die Familie Nightingale in dieser Zeit für die Dorfbewohner in der Nähe von Lea Hurst medizinische Versorgung organisierte und bezahlte. Nightingale sammelte ihre ersten Erfahrungen in der Krankenpflege zwar durch die Pflege kranker Familienmitglieder, begleitete aber bereits in sehr jungem Alter ihre Mutter und ihre Gouvernante bei Krankenbesuchen in den umliegenden Dörfern. Tagebucheinträge der erst zehnjährigen Nightingale über den Selbstmord einer jungen Mutter weisen darauf hin, dass sie dadurch sehr früh einen Eindruck der Lebensbedingungen der Armen erhielt.
=== 1837 bis 1844: Entscheidung für die Krankenpflege ===
Im Januar 1837 suchte eine Grippe-Epidemie den Süden Englands heim. Nightingale war eine der wenigen, die gesund blieben, und widmete sich vier Wochen lang intensiv der Versorgung Erkrankter. In einem Brief an ihre Schwester hält sie fest, sie habe als „Krankenschwester, Gouvernante, Hilfspfarrerin und Ärztin“ gehandelt. In diese Zeit fällt auch ein religiöses Erweckungserlebnis, das für sie so prägend war, dass die Jahrestage für sie zeitlebens ein besonderes Ereignis blieben. Am 7. Februar 1837 schrieb Nightingale in ihr Tagebuch: „Gott sprach zu mir und rief mich in seinen Dienst.“ Welcher Art dieser Dienst sei, sagte die Stimme nicht. Sie gibt in ihrem Tagebuch auch keinen Hinweis darauf, in welcher Weise sich dieser Ruf äußerte. In ihren Notizen und Tagebüchern gibt es jedoch Hinweise, dass sie (auch) in späteren Lebensphasen den Ruf Gottes vernahm.
Nightingales steigendes soziales Engagement wurde durch eine anderthalbjährige Reise der Familie durch Frankreich und Italien unterbrochen. Am 9. April 1839 kehrte die Familie nach Großbritannien zurück, und Anfang Mai wurde Florence Nightingale am Hof der jungen Königin Victoria eingeführt. Dank eines Cousins, der in Cambridge Mathematik studierte und in Lea Hurst für einige Wochen zu Gast war, begann sie sich ab Juni 1839 immer mehr mit Mathematik auseinanderzusetzen.Ihre Eltern standen ihrem neuen Interessengebiet skeptisch gegenüber, insbesondere ihre Mutter hätte es lieber gesehen, wenn sich ihre Tochter auf, in den Augen der Zeitgenossen, für eine Frau angemessenere Beschäftigungen konzentriert hätte. Dank des Bestehens ihrer Tante Mai Smith gaben die Eltern jedoch schließlich nach und stellten einen Tutor für ihre Studien ein. Briefe aus dieser Zeit belegen, dass Nightingale ihr Leben dennoch mehr und mehr als banal empfand. Die Familie lebte abwechselnd auf Lea Hurst und Embley Park, unterbrochen von längeren Besuchen bei Verwandten oder Aufenthalten in London während der Ballsaison. Die Hoffnung der Mutter, auf Embley Park auch Mitglieder des britischen Hochadels als Hausgäste zu empfangen, erfüllte sich nicht. Bei den Nightingales verkehrten aber eine Reihe angesehener britischer Politiker wie Charles Shaw-Lefevre und Lord Palmerston, der spätere Premierminister. Im Verlauf der Jahre waren auch Persönlichkeiten wie Leopold von Ranke, Charles Darwin, der Botaniker William Jackson Hooker, Lord Byrons Witwe Anne Isabella Noel-Byron und ihre Tochter Ada Lovelace auf Embley Park zu Gast.Einen langanhaltenden Einfluss auf Nightingale hatte die Bekanntschaft mit dem preußischen Botschafter Christian von Bunsen, der sowohl in Rom als auch in London die Gründung von Krankenhäusern angeregt hatte. Bunsen führte sie in die Schriften von Arthur Schopenhauer und Friedrich Schleiermacher ein. Durch ihn angeregt, setzte sie sich mit David Friedrich Strauß’ aufsehenerregender Schrift Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet auseinander. Bunsen selbst hatte vergleichende religionswissenschaftliche Studien betrieben, und seine Gedankenansätze prägten auch Nightingales deutlich später erschienene Schrift Suggestions for Thought.Im Sommer 1844 wurde sich Nightingale sicher, dass sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wollte. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung war die Begegnung mit dem US-amerikanischen Arzt Samuel Gridley Howe und seiner Frau Julia, die während ihrer Hochzeitsreise zu Gast auf Embley Hall waren. Howe hatte in den Vereinigten Staaten die erste Blindenschule errichtet. An ihn richtete Florence Nightingale die Frage, ob er es für unpassend halte, wenn eine junge Frau wie sie sich in ähnlicher Form der Krankenpflege widme, wie dieses Ordensschwestern der pflegenden Kongregationen tun. Howe antwortete ihr:
„Meine liebe Miss Florence, es wäre ungewöhnlich und in England wird Ungewöhnliches gewöhnlich auch als unpassend empfunden. Ich möchte Ihnen aber raten, diesen Weg zu gehen, wenn Sie sich dazu berufen fühlen. Handeln Sie entsprechend Ihrer Eingebung und Sie werden herausfinden, dass nichts Unpassendes und Undamenhaftes daran sein wird, wenn Sie Ihre Pflicht zum Nutzen anderer tun…“
=== 1845 bis 1846: Differenzen mit den Eltern ===
Im Sommer 1845 diskutierte Nightingale erstmals mit ihrer Familie über ihre Pläne, in der Krankenpflege aktiv zu werden. Nachdem sie Monate zuvor Zeugin geworden war, wie eine Kranke infolge der Unfähigkeit ihrer Pflegerin starb, war sie zu der Ansicht gelangt, dass sie zunächst einer Grundausbildung in der Krankenpflege bedürfe. Sie wollte deswegen zunächst im Krankenhaus von Salisbury ein dreimonatiges Praktikum absolvieren und dann ein kleines Haus erwerben, in dem sie gemeinsam in einer Art protestantischer Schwesternschaft mit Frauen ähnlicher Herkunft und Ausbildung leben und Kranke pflegen würde. Der Vorschlag traf in ihrer Familie auf strikte Ablehnung.
Wer in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkrankte, wurde in der Regel zu Hause gepflegt. Britische Krankenhäuser waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Wohlfahrtseinrichtungen, in denen Bedürftige kostenlos gepflegt wurden, wenn sie einen Empfehlungsbrief von einem der Unterstützer der Einrichtung vorweisen konnten. Tuberkulose-, Pocken- oder Krebskranke fanden keine Aufnahme, und ebenso wenig wurde Geburtshilfe geleistet. Erst im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung der Bevölkerung gewannen Krankenhäuser in Großbritannien an Bedeutung für die allgemeine Gesundheitsfürsorge. Das von Christian von Bunsen initiierte German Hospital in London, das Nightingale im Juni 1846 besichtigte, ist entsprechend mit großer Sicherheit das erste Krankenhaus, das sie je betrat. Krankenhäuser im modernen Sinne entwickelten sich erst nach 1846, als die Verbreitung der modernen Anästhesie andere Formen von Eingriffen ermöglichte, aber auch eine organisierte und sorgfältige ganztägige Betreuung der behandelten Patienten verlangte.Die strikte Ablehnung ihres Wunsches durch die Familie beruhte neben Nightingales anfälliger Gesundheit auf dem schlechten Ansehen des Krankenpflegeberufs. Bei den Pflegekräften, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in britischen Krankenhäusern arbeiteten, handelte es sich in der Regel um ehemalige Dienstboten oder um Witwen, die keine anderweitige Anstellung fanden und daher gezwungen waren, sich ihr Brot durch diese Arbeit zu verdienen. Nicht besser war das Ansehen der Krankenschwestern, die Kranke in deren Haus pflegten. Charles Dickens karikierte in seinem 1842 bis 1843 erschienenen Roman Martin Chuzzlewit in der Figur der Sairey Gamp eine solche Krankenschwester als inkompetent, nachlässig, alkoholabhängig und korrupt. Vorbild seiner Figur war die Schwester, die im Haushalt seiner Förderin und Freundin Angela Burdett-Coutts zeitweilig eine erkrankte Bedienstete versorgte.Dickens’ Darstellung empfanden seine Leser als so treffend, dass sich für den zweifarbigen Regenschirm, den Sairey Gamp gewohnheitsmäßig mit sich herumträgt, der umgangssprachliche Begriff Gamp entwickelte. Tatsächlich verrichteten viele der Schwestern ihren Dienst alkoholisiert, und es war gängige Praxis, ihnen als Dank für ihre Dienste alkoholische Getränke oder Geld für ihren Kauf zu schenken. Der Ruf, dass insbesondere solche Schwestern, die während der Nacht arbeiteten, auch sexuelle Wünsche ihrer Patienten erfüllten, stellte den Beruf in die Nähe der Prostitution. Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass die britische Gesellschaft dazu neigte, schnell zu diesen Mitteln der Diskreditierung zu greifen, insbesondere wenn es um die unteren Gesellschaftsschichten ging. Zudem sollten später durch die Herabwürdigung der Vergangenheit die Errungenschaften des Nightingale Nursings besonders herausgestellt werden.Nightingale war nicht die Einzige, die für Frauen, die sich zur Krankenpflege berufen fühlten, ein Betätigungsfeld schaffen wollte. Im Rahmen der anglikanischen Oxfordbewegung waren zwei Schwesternschaften gegründet worden, die sich an tätigen Kongregationen der katholischen Kirche orientierten. Wegen der Nähe zur römisch-katholischen Kirche stießen diese Schwesternschaften aber in der britischen Öffentlichkeit auf weitgehende Ablehnung. Elizabeth Fry, die vor allem als Reformerin des Strafvollzugs in Erinnerung geblieben ist, gründete 1840 die Institution of Nursing Sisters. Ihre Schülerinnen kamen aus derselben Bevölkerungsschicht, der auch Dickens’ fiktive Sairey Gamp entstammte. Allerdings mussten sie wenigstens lesen und schreiben können, trugen Uniformen und durchliefen eine dreimonatige Ausbildung. Frys Schwestern widmeten sich vor allem der kostenlosen Gesundheitsfürsorge für Arme und finanzierten sich durch private Krankenpflegedienste in wohlhabenderen Haushalten sowie gelegentliche Einsätze in Krankenhäusern. Fry starb bereits 1845, und es ist nicht wahrscheinlich, dass Nightingale ihr jemals begegnete.
Am 18. Januar 1846 unternahm Nightingale einen erneuten Versuch, die Erlaubnis ihrer Eltern zu erhalten, sich in der Krankenpflege fortzubilden. Sie wandte sich diesmal schriftlich an ihren Vater, weil sie sich nicht mehr in der Lage fühlte, dieses Thema ohne Emotionen direkt bei ihren Eltern anzusprechen. Auch diesmal traf sie auf Ablehnung.Wie ihren Eltern zugesichert, äußerte sie ihren Wunsch nicht erneut. Sie las aber weiterhin Berichte über Krankenhäuser und öffentliches Gesundheitswesen. Als Reaktion auf die herrschende Wirtschaftskrise wurden in den 1840er Jahren eine Reihe von möglichen Sozialreformen diskutiert, die die Lebensbedingungen der unteren Schichten der britischen Bevölkerung verbessern sollten. Nightingale folgte diesen Diskussionen seit 1840 mit großem Interesse, und es gilt als sehr sicher, dass sie unter anderem Edwin Chadwicks Report on the Sanitary Conditions of the Labouring Class of Great Britain, der als Meilenstein des öffentlichen Gesundheitswesens gilt, kurz nach dem Erscheinen 1842 las.
=== 1846 bis 1850: Gescheiterte Heiratspläne ===
Inzwischen war Richard Monckton Milnes häufiger bei der Familie Nightingale zu Gast, der die gutaussehende, elegante und höfliche Florence Nightingale offensichtlich als Lebenspartnerin in Erwägung zog. Der Philanthrop, Literat und Politiker entsprach dem Bild, das insbesondere Fanny Nightingale von einem geeigneten Schwiegersohn hatte, und Florence schätzte Milnes’ Humor und sein Engagement während der großen Hungersnot in Irland. Vor einer Entscheidung für oder wider Richard Milnes begleitete sie das Ehepaar Bracebridge, das mit der Familie befreundet war, auf einer mehrmonatigen Reise nach Rom. Das Ehepaar ließ Nightingale größere Freiheiten, als sie von ihrem Elternhaus gewohnt war, was sie dazu nutzte, verschiedene römische Krankenhäuser zu besichtigen.Nach ihrer Rückkehr nach Großbritannien lehnte Nightingale Milnes’ Heiratsantrag ab. Die Einzelheiten des Gesprächs zwischen Milnes und Nightingale sind nicht bekannt. Es ist möglich, dass sie den Antrag keineswegs eindeutig abschlägig beschied, von Milnes aber missverstanden wurde. Dies würde erklären, warum Nightingale während der nächsten zwei Jahre in ihren Tagebüchern immer wieder die Vor- und Nachteile einer Heirat mit Milnes abwog, und damit erst im Juni 1851 aufhörte, als Milnes sich mit Annabel Crewe verlobte.
=== 1850 bis 1852: Ausbildung in Kaiserswerth und Paris ===
Das Ehepaar Bracebridge brach gegen Ende des Jahres 1849 zu einer Reise nach Ägypten und Griechenland auf, und Nightingales Eltern gestatteten ihrer Tochter, das Ehepaar ein weiteres Mal zu begleiten. Nightingale führte zwei Tagebücher während dieser Reise: eines, das offensichtlich dafür bestimmt war, auch von ihren Familienmitgliedern gelesen zu werden, und ein zweites, in dem sie ihre wachsende Verzweiflung über ihr sinnentleertes Leben niederschrieb. Auch während dieser Reise besuchte sie eine Reihe von Krankenhäusern, darunter das Hôtel-Dieu de Paris, das als eines der weltweit besten Krankenhäuser galt. Der Weg von Griechenland zurück nach Großbritannien sollte über Deutschland führen. Selina Bracebridge, die Nightingales Pläne unterstützte, änderte den Reiseweg so, dass ihre Begleiterin zwei Wochen in der Kaiserswerther Diakonie hospitieren konnte. Die Änderung erfolgte so kurzfristig, dass es nicht mehr möglich war, dafür die Zustimmung von Nightingales Eltern einzuholen.Mit der Arbeit der Kaiserswerther Diakonissen war Nightingale vertraut, da Christian von Bunsen ihr seit 1846 die Jahrbücher dieser Einrichtung zusandte. Die von Theodor Fliedner gegründete Institution war in der Gefangenenfürsorge, der Erziehung und Bildung von Kindern sowie der Pflege von Kranken und Alten tätig. Ausgebildet wurden außerdem Diakonissen, die sich aus einer christlichen Berufung heraus dem Dienst am Menschen widmen wollten und in Kaiserswerth eine Ausbildung als Krankenpflegerin, Gemeindeschwester, Erzieherin oder Lehrerin erhielten. Diakonissen legten kein dem katholischen Ordensleben vergleichbares Gelübde ab und konnten ihren Dienst jederzeit verlassen, wenn sie heiraten oder zu ihren Eltern zurückkehren wollten.
In einem Brief an ihren Vater beschrieb Nightingale die Kaiserswerther Diakonie als „ärmlich und hässlich“ und merkte auch an, dass die Sauberkeit teilweise zu wünschen übrig lasse. Sie hielt aber auch fest, dass die Diakonie in allen wesentlichen Punkten ein Modell für Großbritannien sei. Beeindruckt war sie von der wöchentlichen Vorlesung, die Fliedner für die Schwestern abhielt, und von den strikten Regeln, die ein schickliches Betragen der Schwestern sicherstellen sollten. Auf den Stationen für Männer versorgten männliche Pfleger unter Leitung einer der Diakonissen die Patienten, und den Schwestern war es streng untersagt, nach 20 Uhr die Stationen für Männer zu betreten. Sie beschrieb die Arbeitsweise der Kaiserswerther Diakonie in ihrer ersten Veröffentlichung, die 1851 anonym unter dem Titel The Institution of Kaiserswerth on the Rhine, for the Practical Training of Deaconesses erschien.Seitdem Nightingale 1845 ihre Familie erstmals mit ihrem Wunsch konfrontiert hatte, ihr Leben der Krankenpflege zu widmen, hatte es in Großbritannien eine Reihe von Reforminitiativen gegeben, die das Ziel hatten, Ausbildung und Ansehen von Krankenschwestern zu verbessern. Diese Veränderung griff auch Selina Bracebridge in Briefen auf, in denen sie Nightingales Wunsch unterstützte:
Im Frühjahr 1851 wurde der kränkelnden Parthenope Nightingale eine Kur verordnet. Während Fanny und Parthenope sich in Karlsbad aufhielten, durfte Florence mit Zustimmung ihrer Eltern drei Monate in Kaiserswerth verbringen. Allerdings legten die Eltern großen Wert darauf, dass die Hospitanz der Tochter auch engen Bekannten der Familie gegenüber geheim gehalten würde. Ausschlaggebend für ihre Zustimmung war gewesen, dass Florence Nightingale nach der Rückkehr von ihrer Reise durch Ägypten und Griechenland in so tiefe Depressionen verfallen war, dass ihre Eltern begannen, um ihr Leben zu fürchten.Nightingale erlernte in den drei Monaten in Kaiserswerth die Versorgung von Wunden und die Herstellung von Medikamenten, begleitete Sterbende und assistierte bei Operationen. Sie kehrte nach Großbritannien mit der Zuversicht zurück, dass es ihr gelingen werde, ihre Lebenspläne zu verwirklichen. Gegen Ende des Jahres 1852 gaben ihre Eltern schließlich nach. Sie sei immer gegen die Idee gewesen, schrieb Fanny ihrer Schwägerin Mai Smith, aber allmählich sehe sie ein, dass Florence weder glücklich werde noch zum Glück der Familie beitragen könne, setze sie ihr Leben in gewohnter Weise fort.Nightingale durfte nach Paris zurückkehren, um dort die Arbeitsweise mehrerer Krankenhäuser zu studieren und bei den Vinzentinerinnen ihre Ausbildung in der praktischen Krankenpflege fortzusetzen. Sie brach diese aber im März 1853 ab, um ihre sterbende Großmutter zu pflegen.
=== 1853 bis 1854: Leiterin eines Pflegeheims ===
Kurz vor ihrer Abreise nach Paris erhielt Nightingale ein Angebot, in London ein Pflegeheim zu leiten, das Institute for the Care of Sick Gentlewomen. Sie nahm das Angebot am 29. April, knapp einen Monat nach dem Tod ihrer Großmutter, an und begann am 12. Oktober 1853 mit der Arbeit, kurz bevor das Pflegeheim in ein größeres Bettenhaus in die Harley Street umzog.Das 1850 gegründete Heim sollte gemäß seinen Gründungsstatuten Frauen aus guter Familie aufnehmen, die sich wegen eines zu geringen Einkommens keine private Pflege während einer langwierigen Erkrankung leisten konnten. Bei den meisten Patientinnen handelte es sich um Gouvernanten – einer der wenigen respektablen Berufe, die eine Frau aus einer der höheren Schichten ergreifen konnte. Das Haus stand aber auch den verarmten weiblichen Angehörigen von Pfarrern, Kaufleuten oder Offizieren offen. Nightingale erhielt kein Gehalt; sie lebte von den fünfhundert Pfund, die der Vater ihr als jährliche Rente zahlte. Damals verdiente eine Krankenschwester jährlich etwa 20 Pfund, eine Gouvernante bei freier Kost und Logis häufig lediglich 10 Pfund.Viele Freunde und Bekannte der Familie Nightingale waren über die eher banale Aufgabe erstaunt, die die jüngere Tochter nach einem so langen Kampf und intensiver Vorbereitung übernahm. Das Pflegeheim mit seinen 27 Betten, das zu Beginn von Nightingales Leitung in ein Haus in der Harley Street umzog, erlaubte ihr aber, einige der Praktiken aus den von ihr besuchten Krankenhäusern anzuwenden. Der Ruf, den sich das Pflegeheim unter ihrer Leitung erwarb, führte dazu, dass sie bereits 1854 als Leiterin der Schwestern im King’s College Hospital im Gespräch war. Dieses Ausbildungskrankenhaus des King’s College lag in einem der dicht besiedelten Elendsviertel Londons, und die Vorstellung, dass sie in diesem Krankenhaus und mit den dortigen Schwestern arbeiten würde, löste die bekannten Vorbehalte ihrer Familie aus.
Das Verwaltungskomitee des Pflegeheims reagierte dagegen mit Verständnis auf ihr Schreiben, in dem sie mitteilte, dass sie zum Ende des Jahres 1854 die Leitung aufgeben werde. Es beurlaubte sie auch während der schweren Cholera-Epidemie Ende August 1854 von ihrer Arbeit, so dass sie im Middlesex Hospital Cholerakranke betreuen konnte.
=== 1854 bis 1855: Einsatz im Krimkrieg ===
==== Militärischer Hintergrund ====
Der Krimkrieg brach 1853 aus. Kriegsteilnehmer waren auf der einen Seite das Russische Kaiserreich, auf der anderen Seite das Osmanische Reich, Frankreich, Großbritannien und ab 1855 auch Sardinien. Der Krimkrieg war der erste moderne Stellungskrieg. Er forderte zahlreiche Opfer, woran Seuchen und Krankheiten sowie eine unsachgemäße Versorgung von Verletzten großen Anteil hatten.
Die ersten Truppen verließen Großbritannien zu Beginn des Jahres 1854. Bereits im Juni 1854 kam es aufgrund der klimatischen und sanitären Bedingungen im osmanischen (heute bulgarischen) Hafen Warna, wo 60.000 britische und französische Soldaten auf ihren Einsatz warteten, zu zahlreichen Krankheitsfällen. Die Empfehlungen der von Andrew Smith zuvor entsandten Kommission des Royal Army Medical Department zur Einrichtung von Lazaretten und sanitären Anlagen wurden von der Armeeführung weitgehend ignoriert. In der Folge erkrankten mehr als zwanzig Prozent der britischen Soldaten an Cholera, Dysenterie und anderen Durchfallerkrankungen. Mehr als tausend britische Soldaten starben, bevor ihre Einheiten in Kriegshandlungen verwickelt waren.Britische Truppen waren in der Schlacht an der Alma am 20. September 1854 zwar siegreich, aber auch hier zeigten sich die Folgen von schlechter Führung, fehlerhafter Vorbereitung und logistischer Inkompetenz. Anders als bei den französischen Truppen fehlten Tragen und Wagen, um die Verwundeten vom Schlachtfeld abzutransportieren. Verwundete und Kranke warteten hier Tage oder Wochen auf die Schiffe, die sie nach Scutari – dem heutigen Üsküdar, einem Stadtteil Istanbuls auf der asiatischen Seite – bringen sollten, wo das zentrale Militärkrankenhaus für das Kriegsgebiet am Schwarzen Meer eingerichtet wurde. Die Überfahrt von der Krim an den Bosporus dauerte je nach Schiffstyp und Wetterbedingungen zwischen zwei Tagen und einer Woche. Die Überlebenden erwartete dann ein schlecht organisierter Transport in das auf einem Hügel oberhalb des Hafens liegende zentrale Militärkrankenhaus.
Die Versorgung der Kranken und Verletzten war vermutlich nicht schlechter als während der Schlacht bei Waterloo im Juni 1815, der letzten großen Schlacht, an der die britische Armee beteiligt war. Erstmals gab es jedoch Kriegsberichterstatter, die mittels Telegrafie die britische Öffentlichkeit ohne größere Zeitverzögerung über die Vorkommnisse auf der Krim informierten. Drastische Berichte der Times-Korrespondenten William Howard Russell und Thomas Chenery über die mangelhafte Versorgung machten das britische Volk fassungslos. Chenery konfrontierte seine Leserschaft auch mit der Frage, wieso die französische Armee mit Hilfe von Nonnen eine Versorgung ihrer Verwundeten und Kranken organisieren konnte, während die britische Armee eine vergleichbar gute Betreuung nicht zu leisten vermochte.
==== Reisevorbereitungen ====
Als Reaktion auf Chenerys Berichte hatte Nightingale zunächst eine private Hilfsaktion geplant und sich dafür entsprechende Empfehlungsschreiben des Innenministers Lord Palmerston, des Außenministers Lord Clarendon und von Andrew Smith, dem Generaldirektor des Royal Army Medical Departments, besorgt. Zu Nightingales engsten Freunden gehörte das Ehepaar Herbert, das sie 1850 in Rom kennengelernt hatte. Sidney Herbert bekleidete 1854 das Amt eines Staatssekretärs im britischen Kriegsministerium und war damit eine der geeignetsten Personen, sie in ihrer geplanten Mission zu unterstützen. Ihr Brief, in dem sie um seine Unterstützung warb, überkreuzte sich mit einem offiziellen Schreiben Herberts an sie, in dem er sie als Staatssekretär bat, die Leitung einer Gruppe von Krankenschwestern zu übernehmen, die im Auftrag der Regierung nach Scutari reisen sollte. Herbert betonte in seinem Brief den experimentellen Charakter, den dieses Unternehmen haben würde. Bevor die britische Armee in Richtung Schwarzes Meer aufgebrochen war, war der Einsatz von Schwestern diskutiert, aber von der Armeeführung nahezu einhellig abgelehnt worden.Nightingale plante ursprünglich, nur zwanzig Schwestern mitzunehmen, da sie daran zweifelte, eine größere Zahl qualifizierter Frauen zu finden, und Schwierigkeiten voraussah, eine größere Gruppe zu leiten. Schließlich einigte sie sich mit Herbert auf vierzig. Tatsächlich erwies es sich nicht als einfach, eine entsprechende Zahl geeigneter Frauen zu finden. Die von Elizabeth Fry gegründete Institution of Nursing Sisters weigerte sich, Schwestern abzustellen, weil sie unter Nightingales Leitung arbeiten sollten. Entgegenkommender reagierten die katholischen Kongregationen, nicht zuletzt, weil es sich bei mindestens einem Drittel der auf der Krim kämpfenden Soldaten um irische Katholiken handelte und weil Teile der katholischen Kirchenleitung hofften, dadurch der in der britischen Öffentlichkeit verbreiteten antikatholischen Stimmung zu begegnen. Vierzehn geeignete Kandidatinnen fanden sich unter den ehrenamtlichen Helferinnen, die während der letzten Cholera-Epidemie unter Leitung der Philanthropin Felicia Skene Erkrankte gepflegt hatten, und unter den Schwesternschaften der anglikanischen Oxford-Bewegung. Bei vierzehn weiteren Schwestern, die mit Nightingale reisen sollten, handelte es sich um jene schlecht angesehenen Pflegerinnen, die in Großbritannien typischerweise in Krankenhäusern arbeiteten. Sie sollten im Militärkrankenhaus von Scutari die einfacheren Arbeiten übernehmen, während den Nonnen und den freiwilligen Helferinnen die direkte Betreuung der Kranken übertragen werden sollte. Leserbriefe, die in diesen Wochen in der Times erschienen, belegen Zweifel in weiten Teilen der britischen Öffentlichkeit, ob insbesondere die „Lady“-Schwestern in Nightingales Gruppe fähig seien, die brutalen Realitäten eines Militärlazaretts oder auch nur die Rauheit oder Profanität eines einfachen Soldaten zu ertragen.
==== Ankunft in Scutari ====
Nightingale brach am 21. Oktober 1854 mit einem Teil der Schwestern nach Scutari auf. Selina und Charles Bracebridge folgten am nächsten Tag mit den übrigen. In der Gruppe kam es bereits während der Überfahrt zu Reibereien, da sich insbesondere die Nonnen an den Umgangsformen und den Trinkgewohnheiten der aus den Krankenhäusern rekrutierten Schwestern störten.Die Zustände, die Nightingale in Scutari vorfand, waren tatsächlich katastrophal. Die Verwundeten und Kranken lagen in schlecht belüfteten, ungeheizten und rattenverseuchten Stationen und Korridoren. Die Böden waren verdreckt, die sanitären Einrichtungen unzureichend, auf zahlreichen Stationen standen wegen der vielen Durchfall-Erkrankten zusätzlich einfache Holzeimer, die unerträglich stanken. Viele der Erkrankten trugen seit Wochen dieselbe Kleidung, litten unter Flöhen und Läusen, waren seit ihrer Verletzung oder Erkrankung nicht gewaschen worden und hatten nicht einmal eine einfache Strohmatratze. Es fehlte an Kissen, Decken, Tellern, Besen, Besteck, Scheren, Handtüchern, Tabletts oder Waschbassins und Verbandszeug.Schon während des Krimkrieges befasste sich eine Untersuchungskommission mit der Frage, wie es zu diesen Zuständen gekommen war: Die zu Anfang des 19. Jahrhunderts errichtete Selimiye-Kaserne, welche die osmanische Regierung den Briten als zentrales Militärkrankenhaus zur Verfügung gestellt hatte, war mit ihrer kläglichen Wasserversorgung baulich dafür ungeeignet. Ursache der schlechten Versorgung war eine ausufernde Beschaffungsbürokratie. Während für die Regimentslazarette die jeweiligen Regimenter mit ihren kürzeren Entscheidungswegen verantwortlich waren, unterstand die Versorgung dieses ersten zentralen Militärkrankenhauses der britischen Armee einer Abteilung des Finanz- und nicht des Kriegsministeriums. Nicht weniger als acht Abteilungen von Londoner Ministerien bearbeiteten einen einzelnen Beschaffungsvorgang. Dies führte zu der absurden Situation, dass London beispielsweise den Ankauf von Hemden für Soldaten, die ohne Marschgepäck direkt von den Schlachtfeldern eingeliefert worden waren, ablehnte – mit dem Hinweis, dass dies eine unbegründete Anschaffung wäre.Dank einer Spendenaktion der Londoner Times standen Nightingale ausreichend Mittel zur Verfügung, über die sie unbürokratisch entscheiden konnte. Eine ihrer ersten Maßnahmen war der Einkauf von Tausenden von Hemden, Trinkbechern und Socken. In ähnlicher Weise konnte sie den offiziellen Vertrag der Armee für das Waschen des Bettzeugs, der Verbände und Kleidung ignorieren und vor Ort eine funktionierende Wäscherei aufbauen. Geschick bewies sie im Umgang mit den in Scutari arbeitenden Militärärzten. Bei ihrer ersten Begegnung am 4. November mit dem leitenden Arzt Duncan Menzies erklärte sie, dass weder sie noch eine ihrer Schwestern eine der Stationen betreten oder einen Patienten versorgen werde, sofern sie nicht von dem für die Station verantwortlichen Arzt dafür angefordert werde.Grundsätzlich waren die jüngeren Ärzte unter der Belegschaft eher geneigt, mit ihr zusammenzuarbeiten. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die ihr zur Verfügung stehenden Mittel dringend benötigte Anschaffungen ermöglichten und ihre weitreichenden Verbindungen in London Hoffnung auf die Einleitung notwendiger Veränderungen machten. Bei einigen Ärzten stand sie wegen ihrer engen Verbindungen zu Sidney Herbert allerdings unter dem Verdacht, im Auftrag der Regierung die Lage vor Ort auszuspionieren.Aufgrund von Nightingales Taktik waren die Schwestern während ihrer ersten Tage in Scutari weitgehend darauf beschränkt, Bandagen anzufertigen und die ihnen zugänglichen Teile des Krankenhauses zu reinigen. Das änderte sich am 8. November 1854, als die ersten Verwundeten der Schlacht bei Inkerman eintrafen und absehbar war, dass Hunderte weitere Verletzte zu erwarten waren. In Absprache mit den Ärzten wurden 28 Schwestern auf die Stationen des zentralen Krankenhauses und weitere 10 auf ein benachbartes Krankenhaus eine halbe Meile weiter nördlich verteilt (Nightingales Leben spielte sich zwischen dem Selimiye-Hauptquartier und dem Haydarpaşa-Krankenhaus ab).
==== Organisatorische Leistung ====
In der Schlacht von Inkerman hatten etwa 8.000 britische Soldaten über drei Stunden ihre Stellung gegen einen Angriff von 35.000 russischen Soldaten verteidigt. Erst dann zwang der Angriff französischer Zuaven und Fremdenlegionäre die russischen Truppen zum Rückzug. 480 britische Soldaten starben während dieser Schlacht, weitere 1.859 wurden verletzt. Die verletzten Soldaten, die ab dem 8. November zu Hunderten in Scutari anlandeten, wiesen überwiegend schwere Schussverletzungen auf, und bei vielen waren die Wunden bereits mit Maden infestiert. Keine der Pflegerinnen hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine Situation erlebt, in der sie mit so massiven Verletzungen und einer so großen Zahl an sterbenden Patienten konfrontiert war. „Ich erwarte zwei weitere Tote zu finden, wenn ich meine Morgenrunde gehe; es wären dann elf von 30 [Patienten] in den letzten zwei Tagen …“, schrieb eine der Schwestern nach Hause.Nightingale schätzte, dass von den 38 Pflegekräften, die sie nach Scutari begleitet hatten, nur zwischen zehn und sechzehn für die Aufgabe geeignet waren. In der Sorge, dass ihr Experiment scheitern könnte, durfte laut Anweisung Nightingales keine von ihnen nach 20:30 Uhr eine der Stationen betreten. Die Schwestern, die in Londoner Krankenhäusern rekrutiert worden waren, mussten ihre Arbeit unter Aufsicht einer der Nonnen verrichten. Das Gelände des Krankenhauses durften sie nur zu dritt oder unter Aufsicht verlassen, die Annahme von Geschenken war ihnen genauso untersagt wie jegliche Verbrüderung mit den Soldaten. Sowohl von den ursprünglichen als auch den später rekrutierten ehrenamtlichen und hauptberuflichen Schwestern schickte Nightingale in den kommenden Monaten mehrere wegen Trunkenheit, Inkompetenz und Ungehorsam wieder nach Großbritannien zurück. Ihre strenge Führung, die der Historiker Bostridge mit dem Selbstverständnis vergleicht, mit dem eine Frau ihrer gesellschaftlichen Stellung Dienstboten befehligte, sorgte unter den Schwestern zum Teil für erhebliche Unzufriedenheit.Zwar wohnte Nightingale anfangs Operationen bei, aber überwiegend war sie mit der Organisation eines grundlegenden Krankenhausbetriebes befasst: Sie beschaffte eine ausreichende Menge an Bettgestellen und Bettzeug, ließ einen bis dahin unbenutzbaren Flügel des Krankenhauses renovieren und alle Betten durchnummerieren, richtete auf den geräumigen Treppenaufgängen für jede Etage Behandlungsräume ein, veranlasste, dass alle Stationen geheizt wurden und ausreichend Zinkwannen zum Waschen der Patienten vorhanden waren, organisierte zwei Küchen, in denen spezielle Krankenkost zubereitet wurde, ordnete den Einkauf von Gemüse an und ließ, um den verbreiteten Skorbuterscheinungen entgegenzuwirken, eingekochten Zitronensaft ausgeben.Peter Benson Maxwell, eines der Mitglieder der Untersuchungskommission, die in Herberts Auftrag die Versorgung der Verwundeten überprüfte, schrieb in einem Brief über Nightingale angesichts dieser Organisationsleistung, dass sie in sich die Zartheit und Güte ihres Geschlechtes mit der kühlen Klarheit eines Mathematikers vereine und, angetrieben von ihrem Ziel, vor keinem Hindernis zurückschrecke. Lord William Paulet, der Oberkommandant in der Region, in der sich das Militärkrankenhaus befand, erwog zu Beginn des Jahres 1855 ernsthaft, alle Beschaffungsvorgänge an Nightingale zu übertragen. Nightingale hat für sich nie in Anspruch genommen, die Mortalitätsrate in Scutari wesentlich gesenkt zu haben. Dieser Rückgang trat zwar im Frühjahr 1855 ein, ist aber mit Sicherheit auf die geringere Belegungsrate und auf einen besseren gesundheitlichen Zustand der Neuzugänge zurückzuführen. In ihren privaten Briefen an das Ehepaar Herbert beanspruchte Nightingale allerdings, in ihren ersten vier Monaten ein funktionsfähiges Krankenhaus sichergestellt zu haben. Bostridge hält diesen Anspruch, den sie niemals öffentlich äußerte, auch aus heutiger Sicht für gerechtfertigt.
Im Sommer und Herbst 1855 war das Krankenhaus in Scutari zu einem großen Teil mit leichteren Krankheitsfällen und Rekonvaleszenten belegt. Während Nightingale sich noch von der schweren Erkrankung erholte, die sie sich im Frühsommer 1855 während eines Besuches der Lazarette auf der Krim zugezogen hatte, ließ sie für die Soldaten Leseräume im Krankenhaus sowie in der Nähe ein Café einrichten, und organisierte Vortragsreihen, Musikabende und Theateraufführungen. Ihre Schwester Parthenope organisierte in Großbritannien dafür Schreibmaterial, Unterhaltungsspiele, Fußbälle, Bücher, Musiknoten und Ähnliches.Trotz der Versicherung des Kriegsministers Lord Panmure, dass kein britischer Soldat einen Teil seines Soldes abgeben würde, setzte Nightingale erfolgreich die Arbeit von Reverend Sidney Godolphin Osborne fort: Jeden Samstagnachmittag konnten Soldaten einen Teil ihres Soldes bei ihr einzahlen; das Geld wurde ihren Familien in Großbritannien ausgezahlt. Alle diese Maßnahmen wurden wegen ihres Erfolgs auch in anderen Lazaretten eingeführt, ab Januar 1856 boten mehrere Regierungsbüros in Scutari und Balaklawa den Soldaten die Möglichkeit, Geld zu transferieren. Erhalten sind auch zahlreiche Beileidsschreiben Nightingales an die Hinterbliebenen verstorbener Soldaten. Bostridge vertritt die Ansicht, dass sich mit Nightingale das erste Mal während eines Krieges mit britischer Beteiligung jemand mit einer offiziellen Funktion mit soviel Aufmerksamkeit und Mitgefühl an die hinterbliebenen Angehörigen wendete. Er zitiert als Beispiel einen Brief Nightingales an die Mutter eines an Ruhr verstorbenen Soldaten, in dem Nightingale der Mutter schrieb, dass ihr Sohn viel von ihr gesprochen habe, dass es ihm wichtig gewesen sei, dass sie erfahre, dass ihm noch Sold zustehe, und dass er schließlich friedlich ohne großes Leiden gestorben sei.Die Ärzte, die in Scutari arbeiteten, urteilten unterschiedlich über den Beitrag der Schwestern bei der Versorgung der Patienten: Nach Ansicht von Arthur Taylor verrichteten sie viele sinnvolle Arbeiten, sie seien häufig aber auch im Weg gewesen. Nach Meinung des Arztes Greig hätte es angesichts der großen Zahl an Patienten einer deutlich größeren Zahl solcher Schwestern bedurft. Tatsächlich steht außer Frage, dass angesichts von 4.000 verletzten und kranken Soldaten, die allein zwischen dem 17. Dezember 1854 und dem 3. Januar 1855 in Scutari aufgenommen wurden, die Zahl der Schwestern zu gering war und der größte Teil der pflegerischen Arbeit von den Ordonnanzen erledigt wurde. Kaplan John Sabin verwies allerdings auf den positiven Einfluss, den die Schwestern auf die Moral der Patienten hatten.Viele empfanden die Behandlung durch die Schwestern als sanfter und tröstender als jene durch die Ordonnanzen, denen man außerdem nachsagte, sie würden ihre Patienten bestehlen. Im Fieberdelirium verwechselten viele der Soldaten die Schwestern mit ihren weiblichen Verwandten zu Hause: „Sie strecken ihre Hand aus & sagen Schwester & Mutter“, beschrieb Charles Bracebridge ihr Sterben. Der Besuch einer der Schwestern sei „wie der Besuch eines Engels“, umschrieb es einer der Soldaten. Dieser Eindruck schlug sich auch in den Briefen der Soldaten an ihre Familien in Großbritannien nieder und prägte wesentlich die öffentliche Meinung über den Einsatz von Nightingales Schwestern, da diese Briefe teilweise auch in der britischen Presse veröffentlicht wurden.
==== Konflikte bei der Pflegedienstleitung ====
Weil er eine Anmerkung in einem Brief als Bitte um mehr Schwestern missverstand, entsandte Herbert am 2. Dezember 1854 eine zweite Gruppe von Schwestern, bestehend aus 15 irischen Nonnen, 24 in Krankenhäusern rekrutierten und 9 ehrenamtlichen Helferinnen, nach Scutari. Geleitet wurde diese Gruppe von Mary Stanley. Nightingale, die erst drei Tage vor der Ankunft der neuen Schwestern davon erfuhr, sah sich darin in ihrer Autorität bedroht, warf Herbert Wortbruch vor, bot ihm ihren Rücktritt an und lehnte zunächst eine Aufnahme ab. Erschwert wurde eine mögliche Zusammenarbeit mit den neuen Schwestern durch die Weigerung der Oberin Frances Bridgeman, sich und ihre Nonnen so bedingungslos der Leitung Nightingales zu unterstellen, wie dies die Oberin der Bermondsey-Nonnen getan hatte.Im Januar 1855 ging ein Teil dieser neuen Schwestern nach Balaklawa, wo sich die militärische Situation mittlerweile so stabilisiert hatte, dass dort Krankenhäuser errichtet werden konnten. Dort waren sie Nightingales Leitung entzogen, da sich ihr Regierungsauftrag nur auf Schwestern bezog, die in britischen Militärkrankenhäusern in der Türkei arbeiteten. Die anderen Schwestern unterstützten zwei Krankenhäuser in Kuleli, fünf Meilen nördlich von Scutari, wobei sich die Gruppe in Nonnen einerseits und Krankenschwestern sowie ehrenamtliche Helferinnen andererseits aufteilte. Die irischen Nonnen erwiesen sich als erfahrene und gute Krankenschwestern. In der anderen Gruppe, die zunächst von Mary Stanley geleitet wurde, kam es aufgrund der Unterschiede zwischen den Schwestern zu Problemen, die Nightingale auch nicht eindämmen konnte, als Stanley im April 1855 krank nach Großbritannien zurückkehrte.Nightingale ließ sich am 20. April 1855 ausdrücklich von der Leitung der Schwestern in Kuleli entbinden, insbesondere weil sie den ehrenamtlichen Helferinnen dort ein unprofessionelles Vorgehen unterstellte. Bostridge verweist jedoch darauf, dass sich zumindest anhand der Sterblichkeitsrate kein Unterschied zwischen den Krankenhäusern in Kuleli und in Scutari feststellen lässt. Die Erfahrungen wiederholten sich auch in den kommenden Monaten: Nightingale war zwar offiziell Leiterin aller in der Türkei arbeitenden britischen Schwestern, war jedoch aufgrund der Entfernungen zwischen den einzelnen Krankenhäusern nicht in der Lage, diesen Führungsanspruch wahrzunehmen. Von den rund 229 Schwestern, die während des Krimkrieges von Großbritannien entsandt wurden, arbeitete nur ein kleiner Teil unter Nightingales Leitung.
Im Gegensatz zu Robert Rieder, der von der Armee aus und über die Armee Pflegeberufe im Osmanischen Reich etabliert hatte, hat ihr Wirken in der Türkei berufspolitisch dort keine bleibenden Spuren hinterlassen.Zu den entschiedensten Gegnern Nightingales zählten David Fitzgerald, dem offiziell alle Beschaffungsvorgänge für die britischen Lazarette unterstanden, und John Hall, der leitende Militärarzt. Letzterer stellte Anfang 1856 die Leistungen der von Nightingale geleiteten Schwestern in einem offiziellen Bericht in Abrede. Der Bericht enthielt zahlreiche Fehler, und Nightingale erwog, sich an das Unterhaus zu wenden, um sich gegen die Unterstellungen zu wehren. Auf Herberts Anraten sah sie davon jedoch letztlich ab. Innerhalb des Kriegsministeriums fand sie einen Fürsprecher in John Henry Lefroy, der Neid und Eifersucht für zwei Motive des Berichts hielt und dem Kriegsminister Lord Pemburne riet, an Nightingale festzuhalten. Im Generalbefehl vom 16. März 1856 wurde sie in ihrer Funktion bestätigt. Sie ist die erste Frau, die in einem britischen Generalbefehl Erwähnung fand.
==== Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ====
Im Oktober 1854, nachdem Nightingale offiziell die Leitung der britischen Schwestern übertragen worden war, waren in britischen Zeitungen und Journalen Berichte über sie erschienen, die die Historikerin Helen Rappaport als hagiografisch bezeichnet und die Mark Bostridge einen für die Öffentlichkeit akzeptablen Gegenentwurf zum „Engel im Haus“, dem von dem Literaten Coventry Patmore geschaffenen Bild einer perfekten Ehefrau und Mutter, nennt.
Am 24. Februar 1855 erschien in den Illustrated London News eine Darstellung Nightingales, wie sie während der Nacht mit einer Lampe in der Hand ihre Patienten auf den Stationen besucht. Diese Einzelheit ihres Wirkens, die in den folgenden Wochen und Monaten bildlich und sprachlich immer wieder aufgegriffen wurde, entwickelte sich zu einem Teil ihres persönlichen Mythos und wurde zur Metapher für ein Ideal christlicher Weiblichkeit, das sie in den Augen der Öffentlichkeit repräsentierte. Die wenigen kritischen oder spöttischen Äußerungen, die unter anderem im Satiremagazin Punch erschienen, verhallten weitgehend ohne Resonanz: Nightingale erreichte im Verlauf des Jahres 1855 in Großbritannien eine Bekanntheit, die nur von Königin Victoria übertroffen wurde.Im August 1855 gab es Pläne, sich bei Nightingale für ihren Einsatz auf der Krim mit einer Sammlung zu bedanken, die es ihr nach ihrer Rückkehr erlauben würde, eine Krankenpflegeschule ins Leben zu rufen. Nightingale reagierte höflich, aber wenig enthusiastisch. Auf die Bitte, einen ersten Entwurf für den Bau einer solchen Schule niederzuschreiben, antwortete sie in einem Brief vom 27. September 1855: „Es scheint Leute zu geben, die meinen, ich habe nichts anderes im Moment zu tun, als Pläne zu machen.“ Selina Bracebridge gegenüber äußerte sie, dass sie noch möglicherweise über Jahre Erfahrungen sammeln wolle, bevor sie eine solche Aufgabe übernehme.Die Sammlung für den Nightingale Fund gilt als erster britischer Spendenaufruf, der sich an alle Schichten der Bevölkerung wandte. Unterstützt wurde er von einer Reihe bekannter Persönlichkeiten, unter anderem gab die Sopranistin Jenny Lind ein Benefizkonzert. General William John Codrington regte an, dass Armeeangehörige einen Tagessold spenden sollten, und fast ein Viertel der 44.039 Pfund, die zusammenkamen, stammte von Angehörigen der britischen Armee. Der größte Teil der Spenden kam von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht.
=== 1856 bis 1880er: Reformjahre ===
==== Gesundheitliches und Lebensart ====
Nightingale war seit ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung im Mai 1855 gesundheitlich angegriffen. Sie verließ Scutari trotzdem erst gegen Ende Juli 1856, fast vier Monate nach Abschluss des Friedensvertrages zwischen den am Krimkrieg beteiligten Ländern. In der dritten Augustwoche 1857 erlitt sie einen schweren gesundheitlichen Zusammenbruch. Ihr Arzt diagnostizierte Herzvergrößerung und Neurasthenie. Woran sie tatsächlich litt, lässt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen.
In der Literatur wird eine Bandbreite an Krankheiten diskutiert, die von Krim-Kongo-Fieber, Bleivergiftung und Syphilis bis zu einer rein psychosomatischen Reaktion auf ihre Arbeitsbelastung und ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und Schwester reicht. Der Wissenschaftler David Young hat 1995 in der medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal überzeugend argumentiert, dass Nightingale mit großer Wahrscheinlichkeit an einer besonders schweren Form chronischer Brucellose litt. Dies würde schlüssig die Vielzahl an Krankheitssymptomen erklären, die sie bis zum Ende ihres Lebens aufwies: unregelmäßiger Herzschlag, Tachykardie, immer wieder auftretendes Fieber, Schlaflosigkeit, Depressionen und Übelkeit.
Ab Herbst 1857 führte Nightingale das Leben einer Invaliden, die öffentlich nicht mehr in Erscheinung trat und zeitweilig so krank war, dass sie selbst für ihre Reformen wesentliche Persönlichkeiten wie den Premierminister William Ewart Gladstone, General Charles George Gordon, den Philanthropen William Rathbone und die niederländische Königin oder enge Freunde wie Mary Anne Clarke nicht empfangen konnte. Ab Dezember 1861 litt sie an Spondylitis, Kurzatmigkeit und Muskelkrämpfen. Ihr gesundheitlicher Zustand verbesserte sich erst etwas zu Beginn der 1880er-Jahre, so dass sie wieder in der Lage war, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen.Nightingale lebte die ersten Jahre nach ihrer Rückkehr von der Krim in einer Suite des Hotels Burlington im Londoner West End, danach in schneller Folge in mehreren in London angemieteten Häusern. 1865 erwarb ihr Vater für sie ein Haus in der Londoner South Street, das sie bis zu ihrem Lebensende bewohnte. Zu ihrem Haushalt gehörten in der Regel eine Köchin, ein Küchen- und zwei Hausmädchen sowie eine Zofe. In ihren privaten Briefen finden auch ihre zahlreichen Katzen Erwähnung, die sie in der South Street hielt.
==== Arbeitsweise und Öffentlichkeitswirkung ====
Nightingales Erkrankung hatte wesentlichen Einfluss auf ihre Arbeitsweise. Außerstande, sich gegebenenfalls selbst ein Bild von der Situation in einer Kaserne, einem Kranken- oder Armenhaus zu machen, konzentrierte sie sich darauf, Daten zu sammeln, diese aufzubereiten und zu analysieren, um dann daraus Schlüsse abzuleiten. Ein wesentliches Arbeitsmittel waren für sie Fragebögen, daneben griff sie auf bereits vorhandene Daten zurück. Dazu zählten die als Blaubücher bezeichneten offiziellen Regierungsberichte ebenso wie Stellungnahmen britischer Behörden. Ihre Materialsammlung war so umfangreich, dass sie die mehrfachen Umzüge Anfang der 1860er Jahre erheblich erschwerte.Nightingale stand mit vielen Menschen in brieflichem Kontakt. In den vier Jahrzehnten, in denen sie sich überwiegend mit Reformen in Indien befasste, gehörten dazu indische Generalgouverneure, Mitglieder des indischen Nationalkongresses und Offiziere der in Indien stationierten Truppen bis hin zu Angehörigen der indischen Mittelschicht. Nightingale verfügte darüber hinaus über vielfältige Beziehungen zu britischen Politikern und Intellektuellen. Premierminister Lord Palmerston war ein Freund ihrer Familie, Premierminister Gladstone zählte zu ihren Bewunderern, Sidney und Elizabeth Herbert, Benjamin Jowett, Arthur Hugh Clough und Harriet Martineau zu ihrem engsten Freundeskreis.
Zu den Personen, mit denen sie zum Teil über Jahrzehnte eng zusammenarbeitete, gehören zahlreiche Experten wie beispielsweise der Epidemiologe William Farr, der Mediziner John Sutherland oder der Ingenieur Arthur Cotton. Diese waren ähnlich wie sie davon getrieben, dass sie dringenden Handlungsbedarf sahen. Gleichzeitig bot ihnen die Zusammenarbeit mit ihr die Möglichkeit, einen Einfluss auszuüben, der weit über ihre übliche Sphäre hinausging. Arthur Cotton beispielsweise, der mit seinen sehr weitgehenden Forderungen zum Ausbau von Kanälen Schwierigkeiten hatte, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, nutzte Veröffentlichungen von Nightingale, um einem breiteren Publikum seine Ideen vorzustellen.Ihre Popularität insbesondere in den ersten Jahren nach dem Krimkrieg nutzte Nightingale regelmäßig, um Druck auf Politiker auszuüben. Häufig zitiert wird ihre Drohung gegenüber dem Kriegsministerium, ihren Geheimbericht zu ihren Erfahrungen während des Krimkriegs zu veröffentlichen, sollte sich die Einberufung der Untersuchungskommission weiter verzögern. Die Zahl von Nightingales Veröffentlichungen ist sehr groß. Kennzeichnend für viele ihrer Berichte ist die visuelle Aufbereitung statistischen Materials, die es auch mathematisch weniger Kundigen ermöglichte, ihre Schlüsse nachzuvollziehen. Ihr Schreibstil war prägnant und gelegentlich auch sarkastisch. Sie fand eine große Leserschaft, weil sie nach ihrem Einsatz im Krimkrieg als maßgebliche Autorität in Fragen der Gesundheitsfürsorge galt.
Als Frau war sie niemals offizielles Mitglied einer von der Regierung einberufenen Untersuchungskommission. Aufgrund ihres Einflusses waren diese aber zum Teil mit Personen besetzt, die ihr und ihren Reformideen nahestanden. So wurde die Untersuchungskommission zum Sanitätswesen beispielsweise von Sidney Herbert geleitet, und John Sutherland war eines der Mitglieder. Während der Arbeit dieser Kommission wurde ihre Suite im Londoner „Hotel Burlington“ scherzhaft als little war office („kleines Kriegsministerium“) bezeichnet, weil sie dort einzelne Mitglieder morgens und nachmittags zur Beratung empfing. Wesentlicher Antrieb für ihre engagierte Unterstützung war ihre Überzeugung, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr lange leben werde.
==== Reform des britischen Sanitätswesens ====
Nightingales Rückkehr von ihrem Einsatz im Krimkrieg verlief, wie von ihr gewünscht, von der Öffentlichkeit unbemerkt. Am 23. August 1856 lud James Clark, der Leibarzt von Königin Victoria, sie ein, im September in seinem Haus in der Nähe des Schlosses Balmoral für einige Tage zu Gast zu sein. Die Einladung erfolgte auf Wunsch der Königin, die so Nightingale informell treffen konnte. In ihrem Tagebuch hielt die Königin über das erste Zusammentreffen fest, sie hätte eine „kalte, steife und reservierte Person“ erwartet und sei von Nightingales verbindlichem und damenhaftem Auftreten angenehm überrascht gewesen. Als konstitutionelle Monarchin konnte Victoria keine Reformen des britischen Sanitätswesens veranlassen, auf ihren Wunsch verlängerte Nightingale jedoch ihren Aufenthalt in Schottland, um in Balmoral Kriegsminister Lord Panmure zu treffen.
Anders als Nightingale erwartet hatte, teilte Panmure nicht nur ihre Ansicht, dass durch eine Untersuchungskommission notwendige Reformschritte eingeleitet werden müssten. Er beauftragte sie zusätzlich damit, ihre Empfehlungen in einem Geheimbericht der Regierung zu unterbreiten und die Pläne für das Netley Hospital, das erste zentrale Militärkrankenhaus auf britischen Boden, zu kommentieren.Die Analysen, die Nightingale für ihren Regierungsbericht vornahm, belegten gravierende Probleme bei der militärischen Gesundheitsfürsorge: Obwohl britische Soldaten normalerweise zwischen 20 und 35 Jahre alt waren und damit einer Altersgruppe mit geringer Sterblichkeitsrate angehörten, wiesen sie in Friedenszeiten eine fast doppelt so hohe Sterblichkeitsrate als Zivilisten auf. In ihrem Bericht an die britische Regierung fand Nightingale dafür deutliche Worte. Wenn jährlich von 1000 Zivilisten 11 sterben würden, aber 17, 19 und 20 von 1000 Soldaten der in England stationierten Linieninfanterie, Artillerie und Garde, dann sei das ähnlich kriminell wie jährlich 1.100 Mann auf die Salisbury Plain zu führen und dort zu erschießen.Ihr Regierungsbericht begann mit einer faktenbasierten Beschreibung der Zustände in Scutari. Ausgehend davon leitete sie mit Hilfe statistischer Analysen die aus ihrer Sicht wesentlichen Schritte zur Verbesserung der Lebensbedingungen der einfachen britischen Soldaten ab: Neben vorbeugenden Hygienemaßnahmen betonte sie den Bedarf an zentralen Militärkrankenhäusern zusätzlich zu den Regimentslazaretten, forderte eine verbesserte Ausbildung und Beförderungsmöglichkeiten für Militärärzte, um qualifizierteres Personal zu gewinnen, empfahl die Ernennung von Sanitätsinspektoren, die direkt dem Kriegsministerium berichten sollten, und die Ausstattung von Militärkrankenhäusern und Baracken mit adäquaten sanitären Einrichtungen.Die Untersuchungskommission zum Sanitätswesen begann im Februar 1858, ihre Ergebnisse zu publizieren. Sie führte zur Einführung eines statistischen Amtes innerhalb des Kriegsministeriums, der Gründung einer Ausbildungseinrichtung für Militärärzte, einer Überarbeitung der Regeln für Militärlazarette und einer Umstrukturierung des Royal Army Medical Departments. Zwischen 1858 und 1861 wurde jede britische Kaserne und jedes Militärkrankenhaus auf den Zustand der sanitären Anlagen, der Versorgung mit Trinkwasser und die Beseitigung von Abwässern untersucht und gegebenenfalls umgebaut.
Die Ernennung von Sidney Herbert zum britischen Kriegsminister 1859 vereinfachte die Umsetzung. Die Baumaßnahmen gingen jedoch nach seinem Tod 1861 wieder deutlich zurück, weil vor allem das Finanzministerium gegen die hohen Kosten protestierte. Erst gegen Ende der 1870er-Jahre führte der Ausbruch einer Typhusepidemie unter in Dublin stationierten Soldaten erneut zu einer Untersuchung der Lebensbedingungen britischer Soldaten und zur Einleitung weiterer Maßnahmen. Bereits in den 1860er Jahren war jedoch ein deutlicher Rückgang der Mortalitätsrate unter britischen Soldaten zu verzeichnen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts lag sie deutlich unter jener der Zivilbevölkerung und betrug schließlich im letzten Lebensjahrzehnt Nightingales nur noch jährlich vier bis fünf Mann pro 1000 Soldaten.
==== Frühe Veröffentlichungen zu Krankenhausbau und Pflege ====
Den Bauplan des Netley-Hospitals, das 1863 eröffnet wurde, konnte Nightingale nicht mehr wesentlich beeinflussen. Auf ihre Empfehlung wurden aber wenigstens die Korridore des zentralen Militärkrankenhauses erweitert und mehr Fenster eingebaut. Ihre Notes on Hospitals (Anmerkungen zu Krankenhäusern), an denen sie parallel zu den Arbeiten für die Untersuchungskommission geschrieben hatte, erschienen in erster und zweiter Auflage 1859. Darin empfahl sie die Anlage von Krankenhäusern im Pavillonstil, wie er beispielsweise im Hôpital Lariboisière in Paris umgesetzt worden war. Das dortige Krankenhaus bestand aus einzeln stehenden Flügeln, die nur durch einen langen Gang miteinander verbunden waren. Unterstützung fand sie darin unter anderem bei George Godwin, einem der führenden britischen Architekten, der Nightingales Notes on Hospitals als essentielle Fachliteratur für Architekten bezeichnete.Im Januar 1860 erschien auf Anregung von Edwin Chadwick ihr Krankenpflegebuch Notes on Nursing: What It is and What It is Not (Anmerkungen zur Krankenpflege: Was sie ist und was sie nicht ist), den sie für einen Personenkreis verfasste, der zu Hause Kranke zu versorgen hatte. John Sutherland las im Februar 1859 den ersten Entwurf und empfahl Nightingale ein einfacheres Englisch, da er vermutete, dass die meisten ihrer Leser zu den einfacheren Bevölkerungsschichten gehören würden. Die Notes on Nursing kennzeichnet daher ein knapper, epigrammatischer Stil mit Sätzen wie „Eine Pflegerin, die herumlärmt, ist das Grauen ihrer Patienten“. Das nur 76 Seiten umfassende Buch wurde in der britischen Presse mit viel Lob besprochen. Mehr als 15.000 Exemplare wurden in den ersten zwei Monaten verkauft, und ihr Krankenpflegebuch war während des gesamten Viktorianischen Zeitalters in Druck.Im Jahr 1860 überarbeitete sie das Buch und veröffentlichte Fassungen, die sich an unterschiedliche Leserkreise richteten. Eine Fassung erhielt ergänzende Hinweise für professionelle Pflegerinnen, und 1861 erschien die Fassung Notes on Nursing for the Labouring Class (Anmerkungen zur Krankenpflege für die Arbeiterschicht), die sprachlich nochmals vereinfacht war und ein Kapitel an Mädchen richtete, die zu Hause ihre jüngeren Geschwister zu versorgen hatten. Französische, deutsche, dänische und schwedische Übersetzungen erschienen kurz nach der Veröffentlichung in Großbritannien. In den USA fanden die Notes on Nursing ebenfalls eine große Leserschaft. Während des Sezessionskriegs leisteten Frauen dort einen wesentlichen Beitrag in der Versorgung Verwundeter, und Bostridge bezeichnet die Verehrung, die Nightingale dort entgegengebracht wurde, als nahezu kulthaft.
==== „Nightingale School of Nursing“ ====
Nightingale war sich gegen Ende der 1850er Jahre noch nicht sicher, welche Form von Pflegeausbildung die zweckmäßigste sei. Das war neben ihrer Erkrankung und ihrer Konzentration auf die Reform des britischen Sanitätswesens einer der Gründe, warum die Mittel des Nightingale Fund bis 1859 nicht angerührt worden waren. In der Öffentlichkeit mehrten sich die Stimmen, die dies kritisierten, so dass am 24. Juni 1860 die Nightingale School of Nursing mit 15 Pflegeschülerinnen in einem Alter zwischen 25 und 35 Jahren eröffnet wurde.
Grundsätzlich sah das heute als Nightingalesches System bezeichnetes Ausbildungsmodell vor, dass die Ausbildung von Berufsanfängern durch erfahrene Pflegekräfte und nicht durch Ärzte erfolgen sollte. Eine umfangreiche theoretische Ausbildung mit anschließenden Examen hielt Nightingale für wenig zielführend, da aus ihrer Sicht Prüfungen nur ein Test des Erinnerungsvermögens waren und nichts über die Leistung einer Pflegerin auf der Station aussagten. Ihr Ausbildungsmodell legte einen Schwerpunkt auf Hygiene. Dabei spielte auch eine Rolle, dass Nightingale bis zu Beginn der 1870er Jahre eine Anhängerin der Miasmentheorie war. Sauberkeit, richtige Lüftung und angemessene Ernährung heilten ihrer Ansicht nach die meisten Krankheiten. Die Ausbildung war nicht konfessionell gebunden, die ausbildende Pflegeleiterin sollte aber auf die charakterliche Bildung und moralische Festigung der zukünftigen Pflegerinnen Wert legen.Als Ausbildungskrankenhaus war das Londoner St Thomas’ Hospital gewählt worden, das kurz nach Eröffnung der Pflegeschule übergangsweise verlegt wurde, um an anderer Stelle neu errichtet zu werden. Mit dem Umzug stieg die Zahl der Schülerinnen auf 38, die vom Nightingale Fund unterschiedliche Gehälter erhielten. Neben den Ordinaries, die außer Kost, Logis und Dienstuniform zehn Pfund pro Jahr erhielten, gab es Free Specials, meist Töchter von Klerikern, die kein oder ein geringeres Gehalt erhielten, und Specials, die 30 oder 52 Pfund für die Ausbildung bezahlten. Schülerinnen verpflichteten sich für vier, später drei Jahre. Ein Jahr lang wurden sie im St Thomas’ Hospital ausgebildet, die restlichen Jahre arbeiteten sie in einem vom Nightingale Fund ausgewählten Krankenhaus.Nach dem Umzug in den Neubau mussten Nightingale und der Verwaltungsrat des Nightingale Fund zunehmend feststellen, dass die Pflegeausbildung keineswegs Nightingales Vorstellungen entsprach. Sarah Wardroper, gleichzeitig Pflegeleiterin des St Thomas’ Hospital und Leiterin der Pflegeschule, war überfordert. Der Arzt Richard Whitfield, der vom Fonds seit 1860 für regelmäßige Vorlesungen bezahlt wurde, kam dieser Verpflichtung kaum noch nach. Von den 180 Frauen, deren Ausbildung zwischen 1860 und 1870 vom Nightingale Fund finanziert wurden, brachen 66 ihre Ausbildung vorzeitig ab. Mehr als die Hälfte davon wurde wegen Fehlverhaltens entlassen, fünf davon wegen Trunkenheit. Vier weitere Frauen starben während der Ausbildung. Eine große Zahl der Schülerinnen erwies sich als gesundheitlich nicht in der Lage, ihren Vertrag zu erfüllen.Unter den erkrankten Pflegerinnen litten einige unter Syphilis, manche waren drogenabhängig; ein Hinweis darauf, dass Wardroper die Schülerinnen nicht mit der Sorgfalt auswählte, die Nightingale sich gewünscht hatte. Nach langwierigen Verhandlungen mit der Krankenhausleitung wurde anstelle von Richard Whitfield der Chirurg John Croft beauftragt, wöchentlich eine Vorlesung zu halten. Croft kam dieser Aufgabe bis 1894 nach, die von ihm entwickelte Vorlesungsreihe trug wesentlich zum langfristigen Erfolg der Nightingale Nursing School bei. Die Schülerinnen begannen an Autopsien teilzunehmen, und für Patienten der Chirurgie wurde ein Pflegestandard entwickelt, der den ausgebildeten Krankenpflegerinnen mehr Verantwortung übertrug. Auf Croft ist vermutlich auch zurückzuführen, dass Nightingale die Miasmatheorie als falsch erkannte und nunmehr der Infektionslehre folgte. In ihren Veröffentlichungen in den späten 1870er Jahren betonte sie zunehmend den Wert antiseptischer Maßnahmen.Probleme bereitete der unterschiedliche Bildungsgrad der Schülerinnen. Insbesondere innerhalb der Gruppe der Ordinaries, die aus der Unterschicht stammten, waren viele nicht hinreichend des Schreibens kundig und nicht in der Lage, in den Vorlesungen mitzuschreiben. Daher erhielten sie zwei Nachmittage pro Woche zusätzlich Unterricht in Lesen und Schreiben. Die in einem Schwesternheim wohnenden Schülerinnen wurden dort zusätzlich von einer Home Sister betreut, die auch einen Teil der Ausbildung übernahm.Nightingale begann, sich intensiver um die Schülerinnen zu kümmern. Die Verbesserungen im Ausbildungsstandard zeigten bald Erfolge. Zu Beginn der 1880er Jahre wurden Krankenpflegerinnen, die die Nightingale School of Nursing durchlaufen hatten, Pflegeleiterinnen einer Reihe großer Krankenhäuser in London und der Provinz. Sie etablierten dort Ausbildungsprogramme für Pflegekräfte, die dem der Nightingale School of Nursing glichen. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Ausbildungseinrichtung genoss, zwang andere britische Krankenhäuser, ebenfalls Lehrgänge einzurichten und auf eine bessere Ausbildung ihres Pflegepersonals zu achten.
==== Reform der Armenfürsorge ====
Eng verknüpft mit der gezielten Ausbildung von Pflegekräften ist Nightingales Beitrag zur Verbesserung der Armenpflege. Seit 1834 sahen die britischen Armengesetze zwingend vor, dass jede Person, die auf Unterstützung angewiesen war, in ein Arbeitshaus eingewiesen wurde. Die entwürdigenden, gefängnisähnlichen Lebensbedingungen der Insassen, die unter anderem Charles Dickens und Frances Trollope in ihren Romanen thematisierten, waren Anlass für eine Reihe von Initiativen, die Armenfürsorge zu verbessern.
So wandte sich im Januar 1864 der Philanthrop William Rathbone mit dem Angebot an Nightingale, eine Maßnahme zu finanzieren, die zur Verbesserung der Krankenpflege im Brownlow Hill Workhouse Infirmary in Liverpool beitragen würde. In diesem Spital wurden ausschließlich Arbeitshausinsassen behandelt. Betreut wurden sie dort von so genannten Pauper Nurses, noch arbeitsfähigen Insassen ohne Ausbildung in der Krankenpflege. Nightingale schlug Rathbone vor, für das Liverpooler Workhouse Infirmary die Kosten für eine Pflegeleiterin und zwölf erfahrene Pflegekräfte zu übernehmen. Als Pflegeleiterin wurde Agnes Jones ausgewählt. Diese entstammte wie Nightingale einer wohlhabenden Familie, hatte nach langem Widerstand ihrer Eltern zunächst in der Diakonie Kaiserswerth gearbeitet und dann im St Thomas’ Hospital das Ausbildungsprogramm zur Pflegekraft durchlaufen. Ihr Arbeitsbeginn in Liverpool fiel zeitlich mit einem Skandal zusammen, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Versorgung verarmter Kranker lenkte: Der Tod des 28-jährigen Timothy Daly, eines Insassen des Holborn Workhouse in London, wurde allein dem Dreck zugeschrieben, in dem man ihn während seiner Erkrankung hatte liegen lassen. In Briefen an Jones verglich Nightingale die Situation, die Jones in Liverpool vorfand, mit der in Scutari und ermahnte sie, dass ihr Erfolg wegen dieser Aufmerksamkeit der Ausgangspunkt einer der weitreichendsten Reformen ihres Zeitalters sein könne. Der Bericht der Verwaltungskommission knapp zwei Jahre nach Beginn von Jones’ Arbeit fiel positiv aus. Jones starb allerdings im Februar 1868 an Typhus.Parallel zu Jones’ Einsatz in Liverpool hatte Nightingale dem Kabinettsmitglied Charles Pelham Villiers, dem Vorsitzenden des Poor Law Board, gegen Ende des Jahres 1864 einen Einsatz weiterer ausgebildeter Pflegekräfte angeboten, die in Londoner Armenhäusern die Erkrankten versorgen sollten und ihm außerdem mehrere, sehr weitreichende Reformschritte vorgeschlagen. In London sollten die Kranken von den übrigen Insassen der Arbeitshäuser getrennt werden, eine zentrale Verwaltung sollte für alle Armen Londons zuständig sein und die Armenfürsorge durch eine Steuer finanziert werden. Dies sollte den Amtsmissbrauch durch Armenvorsteher begrenzen, der zu gravierenden Missständen in einzelnen Arbeitshäusern führte und gleichzeitig eine kosteneffiziente Gesundheitsfürsorge sicherstellen.
Nightingale war sich bewusst, dass die Armengesetzgebung die öffentliche Fürsorge gezielt an so unattraktive Bedingungen wie die Einweisung in Arbeitshäuser knüpfte, um den befürchteten Missbrauch einzuschränken. In dem Moment, in dem ein von Fürsorge lebender Armer aber krank wurde, argumentierte sie, „ist er kein Armer mehr …[sondern] er wird zum Bruder unserer aller & wie für einen Bruder sollten wir für ihn sorgen.“ Das neue Metropolitan Poor Law wurde unter Würdigung von Nightingales Beitrag dazu 1867 verabschiedet. Es ging nicht so weit wie von Nightingale vorgeschlagen, sah aber die Einrichtung von speziellen Krankenhäusern für Fieber- und Geisteskranke vor, die bislang ebenfalls in Arbeitshäuser eingewiesen worden waren. Zuständig für diese Krankenhäuser war das neu geschaffene Metropolitan Asylums Board, das aus Mitteln der Stadt finanziert wurde. Das Gesetz gilt als der erste Schritt in der Trennung staatlicher Kranken- von staatlicher Armenfürsorge und mündete schließlich in die Gründung des National Health Service, dem aus Steuermitteln finanzierten britischen Gesundheitssystem, das für jede in Großbritannien wohnhafte Person kostenlose medizinische Versorgung sicherstellt.
==== Reformen in Britisch-Indien ====
Am 10. Mai 1857 kam es in Merath zu einem Aufstand von hinduistischen und muslimischen Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber. Der so genannte Sepoy-Aufstand weitete sich schnell über Nordindien aus. Britische Truppen schlugen ihn im Laufe des Jahres 1858 weitgehend nieder, Krankheiten beeinträchtigten jedoch erheblich die Kampffähigkeit der Truppen. So musste der erste Versuch, Lucknow zurückzuerobern, abgebrochen werden, weil Henry Havelock nur noch über 700 einsatzfähige Männer verfügte. Wie Nightingales spätere Analysen zeigten, starben von 1000 in Indien stationierten britischen Soldaten jährlich 60 an Ursachen, die mit unzureichenden hygienischen Bedingungen in Zusammenhang standen.
Die britische Regierung beauftragte 1857 erneut eine Untersuchungskommission, die diesmal gezielt die Lebensbedingungen der in Indien stationierten Soldaten untersuchen sollte. Nightingale beschäftigte sich von diesem Zeitpunkt bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Fragen der Gesundheitsfürsorge in Indien und entwickelte sich in dieser Zeit zu einer anerkannten Indienexpertin. Der Historiker Jharna Gourday unterscheidet vier Phasen in Nightingales Beschäftigung mit Indien:
ab 1857 der Versuch, bessere Gesundheitsfürsorge sowohl für Armeeangehörige und die indische Zivilbevölkerung zu erreichen,
ab 1870 fokussierte sich Nightingale auf die Ursachen der regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte,
ab 1879 setzte sie sich mit dem indischen Pachtwesen auseinander,
ab 1886 konzentrierte sie sich auf Vorschläge zur Verbesserung der Gesundheitsfürsorge in indischen Dörfern und der Ausbildung indischer Frauen.Anhand ihrer Datenanalyse konnte Nightingale zeigen, dass die klimatischen Bedingungen in Indien nicht die wirkliche Ursache für die hohe Sterblichkeit unter britischen Soldaten waren. Das tropische Klima verschlimmerte nur die Folgen überbelegter Kasernen sowie mangelhafter Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung. Die Empfehlungen der Untersuchungskommission wurden im Juli 1863 veröffentlicht. Der neue Generalgouverneur und Vizekönig von Indien John Lawrence, der zu Nightingales Briefpartnern zählte, ließ mit einem Aufwand von 10 Millionen Pfund die britischen Kasernen entsprechend den Empfehlungen umbauen und schrieb ihr bereits 1867, dass die Zahl der jährlichen Todesfälle unter britischen Soldaten auf 20,11 pro 1.000 Mann gesunken sei. Nightingale beklagte dagegen, dass Reformen viel zu langsam umgesetzt würden. 1870 publizierte sie ein Papier mit dem Titel The Sanitary Progress in India (Der sanitarische Fortschritt in Indien), in dem sie der britischen Verwaltung vorwarf, sie habe zwar große Anstrengungen unternommen, neue Kasernen zu errichten, sich dabei aber nicht hinreichend um Probleme der Trinkwasserversorgung und Abwässerbeseitigung gekümmert.
===== Hungersnot und Wasserbau =====
Auf die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte in Indien wurde Nightingale erstmals durch die Hungersnot in der Region Orissa aufmerksam, die von 1865 bis 1866 ungefähr eine Million Menschenleben forderte. Die britische Verwaltung der Präsidentschaft Bengalen hatte das Ausmaß der Hungersnot unterschätzt, den britischen Generalgouverneur falsch über die Situation informiert und war auf dem Höhepunkt der Krise nicht in der Lage, Hilfsmaßnahmen zu organisieren. Eine Untersuchungskommission der britischen Regierung führte zwar zur Entlassung des Gouverneurs der Präsidentschaft Bengalen, aber auf die Hungersnot in Orissa folgten sehr schnell weitere Hungersnöte. Heute geht man davon aus, dass zwischen 1858 und 1947, den Jahren der direkten britischen Kolonialherrschaft über den indischen Subkontinent, rund 29 Millionen Inder verhungerten.Offiziell wurden die zahlreichen Hungersnöte mit klimatischen Einflüssen erklärt, tatsächlich bedingte die Form der britischen Kolonialwirtschaft jedoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung selbst in guten Jahren kaum über das Existenzminimum verfügte. Nightingale fokussierte sich im Wesentlichen auf zwei Themen: den Bau von Kanälen und Bewässerungssystemen sowie eine Reform des indischen Pachtwesens. Seit Ende der 1860er Jahre hatte sie sich mit Wasserbaumaßnahmen auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen, dass Bewässerungsmaßnahmen die landwirtschaftliche Produktivität nachhaltig steigern und Kanäle gleichzeitig die Transportmöglichkeiten innerhalb Indiens erheblich verbessern würden. Mit dieser Ansicht stand sie nicht allein, einzelne Maßnahmen waren bereits während der indirekten Herrschaft durch die Britische Ostindien-Kompanie umgesetzt worden. Ihr wichtigster Partner zu Fragen des Wasserbaus war der Ingenieur Arthur Cotton, der in den 1850er Jahren wesentlich daran beteiligt war, den Godavari zu einem der Hauptwasserwege auf dem indischen Subkontinent zu entwickeln.In den 1870er Jahren verhinderten Diskussionen um die Finanzierung und die Frage, ob statt des Baus von Wasserkanälen nicht besser der Schienenverkehr entwickelt werden sollte, einen Ausbau von Bewässerungsanlagen und Wasserwegen. Die Anstrengungen Nightingales, die Kabinettsmitglieder der Regierung Benjamin Disraelis zur Einberufung einer Untersuchungskommission zu bewegen, blieben vergeblich. Erst nach der Hungersnot von 1899, die in Ausmaß und Schwere die vorangegangenen übertraf, berief der indische Generalgouverneur Lord Curzon eine entsprechende Kommission ein, die ebenfalls Wasserbaumaßnahmen als wesentliches Instrument zur besseren Versorgung der indischen Bevölkerung empfahl.
===== Landrechte und Gesundheitsfürsorge =====
Die Ursache für die Armut der indischen Landbevölkerung sah Nightingale in der Form des Pachtwesens. Landpächter, die sogenannten Ryots, waren weitgehend schutzlos der Willkür der Zamindare, den Großgrundbesitzern, ausgesetzt. Es gab zwar immer wieder Gesetzesinitiativen, die illegale Pachtzuschläge, Wucherzinsen und Möglichkeiten zur Zwangsräumung von verpachtetem Land einschränken sollten. Doch blieben diese Maßnahmen halbherzig, da neben den Zamindars auch europäische Pflanzer von einer Stärkung der Rechte der Landbevölkerung betroffen waren.Nightingales Bemühen konzentrierte sich darauf, die britische Öffentlichkeit darüber aufzuklären, und trotz Mäßigungsversuchen durch ihren langjährigen Freund Benjamin Jowett warf sie schließlich dem India Office öffentlich Desinteresse an den Lebensbedingungen der indischen Bevölkerung vor. Große Hoffnung verband sie mit der Ernennung des Liberalen Lord Ripon zum neuen Generalgouverneur in Indien. Sein Amtsantritt fiel mit der Veröffentlichung der Untersuchungskommission zur Hungersnot von 1877/1878 zusammen, die eine Reihe von Maßnahmen empfahl, für die Nightingale seit Beginn der 1870er Jahre geworben hatte, und die Ripon umzusetzen begann. Nightingale, die Ripon als seinen morale-booster („moralische Treibkraft“) bezeichnete, versorgte ihn dabei mit Informationen und Analysen zu einer großen Bandbreite an Themen. Zu Lord Ripons Leistung gehören unter anderem die Ausarbeitung des Land Tenancy Bill, der die Rechte der Ryots stärken sollte, die Gründung agrarwissenschaftlicher Fachabteilungen innerhalb der britischen Verwaltung, Ausbau der Transportwege und eine Rücklagenbildung, um im Fall von Hungersnöten schneller reagieren zu können. Lord Ripon trat schließlich 1884 wegen der Reaktion auf den von ihm vorgelegten Ilbert Bill zurück, der die Rechte der indischen Bevölkerung ausweiten sollte und unter anderem vorsah, dass in Britisch-Indien auch Inder über Briten zu Gericht sitzen konnten.Unter den Mitgliedern des Indischen Nationalkongresses warb Nightingale seit den späten 1880er Jahren für Programme, die die Landbevölkerung mit einfachen Maßnahmen zur Gesundheitsfürsorge vertraut machen sollte. Sie arbeitete außerdem eng mit Lady Dufferin, der Ehefrau des indischen Generalgouverneurs Lord Dufferin, zusammen, deren als Dufferin Fund bekannt gewordene Stiftung indischen Frauen den Zugang zu einer medizinischen Versorgung ermöglichen sollte. Die Stiftung gründete Apotheken und kleine Krankenhäuser. Außerdem richtete sie in größeren Krankenhäusern Stationen ein, die ausschließlich weibliche Patienten aufnahmen, die dort nur von Frauen betreut wurden. Die wesentliche Leistung des Dufferin Fund bestand in der Ausbildung indischer Krankenschwestern, Hebammen und Ärztinnen. Zu den letzten Schriften Nightingales zählen einfache Fibeln zu Themen der Gesundheitsfürsorge, die in verschiedene indische Sprachen übersetzt wurden.
==== Nightingale und Frauenemanzipation ====
Obwohl Nightingale sich für einen Lebensweg außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen ihrer Gesellschaftsschicht und ihrer Zeit entschied, war sie keine Verfechterin der Emanzipation der Frau. Die Historikerin Melanie Phillipps bezeichnet sie sogar als eine ihrer entschiedensten Gegnerinnen. In den 1859 erschienenen Notes on Nursing wandte sich Nightingale unter anderem gegen die Forderung der Frauenrechtlerinnen, Frauen das Medizinstudium zu öffnen. Zu ihren Freundinnen zählte zwar schon in den 1850er Jahren Elizabeth Blackwell, eine der ersten Ärztinnen mit Hochschulabschluss, und beide erwogen gelegentlich eine engere Zusammenarbeit. Auf John Stuart Mills kritische Anmerkungen zu Nightingales Einstellung zur Frauenemanzipation antwortete sie ihm, dass Ärztinnen versuchten, „Männer“ zu sein, aber bestenfalls zu drittklassigen Männern würden, denen jeglicher Einfluss auf eine Verbesserung der medizinischen Fürsorge verwehrt bliebe. Sowohl Phillipps als auch Bostridge sehen Nightingales skeptische Haltung gegenüber der Frauenrechtsbewegung in ihrer Enttäuschung begründet, dass sie nur wenige Frauen der Mittelschicht für die Krankenpflege begeistern konnte. Nightingale war fest davon überzeugt, dass Frauen weit mehr Gelegenheiten zur beruflichen Tätigkeit offenstünden, als diese nutzten. Ihre Einstellung gegenüber Ärztinnen wurde im Laufe der Jahre weniger kritisch, und bei den letzten beiden Ärzten, die sie versorgten, handelte es sich um Frauen.Nightingale befürwortete zwar das Wahlrecht für Frauen, maß ihm aber eine weit geringere Bedeutung bei als einer Verbesserung der Gesundheitsfürsorge. Gemeinsam mit Harriet Martineau, Josephine Butler, Mary Carpenter, Lydia Becker und weiteren 135 Frauen gehört sie jedoch zu den Frauen, die die Petition vom 1. Januar 1870 zur Abschaffung der Contagious Diseases Acts unterzeichneten. Diese Petition, die heute als ein Gründungsdokument des modernen Feminismus gilt, wandte sich gegen eine Kriminalisierung von Prostituierten, während ihre Kunden unbehelligt blieben. Anlass für den Erlass des Gesetzes war die hohe Zahl an britischen Soldaten, die an Geschlechtskrankheiten litten. Nightingale hatte sich bereits 1864 gegen diesen Erlass gewendet, weil er aus ihrer Sicht nicht nur unmoralisch, sondern auch gänzlich ungeeignet war, die Zahl der Erkrankten zu reduzieren. Eine effektivere Maßnahme war aus ihrer Sicht die Schaffung von Quartieren für verheiratete Soldaten und Aufenthaltsräumen, die den Soldaten die Möglichkeit gaben, ihre freie Zeit außerhalb der Vergnügungsviertel der jeweiligen Garnisonsstadt zu verbringen. Als Beleg verwies sie auf das Beispiel der 5th Dragoon Guards, einem Kavallerieregiment, das über solche Einrichtungen verfügte und eine deutlich geringere Fallzahl an Geschlechtskrankheiten aufwies.
=== 1890er bis 1910: Letzte Lebensjahre ===
Ab 1887 litt Nightingale zunehmend unter Sehschwierigkeiten und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch mit großer Mühe in der Lage, zu schreiben oder zu lesen. Ab 1895 klagte sie außerdem über einen zunehmenden Gedächtnisverlust, ab 1896 war sie darüber hinaus weitgehend ans Bett gebunden. Sie versuchte weiterzuarbeiten, so lange es ihr möglich war, und nahm noch Anteil an dem Versuch von Lord und Lady Monteagle, ausgebildete Krankenpflegerinnen in irischen Arbeitshäusern zu etablieren. Ab 1898 ließ man nur noch die engsten Verwandten zu ihr vor, eine Gesellschafterin und eine Krankenpflegerin versorgten sie in ihrem Haus in der South Street.
Es ist nicht sicher, ob ihr noch bewusst wurde, dass König Edward sie in den Order of Merit aufnahm und dass ihr kurz darauf die Stadt London die Auszeichnung Freedom of the City verlieh. Sie starb am 13. August 1910 im Schlaf. Da sie ein offizielles Nationalbegräbnis in der Westminster Abbey zugunsten einer privaten Beisetzung abgelehnt hatte, wurde Nightingale wunschgemäß im Familiengrab bestattet. Die Überführung aus London fand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt.Das Grab Nightingales befindet sich auf dem Friedhof der Church of St. Margaret in Wellow (Test Valley, Hampshire).
== Nachlass ==
Zu Nightingales Nachlass gehören Briefe, Kopien von Briefen und Briefentwürfe, Manuskripte, Tagebücher und Notizen. Die Sammlung ihrer persönlichen Unterlagen und Dokumente, die in der British Library aufbewahrt wird, ist die umfangreichste nach der des britischen Premierministers William Ewart Gladstone und füllt fast zweihundert Bände.Eine weitere umfangreiche Sammlung von Quellen zum Leben von Florence Nightingale befindet sich im Claydon House, dem Familiensitz der Familie Verney, in die Nightingales ältere Schwester Parthenope eingeheiratet hatte. Aufbewahrt werden hier Briefe von Florence Nightingale an ihre Eltern und ihre Schwester sowie ein Teil der Korrespondenz der Nightingale-Familie über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Die umfangreiche Sammlung ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Parthenope Verney den Wunsch ihrer Schwester nicht erfüllte, Teile ihrer Korrespondenz zu vernichten.In den London Metropolitan Archives befindet sich eine dritte Sammlung, deren Schwerpunkt Quellen zur Krankenpflegeschule im St Thomas’ Hospital ist. Quellen zum Leben von Florence Nightingale werden außerdem weltweit in weiteren zweihundert Archiven aufbewahrt. Insgesamt sind allein 14.000 Briefe von Nightingale bekannt. Der älteste stammt aus dem Jahr 1827, als sie sieben Jahre alt war; die jüngsten Briefe stammen aus dem Jahr 1907. Damit gehört ihr Leben zu einem der am besten dokumentierten des viktorianischen Zeitalters.
== Mediale Retrospektive ==
Im Februar 1855 brachte die deutsche Illustrierte Die Gartenlaube einen ersten – sehr wohlwollenden – Bericht über das Wirken von Nightingale während des Krimkrieges unter dem Titel Hospital-Scenen vom Kriegsschauplatze, der drastisch und unverblümt die katastrophale Situation der Kriegsverwundeten schildert.
Die erste Biographie Nightingales erschien 1855. Das dünne, 16-seitige Heftchen, das einen Penny kostete, beschrieb ihre frühen Jahre in einer Weise, die sich auch in anderen Biografien wiederholte, die zu ihren Lebzeiten erschienen: ihr schon früh bewiesenes Mitgefühl mit den Kranken, ihre Fürsorge für Arme und ihre freiwillige Selbstbeschränkung trotz des privilegierten Familienhintergrunds. 1893 wurde ein Teil ihrer Schriften von L. Seymer herausgegeben.Erst die 1913 erschienene Biografie Edward Tyas Cooks brach mit der traditionellen Darstellungsweise von Nightingales Leben. Er erwähnte zwar die zum typischen Erzählkanon gehörenden Geschichten, nach denen Nightingale bereits als junges Mädchen ihre Puppen „gesund“ gepflegt und den verletzten Hütehund Cap versorgt habe, betonte aber seine Skepsis über den Wert solcher Berichte, selbst wenn sie auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen sollten. In einem Brief an Margaret Verney, der Schwiegertochter von Nightingales Schwester Parthenope, schloss Cook nicht aus, dass er möglicherweise die schwierigeren Seiten von Nightingales Charakter überbetont habe. Er habe aber Wert darauf gelegt, sich möglichst weit von den sentimentalisierenden Biografien abzugrenzen, die sie zu einer „Gipsheiligen“ hätten werden lassen.Cook beschrieb Nightingale unter anderem als überaus hartnäckig, ungeduldig und wenig tolerant gegenüber Widerspruch. Sehr offen thematisierte er ihr angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrer Schwester. Breiten Raum in Cooks Biografie nimmt ihre Leistung nach ihrer Rückkehr aus dem Krimkrieg ein, darunter auch ihre zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon weitgehend vergessenen Anstrengungen für eine bessere Gesundheitsfürsorge in Britisch-Indien.Er porträtierte sie aber auch nicht als eine, sondern als die Pionierin der modernen Krankenpflege, womit er die Leistungen von Zeitgenossinnen wie Elizabeth Fry und Mary Jones übersah, und vermittelte dem Leser den Eindruck, dass die Nightingale School of Nursing von Beginn an erfolgreich gewesen sei. Nach Ansicht von Bostridge beeinflusste Cooks Biografie alle darauf folgenden Biografien Nightingales. Dazu zählt auch Lytton Stracheys Essay über sie, der sie als eine Frau darstellt, die ihren Sexualtrieb unterdrückt, um Macht über Männer zu gewinnen.1928 veröffentlichte Ray Strachey eine kurze Geschichte der britischen Frauenbewegung und nahm im Anhang Nightingales Essay Cassandra auf, worin die Autorin das sinnentleerte Leben von Frauen ihrer Schicht thematisiert und den Mangel an selbstbestimmter Zeit beklagt. Nightingale hatte den Essay als Dreißigjährige verfasst und später in einer überarbeiteten Form in ihre Suggestions for thought aufgenommen. Diese waren aber nur als Privatdruck veröffentlicht worden und wurden erst durch Strachey einer breiteren Leserschaft zugänglich. Die Feministin Vera Brittain bezeichnete in einem im Januar 1929 im Manchester Guardian erschienenen Artikel diesen Essay als Todesstoß für die „monströse Legende“ von der „Dame mit der Lampe“. Zu den Lesern von Nightingales Cassandra zählte auch Virginia Woolf. Bostridge vertritt die Auffassung, dass das Beispiel Nightingale wesentlich für Woolfs These war, dass persönliche Privatsphäre wesentlich für Kreativität ist, und nennt als Beleg dafür, dass Woolf in frühen Entwürfen zu Ein Zimmer für sich allein auf Nightingale verhältnismäßig ausführlich eingeht.Die erste filmische Biografie Nightingales wurde 1915 unter der Regie von Maurice Elvey in Großbritannien produziert. Die Filmrollen dieses Stummfilms sind nicht mehr erhalten, erhaltenes Werbematerial zeigt unter anderem eine Szene, in der ein Untertitel Nightingale fälschlich als Gründerin des Roten Kreuzes bezeichnet. Das erste abendfüllende Bühnenstück über Nightingale schrieb die US-Amerikanerin Edigh Gittings Reich 1922, das Stück wurde aber vermutlich nicht sehr häufig aufgeführt. Wesentlich erfolgreicher war das Theaterstück The Lady with a Lamp von Reginald Berkeley, in dem Edith Evans bei der Premiere die Hauptrolle spielte. Berkeley lehnte sich bei der Charakterisierung seiner Hauptfigur stark an den Essay von Lytton Strachey an, führte aber auch romantische Verwicklungen ein. Die offensichtlich von Richard Monckton Milnes inspirierte Figur des Henry Tremayne hält vergeblich um Nightingales Hand an und stirbt in Scutari als verwundeter Soldat in ihren Armen. Als Krankenpflegerin tritt Nightingale in diesem Stück ansonsten nicht in Erscheinung, was einen Kritiker zu der Bemerkung inspirierte, sie sei darin „die heilige Johanna der Hygiene, die von Stimmen zu Abwasserrohren berufen sei“. Aufgrund des Erfolgs des Theaterstücks wurde das Leben Nightingales 1936 auch in Hollywood verfilmt. Der von William Dieterle gedrehte Film The White Angel mit Kay Francis in der Hauptrolle erwies sich nicht als sonderlich erfolgreich.Im Jahr 1937 hielt eine Kritik in der Times Literary Supplement bei einer Besprechung von Margaret Smiths bissiger Nightingale-Biografie fest, dass zeitgenössische Nightingale-Biografien die Tendenz hätten, ihre Neigung zu Sarkasmus, Schärfe und diktatorischer Effizienz genauso überzubetonen wie viktorianische Biografien es mit ihrer Milde und Barmherzigkeit getan hätten. Im Herbst 1950 erschien Cecil Woodham-Smiths Nightingale-Biografie, für die sie neun Jahre lang recherchiert hatte, und die sich um eine neutralere Darstellung bemühte. Das Werk war in Großbritannien ein Verkaufserfolg, wurde sowohl als Hardcover als auch als Taschenbuch mehrfach neu aufgelegt und begründete Woodham-Smiths Ruf als Biografin.
1951 wurde Nightingales Leben mit Anna Neagle als The Lady With a Lamp erneut verfilmt. Julie Harris spielte die Rolle 1964 in The Holy Terror für das US-Fernsehen. Eine Version, die mehr die romantischen Verwicklungen im Hospital in den Vordergrund stellte, wurde 1985 mit Jaclyn Smith und Timothy Dalton ebenfalls für das Fernsehen produziert.
Florence Nightingale wurde auf der Rückseite von britischen 10-Pfund-Banknoten dargestellt, die von 1975 bis 1991 in Umlauf waren.Mark Bostridges 2008 veröffentlichte Biografie gilt als die erste bedeutende seit der von Cecil Woodham Smith. Sie wurde vom Wall Street Journal zu einem der besten Bücher des Jahres 2008 gewählt und 2009 mit dem Elizabeth-Longford-Preis ausgezeichnet.
Die Evangelische Kirche in Deutschland ehrt Florence Nightingale mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 14. August. Ihr Gedenktag für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika und für die anglikanische Kirche ist ihr Todestag, der 13. August.
== Museen ==
London. Das Florence Nightingale Museum in London befindet sich im St Thomas' Hospital gegenüber dem Westminster-Palast an der Themse in Zentral-London.
Istanbul. In Üsküdar, in der ehemaligen Scutari-Kaserne, die jetzt vom türkischen Militär genutzt wird, ist ein Florence-Nightingale-Museum eingerichtet. Ein Besuch ist auf Voranmeldung hin möglich.
== Hospitäler ==
Verschiedene Hospitäler wurden nach Nightingale benannt: in Deutschland das ehemalige Fronbergkrankenhaus in Düsseldorf, in der Türkei unter anderen in Istanbul, Ataşehir und in Şişli. Das Florence Nightingale Maternity Hospital in Waco aus dem Jahr 1937 wurde Anfang der 1950er Jahre geschlossen; der Neubau wurde 1959 nach einem Spender in Hoblitzelle Women’s and Children’s Hospital umbenannt und dem Baylor University Hospital angeschlossen.
== Abgrenzung zur deutschen Krankenpflegegeschichte ==
Die Krankenpflegegeschichte im deutschsprachigen Raum unterscheidet sich von der im britischen, weil in Deutschland und dessen Nachbarn insbesondere die konfessionell geprägten Ordensgemeinschaften einen größeren Einfluss hatten. Im deutschsprachigen Raum lag die Professionalisierung der Pflege in den Händen der Pflegenden in den katholischen Kongregationen bzw. der protestantischen Diakonissen. Nächstenliebe als wesentliche Motivation, Zersplitterung der Berufsorganisationen, Anrede als „Schwester“, niedrige Vergütung, ausgeprägte Hierarchiestufen und geringes Ansehen in der Öffentlichkeit ließen sich laut Anna Sticker nicht zuletzt auch auf diesen geistlichen Ursprung zurückführen. Davon setzten sich im 19. und 20. Jahrhundert die so genannten „Wilden Schwestern“ und die Rot-Kreuz-Schwesternschaften mit ihrem nicht-klerikalen Verständnis der professionell ausgeübten Pflege ab.
== Veröffentlichungen (Auswahl) ==
Notes on matters affecting the health, efficiency, and hospital administration of the British Army founded chiefly on the experience of the late war. Regierungsbericht, 1857
Female Nurses in Military Hospitals. 1857
Subsidiary Notes as to the Introduction of Female Nursing in Military Hospitals in War and Peace. 1858
The sanitary condition of the Army. London 1858
Notes on Nursing; What it is and What it is Not. 1859
Hints on hospitals. London 1859.
Notes on Hospitals. 1859 – 3., vollständig überarbeitete Auflage 1863
Suggestions for Thought to the Searcher after Truth among the Artizans of England. London 1860 (privater Druck)
Observations on the sanitary state of the army in India. 1863.
How people may live and not die in India. London 1864
Suggestions on the Subject of Providing Training and Organising Nurses for the Sick Poor in Workhouse Infirmaries. In: Report of the Committee on Cubic Space of Metropolitan Workouses. 19. Januar 1867, S. 64–69.
Una and the Lion. Good Words, Juni 1868
Introductory Notes on Lying-in Hospitals, together with a Proposal for Organising an Institution for the Training of Midwives and Midwifery Nurses. 1871
Addresses to the Probationer in the Nightingale Fund School at St Thomas’ Hospital, 1872–1900. (Privatdruck)
Life or death in India. 1873.
Letter to the Nurses of the Edinburgh Royal Infirmary. 1878 (Privatdruck)
On Trained Nursing for the Sick Poor. 1881 (Privatdruck)
Health teaching in towns and villages. 1894.
=== Werkausgaben ===
Lynn McDonald (Hrsg.): The Collected Works of Florence Nightingale. 16 Bde. Wilfrid Laurier University Press, Ontario 2001–2012:
Bd. 1: Florence Nightingale. An Introduction to Her Life and Family. (2001)
Bd. 2: Florence Nightingale’s Spiritual Journey. Biblical Annotations, Sermons and Journal Notes. (2002)
Bd. 3: Florence Nightingale’s Theology: Essays, Letters and Journal Notes. (2002)
Bd. 4: Florence Nightingale on Mysticism and Eastern Religions. (hg. v. Gérard Vallée) (2003)
Bd. 5: Florence Nightingale on Society and politics, Philosophy, Science, Education and Literature. (2003)
Bd. 6: Florence Nightingale on Public Health Care. (2004)
Bd. 7: Florence Nightingale’s European Travels. (2004)
Bd. 8: Florence Nightingale on Women, Medicine, Midwifery and Prostitution. (2005)
Bd. 9: Florence Nightingale on Health in India. (hg. v. Gérard Vallée) (2006)
Bd. 10: Florence Nightingale on Social Change in India. (hg. v. Gérard Vallée) (2007)
Bd. 11: Florence Nightingale’s „Suggestions for Thought“. (2008)
Bd. 12: Florence Nightingale. The Nightingale School. (2009)
Bd. 13: Florence Nightingale. Extending Nursing. (2009)
Bd. 14: Florence Nightingale. The Crimean War. (2010)
Bd. 15: Florence Nightingale on Wars and the War Office. (2011)
Bd. 16: Florence Nightingale and Hospital Reform. (2012)
== Literatur ==
Nicolette Bohn: Florence Nightingale. Nur Taten verändern die Welt. Patmos, Ostfildern 2020, ISBN 978-3-8436-1225-8.
I. Bernard Cohen: Florence Nightingale. In: Scientific American. 250 (March 1984), S. 128–137.
Kaiserswerther Diakonie (Hrsg.): Florence Nightingale. Kaiserswerth und die britische Legende. Zum 150-jährigen Jubiläum der Erstveröffentlichung von Florence Nightingales Bericht über die Diakonissenanstalt Kaiserswerth und ihrer Ausbildung in Kaiserswerth. Düsseldorf 2001.
Hedwig Herold-Schmidt: Florence Nightingale. Die Frau hinter der Legende. wbg Theiss, Darmstadt 2020, ISBN 978-3-8062-4055-9.
Gisbert Kranz: Florence Nightingale (1820–1910). In: Ders.: Zwölf Frauen. EOS-Verlag, St. Ottilien 1998. ISBN 3-88096-461-0. S. 357–383.
Sally Lipsey: Mathematical Education in the Life of Florence Nightingale. In: Newsletter of the Association for Women in Mathematics. Vol 23, Number 4 (July-August 1993), S. 11–12.
Lucy Maud Montgomery: Florence Nightingale. Essay. In: Courageous Women.
Peggy Nuttall: The Passionate Statistician. In: Nursing Times. 28 (1983), S. 25–27.
Laura Orvieto: Florence Nightingale. Übersetzerin aus dem Italienischen: Lola Lorme. Zürich 1943, online.
Çaylan Pektekin: Hemşireliğin Üniversiter Düzeye Yükselişinde İstanbul / Nurse’s rise to university level Istanbul. In: Maltepe Üniversitesi / Maltepe University: Journal of Nursing Science and Art Review / Magazin für Krankenpflege als Wissenschaft und Kunst. Symposium Special Issue 2010, S. 75–180, hier: S. 176.
Christoph Schweikhardt; Susanne Schulze-Jaschok: Notes on Nursing – Florence Nightingale. Bemerkungen zur Krankenpflege. Neu übersetzt und kommentiert. Mabuse-Verlag, Frankfurt 2005, ISBN 3-935964-79-X.
Sandra Stinnett: Women in Statistics: Sesquicentennial Activities. In: The American Statistician. May 1990, Vol 44, No. 2, S. 74–80.
Lytton Strachey: Eminent Victorians: Cardinal Manning, Florence Nightingale, Dr. Arnold, General Gordon. London 1918.
Barbara I. Tshisuaka: Nightingale, Florence. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1050.
=== Monographien ===
Edward Tyas Cook: The Life of Florence Nightingale. London 1913, Online: Band 1, Band 2, zuletzt abgerufen am 28. Mai 2020.
Monica E. Baly: Florence Nightingale and the Nursing Legacy. Whurr Publishers, London 1997, ISBN 1-86156-049-4.
Mark Bostridge: Florence Nightingale. Penguin Books, London 2009, ISBN 978-0-14-026392-3.
Barbara Montgomer Dossey: Florence Nightingale – Mystic, Visionary, Healer. Springhouse Corporation, Springhouse 2000, ISBN 0-87434-984-2.
Werner Färber: Wer war Florence Nightingale. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2009, ISBN 978-3-941087-19-4.
Wolfgang Genschorek: Schwester Florence Nightingale. Teubner, Leipzig 1990, ISBN 3-322-00327-2.
Margaret Grier: Florence Nightingale and Statistics. In: Res. Nurse Health. 1 (1978), S. 91–109.
Jharna Gourlay: Florence Nightingale and the Health of the Raj. Ashgate, Burlington 2003, ISBN 0-7546-3364-0.
Melanie Phillips: The Ascent of Woman: A History of the Suffragette Movement and the ideas behind it. Time Warner Book Group, London 2003, ISBN 0-349-11660-1.
Helen Rappaport: No Place for Ladies: The Untold Story of Women in the Crimean War. Aurum Press, London 2007, ISBN 978-1-84513-314-6.
Laura E. Richards: Florence Nightingale, Angel of The Crimea. A Story For Young People. 1909.
Gilbert Sinoué: La dame à la lampe: Une vie de Florence Nightingale. Calmann-Lévy, Paris 2008.
Ulrike Witten: Diakonisches Lernen an Biographien: Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa. EVA, Leipzig 2014, ISBN 978-3-374-03884-8. (Zugleich: Dissertation. Universität Leipzig 2012/2013).
== Siehe auch ==
Internationaler Tag der Pflegenden
(3122) Florence
== Weblinks ==
Literatur von und über Florence Nightingale im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Florence Nightingale in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Werke von Florence Nightingale im Projekt Gutenberg-DE
Biografie, Literatur & Quellen zu Florence Nightingale FemBio des Instituts für Frauen-Biographieforschung
Hellmuth Vensky: Das Vermächtnis der Florence Nightingale Die Zeit, 16. August 2010
Florence Nightingale Museum in London
Die Florence Nightingale Foundation
Mark Bostridge: Florence Nightingale: the Lady with the Lamp Bei BBC (www.bbc – history), 17. Februar 2011
Stimme von Florence Nightingale, aufgenommen im Jahre 1890 (auf YouTube, mit Text, abgerufen am 13. August 2010).
Florence Nightingale, Mutter aller Schwestern Dokufilm von Arte, 1:29 h, abgerufen am 13. März 2022.
== Einzelnachweise ==
(Abgekürzte Buchtitel aus obiger Literatur) | https://de.wikipedia.org/wiki/Florence_Nightingale |
Lutetium | = Lutetium =
Lutetium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Lu und der Ordnungszahl 71. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Wie die anderen Lanthanoide ist Lutetium ein silberglänzendes Schwermetall. Wegen der Lanthanoidenkontraktion besitzen Lutetiumatome den kleinsten Atomradius, außerdem hat das Element die höchste Dichte und den höchsten Schmelz- und Siedepunkt aller Lanthanoide.
Das Element wurde 1907 nahezu gleichzeitig, aber unabhängig voneinander von Georges Urbain, Carl Auer von Welsbach und Charles James entdeckt. Obwohl 1909 entschieden wurde, dass Urbain die Entdeckung zusteht und damit auch der von ihm vorgeschlagene Name Lutetium festgelegt wurde, war besonders im deutschsprachigen Raum die von Carl Auer von Welsbach vorgeschlagene Bezeichnung Cassiopeium (Cp) lange verbreitet.
Lutetium zählt zu den seltensten Seltenerdmetallen und wird darum und infolge der schwierigen Abtrennung von den anderen Lanthanoiden nur in geringem Umfang wirtschaftlich genutzt. Zu den wichtigsten Anwendungen des Elements zählt die Verwendung von Lutetiumoxyorthosilicat für Szintillationszähler in der Endoradiotherapie.
== Geschichte ==
Lutetium wurde 1907 als vorletztes Lanthanoid (nur das radioaktive und damit instabile Promethium wurde später entdeckt) annähernd gleichzeitig und unabhängig voneinander durch drei Chemiker entdeckt. Sowohl der Franzose Georges Urbain, der Österreicher Carl Auer von Welsbach als auch der Amerikaner Charles James untersuchten das 1878 von Jean Charles Galissard de Marignac entdeckte Ytterbium genauer. Urbain berichtete am 4. November 1907 in der Pariser Académie des sciences, dass er durch 800fache Fraktionierung von Ytterbiumnitraten, die er aus Xenotim gewonnen hatte, aus dem Ytterbium von Marignac zwei Elemente erhalten habe. Diese nannte er Neo-ytterbium und Lutecium nach dem alten Namen von Paris, Lutetia.Kurze Zeit später, am 19. Dezember 1907, gab Carl Auer von Welsbach als Ergebnis von Forschungen, die er seit 1905 durchführte, bekannt, dass er aus den Funkenspektren verschiedener Proben, die er durch fraktionierte Kristallisation von Ytterbium-Ammoniumoxalat gewonnen hatte, geschlossen habe, dass dieses aus zwei verschiedenen Elementen bestehen müsse. Diese nannte er Cassiopeium (Cp, nach dem Sternbild Cassiopeia, entspricht Lutetium) und Aldebaranium (Ab, nach dem Stern Aldebaran, entspricht Ytterbium). Er konnte jedoch keine Reinstoffe gewinnen.Auch Charles James arbeitete an der Trennung von Ytterbium mit Hilfe von Ytterbium-Magnesiumnitrat-Salzen und erhielt 1907 größere Mengen der reinen Salze. Nachdem er von der Entdeckung Urbains erfahren hatte, verzichtete er jedoch auf eventuelle Ansprüche auf die Entdeckung des neuen Elements.In der folgenden Zeit kam es zwischen Urbain und Welsbach zu einigen – durch die politischen Gegensätze zwischen Frankreich und Österreich-Ungarn verstärkten – Auseinandersetzungen um die Anerkennung als rechtmäßiger Entdecker des neuen Elements und damit auch um das Recht, den Namen des Elements festzulegen. Der internationale Atomgewichts-Ausschuss, bestehend aus Frank Wigglesworth Clarke, Wilhelm Ostwald, Thomas Edward Thorpe und Georges Urbain, entschied sich 1909 schließlich für Urbain und seine Elementnamen. Allerdings wurde der Name Neo-ytterbium zu Ytterbium geändert. Endgültig wurde der Name Lutetium für das Element 1949 von der IUPAC festgelegt. Bis dahin hatten vor allem viele deutsche Chemiker an der Bezeichnung Cassiopeium festgehalten.Das exakte Atomgewicht wurde 1911 von Theodore William Richards anhand Lutetium(III)-bromid bestimmt, das in 15.000 fraktionierten Kristallisationen gereinigt wurde. Metallisches Lutetium wurde erstmals 1953 hergestellt.
== Vorkommen ==
Lutetium ist auf der Erde ein seltenes Element, seine Häufigkeit in der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 0,8 ppm. Es ist das seltenste Lanthanoid nach dem instabilen Promethium und Thulium, aber häufiger als Elemente wie Silber (0,079 ppm), Quecksilber oder Bismut.
Es sind keine Lutetiumminerale bekannt, das Element kommt immer als Beimengung in anderen Seltenerd-Mineralen, vor allem solchen des Yttriums und der schwereren Lanthanoide, wie Xenotim oder Gadolinit, vor. So enthält Xenotim aus Malaysia neben Yttrium, Dysprosium, Erbium und Ytterbium auch 0,4 % Lutetium. Bastnäsit als Mineral der leichteren Ceriterden enthält dagegen nur Spuren des Elements, Monazit bis zu 0,1 %.Wichtige Quellen für Lutetium sind die Xenotimvorkommen in Malaysia (dort als Begleitmineral von Kassiterit), sowie ionenadsorbierende lateritische Tonminerale in den südchinesischen Provinzen Jiangxi und Guangdong. Aufgrund der schwierigen Gewinnung wird es nur in geringen Mengen hergestellt und eingesetzt und besitzt einen hohen Preis. Aufgrund der geringen Nachfrage wird die Versorgung mit Lutetium nicht als kritisch angesehen.
== Gewinnung und Darstellung ==
Die Gewinnung von Lutetium ist vor allem durch die schwierige Trennung der Lanthanoide kompliziert und langwierig. Die Ausgangsminerale wie Monazit oder Xenotim werden zunächst mit Säuren oder Laugen aufgeschlossen und in Lösung gebracht. Die Trennung des Lutetiums von den anderen Lanthanoiden ist dann durch verschiedene Methoden möglich, wobei die Trennung durch Ionenaustausch die technisch wichtigste Methode für Lutetium darstellt, sowie auch für andere seltene Lanthanoide. Dabei wird die Lösung mit den seltenen Erden auf ein geeignetes Harz aufgetragen, an das die einzelnen Lanthanoid-Ionen unterschiedlich stark binden. Anschließend werden sie in einer Trennsäule mit Hilfe von Komplexbildnern wie EDTA, DTPA oder HEDTA vom Harz gelöst, durch die unterschiedlich starke Bindung an das Harz erzielt man somit die Trennung der einzelnen Lanthanoide.Eine Gewinnung von Lutetiummetall ist durch Reduktion von Lutetiumfluorid mit Calcium bei 1500 bis 1600 °C möglich.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Lutetium ist ein weiches, silberglänzendes Schwermetall. Die Lanthanoidenkontraktion bewirkt, dass Lutetium als das Lanthanoid mit der höchsten Ordnungszahl mit 175 pm den kleinsten Atomradius besitzt. In der Folge besitzt es auch mit 9,84 g/cm3 die höchste Dichte und den höchsten Schmelz- (1652 °C) und Siedepunkt (3330 °C) aller Lanthanoide.
Unter Standardbedingungen kristallisiert Lutetium in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung mit den Gitterparametern a = 351,6 pm und c = 557,3 pm. Neben dieser Struktur sind auch mehrere Hochdruckmodifikationen bekannt. Ab einem Druck von 32 GPa kristallisiert Lutetium in einer Struktur vom Samarium-Typ, einer kompliziert aufgebauten, trigonalen Kristallstruktur, mit den Gitterparametern a = 317,6 pm und c = 2177 pm. Beim Phasenübergang kommt es zu einem Volumenverlust von 1,6 %. Weitere Phasenübergänge gibt es bei einem Druck von 45 GPa, ab dem eine doppelt-hexagonal-dichteste Struktur am stabilsten ist, und bei 88 GPa mit einem Übergang zu einer verzerrten kubisch-dichtesten Struktur (hR24).Unterhalb von 0,1 K, bei einem Druck von 18 GPa unterhalb von 1,2 K, wird Lutetium zum Supraleiter.
=== Chemische Eigenschaften ===
Lutetium ist ein typisches unedles Metall, das, vor allem bei höheren Temperaturen, mit den meisten Nichtmetallen reagiert. Mit Sauerstoff reagiert es bei Standardbedingungen an trockener Luft langsam, schneller bei Anwesenheit von Feuchtigkeit. Metallisches Lutetium ist wie andere unedle Metalle, vor allem bei großer Oberfläche, brennbar. Die Reaktion von Lutetium und Wasserstoff ist nicht vollständig, der Wasserstoff tritt stattdessen in die Oktaederlücken der Metallstruktur ein, und es bilden sich nicht-stöchiometrische Hydridphasen aus, wobei die genaue Zusammensetzung von der Temperatur und dem Wasserstoffdruck abhängt.In Wasser löst sich Lutetium nur langsam, in Säuren schneller unter Wasserstoffbildung. In Lösung liegen immer dreiwertige, farblose Lutetiumionen vor.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 34 Isotope (150Lu bis 184Lu) und 35 Kernisomere des Lutetiums bekannt. Von diesen ist nur 175Lu stabil, und 176Lu ist mit einer Halbwertszeit von 3,8 · 1010 Jahren das langlebigste. Diese beiden Isotope kommen natürlich vor, wobei 175Lu mit einem Anteil von 97,41 % in der natürlichen Isotopenzusammensetzung überwiegt. Daher hat ein Gramm natürliches Lutetium eine geringe Eigenstrahlung von 51,8 Bq. Alle weiteren Isotope besitzen nur kurze Halbwertszeiten, mit einem Maximum von 3,31 Jahren bei 174Lu.Der langsame Zerfall von 176Lu zu 176Hf kann zur Altersbestimmung sehr alter Gesteine verwendet werden. Dabei werden die unterschiedlichen Verhältnisse der Isotope 176Hf und 177Hf bestimmt, und mit dem Verhältnis in Gesteinen bekannten Alters verglichen. Mit dieser Methode gelang eine Altersbestimmung des ältesten bekannten Marsmeteoriten ALH84001 auf 4,091 Milliarden Jahre.Das Radionuklid 177Lu wird – komplexiert mit Liganden wie DOTA – als kurzreichweitiger Betastrahler in der Therapie gegen neuroendokrine Tumoren und Prostatakrebs verwendet.
== Verwendung ==
Metallisches Lutetium hat keine wirtschaftliche Bedeutung, es wird nur in geringen Mengen für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Als Legierung ist das Element wie die anderen Lanthanoide Bestandteil von Mischmetall.In Verbindungen kann Lutetium als Katalysator für das Cracken von Erdöl und für Polymerisationsreaktionen, als Szintillatormaterial in der Positronen-Emissions-Tomographie oder als Dotierungsmittel für Magnetblasenspeicher aus Gadolinium-Gallium-Granat genutzt werden.Ein aktuelles Experiment zeigt, dass ein Stickstoff-dotiertes Lutetium-Hydrid unter Druck von 10 kbar und einer Temperatur von bis zu 21 °C supraleitend wird. Diese Entdeckung ist noch nicht abschließend bestätigt worden.
== Biologische Bedeutung und Toxizität ==
Lutetium besitzt keine biologische Bedeutung und ist nur in äußerst geringen Mengen im menschlichen Körper enthalten. Es wurde bei Versuchen an Ratten festgestellt, dass aufgenommenes Lutetium vor allem in der Leber, in geringeren Mengen auch in Knochen und Milz gespeichert wird.Über toxische Effekte von Lutetium und seinen Verbindungen auf Lebewesen ist wenig bekannt. Bei Ratten wurde für Lutetiumchlorid eine akute Toxizität mit einem LD50-Wert von 315 mg/kg bei intraperitonealer Gabe und 7100 mg/kg für orale Gabe über jeweils sieben Tage bestimmt. Eine chronische Toxizität konnte nicht festgestellt werden. Gelöste Lutetiumionen wirken toxisch für Bakterien wie Aliivibrio fischeri. Lu3+-Ionen besitzen einen EC50-Wert von 1,57 μM und sind damit in der Bakterientoxizität toxischer als Zink- oder Cadmiumionen und vergleichbar mit Kupferionen.
== Verbindungen ==
In Verbindungen kommt Lutetium stets in der Oxidationsstufe +3 vor.
=== Halogenide ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Lutetium jeweils ein Halogenid mit der Verhältnisformel LuX3. Es handelt sich dabei um typische Salze mit Schmelzpunkten zwischen 892 °C (Lutetium(III)-chlorid) und 1184 °C (Lutetium(III)-fluorid). Mit Ausnahme von Lutetiumfluorid, das in einer Terbium(III)-chlorid-Raumstruktur kristallisiert, bilden die Lutetiumhalogenide eine Aluminiumchlorid-Schichtstruktur.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Es sind eine Reihe von metallorganischen Verbindungen bekannt. Verbindungen mit einer direkten Bindung zwischen Lutetium und Kohlenstoff sind nur in geringem Umfang bekannt, da es bei diesen wie bei vielen Übergangsmetallen leicht zu Folgereaktionen wie β-Hydrideliminierungen kommt. Sie sind daher mit sterisch anspruchsvollen Resten wie der tert-Butylgruppe oder einer größeren Zahl kleiner Reste wie in einem Hexamethyllutetat-Komplex [Lu(CH3)6]3+ stabil. Die wichtigsten Liganden des Lutetiums sind Cyclopentadienyl (Cp) und dessen Derivate. Ein Sandwichkomplex des Lutetiums ist jedoch nicht bekannt, die wichtigsten Klassen sind solche mit den Formeln CpLuX2, Cp2LuX und Cp3Lu (X kann dabei ein Halogenid, Hydrid, Alkoxid oder weiteres sein). Bei drei Cyclopentadienyl-Liganden werden zwei Liganden η5, einer η1 als Brücke zu einem weiteren Lutetiumatom gebunden.
=== Weitere Verbindungen ===
Mit Sauerstoff reagiert Lutetium zu Lutetium(III)-oxid, Lu2O3, das wie die anderen dreiwertigen Oxide der schwereren Lanthanoide in der kubischen Lanthanoid-C-Struktur kristallisiert.Die technisch wichtigste Lutetiumverbindung ist Lutetiumoxyorthosilicat. Diese ist, mit Cer dotiert, ein Szintillator und wird in Szintillationszählern in der Positronen-Emissions-Tomographie eingesetzt. Aufgrund der sehr kurzen Abklingzeit von 40 ns hat es dort andere Materialien wie Bismutgermanat verdrängt.Lutetium-Aluminium-Granat (LuAG), beispielsweise mit Europium dotiert, wird unter anderem in Infrarot-Lasern und als Leuchtstoff in weißen Leuchtdioden und Feldemissionsbildschirmen verwendet.Eine Übersicht über Lutetiumverbindungen bietet die Kategorie:Lutetiumverbindung.
== Literatur ==
Ian McGill: Rare Earth Elements. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2005, doi:10.1002/14356007.a22_607.
== Weblinks ==
Eintrag zu Lutetium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 1. Februar 2012.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Lutetium |
Cleveland | = Cleveland =
Cleveland [ˈkliːvlənd] (bis 1831 Cleaveland) ist eine Stadt im Nordosten des US-Bundesstaates Ohio. Sie liegt an der Mündung des Cuyahoga River in den Eriesee und ist 213,47 km² groß. Bei der Volkszählung 2020 hatte sie 372.624 Einwohner und war damit nach der Hauptstadt Columbus die zweitgrößte Stadt in Ohio. Cleveland ist County Seat des Cuyahoga County und geographischer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Cleveland-Elyria-Mentor Metropolitan Statistical Area, des größten Ballungsraums in diesem Bundesstaat mit rund zwei Millionen Einwohnern.
Durch ihre verkehrsgünstige Lage wuchs die Stadt im 19. Jahrhundert rasch zu einem wichtigen Verkehrsknoten und Industriestandort. 1930 war sie mit 900.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt der USA. Infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein fortwährender Niedergang und Bedeutungsverlust ein, verstärkt durch ethnische Konflikte und ein schlechtes Bildungssystem. Dem stehen Bemühungen gegenüber, Dienstleistungsunternehmen anzusiedeln, die Schulbildung zu verbessern und kulturelle Akzente zu setzen.
Cleveland ist Sitz zahlreicher nationaler Großunternehmen, eines der Großen Fünf Symphonieorchester, der United Church of Christ (UCC), eines katholischen Bischofs, mehrerer Profiliga-Sportmannschaften und der Rock and Roll Hall of Fame. Es gibt drei Universitäten, unter ihnen die private Forschungsuniversität Case Western Reserve University mit ihren Universitätskliniken. Der Hafen ist der drittgrößte im Bereich der Großen Seen und über den Sankt-Lorenz-Strom mit dem Atlantik verbunden.
Politisch gilt Cleveland als Hochburg der Demokraten. In der Vergangenheit hatten zudem progressivistische Strömungen und die Gewerkschaften großen Einfluss.
== Geographie ==
=== Lage und Ausdehnung ===
Cleveland liegt im Nordosten von Ohio am Südufer des Eriesees, 150 km Luftlinie von Toledo am westlichen und 280 km von Buffalo am östlichen Ende des Sees entfernt sowie rund 145 km südöstlich von Detroit und knapp 100 km westlich der Grenze von Ohio zu Pennsylvania. Das Stadtgebiet ist 213,47 km² groß (davon sind 200,93 km² Landfläche) und erstreckt sich mit einer Unterbrechung durch die Gemeinde Bratenahl über 22,5 Kilometer entlang des Seeufers sowie unregelmäßig bis zu 14,5 Kilometer tief ins Landesinnere. Die Stadt liegt zu beiden Seiten der Mündung des Cuyahoga in den See, wobei sich etwa zwei Drittel des Stadtgebietes und der Stadtkern östlich davon befinden. Der zugehörige Bezirk, das Cuyahoga County, umgibt die Stadt gleichmäßig von allen drei Seiten und bildet zusammen mit vier der fünf angrenzenden Countys das Cleveland-Elyria-Mentor Metropolitan Statistical Area, umgangssprachlich Greater Cleveland (deutsch Groß-Cleveland) genannt.
Wirtschaftsgeographisch gesehen liegt Cleveland inmitten des Rust Belt und früheren Manufacturing Belt, des dicht besiedelten, ersten Industriegebiets der USA, dessen einstige Zentren heute vielfach vom Niedergang der Schwerindustrie gekennzeichnet sind.
=== Topographie ===
Die Gegend um Cleveland bildet den Schnittpunkt dreier Großlandschaften. Die Stadt selbst liegt am südlichen Rand der Ebene der Großen Seen. Richtung Südwesten öffnet sich das Zentrale Tiefland, die fruchtbare Prärielandschaft des Mittelwestens. Im Südosten schließt mit dem Allegheny-Plateau eine von eiszeitlichen Gletschern geformte Moränenhügellandschaft an, die bis zum Gebirgszug der Appalachen reicht.
Die Uferlinie des Eriesee beschreibt im Bereich der Flussmündung einen scharfen Knick von West-Ost-Richtung in nordöstliche Richtung. Die Böschung steigt in südöstlicher Richtung terrassenförmig an und fällt zum See hin steil ab. Das Stadtzentrum 750 Meter landeinwärts liegt bereits 25 Meter über dem Seespiegel. Die Böschung ist von einigen Fließgewässern durchzogen, die tiefe Schluchten geschaffen haben. Die mit Abstand größte bildet das Tal des Cuyahoga, die sogenannten Flats, mit einer Breite von rund 800 Metern. Dieses Tal hat die Stadtentwicklung in Richtung Südwesten lange Zeit behindert und wird heute von einigen hohen Brücken überspannt.
=== Stadtgliederung ===
Die Stadt gliedert sich in 36 Stadtbezirke, die sogenannten Neighborhoods, verwaltungstechnisch Statistical Planning Areas (SPAs). Diese fassen jeweils mehrere Census Tracts der US-Volkszählung zusammen und haben zwischen 1.200 und 35.000 Einwohnern. Ihre Namen und Grenzen sind vielfach deckungsgleich mit ehemals selbständigen Verwaltungseinheiten, die in etwa zwischen 1850 und 1925 eingemeindet wurden. Verwaltungstechnisch haben die Neighborhoods heute bis auf den Streifendienst der Polizei keinerlei Bedeutung mehr. Auch ihre einstige kulturelle Eigenständigkeit ist infolge jahrzehntelanger Wanderungsbewegungen weitgehend verloren gegangen. Immer noch vorhanden ist dagegen eine gewisse soziale Identität. Unter anderem dienen sie als Bezeichnung für die einzelnen Wohnviertel, und auch verschiedene Programme zur Stadterneuerung orientieren sich an diesen Grenzen und Namen.
Darüber hinaus teilt der Cuyahoga die Stadt großräumig in eine östliche und eine westliche Hälfte, die als East Side und West Side (deutsch Ostseite und Westseite) bezeichnet werden. Der südwestliche Teil der East Side, der zwischen der Broadway Avenue und dem Cuyahoga liegt, wird auch als South Side (deutsch Südseite) bezeichnet.
=== Bebauung ===
Die geschlossene Bebauung hat sich im Laufe zweier Jahrhunderte immer weiter nach außen ausgedehnt und erstreckt sich mittlerweile über einen Radius von etwa 25 km um das Stadtzentrum. Mit der Bebauung wuchs zu Beginn auch das Stadtgebiet durch entsprechende Eingemeindungen. Weil diese im Gegensatz zur Siedlungstätigkeit bereits um 1925 zu Ende gingen, erstreckt sich die zusammenhängende Bebauung heute bis weit über die Stadtgrenzen hinaus, nahezu auf den gesamten Cuyahoga County.Die einst bedeutenden Industrieanlagen erstrecken sich hauptsächlich entlang des Seeufers im Bereich des Stadtkerns sowie entlang des Cuyahoga rund 15 Kilometer weit ins Landesinnere. Weitere Standorte befinden sich in der östlichen Vorstadt sowie entlang der sternförmig ausgehenden Bahnlinien. Infolge des Niedergangs der Schwerindustrie liegen diese Flächen zu erheblichen Teilen brach. Die Stadt bemüht sich, diese im Bereich der Innenstadt für kulturelle Zwecke nutzbar zu machen.
Die Bebauung ist im Bereich des Stadtzentrums sowie in den Flats am dichtesten, wobei das östliche Hochufer ein deutliches Übergewicht besitzt. An der East 55th Street bricht die geschlossene Bebauung nach Osten hin schlagartig ab und geht in einen rund 50 Häuserblocks breiten Streifen mit auffallend ausgedünnter Bebauung über. Den ideellen Mittelpunkt der Stadt bildet der quadratische Hauptplatz namens Public Square am östlichen Hochufer.
=== Vororte im Umland ===
Die Vororte im Umland sind vorwiegend Wohngemeinden. Sie sind zwischen 0,2 und 64 km2 groß und haben zwischen hundert und mehreren zehntausend Einwohnern. Die größten davon sind Parma im Südwesten mit rund 85.700 Einwohnern (Stand Census 2000), gefolgt von Lakewood im Westen (56.700 Einwohner), Euclid im Nordosten (52.700 Einwohner) sowie Cleveland Heights im Osten (50.000 Einwohner). Nennenswerte Industriegebiete befinden sich außer im Tal des Cuyahoga auch in Euclid im Nordosten, in Brook Park und in Parma im Südwesten sowie in Solon im äußeren Südosten. In einigen weiter außen liegenden Vororten sind zudem Einkaufszentren und Gewerbegebiete entstanden.
Die Bebauung geht an der Stadtgrenze fließend in die Vororte über. Mit zunehmender Entfernung zum Stadtzentrum werden dabei sowohl die Bevölkerung als auch die Bausubstanz tendenziell jünger. Auch die Bevölkerungsdichte nimmt nach außen hin spürbar ab, wohingegen der sichtbare materielle Wohlstand und der Anteil an selbstgenutztem Wohneigentum ansteigt.Clevelands Vororte sind in insgesamt fünf Etappen entstanden. Ihre Lage zu den Hauptverkehrswegen und die Entfernung von Clevelands Stadtkern sind Ausdruck der in der jeweiligen Epoche vorherrschenden Verkehrsmittelwahl und der zugehörigen Reisegeschwindigkeit.
=== Klima ===
Durch seine Lage, unweit der große Teile Südostkanadas umspannenden borealen Klimazone, herrscht in Cleveland ein kaltgemäßigtes Klima (effektive Klimaklassifikation Dfa). Die Jahreszeiten sind kontinentaltypisch stark ausgeprägt mit warmen, feuchten Sommern und kalten, schneereichen Wintern. In den ersten Wintermonaten tritt vor allem bei westlicher Windrichtung mit dem Lake Effect Snow ein regionales Klima auf, das durch heftige Schneefälle gekennzeichnet ist. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 10,5 Grad Celsius.
Cleveland hat den Ruf, ein sehr kalter Ort zu sein. Die Monatsmitteltemperaturen der Wintermonate Dezember, Januar und Februar liegen zwischen −0,5 und −3,5 °C; strenge Fröste bis unter −15 °C sind in dieser Jahreszeit keine Seltenheit. Häufig fühlen sich die Temperaturen durch den Windchill-Effekt noch kälter an. Jedoch können Wärmeeinbrüche die Temperaturen in den Wintermonaten vorübergehend bis jenseits der 15 °C ansteigen lassen. Die bisher niedrigste Temperatur wurde am 19. Januar 1994 mit −28,8 °C gemessen.Die Sommermonate Juni, Juli und August sind am wärmsten mit Durchschnittshöchstwerten von 26,9 bis 29,3 °C. In dieser Zeit kann die Temperatur zeitweilig auf über 30 °C ansteigen. Die höchste Temperatur wurde am 25. Juni 1988 mit 40 °C gemessen. Außerdem wirkt das Wasser des Eriesee als Temperaturspeicher und zögert die Erwärmung der Luft im Frühjahr hinaus, während es im Herbst länger warm bleibt.Die Niederschläge verteilen sich über das ganze Jahr, im Sommer als Regen und in den Wintermonaten als Schnee. Die geringsten Niederschläge sind im Oktober zu verzeichnen, sowie im Spätwinter, wenn der Eriesee zugefroren ist und der Lake Effect Snow nicht mehr auftritt. Die Jahresniederschlagsmenge liegt im Mittel bei moderaten 932 mm.
Cleveland liegt am westlichen Ende des sogenannten Snow Belt und ist damit vom Lake Effect Snow auf besondere Art betroffen. Die Ursachen sind der Knick in der Uferlinie Richtung Nordosten, die Lage auf der Leeseite des Sees und der starke Anstieg des Geländes nach Südosten hin. Somit treffen die feuchten Luftmassen bei westnordwestlicher Windrichtung des Seewindes nur auf den Bereich östlich und nordöstlich der Innenstadt. Dadurch können diese Stadtteile im Winter innerhalb weniger Stunden unter dezimeterhohen Schneemassen versinken, während südlich und westlich davon gleichzeitig nur geringer Niederschlag zu verzeichnen ist. Diese Verteilung der Niederschläge ist in abgeschwächter Form auch in den Sommermonaten zu beobachten.
== Geschichte ==
=== Voreuropäische Besiedelung ===
Die ältesten Spuren menschlicher Besiedelung gehen auf die Paläoindianer zurück und datieren aus der Zeit zwischen 10500 und 7500 v. Chr., etwa 2500 Jahre nach Ende der letzten Eiszeit. Die Gruppen, wohl Großfamilien, lebten zunächst nomadisch, ab der mittleren Archaischen Periode nach 4500 v. Chr. wurden sie zunehmend sesshaft. Eine größere Siedlung bestand im äußersten Westen Clevelands, dort wo der Hilliard Boulevard den Rocky River überquert. Erstmals sind abgrenzbare Territorien nachweisbar, innerhalb derer saisonale Wanderungen inzwischen angewachsener und sozial stärker differenzierter Gruppen stattfanden. Sie betrieben einfachen Gartenbau, vor allem mit Kürbissen, Nüsse spielten ebenfalls eine wichtige Rolle.Aus der Woodland-Periode (500 v. Chr.–1200 n. Chr.), die etwa durch die aufkommende Fertigung von Keramik gekennzeichnet ist, sind Begräbnishügel (Mounds) sowie Überreste befestigter Kleinsiedlungen zu verzeichnen, die der Adena- und vor allem der nachfolgenden, hochentwickelten Hopewell-Kultur zuzuordnen sind und mehrheitlich auf den Hochufern des Cuyahoga liegen. Großdörfer dominierten und ab etwa 400 der Anbau von Mais, der schon sehr früh vorhandene Fernhandel weitete sich aus.Der Hopewell- folgte um 1200 die sogenannte Whittlesey-Kultur, die sich durch fortgeschrittene Landwirtschaft und Siedlungsbau auszeichnet. Sie war Teil der weiter südlich noch stärker vorherrschenden Mississippi-Kultur. Die Bevölkerung stieg bis etwa 1500 weiter an, zudem nahm die Sesshaftigkeit ab etwa 1350 deutlich zu und feste Gebiete bestimmter Familien werden fassbar.Im Laufe der Kleinen Eiszeit (1500–1640) ging die Bevölkerung offenbar stark zurück, möglicherweise infolge der klimatischen Veränderungen oder im Zuge der Biberkriege der Irokesen. So ist zwischen 1640 und 1740 gar keine Siedlungstätigkeit zu verzeichnen. Auch bei der Ankunft der Europäer Ende des 18. Jahrhunderts war die Gegend immer noch nahezu unbewohnt.
=== Gründung und Anfangsjahre ===
Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchte der US-Bundesstaat Connecticut einen Landstrich im Nordosten des heutigen Ohio, die Connecticut Western Reserve. Dieses Land wurde ab 1796 an Siedler vergeben. Im Zuge der Landvermessungen durch General Moses Cleaveland gründete dieser am 22. Juli 1796 an der Mündung des Cuyahoga in den Eriesee einen Hafen, der nach ihm zunächst „Cleaveland“ genannt wurde.1818 wurden die ersten zwei Zeitungen gegründet; in den nächsten Jahren kamen neben weiteren englischsprachigen Zeitungen auch Blätter auf Deutsch, Hebräisch, Italienisch und Ungarisch hinzu. Einer dieser Zeitungen, dem Cleveland Advertiser, verdankt die Stadt ihre Umbenennung: da die ursprüngliche Schreibweise des Namens einen Buchstaben zu lang für die Titelzeile war, entfernte die Zeitung das erste ‚a‘ aus „Cleaveland“, behauptete, das sei amtlich – und kam damit durch. Am 6. Januar 1831 wurde die Stadt offiziell in „Cleveland“ umbenannt.Cleveland war von Beginn an der geographische, wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der Western Reserve. So wurde etwa bei der Gründung des Cuyahoga County im Jahr 1810 Cleveland als Kreissitz gewählt, vier Jahre vor der Ausgründung als eigenständige Gemeinde. 1836 wurde Cleveland mit als erster Ort der Western Reserve zur Stadt erhoben, 1847 das katholische Bistum gegründet. Auch andere wichtige Einrichtungen wie Ärzte, Schulen oder Banken saßen bis auf wenige Ausnahmen von Beginn an in Cleveland. Einzig wirtschaftliche Rivalitäten mit der Stadt Ohio City am anderen Ufer des Cuyahoga sorgten in den ersten Jahrzehnten für teils gewalttätige politische Auseinandersetzungen. Diese entschied Cleveland letztlich für sich.
=== Bürgerkrieg und Industrialisierung ===
Zunächst entwickelte sich Cleveland nur schleppend. Doch mit Eröffnung des Eriekanals 1825 und des Ohio-Erie-Kanals 1832 war die Stadt mit dem Atlantik und dem Mississippi verbunden und damit an internationale Seeschifffahrtswege angeschlossen. Das und der Bau der Eisenbahnverbindungen in die rohstoffreichen Appalachen ab 1849 führten zu einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt. Cleveland wurde ein wichtiges Zentrum der Rohstoff verarbeitenden Industrie. 1868 wurde das erste Stahlwerk eingeweiht, 1870 gründete die Standard Oil Company von John D. Rockefeller (1839–1937) hier ihre erste Erdölraffinerie. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich Cleveland zu einem bedeutenden Standort der Stahl erzeugenden und der petrochemischen Industrie.
Wesentlichen Anteil an der Industrialisierung der Stadt hatte dabei der Sezessionskrieg (1861–1865). Ansässige Firmen produzierten Uniformen, Tabakwaren, Stahl, Dampfschiffe, Lafetten und Eisenbahnschienen. 1864 wurde mehr als die Hälfte der gesamten Eisenerzproduktion vom Oberen See in Cleveland verarbeitet. Ferner waren Reedereien und zahlreiche Handelsunternehmen ansässig, acht Bahngesellschaften unterhielten Niederlassungen.Nach der Jahrhundertwende wuchs Cleveland zum – nach Detroit – zweitgrößten Standort der US-Automobilindustrie heran. Die ansässigen Betriebe konzentrierten sich dabei vor allem auf die Entwicklung und Produktion von Baugruppen, Autozubehör und Ersatzteilen. Bedeutende Fabriken unterhielten White Motor (Dampfwagen und später schwere Lkw), Eaton (Getriebe), Willard/EnerSys (Batterien), Fisher Body (Karosserien), Baker/Otis (Elektrofahrzeuge), Ford (Motoren), General Motors (Automatikgetriebe, Dieselmotoren) und Thompson/TRW. Ab 1910 kam als vierter wichtiger Wirtschaftszweig die elektrotechnische Industrie hinzu. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zudem Boeing-B-29-Bomber und Jagdflugzeuge vom Typ Fisher P-75 in Cleveland montiert.
=== Große Depression und wirtschaftliche Erholung ===
Erste Rückschläge ereilten Cleveland während der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre. 1933 war fast ein Drittel aller Einwohner arbeitslos. Dazu hatte die Stadt mit wachsender Kriminalität zu kämpfen. Cleveland hatte sich in der Zeit der Prohibition (1919–1933) zu einem Zentrum der Organisierten Kriminalität und des illegalen Glücksspiels entwickelt. Dazu kam ein über Jahrzehnte hinweg korrupter und ineffizienter Polizeiapparat.
In den Jahren 1936/37 fand am Seeufer vor der Innenstadt die Great Lakes Exposition statt. Die Veranstaltung ähnlich einer Weltausstellung entstand auf Initiative der örtlichen Politik und Wirtschaft und zog innerhalb dieser zwei Jahre insgesamt 7 Millionen Besucher an. Zur gleichen Zeit wurde als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im Zuge des rooseveltschen New Deal am Seeufer vor der Innenstadt der Memorial Shoreway gebaut, Clevelands erste Schnellstraße. Auf der Baustelle waren zeitweise 10.000 Arbeitskräfte eingesetzt.Ende der 1930er Jahre erholte sich die Wirtschaft der Stadt nochmals. Die Einwohnerzahl wuchs weiter und erreichte 1950 mit rund 915.000 Personen ihren Höchststand. Cleveland war damit die fünftgrößte Stadt der USA. Die ansässigen American-Football- und Baseballmannschaften, die Browns und die Indians, gewannen die Finalrunden ihrer Ligen teils mehrmals hintereinander. 1949 gehörte Cleveland zu den ersten Preisträgern der All-American City, und in den Nachkriegsjahrzehnten wurde die Stadt als best location in the nation (deutsch: „die beste Lage der Nation“) vermarktet.
=== Wirtschaftskrise und Strukturwandel ===
Nach Ende des Booms in den Nachkriegsjahren geriet Clevelands Industrie jedoch infolge der zunehmenden Öffnung der Weltmärkte ins Hintertreffen. Viele der ansässigen Firmen waren im Vergleich zu internationalen Wettbewerbern nicht konkurrenzfähig. Die Stahlindustrie hatte im Zuge der Stahlkrise zu Beginn der 1970er Jahre mit hohen Lohnkosten und der zunehmenden Konkurrenz durch billigen Importstahl aus Übersee zu kämpfen. Die Autohersteller hatten im Laufe der Zeit hohe Überkapazitäten aufgebaut, litten unter Missmanagement und gerieten durch die Ölkrise und neue Konkurrenten aus Europa und Japan unter Druck. Dazu kamen vielfach veraltete Produktionsanlagen und verschärfte Umweltauflagen. Der Cuyahoga war inzwischen so verschmutzt, dass seine brennbare Oberfläche 1952 und 1969 Feuer fing. Der brennende Fluss erregte im ganzen Land Aufsehen, was die Politik zum Handeln zwang. Die Industrie hatte jahrzehntelang insbesondere den Fluss bedenkenlos mit ungeklärten Abwässern belastet, nun standen kostspielige Umbauten an, die sich die Eigentümer vielfach nicht leisten konnten oder wollten. Viele Betriebe mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit stieg und sehr viele Menschen wanderten ab. Cleveland verarmte. Aus dieser Zeit stammt auch ein zynischer Ausdruck, der bis heute oft als Synonym für die Stadt verwendet wird: The mistake on the lake (deutsch: „Der Irrtum am See“). Einige Jahre später widmete der Songwriter Randy Newman der Stadt den Song Burn On, in dem er den Ort 1972 sarkastisch als „City of Light, City of Magic“ verspottete und auf den Brand des Cuyahoga anspielte: „The Cuyahoga River runs smoking through my dreams“.
Zusätzlich zur schlechten Wirtschaftslage begannen Rassenunruhen die Bürger zu verunsichern. Ein einwöchiger Aufstand vom 18. bis zum 24. Juli 1966 führte zu Neuwahlen des Bürgermeisters, die 1967 mit Carl B. Stokes den ersten schwarzen Bürgermeister einer amerikanischen Großstadt hervorbrachten. Doch den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt konnten auch er und seine Nachfolger nicht beenden: Am 15. Dezember 1978 musste sich Cleveland als erste Stadt nach der Großen Depression der 1930er-Jahre für zahlungsunfähig erklären. Erst 1987 konnte dieser Schritt zurückgenommen werden.Mit dem Niedergang der Schwerindustrie verlagerte sich der ökonomische Schwerpunkt der Stadt im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auf die Dienstleistungsbranche. Mittlerweile sind die größten Arbeitgeber in diesem Sektor zu finden, vornehmlich bei Banken, Versicherungen, im Öffentlichen Dienst und im Gesundheitswesen, dort vor allem bei den Universitätskliniken und der renommierten Cleveland Clinic.
Auch der Fremdenverkehr hat an Bedeutung gewonnen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Gründung des Museums Rock and Roll Hall of Fame im Jahr 1995, das sich wichtigen und einflussreichen Persönlichkeiten im Umfeld des Rock ’n’ Roll widmet. Weitere touristische Bauten und Veranstaltungen sollen helfen, den Verfall der Stadt aufzuhalten. Doch die Stadt steht immer noch vor großen Problemen. Pro Jahr wandern mehrere Tausend Bewohner ab; die noch verbliebene Bevölkerung leidet vielfach unter Armut, schlechter Schulbildung und hoher, vor allem strukturell bedingter Arbeitslosigkeit. Dazu stehen Tausende Wohngebäude leer.
Der Niedergang Clevelands war mehrfach Gegenstand der Forschung. Die Ursachen werden dabei nicht nur in der verschärften Wettbewerbssituation gesehen, sondern auch in einer nachlassenden Innovationskraft der etablierten Industrien, einem sich verschlechterten sozialen und unternehmerischen Klima sowie in dem im Vergleich zu den südlichen Küstenregionen wie etwa dem Silicon Valley recht rauen meteorologischen Klima vor Ort. So wuchs etwa nach der Automobil- und Elektroindustrie kein neuer Industriezweig mehr nach. Bereits bei der nach dem Zweiten Weltkrieg wichtigen Luft- und Raumfahrttechnik konnte Cleveland nicht mehr mithalten. Abgesehen davon waren die negativen Langzeitwirkungen der Großen Depression auf die örtliche Wirtschaft offenbar weit größer als anfänglich gedacht und wurden lediglich vom Boom der Nachkriegsjahre überdeckt.Für eine mögliche Trendumkehr müsse Kritikern zufolge vor allem die örtliche Bürokratie verringert und die Schulbildung verbessert werden. Darüber hinaus solle sich die Stadt gezielt um die Anwerbung qualifizierter Zuwanderer und ein besseres Investitionsklima bemühen. Potenzial habe Cleveland jedenfalls genug. Auch die Lebensqualität habe sich in den letzten Jahren stark verbessert.
== Bevölkerung ==
=== Ethnische Struktur ===
Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2010 kam Cleveland auf 396.815 Einwohner. Die Stadt ist mit einem Anteil von 51 % Afroamerikanern die einzige Großstadt in Ohio mit mehrheitlich schwarzer Wohnbevölkerung. Der Anteil liegt damit weit höher als etwa in Ohio (11,5 %) oder im US-Durchschnitt (12,3 %), wie es für industriell geprägte Großstädte im Norden der Vereinigten Staaten typisch ist. Zudem bilden die rund 244.000 Afroamerikaner die größte schwarze Gemeinde in Ohio überhaupt.Zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind die Weißen mit einem Anteil von 41,5 %. Dazu kommen rund 1.500 Indianer und 6.500 Asiaten sowie 17.200 Angehörige anderer Ethnien und 10.700 Personen mit gemischtem ethnischen Hintergrund. Als Hispanics betrachten sich 7,3 % der Gesamtbevölkerung; knapp drei Viertel von ihnen stammen aus Puerto Rico.Unter der weißen Bevölkerung haben Familien mit deutschen Vorfahren mit 22,25 % den größten Anteil, gefolgt von Iren (19,65 %), Polen (11,58 %) und Italienern (11,1 %). Englische Wurzeln gaben dagegen nur 6,63 % an. Der hohe Anteil deutschstämmiger Bevölkerung ist dabei typisch für Ohio (21,42 %), der vergleichsweise geringe Anteil an Engländern ist kennzeichnend für den Nordosten des Bundesstaates.Das Stadtgebiet ist zwischen den verschiedenen Ethnien stark segregiert. Während die weißen Bevölkerungsgruppen im westlichen und südlichen Teil der West Side, an der South Side sowie am Ufer des Eriesee wohnen, leben die Schwarzen fast ausschließlich auf der East Side, vornehmlich östlich der East 55th Street. Die Hispanics wohnen an der inneren West Side, und die asiatischstämmigen Bevölkerungsgruppen konzentrieren sich auf der inneren East Side, unmittelbar hinter der Innenstadt.
=== Situation der Indianer ===
Da Cleveland in einem Gebiet entstand, das auch für die dortigen Bewohner noch recht junges Siedlungsland war, blieb die Zahl der Indianer in der Stadt lange Zeit gering. Die Volkszählung von 1900 weist für Cleveland nur zwei Indianer auf, 1910 waren es 48 und 1920 nur 34. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Zahl auf 109 im Jahr 1950, dazu kamen 57 Indianer im Cuyahoga County. Bis in die 1970er Jahre stieg, entsprechend dem Bedarf an Arbeitskräften, auch die Zahl der Indianer. 1960 wohnten bereits 391 in der Stadt, im County 464. In dieser Zeit setzten verstärkt Assimilationsversuche ein, eingeleitet durch die Auflösung der Reservate im Zuge des Urban Indian Relocation Program. 1952 war Cleveland eine der ersten acht Städte in den USA, die an diesem Programm teilnahmen. Zahlreiche Indianer siedelten sich daraufhin in und um Cleveland an, ihre Zahl stieg bald auf über 5.000. Die meisten von ihnen kamen aus dem Westen. Um 1980 zogen jedoch viele Indianer, ihrer kulturellen Wurzeln bewusster geworden, wieder zu ihren Familien in die Reservate.Russell Means, ein Dakota-Sioux, wurde im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung der wichtigste Indianerführer in Cleveland. Er gründete 1969 das Kultur- und Sozialzentrum Cleveland American Indian Center, zu dem 1.200 Indianer gehörten. Zunächst standen soziale Aufgaben zugunsten der meist armen Mitglieder im Vordergrund, doch im Laufe der 70er Jahre kamen kulturelle Aufgaben hinzu. 1990 entstand zudem die Indianervereinigung Lake Erie Native American Council (LENAC), dazu kam 1992 anlässlich der 500-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus das 500-Year Committee.Im Greater Cleveland wurden 1980 genau 1.603 Indianer gezählt, 1990 waren es bereits wieder 2.706. 2000 lebten 2.529 Indianer im County, davon 1.458 in Cleveland selbst.
=== Bevölkerungsentwicklung ===
In den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung war Cleveland ein wirtschaftlich unbedeutender und für Zuwanderer wenig attraktiver Ort. Im Jahr 1800, vier Jahre nach der Gründung, wurden sieben Einwohner (und eine Schnapsbrennerei) verzeichnet, 1830 waren es gut 1000 Einwohner. Erst nach Eröffnung der Kanäle und dem Bau der Eisenbahnen stieg die Bevölkerungszahl rasch an. Schon 1850 fand sich Cleveland unter den 50 größten Städten der USA; um 1900 war Cleveland mit über 380.000 Einwohnern bereits die siebtgrößte Stadt des Landes. Das Jahr 1950 markierte mit 914.808 Einwohnern den Höhepunkt der Population – wie auch in vielen anderen Industriestädten im Nordosten der USA. Seit diesem Höchststand ist die Einwohnerzahl um mehr als die Hälfte gesunken.
¹ 1980–2020: Volkszählungsergebnisse des US Census Bureau
=== Wanderungsbewegungen und soziale Probleme ===
Die Einwanderer der ersten Jahrzehnte stammten vornehmlich von den Britischen Inseln und Mitteleuropa. Ab 1870 wanderten verstärkt Osteuropäer und Deutsche ein. Die Deutschamerikaner bildeten um 1900 mit 40.000 Personen die größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt. Um 1930 war Cleveland zudem mit 43.000 Personen die größte ungarische Siedlung außerhalb Europas. Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Zuwanderung aus den meisten europäischen Staaten allerdings aufgrund der veränderten Gesetzeslage schlagartig.Nachdem aber auch weiterhin Arbeitskräfte für die Industrie gebraucht wurden, wurden vermehrt Schwarze aus dem armen Südosten der USA angeworben, die im Rahmen der Great Migration in die Industriestädte des Nordens zogen. Diese wanderten bis etwa 1970 und in großer Zahl ein, blieben aber im Gegensatz zu den Europäern meistens sozial schlecht integriert, arm und schlecht ausgebildet. Als die industrielle Basis nach und nach wegbrach, blieben zehntausende Schwarze ohne Ausbildung in der Arbeitslosigkeit zurück.Gleichzeitig setzte aufgrund sozialer und ethnischer Spannungen eine massive Abwanderung weißer Bevölkerungsgruppen in die Vororte (White Flight) ein. Da die Schwarzen mehrheitlich in Cleveland blieben, stieg ihr Anteil bei rapide sinkender Gesamtbevölkerung von 28,5 % (1960) auf 51 % (2000) an. In den letzten Jahren wanderte jedoch auch die wachsende schwarze Mittelschicht in die östlichen Vororte ab, so dass die Stadt insgesamt immer weiter verarmt und sich entvölkert. Einige Stadtteile an der East Side haben dadurch seit 1950 über drei Viertel ihrer Einwohner verloren.Der Niedergang der Industrie und die über Jahrzehnte andauernde Segregation und Abwanderung haben erhebliche Probleme mit sich gebracht. Cleveland hat für den anhaltenden Strukturwandel zu wenig qualifizierte Zuwanderer und zu wenig Hochqualifizierte. Stattdessen herrschen in weiten Bereichen soziale Randgruppen vor. Rund ein Drittel der Bevölkerung besitzt keinen Schulabschluss, viele Bewohner sind alleinerziehend oder stammen aus problematischen Familienverhältnissen und können somit auf dem Arbeitsmarkt nur sehr schwer vermittelt werden.
Gleichzeitig mangelt es an billigem Wohnraum, was sich in einer hohen Zahl von Wohnungslosen bemerkbar macht. 2007 gab es im County schätzungsweise rund 20.000 Personen ohne gesicherten Wohnsitz, das entspricht etwa 1,5 % der Gesamtbevölkerung. Etwa ein Fünftel davon, 4.300 Personen, waren gänzlich obdachlos, lebten also dauerhaft auf der Straße. Rund 40 % der männlichen Wohnungslosen haben zwar eine Arbeitsstelle, können sich aber trotzdem keine Mietwohnung leisten.
=== Kriminalität ===
Die Kriminalität ist in Cleveland im Laufe der letzten Jahre beinahe stetig zurückgegangen. 2009 wurden rund 20 % weniger Delikte verzeichnet als noch rund zehn Jahre zuvor. Dennoch gehört Cleveland immer noch zu den vergleichsweise gefährlichen Großstädten der USA. 2008 kamen statistisch gesehen 23,5 Morde auf 100.000 Einwohner, das waren mehr als etwa in Chicago (18,0), aber immer noch deutlich weniger als beispielsweise in den Problemstädten St. Louis (46,9) und Detroit (33,8) oder auch in Washington, D.C. (31,4). Bei Vergewaltigungen und Raubdelikten weist Cleveland allerdings mit 98 und 878 Delikten pro 100.000 Einwohner den jeweils höchsten Wert aus. Im Bereich Eigentumsdelikte gehört die Stadt mit 5.784 Fällen je 100.000 Einwohner zum oberen Mittelfeld.Schwerpunkte und vorherrschende Delikte haben sich zusammen mit der Stadt im Laufe der Zeit deutlich verändert. Bevor Cleveland in der Zeit der Prohibition zu einem Zentrum der Organisierten Kriminalität und des illegalen Glücksspiels wurde, bereiteten im späten 19. Jahrhundert vor allem Trunkenheit, Schlägereien und illegale Prostitution Probleme. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Mafia zwar weiterhin aktiv, doch erwies sich nun vor allem die mangelnde Vertrauensbasis zwischen den zugewanderten Schwarzen und den weißen Polizeikräften in den Vorstädten als problematisch. Dazu ließen zerrüttete Familienverhältnisse die Jugendkriminalität ansteigen. Die Polizei begegnete diesen Problemen mit mehr schwarzem Personal und mittels Gewalt- und Drogenprävention.
=== Religion ===
Genaue Angaben zur Religionszugehörigkeit der Bewohner Clevelands selbst gibt es nicht. Bezogen auf den gesamten County bildet die römisch-katholische Kirche mit 35 % Anteil die größte religiöse Gruppierung. Damit erreicht sie verglichen mit Ohio (19,7 %) einen erheblich höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung. Weitere 14,4 % bezeichnen sich als protestantisch, wobei durch den hohen Anteil an Baptisten unter den afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen der Anteil der Protestanten in Cleveland selbst erheblich höher liegen dürfte. Gut 1 % der Bevölkerung bekennt sich zum orthodoxen Glauben. Zudem gibt es im County rund 79.000 Juden sowie etwa 20.000 Muslime, darunter 35 % Konvertiten. Fernöstliche Religionen wie die Buddhisten bilden kleine Randgruppen mit wenigen hundert Mitgliedern.In seinen Anfangsjahren war Cleveland dagegen fast ausschließlich protestantisch geprägt. Die Bevölkerung gehörte beinahe geschlossen der kongregationalistischen und der presbyterianischen Kirche an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stießen vor allem aus Deutschland und Irland vermehrt Katholiken hinzu und lösten um 1900 die New-England-Kirchen als vorherrschende Religionsgemeinschaft ab. Infolge des White Flight verlor die katholische Kirche jedoch wieder an Gewicht, vornehmlich zugunsten der protestantischen, schwarzen Kirchen. Gleichzeitig verbreiterte sich das religiöse Spektrum durch Zuwanderer aus Ländern außerhalb Europas erheblich. Die islamische Glaubensgemeinschaft wuchs vor allem zwischen 1960 und 1990 zu ihrer heutigen Größe heran.
Besonders die christlichen Gruppierungen zeichnen sich durch ihre Zersplitterung aus; die Zugehörigkeit orientiert sich nicht nur an der Konfession, sondern auch an Herkunft, Ethnie, sozialem Status und dem Grad der Assimilation. So gibt es beispielsweise ähnlich viele orthodoxe Pfarreien nebeneinander wie Einwanderernationen mit entsprechendem Glaubenshintergrund. Der Grund liegt in der Autokephalie der orthodoxen Kirchen, wonach sich die meisten Pfarreien bis heute nicht als Mitglied der Orthodoxen Kirche in Amerika (OCA), sondern ihrer jeweiligen Heimatkirchen sehen. Auch waren die Schwarzen infolge der anfänglich praktizierten Rassentrennung trotz gleicher Konfession auf eigene Pfarreien angewiesen, wobei wiederum die Mittelschicht andere Kirchen besuchte als die Unterschicht. Und bei den Europäern verteilten sich die unterschiedlichen Einwanderergenerationen je nach Heimatbewusstsein auf verschiedene Kirchen gleicher Konfession. Lediglich die Puertoricaner integrierten sich mehrheitlich in etablierte Pfarreien.Die räumliche Verteilung der Anhänger der Glaubensgemeinschaften orientiert sich an der Bevölkerungsstruktur. An der West Side wohnen weiße Protestanten und Katholiken nebeneinander, an der South Side vorwiegend Katholiken, und in den schwarzen Wohnvierteln auf der East Side bilden die Protestanten die stärkste Gruppe. Die einst bedeutende jüdische Gemeinde ist bis auf einen kleinen Rest in die östlichen Vororte abgewandert.
== Politik ==
=== Politische Strömungen ===
Während große Teile Ohios vorwiegend die Republikaner unterstützen, gilt der Raum Cleveland seit dem New Deal als Hochburg der Demokraten. Die Demokraten haben im Stadtrat fast alle Sitze – ein Ratsherr trat 2010 zu den Grünen über – und stellten seit den 1930er Jahren fast alle Bürgermeister. Ebenso sind alle zuständigen Mitglieder des Senats und des Repräsentantenhauses von Ohio sowie beide Kongressabgeordneten Demokraten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2008 gewann Barack Obama im Cuyahoga County 68,69 % der Stimmen, während es in ganz Ohio nur 51,5 % waren.
Während der Industrialisierung entwickelten sich zudem die Gewerkschaften zu einer wichtigen gesellschaftlichen Größe. Zunächst nur in kleinen Gruppen organisiert verhalfen sie den Fabrikarbeitern ab Ende des 19. Jahrhunderts zu stetiger materieller Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. In den 1930er Jahren bildeten sich mit den United Auto Workers (UAW) und den United Steelworkers (USW) die beiden wichtigsten Gewerkschaften heraus. Nach 1980 schwand ihr Einfluss mit dem Niedergang der Industrie jedoch wieder. Radikale, sozialistische Bewegungen wie in Europa konnten sich in Cleveland aufgrund der sichtbaren materiellen Zugewinne bei den Arbeitern nicht durchsetzen.In der Spätphase der Industrialisierung war Cleveland zudem stark von linksliberalen, sogenannten progressivistischen Strömungen geprägt. Führende Kommunalpolitiker aus dieser Zeit setzten sich besonders für soziale Belange ein, was vornehmlich dem Justizapparat und dem Gesundheitswesen zugutekam. Ebenso führten sie einen langen Kampf für erweiterte Rechte der Stadt im Sinne einer kommunalen Selbstverwaltung. Das führte 1912 schließlich zu einer entsprechenden Änderung der Verfassung des Staates Ohio, dem Home Rule Amendment, die Cleveland 1914 mit als erste umsetzte.Seit den 1920er Jahren wuchs der politische Einfluss der zugewanderten afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen. 1927 gab es bereits drei Schwarze im Stadtrat, seit Mitte der 1960er Jahre halten sie rund die Hälfte der Sitze. 1967 stellten sie mit Carl Stokes erstmals den Bürgermeister. Allerdings standen dem wachsenden politischen Einfluss noch lange Zeit Armut, Diskriminierung und eine schlechte Wohnsituation gegenüber. Das führte in den 1960er Jahren zu Rassenunruhen, die 1966 schließlich zum Aufstand führten.
=== Stadtvertretung ===
Clevelands Stadtvertretung ist nach dem Mayor-Council-System organisiert und regiert nach dem Strong-Mayor-Prinzip. Dabei wird neben dem Stadtrat (City Council) auch der Bürgermeister (Mayor) direkt gewählt. Der Stadtrat bildet nur die Legislative, während der Bürgermeister als alleiniger Chef der Exekutive über weitreichende Befugnisse verfügt (Strong Mayor). Beider Amtszeiten betragen vier Jahre. Diese Form der Stadtregierung ist für US-amerikanische Großstädte typisch.Der Stadtrat besteht aus 19 Mitgliedern und ist damit für US-amerikanische Verhältnisse sehr groß. Jedes Mitglied wird in einem der 19 Wahlbezirke Clevelands (Wards) durch Mehrheitswahl bestimmt. Die Anzahl der Wahlbezirke und der Wahlmodus der Ratsmitglieder wurde in den letzten 200 Jahren mehrfach und teils tiefgreifend verändert. Hintergrund waren die Bekämpfung der anfänglichen Korruption, die Bevölkerungsentwicklung sowie politische Auseinandersetzungen über die Systemfrage insgesamt. Die heutige Aufteilung in 19 Wahlbezirke wurde mit der Wahlperiode 2010–2013 eingeführt. Davor waren es noch 21 wards gewesen.
Bürgermeister ist seit 2006 der Demokrat Frank G. Jackson (* 1946). Als langjähriges Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Stadtrats setzte er sich mit annähernd 55 % gegen die damalige Amtsinhaberin Jane L. Campbell durch. Etliche seiner Amtsvorgänger machten später Karriere als Senatoren, Gouverneure oder Bundesrichter.
Der Bürgermeister wird seit 1977 mit absoluter Mehrheit und nicht parteipolitisch (non-partisan) gewählt. Bei den Vorwahlen treten unterschiedlichste Kandidaten an, die derselben oder auch gar keiner Partei angehören. So können sich wie bei der letzten Stichwahl zwei Mitglieder ein und derselben Partei gegenüberstehen.
=== Verwaltungsstruktur ===
Eine zusammenhängende und geordnete Stadtverwaltung gibt es in Cleveland erst seit 1914. Das beruht auf der Verfassungsänderung von 1912, wodurch die heutige Rechtsgrundlage für die kommunale Selbstverwaltung geschaffen wurde. Davor bestand in der Stadt ein City-Commission Government, wonach die einzelnen Abteilungs- und Behördenleiter direkt gewählt wurden. Dieses Verfahren hatte sich wiederholt als chaotisch, ineffizient, korrupt und den komplexen Aufgaben einer Großstadt nicht gewachsen herausgestellt.Die Verwaltung gliedert sich in insgesamt acht Hauptabteilungen und rund zwei Dutzend Unterabteilungen. Neben den laut Verfassung von Ohio vorgeschriebenen Abteilungen für Recht, Finanzen, öffentliche Sicherheit, Bauhof, Versorgungsbetriebe und Soziales nimmt vor allem der Bereich Wirtschaft und Stadtplanung breiten Raum ein. Für einige Zuständigkeiten wurden gemeinsam mit den Umlandgemeinden Zweckverbände eingerichtet. Dazu gehören der Nahverkehr in Gestalt der Greater Cleveland Regional Transit Authority (RTA), die Abwasserbeseitigung, der Soziale Wohnungsbau und die Regionalplanung.
=== Haushalt ===
Der städtische Haushalt 2009 sah Einnahmen in Höhe von 512,1 Millionen und Ausgaben von in Höhe von 541,5 Millionen US-Dollar vor. Mit Abstand wichtigste Einnahmequelle war die Einkommensteuer (Income Tax) mit 290 Millionen; den größten Ausgabeposten bildete die öffentliche Sicherheit (Public Safety) aus Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst mit 317 Millionen. Dazu rechneten die kommunalen Versorgungsbetriebe mit 641,1 Millionen Dollar Umsatz. Ende 2007 betrugen die Schulden 3,32 Milliarden US-Dollar bei 2,36 Milliarden Dollar Eigenkapital.
=== Städtepartnerschaften ===
Städtepartnerschaften bestehen mit folgenden 20 Städten:
Irland Achill Island, Irland
Agypten Alexandria, Ägypten
Athiopien Bahir Dar, Äthiopien
Indien Bangalore, Indien
Rumänien Brașov, Rumänien
Slowakei Bratislava, Slowakei
Vereinigtes Konigreich Cleveland, Vereinigtes Königreich
Guinea-a Conakry, Guinea
Polen Danzig, Polen
Albanien Fier, Albanien
Israel Cholon, Israel
Nigeria Ibadan, Nigeria
Litauen Klaipėda, Litauen
Peru Lima, Peru
Slowenien Ljubljana, Slowenien
Ungarn Miskolc, Ungarn
Frankreich Rouen, Frankreich
El Salvador Segundo Montes, El Salvador
Taiwan Taipeh, Republik China (Taiwan)
Russland Wolgograd, Russland
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
=== Kunst und Museen ===
Cleveland beherbergt zahlreiche kulturelle Institutionen. Viele von ihnen gehen auf die Zeit zwischen 1910 und 1925 zurück, als sich Cleveland auf dem ersten Höhepunkt seiner Entwicklung befand. In den darauffolgenden Zeiten des Niedergangs hatte die klassische Kultur dagegen keinen leichten Stand. Erst als die Wirtschaft der Stadt umstrukturiert werden musste und touristische Maßnahmen in den Blick der Öffentlichkeit rückten, gab es wieder Neugründungen wie die Oper (1976), das Ballett (1976), das Kammerorchester (1980) und den Sängerchor (1982). In den 1990er Jahren kamen an der Lakefront, dem Seeufer vor der Innenstadt, neue Museen hinzu, darunter auch die 1995 eröffnete Rock and Roll Hall of Fame.
Das ansässige Symphonieorchester Cleveland Orchestra unter Leitung von Chefdirigent Franz Welser-Möst zählt zu den Großen Fünf (Big Five) klassischen Symphonieorchestern der Vereinigten Staaten. Es wurde 1918 gegründet und ist seit 1931 in der Severance Hall beheimatet und gehört zu den weltweit meistbeachteten Ensembles.
Das Gebäudeensemble Playhouse Square mit seinen Theatern, Gastronomie- und Kultureinrichtungen ist Sitz zahlreicher Ensembles wie der Cleveland Opera und gehört zusammengenommen zu den größten Kulturzentren der USA. Mit dem Karamu House besteht ferner ein bedeutendes afroamerikanisches Kulturzentrum. Daneben gibt es noch einige Kabarett- und Kleinkunstbühnen; etwa das multikulturell geprägte Cleveland Play House und das experimentell ausgerichtete Cleveland Public Theatre. Das wissenschaftlich-technische Museum Great Lakes Science Center an der Lakefront bietet mehr als 350 interaktive naturwissenschaftliche Exponate und ein IMAX-Kino, in dem naturwissenschaftliche Filme gezeigt werden. Daneben liegt das Museumsdampfschiff William G. Mather vor Anker.Bedeutende ansässige klassische Museen sind das Kunstmuseum Cleveland Museum of Art, das Naturkundemuseum Cleveland Museum of Natural History sowie die Western Reserve Historical Society, die älteste Kulturorganisation im Nordosten Ohios mit ihrem Regionalmuseum sowie bedeutenden Dokumentarchiven. Der Cleveland Botanical Garden datiert von 1930 und ist der älteste botanische Garten der USA. Das Museum of Contemporary Art Cleveland (MOCA) zeigt jährlich rund zehn Wanderausstellungen verschiedener internationaler Vertreter zeitgenössischer Kunst.Die Stadtbücherei, die Cleveland Public Library, besteht seit 1869, unterhält 29 Niederlassungen und hält rund 4 Millionen Medien vor.
=== Bauten im Stadtzentrum ===
Das Stadtzentrum weist Bauten verschiedener architektonischer Epochen auf. Viele davon sind im Rahmen städtebaulicher Großprojekte entstanden. So befinden sich zahlreiche öffentliche Einrichtungen wie das Rathaus, die Stadtbibliothek und das Gericht in Monumentalbauten im neoklassizistischen Stil, die sich um die Parkanlage Cleveland Mall nördlich des Public Square gruppieren. Das Ensemble aus den Jahren 1910–1931 zählt zu den bedeutendsten und umfangreichsten Beispielen neoklassizistischer Architektur der City-Beautiful-Bewegung aus der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende.Wahrzeichen der Stadt ist der 1930 fertiggestellte Terminal Tower an der Südecke des Public Square. Das in den Jahren 1922–1930 errichtete Hochhaus im Beaux-Arts-/Art-Déco-Stil bildet zusammen mit angrenzenden Bürogebäuden einen Gebäudekomplex ähnlich dem Rockefeller Center in New York City – ist aber zehn Jahre früher entstanden. Der Turm mit seinen 708 Fuß (216 m) Höhe war bis 1967 das zweithöchste Gebäude in den Vereinigten Staaten und noch bis 1991 das höchste Gebäude Clevelands. Seitdem wird er vom 289 Meter hohen Key Tower überragt. Der dritte große Wolkenkratzer in der Innenstadt ist 200 Public Square (auch: BP Building) mit 200,6 Metern von 1985. Daneben gibt es in der Innenstadt noch zwei Dutzend weitere Gebäude mit einer Höhe von über 80 Metern.In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Innenstadt im Rahmen der Stadterneuerung zwischen der East 6th und East 17th Street nach Osten hin erweitert. Bei den Wohn- und Bürohäusern in diesem Gebiet herrscht der zeitgenössische Internationale Stil vor.
Daneben gibt es noch einige markante Bauten im Viktorianischen Stil aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Bedeutendstes Bauwerk aus dieser Epoche ist „The Arcade“ von 1890, ein fünfgeschossiges überdachtes Einkaufszentrum mit einem 300 Fuß (91,4 m) langen Glasdach. Aus der gleichen Epoche stammt eine Reihe ehemaliger Lagerhäuser am Hochufer des Cuyahoga westlich des Public Square, die den Historic Warehouse District bilden und heute luxuriöse Wohnungen und Ladengeschäfte beherbergen. Der Historic Warehouse District spielte in den letzten Jahren zusammen mit dem Playhouse Square, dem renovierten Terminal Tower und den Einrichtungen an der Lakefront eine wesentliche Rolle bei der Belebung der Innenstadt.
=== University Circle ===
Rund sieben Kilometer östlich der Innenstadt, umgeben von Armenvierteln, liegt der University Circle. Das rund 197,5 Hektar große, ähnlich einem Park angelegte Areal beherbergt zahlreiche der kulturell, sozial und pädagogisch bedeutenden Einrichtungen der Stadt. Im University Circle befinden sich der Campus der Case Western Reserve University mit den angegliederten Universitätskliniken und Forschungseinrichtungen, die Western Reserve Historical Society, das Cleveland Museum of Art, der Botanische Garten und die Severance Hall. In der Nachbarschaft liegen zudem die Gebäude der Cleveland Clinic.
=== Parks und Grünflächen ===
Cleveland verfügt über gut 160 öffentliche Parks mit einer Gesamtfläche von knapp 700 hm2. Die Grünanlagen erstrecken sich vornehmlich entlang kleinerer Flussläufe und am Seeufer. Nennenswert sind vor allem der Rockefeller Park am Doan Brook, der auf der East Side an den University Circle anschließt, das Naturschutzgebiet am Big Creek auf der West Side sowie der Cleveland Lakefront State Park am Seeufer, zu dem unter anderem der Edgewater Park und einige Yachthäfen und Strandbäder gehören. Der See ist auch an vielen weiteren Stellen öffentlich zugänglich, wird aber fast auf der gesamten Länge durch Schnellstraßen von der Stadt abgeschnitten und ist im Bereich der Innenstadt teilweise durch Industrieanlagen blockiert. Außerhalb der Stadt bilden die Cleveland Metroparks einen Grüngürtel aus Naturschutzgebieten, der im Radius von etwa 15 Kilometern beinahe um die ganze Stadt herumführt.
In den Wohngebieten selbst gibt es nur kleinere Grünanlagen. Jedoch ist östlich der East 55th Street in den letzten Jahrzehnten ein ungewollt grüner Stadtteil entstanden, der durch offene Wiesen und wuchernde Hecken geprägt ist. Dort sind infolge der anhaltenden Abwanderung eine Vielzahl von Grundstücken nicht mehr bebaut. In einigen Straßenzügen stehen mittlerweile überhaupt keine Häuser mehr. Die Stadt versucht, die Brache durch breit angelegte Ausweisung von Bauland einzudämmen, mangels Investoren wird inzwischen aber auch die landwirtschaftliche oder gärtnerische Nutzung dieser Areale diskutiert.Ein Stück östlich des University Circle, direkt an der Stadtgrenze, liegt der Lake View Cemetery, auf dem zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Cleveland und Umgebung begraben sind. Unter anderem befindet sich dort die Grabstätte der Familie Rockefeller und das Mausoleum von James A. Garfield, des 20. Präsidenten der Vereinigten Staaten.
=== „Forest City“ ===
Die Stadt besitzt den Spitznamen „Forest City“. Die Herkunft dieser Bezeichnung ist nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich geht sie auf den langjährigen Geschäftsführer des örtlichen Gartenbauvereins und späteren Clevelander Bürgermeister William Case (1818–1862) zurück, der 1852 öffentlichkeitswirksam zahlreiche Bäume in der Stadt pflanzen ließ. Erstmals verwendet wurde der Name 1850 für eine Rennbahn; es folgten etliche weitere ansässige Firmen und Institutionen. Am bekanntesten ist dabei die börsennotierte Immobiliengesellschaft Forest City Enterprises.
=== Sport ===
In Cleveland sind insgesamt drei Sportmannschaften aus den jeweils höchsten nordamerikanischen Profiligen beheimatet.
Die Footballmannschaft Cleveland Browns aus der National Football League existiert seit 1946. Die Browns sind im FirstEnergy Stadium beheimatet. Nachdem diese zuletzt im Jahr 1964 die NFL gewinnen konnten, startete im Anschluss eine 52-jährige Durststrecke, während der die Stadt Cleveland keinen Titel mehr in einer Major-Sportart gewinnen konnte. Erst am 20. Juni 2016 fand diese Negativserie durch die Basketballer der Cleveland Cavaliers ein Ende, die die Best-of-seven-Serie gegen die Golden State Warriors trotz zwischenzeitlichem 1:3-Rückstand noch in einen 4:3-Sieg drehen konnten.
Die Cleveland Cavaliers spielen in der Eastern Conference der National Basketball Association (NBA). Die Cleveland Monsters sind eine Eishockeymannschaft aus der American Hockey League (AHL). Die Cleveland Gladiators spielen in der Arena Football League, deren Spielbetrieb nach dem Bankrott der Liga 2009 im Herbst 2010 aber wieder aufgenommen worden ist. Die Cavaliers, Monsters und Gladiators bestreiten ihre Heimspiele in der Quicken Loans Arena.
Die Cleveland Guardians aus der American League der Major League Baseball sind im Progressive Field beheimatet. Bis 2021 war das Team als Cleveland Indians bekannt und trug den Spitznamen “the Tribe” (deutsch: der (Indianer-)Stamm). Nach einer sehr erfolgreichen Saison 2016 verpassten die Indians nur knapp den Sieg in der World Series. Sie verloren im Finale gegen die Chicago Cubs im eigenen Stadion.
Besonders im Eishockey blickt Cleveland auf eine lange Tradition zurück. Die Cleveland Barons gewannen zwischen 1937 und 1973 insgesamt neun Mal den Calder Cup und waren damit eines der erfolgreichsten AHL-Teams überhaupt. Bis zu ihrer Auflösung 2003 war mit den Cleveland Rockers zudem eines der acht Gründungsmitglieder der Frauen-Basketballliga Women’s National Basketball Association (WNBA) in Cleveland beheimatet. Ebenfalls aufgelöst wurde 2009 die Fußballmannschaft Cleveland City Stars aus der USL First Division, der zweithöchsten US-amerikanischen Fußballliga.
Von 1982 bis 2007 war Cleveland Schauplatz des Grand Prix of Cleveland (deutsch: Großer Preis von Cleveland, ursprünglich: Budweiser Cleveland 500), eines Formel-Automobilrennens der US-amerikanischen CART/Champcar-Rennserie. Der Grand Prix wurde bis zur Fusion der Champcar mit der IndyCar Series insgesamt 26-mal auf dem Rennkurs des Cleveland Burke Lakefront Airport ausgetragen.Seit 2012 befindet sich im Slavic Village die Radrennbahn Cleveland Velodrome, die einer gemeinnützigen Organisation gehört. Neben Sportangeboten ist das Ziel der Organisation, zur Verbesserung der Infrastruktur im umliegenden Stadtviertel beizutragen.
=== Regelmäßige Veranstaltungen ===
In Cleveland finden eine Reihe überregional bekannter Veranstaltungen aus den Bereichen Film, Musik und Technik statt. Die meisten davon haben sich erst in den letzten Jahrzehnten etabliert.
Die gemessen an ihrer Besucherzahl größte Veranstaltung ist die Cleveland National Air Show mit (1994) 120.000 Zuschauern. Die Flugschau findet seit 1964 jedes Jahr am Labor-Day-Wochenende Anfang September auf dem Cleveland Burke Lakefront Airport am Seeufer statt. Gezeigt werden verschiedene Stuntflüge sowie moderne wie historische Luftfahrzeuge. Dazu treten im jährlichen Wechsel die beiden US-Kunstflugstaffeln Thunderbirds und Blue Angels auf.Seit 1977 findet jedes Jahr im März das internationale Filmfestival statt, das Cleveland International Film Festival. Gezeigt werden Premierenfilme aus über 50 Ländern. Das Festival ist die wichtigste derartige Veranstaltung in Ohio und hat in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewonnen. Und beim Tri-C Jazz Fest treten seit 1980 jeden April eine Reihe bekannter US-amerikanischer Jazzmusiker an verschiedenen Orten der Stadt auf, etwa Charlie Haden und George Benson.Die jüngste Großveranstaltung ist das IngenuityFest. Es bietet seit 2004 künstlerische und musikalische Darbietungen auf verschiedenen Bühnen sowie wissenschaftliche Vorführungen und interaktive technische Installationen.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Wirtschaft ===
Die Metropolregion von Cleveland erbrachte 2016 ein Bruttoinlandsprodukt von 129,4 Milliarden US-Dollar und belegte damit Platz 30 unter den Großräumen der USA.Das wichtigste wirtschaftliche Standbein der Stadt sind die medizinischen Einrichtungen. Die renommierte Cleveland Clinic ist mit 10.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in der Region; zusammen mit den anderen Einrichtungen sind über 30.000 Personen in diesem Sektor beschäftigt. Es folgen Banken und Versicherungen sowie der Öffentliche Dienst mit jeweils über 10.000 Beschäftigten.Infolge des Niedergangs der Schwerindustrie hat Cleveland als Produktionsstandort stark an Bedeutung eingebüßt. Im Jahr 2000 waren noch 18 % der Arbeitnehmer in diesem Sektor beschäftigt. Die größten verbliebenen Industriebetriebe sind die Gießerei und das Motorenwerk von Ford mit rund 1.900 Beschäftigten und der Stahlkonzern Mittal Steel mit einem Walzstahlwerk mit 1.460 Beschäftigten. Ferner unterhalten General Motors und Lincoln Electric (Schweißgeräte) größere Fabriken.
Der Fremdenverkehr hat in den letzten Jahren dagegen erheblich an Bedeutung gewonnen. Die in der Region ansässigen Beherbergungsbetriebe zählen rund 21.300 Betten und 4,5 Mio. Übernachtungen pro Jahr. Hotels, gastronomische Betriebe und touristische Attraktionen werden von der Agentur Positively Cleveland (ursprünglich: Convention and Visitors Bureau of Greater Cleveland) unter der Marke Cleveland Plus (CLE+) vermarktet. Die wichtigsten touristischen Ziele sind die Sportstätten sowie die Museen in der Innenstadt und dem University Circle.
Darüber hinaus haben zahlreiche Großunternehmen ihren Firmensitz in Cleveland, unter anderem Parker-Hannifin und die Eaton Corporation (Maschinenbau), Forest City Enterprises (Immobilien), Sherwin-Williams (Farben, Lacke und Baustoffe), die KeyBank, American Greetings (Grußkarten) und MTD (Gartengeräte). Bis vor einigen Jahren waren ebenso TRW Automotive (Raumfahrt, Automobiltechnik), OfficeMax (Bürobedarf), Standard Oil of Ohio (Petrochemie) und die US-Bank National City mit ihrem Hauptsitz vertreten. 1995 bestand in Cleveland statistisch gesehen die drittgrößte Ansammlung von Großunternehmen in den USA.
Ferner hat die Stadt eine lange Tradition als Standort für die industrielle Forschung. Die Forschungszentren von National Carbon und General Electric (Nela Park) datieren bereits aus den 1910er Jahren und gehörten zu den ältesten Einrichtungen dieser Art in den USA. Das Glenn Research Center der NASA entwickelt seit 1941 Techniken für die Luft- und Raumfahrt. Mitte der 1980er Jahre waren in der Stadt über 200 industrielle Forschungseinrichtungen in Betrieb.Mit einer Armutsquote von rund 30 % gehörte Cleveland im vergangenen Jahrzehnt zu den ärmsten Städten der USA überhaupt. 2007 betrug das durchschnittliche Haushaltseinkommen 27.007 US-Dollar und damit nur 54 % des US-Durchschnitts. Zudem war die Stadt infolge des Strukturwandels in den 1980er und 1990er Jahren über viele Jahre hinweg überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Quote lag um 2000 stets zwischen 7,5 und 10 % und damit rund doppelt so hoch wie im Durchschnitt von Ohio. Im Juni 2009 stieg sie zwar auf 12,2 %, lag dafür aber nur noch geringfügig über dem Durchschnitt von 11,2 %. Die Arbeitslosigkeit ist vornehmlich strukturell bedingt und betrifft vor allem Geringqualifizierte. Die Arbeitslosenrate in der Metropolregion von Cleveland sank bis März 2018 auf 4,9 Prozent lag damit aber über dem nationalen Durchschnitt von 3,8 Prozent.Die Subprime-Krise hinterließ auch in Cleveland deutliche Spuren. Angehörige der ärmeren Bevölkerungsgruppen erwarben zu den Zeiten niedriger Zinsen alte, ohnehin schon heruntergekommene Häuser aus dem örtlichen Bestand auf Kredit und zu überhöhten Preisen. Als sie mit steigenden Zinsen die Kreditraten nicht mehr bedienen konnten, wurden die Häuser von den Banken gepfändet, geräumt und zu Schleuderpreisen versteigert. Da diese Häuser angesichts der ohnehin hohen Zahl an Leerständen praktisch unverkäuflich sind, werden sie zu Spekulationsobjekten und dem Verfall preisgegeben. Ende 2007 waren über 15.000 Einheiten betroffen, davon fast 5.000 von der Deutschen Bank, die damit zumindest kurzzeitig zum wohl größten Immobilieneigner der Stadt geworden ist.Der entstandene Gesamtschaden aus Steuerausfällen, den Kosten für den Erhalt oder Abriss der Häuser sowie dem Wertverlust der Immobilien wird allein in Cleveland auf mehrere hundert Millionen Dollar beziffert. Die Stadt hat Anfang 2008 Klage eingereicht, um einige der zugrundeliegenden Geschäftspraktiken generell für gesetzeswidrig erklären zu lassen und damit einen gerichtlichen Präzedenzfall zu schaffen.
=== Verkehr ===
==== Straße ====
Cleveland ist über mehrere Autobahnen an das Netz der Interstate Highways angeschlossen. Die I-90 Seattle–Boston verläuft entlang des Eriesee, die I-80 San Francisco–New York City verläuft etwa 22 km Luftlinie südlich an der Stadt vorbei. Von Süden her führen die I-71 aus Columbus und Cincinnati sowie die I-77 in die Stadt. Als Umfahrungsrouten dienen die I-480 im Süden und die I-271 im Osten. Dazu gehen von Cleveland zahlreiche Fernstraßen in radiale Richtungen aus. Das sind die U.S. Highways 6, 20, 42, 422 und 322 sowie etwa ein Dutzend Ohio State Routes. Einige dieser Straßen sind ergänzend zu den Highways streckenweise zu Schnellstraßen ausgebaut.
Die Greyhound Lines betreiben eine Reihe von Fernbuslinien in benachbarte Großstädte und betreiben dafür einen Busbahnhof in der Innenstadt. Vom südwestlichen Vorort Brook Park fahren die Busse der Lakefront Trailways nach Columbus, Athens sowie Charleston in West Virginia.
==== Luftverkehr ====
Der 1925 eröffnete Flughafen Cleveland Hopkins International Airport befindet sich am südwestlichen Rand des Stadtgebiets, rund 16,7 km Luftlinie vom Stadtzentrum entfernt. Er ist Drehkreuz für die Fluggesellschaft United Airlines und ist mit rund elf Millionen Flugreisenden der wichtigste Flughafen in Ohio. 1968 war er der erste Flughafen in den USA mit direktem Schnellbahnanschluss. Der Cleveland Burke Lakefront Airport in der Innenstadt ist wesentliche kleiner und dient nur der Allgemeinen Luftfahrt.
==== Schifffahrt ====
Der Hafen Port of Cleveland liegt zu beiden Seiten der Mündung des Cuyahoga in den Eriesee und erstreckt sich einige Flusskilometer ins Landesinnere. Gemessen am Umschlag von durchschnittlich 12,5 Millionen Tonnen jährlich ist er der viertgrößte Hafen im Bereich der Großen Seen. Über 95 % der Fracht entfallen dabei auf Schüttgut wie Kalkstein, Eisenerz und Getreide; bei Stückgut sind vor allem Stahl und Maschinen von Bedeutung.
Der Cuyahoga ist von seiner Mündung bis zum Stahlwerk hin verbreitert und ausgebaggert und wird von Frachtschiffen befahren. Daher haben die Bahn- und Straßenbrücken in diesem Bereich entweder eine sehr hohe Durchfahrtshöhe oder sind als Klapp- und Hubbrücken ausgeführt.
==== Schienenverkehr ====
Als alte Industriestadt innerhalb des Rust Belt ist Cleveland auch wichtiger Eisenbahnknoten für den Güterverkehr. Das gesamte Stadtgebiet, davon insbesondere der Bereich um den unteren Cuyahoga und die alten Industriestandorte im Süden und Südosten, ist von einer Vielzahl von Bahnstrecken, Industrieanschlussgleisen, Güterbahnhöfen und entsprechenden Brachen durchzogen. Einst von New York Central Railroad, New York, Chicago and St. Louis Railroad, Baltimore and Ohio Railroad, Pennsylvania Railroad und Erie Railroad betrieben, gehören die Strecken heute größtenteils zur Norfolk Southern Railway und zur CSX Transportation sowie zu einem knappen Dutzend kleiner, lokaler Gesellschaften.
Der einst bedeutende Personennah- und -fernverkehr spielt seit den 1960er Jahren keine Rolle mehr. Amtrak bedient die Relationen Washington–Chicago und New York City–Chicago mit je einem Zugpaar täglich und benutzt dafür einen kleinen unscheinbaren Haltepunkt am Seeufer. Der ursprüngliche Zentralbahnhof unter dem Terminal Tower im Stadtzentrum wird heute nur noch im innerstädtischen Verkehr bedient.
==== Nahverkehr ====
Zwischen dem Flughafen, der Innenstadt und dem nordöstlichen Stadtrand verkehrt seit 1955 mit der Red Line eine Schnellbahnlinie. Zwei Light-Rail-Linien führen zudem in den östlichen Vorort Shaker Heights. Diese sind im Gegensatz zu den meisten derartiger Systeme in den USA bereits seit den 1910er Jahren durchgehend in Betrieb.Die Bahnen werden zusammen mit einem vergleichsweise gut ausgebauten Busnetz von der örtlichen Verkehrsbehörde Greater Cleveland Regional Transit Authority (RTA) betrieben. Dabei bezieht sie rund zwei Drittel des Nahverkehrs-Etats aus Steuermitteln. Der Betrag entspricht dem Steueraufkommen aus 1 Prozentpunkt der Umsatzsteuer des Cuyahoga County.
=== Gas, Wasser und Strom ===
Die städtischen Wasserwerke versorgen Cleveland und 68 seiner Umlandgemeinden mit Trinkwasser. Das Einzugsgebiet ist 640 Quadratmeilen (1658 km²) groß und umfasst über 8.000 Kilometer Leitungen mit 414.000 Anschlüssen und 1,5 Millionen Bewohnern. Das Trinkwasser wird über kilometerlange Saugleitungen vom Grund des Eriesee gefördert und anschließend aufbereitet. Die an sich sehr gute Trinkwasserqualität wurde in der Öffentlichkeit lange bezweifelt, weil seit jeher auch sämtliche Abwässer – wenn auch gereinigt durch Kläranlagen – in den See geleitet werden. Die Versorgung der vergleichsweise wohlhabenden Vororte war und ist angesichts der schwierigen Finanzlage der Stadt eine wichtige Einnahmequelle.Auf dem örtlichen Strommarkt gibt es zwei konkurrierende Anbieter, einerseits die privatwirtschaftliche Illumniating Company, eine Tochtergesellschaft des Energieunternehmens FirstEnergy, und andererseits die städtische Cleveland Public Power (CPP). CPP ist der nach eigenen Angaben größte kommunale Stromanbieter Ohios. Einziger örtlicher Gasanbieter ist Dominion East Ohio, eine Tochtergesellschaft des Energieversorgers Dominion.
=== Bildung ===
==== Schulen ====
Der örtliche Schulbezirk Cleveland Metropolitan School District verfügt über 114 öffentliche Schulen mit rund 50.000 Schülern und knapp 3.800 Lehrern. Er ist damit neben Columbus der größte Schulbezirk Ohios. Daneben gibt es eine Reihe von Schulen in privater oder kirchlicher Trägerschaft.Die Verwaltung der öffentlichen Schulen untersteht seit 1998 dem Bürgermeister. Zwar gibt es auch in Cleveland ein kommunales Schulgremium (School Board), das sich um Schulpolitik, Finanzen, Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit kümmert. Doch die Mitglieder dieses school board werden nicht wie sonst in Ohio üblich von der Bevölkerung gewählt, sondern vom Bürgermeister ernannt. Das ist eine für Ohio einzigartige Form der Schulverwaltung.Zuvor waren die Schulen in direkter öffentlicher Selbstverwaltung organisiert und somit politischer Kontrolle entzogen. Die Bevölkerung wählte ein fünfköpfiges School Board, das wiederum einen School Superintendent zum Verwaltungschef ernannte. Ähnlich der anfänglichen Organisation der Stadtverwaltung erwies sich diese Konstruktion als ineffizient und zunehmend zerstritten.Darüber hinaus war die Verwaltung über Jahrzehnte hinweg den Problemen nicht gewachsen, die sich aus der Zuwanderung der Schwarzen ergeben hatten. Zwischen 1950 und 1963 waren die Schülerzahlen von 100.000 auf über 150.000 angewachsen, wobei immer mehr Kinder aus sozial benachteiligten Familien stammten. Dem auftretenden Mangel an Lehrkräften, Lernmitteln und Schulgebäuden konnte nur schleppend begegnet werden, weil der anhaltende White Flight die finanzielle Basis der Schulen schwinden ließ. Steuererhöhungen zum Ausgleich des wachsenden Defizits wurden von der Bevölkerung jedoch abgelehnt.Dazu kam, dass die US-Bundesrichter die ungleichmäßige Verteilung der schwarzen Schüler, die sich aus der Bevölkerungsstruktur in der Stadt ergab, als Diskriminierung ansahen. In einem Urteil von 1978 verfügten sie, dass Schüler aller Ethnien gleichmäßig über alle städtische Schulen zu verteilen seien. Daraufhin mussten 22 Jahre lang täglich 30.000 Schüler unter hohem Kostenaufwand zwischen den Schulsprengeln hin- und hergefahren werden. Dieses sogenannte Desegregation Busing oder Busing hat nach Ansicht von Kritikern die Abwanderung der Weißen in die Vororte verstärkt und durch seine hohen Kosten die finanziellen Probleme weiter verschärft.Durch die anhaltend schlechten Lernbedingungen wuchs die Zahl der Schulabbrecher. 1998 erreichte Cleveland mit einer Quote von 28 % High-School-Absolventen nur knapp die Hälfte des US-Durchschnitts und lag damit im bundesweiten Vergleich auf dem letzten Platz. Seit der Verwaltungsreform von 1998 stieg die Quote zwar auf über 60 % an, sie liegt aber immer noch deutlich unterhalb der anderen Großstädte Ohios.
==== Universitäten und Hochschulen ====
Cleveland ist Standort mehrerer Hochschulen, darunter dreier Universitäten. Die private Forschungsuniversität Case Western Reserve University (CWRU) entstand 1967 aus dem Zusammenschluss der 1880 gegründeten Case Institute of Technology mit der 1826 gegründeten Western Reserve University. Die Lehr- und Forschungseinrichtungen liegen im University Circle und erstrecken sich über insgesamt acht Fachbereiche; einige Studiengänge werden in Zusammenarbeit mit den umliegenden Kulturzentren und der Cleveland Clinic durchgeführt. Die Case Western hat (2000) rund 4900 Angestellte und (2001) knapp 9500 eingeschriebene Studenten sowie ein Stiftungsvermögen von über einer Milliarde US-Dollar.Die katholische John Carroll University (JCU) ist eines von 28 Jesuitenkollegien in den USA. Sie wurde 1886 von ausgewanderten deutschen Jesuiten unter dem Namen St. Ignatius College gegründet. An der JCU sind 3100 Bachelor- und 700 Masterstudenten eingeschrieben sowie 385 wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigt. Die angegliederte Boler School of Business gehört laut U.S. News & World Report zu den besten Managementschulen der USA. Der Campus befindet sich seit 1935 im Vorort University Heights etwa 13,5 km östlich der Innenstadt.Die staatliche Cleveland State University (CSU) besteht seit 1964. Sie geht auf eine Initiative des Bundesstaates Ohio zurück, durch Schaffung neuer Universitäten breiten Bevölkerungsschichten höhere Schulbildung zu ermöglichen. Die CSU wuchs durch zahlreiche Institutsneubauten bis etwa 1980 schnell auf über 15.000 Studenten und 450 wissenschaftliche Mitarbeiter an. Obwohl sie eigentlich eine eher durchschnittliche US-amerikanische Universität ist, hat die rechtswissenschaftliche Fakultät besondere Bedeutung. Das geht auf die Eingliederung des Cleveland-Marshall College of Law im Jahr 1969 zurück, dessen Ursprünge bis 1897 zurückreichen. Die CSU liegt an der East 17th Street östlich der Innenstadt.Dazu kommen noch drei kleinere Hochschulen, die private Managementschule Chancellor University mit (1995) 1400 Studenten, das Cleveland Institute of Art, eine Kunst- und Designhochschule mit rund 500 Bachelor-Studenten sowie das Cleveland Institute of Music, das neben 1700 Laien auch 400 ordentliche Musikstudenten zählt.Das örtliche Community College Cuyahoga Community College (CCC) unterrichtet 25.000 Personen verteilt auf drei Standorte. Es geht auf dieselbe bundesstaatliche Initiative zurück wie die Cleveland State University und war im Zuge des Strukturwandels maßgeblich an der Umschulung der Industriearbeiter beteiligt.
=== Medien ===
Die einzige noch in Cleveland erscheinende Tageszeitung ist der Plain Dealer. Er wird von der Mediengruppe Advance Publications herausgegeben und ist mit rund 95.000 (ehemals 300.000) verkauften Exemplaren an Werktagen und 171.000 (ehemals 400.000) an Sonntagen eine der auflagenstärksten Tageszeitung in Ohio (Stand 2019). Aus demselben Verlagshaus stammen die Sun Newspapers, eine Kette von Wochenzeitungen, die nur in den Vororten und auf der West Side erhältlich sind. Die beiden Redaktionen liefern auch die Inhalte für die regionale Nachrichten-Website cleveland.com.Wöchentlich erscheinen außerdem Crain’s Cleveland Business, eine regionale Wirtschaftszeitung von Crain Communications sowie die Scene von Times-Shamrock Communications, eine kostenlose und werbefinanzierte Alternative Wochenzeitung mit einer Auflage von 60.000 Exemplaren. Größte regionale Monatszeitschrift ist das Cleveland Magazine von Great Lakes Publishing mit einer Auflage von rund 45.000 Exemplaren. Die seit 1985 erscheinende Alternative Press widmet sich Moderner Musik und wird in ganz Nordamerika und vielen weiteren Ländern vertrieben, darunter auch in Deutschland.
Der Fernsehmarkt bietet eine Reihe regionaler Fernsehanstalten. Sie gehören zu den großen Medienunternehmen (Networks) des Landes wie NBC, ABC, FOX oder der spanischsprachigen Univision und strahlen deren Mantelprogramme aus. Daneben ist der nicht-kommerzielle Public Broadcasting Service (PBS) mit dem US-weiten Kanal PBS World, dem regionalen Ohio Channel und dem Spartensender Create vertreten.
Außerdem sind mehr als zwei Dutzend meist regionale Hörfunksender verschiedener Genres zu empfangen, die meisten auf UKW. Darunter befindet sich mit WCPN auch ein Partner des National Public Radio (NPR). Auch die drei großen Universitäten unterhalten jeweils einen eigenen Radiosender.
== Persönlichkeiten ==
Cleveland war und ist Wirkungsstätte zahlreicher Persönlichkeiten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Viele von ihnen wurden nach ihrem Tod auf dem Lake View Cemetery begraben.
Mit Abstand am bekanntesten ist der Industrielle John D. Rockefeller (1839–1937). Er steuerte von Cleveland aus über eineinhalb Jahrzehnte seine gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten, bis er mit seiner Firma Standard Oil 1885 nach New York City umzog. In späteren Jahren stiftete er Parks und gemeinnützige Einrichtungen. Auch die Erdgasversorgung der Stadt geht auf sein Unternehmen zurück.Die Gebrüder Van Sweringen (Oris Paxton 1879–1936 und Mantis James 1881–1935) kontrollierten bis zum Zusammenbruch ihres Imperiums während der Großen Depression ein Eisenbahnnetz von knapp 50.000 km Länge. Ferner entwickelten sie zwischen 1909 und 1930 den Vorort Shaker Heights im Stile einer modernen Gartenstadt und errichteten das Tower City Center.
Bekannte Persönlichkeiten aus der Politik sind neben dem schwarzen Bürgermeister Carl Stokes (1927–1996) vor allem der linksliberale Kongressabgeordnete und zweimalige Kandidat für die Präsidentschaftsnominierung Dennis Kucinich (* 1946). Das Amt des Clevelander Bürgermeisters hatten auch der spätere US-Kriegsminister Newton Baker (1871–1937), Gouverneur Frank J. Lausche (1895–1990), der gebürtige Italiener und spätere US-Gesundheitsminister Anthony J. Celebrezze (1910–1998) sowie der ehemalige Gouverneur und US-Senator George Voinovich (1936–2016) inne.
Der in Cleveland ansässige Geschäftsmann Mark Hanna (1837–1904) führte als Manager des republikanischen Präsidentschaftskandidaten William McKinley 1896 aus heutiger Sicht moderne Wahlkampfmethoden ein. Der spätere US-Außenminister John Hay (1838–1905) lebte von 1875 bis 1886 in Cleveland und schrieb seine Eindrücke über die hiesige Gesellschaft in seinem Buch The Bread Winners nieder.Der Gründer der Cleveland Clinic, George Washington Crile (1864–1943), zählte seinerzeit zu den führenden Chirurgen der Vereinigten Staaten. An seiner Institution wirkten auch nach seinem Tod zahlreiche international bekannte Ärzte wie René Favaloro, Maria Siemionow und der Physiologe Irvine Page. Ferner stammt der Physiker und Nobelpreisträger Donald A. Glaser (1926–2013) aus Cleveland.
Dazu sind neben der Klassischen Musik auch etliche Vertreter Moderner Musik in Cleveland ansässig. Dazu gehören das experimentelle Industrial-Rock-Musikprojekt Nine Inch Nails, die Crossover-Metal-Band Mushroomhead, die Art-Punk-Gruppe Rocket from the Tombs, die Rock-, Soul- und Bluesband Welshly Arms und die viel beachtete, aber kommerziell wenig erfolgreiche Rockband Pere Ubu. Die ebenfalls in Cleveland ansässige Band Chimaira gilt als Begründerin des Metalcore-Genre.
Zu den Vertretern afroamerikanischer Musik gehören die Grammy-Preisträgerin Dazz Band, die Hip-Hop-Gruppe Bone Thugs-N-Harmony, die besonders in den 1990er Jahren sehr erfolgreich war, sowie der mehrfach mit Platin ausgezeichnete R&B-Sänger Avant. Aus Cleveland stammt auch der Rapper Kid Cudi (* 1984), der einen seiner Songs nach der Stadt benannte, Cleveland Is the Reason.
== Literatur ==
Benton, Elbert Jay: Cultural story of an American city, Cleveland. Western Reserve Historical Society, Cleveland (Ohio) 1943.
Condon, George E.: Yesterday’s Cleveland. E. A. Seemann Publications, Miami (Florida) 1976, ISBN 978-0-912458-73-1.
Kusmer, Kenneth L: A ghetto takes shape: Black Cleveland, 1870–1930. University of Illinois Press, Urbana (Illinois) 1976, ISBN 978-0-252-00289-2.
Miller, Carol P. und Wheeler Robert A.: Cleveland: A Concise History, 1796–1996 : Second Edition. Indiana University Press, Bloomington (Indiana) 1997, ISBN 978-0-253-21147-7.
Thompson, Fred: The Workers Who Built Cleveland. Charles H. Kerr Publishing Company, Chicago (Illinois) 1987, ISBN 978-0-88286-129-6.
== Weblinks ==
City of Cleveland :: Home. City of Cleveland, abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch, Homepage der Stadt Cleveland).
VanTassel, David D. und Grabowski, John J.: Encyclopedia of Cleveland History. In: Encyclopedia of Cleveland History. Case Western Reserve University, abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch, umfassendes Standardwerk; mehrmals in gedruckter Auflage erschienen).
Cleveland OH Local News, Breaking News, Sports & Weather – cleveland.com. Cleveland Live, Inc., abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch, regionale Nachrichten-Website).
Cleveland. In: Open Directory Project. Netscape, abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch, Links zum Thema Cleveland im Open Directory Project).
The Cleveland Memory Project: Cleveland History in Photos, Videos, and More. Cleveland State University Library, abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch, beinhaltet auch mehrere kostenlose elektronische Bücher zu verschiedenen Aspekten der Geschichte Clevelands unter “READ E-BOOKS”).
Barrow, William C. (Cleveland State University Library): Cleveland Digital Library: CLEVELAND CARTOGRAPHY: All about the maps of greater Cleveland and the Western Reserve in northeast Ohio. Abgerufen am 8. Mai 2010 (englisch).
== Anmerkungen ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Cleveland |
James Buchanan | = James Buchanan =
James Buchanan [bjuːˈkænən] (* 23. April 1791 in Peters Township, Franklin County, Pennsylvania; † 1. Juni 1868 in Lancaster, Pennsylvania) war ein amerikanischer Politiker und von 1857 bis 1861 der 15. Präsident der Vereinigten Staaten.
Buchanan entstammte einer relativ gut situierten Familie, die von eingewanderten Ulster-Schotten abstammte. Nach einem Studium am Dickinson College erlernte er in Lancaster den Anwaltsberuf, der ihm ansehnlichen Wohlstand einbrachte. Im Jahr 1814 zog er in das Repräsentantenhaus von Pennsylvania ein und vertrat später seinen Bundesstaat in beiden Kammern des Kongresses. Durch die Programmatik der Jacksonian Democracy geprägt, war er sein Leben lang ein loyaler Demokrat. Unter Präsident James K. Polk amtierte er als Außenminister; unter den Präsidenten Andrew Jackson und Franklin Pierce war er Gesandter im Russischen Kaiserreich, später im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland. Nach mehreren erfolglosen Anläufen bei den Präsidentschaftsvorwahlen gewann er 1856 auf dem demokratischen Nominierungsparteitag und bei der folgenden Präsidentschaftswahl.
Als Gegner des Abolitionismus und Sympathisant der Südstaaten nahm er noch vor seiner Amtseinführung entscheidend Einfluss auf die Urteilsfindung des Obersten Gerichtshofs im Fall Dred Scott v. Sandford. Er bewies damit nicht nur seine sklavereifreundliche Haltung, sondern verletzte auch das Prinzip der Gewaltenteilung. Seine Voreingenommenheit für den Süden schlug sich in der Zusammensetzung des Kabinetts und im Spoilssystem nieder. Wegen seiner Gegnerschaft zu Stephen Douglas entfremdete Buchanan sich immer mehr von großen Teilen der Partei. Gemäß der Jacksonian Democracy unternahm er wenig gegen die Wirtschaftskrise von 1857, während er im Konflikt mit den Mormonen unter Brigham Young seine Befugnisse stärker ausnutzte und den Utah-Krieg zu einer Verhandlungslösung führte. Im gewalttätigen Verfassungskonflikt von Bleeding Kansas, bei dem es um die Sklaverei in den Territorien ging, stellte sich Buchanan hinter die antiabolitionistische Lecompton-Regierung und nahm entsprechend Einfluss auf den Kongress. Dabei kam es zu Bestechungen, die später von der Covode-Kommission untersucht wurden. Für Buchanan blieb der Kongressausschuss zwar ohne rechtliche Folgen, aber sein Ansehen erlitt erheblichen Schaden. Bis zur Präsidentschaftswahl 1860 hatte Buchanan, der nicht wieder antrat, die Demokraten so gespalten, dass sich Nord- und Südstaatenflügel auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten und der Republikaner Abraham Lincoln das Rennen machte.
Außenpolitisch verfolgte Buchanan eine expansionistische Linie im Sinne der Manifest Destiny, wobei vor allem der Aufkauf Kubas sein unerreichtes Hauptziel war. Erfolgreicher war Buchanan bei der Befriedung des Schweinekonflikts mit Großbritannien, der Schaffung einer Verhandlungsgrundlage für den späteren Kauf Alaskas von Russland und der Aufnahme der Vereinigten Staaten als Vertragspartei in den Vertrag von Tianjin mit China. Historisch betrachtet gehört Buchanan außenpolitisch zu den größten Hardlinern unter den Präsidenten Amerikas und gilt als vehementester Expansionist vor Theodore Roosevelt.
In der Sezessionskrise, die unmittelbar auf Lincolns Wahl folgte, verhielt sich Buchanan weitgehend passiv. Er nahm es hin, dass South Carolina und andere Südstaaten aus der Union austraten, Bundeseigentum beschlagnahmten und im Februar 1861, also noch vor Lincolns Amtsantritt, die Konföderierten Staaten von Amerika bildeten. Zwar bezeichnete er im Dezember 1860 die Sezession als illegal, aber vertrat die Auffassung, dass weder Präsident noch Kongress die Vollmacht hätten, die Einzelstaaten davon mit Gewalt abzuhalten. Erst in der Krise um Fort Sumter, dessen Übergabe South Carolina verlangte, brach der Konflikt zwischen Buchanan und den abtrünnigen Bundesstaaten offen aus. Da unionstreue Kabinettsmitglieder ihn drängten, seine Appeasement-Politik gegenüber dem Süden zu beenden, gab er im Januar 1861 grünes Licht für die Verstärkung des Forts. Nach der Amtsübergabe an Lincoln zog sich Buchanan aus der Politik zurück. Im Jahr 1866 veröffentlichte er eine Autobiographie, in der er seine Präsidentschaft gegen teils scharfe Angriffe verteidigte, und starb zwei Jahre später.
Nachdem Buchanan bis zum Zweiten Weltkrieg von der damals südstaatenfreundlich geprägten amerikanischen Geschichtsschreibung als Friedensstifter skizziert worden war, wird er seitdem weit überwiegend als einer der schwächsten Präsidenten und sein Kabinett als eines der korruptesten der amerikanischen Geschichte angesehen. Einige Historiker argumentieren im Unterschied dazu, dass der Forschungsstand zu Buchanan zu uneinheitlich sei, um ihn als schlechtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte zu bezeichnen. Er ist bis heute der einzige Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der unverheiratet blieb. Über eine mögliche Homosexualität Buchanans wird bis heute spekuliert.
== Leben ==
=== Erziehung und Ausbildung ===
James Buchanan kam im April 1791 in einer einfachen Blockhütte in Stony Batter, dem heutigen Peters Township, in den Allegheny Mountains des südlichen Pennsylvanias zur Welt. Er war das zweite von elf Kindern mit sechs Schwestern und vier Brüdern sowie der älteste Sohn von James Buchanan sen. (1761–1821) und dessen Ehefrau Elizabeth Speer (1767–1833). Sein Vater war ein 1783 aus dem County Donegal zugewanderter Irischamerikaner. Er entstammte dem Clan Buchanan, dessen Angehörige seit dem frühen 18. Jahrhundert wegen Hungersnöten und religiöser Verfolgung als Presbyterianer aus den schottischen Highlands vermehrt nach Irland und später Amerika ausgewandert waren und als Ulster-Schotten bekannt sind. Gebildet und ehrgeizig lebte er nach seiner Ankunft in den jungen Vereinigten Staaten zuerst bei einem wohlhabenden Onkel in York, bevor er 1787 einen Handelsposten in Stony Batter erwarb, das an einer Kreuzung von fünf Transportwegen in der damaligen Frontier („Grenzland“) lag. 1788 kehrte er für kurze Zeit nach York zurück, um Elizabeth Speer zu heiraten. Diese hatte gleichfalls schottisch-irische Wurzeln und war Presbyterianerin. In seiner unvollendet gebliebenen Autobiographie schrieb Buchanan vor allem der Mutter seine frühe Bildung zugute, während der Vater mehr seinen Charakter geprägt habe. So habe sich die Mutter mit ihm schon in Kinderjahren über politische Angelegenheiten unterhalten und John Milton und William Shakespeare zitiert.1791 zog die Familie auf eine größere Farm in der Umgebung von Mercersburg und drei Jahre später dank des sozialen Aufstiegs des Vaters in ein zweistöckiges Backsteinhaus im Ort selbst. Hier betätige sich Buchanan Sen. als Kaufmann und wurde bald zum wohlhabendsten Bürger der Stadt. James besuchte zunächst eine Privatschule in Mercersburg, die Old Stone Academy. Hier beinhaltete das damals übliche Curriculum klassische Bildungselemente wie Latein, Griechisch und Mathematik. Ab 1807 besuchte Buchanan dank der väterlichen Unterstützung das Dickinson College in Carlisle. Im Jahr 1808 wurde er vom College wegen ungebührlichen Verhaltens ausgeschlossen; mit Kommilitonen war er durch Trinkgelage in örtlichen Tavernen und damit zusammenhängenden nächtlichen Ruhestörungen sowie Akten von Vandalismus negativ aufgefallen. Buchanan gab in seiner Lebenserinnerung später dazu an, dass er sich an diesen Aktivitäten beteiligt habe, um in seiner Umgebung als mutig und geistreich zu gelten. Durch die Intervention des presbyterianischen Schulrektors und des Verwaltungsrats des Colleges wurde er wieder zum Unterricht zugelassen und schloss das Studium im folgenden Jahr mit guten, aber nicht den überragenden Noten ab, die er seiner Ansicht nach verdiente. Im Anschluss ging er in Lancaster, der damaligen Hauptstadt Pennsylvanias, für zweieinhalb Jahre in die Anwaltslehre bei dem bekannten James Hopkins. Da zu dieser Zeit nur an drei Universitäten ein Jurastudium angeboten wurde, hatte die Rechtslehre meist die Form einer Berufsausbildung. Der Mode der Zeit folgend, beschäftigte sich Buchanan in der bis 1812 dauernden Ausbildung außer mit dem United States Code und der Verfassung der Vereinigten Staaten mit der Diskussion von juristischen Autoritäten wie zum Beispiel William Blackstone. Selbstdiszipliniert eignete er sich die für das Common Law charakteristische systematische Gedankenführung und Orientierung an Präzedenzfällen an, die später seine politischen Prinzipien und Aktivitäten prägen sollten. Als Lernender wurde er eine häufig anzutreffende Person im Stadtzentrum, die beim Spazierengehen Selbstgespräche als Lernmethode anwandte.
=== Anwaltstätigkeit und im Repräsentantenhaus von Pennsylvania ===
Nach der mündlichen Abschlussprüfung und Zulassung als Anwalt blieb er in Lancaster, auch als im Jahr 1812 Harrisburg zur neuen Hauptstadt Pennsylvanias wurde. Buchanan etablierte sich rasch unter den Rechtsvertretern der Stadt als der kommende Mann. Trotzdem blieb seine Persönlichkeit, vor allem durch die mahnenden Ratschläge des Vaters bedingt, durch Vorsicht und Zurückhaltung geprägt und mangelte des vorwärtsgewandten Optimismus, der viele politische Führer auszeichnet. Obwohl er als gewandter Gesprächspartner galt, fehlte ihm jeder Humor. Als Anwalt war er Generalist und nahm alle möglichen Fälle im gesamten, sich über den Süden Pennsylvanias erstreckenden Gerichtsbezirk an. Schon als Anfänger bemühte er sich um prominente Fälle, um seine Bekanntheit und seinen Preis zu steigern, wobei der Stil seiner Verhandlungsführung als beharrlich und geradlinig aber fantasielos beschrieben wird. Der berufliche Erfolg machte ihn rasch zu einem vermögenden Mann und brachte ihm die Bekanntschaft bedeutender Politiker des Bundesstaats ein. So betrug das letzte Jahreseinkommen vor seiner Wahl in den Kongress der Vereinigten Staaten 1821 in heutiger Währung um die 175.000 US-Dollar.Zu dieser Zeit wurde er Mitglied einer Freimaurerloge und später deren Meister vom Stuhl. Außerdem amtierte er als Vorsitzender der Ortsgruppe der Föderalistischen Partei Lancasters. Wie sein Vater unterstützte er ihr politisches Programm, das Bundesmittel für Bauprojekte und Einfuhrzölle sowie die erneute Einrichtung einer Zentralbank vorsah, nachdem die Lizenz der First Bank of the United States 1811 ausgelaufen war. Entsprechend opponierte er gegen Präsident James Madison, der den Demokratischen-Republikanern angehörte, und seine Handhabung des Britisch-Amerikanischen Kriegs. Zwar diente er im Krieg von 1812 selbst nicht in einer Miliz, aber während der britischen Besatzung schloss er sich einer Gruppe junger Männer an, die in der Gegend von Baltimore Pferde für die United States Army stahl. 1814 wurde er für die Föderalisten in das Repräsentantenhaus von Pennsylvania gewählt, wo er der jüngste Abgeordnete war, und hatte diesen Sitz bis 1816 inne. Diesem Wahlsieg folgten in den kommenden Jahren zehn weitere, bis er im Jahr 1833 von der State Legislature als Senator abgelehnt wurde. Als ihm später Gegner innerhalb der Demokratischen Partei seine föderalistische Orientierung jener frühen Jahre vorwarfen, machte er geltend, dass er einfach nur seinem Vater zu den Föderalisten nachgefolgt sei. Im Jahr 1815 verteidigte er den Bezirksrichter Walter Franklin in einem Amtsenthebungsverfahren vor dem Senat von Pennsylvania. Franklin hatte in einem klassischen Konfliktfall zwischen Einzelstaaten und Bundesregierung zugunsten letzterer entschieden. Da zu dieser Zeit die Grenze zwischen sanktionswürdigem Amtsmissbrauch und einer juristischen Fehlentscheidung von den Vorlieben der herrschenden Parteien und der Popularität des Richterspruchs abhing, kamen derartige Impeachments häufiger vor. Buchanan konnte die Senatoren mit dem Argument überzeugen, dass nur Justizverbrechen und klare Gesetzesübertretungen eine Amtsenthebung begründeten.Typischerweise zügelte Buchanan seinen Ehrgeiz und sah durch den vom Vater geprägten Hang zum Pessimismus in jedem Fortschritt die möglicherweise letzte Karrierestufe. Da die Sitzungsperioden in der Pennsylvania General Assembly nur drei Monate betrugen, führte er die Anwaltstätigkeit mit Gewinn fort, indem er höhere Gebühren verlangte und durch seine politische Tätigkeit bedingt mehr zahlungskräftige Klientel hatte. Zu dieser Zeit führte er eine Liebesbeziehung mit Ann Coleman in Lancaster. Colemans Vater stammte wie Buchanan sen. aus dem irischen County Donegal und war Presbyterianer. Als Eisenfabrikant zu Reichtum gelangt, galt er als einer der wohlhabendsten Männer Pennsylvanias. Bis zum Sommer 1819 hatten sich Buchanan und Coleman in der damals üblichen informellen Art und Weise verlobt, jedoch im Herbst gleichen Jahres ihre Beziehung beendet. Aus Colemans Perspektive war für den Bruch offensichtlich die Vernachlässigung durch Buchanan ausschlaggebend, der seiner Karriere mehr Aufmerksamkeit als ihr schenkte. Sie warf ihm vor, nur an ihrem Geld interessiert zu sein. Seitens Buchanan mag das Beziehungsende seiner möglichen Homosexualität geschuldet sein, die bis heute diskutiert wird. Gefasst begab er sich unmittelbar nach dem Bruch für geschäftliche Zwecke in das Dauphin County, während Coleman sich auf Druck ihrer Mutter nach Philadelphia begab, um sich zu erholen. Hier starb sie kurz nach der Ankunft unerklärlicherweise an „hysterischen Krämpfen“ mit erst 23 Jahren. Ihr Vater untersagte Buchanan die Teilnahme an Trauerfeier und Beerdigung. Danach setzte Buchanan die Legende in Umlauf, dass er aus Hingabe zu seiner einzigen, früh verstorbenen Liebe unverheiratet blieb. 1833 und in seinen Fünfzigern sprach er von Heiratsplänen, die aber zu nichts führten und möglicherweise lediglich seinen Ambitionen auf einen Sitz im Bundes-Senat oder auf das Weiße Haus geschuldet waren. Im letzteren Fall war die Aspirantin die 19-jährige Anna Payne, die Nichte der früheren First Lady Dolley Madison. Somit ist er bis heute der einzige Präsident in der amerikanischen Geschichte, der sein Leben unverheiratet blieb. Er sticht damit auch aus seiner Epoche heraus, da bis zum Sezessionskrieg nur drei Prozent aller amerikanischen Männer nicht heirateten.
=== Im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten (1820–1831) ===
Bei den Kongresswahlen 1820 kandidierte Buchanan für einen Sitz im Repräsentantenhaus. Kurz nach seinem Wahlsieg starb der Vater bei einem Kutschenunfall. Buchanan gehörte zur Fraktion der „Republican-Federalists“, die mit ihrem gemischten Parteiprogramm den Übergang vom durch die Konkurrenz von Föderalisten und Demokratischen-Republikanern geprägten First Party System in die Era of Good Feelings („Ära der guten Gefühle“) anzeigten. In dieser Ära entwickelten sich die Demokratischen-Republikaner zur einzigen einflussreichen Partei. Buchanans föderalistische Überzeugung waren ohnehin nicht sehr stark gewesen. Bereits als Abgeordneter in Harrisburg hatte ihn ein Kollege zum Parteiwechsel aufgefordert, als er sich gegen einen nativistischen Gesetzesvorschlag der Föderalisten gewandt hatte, der naturalisierte Bürger von Wahlämtern im Bundesstaat ausschloss. Während der Präsidentschaft von James Monroe neigte Buchanan mehr und mehr zu den Positionen der um Andrew Jackson entstehenden modernen Demokraten. Nach der von Jackson verlorenen Präsidentschaftswahl 1824 trat er dessen Fraktion bei. Dieser hatte für Buchanan jedoch nur Verachtung übrig, weil er dessen Vermittlungsbemühungen zwischen den Lagern von Clay und Jackson vor der entscheidenden Abstimmung über die Präsidentschaft im Repräsentantenhaus als Verrat missinterpretierte. Bis zu seinem Lebensende fühlte er sich den Zielen und Inhalten der Jacksonian Democracy verpflichtet, die in den folgenden Jahren eine Neuordnung der politischen Verhältnisse auslöste. Ihre Kernbotschaften waren eine Stärkung der Volkssouveränität durch die Ausweitung des Wahlrechts, Machtzuwachs für die Bundesstaaten sowie die Begrenzung der Bundesgewalten. Nur in der Frage der Importzölle wich er aus Rücksicht vor der Wählerschaft Pennsylvanias von der Parteilinie ab und befürwortete ihre Erhöhung. Bis zu den 1830er Jahren entwickelte sich Buchanan zu einem ausgeprägten, am 10. Zusatzartikel zur Verfassung orientierten Verfechter der Rechte der Einzelstaaten (States’ Rights), ohne die amerikanischen Union infrage zu stellen. Wie die meisten Demokraten glaubte Buchanan, dass die Vereinigten Staaten einfach die Summe aus ihren Bundesstaaten seien.
Buchanan war bis einschließlich des 21. Kongresses der Vereinigten Staaten Repräsentant. In seiner ersten Rede vor dem Plenum in der Sitzungsperiode 1821/22 ging es um die Finanzierung der United States Army. Die trockene Rhetorik nahm seine späteren Debattenbeiträge vorweg, die sich durch sorgfältige Vorbereitung, Beweis- und Gegenbeweisführung sowie sentimentale Ausschweifungen auszeichneten. Von Anfang an suchte er die Nähe zu Kongressmitgliedern aus den Südstaaten, während er diejenigen aus Neuengland für Radikale hielt. Wichtige Freundschaften mit Südstaatler wurden die mit William Lowndes, Philip Pendleton Barbour und John Randolph of Roanoke. Durch die kurze Entfernung zu seinem Wahlbezirk hatte er einfachen Zugang zu seinen Wählern, wodurch er für Jackson in Pennsylvania eine demokratische Koalition aus früheren föderalistischen Farmern im Norden, Handwerkern in Philadelphia und Ulster-Schottisch-Amerikanern im Westen schmieden konnte. Bei der Präsidentschaftswahl 1828 sicherte er diesen Bundesstaat, während bei den parallelen Kongresswahlen die nach Abspaltung der National Republican Party erstmals als eigenständige Partei antretenden „Jacksonian Democrats“ einen einfachen Sieg einfuhren.Während seiner zehnjährigen Kongressmitgliedschaft wurden seine Begabung und sein Einfluss als mittelmäßig eingestuft. Er stand hinter Führungsfiguren wie Henry Clay, John C. Calhoun und Daniel Webster zurück. Andererseits gehörte Buchanan nicht zur Fraktion der unauffälligen und inkompetenten Abgeordneten mit Alkoholproblemen, die zu dieser Zeit in großer Zahl das Kapitol bevölkerten. Die größte Aufmerksamkeit erreichte er bei einem Amtsenthebungsverfahren, bei dem er als Ankläger des Bundesbezirksrichters James H. Peck auftrat. Dieser hatte einen Anwalt in St. Louis inhaftieren lassen, der seine Entscheidungen kritisiert hatte. Im Repräsentantenhaus war das Verfahren erst initiiert worden, als Buchanan Vorsitzender im United States House Committee on the Judiciary („Justizausschuss des Repräsentantenhauses“) wurde. Bei der Anhörung im Senat machte Buchanan geltend, dass Peck mit krimineller Absicht die Vorgaben der amerikanischen Verfassung und bundesstaatlichen Gesetzgebung gebrochen habe. Er sei zu verurteilen, da man sich ansonsten seiner richterlichen Willkür beugte. Der Senat folgte Buchanans Plädoyer letztendlich nicht und sprach Peck mit einer Stimme Mehrheit frei. Seinen größten politischen Erfolg als Repräsentant erreichte er zum Ende der Amtszeit. In diesem Fall hatten die Mitglieder im Justizausschuss ohne seine Zustimmung beschlossen, das Justizgesetz von 1789 teilweise zu widerrufen. Dadurch hätte der Supreme Court das Recht auf Erstanhörung und die Zuständigkeit als bundesrechtliche Berufungsinstanz auf Ebene der Einzelstaaten verloren; er wäre nur noch über den Instanzenweg der Bundesbezirks- und Bundesberufungsgerichte ins Spiel gekommen. Obwohl ein ausgesprochener Anhänger der States’ Rights, sah Buchanan dadurch die Autorität dieser Institution und somit der Verfassung insgesamt erheblich beschädigt. Er sprach entsprechend im Repräsentantenhaus vor, das am Ende die Empfehlung des Justizausschusses ablehnte.Als seine Kongressmitgliedschaft begann, war die politische Landschaft noch durch die Debatte um den unlängst verabschiedeten Missouri-Kompromiss geprägt, der Sklaverei nördlich von 36° 30′ verbot und somit die Anzahl der freien und Sklavenstaaten auf jeweils zwölf ausbalancierte. Selbst 30 Jahre später hoffte Buchanan immer noch, dass mit dieser Regelung die Sklavenfrage zur Genüge geregelt sei, obwohl dieser Konflikt während seiner gesamten Karriere virulent blieb und den öffentlichen Diskurs bestimmte. So schweifte er im Jahr 1830 selbst bei einer außenpolitischen Frage eine Gesandtschaft nach Panama betreffend ab und äußerte sich zur Sklaverei. Er führte an, dass die peculiar institution („besondere Institution“), wie sie in den Südstaaten euphemistisch bezeichnet wurde, zwar ein politisches und moralisches Übel sei, für das es aber keine Abhilfe gäbe. Buchanan malte das Schreckgespenst aus, dass eine Befreiung der Sklaven zwangsläufig zu einem „Massaker an der edelgesinnten und ritterlichen Männerklasse des Südens“ führen würde. Im Jahr 1831 lehnte er eine Nominierung für den 22. Kongresses der Vereinigten Staaten durch seinen aus den Countys Dauphin, Lebanon und Lancaster bestehenden Wahlbezirk ab. Er hatte weiterhin politische Ambitionen und einige Demokraten Pennsylvanias brachten ihn als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft bei den Wahlen 1832 ins Spiel. Jackson entschied sich jedoch für Martin Van Buren als Running Mate und bot Buchanan Ende 1831 die Gesandtschaft im Russischen Kaiserreich an.
=== Gesandter im Russischen Kaiserreich (1832–1833) ===
Widerstrebend nahm Buchanan diesen Posten an. Zum einen war das weit entfernte St. Petersburg eine Art politisches Exil, was in der Absicht Jacksons lag, der Buchanan für einen „unfähigen Wichtigtuer“ und nicht vertrauenswürdig hielt. Zum anderen beherrschte er die in der damaligen Diplomatie übliche französische Sprache nicht und ließ ungern seine Anwaltspraxis ruhen. Er fungierte insgesamt 18 Monate als amerikanischer Gesandter im Russischen Kaiserreich. Schwerpunkt seiner Tätigkeit war, mit Russland einen Handels- und einen Schifffahrtsvertrag abzuschließen. Während Buchanan bei ersterem Erfolg hatte, erwies sich die Aushandlung eines Abkommens zur freien Handelsschifffahrt mit Außenminister Karl Robert von Nesselrode als schwierig. Während seines Aufenthaltes in St. Petersburg lernte er Französisch, wurde auf einer Audienz von Zar Nikolaus I. empfangen und erkannte, wie langwierig sich diplomatische Prozesse gestalteten. Obwohl Buchanan das gesellschaftliche Leben in der High Society der Hauptstadt durchaus genoss, störte er sich als überzeugter Demokrat an dem autokratischen Regime, das sich unter anderem in politischer Zensur und einer allgegenwärtigen Geheimpolizei offenbarte. Erschwerend kam hinzu, dass während seiner Abwesenheit seine Mutter und ein Bruder gestorben waren. So war er alles in allem froh, als er Ende 1833 wieder nach Amerika zurückkehrte.
=== Senator (1834–1845) ===
Zurück in den Vereinigten Staaten verlor er zwar die Wahl in der State Legislature zum Senator über die volle Amtszeit von sechs Jahren in den 23. Kongress, aber er wurde als Nachfolger von Senator William Wilkins bestimmt, der ihn wiederum in St. Petersburg beerbte. Buchanan blieb bis März 1845 Mitglied des Senats und wurde zweimal im Amt bestätigt. Er gewann an Renommee und zusammen mit der Tatsache, dass bisher kein amerikanischer Präsident aus Pennsylvania stammte, sah er sich zusehends zu den höchsten Aspirationen berechtigt. Dazu musste er die Demokraten Pennsylvanias auf ihrem Parteitag – der State Convention – hinter sich vereinigen, so dass sie ihn als Kandidaten für die National Convention wählten. Weil in dieser Epoche offene Ambitionen auf das Weiße Haus als unziemlich galten, äußerte Buchanan gegenüber Freunden, dass ihm die Senatorenschaft Auszeichnung genug sei. Als Senator hielt er sich strikt an die Vorgaben der State Legislature Pennsylvanias und stimmte im Kongress einige Male konträr zu seinen eigenen Redebeiträgen ab.Ab 1834 zog er in eine Pensionsgemeinschaft mit Senator William R. King aus Alabama, was zu Spekulationen über eine etwaige homosexuelle Beziehung zwischen den beiden führte. Aus diesen Wohngemeinschaften oft unverheirateter Kongressabgeordneter entstanden jedoch häufig Freundschaften, die über politische Bündnisse hinausgingen. Im Lauf der Jahre gehörten Edward Lucas, Bedford Brown, Robert C. Nicholas und John Pendleton King zu der Pensionsgemeinschaft. Diese Gruppe überzeugter Jackson-Anhänger erreichte in den 1830er Jahren erheblichen politischen Einfluss und kontrollierte zwei wichtige Senatsausschüsse. Der Historiker Balcerski hält es für möglich, dass Buchanans Parteinahme für die Südstaaten in dieser Pensionsgemeinschaft geprägt wurde.Als loyaler Anhänger der Programmatik Andrew Jacksons war er ein Gegner einer Neugründung der Second Bank of the United States, deren Laufzeit im Jahr 1836 endete. Dementsprechend stützte er Van Burens Plan, die öffentlichen Gelder dezentral vorzuhalten und stimmte dagegen, als der Kongress Jackson für seine Geldpolitik tadelte. Trotz seiner südstaatenfreundlichen Haltung wandte er sich gegen Senator Calhoun, als dieser ein Gesetz vorschlug, das dem Kongress die Annahme von abolitionistischen Petitionen untersagte. Buchanan sah dadurch das republikanische Prinzip der Volkssouveränität verletzt. Bis in die 1840er Jahre war seine Position zur Sklavenfrage starr geworden. Es sah in der Sklaverei eine nationale Schwäche, nicht aus humanitären Gründen, sondern weil sie eine potenzielle Gefahr für die amerikanische Union darstellte. Buchanan erachtete sie ferner als eine innere Angelegenheit der Südstaaten, da sie zum einen der Jurisdiktion der Einzelstaaten unterlag und zum anderen das Familienleben der Pflanzer betraf. Entsprechend feindselig betrachtete er die Abolitionisten, deren Bewegung er ein schnelles Ende vorhersagte.Buchanan etablierte sich neben Clay, Webster, Calhoun und Thomas Hart Benton in der ersten Reihe der Senatoren. Das Angebot Präsident Van Burens, United States Attorney General zu werden, lehnte er ab. Ansehen, Fleiß sowie Loyalität zur Partei hoben ihn in renommierte Senatsausschüsse wie den für Justiz und den für Auswärtige Beziehungen, dessen Vorsitz er von 1836 bis 1841 innehatte. Es war vor allem diese Position, die zu seiner landesweiten Bekanntheit beitrug und ihm seine wichtigsten politischen Erfolge ermöglichte. Daneben leitete er in den 1830er Jahren einen Senatsausschuss zur Sklavenfrage und zum Verbot des Sklavenhandels in Washington. Buchanans Leitprinzipien waren die States’ Rights und die Manifest Destiny, die die Expansion als Bestimmung der Vereinigten Staaten proklamierte und von allen Präsidenten bis dahin in Richtung Westen vorangetrieben worden war. Zu seiner Zeit waren alle Demokraten und die meisten Whigs Vertreter der Manifest Destiny, wobei Buchanan einer ihrer ersten und leidenschaftlichster Fürsprecher war und sie später als Außenminister und Präsident in politisches Handeln umsetzte. Seine Begründungen für die kontinentale Ausdehnung der Vereinigten Staaten, die in den 1840er Jahren Richtung Mexiko und Zentralamerika übergriff, weisen lehrbuchhaften Charakter auf. So war er 1841 nur einer von wenigen Senatoren, die gegen den Webster-Ashburton Treaty mit dem Vereinigten Königreich stimmten, da er das gesamte Aroostook-Tal für die Vereinigten Staaten forderte. Während die Anhänger der Manifest Destiny aus den Sklavenstaaten ausschließlich der Annexion von Texas und Teilen Mexikos sowie Zentralamerikas das Wort sprachen, traten diejenigen aus den Nordstaaten nur für eine Expansion gegenüber Kanada und im Oregon Country ein. Buchanan hingegen setzte sich für eine territoriale Ausdehnung der Vereinigten Staaten in beide Richtungen ein.So machte er sich im Oregon Boundary Dispute die Maximalforderung von 54°40′ als nördlicher Grenze zu eigen und sprach sich in seiner letzten längeren Rede vor dem Senat im Februar 1845 für die Annexion der Republik Texas aus, wobei er drei Gründe geltend machte: Zum einen verdiente es das unabhängige Texas Teil der „glorreichen Konföderation“ amerikanischer Bundesstaaten zu sein, zum anderen könnte ein großer Teil der Sklaverei dorthin verlagert und so die Gefahr von Sklavenaufständen im Cotton Belt („Baumwollgürtel“) verringert werden. Des Weiteren fürchtete Buchanan, dass die Republik Texas bei fortbestehender Unabhängigkeit Großbritannien einen Anlass für eine Militärintervention bot. Außerdem strebte er die Aufteilung von Texas in fünf Einzelstaaten an, so dass im Senat die Balance aus neu hinzukommenden freien und Sklavenstaaten gewahrt werden konnte. Innerhalb der Demokraten war er der extremste Vertreter der Manifest Destiny, die vor allem im damaligen Westen und Süden der Vereinigten Staaten und weniger in den Mittelatlantikstaaten und Neuengland populär war. Neben seinen Ambitionen auf das Weiße Haus und der Sympathie für die politische Stimmung in den Südstaaten lag den territorialen Maximalforderungen Buchanans noch seine Erfahrungen als Gesandter in St. Petersburg zugrunde. Hier war er in Berührung mit dem Opportunismus des britischen Kolonialismus gekommen, weshalb er bei moderateren Gebietsforderungen die Gefahr einer Intervention des Vereinigten Königreichs in Oregon, Texas oder Mexiko gegeben sah.
=== Außenminister (1845–1849) ===
Bei der Präsidentschaftsvorwahl 1844 hoffte Buchanan erneut auf eine Nominierung, wobei er dieses Mal offensiver vorging als in den Jahren 1836 und 1840. Er schrieb die demokratischen Parteiführer sämtlicher Bundesstaaten an und bot sich im Falle eines Verzichts Van Burens als Kandidat an. Von einem öffentlichen Wahlkampf, der zu dieser Zeit allmählich an Legitimität gewann, sah er dennoch ab. Zu seiner Enttäuschung war ihm auch dieses Mal kein Erfolg beschieden, sondern die Democratic National Convention nominierte James K. Polk, der die anschließende Präsidentschaftswahl für sich entschied. Der damaligen Überzeugung folgend berief der neue Präsident Buchanan als Außenminister in sein Kabinett, um ihn so als parteiinternen Konkurrenten auszuschalten, aber auch um ihn für seine Unterstützung im Wahlkampf zu entschädigen. Obwohl dieses Ministerium als wichtigstes Ressort galt und ihm Gelegenheit für die Umsetzung seiner expansionistischen Ziele bot, ersuchte er im Dezember 1845 Polk um seine Ablösung und um eine Nominierung für einen frei gewordenen Sitz im Obersten Gerichtshof. Besorgt, dass er als Bundesrichter vom Senat nicht bestätigt werden könnte, zog er dieses Gesuch im Februar 1846 wieder zurück. Im Juni gleichen Jahres entschied er sich wieder um, aber nahm dann nach einigen Wochen endgültig Abstand von dieser Idee nicht zuletzt deshalb, weil bis dahin nie ein oberster Bundesrichter Präsident geworden war. Bis Dezember 1847 waren Buchanans Ambitionen wieder zum Leben erwacht und angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahl lud er Parteiführer und andere politisch einflussreiche Personen zu Dinners in der Hauptstadt ein, die er auf regelmäßiger Basis ausrichtete.Während seiner Amtszeit als Außenminister verzeichneten die Vereinigten Staaten unter Polk mit 67 % ihren historisch größten Gebietszuwachs, aus dem in der Folge 22 neue Bundesstaaten entstanden. Die meisten territorialen Gewinne gingen auf die Eroberungen im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg und die erhaltenen Anteile am Oregon Country zurück. Buchanan, der eine noch größere Expansion angestrebt hatte, und der Präsident verfolgten beide die gleichen strategischen Ziele gemäß der Manifest Destiny, gerieten jedoch häufiger über die einzusetzenden taktischen Mittel und andere Details in Konflikt. Der Außenminister hatte über Polks Sachkenntnis und Verständnis für geographische Fragen keine hohe Meinung. Im Oregon Boundary Dispute mit Großbritannien vertauschten sie nicht zum einzigen Male ihre Positionen: Während sich Buchanan anfangs für den 49. Breitengrad als Grenze des Oregon-Territoriums zu Britisch-Nordamerika aussprach, forderte Polk eine nördlichere Grenzlinie. Als die Nordstaaten-Demokraten sich im Wahlkampf 1844 um den populären Slogan Fifty-Four Forty or Fight („54°40′ oder Krieg“) sammelten, machte sich Buchanan diese Position als eine Frage der nationalen Ehre zu eigen, die notfalls mit kriegerischen Mitteln zu klären sei. Bei Polk war es hingegen zu einem Gesinnungswandel in die andere Richtung gekommen, den sein Außenminister schließlich nachvollzog, so dass der Oregon-Kompromiss von 1846 schließlich den 49. Breitengrad als Grenze im pazifischen Nordwesten festsetzte.Gegenüber Mexiko hielt er an der zweifelhaften Auffassung fest, dass dessen Angriff auf amerikanische Truppen jenseits des Rio Grande im April 1846 eine Grenzverletzung und somit einen legitimen Kriegsgrund darstellte. Gemeinsam mit Polk und anderen Demokraten hatte er in der Vergangenheit mit einer aggressiven, auf die Instabilität des Nachbarstaates verweisenden Rhetorik die Basis für diesen Konflikt gelegt. Während des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs riet Buchanan den Präsidenten erst davon ab, Territorium südlich des Rio Grande zu beanspruchen, weil er einen Krieg mit Großbritannien und Frankreich fürchtete, während Polk und der Rest des Kabinetts als neue Grenze den 22. Breitengrad anstrebten. Nachdem die United States Army im Jahr 1847 Mexiko-Stadt erobert hatten, änderte er seine Meinung und lehnte in Opposition zum Präsidenten und den anderen Ministern einen Friedensvertrag mit Mexiko ab. Er machte geltend, dass Mexiko den Krieg verschuldet habe und die ausgehandelten Entschädigungen für die amerikanischen Verluste zu niedrig seien. Buchanan forderte Provinzen entlang der Sierra Madre Oriental und das gesamte Niederkalifornien als künftige Bundesterritorien. Er blieb mit seiner Meinung im Kabinett alleine und im Februar 1848 ratifizierte Polk den Vertrag von Guadalupe Hidalgo. Polk vermutete, dass hinter Buchanans Haltung die Absicht steckte, dem Wunsch der Südstaaten nach neuen Sklavenstaaten nicht entgegen zu stehen.
=== Im politischen Abseits ===
Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1848 bemühte sich Buchanan erneut um eine Nominierung. Auf der Democratic National Convention im Mai brachte er aber nur die Delegationen von Pennsylvania und Virginia hinter sich, so dass am Ende Lewis Cass zum Kandidaten der Demokraten gekürt wurde. Dieser unterlag im November dem Whig General Zachary Taylor, der sich im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg zu einem Nationalheld entwickelt hatte. Den Achtungserfolg der abolitionistischen Free Soil Party, die im Popular Vote auf 10 % kam, hielt er für eine gefährliche, aber kurzfristige Verirrung der Wähler. Für ihn waren die Demokraten die Partei, die Freiheit und Wohlstand gebracht hatte und als einzige im zunehmenden Nord-Süd-Konflikt um die Sklavenfrage die nationale Einheit wahren konnte. Daher sah er in jeder politischen Kursänderung der Partei eine potenzielle Gefahr für den nationalen Zusammenhalt. Als Buchanan im Frühjahr 1849 nach Lancaster zurückkehrte, hatte er das erste Mal seit 30 Jahren kein öffentliches Amt inne und wegen des Triumphes der Whigs keinerlei Aussichten auf ein solches, zumal er die Bitte der Demokraten Pennsylvanias, für den Senat zu kandidieren, ablehnte.Mittlerweile in die Jahre gekommen, kleidete Buchanan sich immer noch im altmodischen Stil seiner Adoleszenz, während ihm die Presse den Spitznamen Old Public Functionary („Alter öffentlicher Beamter“) verpasst hatte. Sklavereigegner im Norden verspotteten ihn aufgrund seiner moralischen Prinzipien als ein Relikt aus der menschlichen Urgeschichte. In den folgenden vier Jahren lebte Buchanan als Privatier und kümmerte sich vorwiegend um häusliche Angelegenheiten. Im Randbezirk von Lancaster kaufte er das Anwesen Wheatland, das von seinem Vorbesitzer wegen seiner Lage auf einem Hügel inmitten von „Weizen(wheat)“-feldern so genannt worden war. Die geräumige, 22 Zimmer große Residenz war für ihn als ledig lebenden Mann zwar viel zu groß, aber mittlerweile war er zum Zentrum eines familiären Netzwerks geworden, das aus 22 Nichten und Neffen und deren Nachkommen bestand. Sieben von diesen waren Waisen, deren gesetzliche Vormundschaft Buchanan innehatte. Er konnte durch Patronage für einige von ihnen Beschäftigungen im öffentlichen Dienst finden. Für die Neffen und Nichten, die in seiner Gunst am höchsten standen, übernahm er die Rolle eines pflichtbewussten Ersatzvaters. Die größte emotionale Bindung baute er zu seiner Nichte Harriet Lane auf, die ihre Jugend und Adoleszenz in Wheatland verbrachte und später für Buchanan im Weißen Haus die Rolle der First Lady übernahm. In den 1840er Jahren schickte er Harriet auf eines der bekanntesten Mädchenpensionate des Landes, eine Klosterschule in Georgetown. Wie bei den anderen Zöglingen spiegelt sich in seinen Briefen an Lane sein nüchterner und distanzierter Gefühlsausdruck wider. So warnte sie Buchanan vor allem davor, was sie nicht tun sollte, und gab ihr Handlungsempfehlungen bezüglich der Auswahl ihres zukünftigen Gatten. Harriet war ihrem Onkel gegenüber dankbar und folgte loyal seinen Ratschlägen, weshalb sie erst im Alter von 37 Jahren einen wohlhabenden Bankier heiratete.Buchanan versah sein großes Arbeitszimmer mit einem separaten Hauseingang, so dass ihn Politiker und öffentliche Funktionsträger diskret treffen konnten. Die Bibliothek spiegelte seine ernsthafte Natur und öffentliche Stellung wider, indem sie abgesehen von einigen Erzählungen Charles Dickens’ kaum Belletristik enthielt, sondern hauptsächlich mit Parlamentsberichten wie dem Congressional Globe, Gesetzeskommentaren und einer Kopie der Federalist Papers bestückt war. Durch den Anschluss Lancasters an die Eisenbahn begünstigt, empfing er häufig Reisende, die auf dem Weg zur Hauptstadt waren und über Nacht blieben. Die Jahre als Familienoberhaupt und Herr über eine stattliche Residenz bescherten ihm ein maskulineres, respektableres Image und mit the Sage of Wheatland („der Weise von Wheatland“) einen neuen Spitznamen. Zu keinem Zeitpunkt zog er sich vollständig aus der Politik zurück. So plante er eine Redesammlung und eine Autobiographie herauszugeben. Als vor der Präsidentschaftswahl 1852 die Chancen auf ein politisches Comeback stiegen, unterbrach er die Arbeiten an diesem Vorhaben. Buchanan reiste mehrfach nach Washington, um sich mit demokratischen Kongressmitgliedern abzusprechen, und fokussierte sein Handeln auf die Parteipolitik Pennsylvanias, wo die Demokraten in zwei Lager unter der Führung von Simon Cameron und George Dallas gespalten waren.
=== Präsidentschaftsvorwahl 1852 ===
Wie für Aspiranten auf die Präsidentschaft damals üblich, präsentierte Buchanan seine Positionen in öffentlichen Briefen, wie er es schon vor der letzten Präsidentschaftsvorwahl im August 1847 getan hatte. Unter anderem hatte er in diesem Schreiben gefordert, die Linie des Missouri-Kompromisses bis zur Pazifikküste zu ziehen. Nördlich davon sollte Sklaverei verboten sein, während südlich davon das Prinzip der Volkssouveränität (popular sovereignity) darüber entscheiden sollte. Wie und zu welchem Zeitpunkt das in den betreffenden Bundesterritorien geschehen sollte, hatte Buchanan damals nicht konkretisiert. In seinem Brief an eine öffentliche Versammlung in Philadelphia im November 1850 kam er auf diesen Punkt zurück. Der Text, dessen Vorlesung drei Stunden dauerte, war die längste, detaillierteste und am meisten zitierte Stellungnahme Buchanans bis zu seiner Präsidentschaft. Angesichts des Kompromisses von 1850, der zur Aufnahme von Kalifornien als freiem Bundesstaat in die Union und einem strengeren Sklavenfluchtgesetz geführt hatte, verwarf er nun den Missouri-Kompromiss und begrüßte die Ablehnung des Wilmot Provisos, der die Sklaverei in allen im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg hinzugewonnenen Territorien untersagte, durch den Kongress. Abolitionismus verurteilte er nicht nur als Produkt einer fanatischen Geisteshaltung, sondern auch weil die Agitation gegen die Sklaverei ihre Besitzer ängstige und die Lebensbedingungen der Sklaven sich so verschlechtere. Über die Sklaverei sollte nicht der Kongress, sondern die jeweilige State Legislature entscheiden. Des Weiteren setzte er sich für die bekannten Prinzipien der Jacksonian Democracy ein, also für eine Begrenzung der Bundesgewalten und Bundesmittel sowie eine wortgetreue Auslegung (strict constructionism) der Verfassung.Im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt dieser Zeit machte Buchanan aus seiner Abneigung gegen abolitionistische Nordstaatler keinen Hehl. Dies lag nicht nur in seiner Parteizugehörigkeit und persönlichen Sympathie für die Südstaaten begründet, sondern auch in seinem Wohnsitz. Quäker aus Pennsylvania hatten dem Kongress von Anfang an Petitionen zur Sklavenbefreiung zugesandt. Die State Legislature in Harrisburg hatte in den 1820er Jahren freie Afroamerikaner und geflohene Sklaven gesetzlich vor Sklavenjägern geschützt. Außerdem war Pennsylvania als Grenzstaat nördlich der Mason-Dixon-Linie eine Hochburg der Underground Railroad. Als im Jahr 1851 im nahe Wheatland gelegenen Christiana militante Abolitionisten entflohene Sklaven vor ihren Eigentümern beschützten, wobei der Pflanzer und sein Sohn den Tod fanden, hielt Buchanan dies für eine frevelhafte Tat und sah in den Sklavereigegnern umso mehr die größte Gefahr für den Bestand der Union. 1850 hatte er das neue Sklavenfluchtgesetz begrüßt, das bundesweit jedem mit Strafe drohte, der ihnen bei der Flucht half, während viele seiner Landsleute in den Nordstaaten gerade dieses Gesetz empörte.Bis zum Frühjahr 1852 hatte sich Buchanan neben Cass, Stephen Douglas und William L. Marcy als aussichtsreichster Bewerber für die demokratische Präsidentschaftskandidatur etabliert. Ein Rückschlag für ihn war, als der Parteitag Pennsylvanias im März nicht einstimmig für ihn votierte, sondern mehr als 30 Delegierte eine Protestnote gegen ihn verfassten. Diese präferierten Cameron als Kandidaten beziehungsweise verübelten als Anhänger Wilmots Buchanans Konzessionen an die Südstaaten. Obwohl er, wie gewohnt, seine Ambitionen auf das Weiße Haus öffentlich verneinte, unternahm er mehr als andere Kandidaten für die Nominierung. In Briefen an Parteikollegen gab er zu bedenken, dass Cass als Präsidentschaftskandidat im Wahlmännerkollegium nicht das wichtige Pennsylvania gewinnen konnte. Buchanan schätzte angesichts der Unterstützung durch die Südstaaten die Aussichten für eine Nominierung zunehmend positiv ein. Dort standen die Radikalen zu dieser Zeit noch hinter dem politischen Programm, das Buchanan in seinem Brief von 1850 formuliert hatte. Auf der anderen Seite war er im Norden als Doughface („Teiggesicht“) verrufen, womit die mit dem Süden sympathisierenden Nordstaatler bezeichnet wurden. Auf der Democratic National Convention im Juni 1852 in Baltimore erreichten weder Buchanan noch Cass in den ersten Wahldurchgängen die nötige Zweidrittelmehrheit. Er konnte zwar einige Südstaaten durchgehend hinter sich sammeln, aber am Ende fehlten ihm die Stimmen aus den Grenzstaaten entlang der Mason-Dixon-Linie sowie den Nordstaaten. Im 49. Wahldurchgang gewann schließlich der Außenseiter Franklin Pierce aus New Hampshire. Buchanan verkündete darauf hin seinen Abschied aus der Politik und lehnte die ihm angebotene Vizepräsidentschaft ab; stattdessen schlug er mit Erfolg seinen Freund King für dieses Amt vor.
=== Gesandter im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland (1853–1856) ===
Obwohl diese Position in seiner Laufbahn einen Rückschritt bedeutete, nahm Buchanan sechs Monate nach der Präsidentschaftswahl von 1852 die Gesandtschaft im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland an, nachdem er in für ihn charakteristischer Manier zweimal von seiner Zusage zurückgetreten war. Im Sommer 1853 reiste er zum Amtsantritt nach London. Er entpuppte sich als ein gut informierter, fleißiger und effizienter Gesandter, dessen Amtsperiode in eine besonders wichtige Phase der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten fiel. So standen das militärische Engagement Großbritanniens auf einigen Inseln vor der Küste von Honduras sowie dessen Einmischung in die Belange Nicaraguas zur Debatte. 1850 hatte der Clayton-Bulwer-Vertrag für den Fall eines transozeanischen Kanalbaus durch dieses Land eine britisch-amerikanische Kontrolle dieser Wasserstraße festgeschrieben. Generell reagierte Washington seit der Präsidentschaft Polks sensibler auf europäische Einflussnahme in Mittel- und Südamerika, durch die es die Monroe-Doktrin verletzt sah.Im September 1853 kam es zur ersten von über 150 Zusammenkünften von Buchanan und dem britischen Außenminister George Villiers, 4. Earl of Clarendon, zwischen denen sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Während er die britische Präsenz in Mittelamerika als eine Frage höchster Dringlichkeit betrachtete, war Villiers zu dieser Zeit vor allem mit dem Krimkrieg beschäftigt. Buchanans erste diplomatische Krise betraf das Protokoll. Außenminister Marcy hatte angeordnet, dass die auswärtigen Gesandten sich nur als einfache Bürger zu kleiden hatten, was der Kleiderordnung vom britischen Hofstaat und der hauptstädtischen Salons der Gentry nicht genügte. Aus diesem Grund blieb er der Parlamentseröffnung fern, was als Affront aufgefasst wurde. Als ihn Königin Victoria zu einem Dinner einlud, löste er das Problem dadurch, dass er ein Schwert trug, was sowohl in Amerika als auch Großbritannien als Kennzeichen eines Gentleman galt. In der Heimat profitierte Buchanan von der „Kleideraffäre“, weil sie ihn den Ruf eines einfachen Bürgers bescherte, der sich den aristokratischen Gepflogenheiten des Königreichs nicht unterordnete.Derweil thematisierten die Unterredungen mit Villiers neben der Präsenz des Vereinigten Königreichs in Zentralamerika und den Westindischen Inseln Buchanans Obsession, die spanische Kolonie Kuba zu annektieren. Er verfolgte einen bilateralen Vertragsabschluss als ersten Schritt auf dem Weg, Großbritannien bis auf seine kanadischen Kolonien aus der westlichen Hemisphäre herauszuhalten. Dabei hielt er sich genau an die von Präsident Pierce vorgegebenen Instruktionen, die einen britischen Abzug von den Islas de la Bahía vor der Nordküste Nicaraguas vorsahen. Ferner sollte sich das Vereinigte Königreich aus Belize zurückziehen und sein Protektorat über die Miskito und somit die Kontrolle über den im Falle eines transozeanischen Kanalbaus wichtigen Hafen San Juan de Nicaragua aufgeben. Anfangs zeigte der auf den Krimkrieg fokussierte Villiers wenig Verständnis für die amerikanischen Forderungen und ließ mangelnde Detailkenntnis über die geographische Bedeutung der fraglichen Regionen erkennen. Buchanan appellierte an die besonderen Beziehungen zwischen ihren Ländern und die vielfältigen Gemeinsamkeiten in Sprache, Religion und Kultur, die so groß seien, dass London in seiner früheren Kolonie keinen Gegner sehen sollte. Für die Zukunft sagte er besonders enge Beziehungen zwischen beiden Nationen voraus. Im Sommer 1854 meinte er schließlich, dass dank seiner Überzeugungsarbeit London bereit sei, auf Spanien Druck hinsichtlich eines Verkaufs von Kuba an die Vereinigten Staaten auszuüben.
Im Juni 1854 beorderte ihn der Präsident nach Paris, um mit seinen Amtskollegen in Spanien und Frankreich, Pierre Soulé und John Y. Mason, einen Plan zum Erwerb Kubas zu erarbeiten. Buchanan kam dem nur widerwillig nach, da er sich bereits im Besitz des richtigen Konzepts wähnte. Im Oktober kam es schließlich im belgischen Seebad Ostende und danach in Aachen zu einem Arbeitstreffen der drei Gesandten. Als Resultat veröffentlichten sie das wahrscheinlich von Buchanan ausformulierte sogenannte Ostende-Manifest, in dem der Erwerb oder – falls Spanien dies ablehnen sollte – die gewaltsame Annexion Kubas skizziert wurde. Dieses Dokument gilt als eines, in dem sich der Expansionismus beziehungsweise Imperialismus der Manifest Destiny am deutlichsten zeigt. Von Madrid wurde der Verkauf für 100 Millionen US-Dollar gefordert mit der Begründung, dass Kuba geographisch ein natürliches Anhängsel der Vereinigten Staaten sei, das sie zum Selbsterhalt benötigte und sich nötigenfalls mit militärischen Mitteln verschaffen müsste. Für Buchanan und die Südstaaten war außerdem die Sorge vor einem Sklavenaufstand in Kuba und seinem Ausgreifen in die Vereinigten Staaten ein entscheidendes Motiv. Zudem bot sich die Insel wegen ihrer prosperierenden Zuckerrohrplantagen als zukünftiger Sklavenstaat innerhalb der amerikanischen Union an. In der Heimat, die derweil durch den Kansas-Nebraska Act vom Mai 1854 und die damit verbundene Aufhebung des Missouri-Kompromisses eine Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts und einen Niedergang der Demokraten in den Nordstaaten erlebte, verzeichnete das Ostende-Manifest ein geteiltes Echo und wurde von Präsident Pierce verworfen. Während es in den Südstaaten begrüßt wurde, betrachteten die Nordstaatler die Begeisterung, die es jenseits der Mason-Dixon-Linie auslöste, als weiteren Beleg für das aggressive Dominanzstreben der südlichen Sklavenhaltergesellschaften. In den Nordstaaten herrschte immer mehr die Wahrnehmung vor, dass eine Minorität in Form der Pflanzer ihre Normen und Werte der gesamten Nation aufzwang. Als Buchanan im Jahr 1855 zunehmend den Wunsch nach einer Rückkehr in die Heimat verspürte, bat ihn Pierce angesichts der Verlegung einer britischen Flotte in die Karibik, die Stellung in London zu halten. Als Gesandter konnte er letztendlich den britischen Einfluss in Honduras und Nicaragua zurückdrängen und das Königreich für die amerikanischen Interessen in dieser Region sensibilisieren.
=== Primaries und Präsidentschaftswahl 1856 ===
Weil Pierce keine zweite Amtszeit anstrebte, galt Buchanan als aussichtsreichster Bewerber für die demokratischen Primaries zur Präsidentschaftswahl 1856. Zwar kritisierten ihn einige Demokraten in den Nordstaaten für das Ostende-Manifest, aber insgesamt profitierte er von seiner Abwesenheit während der Debatten um den Kansas-Nebraska Act, dem er kritisch gegenüberstand. Noch in England machte er Wahlkampf, indem er einem katholischen Erzbischof gegenüber John Joseph Hughes lobte, der Erzbischof von New York war. Dieser setzte sich bei ranghohen Katholiken für Buchanan ein, sobald er davon gehört hatte. Als Buchanan Ende April 1856 in der Heimat eintraf, hatte ihn bereits der Parteitag Pennsylvanias einstimmig als demokratischen Präsidentschaftskandidaten vorgeschlagen. Kurz nachdem eine für Charles Sumner mit schweren Verletzungen endende Schlägerei zwischen zwei Kongressabgeordneten und das Pottawatomie-Massaker von John Brown im Kansas-Territorium die angespannte Lage der Nation einmal mehr verdeutlichten, tagte Anfang Juni die National Convention der Demokraten. Das dort verabschiedete Wahlprogramm liest sich wie von Buchanan geschrieben und enthielt als Forderungen die Begrenzung der Bundesgewalt, das energische Durchsetzen des Sklavenfluchtgesetzes, die Bekämpfung abolitionistischer Agitation und die strikte Durchsetzung der Monroe-Doktrin. In der Frage, inwieweit die Bevölkerung der Territorien selbst das Recht habe, die Sklaverei zu regeln, blieb es zweideutig.Buchanans größte Konkurrenten auf dem Nominierungsparteitag waren Pierce, der doch erneut kandidierte, Douglas und Cass. Ihm kam zugute, dass seine Wahlkampfmanager die Organisation des Parteitags kontrollierten und sich die Senatoren John Slidell, Jesse D. Bright und Thomas F. Bayard für ihn starkmachten. Weder der Favorit der Nord- noch der Südstaaten war er für beide Seiten ein akzeptabler Kandidat, dem die Einigung der Partei zugetraut wurde. In der 18. Abstimmungsrunde erhielt Buchanan schließlich nach dem Rücktritt von Douglas die nötige Zweidrittelmehrheit. Da er aus Pennsylvania kam, wurde zur Wahrung des regionalen Proporzes mit John C. Breckinridge aus Kentucky ein Politiker aus den Südstaaten zu seinem Running Mate bestimmt. Bei der Präsidentschaftswahl traf Buchanan auf den ehemaligen Präsidenten Millard Fillmore von der antikatholisch-nativistischen Know-Nothing Party und John C. Frémont, der für die rasch anwachsende, die Sklaverei in den Territorien in Frage stellende neue Republikanischen Partei in das Rennen ging. Insbesondere der Gegensatz zwischen dem erfahrenen Buchanan und dem jugendlichen Entdecker und Offizier Frémont war groß. Gegnerische Karikaturisten griffen dieses Thema auf und zeichneten den demokratischen Kandidaten als pingeligen alten Mann in Frauenkleidern. Dass Buchanans Männlichkeit wegen seiner Ehelosigkeit in kräftigen Bildern und Worten infrage gestellt wurde, war schon zuvor immer wieder passiert.
Buchanan nahm nicht selbst aktiv am Wahlkampf teil, da damals Werbung in eigener Sache für ein politisches Amt als unziemlich galt. Gegenüber einem Parteikomitee gelobte er, sich an das auf der National Convention beschlossene Wahlprogramm zu halten, obgleich er die dort postulierte Anwendung des Prinzips der Volkssouveränität auf die Territorien als eine potenzielle Gefahr für den inneren Frieden ablehnte. Seinen Wahlsieg sah er als einzigen Weg zur Rettung der amerikanischen Union. Neben den Südstaaten musste er dafür einige Nordstaaten gewinnen. Um Kalifornien zu gewinnen, rückte Buchanan vom Jacksonschen Leitprinzip der beschränkten Bundesmittel ab und setzte sich für den staatlich geförderten Bau einer transkontinentalen Eisenbahn ein. Am Ende gab es praktisch zwei Rennen um das Weiße Haus: eines in den Nordstaaten zwischen Buchanan und Frémont und das andere in den Südstaaten zwischen Buchanan und Fillmore. Die schon im September stattfindende Präsidentschaftswahl in Maine offenbarte die Stärke der Republikaner, während der demokratische Erfolg in Pennsylvania Buchanan bereits die Präsidentschaft sicherte. Der eigentliche Wahltag im November verzeichnete mit 79 % eine außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung. Buchanan, der einen Popular Vote von 45 % erreichte, gewann bis auf Maryland alle Sklavenstaaten, jedoch nur Pennsylvania und vier weitere Bundesstaaten im Norden, was den vorherrschenden regionalen Partikularismus innerhalb der Demokraten unterstrich. Die Republikaner dagegen obsiegten in elf der 16 freien Bundesstaaten. Von der Veranda von Wheatland aus hielt Buchanan seine Siegesrede, in der er in bekannt voreingenommener Manier den Wählern der Republikaner vorwarf, mit ihrer Stimme die Landsleute im Süden angegriffen und die amerikanische Union gefährdet zu haben.
=== Präsidentschaft ===
Buchanan zog als der erfahrenste Politiker seit John Quincy Adams in das Weiße Haus. Beginnend mit James Monroe hatte er zu jedem seiner Amtsvorgänger mehr oder minder intensiven Kontakt gehabt. Zu dieser Zeit war das präsidiale Selbstverständnis weniger das eines initiativen Gestalters als das eines Verwalters. Buchanan bildete eine Ausnahme und orientierte sich an Jackson und Polk, die den Akzent auf die Exekutivgewalt des Präsidenten gelegt hatten. Ähnlich wie sein Vorbild George Washington oder der Römer Lucius Quinctius Cincinnatus verstand er sich als jemand, der nicht aktiv nach der Herrschaft gestrebt, sondern diese vom Volk, das für ihn die höchste Autorität bildete, zugetragen bekommen hatte. Ferner schrieb er sich das ruhige Temperament und die Entschlossenheit zu, die seiner Meinung nach ein guter Präsident brauchte. Dieses Selbstbild führte dazu, dass Buchanan die präsidiale Amtsgewalt sehr offensiv interpretierte, vor allem wenn es darum ging, den Südstaaten zu helfen. Zudem verteidigte er die präsidiale Vetomacht gegen die Whigs, die dieses Recht in Frage stellten, und beurteilte sie als wesentlich ungefährlicher im Falle eines despotischen Missbrauches als die Kontrolle des Weißen Hauses über Behörden und öffentliche Meinung sowie seine Befehls- und Kommandogewalt.Bei seiner Amtseinführung am 4. März 1857 hatte Buchanan mit 67 Jahren ein für die damalige Zeit außergewöhnlich hohes Alter. Aus diesem Grund kündigte er an, keine Wiederwahl anzustreben. Vor dem Amtseid führte er ein kurzes Gespräch mit dem Vorsitzenden Bundesrichter Roger B. Taney, was später von Bedeutung wurde. Die lange Antrittsrede thematisierte die Sklavenfrage in den Territorien. Zur Lösung schlug Buchanan die Orientierung am Kansas-Nebraska Act vor, nach dem das Prinzip der Volkssouveränität, also die State Legislature und die von ihr verabschiedete Verfassung, entscheidend war, während der Kongress in dieser Frage kein Mitspracherecht habe. Bevor das Territorium dieses Stadium erreicht habe, sei es jedem Amerikaner freigestellt, sich mit seinen Sklaven in diesem Gebiet anzusiedeln. Während seiner Präsidentschaft griff er in dieser Frage immer klarer für die Südstaaten Partei und konstatierte, dass diese das Recht hätten, alle Territorien für die Sklaverei zu öffnen. Einige Wochen nach John Browns Überfall auf Harpers Ferry äußerte er sogar Verständnis für Bundesstaaten, die unter solchen Umständen mit der Sezession liebäugelten. In der Antrittsrede stellte er ferner fest, dass die legislative Frage der Volkssouveränität in den Territorien zu vernachlässigen sei, weil eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofe dazu ausstand, womit er auf den Fall des Sklaven Dred Scott anspielte. Diese Äußerung Buchanans zur Entscheidungshoheit der Judikative bei der Sklavenfrage in den Territorien war von ihrer Implikation her zum einen revolutionär, weil in der amerikanischen Geschichte bis dahin Konsens war, dass der Kongress darüber zu bestimmen habe. Zum anderen war diese Argumentation einmalig, da kein Präsident vor oder nach ihm jemals freiwillig dem Supreme Court solche Macht eingeräumt hat. Außerdem widersprach sich Buchanan damit selbst, weil er in der Rede zeitgleich die Gültigkeit des vom Kongress beschlossenen Kansas-Nebraska Acts betonte.Die Organisation der Gesellschaften und Empfänge im Weißen Haus überließ der Präsident Lane und seinem Neffen James Buchanan Henry. Nachdem der letzte Amtsträger wegen der Trauer um seinen kurz vor der Amtseinführung verstorbenen Sohn nur selten zu Veranstaltungen eingeladen hatte, hoffte die High Society der Hauptstadt nun auf eine Besserung der Lage. Lane und ihr Cousin richteten während der sitzungsfreien Zeit des Kongresses präsidiale Empfänge mit mehr informellen Charakter aus. In den Sitzungsperioden fanden im Weißen Haus Staatsdiners statt, zu denen nur Kongressangehörige, hohe Richter und Diplomaten geladen waren. Buchanan ging zur Erholung im Wesentlichen zwei Aktivitäten nach. Zum einen reiste er jährlich für zwei Wochen nach Bedford Springs zu den Thermalquellen des dortigen Resorts. Zum anderen ging er in Washington an den Nachmittagen regelmäßig spazieren.
==== Kabinettsauswahl und Spoilssystem ====
Einige Wochen vor der Amtseinführung begann Buchanan mit der Zusammenstellung des Kabinetts, das er vor allem in der Rolle eines beratenden Gremiums für seine Ideen sah. Als Junggeselle war ihm ein freundschaftliches Verhältnis zu den Ministern wichtig, mit denen er sich während der ersten beiden Jahre seiner Präsidentschaft werktäglich zu mehrstündigen Besprechungen traf. Laut Baker hat wahrscheinlich kein Präsident der amerikanischen Geschichte mehr Zeit mit seinem Kabinett verbracht als Buchanan. Die Zusammenstellung des Kabinetts musste zudem dem Proporz innerhalb der Partei und zwischen den Landesregionen gerecht werden. Buchanan arbeitete an dieser Aufgabe und seiner Antrittsrede zuerst in Wheatland, bis er im Januar 1857 in die Hauptstadt reiste. Dort zog er sich wie viele andere Gäste des National Hotels eine starke Dysenterie zu, von der er erst mehrere Monate später vollständig genas. Dutzende der Erkrankten starben, darunter Buchanans Neffe und Privatsekretär Eskridge Lane.Letztendlich offenbarte sich Buchanans Kabinettsauswahl als ein einziges Desaster. Die vier Minister aus den Südstaaten waren sämtlich zu einer Zeit ihres Lebens im großen Stile Sklavenhalter gewesen, standen später loyal zu den Konföderierten Staaten von Amerika und dominierten bis zu ihrem Rückzug das Kabinett. Unter diesen galt Finanzminister Howell Cobb als das größte politische Talent im Kabinett und potenzieller Nachfolger von Buchanan. Die drei Ressortleiter aus den Nordstaaten waren wie Buchanan Doughfaces und Cass als einziger Minister aus der Region westlich der Appalachen stand als Secretary of State, dem traditionell hochrangigsten Kabinettsposten, vollkommen im Schatten des Präsidenten, der die Außenpolitik als sein Metier betrachtete. Zudem gilt sein Kabinett als eines der korruptesten der amerikanischen Geschichte. Dies traf vor allem auf Innenminister Jacob Thompson und Kriegsminister John B. Floyd zu, der zudem wie Cass ausgesprochen schlecht für sein Ressort geeignet war und sich nur selten vom höchsten Militär General Winfield Scott beraten ließ. Die Korruptionsskandale reichten über den Ehemann einer Nichte bis in Buchanans Familie. Wie von Buchanan, der sich als starker Präsident hervortun wollte, durch die Besetzung beabsichtigt, unterstützten die Minister alle seine Entscheidungen vorbehaltlos. Erst im letzten halben Jahr seiner Amtszeit regte sich im Kabinett Widerspruch gegen die Politik des Präsidenten. Zu seinem Vizepräsidenten hatte Buchanan von Anfang an ein gestörtes Verhältnis, als er diesen bei seinem Antrittsbesuch nicht empfing, sondern an seine Nichte und First Lady Lane verwies, was ihm Breckinridge als Demütigung nie verzieh. Den einflussreichen Douglas, der auf der National Convention im Vorjahr durch seinen Rücktritt die Nominierung Buchanans ermöglicht hatte, ließ er bei der Postenbesetzung außen vor. Auch Republikaner sowie Nordstaaten-Demokraten, die den Südstaaten kritisch gegenüber standen, fanden im Spoilssystem keinerlei Berücksichtigung. Alles in allem führte die Personalpolitik zu einer gefährlichen Selbstisolation Buchanans.Nach der Amtseinführung beschäftigte sich Buchanan vorwiegend mit den Stellenbesetzungen im Rahmen des Spoilssystems. Unwillig exekutive Vollmachten zu delegieren und detailfixiert, arbeitete er sich am Personaltableau bis zu den unbedeutendsten Dienstposten hinabgehend ab. Auch Dokumente, die normalerweise von Sekretären durchgesehen und im Auftrag des Präsidenten abgezeichnet wurden, las er durch, bevor er sie unterschrieb. Entsprechend beschwerte er sich am Ende jeder Sitzungsperiode über die Säumigkeit des Kongresses, die ihm wegen der Fristsetzung zu wenig Zeit ließ, verabschiedete Gesetze vor der Unterschrift genau zu studieren. Weil der vorige Präsident Pierce Demokrat gewesen war, beließ Buchanan die effizienten und loyalen Funktionäre bis zum Ende ihrer Amtszeit im Dienst. Einige Stellen hielt er in Reserve vor, um mit ihrer Besetzung Unterstützung und Geldmittel einzuwerben. Insgesamt wollte Buchanan mit seiner Personalauswahl für den öffentlichen Dienst eine loyale Anhängerschaft gewinnen und Republikaner sowie die Fraktion um Douglas schwächen. Jedoch wich er von dieser Linie ab, als er relativ viele Nordstaatler, darunter einige mit Beziehungen zu Pierce, ohne erkennbaren Grund aus ihren Ämtern entfernte, während die Südstaatler fast alle ihre Dienstposten behielten. Dieses Personalmanagement entfremdete ihn einmal mehr von den Nordstaaten-Demokraten.
==== Einflussnahme auf den Obersten Gerichtshof im Fall Dred Scott versus Sandford ====
Der Fall Dred Scott versus Sandford, auf den Buchanan in seiner Antrittsrede Bezug nahm, reichte in das Jahr 1846 zurück. Scott hatte in Missouri mit der Begründung seine Freilassung eingeklagt, dass er im Dienste für den Eigentümer in dem freien Bundesstaat Illinois und dem ebenfalls abolitionistischen Wisconsin-Territorium gelebt hatte. Nach unterschiedlichen Urteilen hatte der Fall auf dem Instanzenweg den Obersten Gerichtshof erreicht und bis 1856 landesweite Bekanntheit erlangt. Buchanan sah in dieser Angelegenheit die Möglichkeit, die Sklavenfrage ein für allemal zu klären und so die brüchige nationale Einheit wiederherzustellen. Als sich eine Entscheidung abzeichnete, korrespondierte er Anfang Februar 1857 mit dem befreundeten Richter John Catron und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Dieser berichtete von einem geteilten Meinungsbild und ermutigte Buchanan dazu, Bundesrichter Robert Grier aus Pennsylvania zu einer Annäherung an seine Kollegen aus den Südstaaten zu bewegen, womit eine entscheidungsfähige Mehrheit entstand. Diese wollten mit dem Urteil über den konkreten Fall hinausgehen und eine allgemeine Regelung für die Sklaverei insgesamt herbeiführen. Entsprechend schrieb Buchanan an den befreundeten Grier, der kurze Zeit später zu den sechs die Majorität bei dem Urteil bildenden Richtern gehörte. Mit dieser Einflussnahme auf einen laufenden Prozess der Judikative verletzte er das Prinzip der Gewaltenteilung und untergrub seine Präsidentschaft von Anfang an, während sich seine Ankündigung in der Antrittsrede, jedes Urteil mit Freude aufzunehmen, im Nachhinein als unaufrichtig erwies.Nur zwei Tage nach Buchanans Amtseinführung verkündete Taney die dem Präsidenten bereits bekannte Entscheidung. Demnach waren Sklaven für immer rechtloses Eigentum ihrer Besitzer und kein Afroamerikaner konnte jemals vollwertiger Bürger der Vereinigten Staaten sein, selbst wenn er in einem Bundesstaat volle Bürgerrechte hatte. Den Missouri-Kompromiss erklärte das Urteil die Territorien betreffend für verfassungswidrig. Als nach dem 5. Verfassungszusatz geschütztes Recht auf Eigentum konnte die Sklaverei in keinem Territorium verboten werden; dies war laut dem Urteilsspruch erst nach der Aufnahme als Bundesstaat in die amerikanische Union möglich. Die kurze Unterhaltung von Taney und Buchanan bei der Amtseinführung wurde in der Öffentlichkeit nun mit Argwohn betrachtet. Viele gingen davon aus, dass der Vorsitzende Bundesrichter den Präsidenten über das kommende Urteil informiert hatte, ohne von der viel tiefer gehenden Einmischung Buchanans in die Urteilsbildung zu ahnen. Republikanische Stimmen vermuteten jedoch bald mehr und sprachen von einer Verschwörung von Taney, Buchanan und anderen zur Ausbreitung der Sklaverei. Wie schon bei der Kabinettsbildung hatte er seine Vollmachten einseitig für die Interessen der Südstaaten eingesetzt. Als die Republikaner die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als ein Fehlurteil angriffen, gab Buchanan ihnen die Schuld für das bald darauf folgende Auseinanderbrechen der nationalen Einheit.
==== Wirtschaftskrise von 1857 ====
Die Wirtschaftskrise von 1857 war die erste von drei sich zeitlich überlappenden Krisen, die die ersten drei Jahre von Buchanans Präsidentschaft prägten. Sie nahm ihren Anfang im späten Frühling des gleichen Jahres, als die New Yorker Zweigstelle eines angesehenen Versicherungsunternehmens aus Ohio die Zahlungsunfähigkeit anzeigte. Die Krise verbreitete sich mit hoher Geschwindigkeit, so dass bis zum Herbst 1.400 Banken und 5.000 Unternehmen, darunter viele Eisenbahnen und Fabriken, in die Insolvenz gingen. Während in den Städten des Nordens Arbeitslosigkeit und Hunger für breite Schichten zum Alltag wurden, zeigte sich der agrarisch geprägte Süden resilienter gegen die Krise. Dort wurde die Gier und das Spekulationsfieber von Nordstaaten-Kapitalisten für die Krise verantwortlich gemacht; dieser Auffassung schloss sich Buchanan an. Dem damaligen politischen Verständnis zufolge überstieg die Bekämpfung einer solchen Rezession die Möglichkeiten eines Präsidenten, so dass allgemein vom Weißen Haus kein besonders großer Aktivismus erwartet wurde und es bei Laissez-faire-Maßnahmen blieb. Buchanan reagierte daher gemäß den Prinzipien der Jacksonian Democracy, die Zahlungen in Münzgeld und Gold vorsahen, die Ausgabe von Papiergeld durch Banken einschränkten und Bundesmittel für öffentliche Bauprojekte einfroren. Weil er sich weigerte, mit einem Konjunkturprogramm die Krise abzumildern, sorgte er in Teilen der Bevölkerung für Unmut. Außerdem richtete sich seine Wirtschaftspolitik gegen Banken und trat für Freihandel ein, womit er im Norden einmal mehr als Doughface in Verruf geriet. Obwohl er sich später für die Senkung der Staatsschulden lobte, wuchs unter seiner Präsidentschaft der Bundeshaushalt um 15 %.
==== Utah-Krieg ====
Im Frühjahr 1857 entwickelte sich mit dem Utah-Krieg die zweite Krise seiner Präsidentschaft, auf die Buchanan unter voller Ausnutzung seiner Exekutivgewalt reagierte. Schon seit Jahren hatten der Mormonenführer Brigham Young und seine Anhänger die Autorität der im Utah-Territorium vertretenen Bundesvertreter herausgefordert. Sie sahen das Land als ihres an und fühlten sich in ihrem Glauben durch Repräsentanten einer säkularen Macht gestört. Young, der seit 1850 Gouverneur des Territoriums war, und seine Gefolgsleute schikanierten fortwährend Bundesbedienstete aber auch fremde Personen, die das Territorium lediglich durchquerten. Im September 1857 ereignete sich das Mountain-Meadows-Massaker, bei dem die Miliz Youngs einen Treck überfiel und 125 Siedler tötete. Buchanan fühlte sich zudem von Youngs Polygamie abgestoßen, die dieser als Gatte von 17 Frauen offensiv bewarb und die im Utah-Territorium trotz eines offiziellen Verbots verbreitet war. Der Präsident stufte das Eherecht als eine Bundesangelegenheit ein und sah in den Mormonen widerspenstige Sodomisten, die jeden bedrohten, der loyal zu der amerikanischen Gesetzgebung stand. Zudem bestanden Gerüchte, dass Young einen von Amerika unabhängigen, theokratisch geführten Mormonen-Staat errichten wollte. Als noch Berichte von Bundesbeamten eintrafen, die Utah als ein von Gewalt gegen Nichtmormonen geprägtes, außer Kontrolle geratenes Territorium skizzierten, autorisierte Buchanan Ende März 1857 eine Militärexpedition in das Utah-Territorium, um Young als Gouverneur abzulösen. Der Präsident informierte Young nicht über diesen Schritt, ein Fehler, der dem Mormonenführer dabei half, die herannahenden Streitkräfte als einen nicht autorisierten Umsturz darzustellen.Die Truppe umfasste 2.500 Mann, unter ihnen der neue Gouverneur Alfred Cumming und sein Mitarbeiterstab, und wurde von General William S. Harney kommandiert. Dieser war für seine Unbeständigkeit und Brutalität bekannt, weshalb diese Personalentscheidung Buchanans den Widerstand der Mormonen um Young umso mehr anstachelte. Im August 1857 löste ihn aus organisatorischen Gründen Albert S. Johnston ab. Cumming, der von Buchanan erst berücksichtigt wurde, nachdem zehn andere Kandidaten das angebotene Gouverneursamt abgelehnt hatten, und Johnston zerstritten sich rasch. Die Expedition, die zum kostspieligsten Militäreinsatz zwischen dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg und dem Sezessionskrieg wurde und 1858 für ein bis dahin unerreichtes Haushaltsdefizit sorgte, erreichte die Region erst im Herbst, als die von den Mormonen-Milizen gedeckten Bergpässe zum Großen Salzsee bereits zugeschneit waren. Die United States Army überwinterte daher in einem Lager nahe Fort Bridger.Nach über einem halben Jahr Pause nahm Buchanan erst in seiner State of the Union Address im Dezember 1857 wieder Stellung zu dem Konflikt und ließ die Frage offen, ob es sich in Utah um eine Rebellion handelte. Er beorderte Scott an die Pazifikküste, um von dort gegen das Salt Lake Valley vorzurücken. Der Präsident wollte damit einen Exodus der Mormonen nach Nord-Mexiko erreichen, um dadurch eine Begründung für die Annexion dieses Territoriums durch die Vereinigten Staaten zu haben. Der Kongress verweigerte der Entsendung Scotts aber die Zustimmung, ohne Buchanans eigentliches Ziel hinter dieser Aktion zu ahnen. Bis zum Frühjahr 1858, mittlerweile war ein Drittel der Armee für die Utah-Expedition abgestellt, konnte sein Freund Thomas L. Kane Buchanan davon überzeugen, dass er eine Verhandlungslösung mit den Mormonen, zu denen er in guter Beziehung stand, zu erreichen in der Lage sei. Der Präsident stattete ihn mit einer entsprechenden Vollmacht aus und entsandte ihn in das Utah-Territorium. Dort angekommen, handelte Kane eine friedliche Übereinkunft aus, die eine Ablösung von Gouverneur Young durch Cumming vorsah. Im Gegenzug erhielten die Mormonen Souveränität in religiösen Angelegenheiten. Als Ende Juni Johnston die Expeditionskräfte durch Salt Lake City führte, rechnete Buchanan sich diesen Ausgang als Erfolg an; er sorgte jedoch zwei Jahre später für Verwunderung, als er entgegengesetzt zum Fall des Utah-Territoriums im Konflikt mit den Südstaaten vor jeder Anwendung militärischer Gewalt zurückscheute. Eine der letzten Amtshandlungen Buchanans im März 1861 war die Verkleinerung des Utah-Territoriums zugunsten von Nevada, Colorado und Nebraska.
==== Konflikt im Kansas-Territorium ====
===== Ausgangslage =====
Die dritte Krise der Präsidentschaft Buchanans bildete der Konflikt um die Sklavenfrage im Kansas-Territorium. Für die Südstaaten war dieser zukünftige Bundesstaat aufgrund seiner Lage zwischen Norden und Süden von zentraler Bedeutung für die Ausweitung der Sklaverei in den Westen und die Kontrolle über den Kongress. In der Gründungsphase des Territoriums hatten mit den Südstaaten sympathisierende Kräfte so aggressiv Land in Besitz genommen und die Sklaverei verbreitet, dass eine Gegenbewegung aus den Nordstaaten heraus erfolgt war. Bei der Wahl zur State Legislature im Jahr 1855 waren Abolitionisten mit Gewalt von der Abstimmung abgehalten worden, so dass das Parlament in Lecompton drastische Gesetze beschließen konnte, die unter anderem jede Kritik an der Sklaverei als Kapitalverbrechen einordneten. Darauf hin hatten die Sklavereigegner in Topeka im gleichen Jahr eine eigene Territorialverwaltung gegründet und die Sklaverei verboten, wobei sie eine wachsende Mehrheit in Kansas unterstützte. Im Jahr 1857 fanden auf Betreiben der Lecompton-Regierung Wahlen für einen Verfassungskonvent statt, der durch systematische Manipulationen eine klare Mehrheit für die Sklavereianhänger brachte. Bald brachen bürgerkriegsähnlichen Unruhen zwischen Gegnern und Befürwortern der Sklaverei aus, die bis in die Mitte von Buchanans Amtszeit anhielten und als Bleeding Kansas („Blutendes Kansas“) in die Geschichte eingingen. Einen Höhepunkt der Gewalt in Bleeding Kansas stellten im Mai 1856 die Zerstörung der abolitionistischen Hochburg Lawrence durch Milizen der Sklavereianhänger und das Pottawatomie-Massaker dar. Bei seinem Amtsantritt hoffte Buchanan noch, im Kansas-Konflikt Demokraten aus Nord- und Südstaaten hinter sich einen zu können.Wenige Tage nach der Amtseinführung entließ Buchanan John White Geary, womit bereits der dritte Gouverneur des Kansas-Territoriums vorzeitig gescheitert war. Zu dieser Zeit befanden sich 1.500 Soldaten der United States Army im Territorium, um dort den Frieden zu sichern. Obgleich sich Präsident und Kongress die Autorität über die Territorien teilten, entschied das Weiße Haus durch die Ernennung der Gouverneure maßgeblich über den politischen Kurs des betreffenden Hoheitsgebietes. Buchanan unterstützte die Lecompton-Regierung, was er in seiner State of the Union Address im Dezember 1857 bekräftigte, und erkannte nur sie als offizielle Territorialverwaltung an. Er bestimmte seinen früheren Senats- und Kabinettskollegen Robert J. Walker zum Gouverneur. Der Präsident versprach ihm, dass er nur eine per Referendum bestätigte Verfassung Kansas’ anerkennen werde, was in solchen Fällen die übliche Prozedur war.
===== Verfassungsstreit =====
Im Sommer 1857 blickte Buchanan aufmerksam nach Georgia und Mississippi, wo politische Versammlungen mit der Sezession drohten, wenn Kansas nicht als Sklavenstaat in die amerikanische Union aufgenommen werde. Walker war mittlerweile zu der Auffassung gekommen, dass Kansas ein freier Staat werden sollte, auch weil die klimatischen Bedingungen dort die Sklaverei unwirtschaftlich machten, was in den Südstaaten Entrüstung auslöste, die sich auch gegen den Präsidenten richtete. Insgeheim teilte Buchanan diese geographische Einschätzung Walkers, aber wegen des Drucks der Südstaaten unterstützte er weiterhin die Lecompton-Regierung. Im August 1857 erklärte Buchanan die Entscheidung im Fall Dred Scott versus Sandford zur entscheidenden Richtschnur für die Territorien, wonach dort überall Sklaverei gesetzlich geschützt sei, wo sich ein Sklavenhalter niederlasse, und machte die Abolitionisten Topekas für Bleeding Kansas verantwortlich. Die Ergebnisse der Wahlen für das Parlament von Lecompton zwei Monate später waren in Teilen so offensichtlich gefälscht, dass Walker die Ergebnisse einiger Countys nicht anerkannte, womit die State Legislature eine abolitionistische Mehrheit bekam. Danach verlor Walker die Unterstützung durch Buchanan. Der antiabolitionistische Verfassungskonvent von Lecompton beschloss eine Verfassung, die Sklaverei als privates Eigentumsrecht gesetzlich schützte. Ob des ungewissen Ausgangs sahen die Abgeordneten von einem Referendum ab und schickten den Verfassungstext direkt an Buchanan und den Kongress, damit sie auf dieser Grundlage die Anerkennung von Kansas als Bundesstaat prüften.Doch dieser Verzicht auf ein Referendum verletzte so offensichtlich das gewohnte Procedere, dass Buchanan sich darauf nicht einließ. Auf Druck aus Washington hin ordnete die Lecompton-Versammlung ein Plebiszit über den Passus zur Sklaverei an. Weil die bereits existierende Sklaverei im Territorium gesetzlich geschützt war, konnte das von Buchanan als Kompromisslösung geförderte Referendum lediglich einen Import weiterer Sklaven verhindern. Bei der State of the Union Address im Dezember 1857 beharrte der Präsident darauf, dass nach dem Kansas-Nebraska Act das Prinzip der Volkssouveränität nur in der Sklavereifrage ein Referendum vorschrieb. Als Walker den Präsidenten nicht davon überzeugen konnte, die fragwürdige Lecompton-Verfassung nicht länger zu unterstützen, trat er als Gouverneur zurück. Die Volksabstimmung Ende Dezember erbrachte eine klare antiabolitionistische Mehrheit, wobei die Bürger der Topeka-Regierung von der Wahl ausgeschlossen waren. Diese lehnten drei Wochen später in einem eigenen Referendum die Lecompton-Verfassung ab. Trotz dem Drängen vieler kritischer Nordstaaten-Demokraten hielt Buchanan an der Lecompton-Verfassung fest, was Anfang Dezember im Weißen Haus zu einem hitzigen Streit und in der Folge zum Bruch mit Douglas führte. Der Legende nach erinnerte der Präsident Douglas in diesem Gespräch an das Schicksal von zwei abtrünnigen Senatoren, die sich gegen Jackson gewandt hatten, woraufhin dieser entgegnete, dass Präsident Jackson tot sei.Anfang Februar 1858 stellte er dem Kongress die Lecompton-Verfassung vor und verglich die Bürger Topekas mit den aufständischen Mormonen des Utah-Kriegs. Kontrafaktisch teilte er dem Kongress mit, er habe nie auf ein Referendum über den gesamten Verfassungstext als Bedingung für die Anerkennung von Kansas als Bundesstaat bestanden, sondern dabei nur die Sklavenfrage im Sinn gehabt. Außerdem wies er darauf hin, dass die Verfassung später durch die State Legislature geändert werden könnte, was jedoch erst nach sieben Jahren möglich war und von einer Minderheit blockiert werden konnte. Nach Verabschiedung der Lecompton-Verfassung im Senat arbeitete der Präsident mit Hochdruck daran, im Repräsentantenhaus, in dem weniger als ein Drittel der Abgeordneten aus Sklavenstaaten stammte, eine Mehrheit zu sichern. Die Angehörigen des Kabinetts Buchanan betrieben bei den Abgeordneten außergewöhnlich viel Lobbyismus mit Ämterpatronage und lukrativen Geschäftsangeboten als Lockmittel. Dies nahm derart intensive Ausmaße an, dass zwei Jahre später ein Kongressausschuss die Vorgänge untersuchte, ohne Beweismittel zu finden, die Buchanan selbst belasteten.Trotz allen Bemühens des Weißen Hauses scheiterte die Lecompton-Verfassung im Repräsentantenhaus, wobei die Ablehnung durch die Nordstaaten-Demokraten um Douglas den Ausschlag gab, was der Präsident diesem nie verzieh. In der Folge entzog er alle Douglas-Anhänger seiner Patronage. Buchanan legte dem Kongress daraufhin einen Gesetzesvorschlag des Repräsentanten William Hayden English vor. Der English Bill gewährte Kansas bei einer Zustimmung zur Lecompton-Verfassung die sofortige Anerkennung als Bundesstaat; bei einer Ablehnung geschah die Aufnahme des Territoriums erst ab einer bestimmten Bevölkerungsgröße. Kurz nachdem der English Bill vom Kongress verabschiedet wurde, stimmten die Bürger Kansas’ im August 1858 mit eindeutiger Mehrheit gegen die Lecompton-Verfassung. Das Territorium erhielt somit eine abolitionistische Verfassung, die im Kongress von den Abgeordneten und Senatoren aus den Südstaaten erbittert bekämpft wurde, bis Kansas im Januar 1861 als Bundesstaat in die Vereinigten Staaten aufgenommen wurde. Buchanan verzeichnete den Ausgang des Verfassungskonflikts in seiner jährlichen State of the Union Address im Dezember 1858 als einen persönlichen Erfolg, ohne den Schaden zu beachten, den er seiner Partei durch sein Verhalten zugefügt hatte. Unverhältnismäßig lang ging Buchanan in dieser Rede zur Lage der Nation auf die Außenpolitik ein, der er sich nun nach den vermeintlich gelösten innenpolitischen Krisen widmen wollte.Die Sklavenfrage blieb jedoch, wie schon seit einer Generation der Fall, das zentrale politische Thema. Der Verfassungsstreit von Kansas bildete einen Wendepunkt in der Geschichte der Demokraten. Mit der an keiner Stelle deutlicher hervortretenden Parteinahme für den Süden in Bleeding Kansas hatte Buchanan die eigene Partei gespalten sowie den Nord-Süd-Konflikt erheblich verschärft. Dadurch befeuerte er Befürchtungen im Norden, dass demnächst eine Pflanzer-Oligarchie das gesamte Land kontrollierte und die Sklaverei zu einer nationalen Institution machte. Abraham Lincoln warf Buchanan in den Lincoln-Douglas-Debatten und in der House-Divided-Rede des Jahres 1858 eine gemeinsame Verschwörung mit Taney, Douglas und Pierce zu diesem Zweck vor, wobei er die Umstände des Dred Scott versus Sandford-Urteils als besonders belastendes Moment anführte. Bei den Kongresswahlen im Herbst 1858 erlitten die Demokraten in den Nordstaaten schwere Verluste, insbesondere in Pennsylvania. Dennoch zeigte der Präsident keine Bereitschaft, seine Begünstigung der Südstaaten zu mäßigen, sondern erwartete, dass der Norden den Sklavenstaaten Konzessionen machte.
==== Außenpolitik ====
Nach dem Verfassungskonflikt von Kansas konzentrierte sich Buchanan auf die Südamerikapolitik. Er agierte als sein eigener Außenminister, da Cass möglicherweise altersbedingt von seinem Amt überfordert war. Buchanan strebte eine Wiederbelebung der Manifest Destiny, die nach dem enormen territorialen Zugewinn unter Präsident Polk an Schwung verloren hatte, und das Durchsetzen der Monroe-Doktrin an, die in den 1850er Jahren von spanischer, französischer und vor allem britischer Seite aus Angriffen ausgesetzt war. Um dem europäischen Imperialismus in der westlichen Hemisphäre entgegenzutreten, wollte er den Clayton-Bulwer-Vertrag revidieren. Typischerweise priorisierte er auch außenpolitisch die Interessen der Südstaaten. So sprach er sich für eine Expansion nach Mexiko und Zentralamerika aus, wobei er für ein Protektorat über die Provinzen Chihuahua und Sonora zur Sicherung amerikanischer Staatsbürger und Investments eintrat. Als sich dort mit der Machtergreifung General Miguel Miramóns die Lage destabilisierte, befürchtete Buchanan zudem eine Intervention durch Spanien oder Napoleon III. Weiterhin verfolgte er von Beginn seiner Präsidentschaft an den Aufkauf Kubas, den er mit dem Louisiana Purchase verglich. Er hoffte mit einer Annexion die gespaltene Partei wieder einen und den Einfluss ausländischer Mächte auf der Insel unterbinden zu können. Wie bei der State of the Union Address im Jahr zuvor legte Buchanan zu diesem Anlass im Dezember 1859 den Fokus auf die Außenpolitik. Er konstatierte, dass Mexiko den Vereinigten Staaten noch Schadensersatz und Sicherheitszusagen schuldig sei. Daher bat er den Kongress um die Genehmigung von amerikanischen Militärstützpunkten auf mexikanischem Territorium unmittelbar südlich des New-Mexico-Territoriums.Den Einwand, dass nur der Kongress das Recht zur Kriegserklärung habe, ließ er im Falle Mexikos nicht gelten, da es durch seine Instabilität die Sicherheit der Vereinigten Staaten bedrohe und der nachbarschaftlichen Hilfe bedürfe. Am Ende verhinderten Republikaner und Abgeordnete von dritten Parteien im 35. Kongress der Vereinigten Staaten fast alle Gesetzesinitiativen Buchanans zu Süd- und Mittelamerika. Selbst einige Südstaatler stimmten gegen den Präsidenten, weil sie eine mächtige, imperialistische Wege beschreitende Bundesregierung fürchteten. Unbeirrt folgte Buchanan seiner aggressiven Linie und forderte selbst mitten in der Sezessionskrise in der letzten State of the Union Address vergeblich Bundesmittel für den Aufkauf Kubas und eine Militärintervention in Mexiko. Dennoch ging er nicht so weit wie einige Demokraten in den Südstaaten, die Filibuster unterstützten, und verurteilte die Aktionen von William Walker, der sich in Nicaragua zum Präsidenten erhoben hatte, als illegal. Generell war Nicaragua für Buchanan anders als Mexiko und Kuba nie ein Ziel seiner expansionistischen Pläne, sondern es ging ihm hier nur um strategische und wirtschaftliche Einflussnahme in der Region. Dazu und als Zeichen gegen weitere Filibuster wurden unter seiner Regierung Verträge mit Costa Rica, Honduras und Nicaragua ausgehandelt.In den Beziehungen zum Vereinigten Königreich kam es während Buchanans Präsidentschaft über Südamerika hinausgehend zu Spannungen. So entsandte Buchanan Streitkräfte unter Führung von General Scott in den Nordwesten der Vereinigten Staaten, als in der Juan-de-Fuca-Straße der sogenannte Schweinekonflikt entbrannte, um den überreagierenden Bezirkskommandeur General William S. Harney abzulösen, was die Situation rasch beruhigte. Weitere Spannungen ergaben sich wegen des maritimen Sklavenhandels. Zwar lehnte Buchanan diesen ab und es existierte mit dem Webster-Ashburton-Treaty seit 1842 ein Abkommen zwischen Washington und London zu dessen Verbot. Amerika zeigte jedoch weniger Willen, den Sklavenhandel zu unterbinden als die Briten, wenngleich der Präsident auf diesem Feld mehr Initiative zeigte als seine Vorgänger und durch eine Stärkung der Marine sowie größerer Kooperation mit der Royal Navy die Zahl der konfiszierten Sklavenschiffe deutlich erhöhte. Trotzdem segelten weiterhin viele Sklavenhändler unter amerikanischer Flagge, wovon einige von der britischen Marine in der Karibik gestoppt und durchsucht wurden. Buchanan erachtete dies eingedenk der Gründe für den Krieg von 1812 gegen Großbritannien als eine Missachtung der amerikanischen Souveränität. Nach einigen scharfen Protesten und der Mobilmachung der amerikanischen Marine zog London seine Flotte aus dieser Region ab.Gegenüber Paraguay reagierte Buchanan auf einen geringfügigen Vorfall mit einer Militärintervention. Als dort ein amerikanisches Schiff auf dem Río Paraná beschossen worden war und vor Ort lebende Amerikaner Eigentumsrechte gegenüber Asunción geltend gemacht hatten, beorderte der Präsident 2.500 Marinesoldaten samt 19 Kriegsschiffen dorthin. Diese kostenintensive Expedition benötigte Monate, bevor sie Asunción erreichte, wo sie mit Erfolg Konzessionen an die Vereinigten Staaten einforderten. Möglicherweise diente diese Unternehmung außerdem dazu, der Welt die eigene Seemacht zu demonstrieren.Ein bislang kaum beachtetes Ziel von Buchanans Expansionismus war Russisch-Amerika. Der Walfang in den dortigen Gewässern hatte für die Vereinigten Staaten bereits eine hohe wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Als in den 1850er Jahren in der russischen Außenpolitik liberalere Stimmen an Gewicht gewannen, rückte ein Verkauf dieses Territoriums in den Bereich des Möglichen. Buchanan befeuerte dies, indem er im Dezember 1857 gegenüber dem russischen Botschafter Eduard von Stoeckl das Gerücht streute, dass ein Großteil der Mormonen nach Russisch-Alaska auszuwandern beabsichtigten. Im Winter 1859/60 folgte schließlich ein erstes Kaufangebot von 5 Mio. US-Dollar. Stoeckl bestand auf die Eröffnung von formellen Verhandlungen und setzte sich in St. Petersburg für die Annahme der Offerte ein. Letztendlich scheiterte das Vorhaben zwar an den Vorbehalten des Außenministers Alexander Michailowitsch Gortschakow, aber die Gespräche bildeten die Grundlage für die späteren Unterhandlungen zum Kauf Alaskas.Buchanan bemühte sich um Handelsabkommen mit dem chinesischen Kaiserreich und Japan. In China erreichte sein Gesandter William Bradford Reed im Juni 1858, dass die Vereinigten Staaten als Vertragspartei in den Vertrag von Tianjin aufgenommen wurden. Im Mai 1860 empfing Buchanan eine aus mehreren Prinzen bestehende japanische Delegation, die den von Townsend Harris ausgehandelten Harris-Vertrag zur gegenseitigen Ratifizierung mit sich führte.
==== Untersuchungsausschuss gegen Buchanan ====
Bereits seit den Kongresswahlen 1858 waren die Republikaner, die der Präsident als eine Gruppe von Abolitionisten und Fanatikern verachtete, stärkste Partei im Lande und hatten die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Das letzte Amtsjahr Buchanans bescherte ihm noch weitere politische Demütigungen. Der von den Republikanern eingesetzte und von John Covode geleitete Kongressausschuss über die Bestechungen zur Durchsetzung der Lecompton-Verfassung erweiterte zügig seinen Fokus und nahm das Patronagesystem der Buchanan-Administration insgesamt in den Blick. Obwohl Ämterpatronage und das Spoilssystem zu dieser Zeit allgemeiner Usus waren, hatte der Präsident selbst in den Augen einiger Demokraten den akzeptablen Rahmen von Klientelismus überschritten. Buchanan verwarf den Kongressausschuss als ein Inquisitionsverfahren und äußerte sich beleidigend über die ihn belastenden Zeugen. Unter diesen befanden sich einige enge politische Weggefährten, was den Ruf des Präsidenten noch weiter schädigte. Obwohl der Untersuchungsausschuss aufgrund der republikanischen Mehrheit unter seinen Mitgliedern parteiisch agierte, konnte er überzeugende Indizien dafür generieren, dass Buchanan im Frühling 1858 über Mittelsmänner Kongressangehörige in seinem Sinne zu bestechen versucht hatte. Anderen Abgeordneten wurde angedroht, ihre Verwandten verlören ihre Dienstposten, sollten sie nicht für die Lecompton-Verfassung stimmen. Des Weiteren sagten Zeugen aus, dass die Bundesregierung öffentliche Mittel verwendet hatte, um die innerparteiliche Fraktion der Douglas-Gegner in dessen Heimatstaat Illinois zu stärken.Buchanan sprach dem Kongress als Legislativorgan mit Ausnahme eines Amtsenthebungsverfahrens verfassungsrechtlich jegliche Autorität über die präsidiale Exekutivgewalt ab. Am Ende frohlockte er darüber, dass aus dem Kongressausschuss kein Strafverfahren gegen ihn resultierte, während sich die Öffentlichkeit schockiert über das breite Ausmaß der Bestechung zeigte, die alle Ebenen und Behörden der Regierung betraf und im Juni 1860 als Untersuchungsbericht der Öffentlichkeit bekannt wurde. Baker führt zwei Gründe an, wieso Buchanan trotz seiner großen politischen Erfahrung diese Missstände im Kabinett duldete: Zum einen habe sein streitbarer Aktivismus ihn im Konflikt um die Lecompton-Verfassung jede Zurückhaltung vergessen lassen, weil er das ehrgeizige Ziel gehabt hatte, die Sklavenfrage in den Territorien endgültig zu klären. Zum anderen habe er sich als Beschützer der Interessen der Südstaaten verstanden und seine Minister und Wähler aus dieser Region nicht verprellen wollen. Buchanans Vorstellung einer geeinten, von den Interessen der Pflanzer dominierten Nation aus freien Weißen und versklavten Afroamerikanern in allen Territorien sowie gemäß dem Dred Scott versus Sandford-Urteil in freien Bundesstaaten erwies sich als nicht länger haltbar.
==== Präsidentschaftswahl 1860 ====
Buchanans Verhältnis zum Kongress verschlechterte sich noch weiter, als er gegen mehrere Bestandteile des Homestead Acts Veto einlegte, da es unfair gegenüber früheren Siedlern sei, jetzigen Pionieren nach fünf Jahren Bewirtschaftung freies Land von bis zu 64 Hektar zu gewähren. Schon zuvor hatte er ein Gesetz blockiert, mit dem durch Landschenkungen die Bildung landwirtschaftlicher Hochschulen gefördert werden sollte. In beiden Fällen unterstützte er mit seinem Veto eine Minderheit von Kongressabgeordneten aus den Südstaaten. Mit Näherrücken des Wahltages der Präsidentschaftswahl 1860 erlitt Buchanans Ansehen weiteren Schaden, weil die Republikaner im Rahmen ihrer Wahlkampagne Kopien des Berichtes des Covode-Ausschusses verteilten und die Korruption seiner Regierung in das Zentrum ihres Wahlkampfes rückten. Im Westen und Nordwesten der Vereinigten Staaten, wo der Homestead Act sehr populär war, verurteilten sogar viele Demokraten die Politik des Präsidenten, während viele Amerikaner, die Bildung als ein wichtiges Gut erachteten, Buchanan sein Veto gegen die landwirtschaftlichen Hochschulen verübelten.Auf der Democratic National Convention 1860 in Charleston spaltete sich die Partei über die Sklavenfrage in den Territorien, worunter das Ansehen des Präsidenten als Hauptverantwortlichem für diese Misere litt. Durch die erforderliche Zweidrittelmehrheit konnten die Südstaaten jeden unliebsamen Kandidaten blockieren. Am Ende nominierten die Nordstaaten mit Douglas und die Südstaaten mit Breckinridge jeweils einen eigenen Präsidentschaftskandidaten. Weil Buchanan in der eigenen Partei kein Gehör mehr fand, unternahm er keinen Lösungsversuch, sondern unterstützte Breckinridge, der einen bundesgesetzlichen Schutz der Sklaverei in den Territorien forderte. Die Nordstaaten-Demokraten rief er dementsprechend auf, vom Prinzip der Volkssouveränität in den Territorien zugunsten der Sklavenhalter aus dem Süden Abstand zu nehmen.Im November 1860 gewann Lincoln die Wahl gegen die beiden demokratischen Kandidaten sowie John Bell von der Constitutional Union Party, womit auf Bundesebene eine mehr als zwanzigjährige Dominanz der Republikaner begann. Erst 1884 wurde mit Grover Cleveland wieder ein Demokrat in das Weiße Haus gewählt. Lincoln verdankte seinen Sieg der höheren Bevölkerungsdichte in den Nordstaaten, die mehr Wahlmänner stellten als die Südstaaten und fast alle an ihn gingen. Entgegen der Einschätzung der meisten Historiker, die diesen demographischen Faktor als wahlentscheidend bewerten, sieht Baker vor allem die Spaltung der Demokraten als wichtige Voraussetzung für Lincolns Sieg.
==== Sezessionskrise ====
Selbst nach der Wahl Lincolns war das Auseinanderfallen der Union nicht unvermeidlich, obwohl Buchanans Freunde aus den Südstaaten ihm in einem solchen Fall damit gedroht hatten. In den sechs Bundesstaaten des Lower South, die im Februar 1861 die Konföderierten Staaten von Amerika bildeten, wurden jedoch durch die Appeasement-Politik des amtierenden Präsidenten deren Abspaltungsbestrebungen befördert. Tatsächlich hatten die Republikaner bei den Wahlen zum 37. Kongress der Vereinigten Staaten Sitze verloren und kontrollierten weder Senat noch Repräsentantenhaus, sollten die Abgeordneten aus den Südstaaten ihre Mandate wahrnehmen. Dennoch entwickelte sich nach der Wahl Lincolns rasch die Sezessionskrise, wobei South Carolina eine Vorreiterrolle einnahm. Diese wurde für Buchanan zur qualvollsten Zeit seiner politischen Karriere. Außer dem Sieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten bildeten die seit der Nullifikationskrise 1832/33 bestehenden südstaatlichen Unabhängigkeitsbestrebungen, der die Vormacht der Pflanzerklasse infrage stellende politische Wandel in den Einzelstaaten, der Antagonismus zu den Nordstaaten sowie der ausgeprägte Stolz vieler Südstaatler auf ihre als bedroht wahrgenommene Lebensform weitere Gründe für die folgenden Sezessionen dar.Bereits im Herbst hatten radikale Stimmen angekündigt, dass jeder Versuch, ihre Sezession aufzuhalten, zu einem Bürgerkrieg führen werde. Angesichts dieser beunruhigenden Lage hatte General Scott dem Präsidenten Anfang Oktober 1860 vergeblich zu einer Verstärkung der Bundesforts im Süden geraten. Vor allem diese Inaktivität zeichnete das Agieren Buchanans während der Sezessionskrise aus und spiegelt laut Baker seine anhaltende Voreingenommenheit für die Südstaaten wider. So äußerte er nach der Wahl Lincolns gegenüber dem Kongress, dass der zunehmende Abolitionismus der Nordstaaten die Gefahr für Sklavenaufstände im Süden erhöhte und die Pflanzerfamilien verunsicherte. Dies war die gleiche Rhetorik, die auf den Versammlungen der Sezessionsstaaten zu hören war. Die Südstaaten profitierten davon, dass sie sich dank Buchanan ungehindert aus der Union lösen und die Konföderation samt ihrer Armee und Marine aufbauen konnten. Als erstes erklärte South Carolina am 20. Dezember 1860 den Austritt aus den Vereinigten Staaten. Bis Anfang Februar 1861 folgten Georgia, Florida, Alabama, Louisiana, Mississippi und Texas diesem Beispiel. Trotzdem gab es in jedem dieser Staaten eine bedeutende Opposition gegen die Sezession, dennoch unternahm Buchanan keine Anstalten, diese Kräfte politisch zu instrumentalisieren, um South Carolina zu isolieren und weitere Sezessionen zu verhindern.In seiner State of the Union Address Anfang Dezember 1860 stellte Buchanan einerseits klar, dass die Einzelstaaten gemäß der Verfassung kein Recht zur Sezession hätten, auch wenn diese durch aggressive abolitionistische Agitation der Nordstaaten provoziert worden sei. Dies sei aber kein Umstand, der nicht durch zukünftige demokratische Wahlsiege wieder abgestellt werden könnte. Daraufhin strömten Kongressabgeordnete aus den Südstaaten in das Weiße Haus, um sich gegen Buchanans Aussage zur Unrechtmäßigkeit der Sezession auszusprechen, unter ihnen Jefferson Davis, während mit Cobb der von ihm am meisten geschätzte Minister aus Protest von seinem Amt zurücktrat. Andererseits vertrat der Präsident die Auffassung, dass weder er noch der Kongress die Vollmacht hätten, die Sezession mit Gewalt zu verhindern. Diese enge Auslegung der Exekutivgewalt des Weißen Hauses stand in Gegensatz zu Buchanans früherer, viel weiter gefassten Interpretation zur Autorität des Präsidenten und zum Amtsverständnis von Vorgängern wie Washington, der 1794 als Truppenführer selbst gegen die Whiskey-Rebellion zu Felde zog, oder Jacksons Agitation gegen South Carolina während der Nullifikationskrise. Buchanan machte unter anderem geltend, dass er erst auf das konkrete Ersuchen um Amtshilfe durch einen Offiziellen vor Ort aktiv werden könnte. Dies blieb aus, weil mit der Sezession alle dortigen Bundesbediensteten von ihren Ämtern zurücktraten und dem Sezessionsstaat ihre Loyalität erklärten. Somit führte dieser „Legalismus“ Buchanans dazu, dass das Weiße Haus nichts gegen die um sich greifende Sezession unternahm, obwohl New York bereits Streitkräfte zur Unterstützung angeboten hatte. Der Republikaner William H. Seward fasste Buchanans Haltung so zusammen: Kein Staat habe das Recht auf Sezession, bis er sie wünsche, und die Bundesregierung müsse die Union zusammenhalten, außer jemand opponiere dagegen.Während des kritischen Monats Dezember 1860 verwendete Buchanan viel Zeit auf lange Kabinettssitzungen. Erschöpfung und Anspannung forderten ihren Tribut, so dass er gegebene Instruktionen sowie empfangene Nachrichten vergaß und an manchen Tagen seine Minister im Bett liegend empfing. Hatte er bis dahin die Kabinettsmitglieder zumeist von oben herab behandelt, nahm er sie nun als Berater ernst. Als Mississippi Buchanans Innenminister Thompson zum Unterhändler bestimmte, um mit North Carolina über die Sezession zu diskutieren, genehmigte er die Fahrt nach Raleigh als Dienstreise. Als im Dezember bekannt wurde, dass der ohnehin als inkompetent geltende Kriegsminister Floyd öffentliche Gelder veruntreut hatte und in diesem Zusammenhang ein Verwandter seiner Gattin verhaftet wurde, entließ ihn Buchanan nicht. Zum einen fürchtete er um die öffentliche Meinung in Virginia, dem Heimatstaat Floyds, zum anderen betrachtete er das Kabinett als seine Familie, die ihn zur Loyalität verpflichtete. Zwar bat der Präsident den Kriegsminister um seinen Rücktritt, aber dieser ließ sich Zeit damit, nahm weiterhin an den Kabinettsitzungen teil und nutzte seine Position, um die Südstaaten mit Handfeuerwaffen und Munition zu versorgen. Buchanan verteidigte dies später in seiner Autobiographie damit, dass diese Bundesstaaten bei der Rüstungslieferung noch nicht ihren Austritt aus der Union erklärt hatten. Erst in den letzten Dezembertagen gab Floyd sein Amt ab, wobei er Buchanans Opposition gegen die Sezession als Begründung angab.Selbst als sich im Winter 1860 die Bildung der Konföderation durch die abtrünnigen Bundesstaaten immer deutlicher abzeichnete, umgab sich der Präsident weiterhin mit Südstaatlern und ignorierte die Republikaner. Auch als die Dominanz der Südstaaten-Minister im Kabinett durch die Rücktritte von Cobb und Floyd beendet wurde, bestand Buchanans engster Beraterkreis überwiegend aus Personen aus dem Deep South und umfasste Davis, Robert Augustus Toombs, John Slidell und den stellvertretenden Außenminister William Henry Trescot, der ein Agent für die Sezessionsstaaten war. Buchanans Freundin Rose O’Neal Greenhow nutzte die Nähe zum Präsidenten und spionierte für die Konföderation, die bereits vor ihrer Entstehung ein ausgefeiltes Netzwerk zur Informationsgewinnung beim späteren Gegner etabliert hatte. Buchanan sah nicht sich, sondern den Kongress dafür in der Verantwortung, eine Lösung für die Sezessionskrise zu finden. Buchanan selbst schwebte als Kompromiss ganz im Sinne der Südstaaten die Verabschiedung von Zusatzartikeln zur Verfassung der Vereinigten Staaten vor, die das Recht auf Sklaverei in den Südstaaten und in den Territorien garantierten sowie das Recht der Sklavenhalter stärkten, in den Nordstaaten entflohene Sklaven als Eigentum zurückzufordern. In den Nordstaaten wurde nicht nur von Republikanern Buchanans Passivität und Parteilichkeit während der Sezessionskrise mit Abscheu wahrgenommen.
==== Konflikt um Fort Sumter ====
Abgesehen von der State of the Union Address äußerte sich Buchanan in den ersten zwei Monaten nach der Wahl Lincolns nicht über die Sezessionspläne der Südstaaten. Derweil begannen die Staaten im Lower South im Zusammenhang mit ihrer Sezession, Bundeseigentum in Form von Forts, Zollstellen, Waffenkammern, Postämtern und Gerichtsgebäuden zu beschlagnahmen, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Erst im Falle von Fort Sumter in Charleston brach der Konflikt zwischen dem abwiegelnden Präsidenten und der Sezessionsbewegung offen aus. Anfang Dezember forderte Scott Verstärkung für Robert Anderson an, den neuen Kommandanten der United States Army in Charleston, die zu dieser Zeit noch in Fort Moultrie Stellung hielt. Wegen der Lage inmitten von hohen Sanddünen war diese Befestigung ohne zusätzliche Kräfte Angriffen gegenüber weitgehend schutzlos, während das auf einer künstlichen Insel gelegene und den Hafen dominierende Fort Sumter kurz vor der Fertigstellung stand. Zu dieser Zeit noch kaum ausgerüstet bot South Carolina dem Präsidenten über Gesandte einen Waffenstillstand an, sollte er auf eine Verstärkung der beiden Forts verzichten. Buchanan verschaffte durch sein zögerndes Handeln den Sezessionisten wertvolle Zeit und gab ihnen implizit zu verstehen, dass er eine Stärkung der Truppen Andersons als eine ungerechtfertigte Zwangsmaßnahme des Bundes gegenüber South Carolina ansah. Gleichzeitig entsandte er einen Botschafter zu Gouverneur Francis Wilkinson Pickens mit der Bitte um Aufschub der Sezession South Carolinas bis nach Lincolns Amtseinführung. Cass, der einzige dem demokratischen Nordstaatenflügel um Douglas zugehörige Minister, trat aus Protest gegen Buchanans Inaktivität hinsichtlich der Forts Mitte Dezember als Außenminister zurück.Am 26. Dezember 1860 verlegte Anderson mit seiner Einheit vom bedrohten Fort Moultrie nach Sumter. Zu dieser Zeit verhandelte Buchanan mit Gesandten aus dem mittlerweile unabhängigen South Carolina über eine Waffenruhe für den Hafen von Charleston. Nachdem diese von Andersons Operation gehört hatten, forderten sie gemeinsam mit den noch amtierenden Ministern Floyd und Thompson von Buchanan die Übergabe von Fort Sumter. Obwohl er trotz seiner Sympathie für die Südstaaten erkannte, dass dies angesichts der nationalen Symbolkraft, die Fort Sumter bereits erlangt hatte, an Landesverrat grenzte, stimmte der Präsident erst zu und behauptete wider besseres Wissen, Anderson habe seine Befugnisse überschritten. Buchanan schlug eine Kompromisslösung vor, indem er Anderson in das kaum zu verteidigende Fort Moultrie zurück beorderte, was einer Kapitulation gleichkam. Im Gegenzug sollte South Carolina auf einen Angriff verzichten und in Verhandlungen mit dem Kongress treten. Allerdings hatte das Kabinett zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Rücktritte von Südstaaten-Ministern mit Jeremiah Black, Joseph Holt und Edwin M. Stanton drei starke und unionstreue Mitglieder, die bei der Aufgabe von Fort Sumter mit ihrem Rücktritt drohten. Buchanan, dem die Kontrolle immer mehr entglitt, gab nach und räumte Black am 31. Dezember freie Hand bei der Neufassung des Memorandums ein. Dieses sprach South Carolina jedes Recht auf Beschlagnahme von Bundeseigentum ab und führte dazu, dass die empörte Delegation vom Präsidenten in unziemlicher Weise die sofortige Räumung von Fort Sumter verlangte. Der vor den Kopf gestoßene Buchanan verweigerte danach den weiteren Empfang der Gesandten und stellte sich deutlicher hinter die Union. Später gab er an, dass er die ganze Zeit eine konsistente Linie gegenüber der Sezessionsbewegung verfolgt habe, was aber laut Baker durch sein Verhalten im Krisenmonat Dezember und vor allem die anfängliche Bereitschaft zur Aufgabe Fort Sumters konterkariert wird.
Buchanan sprach sich nun für die Verstärkung von Fort Sumter aus, was Scott und die Mehrheit des Kabinetts schon seit Wochen gefordert hatten. Am 5. Januar lief das requirierte Handelsschiff Star of the West mit Nachschub für Fort Sumter aus und erhielt Begleitschutz durch die USS Brooklyn. Vier Tage später eröffneten die durch Spione in Washington vorgewarnten Batterien des Hafens von Charleston das Feuer auf die Star of the West, sobald sie in die Bucht einlief. Obwohl das Schiff entsprechende Notsignale gab, erhielt es kein Unterstützungsfeuer durch Fort Sumter, weil Anderson von Buchanan nicht über diese Operation informiert worden war. Da die beiden Schiffe Order hatten, den Frieden zu wahren, kehrten sie unverrichteter Dinge wieder um. Buchanan reagierte nicht auf diese Provokation, sondern forderte den Kongress zum Handeln auf, weil es als Präsident seine Zuständigkeit sei, Gesetze auszuführen und nicht welche zu machen. In völliger Verkennung der republikanischen Mehrheit bei den Wahlen im November 1860 schlug er zur Konfliktlösung die Wahl eines Verfassungskonvents vor. Der von ihm unterstützte Crittenden-Kompromiss, der die meisten der südstaatlichen Forderungen erfüllte, scheiterte im Kongress. Außerdem nahm er Kontakt zu Lincoln auf, der aber kein Interesse an einer Kooperation mit dem amtierenden Präsidenten hatte. Im Februar schlug Scott einen neuen Plan zur Verstärkung von Fort Sumter vor, der zuerst die Zustimmung des Präsidenten fand. Kurz darauf entschied sich Buchanan um, weil er die mit South Carolina vereinbarte Waffenruhe als bindend ansah. Stattdessen unterstützte er die erfolglose Friedenskonferenz von 1861. Selbst als Anfang März die Amtsübergabe an Lincoln anstand, zögerte Buchanan mit der militärischen Verstärkung der Hauptstadt, was dann eigeninitiativ von Scott übernommen wurde. An seinem letzten Morgen im Weißen Haus erreichte ihn noch ein dringender Hilferuf Andersons, dem es trotz vorheriger anderslautender Zusicherungen an Proviant und Material fehlte. Aufgrund der Verstärkung der Batterien in Charleston war eine maritime Versorgungsoperation für Fort Sumter zu diesem Zeitpunkt nur noch mit erheblicher Kampfkraft zu gewährleisten. Am Tag der Amtsübergabe, dem 4. März, äußerte Buchanan seinem Nachfolger gegenüber, dass dieser ein glücklicher Mann sei, wenn er sich auf die Präsidentschaft so freue, wie er selbst darauf, diese abzugeben.
=== Lebensabend und Tod ===
Nach der Amtsübergabe zog sich Buchanan ins Privatleben nach Wheatland zurück, wo er die meiste Zeit in seinem Studierzimmer verbrachte. Einen Monat später begann mit dem Angriff auf Fort Sumter der amerikanische Bürgerkrieg, den er als alternativlos erachtete und in dem er sich auf die Seite der „Kriegsdemokraten“ (war democrats) stellte, also hinter den Parteiflügel, der einen Friedensschluss mit den Südstaaten ablehnte. Trotzdem erschienen in der Presse regelmäßig Berichte, die ihm nicht nur die Verantwortung für den Ausbruch des Sezessionskriegs gaben, sondern auch des Landesverrats bezichtigten. Buchanan befürwortete die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den Nordstaaten durch Lincoln, aber war ein Gegner seiner Emanzipationsproklamation. Obwohl er in einigen Executive Orders des Präsidenten Verfassungsbrüche erkannte, äußerte er daran nie in der Öffentlichkeit Kritik. Buchanan arbeitete hart daran, seine Regierung gegenüber ihren Kritikern zu rechtfertigen, und wurde in diesem Bemühen um postpräsidiale Rehabilitation nur von Richard Nixon erreicht. Eine anfängliche Kooperation mit Black zu diesem Zweck scheiterte bald aufgrund persönlicher Differenzen. 1866 erschien schließlich Buchanans autobiographische Rechtfertigungsschrift unter dem Titel Mr. Buchanan’s Administration on the Eve of the Rebellion.In diesem Werk identifizierte Buchanan den „schädlichen Einfluss“ der Republikaner und die Abolitionismus-Bewegung als maßgebliche Gründe für die Sezession. Im letzten Kapitel behandelte er seine außenpolitischen Erfolge. Insgesamt stellte er fest, dass er mit allen seinen Entscheidungen als Präsident zufrieden sei, selbst mit denjenigen während der Sezessionskrise. Dafür, dass diese nicht gelöst werden konnte, machte er Anderson, Scott und den Kongress verantwortlich. Zwei Jahre nach Erscheinen seines Werkes starb Buchanan am 1. Juni 1868 im Alter von 77 Jahren an Respiratorischer Insuffizienz, ohne jemals die negativen Folgen seiner Präsidentschaft selbstkritisch hinterfragt zu haben.
== Persönlichkeit ==
Buchanan litt unter Schielen. Zusätzlich war ein Auge kurz- und das andere weitsichtig. Um dies zu überspielen, beugte er in der sozialen Interaktion den Kopf vor und lehnte ihn zur Seite. Manche Gesprächspartner fanden diese Eigenart sympathisch, da sie bei ihnen den Eindruck eines besonderen Interesses an ihren Ausführungen hinterließ, während andere bei Buchanan einen steifen Nacken vermuteten. Er bot damit Anlass zum Spott, wovon unter anderem Clay in einer Kongressdebatte rücksichtslos Gebrauch machte. Die Ehelosigkeit in Verbindung mit dem Umstand, dass er wahrscheinlich keine sexuellen Beziehungen zu Frauen hatte, prägten Buchanans Persönlichkeit. Alleine lebend, war er nicht gewohnt, Kompromisse einzugehen oder emotionale Unterstützung zu erfahren, für die er insbesondere während der Sezessionskrise von Freunden abhängig war. Mit seiner zölibatären Lebensführung ging ein enges Tugendverständnis sowie soziale Distanziertheit einher. Laut Buchanans Biographin Jean H. Baker zeige sich seine Vereinsamung exemplarisch in seiner Autobiographie, die er in der dritten Person verfasste. Ferner sei die bei einigen Gelegenheiten auftretende Unentschlossenheit darauf zurückzuführen, dass ihm eine enge Familie fehlte, mit der er seine Entscheidungen besprechen konnte. Bei Freundschaften hatte er oft keine Skrupel, diese zu opfern, wenn es politisch Vorteile brachte, weshalb ihn viele als hinterhältig wahrnahmen. Als jemand, der Loyalität nur eingeschränkt erwiderte, verdiente er sich in der Bevölkerung zu wenig Vertrauen, um die Nation als Ganzes zu führen. Andererseits galt Buchanan als exzellenter Unterhalter auf Gesellschaften, wodurch er viele Freunde beiderlei Geschlechts gewann.Einige Historiker sind der Auffassung, dass Senator King, der in seiner Heimat Alabama als Dandy bekannt war, in einer homosexuellen Dauerbeziehung mit James Buchanan lebte. Beide waren ledig und wohnten 16 Jahre lang in einer Wohnung in Washington zusammen. So wurde Buchanan von Präsident Andrew Jackson wegen seiner femininen Persönlichkeitswirkung als „Miss Nancy“ betitelt und ein Kongressmitglied bezeichnete Buchanan und King als Buchanan and his wife („Buchanan und seine Frau“). Es gibt Hinweise darauf, dass Harriet Lane und die Nichte von King die Korrespondenz zwischen ihren beiden Onkeln vernichteten, bevor Buchanan in das Weiße Haus einzog. Der erhaltene Briefwechsel zwischen Buchanan und King offenbart zwar eine große Zuneigung zwischen beiden, was aber in dieser Form im Briefverkehr zwischen heterosexuellen Männern des 19. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches war. Weil zu dieser Zeit Homosexualität eine Straftat war und ihre Aufdeckung das politische Aus bedeutete, hält Baker eine solche Beziehung zwischen beiden für eher unwahrscheinlich. Sie vermutet eher, dass Buchanans Charakter durch Asexualität gekennzeichnet war. Ob Buchanans Junggesellentum der Unfähigkeit zu einer sexuellen Beziehung oder Homosexualität geschuldet war, wird bis heute diskutiert und wahrscheinlich nie geklärt werden können.Buchanans Sympathien für die Südstaaten gingen über die politische Zweckmäßigkeit für seinen Weg in das Weiße Haus hinaus. Er identifizierte sich mit kulturellen und sozialen Werten, die er im Ehrenkodex und Lebensstil der Pflanzerklasse widergespiegelt fand und mit denen er verstärkt in seiner Pensionsgemeinschaft ab 1834 in Kontakt kam. Buchanan fühlte sich daher in Gesellschaft von Südstaatlern am wohlsten, wobei die Einrichtung der Sklaverei für ihn nicht nur unwichtig war, sondern von ihm sogar als ein Instrument angesehen wurde, um Schwarze zu zivilisieren. Wichtig bei dieser Entwicklung war King, der als sein Mentor prägenden Einfluss auf ihn ausübte.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung ===
Die Aufzeichnungen und Korrespondenz Buchanans wurden bis 1911 in zwölf Bänden von John Bassett Moore herausgegeben und 1974 durch eine Mikrofilm-Edition von Lucy Fisher West und Philipp Shriver Klein vervollständigt. Nach dem Bürgerkrieg blieb der Ruf von Buchanan für lange Zeit gewahrt, da die Aussöhnung zwischen den Nord- und Südstaaten Priorität hatte und die nationale Geschichtsschreibung dazu neigte, den Patriotismus der amerikanischen Präsidenten überzubetonen. Vor dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der amerikanischen Geschichtswissenschaft die südstaatenfreundliche Auffassung vor, dass die Sklaverei eine sterbende Institution und der Sezessionskrieg daher vermeidbar gewesen sei. In dieser Zeit erschienen drei apologetische Biographien Buchanans, die ihn als Friedensstifter porträtierten. Mit dem Erstarken der Bürgerrechtsbewegung ab der 1950er Jahre wandelte sich die Bewertung seiner Präsidentschaft, die von Historikern wie Roy Nichols (1948), Allan Nevins (1950), Kenneth M. Stampp (1950) und Michael Holt (1978) vor allem wegen seines unentschlossenen Verhaltens während der Sezessionskrise einhellig als negativ eingeschätzt wurde. Elbert B. Smith (1975) thematisierte in seiner Biographie als erster Buchanans südstaatenfreundliche Politik als Grund für sein Scheitern als Präsident, einer Einschätzung, der später Baker (2004) und James M. McPherson (1982) folgten, wobei dieser Buchanan als einen naiven und ungeschickten Sympathisanten der Südstaaten zeichnete. Eine Ausnahme von diesem Urteil bildet die Monografie von Klein (1962), der Buchanan als einen um Frieden bemühten Politiker und wohlmeinenden Legalisten darstellte, der mit Ereignissen jenseits seiner Kontrollmöglichkeiten konfrontiert wurde. Ähnlich argumentiert der Historiker Russell McClintock (2008). Ein gleichfalls positives Bild von Buchanan zeichnete John Updike in dem Theaterstück Buchanan Dying (1974). Insgesamt fand seine Präsidentschaft in der Geschichtswissenschaft nur wenig Beachtung, was vor allem daran liegt, dass er von seinem Nachfolger Lincoln so sehr überragt wurde.Obwohl Buchanan sich immer als Mann der States’ Rights bezeichnete, kennzeichneten ihn der Einsatz für den Expansionismus der Vereinigten Staaten und die mit chauvinistischer Rhetorik kommunizierte Überzeugung vom amerikanischen Exzeptionalismus als Nationalisten. Als Begründung für die Manifest Destiny führte Buchanan wie seine Zeitgenossen unterschiedlichste Motive an, die von geographischer Nähe und Landnutzung bis zur Verbreitung von Freiheit und dem Befolgen des Willen Gottes reichten. Seine Begründungen für die Notwendigkeit von Interventionen in Südamerika, die auf die Sicherheit von Bürgern und Investments der Vereinigten Staaten rekurrierten, ähnelten denen, die Präsidenten im 20. Jahrhundert in diesem Zusammenhang geltend machten. Auch sein Bestreben, durch den Kongress das Recht zum Führen von Präventivkriegen zu erhalten, glich dem von modernen Präsidenten. In der historischen Gesamtbetrachtung gehört Buchanan auf dem Felde der Außenpolitik zu den größten Hardlinern unter den Präsidenten Amerikas und entschiedenster Expansionist vor Theodore Roosevelt.Den politischen Lösungen der Vergangenheit verhaftet, versagte er sowohl Abolitionisten als auch den immer zahlreicher werdenden Nordstaatlern die Anerkennung, die die Südstaaten als Aggressor wahrnahmen. Als Führer einer Partei, zu deren wichtigster Klientel die Pflanzerklasse zählte, hielt er an der Sklaverei fest, auch als ihr moralischer und politischer Anachronismus schließlich von der Mehrheit der Amerikaner empfunden wurde. In seinem Kampf gegen die Republikaner, die er als illoyal und unamerikanisch brandmarkte, überschritt er die tradierte Toleranzgrenze der parteipolitischen Konfrontation. Buchanan sorgte somit in bedeutendem Ausmaße dafür, dass die Republikaner im Süden als eine existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurden, und beförderte damit die Bereitschaft zur Sezession. Gleichfalls über das allgemein akzeptierte Niveau für einen Politiker seiner Zeit und Stellung hinaus ging Buchanan in der Bevorzugung der Südstaaten. In seiner einseitigen Parteinahme für die Südstaaten, die er selbst während der Sezessionskrise fortsetzte und sich damit laut Baker gegen die Union stellte, zeigte er sich so unnachgiebig wie Präsident Jackson im umgekehrten Fall während der Nullifikationskrise. Buchanan hatte zudem großen Anteil an der Spaltung der Demokraten, die als nationale Partei essenziell für den Erhalt der Vereinigten Staaten waren.Zwar heben einige Historiker und Buchanan selbst hervor, dass er durch die Rettung von Fort Sumter seinem Nachfolger ermöglicht habe, eine friedliche Sezession zu verhindern, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit seiner Appeasement-Politik die abtrünnigen Bundesstaaten in ihrem Tun bestärkt und den Aufwuchs der konföderierten Streitkräfte befördert. Die konstatierte Gemeinsamkeit mit Lincoln ist gemäß Baker zudem deswegen oberflächlich, weil Buchanan es bis Anfang Januar 1861 lediglich mit einem abtrünnigen Bundesstaat zu tun hatte, während Lincoln von Anfang an die Konföderierten Staaten gegenüberstanden, die um weitere Sklavenstaaten und um diplomatische Anerkennung warben. Eine energischere Reaktion Buchanans auf die Sezession South Carolinas, die Beschlagnahme von Bundeseigentum sowie den Beschuss der Star of the West hätte die Bildung der Konföderation verhindern können. Während Lincoln die Unionstreue in den Grenzstaaten überschätzt habe, habe sie Buchanan in den Südstaaten unterschätzt. Des Weiteren hebe ihn sein offensives Verständnis von den exekutiven Vollmachten des Weißen Hauses aus der Reihe seiner vielfach passiven Amtskollegen der Epoche vor dem Bürgerkrieg als einen starken, aber fehlgeleiteten Präsidenten hervor. Andererseits zeichne sich sein Verhalten während der Sezessionskrise im historischen Vergleich zu anderen Präsidenten durch das aus, was er unterlassen habe zu tun, und die Langsamkeit dessen, was er am Ende unternommen habe. Trotzdem sei das Bild der meisten Amerikaner über Buchanan, das ihn als unentschlossen und untätig skizziere, falsch und sein Scheitern in der Sezessionskrise seiner einseitigen Bevorzugung der Südstaaten geschuldet, womit er Landesverrat näher gekommen sei als jeder andere Präsident der Vereinigten Staaten.Vor allem da sich unter Buchanan der Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten bis zur Sezession hin verschärfte, ohne dass er etwas Effektives dagegen unternahm, wird er von den meisten Historikern als einer der schwächsten amerikanischen Präsidenten angesehen und landet in den umfragebasierten Expertenrankings neben Warren G. Harding und Nixon stets auf einem der letzten Plätze, noch hinter seinen erfolglosen Vorgängern Fillmore und Pierce (Stand 2004). Ausnahmen von dieser negativen Sichtweise stellen die Buchanan-Biographen George Ticknor Curtis und Philip S. Klein dar. Einige Historiker machen geltend, dass Buchanan zum Zeitpunkt der Sezessionskrise als Präsident abgewählt und somit eine Lame Duck war. Baker zufolge stand Buchanan einer Administration vor, die in historisch unübertroffener Art und Weise der amerikanischen Union gegenüber illoyal war. Sie erachtet das Verhalten im Verfassungskonflikt um Kansas, bei dem er den Einwänden des Nordstaatenflügels der Demokraten keine Beachtung schenkte, die Passivität gegenüber South Carolina während der Sezessionskrise, die auf die Südstaaten wie ein stilles Einverständnis wirkte, und die später wieder aufgehobene Rückbeorderung Andersons nach Fort Moultrie als größte Fehler seiner Präsidentschaft. Insgesamt habe ihm sein arrogantes Machverständnis, die ideologische Voreingenommenheit für die Werte der südstaatlichen Pflanzer und seine Überzeugung vom natürlichen Aussterben der Sklaverei zu sehr im Weg gestanden, um pragmatisch und mit einem Gespür für Mehrheiten auf die divergierenden Interessengruppen innerhalb der Vereinigten Staaten eingehen zu können, so dass er am Ende weder die Spaltung der Partei noch die der Nation verhindern konnte. Ähnlich wie Baker argumentiert der Rechtshistoriker Paul Finkelman, der Buchanans Einflussnahme auf das Dred Scott versus Sandford-Urteil als weiteren verhängnisvollen Fehler ansieht, der Amerika auf den Pfad zum Bürgerkrieg geführt habe. In jüngerer Zeit unterstreichen hingegen Michael J. Birkner und John W. Quist (2014), dass der Forschungsstand zu Buchanan zu uneinheitlich sei, um ihn als schlechtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte zu bezeichnen.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Drei Countys in den Vereinigten Staaten tragen seinen Namen. Sein Wohnsitz Wheatland bekam im Juli 1961 den Status eines National Historic Landmarks zuerkannt und ist seit Oktober 1966 als James Buchanan House im National Register of Historic Places eingetragen. Die 2007 gestartete Serie der Präsidentendollar prägte im Jahr 2010 Münzen mit den Porträts von Fillmore, Pierce, Buchanan und Lincoln.
== Werke ==
The administration on the eve of the rebellion: A history of four years before the war. (1865). LCCN 10-010286.
John Bassett Moore (Hrsg.): The Works of James Buchanan. 1908–1911, LCCN 08-012119.
== Literatur ==
Sachbücher
Michael J. Birkner, Randall Martin Miller, John W. Quist (Hrsg.): The Worlds of James Buchanan and Thaddeus Stevens: Place, Personality, and Politics in the Civil War Era. Louisiana State University Press, Baton Rouge 2019, ISBN 978-0-8071-7081-6.
Michael J. Birkner, John W. Quist (Hrsg.): James Buchanan and the Coming of the Civil War. Taschenbuchausgabe. University of Florida, Gainesville 2014, ISBN 978-0-8130-6099-6.
Heike Bungert: James Buchanan (1857–1861): Südstaatenfreundlicher Legalist in der Krise der Union. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 65–72.
Jean H. Baker: James Buchanan. (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 15th President). Times Books, New York City 2004, ISBN 0-8050-6946-1.
Michael J. Birkner (Hrsg.): James Buchanan and the Political Crisis of the 1850s. Susquehanna University Press, Cranbury 1996, ISBN 978-0-945636-89-2.
Elbert B. Smith: The Presidency of James Buchanan. University Press of Kansas, Lawrence 1975, ISBN 978-0-7006-0132-5.
Philip Shriver Klein: President James Buchanan: A Biography. Neuauflage der Erstausgabe von 1962. American Political Biography Press, Newton 2010, ISBN 978-0-9457-0711-0.
Roy Franklin Nichols: The disruption of American democracy. Macmillan, New York 1948, LCCN 48-006344Belletristik
John Updike: Buchanan Dying (Drama, 1974)
== Weblinks ==
James Buchanan im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Literatur von und über James Buchanan im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
American President: James Buchanan (1791–1868), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: William Cooper)
The American Presidency Project: James Buchanan. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
The James Buchanan papers The Historical Society of Pennsylvania (Sammlung historischer Dokumente aus der Amtszeit, englisch)
Life Portrait of James Buchanan auf C-SPAN, 21. Juni 1999, 141 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit dem Historiker Richard Keller sowie geführter Tour durch das James Buchanan House)
Sebastian Hollstein: Der schlechteste US-Präsident der Geschichte. In: Spektrum.de, 15. Oktober 2020.
James Buchanan in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/James_Buchanan |
Californium | = Californium =
Californium (selten auch Kalifornium geschrieben) ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cf und der Ordnungszahl 98. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Benannt wurde es nach der Universität von Kalifornien und dem US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien, wo es entdeckt wurde. Bei Californium handelt es sich um ein radioaktives Metall. Es wurde im Februar 1950 erstmals aus dem leichteren Element Curium erzeugt. Es entsteht in geringen Mengen in Kernreaktoren. Anwendung findet es vor allem für mobile und tragbare Neutronenquellen, aber auch zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide.
== Geschichte ==
So wie Americium (Ordnungszahl 95) und Curium (96) in den Jahren 1944 und 1945 nahezu gleichzeitig entdeckt wurden, erfolgte in ähnlicher Weise in den Jahren 1949 und 1950 die Entdeckung der Elemente Berkelium (97) und Californium (98).
Californium wurde zum ersten Mal am 9. Februar 1950 an der Universität von Kalifornien in Berkeley von Stanley G. Thompson, Kenneth Street, Jr., Albert Ghiorso und Glenn T. Seaborg erzeugt, indem sie Atomkerne des Curiums mit α-Teilchen beschossen. Es war das sechste Transuran, das entdeckt wurde. Die Entdeckung wurde gleichzeitig mit der des Berkeliums veröffentlicht.Die Namenswahl für beide Elemente folgte demselben Muster: Während Berkelium zu Ehren der Universität von Berkeley seinen Namen erhielt, wählte man für das Element 98 den Namen Californium zu Ehren der Universität und des Staates Kalifornien: “It is suggested that element 98 be given the name californium (symbol Cf) after the university and state where the work was done. This name, chosen for the reason given, does not reflect the observed chemical homology of element 98 to dysprosium (No. 66) as the names americium (No. 95), curium (No. 96), and berkelium (No. 97) signify that these elements are the chemical homologs of europium (No. 63), gadolinium (No. 64), and terbium (No. 65), respectively.”Die Probenvorbereitung erfolgte zunächst durch Auftragen von Curiumnitratlösung (mit dem Isotop 242Cm) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2; die Lösung wurde eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (CmO2) geglüht.
Nun wurde diese Probe im 60-Zoll-Cyclotron mit beschleunigten α-Teilchen mit einer Energie von 35 MeV etwa 2–3 Stunden beschossen. Dabei entstehen in einer (α,n)-Kernreaktion 245Cf und freie Neutronen:
96
242
C
m
+
2
4
H
e
⟶
98
245
C
f
+
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{242}_{\ 96}Cm\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 98}^{245}Cf\ +\ _{0}^{1}n} }
Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst.
Die weitere Trennung erfolgte in Gegenwart eines Citronensäure/Ammoniumcitrat-Puffers im schwach sauren Medium (pH ≈ 3,5) mit Ionenaustauschern bei erhöhter Temperatur.
Die chromatographische Trennung konnte nur aufgrund vorheriger Vergleiche mit dem chemischen Verhalten der entsprechenden Lanthanoide gelingen. So tritt bei einer Trennung das Dysprosium vor Terbium, Gadolinium und Europium aus einer Säule. Falls das chemische Verhalten des Californiums dem eines Eka-Dysprosiums ähnelt, sollte das fragliche Element 98 daher in dieser analogen Position zuerst erscheinen, entsprechend vor Berkelium, Curium und Americium.
Die Experimente zeigten ferner, dass nur die Oxidationsstufe +3 zu erwarten war. Entsprechende Oxidationsversuche mit Ammoniumperoxodisulfat beziehungsweise Natriumbismutat zeigten, dass entweder höhere Oxidationsstufen in wässrigen Lösungen nicht stabil sind oder eine Oxidation selbst zu langsam verläuft.
Die zweifelsfreie Identifikation gelang, als die vorherberechnete charakteristische Energie (7,1 MeV) des beim Zerfall ausgesandten α-Teilchens experimentell gemessen werden konnte. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde erstmals auf 45 Minuten bestimmt.
In der Erstveröffentlichung ging man zunächst davon aus, das Californiumisotop mit der Massenzahl 244 gemäß folgender Gleichung erzeugt zu haben:
96
242
C
m
+
2
4
H
e
⟶
98
244
C
f
+
2
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{242}_{\ 96}Cm\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 98}^{244}Cf\ +\ 2\ _{0}^{1}n} }
Im Jahr 1956 wurde diese Hypothese korrigiert: Der 45-Minuten α-Strahler, der zunächst dem Isotop 244Cf zugeordnet wurde, wurde neu auf die Massenzahl 245 festgelegt, festgestellt unter anderem durch Langzeitbeschuss und Zerfallsstudien. 245Cf zerfällt sowohl durch die Emission von α-Teilchen (7,11 ± 0,02 MeV) (≈ 30 %) als auch durch Elektroneneinfang (≈ 70 %). Das neue Isotop 244Cf wurde auch ermittelt und dabei festgestellt, dass sein Zerfall durch die Emission eines α-Teilchens stattfindet (7,17 ± 0,02 MeV mit einer Halbwertszeit von 25 ± 3 Minuten). Die Massenzuordnung dieses Isotops ergab sich durch das Auffinden des Curiumisotops 240Cm. Das 244Cf entsteht durch (α,4n)-Reaktion aus 244Cm:
96
244
C
m
+
2
4
H
e
⟶
98
244
C
f
+
4
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 98}^{244}Cf\ +\ 4\ _{0}^{1}n} }
Im Jahr 1958 isolierten Burris B. Cunningham und Stanley G. Thompson erstmals wägbare Mengen eines Gemisches der Isotope 249Cf, 250Cf, 251Cf, 252Cf, die durch langjährige Neutronenbestrahlung von 239Pu in dem Testreaktor der National Reactor Testing Station in Idaho erzeugt wurden. 1960 isolierten B. B. Cunningham und James C. Wallmann die erste Verbindung des Elements, etwa 0,3 µg CfOCl, und anschließend das Oxid Cf2O3 und das Trichlorid CfCl3.
== Isotope ==
Von Californium gibt es 20 durchweg radioaktive Isotope und ein Kernisomer (Massenzahlen von 237 bis 256). Die langlebigsten sind 251Cf (Halbwertszeit 900 Jahre), 249Cf (351 Jahre), 250Cf (13 Jahre), 252Cf (2,645 Jahre) und 248Cf (334 Tage). Die Halbwertszeiten der restlichen Isotope liegen im Bereich von Millisekunden bis Stunden oder Tagen.Nimmt man beispielhaft den Zerfall des langlebigsten Isotops 251Cf heraus, so entsteht durch α-Zerfall zunächst das langlebige 247Cm, das seinerseits durch erneuten α-Zerfall in 243Pu übergeht. Der weitere Zerfall führt dann über 243Am, 239Np, 239Pu zum 235U, dem Beginn der Uran-Actinium-Reihe (4 n + 3).
98
251
C
f
→
900
a
α
96
247
C
m
→
15
,
6
⋅
10
6
a
α
94
243
P
u
→
4,956
h
β
−
95
243
A
m
{\displaystyle \mathrm {^{251}_{\ 98}Cf\ {\xrightarrow[{900\ a}]{\alpha }}\ _{\ 96}^{247}Cm\ {\xrightarrow[{15{,}6\cdot 10^{6}\ a}]{\alpha }}\ _{\ 94}^{243}Pu\ {\xrightarrow[{4{,}956\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{243}Am} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.Das Isotop 252Cf zerfällt bei einer Halbwertszeit von 2,645 Jahren zu 96,908 % durch α-Zerfall, aber auch zu 3,092 % durch Spontanspaltung. Bei der Spontanspaltung werden pro zerfallendem Kern im Mittel 3,77 Neutronen emittiert. Es wird daher als Neutronenquelle verwendet.
Das Isotop 254Cf zerfällt bei einer Halbwertszeit von 60,5 Tagen fast ausschließlich durch Spontanspaltung.
== Vorkommen ==
Californiumisotope kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor.
In den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe wurden am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll – neben der Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium und dem Nachweis von Plutonium und Americium – auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden: vor allem die Isotope 245Cm und 246Cm, in kleineren Mengen 247Cm und 248Cm, in Spuren 249Cm; ferner 249Bk, 249Cf, 252Cf, 253Cf und 254Cf. Die Menge des 249Cf stieg durch den β-Zerfall des 249Bk an (Halbwertszeit 330 Tage). Es wurde dagegen kein 250Cf gefunden. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Halbwertszeit von 250Cm mit rund 8300 Jahren zu groß ist, als dass durch β-Zerfall (über 250Bk) detektierbare Mengen 250Cf hätten gebildet werden können. Zudem zerfällt 250Cm nur mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 6 % im β-Zerfall zu 250Bk. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst im Jahr 1956 publiziert.Es wurde in den 1950er Jahren vermutet, dass Californiumisotope im r-Prozess in Supernovae entstehen. Besonderes Interesse fand hierbei das Isotop 254Cf, welches zuvor in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe gefunden wurde. Mit der damals gemessenen Halbwertszeit für die Spontanspaltung von 56,2 ± 0,7 Tagen (aktuell: 60,5 Tage) vermutete man eine Übereinstimmung mit dem Verlauf der Lichtkurve von Supernovae des Typs I von 55 ± 1 Tagen. Der Zusammenhang ist allerdings immer noch fraglich.
In Kernreaktoren entstehen vor allem die langlebigen α-strahlenden Isotope 249Cf und 251Cf. Sie zählen wegen ihrer langen Halbwertszeit zum Transuranabfall und sind bei der Endlagerung besonders problematisch.
== Gewinnung und Darstellung ==
Californium wird durch Beschuss von leichteren Actinoiden mit Neutronen in einem Kernreaktor erzeugt. Die Hauptquelle ist der 85 MW High-Flux-Isotope Reactor am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, USA, der auf die Herstellung von Transcuriumelementen (Z > 96) eingerichtet ist.
=== Gewinnung von Californiumisotopen ===
Californium entsteht in Kernreaktoren aus Uran 238U oder Plutoniumisotopen durch zahlreiche nacheinander folgende Neutroneneinfänge und β-Zerfälle – unter Ausschluss von Spaltungen oder α-Zerfällen –, die über Berkelium zu den Californiumisotopen führen, so zuerst die Isotope mit den Massenzahlen 249, 250, 251 und 252.Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das Plutoniumisotop 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt.
92
238
U
→
(
n
,
γ
)
92
239
U
→
23
,
5
m
i
n
β
−
93
239
N
p
→
2
,
3565
d
β
−
94
239
P
u
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 92}^{239}U\ {\xrightarrow[{23,5\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 93}^{239}Np\ {\xrightarrow[{2,3565\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 94}^{239}Pu} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.Letzteres wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu dem Americiumisotop 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm. Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächstschwereren Isotope.
94
239
P
u
→
4
(
n
,
γ
)
94
243
P
u
→
4
,
956
h
β
−
95
243
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
244
A
m
→
10
,
1
h
β
−
96
244
C
m
;
96
244
C
m
→
5
(
n
,
γ
)
96
249
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {4(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{243}Pu\ {\xrightarrow[{4,956\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{243}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{244}Am\ {\xrightarrow[{10,1\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{244}Cm} \quad ;\quad \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow {5(n,\gamma )}}\ _{\ 96}^{249}Cm} }
Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind.
249Cf ist das erste Isotop des Californiums, das auf diese Weise gebildet werden kann. Es entsteht durch zweimaligen β-Zerfall aus 249Cm – das erste Curiumisotop, welches einen β-Zerfall eingeht (Halbwertszeit 64,15 min).
96
249
C
m
→
64
,
15
m
i
n
β
−
97
249
B
k
→
330
d
β
−
98
249
C
f
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow[{64,15\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 97}^{249}Bk\ {\xrightarrow[{330\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 98}^{249}Cf} }
Das hier entstehende 249Bk bildet zudem durch Neutroneneinfang das 250Bk, welches mit einer Halbwertszeit von 3,212 Stunden durch β-Zerfall zum Californiumisotop 250Cf zerfällt.
97
249
B
k
→
(
n
,
γ
)
97
250
B
k
→
3
,
212
h
β
−
98
250
C
f
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 97}Bk\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 97}^{250}Bk\ {\xrightarrow[{3,212\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 98}^{250}Cf} }
Durch weitere Neutroneneinfänge werden die Isotope 251Cf, 252Cf und 253Cf aufgebaut. Nach einjähriger Bestrahlung stellt sich folgende Isotopenverteilung ein: 249Cf (2 %), 250Cf (15 %), 251Cf (4 %) und 252Cf (79 %). Das Isotop 253Cf zerfällt schon mit einer Halbwertszeit von 17,81 Tagen zu 253Es.
Californium steht (zumeist als Oxid Cf2O3) heute weltweit lediglich in sehr geringen Mengen zur Verfügung, weshalb es einen sehr hohen Preis besitzt. Dieser beträgt etwa 160 US-Dollar pro Mikrogramm 249Cf bzw. 50 US-Dollar für 252Cf.Californium (244Cf und 246Cf) wurde erstmals 1951 auch aus Uran durch Beschuss mit Kohlenstoff gewonnen:
92
238
U
→
−
6
n
+
6
12
C
98
244
C
f
;
92
238
U
→
−
4
n
+
6
12
C
98
246
C
f
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow[{-6\ n}]{\mathrm {+_{\ 6}^{12}C} }}\ _{\ 98}^{244}Cf\quad ;\quad _{\ 92}^{238}U\ {\xrightarrow[{-4\ n}]{\mathrm {+_{\ 6}^{12}C} }}\ _{\ 98}^{246}Cf} }
Die leichteren Isotope des Californiums (240Cf und 241Cf) wurden durch Beschuss von 235U, 234U und 233U mit Kohlenstoff im Jahr 1970 erzeugt.
=== Darstellung elementaren Californiums ===
Californium erhält man durch Reduktion von Californium(III)-oxid mit Lanthan oder Thorium oder von Californium(III)-fluorid mit Lithium oder Kalium.
CfF
3
+
La
⟶
Cf
+
LaF
3
{\displaystyle {\ce {CfF3 + La -> Cf + LaF3}}}
Im Jahr 1974 wurde berichtet, dass Californium erstmals in metallischer Form (wenige Mikrogramm) durch Reduktion von Californium(III)-oxid (Cf2O3) mit Lanthan gewonnen und das Metall in Form dünner Filme auf Trägern für die Elektronenmikroskopie aufgebracht wurde. Aufgrund der Messungen wurden zunächst eine f.c.c.-Struktur (a = 574,3 ± 0,6 pm) und eine hexagonale Struktur (a = 398,8 ± 0,4 pm und c = 688,7 ± 0,8 pm) beschrieben. Der Schmelzpunkt wurde erstmals mit 900 ± 30 °C gemessen. Diese Ergebnisse wurden allerdings im Folgejahr 1975 in Frage gestellt. Die beiden Phasen des Californiums wurden stattdessen als Verbindungen dieses Metalls beschrieben: die hexagonale Phase als Cf2O2S, die f.c.c.-Phase als CfS. In beiden Verbindungen wird eine Dreiwertigkeit des Californiums mit einem Atomradius bei 183–185 pm beschrieben. Noé und Peterson fassten jedoch im September 1975 die bisherigen Ergebnisse zusammen und stellten zudem eigene umfangreiche Ergebnisse vor, die die eindeutige Darstellung von metallischem Californium und dessen Eigenschaften aufzeigen.
== Eigenschaften ==
Im Periodensystem steht das Californium mit der Ordnungszahl 98 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Berkelium, das nachfolgende Element ist das Einsteinium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoide ist das Dysprosium.
=== Physikalische Eigenschaften ===
Californium ist ein radioaktives Metall mit einem Schmelzpunkt von ca. 900 °C und einer Dichte von 15,1 g/cm3. Es tritt in drei Modifikationen auf: α-, β- und γ-Cf.
Das bei Standardbedingungen auftretende α-Cf (< 600 °C) kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 338 pm und c = 1102,5 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La.
Unter hohem Druck geht α-Cf allmählich in β-Cf über. Die β-Modifikation (600–725 °C) kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe Fm3m (Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 mit dem Gitterparameter a = 494 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht. Oberhalb von 725 °C wandelt sich die β-Modifikation in die γ-Modifikation um. Die γ-Modifikation kristallisiert ebenfalls im kubischen Kristallsystem, jedoch mit einem größeren Gitterparameter von a = 575 pm.Die Lösungsenthalpie von Californium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −576,1 ± 3,1 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (ΔfH0) von Cf3+(aq) auf −577 ± 5 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Cf3+ / Cf0 auf −1,92 ± 0,03 V.
=== Chemische Eigenschaften ===
Das silberglänzende Schwermetall ist wie alle Actinoide sehr reaktionsfähig. Es wird von Wasserdampf, Sauerstoff und Säuren angegriffen; gegenüber Alkalien ist es stabil.Die stabilste Oxidationsstufe ist die für die höheren Actinoide zu erwartende Stufe +3. Es bildet dabei zwei Reihen von Salzen: Cf3+- und CfO+-Verbindungen.
Auch die zweiwertige und vierwertige Stufe ist bekannt. Cf(II)-Verbindungen sind starke Reduktionsmittel. In Wasser setzen sie unter Oxidation zu Cf3+ Wasserstoff frei. Californium(IV)-Verbindungen sind starke Oxidationsmittel. Sie sind instabiler als die von Curium und Berkelium. In fester Form sind bisher nur zwei Verbindungen des Californiums in der Oxidationsstufe +4 bekannt: Californium(IV)-oxid (CfO2) und Californium(IV)-fluorid (CfF4). Californium(IV)-fluorid gibt beim Erhitzen elementares Fluor ab.
Wässrige Lösungen mit Cf3+-Ionen haben eine grüne Farbe, mit Cf4+-Ionen sind sie braun.Cf4+-Ionen sind in wässriger Lösung im Unterschied zu den Cf3+-Ionen nicht stabil und können nur komplexstabilisiert vorliegen. Eine Oxidation des dreiwertigen Californiums (249Cf) gelang in Kaliumcarbonat-Lösung (K2CO3) an einer Platinanode. Während der Elektrolyse konnte die Zunahme einer Breitbandabsorption im Bereich von λ < 500 nm beobachtet werden (Gelbfärbung der Lösung); die Absorptionsbande des Californium(III) nahm entsprechend ab. Eine vollständige Oxidation konnte nicht erreicht werden.
=== Spaltbarkeit ===
Generell sind alle Californium-Isotope mit Massenzahlen zwischen 249 und 254 in der Lage, eine Kettenreaktion mit Spaltneutronen aufrechtzuerhalten. Für die anderen Isotope ist die Halbwertszeit so kurz, dass bisher nicht ausreichend Daten zum Verhalten gegenüber Neutronen gemessen und öffentlich publiziert wurden. Somit kann nicht berechnet werden (Stand 1/2009), ob eine Kettenreaktion mit schnellen Neutronen möglich ist, auch wenn dies sehr wahrscheinlich ist. Mit thermischen Neutronen gelingt eine Kettenreaktion bei den Isotopen 249, 251, 252, 253 und evtl. 254. Bei letztgenanntem sind die Unsicherheiten der derzeitigen Daten für eine genaue Beurteilung zu groß (1/2009).Das Isotop 251Cf verfügt über eine sehr kleine kritische Masse von lediglich 5,46 kg für eine reine Kugel, die mit Reflektor bis auf 2,45 kg reduziert werden kann. Dadurch wurden Spekulationen ausgelöst, dass es möglich wäre, enorm kleine Atombomben zu bauen. Erschwert wird dies aber neben der sehr geringen Verfügbarkeit und dem damit einhergehenden hohen Preis auch durch die kurze Halbwertszeit von 251Cf und der daraus resultierenden hohen Wärmeabgabe. Die kritische Masse von 254Cf liegt zwar mit etwa 4,3 kg noch unter der von 251Cf, allerdings ist die Herstellung dieses Isotops bedeutend aufwändiger und die Halbwertszeit von 60,5 Tagen zu kurz für eine Verwendung in Kernwaffen.Weiterhin würden sich die Isotope 249Cf, 251Cf und 252Cf auch zum Betreiben eines Kernreaktors eignen. In wässriger Lösung mit Reflektor sinkt die kritische Masse von 249Cf auf etwa 51 g, die von 251Cf sogar auf lediglich rund 20 g. Alle drei Isotope könnten auch in einem schnellen Reaktor eingesetzt werden. Dieser könnte darüber hinaus auch mit 250Cf realisiert werden (kritische Masse: 6,55 kg unreflektiert). Dem stehen aber auch hier die geringe Verfügbarkeit und der hohe Preis entgegen, weshalb bislang keine Reaktoren auf Californiumbasis gebaut wurden. Dementsprechend wird Californium im deutschen Atomgesetz nicht als Kernbrennstoff geführt.
== Sicherheitshinweise ==
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt.
== Verwendung ==
=== Neutronenquelle ===
Am interessantesten ist das Isotop 252Cf. Es zerfällt zum Teil durch Spontanspaltung; 1 µg strahlt dabei pro Sekunde 2,314 Millionen Neutronen ab. Es wird daher ausschließlich für mobile, tragbare und dabei starke Neutronenquellen eingesetzt; hierzu wird es in Form von Californium(III)-oxid (Cf2O3) bereitgestellt.
Als Neutronenquelle wird es für Folgendes verwendet:
in der Medizin zur Krebsbehandlung
in der Industrie (Materialdiagnostik, „On the Spot“-Neutronenaktivierungsanalyse)
zur Feuchtemessung bei Bohrungen nach Erdöl (Unterscheidung von Wasser und ölführenden Schichten)
zum Auffinden von Sprengstoffen
als Anfahrquelle in Kernreaktoren
=== Herstellung anderer Elemente ===
Durch Beschuss von 249Cf mit Kohlenstoff kann beispielsweise Nobelium erzeugt werden:
98
249
C
f
→
−
2
n
,
−
α
+
6
12
C
102
255
N
o
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 98}Cf\ {\xrightarrow[{-2\ n,\ -\alpha }]{\mathrm {+_{\ 6}^{12}C} }}\ _{102}^{255}No} }
Im Oktober 2006 wurde bekanntgegeben, dass durch den Beschuss von 249Cf mit 48Ca das bisher schwerste Element Oganesson (Element 118) erzeugt wurde, nachdem eine früher bekanntgegebene Entdeckung wieder zurückgezogen worden war.
== Verbindungen ==
=== Oxide ===
Von Californium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Cf2O3) und +4 (CfO2).
Californium(IV)-oxid (CfO2) entsteht durch Oxidation mit molekularem Sauerstoff bei hohem Druck und durch atomaren Sauerstoff. Es entsteht unter anderem implizit in Kernreaktoren beim Bestrahlen von Urandioxid (UO2) bzw. Plutoniumdioxid (PuO2) mit Neutronen. Es ist ein schwarzbrauner Feststoff und kristallisiert – wie die anderen Actinoiden(IV)-oxide – im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur. Der Gitterparameter beträgt 531,0 ± 0,2 pm.Californium(III)-oxid (Cf2O3) ist ein gelbgrüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 1750 °C. Es gibt zwei Modifikationen; die Übergangstemperatur zwischen dem kubisch-raumzentrierten und dem monoklinen Cf2O3 beträgt etwa 1400 °C. Seine Anwendung findet es vor allem bei der Herstellung von 252Cf-Neutronenquellen. Dazu wird 252Cf(III) zunächst als Californiumoxalat (Cf2(C2O4)3) gefällt, getrocknet und anschließend zum dreiwertigen Oxid geglüht.Übergangszusammensetzungen von Oxiden der Form CfOx (2,00 > x > 1,50) besitzen eine rhomboedrische Struktur.
=== Oxihalogenide ===
Californium(III)-oxifluorid (CfOF) wurde durch Hydrolyse von Californium(III)-fluorid (CfF3) bei hohen Temperaturen dargestellt. Es kristallisiert wie das Californium(IV)-oxid (CfO2) im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur, wobei hier die Sauerstoff- und Fluoratome in zufälliger Verteilung auf den Anionenpositionen zu finden sind. Der Gitterparameter beträgt 556,1 ± 0,4 pm.Californium(III)-oxichlorid (CfOCl) wurde durch Hydrolyse des Hydrats von Californium(III)-chlorid (CfCl3) bei 280–320 °C dargestellt. Es besitzt eine tetragonale Struktur vom PbFCl-Typ.
=== Halogenide ===
Halogenide sind für die Oxidationsstufen +2, +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und auch in wässriger Lösung stabil. Die zwei- und vierwertige Stufe ist nur in der festen Phase stabilisierbar.
Californium(III)-fluorid (CfF3) ist ein gelbgrüner Feststoff und besitzt zwei kristalline Strukturen, die temperaturabhängig sind. Bei niedrigen Temperaturen ist die orthorhombische Struktur vom YF3-Typ zu finden. Bei höheren Temperaturen bildet es ein trigonales System vom LaF3-Typ.Californium(IV)-fluorid (CfF4) ist ein hellgrüner Feststoff und kristallisiert entsprechend dem monoklinen UF4-Typ. Californium(IV)-fluorid gibt beim Erhitzen elementares Fluor ab.
2
CfF
4
→
Δ
T
2
CfF
3
+
F
2
{\displaystyle {\ce {2 CfF4 ->[\Delta T] 2 CfF3 + F2}}}
Californium(III)-chlorid (CfCl3) ist ein grüner Feststoff und bildet zwei kristalline Modifikationen: die hexagonale Form vom UCl3-Typ, wobei das Cf-Atom 9-fach koordiniert ist, sowie die orthorhombische Form vom PuBr3-Typ mit der Koordinationszahl 8.Californium(III)-bromid (CfBr3) ist ein grüner Feststoff. Es konnte nur die monokline Struktur des AlCl3-Typs nachgewiesen werden. Bei zunehmenden Temperaturen zersetzt es sich teilweise zum Californium(II)-bromid (CfBr2):
2
CfBr
3
→
Δ
T
2
CfBr
2
+
Br
2
{\displaystyle {\ce {2 CfBr3 ->[\Delta T] 2 CfBr2 + Br2}}}
Californium(II)-iodid (CfI2) und Californium(III)-iodid (CfI3) konnten in Mikrogramm-Mengen im Hochvakuum hergestellt werden. Diese Verbindungen wurden sowohl durch Röntgenbeugung als auch durch Spektroskopie im sichtbaren Bereich charakterisiert.
CfI3 ist ein rotorangefarbener Feststoff und zeigt eine rhomboedrische Struktur vom BiI3-Typ. Das Triiodid sublimiert bei ≈ 800 °C ohne zu schmelzen und kann bei 500 °C aus Cf(OH)3 und Iodwasserstoff HI dargestellt werden.
CfI2 ist ein tiefvioletter Feststoff und wird aus CfI3 durch Reduktion mit H2 bei 570 °C dargestellt:
2
CfI
3
+
H
2
⟶
2
CfI
2
+
2
HI
{\displaystyle {\ce {2 CfI3 + H2 -> 2 CfI2 + 2 HI}}}
Es besitzt zwei kristalline Modifikationen: eine rhomboedrische, bei Raumtemperatur stabile Struktur vom CdCl2-Typ sowie eine hexagonale, metastabile Struktur vom CdI2-Typ.
=== Pentelide ===
Die Pentelide des Californiums des Typs CfX sind für die Elemente Stickstoff, Arsen und Antimon dargestellt worden. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter mit den Gitterkonstanten 580,9 pm für CfAs und 616,6 pm für CfSb.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Tricyclopentadienylkomplexe der Elemente Berkelium (Cp3Bk) und Californium (Cp3Cf) sind aus der dreiwertigen Stufe erhältlich. Die hohe Radioaktivität bewirkt allerdings eine schnelle Zerstörung der Verbindungen.
== Literatur ==
Richard G. Haire: Californium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1499–1576 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_11).
Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Transurane: Teil A 1 I, S. 40–43; Teil A 1 II, S. 19–20; Teil A 2, S. 222–233; Teil B 1, S. 76–82.
G. T. Seaborg (Hrsg.): Proceedings of the 'Symposium Commemorating the 25th Anniversary of the Discovery of Elements 97 and 98', 20. Januar 1975; Report LBL-4366, Juli 1976.
Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente, S. Hirzel, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3, S. 139–142.
In den Leib geschossen. In: Der Spiegel. Nr. 17, 1950, S. 41 (online).
== Weblinks ==
Eintrag zu Californium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 3. Januar 2015.
Jyllian Kemsley: Californium, Chemical & Engineering News, 2003.
Bilder von CfBr3, CfOCl und Cf-Metall (engl.)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Californium |
Haussperling | = Haussperling =
Der Haussperling (Passer domesticus) – auch Spatz oder Hausspatz genannt – ist eine Vogelart aus der Familie der Sperlinge (Passeridae) und einer der bekanntesten und am weitesten verbreiteten Singvögel. Der Spatz hat sich vor über 10.000 Jahren als Kulturfolger dem Menschen angeschlossen. Nach zahlreichen absichtlichen oder versehentlichen Einbürgerungen ist er mit Ausnahme weniger Gebiete fast überall anzutreffen, wo Menschen sich das ganze Jahr aufhalten.
== Aussehen und Merkmale ==
Der Haussperling ist ein kräftiger und etwas gedrungener Singvogel. Er wiegt rund 30 Gramm und erreicht eine Körperlänge von 14 bis 16 Zentimetern – er ist wenig größer als der nah verwandte Feldsperling. Der Haussperling fällt besonders durch seinen großen Kopf und den kräftigen, konischen Schnabel auf. Die Länge der Flügel beträgt 71 bis 82 Millimeter, die Spannweite misst etwa 23 Zentimeter. Männchen und Weibchen unterscheiden sich deutlich in ihrer Färbung: Die Männchen sind deutlich kontrastreicher gezeichnet als die Weibchen, sie haben eine schwarze oder dunkelgraue Kehle und einen schwarzen Brustlatz, der aber im Herbst nach der Mauser von helleren Federrändern verdeckt sein kann. Der Scheitel ist bleigrau und von einem kastanienbraunen Feld begrenzt, das vom Auge bis in den Nacken reicht. Die Wangen sind hellgrau bis weißlich. Der Rücken ist braun mit schwarzen Längsstreifen. Die Flügel sind ebenso gefärbt; eine weiße Flügelbinde ist deutlich erkennbar, eine zweite nur angedeutet. Brust und Bauch sind aschgrau. In Stadtzentren und Industriegebieten ist das Gefieder infolge von Verschmutzung meist weit weniger kontrastreich. Relativ häufig treten teilalbinotische Individuen auf.
Die Weibchen sind unscheinbarer als die Männchen und matter braun, aber sehr fein gezeichnet. Die Oberseite ist hell graubraun, der Rücken schwarzbraun und gelbbraun gestreift. Der ebenfalls graubraune Kopf hat einen hellen Überaugenstreif, der vor allem hinter dem Auge deutlich ist.
Jungvögel sehen wie Weibchen aus, sie sind nur etwas heller und gelblicher gefärbt. Sie bleiben, nachdem sie flügge geworden sind, einige Tage an den gelblichen Schnabelwülsten erkennbar.
=== Federkleid und Mauser ===
Die Jugendmauser ist eine Vollmauser und beginnt im Alter von sechs bis acht Wochen. Damit die Mauser vor Beginn der ungünstigeren Witterungsperiode abgeschlossen ist, kann sie je nach Zeitpunkt des Schlüpfvorgangs von durchschnittlich 82 auf 64 Tage verringert sein.
Die Jahresmauser der Altvögel ist ebenfalls eine Vollmauser. Sie
findet in Mitteleuropa in den Monaten Juli oder August statt. Bei Gefahr oder Stress neigen Sperlinge auch zur Schockmauser.
Das Sperlingsgefieder besteht vor der Mauser aus 3200 Federn, die insgesamt 1,4 Gramm wiegen. Unmittelbar nach der Mauser sind es ungefähr 3600 Federn mit einem Gewicht von 1,9 Gramm. Zur Pflege des Gefieders nehmen die Tiere Staubbäder, um sich vor Federparasiten zu schützen.
=== Flug ===
Haussperlinge fliegen schnell und geradlinig, relativ niedrig und meist vom Nistplatz zu einem nahe gelegenen Baum oder Gebüsch. Dabei können sie Geschwindigkeiten von annähernd 60 Kilometern pro Stunde erreichen. Die Flügel schwingen in der Sekunde etwa 13 Mal auf und ab. Der Distanzflug ist leicht wellenförmig mit fallenden Gleitphasen, in denen die Flügel leicht angelegt sind, der Flug ist dabei aber im Vergleich zu den Finkenarten flacher gewellt. Bei der Futteraufnahme können sie auch kurzzeitig in der Luft stehen wie Kolibris.
== Stimme ==
Als gesellige Vögel verfügen Haussperlinge über viele Rufe. Der übliche Warnruf bei Luftfeinden ist strukturell abweichend gegenüber anderen Sperlingsvögeln ein weiches, getrillertes „drüüü“, wobei dieser Ruf auch gelegentlich gegenüber größeren Nahrungskonkurrenten wie Möwen verwendet wird. Vor Bodenfeinden wird mit anhaltendem nasalen Rufen wie „kew kew“ oder auch „terrettett“ gewarnt.
Der Gesang des Haussperlings wird nur vom Männchen vorgetragen und besteht aus einem monotonen, relativ lauten, rhythmischen „Tschilpen“ (meist einsilbig, auch „schielp“, „tschuip“, „tschirp“, manchmal auch zweisilbig wie „tschirrip“ oder „tschirrep“). Die Tonhöhe und die Anordnung der Elemente variieren von Vogel zu Vogel erheblich. Während des Singens vergrößert sich der Kehllatz. Analysen haben ergeben, dass diese Lautäußerungen komplex komponiert sind und sowohl individuelle Merkmale als auch Stimmungen darin codiert sein können.
Zur Kopulation fordern Männchen und Weibchen mit leisen, gezogenen und nasalen Lauten auf, Weibchen verwenden dabei ein wiederholtes „djie“, der Kopulationsruf des Männchens ist ein wisperndes „iag iag“. Daneben gibt es einige weitere situationsabhängige Rufe, deren Dauer, Obertonstaffelung und -modulation recht verschieden gestaltet sein können (Stimmbeispiel).
Freilebende Haussperlinge sind auch in der Lage, Alarmrufe von Staren und Amseln zu kopieren. Zudem zeigen jüngere Forschungen, dass die Alarmrufe anderer Vogelarten durchaus verstanden werden. Heute ist relativ unbekannt, dass Haussperlinge auch sehr lernfähige „Gesangsschüler“ sind. Im 18. Jahrhundert war es ein beliebtes Spiel, aufgezogenen Vögeln Lieder beizubringen. Es gibt eine stattliche Anzahl von Berichten und Belegen dafür, dass Haussperlinge, die beispielsweise in Gesellschaft von Kanarienvögeln aufgezogen wurden, deren rollendes Geträller perfekt erlernen, auch wenn sie dies mit ihrer rauen und lauten Stimme imitieren.
== Verbreitung und Lebensraum ==
=== Verbreitung ===
Das ursprüngliche paläarktische und orientalische Verbreitungsgebiet hat sich nach zahlreichen Einbürgerungen in anderen Kontinenten seit Mitte des 19. Jahrhunderts fast auf den gesamten Globus ausgedehnt. Heute fehlt der Haussperling nur in den Polargebieten, Teilen Nordsibiriens, Chinas und Südostasiens, in Japan, Westaustralien, dem tropischen Afrika und Südamerika und dem nördlichsten Teil Amerikas. Er ist damit eine der am weitesten verbreiteten Vogelarten. Die nördliche Grenze des Verbreitungsgebiets schwankt zwischen dem 60. und dem 70. Breitengrad. Auf der Südhalbkugel wurden die Landmassen mit Ausnahme der Antarktis bis zu den südlichsten Ausläufern besiedelt, nur in Westaustralien wird konsequent versucht, eine Besiedlung zu unterbinden.
In Europa gibt es Gebiete, in denen der Haussperling durch einen nahen Verwandten vertreten wird: Auf dem italienischen Festland sowie auf den Inseln Sizilien, Korsika und Kreta hat sich der ebenfalls die Nähe des Menschen suchende Italiensperling etabliert.
Auf der iberischen Halbinsel, dem Balkan und in Teilen Nordafrikas lebt der Haussperling gemeinsam mit dem nahe verwandten Weidensperling, der noch kein so ausgesprochener Kulturfolger ist.Der weltweite Bestand des Haussperlings wird auf etwa 1,6 Milliarden Individuen geschätzt. Allerdings ist die Art seit einigen Jahrzehnten von deutlichen Bestandsrückgängen betroffen. So ist der Haussperling mit einem Rückgang von 246,7 Mio. Exemplaren von 1980 bis 2017 in der Europäischen Union der Vogel, dessen Population im Zeitraum von 1980 bis 2017 mit weitem Abstand am stärksten zurückgegangen ist. Insgesamt ist die Zahl aller Vögel im genannten Zeitraum netto um 560 bis 620 Mio. Exemplare geschrumpft.
=== Lebensraum ===
Als ursprüngliches Biotop vor dem Anschluss an den Menschen werden trockenwarme, lockere Baumsavannen vermutet, dies bleibt jedoch mangels gesicherter Daten spekulativ. Beim Vordringen nach Mitteleuropa war der Haussperling bereits Kulturfolger mit einer ausgeprägten Bindung an den Menschen. Deutlich wurde dies beispielsweise während der Devastierung Helgolands nach dem Zweiten Weltkrieg, während der mit den Menschen auch die Haussperlinge verschwanden und erst nach der Neubesiedlung ab 1952 wieder zurückkehrten. In milden Zonen werden allerdings auch menschenferne Habitate genutzt.Voraussetzungen für Brutvorkommen sind die ganzjährige Verfügbarkeit von Sämereien und Getreideprodukten und geeignete Nistplätze. Optimal sind Dörfer mit Landwirtschaft, Vorstadtbezirke, Stadtzentren mit großen Parkanlagen, zoologische Gärten, Vieh- oder Geflügelfarmen und Einkaufszentren. Es werden aber auch außergewöhnliche Lebensräume besiedelt, wie beispielsweise von der Außenwelt abgeschlossene klimatisierte Flughafengebäude.
Das höchstgelegene Brutvorkommen findet sich bei ungefähr 4.500 m im Himalaya, das tiefste bei -86 m im Death Valley in Nordamerika.
=== Wanderungen ===
In Europa ist der Haussperling fast ausschließlich Standvogel, in geringem Ausmaß auch Kurzstreckenzieher. Nicht dauernd von Menschen bewohnte Siedlungen im Alpenraum werden im Spätherbst oder Winter auch vom Haussperling geräumt. Die asiatische Unterart P. d. bactrianus wiederum ist ein Zugvogel und überwintert bei Zugdistanzen bis zu 2000 Kilometern in Pakistan und Indien. Die hauptsächlich im Himalaya beheimatete Form P. d. parkini ist Teilzieher.Nach der ersten Brutansiedlung sind die Haussperlinge der Nominatform sehr ortstreu, der Aktionsradius während der Brutzeit kann bei Stadtpopulationen lediglich 50 Meter betragen. Jungvögel streuen ungerichtet und schließen sich zunächst im Spätsommer anwachsenden Schwärmen an. Auch ein Teil der Altvögel schließt sich diesen Herbstschwärmen an, die in die Umgebung der Brutplätze ausstrahlen, um das dortige Nahrungsangebot zu nutzen. Die Altvögel kehren nach Auflösung der Schwärme meist bereits im Frühherbst wieder an ihren ursprünglichen Brutplatz zurück.
== Nahrung ==
Der Haussperling ernährt sich hauptsächlich von Sämereien und dabei vor allem von den Samen kultivierter Getreidearten, die in ländlichen Gebieten 75 Prozent der Gesamtnahrung ausmachen können. Bevorzugt werden Weizen vor Hafer und Gerste. Regional und saisonal kann der Anteil der Samen von Wildgräsern und -kräutern den Getreideanteil erreichen oder übertreffen. Von Frühjahr bis Sommer spielt auch tierische Nahrung eine wichtige Rolle und kann bis zu 30 Prozent der Gesamtnahrung ausmachen. Dabei handelt es sich um Insekten einschließlich deren Entwicklungsstadien sowie andere Wirbellose. Vor allem in der Stadt zeigen Spatzen ein opportunistisches Verhalten und werden zu Allesfressern, was sie besonders an Imbissständen und in Freiluftlokalen unter Beweis stellen.Die Jungen füttert der Haussperling in den ersten Tagen fast ausschließlich mit Raupen und anderen zerkleinerten Insekten. Wenn zu wenig tierische Nahrung zur Verfügung steht und beispielsweise ausschließlich Brot an die Nestlinge verfüttert wird, kann das Verdauungsstörungen verursachen, die zum Tod der Nestlinge führen können. Mit zunehmendem Alter der Jungen verfüttern die Eltern dann mehr und mehr auch Sämereien, wobei der vegetarische Anteil auf ein Drittel steigt.
== Verhalten ==
Der Haussperling zeigt das ganze Jahr über ein geselliges und soziales Verhalten. Viele Verhaltensweisen des Haussperlings sind auf das Leben in der Gruppe ausgerichtet, und der Tagesablauf ist stark synchronisiert.
=== Aktivität ===
Haussperlinge werden während der bürgerlichen Dämmerung aktiv. Der Gesang beginnt im Mittel etwa 18 Minuten vor Sonnenaufgang, wobei durch Bewölkung verursachte Helligkeitsunterschiede weitgehend ohne Einfluss bleiben. Das Ende der Aktivität liegt auch im Winter noch vor Sonnenuntergang.
In mittleren Breiten werden gelegentlich nächtliche Aktivitäten beobachtet, zum Beispiel beim Insektenfang im Flutlicht von Industrieanlagen. Auch auf dem Empire State Building kann man mehr als 300 Meter über dem Erdboden nachts jagende Spatzen entdecken.
=== Nahrungserwerb ===
Die Nahrungsaufnahme erfolgt fast immer gesellig, auch während der Aufzucht der Jungen. Hierzu finden sich oft Schwärme, kleinere Trupps oder zumindest lose Verbände zusammen. In Getreidefeldern ist bei Trupps von etwa 20 Vögeln die Nahrungsaufnahme am effizientesten, da die zur Sicherung verwendete Zeit in größeren Gemeinschaften kürzer wird, jedoch der Zeitaufwand für Auseinandersetzungen mit Artgenossen bei noch größeren Verbänden diesen Zeitgewinn mehr als aufwiegt.
Wenn ein einzelner Haussperling eine Nahrungsquelle entdeckt, lockt er die anderen durch Rufe und wartet, bevor er zu fressen beginnt. Dabei sind 75 Prozent dieser „Pioniere“ Männchen. Manchmal werden Nahrungsbrocken bei Zerkleinerung mit Hilfe des Schnabels mit dem Fuß festgehalten, ähnlich dem Verhalten der Meisen. Größere Nahrungsstücke werden häufig auch transportiert und an anderer Stelle zerkleinert, auch im Nest.
Vor allem bei in der Stadt lebenden Spatzen kann häufig das Absuchen von Kühlergrills parkender Autos nach toten Insekten beobachtet werden. Auch abgestellte Lokomotiven werden häufig, schon kurze Zeit nach ihrer Ankunft im Bahnbetriebswerk, gezielt im Frontbereich durch die Tiere untersucht. Der Haussperling versucht sich gelegentlich auch als Luftjäger. Dabei startet er von einer Sitzwarte aus einen kurzen Jagdflug nach vorbeifliegenden Insekten. Dies wirkt zwar mühsam und nicht so elegant wie beispielsweise beim Grauschnäpper, führt aber dennoch nicht selten zum Erfolg.
=== Fortbewegung ===
Am Boden bewegt sich der Haussperling fast immer beidbeinig hüpfend fort. Lediglich bei Annäherung an sehr nahe Objekte oder beim seitlichen Nachrücken auf Zweigen sind einzelne Schritte zu beobachten. Der Spatz hockt bei der Nahrungssuche oft flach auf den Läufen, so dass die Federn den Boden berühren.
An senkrechten Hauswänden oder Stämmen klettert der Haussperling „rutschend“ und stützt sich auch auf den gespreizten Schwanz, hin und wieder sogar auf die halb geöffneten Flügel. In Zweigen bewegt er sich recht gewandt und kann dabei kopfüber um einen dünnen Zweig schwingen, ohne die Füße zu lösen.
=== Komfortverhalten ===
Haussperlinge baden das ganze Jahr über, dabei ist Sonnenschein stark stimulierend. Vor dem etwa drei Minuten dauernden Bad wird oft getrunken. Staubbäder folgen häufig dem Bad oder wechseln damit ab. Die Bewegungen beim Staubbaden entsprechen denen beim Wasserbad. Meist erfolgt dieses Baden gemeinschaftlich nacheinander mit anschließender gemeinsamer Gefiederpflege. Gelegentlich wird die für das Staubbad genutzte Mulde auch mit einem Futterplätzen entsprechenden Drohverhalten gegen Artgenossen verteidigt.
=== Territorial- und Aggressionsverhalten ===
Der Haussperling verteidigt kein flächiges Brut- oder Nahrungsrevier, sondern nur die nächste Umgebung des Nests oder des Schlafplatzes. Zur Zeit der Fortpflanzung sind Weibchen in der Nähe des Nests gegenüber Männchen dominant, obwohl sie kleiner sind.
Auseinandersetzungen mit Artgenossen werden hauptsächlich beim Nahrungserwerb, an Bade- und Schlafplätzen und am Nest beobachtet. Dabei werden fast 90 Prozent der Konflikte zwischen Männchen ausgetragen. Aggressionen äußern sich oft durch frontales Drohen, wobei der Kopf tief vorgebeugt, der Schwanz gefächert und angehoben, die Rückenfedern gesträubt und die Flügel abgewinkelt werden. Bei höherer Intensität gibt es auch Kämpfe mit Vorwärtsbewegungen bei geöffnetem Schnabel und gegenseitigem Hacken, manchmal auch in der Luft.
Aggressionen gegen andere Arten gibt es hauptsächlich bei Konkurrenz um Nistplätze, bei ausreichendem Angebot sind diese aber selten. Gelegentlich verhindern Haussperlinge die Ansiedlung anderer Höhlenbrüter in Nistkästen oder verdrängen sie daraus. Der Feldsperling, dessen Lebensraum sich teilweise mit dem des Haussperlings überschneidet, wird dabei vom Haussperling allein schon durch dessen früheren Brutbeginn verdrängt.
=== Feindverhalten ===
Weibchen sind wachsamer und scheuer als Männchen. Die Fluchtdistanz bei Annäherung von Menschen ist vor allem in Städten niedriger, steigt jedoch bei zunehmender Truppgröße. Bei Bodenfeindalarm eilen Artgenossen herbei und folgen dem Feind hassend und warnend in Bäumen und Gebüsch. Auch Stare, vielerorts die einzigen überlegenen Nistplatzkonkurrenten, werden bei Inspektion potentieller Brutplätze schnarrend angehasst und manchmal vertrieben, in der Regel behalten im Konfliktfall aber die Stare die Oberhand.
== Fortpflanzung ==
Die Geschlechtsreife tritt bei Haussperlingen am Ende des ersten Lebensjahres ein. Spatzen führen in der Regel eine lebenslange Dauerehe. Wenn ein Partner stirbt, finden Neuverpaarungen jedoch schnell statt. Vereinzelt kommt auch Bigynie (Polygynie) vor.In Mitteleuropa beginnt die hauptsächliche Brutzeit Ende April und reicht bis August. Die auf der Südhalbkugel beheimateten Haussperlinge haben ihre Brutperiode an die dortigen Jahreszeiten angepasst. In diesem Zeitraum werden zwei bis drei, selten sogar vier Bruten aufgezogen. Bei den Erst- und Zweitbruten werden aus gut einem Drittel der gelegten Eier flügge Jungvögel, bei den späteren Bruten ist es nur noch ein Fünftel. Darüber hinaus ist die Mortalität der Jungvögel nach dem Ausfliegen in den ersten Wochen gravierend. Nach einem Jahr leben in ländlichen Gebieten nur noch 20 Prozent, in Stadthabitaten immerhin bis zu 40 Prozent der Jungvögel. Für die hohe Sterblichkeit dürften vor allem Schwierigkeiten bei der selbstständigen Nahrungsbeschaffung und hohe Predation maßgeblich sein.
=== Neststandort und Nest ===
Der Haussperling ist Nischen-, Höhlen- und Freibrüter mit starker Neigung zum gemeinschaftlichen Brüten. Er nistet manchmal auch allein, oft aber in lockeren Verbänden oder Kolonien, wobei die Nester dabei meist einen Mindestabstand von 50 Zentimetern aufweisen. Die vielfältige Nutzung aller geeigneten Strukturen als Neststandort sind Ausdruck der besonderen Anpassungsfähigkeit des Haussperlings. Als typische Nistplätze dienen geschützte Hohlräume an oder in der Nähe von Gebäuden, sei es unter losen Dachpfannen oder in Mauerlöchern oder Nischen unter dem Vordach. Aber auch Nistkästen, Schwalbennester oder Spechthöhlen werden ausgewählt. Gelegentlich kann man Sperlinge auch als Untermieter in Storchennestern finden, wobei diese dabei davon profitieren, dass sich ihre Luftfeinde nicht in die Nähe solcher Nester wagen. Besteht Nistplatzmangel, können auch Freinester in Bäumen oder Büschen angelegt werden, die mit einem Dach aus Halmen versehen werden. Die Nesthöhe bei Freibrütern liegt zwischen 3 und 8 Metern und damit im Mittel höher und für Predatoren unzugänglicher als beim Feldsperling. Freinester werden als die ursprüngliche Nistweise des Haussperlings angesehen.
Unabhängig vom Ort der Nestanlage handelt es sich im Prinzip immer um ein Kugelnest mit seitlichem Eingang. Das Nest wird nicht besonders sorgfältig gebaut, das außen nicht bearbeitete Nistmaterial hängt meist lose herab.
Spatzen verbauen fast alles, beispielsweise Stroh, Gras, Wolle, Papier oder Lumpen. Das Material wird dabei weniger durch Auswahl als durch seine Verfügbarkeit im Umkreis von 20 bis 50 Metern bestimmt. Die Nestmulde wird zur Auspolsterung mit feinen Halmen und Federn ausgekleidet. Freistehende Nester erreichen Fußballgröße, Nester in Nischen und Höhlen werden den Gegebenheiten angepasst und variieren beträchtlich in der Größe.
Das Nest wird meist vom Männchen während der Balz begonnen, in Mitteleuropa frühestens ab Mitte März. Der Neuanlage von Nestern geht besonders bei Erstbrütern eine Phase ziellosen Umhertragens von Nistmaterial voraus. Beide Partner vollenden das Nest gemeinsam, am intensivsten in der Woche vor Legebeginn. Der Nestbau kann sich über Wochen hinziehen, nach Nestverlust kann aber in zwei bis drei Tagen Ersatz geschaffen werden.
=== Balz und Paarung ===
Die Balz beginnt mit der Besetzung des Brutplatzes durch die Männchen, in Mitteleuropa teilweise schon ab Mitte Februar und vor allem im März. Bei der Partnerwahl spielt für das Weibchen sowohl ein möglichst geschützter Nistplatz als auch der beim Singen anschwellende Brustlatz des Männchens eine Rolle.
Das unverpaarte Männchen wirbt mit aufgeplustertem Gefieder im engeren Nestbereich mit hohen „tschili“, „szilib“ oder ähnlichen Rufen. Bekundet ein Weibchen Interesse, zeigt ihm das Männchen den Nistplatz, indem es mit trockenen Halmen im Schnabel einschlüpft. Das Weibchen folgt dem Männchen durch kurzes Einschlüpfen und prüft den Nistplatz. Erst von diesem Moment an beginnt das Männchen den eigentlichen Gesang, das strukturarm und monoton wirkende Tschilpen, oft stundenlang vorzutragen.
Auffällig bei Haussperlingen ist auch die Gruppenbalz. Diese beginnt durch rasante und lärmende Verfolgung eines Weibchens durch zwei bis acht Männchen. Meist in dichter Vegetation wird das Weibchen von den balzenden Männchen umringt und diese versuchen abwechselnd, das sich wehrende Weibchen in der Kloakenregion zu picken und zu kopulieren. Alle tschilpen erregt und lassen in diesem Moment jede Vorsicht vermissen. In der Regel kommt es nicht zur Kopulation. Das mit dem Weibchen verpaarte Männchen ist auch beteiligt und bleibt bis zum Schluss in der Nähe des Weibchens. Die Bedeutung der Gruppenbalz ist noch offen.
Kopulationen im frühen Stadium der Fortpflanzungsperiode werden meist erfolglos vom Männchen gesucht. Dabei hüpft es mit gesträubtem Gefieder, hängenden Flügeln und aufgestelztem Schwanz hin und her. In der späteren fruchtbaren Phase ist es das Weibchen, das zur Paarung auffordert. Es duckt sich dabei waagrecht mit leicht erhobenem Schwanz und vibrierenden Flügeln. Weibchen können dabei manchmal 15 bis 20 Mal in der Stunde zur Kopulation auffordern. Bei koloniebrütenden Paaren sind wiederum die Männchen an häufigerer Kopulation zur Sicherung der eigenen Vaterschaft interessiert. Dieses Verhalten und auch das Bewachen des Weibchens durch das Männchen ist aber nur bedingt wirksam, in 8 bis 19 Prozent der Fälle wurden Fremdkopulationen nachgewiesen.
=== Gelege und Brut ===
Das Gelege besteht aus vier bis sechs Eiern mit einer durchschnittlichen Größe von 15 × 22 Millimetern und einem Gewicht von etwa 3 Gramm. In Gestalt, Größe und Farbe sind die Eier sehr unterschiedlich, bei einem individuellen Weibchen aber recht konstant. Sie sind weiß bis schwach grünlich oder gräulich und mit grauen oder braunen Flecken versehen, wobei die Fleckung die Grundfarbe manchmal völlig verdeckt. Die letzten Eier eines Geleges sind nach Breite und Gewicht größer als die ersten, wobei dieser Unterschied bei späteren Bruten noch ausgeprägter ist. Daher sind die zuletzt geschlüpften Jungen im Vorteil.
Das regelmäßige Brüten beginnt normalerweise nach Ablage des vorletzten Eies und dauert ab diesem Zeitpunkt gerechnet in der Regel zwischen 10 und 15 Tagen. Die Brutdauer wird durch die Außentemperatur beeinflusst und ist deshalb bei der dritten Brut meist kürzer. Bei witterungsbedingten Brutunterbrechungen kann die Brutzeit auch bis zu 22 Tagen andauern.
Beide Partner brüten abwechselnd, wobei das Weibchen meist die Nacht auf dem Gelege verbringt. Während das Weibchen auf Nahrungssuche ist, hält das Männchen die Eier vermutlich nur warm, denn es hat keinen Brutfleck.
=== Entwicklung der Jungen ===
Die geschlüpften Jungen werden durch beide Eltern gehudert und zu Beginn vor allem mit zerkleinerten Insekten, später zunehmend auch mit Sämereien gefüttert. In den ersten Tagen wird der Kot durch die Eltern verschluckt, später bis zu 20 Meter weit hinausgetragen.
Die Dauer der Nestlingszeit schwankt sehr stark, die Beobachtungen reichen von 11 bis 23 Tagen, die Regel sind 14 bis 16 Tage. Ungefähr nach dem vierten Tag sind die Augen der Jungen geöffnet, am 8. bis 9. Tag werden die Nestlinge durch zunehmendes Aufplatzen der Federkiele farbig.Gehen beide Eltern verloren, so finden sich durch die intensiven Bettelrufe der Jungen animiert meistens stellvertretende Bruthelfer aus der Nachbarschaft, die die Jungen füttern, bis sie selbstständig sind.
Alle Jungen verlassen das Nest innerhalb weniger Stunden und sind in der Regel schon gut flugfähig. Sie fressen bereits nach ein bis zwei Tagen ein wenig selbst und sind in der Regel nach 7 bis 10, spätestens nach 14 Tagen selbstständig.
== Lebenserwartung und Feinde ==
Die durchschnittliche Lebenserwartung geschlechtsreifer Haussperlinge beträgt 1,5 bis 2,3 Jahre; bezieht man auch die Jungvögel mit ein, beträgt sie lediglich 9 Monate. In der Stadt ist die Lebenserwartung höher als in ländlichen Gebieten. In den Niederlanden wurde bei einer Untersuchung festgestellt, dass im Bereich von Vororten 18 Prozent der Spatzen mindestens fünf Jahre alt wurden, in ländlichen Gebieten hingegen nur 4 Prozent.
In Freiheit wurden durch Beringung verschiedentlich um die 14 Jahre alte Haussperlinge nachgewiesen. In Gefangenschaft ist ein höheres Alter möglich; das bisher beobachtete maximale Alter beträgt angeblich 23 Jahre.Gefahr droht den in Freiheit lebenden Spatzen vor allem durch Predation und besonders in großen Städten auch durch den Straßenverkehr. Die größten Verluste mit 45 bis 56 Prozent der Gesamtmortalität erleiden die Altvögel während der Brutzeit. Zu den Bodenfeinden zählen Steinmarder und vor allem Katzen, seltener auch Hunde. Die den Spatzen jagenden Luftfeinde sind vor allem Sperber, Schleiereulen und Turmfalken. Dabei sind ausgefärbte Männchen mit ausgeprägtem Kehlfleck häufiger das Opfer von Greifvögeln. Haussperlinge sind vielerorts die Hauptbeute des Sperbers mit einem Anteil von teils über 50 Prozent. Aber auch für den Turmfalken stellen sie beispielsweise in Berlin die häufigste Vogelbeute dar.
== Bestand und Bestandsentwicklung ==
Weltweit wird der Bestand des Haussperlings auf 1,6 Milliarden Individuen geschätzt – mehr als für jeden anderen Vogel. Auch in Europa liegen nur recht ungenaue Schätzungen vor. In Deutschland ist der Haussperling trotz Bestandsrückgängen nach dem Buchfink der zweithäufigste Brutvogel.
Laut Birdlife stellt sich der Bestand im deutschsprachigen Raum folgendermaßen dar:
Die Prozentangabe des Trends bezieht sich dabei auf einen Zeitraum von zehn Jahren. Veränderungen kleiner als 20 Prozent werden dabei noch nicht als statistisch signifikant angesehen, da diese im Bereich natürlicher Schwankungen liegen.
Aktuell wird der Haussperling mit 5,6 bis 11 Millionen Brutpaaren im Jahr 2008 als zweithäufigste Brutvogelart Deutschlands angesehen.
Im Westen Mitteleuropas ist der Bestand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zurückgegangen. Dieser Rückgang wird daran deutlich, dass vergleichbar große Schwärme auf Getreidefeldern wie in den 1950er Jahren nicht mehr beobachtet werden. Allerdings ist der Rückgang des Bestands wegen des damaligen geringen Interesses an dieser Art und der fehlenden Daten aus dieser Zeit nur sehr lückenhaft dokumentiert.
Wegen des Bestandsrückgangs wurde der Haussperling auch auf die Vorwarnliste der gefährdeten Arten aufgenommen, obwohl der Bestand absolut gesehen noch sehr hoch ist. Ebenfalls aufgrund dieser Entwicklung war der Spatz in Deutschland und in Österreich zum Vogel des Jahres 2002 gewählt worden. Weiterhin wird der 20. März nach der Nature Forever Society (NFS) als Weltspatzentag begangen, um auf die Bestandsrückgänge hinzuweisen.Die Gründe für diesen Rückgang sind vielschichtig, folgende Ursachen werden angegeben:
Moderne oder sanierte Gebäude bieten kaum noch Nischen oder Hohlräume, die als Brutplätze verwendet werden können.
Durch den Einsatz effizienterer Erntemaschinen verbleibt weniger verwertbare Nahrung nach der Ernte auf den Feldern.
Weitgehende Einstellung der offenen Nutztierhaltung
Der vermehrte Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft verringert das Angebot und die Qualität der animalischen Nahrung, die vor allem für die Nestlinge wichtig ist.
Die gleiche negative Konsequenz hat ebenfalls der im Bereich von Städten und Vorstädten gestiegene Anteil der versiegelten Flächen und auch, dass dort vielerorts die natürliche Vegetation durch gebietsfremde Pflanzen (beispielsweise Ziersträucher) ersetzt wurde.Die Situation hängt jedoch sehr von den lokalen Bedingungen ab. In verschiedenen europäischen Großstädten wie London, Paris, Warschau, Hamburg und München wurde in den letzten Jahren ein sehr starker Rückgang beobachtet. Eine besonders erschreckende Entwicklung wurde im Hamburger Stadtteil St. Georg festgestellt, wo zwischen 1983 und 1987 die Zahl der Haussperlinge von 490 auf 80 Vögel pro Quadratkilometer zurückging. Für München setzt sich dieser Trend besonders im Zentrum fort. Positiver ist die Entwicklung in Berlin, wo sich die Rückgänge erst lokal in den Sanierungsgebieten abzeichnen und der Bestand mit 280 Vögeln pro Quadratkilometer im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz einnimmt.
== Systematik ==
=== Taxonomische Einordnung der Sperlinge ===
Früher glaubte man, dass die Familie der Sperlinge eng mit den afrikanischen Webervögeln verwandt sei, und ordnete demzufolge die Sperlinge als Unterfamilie (Passerinae) der Familie der Webervögel zu. Vergleiche der DNA-Sequenzen verschiedener Arten haben ergeben, dass auch Verwandtschaftsbeziehungen zu Stelzen, Piepern und Braunellen bestehen. Auch wenn dies weiterhin umstritten ist, sieht man die Sperlinge heute deshalb als eigenständige Familie (Passeridae). Diese Familie wird in vier Gattungen und 36 Arten unterteilt.
=== Entstehung der Art des Haussperlings ===
Johnston und Kitz vermuteten 1977, dass sich die Art des Haussperlings als ausgesprochener Kulturfolger mit der Sesshaftwerdung des Menschen und dem Betreiben von Ackerbau vor 10.000 Jahren im mittleren Osten entwickelte. Summers-Smith kam hingegen 1988 zu dem Schluss, der Haussperling sei eine der vielen eurasischen Arten der Gattung Passer, die während des Pleistozän von einem Ur-Sperling abstammt, der Lebensräume im östlichen Mittelmeerraum und im tropischen Afrika besiedelte, die durch das Tal des Nils oder den afrikanischen Grabenbruch verbunden waren. Er unterstellte, dass das Männchen dieses Ur-Sperlings bereits einen schwarzen Brustlatz hatte, was charakteristisch für alle heutigen paläarktischen und orientalischen Sperlinge ist. Dieser Ur-Sperling breitete sich sowohl west- als auch ostwärts im eurasischen Steppengürtel aus. Anschließend kam es durch den wiederholten Vorstoß und Rückgang der Gletscher zu periodischen Isolationen, was zu Anpassungsentwicklungen und der Aufspaltung in die heutigen Arten führte.
Viele Indizien sprechen für diese wesentlich frühere Artentstehung. Der früheste datierte der relativ seltenen Fossilienfunde des Haussperlings wird auf 400.000 BP datiert und wurde in einer Höhle bei Bethlehem in Palästina entdeckt. Dieses Fossil weist mehr Ähnlichkeiten mit dem Haussperling als mit den heutigen afrikanischen Sperlingen auf. Dieser und ein späterer weiterer fossiler Höhlenfund in derselben Gegend lässt vermuten, dass dieser Vorfahre des Spatzen bereits in der Nähe der Menschen der Altsteinzeit lebte.
Molekulargenetische Untersuchungen zur Datierung der Aufspaltung der Sperlingsarten widersprechen sich beträchtlich. Eine 1988 durchgeführte Untersuchung der Genabschnitte von 15 polymorphen Isozymen datiert die Abspaltung des Haussperlings vom Weidensperling zwischen 105.000 und 122.000 BP.
Das Ergebnis einer im Jahr 2001 durchgeführten Analyse der mitochondrialen Gen-Sequenz des Cytochrom-b und weiterer mitochondrialer Pseudogene ist dagegen, dass die Aufspaltung der Sperlingsart und auch die Abspaltung des Weidensperlings während des Miozän oder Pliozän auftrat, also vor mehr als 2 Millionen Jahren.
=== Verwandte Arten ===
Der Weidensperling galt lange Zeit als Unterart des Haussperlings, heute sieht man den Weidensperling als eigene Art. Beide Arten leben auf der iberischen Halbinsel, dem Balkan und Teilen Nordafrikas weitgehend sympatrisch, ohne dass es zu Hybridisierungen kommt, was als Beleg der Eigenständigkeit der Arten gilt. Das Gefieder der Männchen und die Lautäußerungen weichen deutlich voneinander ab, ökologisch und ernährungsbiologisch stimmen die Arten aber weitgehend überein. Im gemeinsamen Verbreitungsgebiet besetzt der Haussperling Städte und Ortschaften und „überlässt“ dem Weidensperling die ländlichen Lebensräume. Kommen beide Arten alleine vor, besetzen sie jedoch ein ähnliches ökologisches Spektrum. Als ethologische Isolationsmechanismen werden Unterschiede in Gefiedermerkmalen, Nestbau, Stimme und Zugverhalten angesehen. Vor allem in Ostalgerien und Tunesien scheinen stellenweise diese Isolationsbarrieren aber weitgehend zusammengebrochen zu sein, aufgrund der Hybridisierung kommt es dort zu bezüglich Aussehen und Merkmalen sehr variablen Sperlingspopulationen.
Auch der Italiensperling wird häufig als Hybridform von Haus- und Weidensperling angesehen, was heute allerdings auch stark bezweifelt wird. Neben der Darstellung als eigenständige Art wird der Italiensperling ebenfalls als Unterart des Haus- und ebenso des Weidensperlings eingeordnet, zudem auch als Hybridform ohne Zuordnung zu den Ursprungsarten (passer x italiae).
Auch wenn molekularbiologische Untersuchungen heute widersprüchlich sind, spricht vieles für die Einstufung des Italiensperlings als Unterart des Weidensperlings.
Ein Indiz hierfür ist auch, dass im Gegensatz zu dem abrupten geografischen Ausschluss von Italien- und Haussperling im Alpengebiet Italien- und Weidensperling in Mittel- und Süditalien durch eine breite fließende Übergangszone miteinander verbunden sind (weiteres siehe Italiensperling).
=== Unterarten ===
Für den Haussperling werden derzeit rund 13 verschiedene Unterarten anerkannt, die in zwei deutlich unterschiedlichen Subspeziesgruppen zusammengefasst werden. Die Formen der domesticus-Gruppe sind dabei größer, mit längeren Flügeln und kräftigerem Schnabel. Die helleren Gefiederanteile, wie beispielsweise die Kopfseiten, sind grau getönt und weniger weiß, die kastanienbraunen Pigmente sind weniger kräftig als bei der östlichen indicus-Gruppe.
Die indicus-Gruppe findet sich im Wesentlichen im oberen Niltal des Sudans, großen Teilen von Arabien, Süd-Afghanistans, Irans, Indiens, Sri Lankas und Burmas, rund um das kaspische Meer, in Zentralasien und im Himalaya. Das übrige Verbreitungsgebiet wird von Vertretern der domesticus-Gruppe besiedelt, auch praktisch alle eingebürgerten Populationen gehören dieser Gruppe an, die meisten davon entstammen der Nominatform.
Im Ostiran sind beide Subspeziesgruppen in einer breiten Übergangszone miteinander verbunden. Neben weiteren anderen Berührungspunkten stehen beide Subspeziesgruppen auch in Zentralasien nordwärts bis Turkmenistan und Kasachstan in Kontakt. Bei letzterer Kontaktzone kommt es offensichtlich nicht zur Hybridisierung, die Subspeziesgruppen verhalten sich hier wie zwei Arten. Der dortige Kontakt ist erst relativ kürzlich durch eine östliche Expansion des Verbreitungsgebiets der der domesticus-Population angehörenden Nominatform zustande gekommen. Die Individuen der Nominatform sind dort deutlich größer als die der Unterart bactrianus als dortiger Vertreter der indicus-Gruppe. Von manchen Forschern wird die Unterart bactrianus, die Zugvogel ist und in Indien und Pakistan überwintert, deshalb auch als eigenständige Art gesehen („Indian Sparrow“ oder Passer indicus). Dies wird allerdings nicht allgemein anerkannt.Die Merkmale und die Verbreitung der einzelnen Unterarten sind dabei wie folgt:
domesticus-Gruppe
P. d. domesticus (Linnaeus, 1758): Die Nominatform besiedelt Europa sowie Sibirien ostwärts bis zur pazifischen Küste, zum Amurland und bis nach Nordost-China. Zudem gehören die meisten der Neozoen der Nominatform an. Die Flügellänge beträgt 77 bis 83 Millimeter.
P. d. tingitanus Loche, 1867: Diese Unterart kommt im Nordwesten Afrikas vor und besiedelt Marokko bis Tunesien sowie Libyen bis zur Cyrenaika. Die Unterschiede zur Nominatform sind gering, der mittlere Abschnitt der Scheitelfedern ist ausgedehnt schwarz, was aber auch bei Exemplaren der Nominatform als individuelle Variation beobachtet werden kann. Ohrdecken und die Unterseite sind durchschnittlich weißer.
P. d. balearoibericus von Jordans, 1923, P. d. biblicus Hartert, E, 1904 und P. d. mayaudi Kumerloeve, 1969: Auch diese Unterarten ähneln der Nominatform sehr, sie sind nur etwas blasser. Sie kommen in Kleinasien und Zypern sowie südwärts bis zur Sinai-Halbinsel vor.
P. d. persicus Zarudny & Kudashev, 1916: Diese im Iran vorkommende Unterart ist noch etwas blasser als die Populationen Kleinasiens.
P. d. niloticus Nicoll & Bonhote, 1909: Die das Niltal südwärts bis zur sudanesischen Grenze besiedelnde Unterart ist ähnlich blass wie persicus, nur etwas kleiner mit einer Flügellänge von 72 bis 77 Millimetern.
indicus-Gruppe
P. d. rufidorsalis Brehm, CL, 1855: Bei dieser im oberen Niltal des Sudan vorkommenden Unterart ist das Kastanienbraun der Oberseite deutlich dunkler, kräftiger und ausgedehnter als bei der benachbarten Unterart niloticus. Das Grau des Scheitels ist nach hinten weniger ausgedehnt und reicht gewöhnlich nicht bis zum Nacken. Der Schnabel ist zudem kleiner und die Flügellänge etwas kürzer, sie liegt zwischen 69 und 75 Millimetern. Eine besonders variable Population verbindet bei Wadi Halfa rufidorsalis mit niloticus. Diese Mischpopulation wird gelegentlich auch als eigene Unterart P. d. halfae bezeichnet.
P. d. indicus Jardine & Selby, 1831: Große Teile Arabiens, Süd-Afghanistans, Indiens, Sri Lankas und Burmas werden von dieser etwas blasseren und mit einer Flügellänge von 70 bis 78 Millimetern wiederum etwas größeren Unterart bewohnt.
P. d. hufufae Ticehurst & Cheesman, 1924: Bei dieser Population ist die Gefiederfärbung relativ grau, das Weiß der Unterseite ausgeprägter und das Kastanienbraun auf Flügel und Rücken reduziert. Sie bewohnt Ostarabien von der Provinz al-Hasa bis Oman.
P. d. hyrcanus Zarudny & Kudashev, 1916: Diese Unterart lebt in den kaspischen Tiefländern im Süden Aserbaidschans und im Nordiran. Der Rücken ist etwas dunkler kastanienbraun als bei indicus, der Scheitel ist wegen der schwarzen mittleren Federabschnitte vielfach dunkel gestrichelt.
P. d. bactrianus Zarudny & Kudashev, 1916: Die sich ostwärts an indicus anschließenden Populationen sind etwas blasser, das Grau des Scheitels ist nicht dunkel gestrichelt. Das Vorkommen umfasst Transkaspien und Zentralasien.
P. d. parkini Whistler, 1920: Diese im Grenzgebiet des Himalaya von Afghanistan bis Nepal beheimatete Unterart ist oberseitig dunkler und kräftiger gefärbt, das Nackenband ist breiter als bei bactrianus und indicus, der Schnabel und die Flügellänge sind größer (76 bis 83 Millimeter). Allerdings lassen sich parkini und bactrianus nicht zuverlässig voneinander unterscheiden.
== Haussperling und Mensch ==
Der die Nähe des Menschen suchende Haussperling ist für viele Menschen der Inbegriff des Vogels überhaupt, da es meist der erste Vogel ist, den man als Kind richtig zu Gesicht bekommt. Das Verhältnis des Menschen ist zwiegespalten, lange wurde der lästige Haussperling bekämpft. Andererseits liegt er den Menschen auch am Herzen, auch wenn oder weil er klein und unscheinbar ist, und man traut ihm eine gute Portion Raffinesse zu. Junge Spatzen nähern sich des Öfteren aus Neugier auch Menschen an.
=== Etymologie und Benennung ===
Sowohl das Wort Sperling als auch die Koseform Spatz leiten sich vom althochdeutschen „sparo“ ab, und dieses hängt vermutlich wieder mit dem indogermanischen „spar“ wie „zappeln“ zusammen. Grund hierfür könnte das immer unruhig wirkende Verhalten des Haussperlings sein und auch sein beidbeiniges Umherhüpfen am Boden. Das englische „sparrow“ leitet sich auf die gleiche Weise her.Daneben besitzt der Spatz noch eine Reihe weiterer Namen, die teilweise nur lokale Bedeutung haben:
Seine Vorliebe für Sämereien hat ihm die Namen Korndieb, Gerstendieb oder Speicherdieb eingetragen. In Norddeutschland wird er je nach Region Lüning, Lüntje, Lünk oder Dacklüün genannt, was so viel heißt wie „der Lärmende“. Wegen seiner Gewohnheit, in Misthaufen und Dung nach Körnern zu suchen, nennt man ihn auch Mistfink. Weitere Namen sind Leps und Mösche (von mussce, vulgärlateinisch von muscio = Spatz).
=== Geschichte als Kulturfolger ===
Vor über 10.000 Jahren schon, als die Menschen sesshaft wurden und die ersten Anfänge des Ackerbaus entwickelten, hatte sich der Haussperling bereits dem Menschen angeschlossen. Man geht auch davon aus, dass der Haussperling mit dem Anschluss an den Landwirtschaft betreibenden Menschen vom Zug- zum Standvogel wurde. Es wird auch vermutet, dass der Haussperling entsprechend der Ausbreitung der Landwirtschaft nordwestlich nach Europa vorgedrungen ist.Im Zuge der Besiedlung der anderen Kontinente durch die Europäer wurde der Haussperling praktisch auf der ganzen Welt heimisch. Dabei lassen sich natürliche Ausweitungen des Verbreitungsgebiets im Gefolge des in unbesiedelte Gebiete vordringenden Menschen und Ausbreitung nach gezielter Einfuhr oder unbeabsichtigtem Transport vielfach nicht mehr unterscheiden.Nach Nordamerika beispielsweise gelangte der Spatz, als im Jahr 1852 europäische Auswanderer etwa 100 Vögel auf einem Friedhof in Brooklyn bei New York aussetzten. Nach etwa 20 weiteren Importen aus England und Deutschland mit über 1000 Vögeln und zahlreichen Verfrachtungen innerhalb des Landes besiedelte der Haussperling um die Wende zum 20. Jahrhundert bereits das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten. Die Art breitete sich damit schneller aus als der später eingeführte Star.
=== Redewendungen, Legenden und Literatur ===
Da die Lebensräume von Haussperling und Mensch schon lange eng beieinander liegen, haben sich zahlreiche Redewendungen und Legenden entwickelt. Auch hierbei überwiegt das negative Image des Spatzen. Die bekanntesten sind folgende:
Dreckspatz: Die Vorliebe für Staubbäder hat diese Bezeichnung verursacht.
Dass Spatz/Spatzl auch ein Kosename für eine(n) Geliebte(n) ist, mag auf die erotische Konnotation zurückgehen.
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach: Dies soll ausdrücken, dass man sich lieber mit etwas Kleinem und sicher Erreichbarem zufriedengeben soll, als etwas Größeres und Wertvolleres zu begehren, dessen Erreichbarkeit ungewiss ist.
Mit Kanonen auf Spatzen schießen: Soll deutlich machen, dass man übertriebenen Aufwand betreibt, um etwas zu erreichen.
Im Schafkopf nennt man Spatz eine niedrige, wertlose Karte.
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Ist ein Ausdruck für etwas, was längst kein Geheimnis mehr ist und sich überall herumgesprochen hat.
Manch einer ist frech wie ein Spatz. Das Schimpfen wie ein Rohrspatz geht allerdings auf die Rohrammer zurück, die auch Rohrspatz genannt wird.
Ein Spatzenhirn haben: Für dieses Synonym für „dumm oder vergesslich sein“ musste der Spatz wohl als bekanntester kleiner Vogel Pate stehen. Indes sind Haussperlinge sogar relativ intelligente Vögel, denn sie waren beispielsweise die ersten Vögel, die in den 1930er Jahren in England den Meisen das Öffnen der Milchflaschen nachmachten.
Der Ulmer Spatz: Hier soll der Spatz als Ideengeber beim Bau des Münsters fungiert haben, indem er einen Strohhalm längs im Schnabel trug, nachdem die Ulmer vergeblich versucht hatten, einen großen Balken quer durch das Stadttor zu transportieren.
Grimms Märchen kennen den klugen Spatz in Der Hund und der Sperling und Der Sperling und seine vier Kinder.Humorvolle Gedichte über den Haussperling gibt es beispielsweise von Wilhelm Busch, Ernst Schenke oder Heinz Erhardt. Ein frecher Spatz war auch die Hauptrolle in der deutschen Fernsehreihe Der Spatz vom Wallrafplatz, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre vom WDR ausgestrahlt wurde.
=== Der Spatz als Schädling ===
Der frühere Ruf des Haussperlings als Schädling ist vor allem auf seine Vorliebe für Körner zurückzuführen. Auch war der Spatz bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weit zahlreicher als heute. Dies führte in der Vergangenheit mehrfach in verschiedenen Regionen zur organisierten Bekämpfung der Spatzen. Beispielsweise setzte
König Friedrich der Große im 18. Jahrhundert ein Kopfgeld aus, um die herrschaftlichen Felder vor den Spatzen zu schützen. Wegen der durch die Dezimierung der Sperlinge verursachten starken Ausbreitung der Insekten wurde dieses Kopfgeld jedoch bald wieder abgeschafft.Verstärkte, kampagneartige Aktivitäten auf Basis häufig übertriebener oder pauschaler Schadensschätzungen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei wurde dem Haussperling mittels Spezialfallen, Giftweizen oder durch anderweitigem systematischem Einsatz von Giftstoffen nachgestellt, wiederum unterstützt durch die Auslobung von Geldprämien. Diese Maßnahmen sorgten lokal für deutliche Dezimierungen des Bestandes, die Lücken waren aber nach zwei Jahren meist wieder geschlossen. In Süddeutschland wurden Haussperlinge bis in die 1960er-Jahre bisweilen durch Dynamitsprengungen ihrer Schlafplätze getötet. Im Jahr 1965 wurden durch den DBV, der damaligen Vorläuferorganisation des NABU, spezielle Futterhäuschen mit den Namen „Kontraspatz“ oder „Spatznit“ vertrieben. Damit sollten die Haussperlinge von der Winterfütterung ausgeschlossen werden, da man die Spatzen als zu große Konkurrenz für die übrigen Singvögel ansah. Weit wirkungsvoller war allerdings die nicht als Bekämpfungsmaßnahme gedachte Umgestaltung des Lebensraums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (siehe Bestand und Bestandsentwicklung).Auch heute wird der Haussperling teilweise noch als Hygieneschädling betrachtet und findet sich deshalb auch in einem Lexikon für Schädlinge wieder. Problematisch ist dabei insbesondere das Eindringen und Einnisten in Lebensmittelmärkten und Großküchen, da der Haussperling als potentieller Überträger von Krankheiten gilt. In Deutschland geraten hier das Bundesnaturschutzgesetz und die Lebensmittelhygieneverordnung in Konflikt, so dass die Rechtslage bei einer Bekämpfung der Sperlinge unklar ist.
=== Rolle bei Übertragung von Krankheiten ===
Haussperlinge wurden mit der Verbreitung einiger Krankheiten, die für den Menschen oder für domestizierte Tiere von Bedeutung sind, in Verbindung gebracht. Spatzen gelten als Überträger von Bakterien (beispielsweise Salmonellen) oder auch als Reservoirwirt bei der Verbreitung verschiedener Arboviren. Für die Ausbreitung eines Vertreters dieser Virengruppe, des St.-Louis-Enzephalitis-Virus in Nordamerika, wird dem Haussperling eine Schlüsselrolle unterstellt. Auch mit dem West-Nil-Virus wird der Haussperling in Verbindung gebracht. Wegen der Charakteristik der Ausbreitung dieses Virus in den USA ist der Haussperling neben den Rabenvögeln und verschiedenen Zugvögeln in Verdacht geraten, bei der Verbreitung eine entscheidende Rolle zu spielen.Im Labor wurde nachgewiesen, dass Spatzen mit der besonders virulenten Form des Influenzavirus vom Typ H5N1 infiziert werden können, wenn sie auch nur schwach darauf reagieren. Außerhalb des Labors wurden bislang nur in Ostasien im unmittelbaren Umkreis massiv von Vogelgrippe H5N1 befallener Geflügelhaltungen infizierte Sperlinge entdeckt.Trotz alldem ist zusammenfassend festzustellen, dass der Haussperling keine besondere Rolle bei der Übertragung für den Menschen gefährlicher Krankheitserreger spielt. Es wäre eher die Frage zu stellen, welche Auswirkungen vom Menschen verbreitete Krankheitserreger auf Sperlingspopulationen haben.
=== Symbol der Unkeuschheit ===
Auch wenn sich Haussperlinge nicht häufiger als andere sozial lebende Vogelarten paaren, brachte ihr Verhalten ihnen im Mittelalter den Ruf der Unkeuschheit ein. Dies lag wohl auch daran, dass die Paarung direkt vor den Augen der Menschen stattfand und Spatzen dabei geräuschvoller zu Werke gehen als manch andere Vögel. Man glaubte damals, dass Spatzen bei so vielen Begattungen höchstens ein Jahr leben könnten.
Weit verbreitet war auch der Glaube, dass Spatzenfleisch den Liebesdrang steigere und zur Unzucht ansporne. Im alten Rom und noch früher, im Griechenland der Antike, wurden ähnliche Aberglauben beschrieben. Bei Aristophanes, einem griechischen Komödiendichter, ritten die sehnsüchtigen Frauen auf Spatzen von der Akropolis zu ihren Männern herab. Catull dichtet: „Passer, deliciae meae puellae …“ (Spatz, Liebling meiner Freundin …).
=== Berühmte Spatzen ===
Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Spatz Clarence berühmt. Er fiel als frisch geschlüpftes Küken vor die Füße von Clare Kipps, die ihn aufzog und ihm kleine Kunststücke beibrachte. Kipps nahm ihn als Angehörige des freiwilligen Luftschutzes während ihrer Dienstgänge in die Luftschutzbunker Londons mit, wo sie Clarence Hitlerreden parodieren ließ. Er wurde in Presseberichten gefeiert, und sein Bild auf Postkarten wurde zu Gunsten des Britischen Roten Kreuzes verkauft.Weiterhin wurde im Rahmen des Domino Days 2005 ein Tier als „Domino-Spatz“ bekannt, das nach Zufallbringen von rund 23.000 Dominosteinen von einem seitens der Produktionsfirma engagierten Jäger erschossen wurde.
== Literatur ==
U. N. Glutz von Blotzheim, K. M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Band 14-I, Passeriformes (5. Teil), Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-609-X.
Ted. R. Anderson: Biology of the ubiquitous house sparrow. From genes to populations. Oxford University Press, 2006, ISBN 0-19-530411-X.
Jochen Hölzinger: Die Vögel Baden-Württembergs. Band 3/2, Singvögel/Sperlingsvögel. Ulmer, Stuttgart 1997, ISBN 3-8001-3483-7.
Einhard Bezzel: Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Band 2: Passeres–Singvögel. Aula, Wiesbaden 1993, ISBN 3-89104-530-1.
Kate E. Vincent: Investigating the causes of the decline of the urban House Sparrow Passer domesticus population in Britain. (PDF; 1,2 MB) 2005
NABU Deutschland: Der Haussperling – Vogel des Jahres 2002. Jahresvogelbroschüre (PDF; 28 Seiten, 2,3 MB)
Immanuel Birmelin: Von wegen Spatzenhirn! Die erstaunlichen Fähigkeiten der Vögel. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-440-13022-3.
== Weblinks ==
Passer domesticus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: BirdLife International, 2008. Abgerufen am 12. November 2008.
BirdLife International: Species Factsheet – House Sparrow (Passer domesticus)
Homepage des NABU – Das Tschilpen eines Haussperlings (WAV; 1 MB)
Haussperling (Passer domesticus) auf eBird.org
Alters- und Geschlechtsbestimmung (PDF; 10,3 MB) von Javier Blasco-Zumeta und Gerd-Michael Heinze (englisch). Abgerufen am 9. April 2023.
Federn des Haussperlings
Videos zu Passer domesticus herausgegeben vom Institut für den Wissenschaftlichen Film.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Haussperling |
Masern | = Masern =
Masern oder Morbilli sind eine hoch ansteckende Infektionskrankheit, die vor allem Kinder betrifft. Neben den typischen roten Hautflecken (Masern-Exanthem) ruft die Erkrankung Fieber und einen erheblich geschwächten Allgemeinzustand hervor. Diese sogenannte Kinderkrankheit wird durch das Masernvirus hervorgerufen und kann in manchen Fällen lebensbedrohlich sein durch schwere Verläufe (Komplikationen) mit Lungen- und Hirnentzündungen. In den meisten Ländern ist die Erkrankung meldepflichtig.
Die Diagnose erfolgt durch das klinische Bild und einen Antikörpernachweis im Blut. Eine spezifische Therapie existiert nicht, der Erkrankung und somit auch den Komplikationen kann jedoch durch Impfung ab dem zwölften Lebensmonat vorgebeugt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) strebt die weltweite Ausrottung der Masern an. Durch Impfungen konnte die Zahl der Erkrankungen in der Vergangenheit stark reduziert werden, von 1980 bis 2013 um über 95 %. Bedingt durch die sich in den Industrieländern ausbreitende Impfscheu und die globale Migrationsbewegung sind die Masernfälle weltweit in den letzten Jahren wieder um 30 % angestiegen. Die WHO hat deshalb im Januar 2019 die Masern zur Bedrohung der globalen Gesundheit erklärt. Die Überprüfung und Ergänzung des Impfschutzes für Masern für Erwachsene und Kinder bei Reisevorbereitungen wird daher dringend empfohlen. In Regionen mit hoher Impfquote wie bspw. Nord- und Südamerika sind Masern bis auf wenige importierte Fälle de facto bereits ausgerottet, dort wurden im Jahr 2014 weniger als 2000 Fälle bestätigt.Die lateinische Bezeichnung morbilli ist eine Verkleinerungsform (Diminutiv) von lateinisch morbus „Krankheit“.
== Epidemische Lage ==
=== Welt ===
Das Masernvirus kommt weltweit vor, wobei die Krankheitshäufigkeit stark variiert. Insbesondere in Entwicklungsländern kommt es immer wieder zu lokalen Masernepidemien mit hohen Krankheits- und Sterblichkeitszahlen. Die Masern gehören dort zu den häufigsten Infektionskrankheiten. Laut Schätzung der WHO haben sie im Jahr 2000 fast die Hälfte der 1,7 Millionen durch Impfung vermeidbaren Todesfälle bei Kindern verursacht, bei geschätzten 30 bis 40 Millionen Krankheitsfällen in jenem Jahr. Die Zahl der gemeldeten Erkrankungen liegt aufgrund der hohen Dunkelziffer weit unter diesen geschätzten Werten (siehe Tabelle).
Auf der anderen Seite konnte das Virus durch groß angelegte Impfkampagnen in verschiedenen anderen Regionen, so dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent, bereits weitgehend eliminiert werden (siehe Grafik). Das wurde dadurch möglich, dass der Mensch der einzige Wirt des Masernvirus ist. 2001 legten die WHO und UNICEF einen Plan vor mit dem Ziel, die Sterblichkeitsrate bei Kindern durch weltweite Impfprogramme bis zum Jahr 2005 zu halbieren. Während genaue Daten noch ausstehen, zeigen verschiedene Berichte, dass dieses Ziel zu einem großen Teil erreicht wurde. Von 1999 bis 2003 gelang eine weltweite Reduktion der Masern-Sterblichkeit um 39 %, wobei weiterhin hohe Sterblichkeitsraten in Afrika und Südostasien bestehen. 2005 adaptierte die World Health Assembly der WHO diese Pläne und formulierte für das Jahr 2010 das Ziel einer 90-prozentigen Reduktion der weltweiten Sterblichkeit. Dieses Ziel wurde laut WHO nicht erreicht. Von weltweit 535.300 (geschätzt) Maserntoten im Jahr 2000 sank die Zahl bis 2010 auf 139.300, dies entspricht einer Senkung um 74 %. 2019 sind weltweit nach Schätzungen der WHO und CDC mehr als 200.000 Menschen an Masern gestorben, insbesondere in Afrika.Anfang 2020 äußerte die WHO, eine im Kongo herrschende, ein Jahr zuvor ausgebrochene Masernepidemie sei der „derzeit schlimmste Masernausbruch weltweit“. Sie habe zu mehr als 6.000 Todesfällen geführt.
=== Europa ===
Die Gesamtzahl der erfassten Erkrankungen in Europa ging von 1990 bis 2004 bei gleichzeitig verbesserter Überwachungs- und Meldesysteme deutlich zurück. Die Häufigkeit der Fälle ist, bedingt durch variierende Impfquoten, sehr unterschiedlich. Während sie in einigen Regionen, wie den skandinavischen Ländern, sehr niedrig ist – in Finnland traten seit 1996 lediglich vier importierte Fälle auf –, ist das in Mittel- und Osteuropa oft noch nicht der Fall. Dort kommt es aufgrund von Impflücken immer wieder zu lokalen Krankheitsausbrüchen. Trotz Meldepflicht in den meisten Ländern existiert wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer, und die Zahl der tatsächlichen Krankheitsfälle liegt wesentlich höher als die der gemeldeten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) appellierte 2011 an die EU-Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Bekämpfung der Masern zu verstärken.Im Jahr 2018 wurden bei weitem mehr Masernfälle gemeldet als in anderen Kalenderjahren des Jahrzehnts.
=== Amerika ===
Bis 1994 führten nahezu alle Staaten der UN-Region Amerika Impfprogramme für Kinder ein. Dadurch verringerte sich die durchschnittliche Zahl der Neuerkrankungen von 250.000 auf etwa 100 Fälle pro Jahr, die Masern gelten damit als faktisch ausgerottet. Regional treten noch vereinzelte Krankheitsausbrüche auf, die nahezu alle importiert sind oder auf importierte Masern zurückgeführt werden können. Amerika wird somit ein Beispiel dafür zitiert, dass die Masern durch Impfprogramme weltweit beherrscht werden können.Inzwischen treten genuine, also nicht importierte, Masernerkrankungen in den Staaten Nord- und Südamerikas mit Einschluss der Karibik kaum noch auf. Die Centers for Disease Control and Prevention sehen die Masern in den USA nicht mehr als endemische Krankheit an. Ende September 2016 meldete die panamerikanische Gesundheitsorganisation den amerikanischen Doppelkontinent als frei von Masern.Allerdings kam es in den USA nach 2016 wieder zu einer Zunahme von Masernerkrankungen. Ausgangspunkt waren Menschen, die aus Staaten mit noch endemischem Vorkommen von Masern in die USA eingereist waren und dann das Virus in Subpopulationen verschleppt hatten, die in den USA ohne Herdenimmunität sind. Ab Anfang Januar wurden, mit Stand zum 3. Juli 2019, über 1109 Fälle von Masern in 28 Staaten der USA gemeldet. Dies ist die größte Fallzahl seit 1992.
== Situation nach Staaten ==
=== Europa ===
==== Deutschland ====
2005 kam es in Deutschland zu zwei größeren Masernausbrüchen: im Februar in Hessen (223 Masernfälle, eine 14-Jährige starb) und von März bis Juli in Oberbayern (279 Masernfälle). 13 % von ihnen wurden in Kliniken behandelt. 2006 wurden Masernhäufungen in Baden-Württemberg sowie in Nordrhein-Westfalen (dort weit über 1500 Fälle) gemeldet.2013 kam es in München zu einer Epidemie. Das dortige Gesundheitsreferat registrierte von April bis Anfang Juni 220 Fälle (nach 7 Fällen im Vorjahr). Über die Hälfte der Erkrankten musste in Kliniken behandelt werden, besonders häufig erkrankten Jugendliche und junge Erwachsene. Eine Schülerin brachte das Virus dann an eine Waldorfschule im Rhein-Erft-Kreis, wo es bei einer Impfquote von nur 25 % bei 400 Schülern zu einem weiteren Masernausbruch im Juli 2013 kam. 54 Menschen (davon 29 Jugendliche und Erwachsene) erkrankten. Drei Patienten mussten stationär im Krankenhaus behandelt werden. Da auch die Impfquote der Lehrer sehr niedrig war, musste die Schule für sechs Tage geschlossen werden.Zwischen dem 29. September 2014 und dem 27. September 2015 (Saisonjahr ab Kalenderwoche 40) wurden in Berlin 1392 Masernerkrankungen gemeldet, was einer Inzidenz von 407 pro 1 Million Einwohner entspricht. In Thüringen, Sachsen, Hamburg und Brandenburg ergaben sich Inzidenzen zwischen 45 und 75. Für Deutschland ergibt sich aus 2.465 in dieser Zeit gemeldeten Fällen eine Inzidenz von 30,1. Die meisten Erkrankungen (über 1000 in Berlin) wurden von Januar bis April gemeldet. Der Virusstamm wurde vermutlich von Asylsuchenden aus Bosnien und Herzegowina und Serbien, die auch als erste erkrankten, eingeschleppt. In Bosnien und Herzegowina grassierte bereits seit Februar 2014 eine Masern-Epidemie mit mehreren Tausend Erkrankten. Die Daten im Epidemiologischen Bulletin ließen 2013 befürchten, dass Masern in Deutschland bald wieder endemisch würden; dies trat jedoch bisher nicht ein. Im März 2020 begann die COVID-19-Pandemie in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Wegen der dagegen ergriffenen Maßnahmen wurden in den Kalenderwochen 10 bis 32 85 % weniger Fälle registriert als im Durchschnitt der Vorjahre.In der DDR gab es eine Impfpflicht gegen Masern. 2016 waren in Deutschland 93 Prozent der Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung ausreichend gegen Masern geimpft. Da Kinder, die Waldorfschulen besuchen, relativ selten geimpft sind, treten dort Masern häufig auf.Seit Beginn der Meldepflicht 2001 wurden bis 2018 acht Todesfälle durch Masern registriert; Komplikationen wurden bei 1,1 bis 8,4 Prozent aller gemeldeten Masernerkrankungen gemeldet.
In Deutschland ist zum 1. März 2020 das Masernschutzgesetz in Kraft getreten.
==== Österreich ====
In Österreich wurde vor der Einführung der Masern-Meldepflicht 2001 vom Institut für Virologie (Wien) ein freiwilliges Meldesystem betrieben, das etwa 8 % der österreichischen Bevölkerung abdeckte. Somit konnten für den Zeitraum von 1993 bis 1997 etwa 28.000 bis 30.000 Masernfälle für ganz Österreich hochgerechnet werden, wobei besonders 1996 und 1997 ein gehäuftes Auftreten von Masernerkrankungen zu verzeichnen war. Die Zahl der jährlichen Fälle lag zwischen 2003 und 2007 jeweils unter 100 pro Jahr. Ab März 2008 breitete sich von einer Waldorfschule im Raum Salzburg eine Masernepidemie über fast alle österreichischen und zwei deutsche Bundesländer aus. In Salzburg wurden 241 Fälle gemeldet, 146 in Oberösterreich, 22 in Wien, 13 in Tirol und 10 in Vorarlberg. Im Zusammenhang mit dieser Epidemie erkrankten nach Auskunft bayerischer Behörden zwischen Mitte März und Mitte Juli 2008 auch insgesamt 217 Personen in vier oberbayerischen Landkreisen. Das Department für Virologie der Medizinischen Universität Wien führt hingegen nur 50 Masernfälle in Bayern, 2 in Baden-Württemberg und 4 Masernfälle in Norwegen direkt auf diesen Ausbruch zurück. Nur 21 der insgesamt 443 im Jahr 2008 gemeldeten Maserninfektionen in Österreich waren nicht Teil des Salzburger Ausbruchs, sondern waren durch Reisen aus Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Spanien und Indien nach Österreich importiert worden.
==== Schweiz ====
In der Schweiz kam es 1997 zu einer Epidemie mit 6400 Erkrankungen. Die Daten der Schweiz basieren auf dem Sentinella-Meldesystem. Nach 574 Fällen im Jahr 2003 wurden 2004 mit 39 Fällen und 2005 mit 60 Fällen wesentlich niedrigere Erkrankungsraten gemeldet. Ab November 2006 breitete sich eine neue Epidemie aus. Bis Ende 2007 wurden mehr als 1100 Erkrankungen gemeldet, der Schwerpunkt lag dabei im Kanton Luzern. Anfang 2008 verschärfte sich die Lage vor allem in der Nordwest- und Ostschweiz, bis Mitte März gab es schon 734 neue Masernfälle. Verschiedene Kantonsärzte empfahlen daher vorbeugende Masernimpfungen. Im Februar 2009 erkrankten an der Rudolf-Steiner-Schule in Crissier rund 40 Schüler an Masern. Daraufhin wurden 250 Schüler für drei Wochen von der Schule ausgeschlossen. In Genf starb ein zwölfjähriges Mädchen aus Frankreich infolge der Masernerkrankung. Im Dezember 2010 bis Januar 2011 wurden in der Schweiz 31 Fälle an der Rudolf-Steiner-Schule in Basel gemeldet. Im Februar 2017 starb ein junger Erwachsener, dessen Immunsystem infolge einer Leukämieerkrankung geschwächt war. In den Jahren 2007 und 2009 wurden jeweils mehr als tausend, im Jahr 2008 über zweitausend Fälle gemeldet. In den Jahren 2011 und 2013 wurden dreistellige, in den Jahren 2010, 2012 und 2014 bis 2016 wurden jeweils zweistellige Fallzahlen gemeldet. 2019 haben die Masernfälle wieder deutlich zugenommen. Bis Mitte April wurden bereits 138 Masernfälle mit zwei Toten gemeldet. Bis Ende des Monats stieg die Anzahl erkrankter Personen auf 155; letztmals wurden 2013 so viele Fallzahlen gemeldet.
Von Anfang Januar bis 8. Oktober 2019 wurden in der Schweiz 212 Fälle von Masern verzeichnet, sechsmal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres (35 Fälle).
==== Niederlande ====
In den Niederlanden wird aufgrund einer orthodox-protestantischen Bevölkerungsgruppe (Orthodox gereformeerde kerken), die aus religiösen Gründen eine Impfung ablehnt, ein epidemisches Auftreten der Masern in regelmäßigen Abständen beobachtet. Im auch sogenannten Bibelgürtel kam es nach Ausbrüchen in den Jahren 1976 und 1988 zu einem weiteren Ausbruch im Jahre 1999 mit 2961 Erkrankungen und drei Todesfällen, zwischen Mai 2013 und März 2014 wurden über 2600 Masernerkrankungen gemeldet, 182 wurden im Krankenhaus behandelt und ein Kind starb. Wegen der geringen Impfquote von ca. 60 % unter Kindern kommt es im Bibelgürtel etwa alle 12 Jahre zu Masernepidemien mit etwa denselben Ausmaßen (jeweils ca. 2.500 übermittelte Masernfälle).
==== Italien ====
2002 kam es in der Region Kampanien im südlichen Italien zu einer weiteren lokalen Epidemie mit 1571 Krankheitsfällen, von denen drei zum Tode führten. Nach Ausbruch einer Masernepidemie Anfang 2017 (mit über 5.000 gemeldeten Fällen) wurde in Italien die Impfpflicht u. a. gegenüber Masern eingeführt. 2018 halbierten sich daher die gemeldeten Erkrankungsfälle auf 2.548, es kam zu sieben Todesfällen.
==== Finnland ====
In Finnland traten zwischen 1996 und 2003 lediglich vier importierte Fälle auf. Finnland gilt als eines der ersten Länder weltweit, die Masern (ab 1996) bzw. auch Mumps und Röteln (1997) eliminieren konnten. Für den Erfolg in Finnland gelten eine bereits in den 1980er Jahren groß ausgebautes Netz an Gesundheitseinrichtungen, die den Großteil an Impfungen verabreicht haben. Aktuell (2019) erkranken jährlich vereinzelt einfach geimpfte oder ungeimpfte Menschen im Zusammenhang mit Reisen in Endemiegebiete. Die Durchimpfungsrate liegt zwischen 95 und 97 %.
==== Rumänien ====
In Rumänien erkrankten 2005 über 3.600 Personen an den Masern, zehn Kinder starben daran. Auch nach 2016 kam es zu einer größeren Masernepidemie, bei der über 11.000 Menschen erkrankten und mindestens 40 daran verstarben.
=== Nordamerika ===
==== Vereinigte Staaten ====
Anders als in Entwicklungsländern hatte wie in anderen entwickelten Staaten zwar auch in den USA die Letalität an Masernerkrankungen aufgrund verschiedener Ursachen (bessere allgemeine Lebensbedingungen, wirksame Behandlung der Masernpneumonie) abgenommen – 1912 wurden 25 Todesfälle pro 1000 gemeldeter Masernerkrankungen registriert, 1962 sank diese Rate auf 1 Todesfall pro 1000 gemeldeter Masernerkrankungen. Weil die Zahl der Masernerkrankungen aber nach wie vor hoch blieb, wurden im März 1963 in den USA zwei Impfstoffe zugelassen und zunehmend eingesetzt: Ein Lebendimpfstoff der Firma MSD (attenuierter Impfstamm Edmonston B) und ein Totimpfstoff von Pfizer. Im September 1963 wurden 25.000 Menschen mit dem Lebendimpfstoff geimpft; bis Mitte 1966 erhielten fast 15 Millionen Kinder einen der beiden Impfstoffe. Die Anzahl der Masernerkrankungen pro Jahr sank daraufhin in den USA von über 400.000 auf unter 100.000 seit 1967 und auf unter 7000 seit 1981. Einen Anstieg der Fälle gab es jedoch von 1989 bis 1991. In diesen drei Jahren zusammen wurden 55.622 Erkrankungsfälle gemeldet, von denen 123 tödlich endeten. Hauptsächlich waren Kleinkinder aus hispanoamerikanischen und afroamerikanischen Familien betroffen, bei denen die Rate ungeimpfter Kinder deutlich höher war als bei der Gesamtbevölkerung. Von 1993 bis 2016 lag die Zahl der jährlich gemeldeten Erkrankungen zwischen 963 und 37.Ein ungeimpfter Teenager löste im Jahr 2013 in zwei orthodoxen jüdischen Gemeinden in Brooklyn, New York, einen Masernausbruch aus, nachdem er sich in London angesteckt hatte.Im September 2016 wurden Masern zwar in Amerika für ausgerottet erklärt, seitdem kam es aber mehrfach zu lokalen Ausbrüchen: In Minnesota erkrankten ab April 2017 mehrere Dutzend Menschen, im Jahr 2018 gab es 17 Ausbrüche mit insgesamt 372 Betroffenen, im Januar und Februar 2019 gab es 206 Fälle, die zum Großteil auf Reisende zurückgeführt wurden. Ende April 2019 meldete die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC einen neuen Höchststand von Masernfällen, mit 695. Dies ist der höchste Stand seit der von der US-Gesundheitsbehörde offiziell bekanntgegebenen Ausrottung der Krankheit in den USA im Jahr 2000. Fälle von Masernerkrankungen wurden in 22 Bundesstaaten registriert, wobei New York und Washington D.C. die meisten Infektionen verzeichneten. Hierbei fand der Masernausbruch von 2019 in New York in der jüdisch-orthodoxen Gemeinde in Williamsburg statt. Er gilt seit 1991 als der größte Ausbruch und führte dazu, dass der medizinische Notstand ausgerufen und eine Impfpflicht eingeführt wurde.
==== Kanada ====
Die Meldepflicht für Masern wurde in Kanada ab 1924 eingeführt und einmal im Zeitraum von 1958 bis 1969 ausgesetzt. Vor Einführung der Masernschutzimpfung traten Epidemien alle 2 bis 3 Jahre auf, der höchste Peak war 1935 mit über 83.000 Fällen. Praktisch jedes Kind war damals von Masern betroffen. 1926 wurden die meisten jemals gezählten Masern-assoziierten Todesfälle (892) innerhalb eines Jahres registriert. 1963 wurde ein Lebendimpfstoff in Kanada zugelassen, damals wurde mit einer Dosis geimpft. Totimpfstoffe wurden vor 1970 in zwei Provinzen eingesetzt, wegen ihrer Nebenwirkungen später aber durch den Lebendimpfstoff ersetzt.
Vor 1970 wurde – im Gegensatz zu den USA – nicht häufig gegen Masern geimpft. Die umfassenden Impfprogramme in den USA haben dort zu einem schärferen Rückgang an Masernfällen geführt als in Kanada. Gegen Ende der 1970er Jahre wird eine Durchimpfungsrate in Kanada von ca. 85 % angenommen, Ende der 1980er Jahre dann über 95 %. 1992 wurde ein Programm zur Masernelimination (bis 2005) beschlossen; für dieses Ziel wurde die Gabe einer Zweitdosis vor Schuleintritt empfohlen. Dies mündete 1996/97 darin, regulär zweimal gegen Masern zu impfen; zudem wurden Kampagnen gestartet, einfach geimpfte Kinder und Jugendliche nachzuimpfen.Nach 2000 kam es zweimal zu Masernepidemien. Insgesamt 752 Fälle (meistens Jugendliche) wurden 2011, insbesondere in der Provinz Quebec, registriert. Diese gingen von aus Frankreich eingereisten Infizierten aus, insbesondere aus Regionen, die niedrige Impfquoten aufwiesen. Der D4-Genotyp des Virus entspricht darüber hinaus dem, welcher den Ausbruch desselben Jahres in Frankreich verursacht hatte. Unter den Fällen waren auch Kinder, die trotz Impfung erkrankt waren; eine Erklärung hierfür ist, dass deren Mütter Masern durchgemacht hatten und im Zuge des Nestschutzes entsprechende Antikörper weitergegeben haben. Diese haben dann die Impfviren neutralisiert.
2014 kam es zu einer Epidemie mit 419 Fällen, größtenteils in orthodox-protestantischen Gemeinden. Fast alle Erkrankten waren aus religiösen Gründen ungeimpft, der Altersmedian lag bei 11 Jahren.
=== Asien ===
==== Israel ====
Im Jahr 2008 wurde von der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC auf einen Ausbruch von Masern in Israel hingewiesen, wo mehr als 900 Fälle bekanntgeworden sind, 700 davon in Jerusalem und Bet Schemesch.
==== Nordkorea ====
In Nordkorea gelten die Masern seit 2018 als eliminiert.
==== Osttimor ====
In Osttimor gelten die Masern seit 2018 als eliminiert.
==== Pakistan ====
In Pakistan sind, nachdem bereits im Jahr 2012 über 300 Maserntote gezählt wurden, bei einem weiteren schweren Masernausbruch 2013 erneut über 300 Kinder an der Krankheit gestorben. Dort wurden 2012 und 2013 über 8.000 Masernerkrankungen bestätigt.
=== Afrika ===
==== Kongo ====
Anfang 2019 kam es zu einer Masernepidemie, bei der über 350.000 erkrankten und etwa 6.500, hauptsächlich Kinder, verstorben sind.
==== Südafrika ====
In Südafrika grassierte von 2009 bis 2011 eine Masernepidemie mit über 18.000 gemeldeten Fällen (13.000 laborbestätigt).
==== Tansania ====
Gemäß WHO-Statistik liegt in Tansania die Impfquote für die Masernerstimpfung bei 99 %, wenngleich die Daten auf Hochrechnungen der Bevölkerungszahlen einer Volkszählung von 2012 basieren. Impfungen hatten einen Anteil von 20 % bei dem starken Rückgang der Kindersterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren.
==== Somalia ====
Laut WHO ist die Anzahl der Masernfälle im Jahr 2022 in Somalia mit ca. 13.000 Fällen mehr als doppelt so hoch wie aus den Jahren 2020 und 2021 zusammengenommen.
=== Ozeanien ===
==== Samoa ====
In Samoa leben rund 200.000 Menschen, die eine besonders niedrige Impfquote von 28 % bis 40 % aufwiesen. Mitte November 2019 waren so viele Masernfälle aufgetreten, dass der Notstand ausgerufen und Ausgangsverbot verhängt worden war. Am 20. November wurde eine Impfkampagne gestartet, bei der bis 2. Dezember 2019 58.000 Menschen im Alter von sechs Monaten bis 60 Jahren, entsprechend knapp 30 % der Bevölkerung geimpft wurden. Ende Dezember 2019 wurde der sechswöchige Notstand für beendet erklärt, von November 2019 bis 29. Dezember 2019 wurden etwa 5.600 Masernfälle gemeldet und es starben 81 Menschen daran, meistens Säuglinge und Kleinkinder. Die Impfquote hat mittlerweile 95 % erreicht.
== Erreger ==
=== Eigenschaften ===
Das Masernvirus ist ein ausschließlich im Menschen vorkommendes (humanpathogenes), etwa 120–140 Nanometer großes einzelsträngiges RNA-Virus aus der Familie der Paramyxoviren (Genus Morbillivirus). Es ist eng mit dem Hundestaupevirus und am engsten mit dem mittlerweile ausgerotteten Erreger der Rinderpest verwandt.Die Hülle des Masernvirus enthält die Oberflächenproteine Hämagglutinin (H-Protein) und Fusionsprotein (F-Protein) sowie ein Matrixprotein (M-Protein). H- und F-Protein sind für die Fusion mit der Wirtszelle und die Aufnahme durch diese verantwortlich. Die zellulären Rezeptoren, über deren Hilfe das Virus in die menschlichen Zellen aufgenommen wird, sind CD150 und Nectin-4. Nectin-4 wird von Epithelzellen präsentiert, CD150 von gewissen Zellen des Immunsystems (Lymphozyten, Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen). Diese Zellen spielen daher bei der Pathogenese einer Maserninfektion (mit dem Wildvirus) eine große Rolle. Der Rezeptor CD46 dient bei Impfungen mit Masernimpfstoffen als zusätzlicher zellulärer Rezeptor. Die von der Impfung hervorgerufenen (induzierten) Antikörper richten sich gegen die Oberflächenproteine des Masernvirus, insbesondere gegen das H-Protein.Die WHO definiert 24 bisher bekannte Genotypen (Variationen der genetischen Informationen) in acht Gruppen (A–H). Die Mutationsrate der Genome ist vergleichsweise gering, wodurch weltweite (geografische) Infektionswege nachvollzogen werden können. In Mitteleuropa kommen vor allem die Genotypen B3 und D8 vor. Die Masernausbrüche in der Schweiz und in Niederbayern 2006/2007 waren hingegen durch den aus Thailand oder Kambodscha stammenden Genotyp D5 verursacht. Dies ermöglichte den Nachweis einer Infektkette von der Schweiz nach Niederbayern und von dort weiter nach Österreich und Hannover, da der Genotyp D5 in Mitteleuropa sonst nur in Einzelfällen auftritt. Weiterhin existiert nur ein stabiler Serotyp (Kombination von Oberflächenmerkmalen des Erregers), weshalb ein gut wirksamer Impfstoff hergestellt werden konnte.
Das Virus ist sehr empfindlich gegenüber äußeren Einflüssen wie erhöhten Temperaturen, Ultraviolettstrahlung (Licht) sowie aufgrund seiner Virushülle gegenüber Fettlöse- und Desinfektionsmitteln. An der Luft bleibt das Virus lediglich zwei Stunden infektiös.
=== Übertragung und Körperabwehr ===
Die Übertragung des Masernvirus erfolgt durch direkten Kontakt oder durch Tröpfcheninfektion. Die Infektiosität der Masern besteht drei bis fünf Tage vor dem Ausbruch des Hautausschlags bis vier Tage danach. Das Masernvirus dringt über die Epithelzellen der Schleimhaut des Atemtrakts oder seltener über die Bindehaut der Augen in den Körper ein. Das Virus führt dabei durch die hohe Ansteckungsfähigkeit schon nach kurzer Exposition zu einer Infektion (Kontagionsindex von fast 1). Die Viren vermehren sich in den regionalen Lymphknoten und breiten sich nach etwa 48 Stunden über die Blutbahn in das retikulohistiozytäre System aus. Dies geht einher mit einem meist kurzen Auftreten des Virus im Blut (Virämie). Nach etwa 5–7 Tagen kommt es zu einer zweiten Virämie mit anschließender Infektion der Haut und des Atemtrakts. Dadurch werden der charakteristische Hautausschlag (Masernexanthem) und die schnupfenartigen Symptome, Husten und akute Bronchitis ausgelöst. Durch die Invasion des Virus in T-Lymphozyten sowie erhöhte Spiegel von Botenstoffen (Zytokinen), insbesondere Interleukin-4, wird eine vorübergehende Schwäche der Körperabwehr verursacht. Während dieser Phase, die etwa vier bis sechs Wochen dauert, kann es dadurch zu weiteren (sekundären) Infektionen kommen.Die Körperabwehr beruht vor Beginn des Exanthems vor allem auf dem zellulären Immunsystem (zytotoxische T-Lymphozyten, natürliche Killerzellen). Patienten mit einer verminderten Immunität, die auf einer Schwächung dieses Teils des Immunsystems beruht, haben ein hohes Risiko für eine Maserninfektion, die einen schweren Verlauf nehmen kann. Eine Immunschwäche, die sich auf den Bereich des humoralen Immunsystems beschränkt, führt hingegen nicht zu einem erhöhten Erkrankungsrisiko. Für die Entwicklung der typischen Rachenrötung (Enanthem, Koplik-Flecken) sowie Hautrötung (Exanthem, s. u.) spielen Immunreaktionen in kleinen Blutgefäßen (Kapillaren) eine wichtige Rolle. Daher können diese Zeichen bei immungeschwächten Patienten fehlen (weiße Masern), obwohl ein schwerer Krankheitsverlauf vorliegt. Mit Beginn des Exanthems setzt die Bildung von Antikörpern ein, zuerst der Klasse IgM, später auch von IgG.
== Krankheitsbild ==
=== Symptome und Krankheitsverlauf ===
Typisch für die Masern ist ein zweiphasiger Krankheitsverlauf: Auf die Inkubationszeit von 8 bis 10 Tagen folgt das drei bis sieben Tage dauernde, uncharakteristische Prodromalstadium, auch Initialstadium genannt. Dieses äußert sich durch eine Entzündung der Schleimhäute des oberen Atemtraktes (Katarrh mit Rhinitis), teilweise auch des mittleren Atemtraktes als trockene Bronchitis, sowie der Augenbindehäute (Konjunktivitis). Das Beschwerdebild in diesem Krankheitsstadium wird daher auch mit den Worten „verrotzt, verheult, verschwollen“ beschrieben. Dazu kann es zu Fieber bis 41 °C, Übelkeit, Halsschmerzen und Kopfschmerzen kommen. Die nur bei Masern vorkommenden Koplikflecken an der Wangenschleimhaut gegenüber den vorderen Backenzähnen (Prämolaren) sind eher selten zu beobachten und werden von manchen Autoren zu den atypischen Zeichen einer Maserninfektion gezählt. Diese weißen, kalkspritzerartigen Flecken auf gerötetem Untergrund sind 1–2 mm groß und treten kurz vor dem Erscheinen des späteren Ausschlags auf.
Am 12. bis 13. Tag geht die Krankheit in das typische Exanthemstadium über, das oft mit einer typischen Schleimhautrötung (Enanthem) am weichen Gaumen beginnt. Am 14. bis 15. Tag breitet sich ein fleckig-knotiger (makulo-papulöser), zum Teil konfluierender, großfleckiger Ausschlag (Exanthem) – typischerweise hinter den Ohren (retroaurikulär) beginnend – innerhalb von 24 Stunden über den ganzen Körper aus. Nach weiteren vier bis fünf Tagen bilden sich die Symptome in der Regel zurück. Als Überbleibsel des Exanthems kann eine kleieförmige Schuppung für kurze Zeit bestehen bleiben. Begleitend treten häufig Lymphknotenschwellungen (Lymphadenopathie) auf. Bei Erwachsenen verläuft die Krankheit oft schwerer als bei Kindern, obwohl es sich um die gleichen Symptome handelt. Da die Erkrankung bei Erwachsenen schwerer diagnostiziert wird, kommt es zu einer später einsetzenden Behandlung und daraus entstehenden Komplikationen, wie der Masernpneumonie.Der Fieberverlauf der Erkrankung ist häufig zweigipflig, wobei der erste Gipfel während des Prodromal-, der zweite während des späteren Exanthemstadiums auftritt. Dazwischen kommt es oft zu einer kurzen Entfieberung. In unkomplizierten Fällen folgt eine rasche Erholung und eine lebenslang anhaltende Immunität.
=== Untypische Verlaufsbilder ===
Untypische Verläufe kommen in verschiedenen Situationen vor. Säuglinge mit Leihimmunität durch mütterliche Antikörper oder Patienten, die Antikörperpräparate erhalten haben, erkranken an einer abgeschwächten Form der Erkrankung (mitigierte Masern).
Bei Personen mit Immunschwäche kann der Verlauf sehr unterschiedlich sein, so kann beispielsweise hier der typische Hautausschlag fehlen (weiße Masern). Zu dieser Gruppe zählen Patienten mit angeborenen Defekten des zellulären Immunsystems, HIV-Infektionen, bösartigen Tumoren oder immunsuppressiver Therapie. Sie haben ein hohes Risiko, an einem schweren und langwierigen Verlauf der Masern mit erhöhter Komplikations- und Sterblichkeitsrate zu erkranken.
Unter atypischen Masern versteht man eine schwere Verlaufsform, die bei Patienten nach der Impfung mit einem formalininaktivierten Impfstoff auftrat, wenn sie später mit einem Wildtyp-Masernvirus konfrontiert wurden. Diese Impfstoffe wurden in den USA und Kanada in den 1960er Jahren benutzt. Neben der sehr ausgeprägten Symptomatik, die meist nicht in der typischen Reihenfolge verlief, traten Pleuraergüsse, Leberentzündungen und Ödeme der Arme und Beine auf. Trotz der Schwere des Krankheitsbildes war die Prognose gut, die Patienten erholten sich vollständig.
=== Komplikationen ===
Während zwei Drittel der Erkrankungen unkompliziert verläuft, treten bei etwa 20–30 % der Fälle zusätzliche Begleiterscheinungen und Komplikationen auf, wobei Durchfall (in 8 % der Krankheitsfälle), Mittelohrentzündungen (7 %) und Lungenentzündungen (6 %) die häufigsten sind. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Komplikationen.
Über die Sterblichkeitsrate gibt es verschiedene Angaben. Das Robert Koch-Institut nennt eine Letalität von 1:1000. Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC geht von einer Sterblichkeit von 1:500 bis 1:1000 aus. Das Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten der EU berechnet eine Sterblichkeit von 3:1000. In Entwicklungsländern liegt die Todesrate wesentlich höher, teilweise bei bis zu 25 %. Lungenentzündungen sind die am häufigsten zum Tode führenden Komplikationen.
==== Masernpneumonie ====
Unter einer primären Masernpneumonie wird eine Lungenentzündung mit dem Verlaufsbild einer interstitiellen Pneumonie mit Entzündung der kleinen Bronchien (Bronchiolitis) verstanden, die sich hauptsächlich als Atemstörung (Dyspnoe) äußert. Mittels körperlicher Untersuchung ist sie schwer zu diagnostizieren, so dass eine Röntgenaufnahme erforderlich ist.
Das Epithel des respiratorischen Systems wird durch das Masernvirus direkt geschädigt, dabei wird ein Verlust von Flimmerhärchen (Cilien) beobachtet. Diese Schäden stellen eine Prädisposition für bakterielle Infekte dar (bakterielle Superinfektionen). Eine solche Infektion tritt, insbesondere nach oder bei einer gleichzeitigen interstitiellen Viruspneumonie, als Bronchopneumonie auf. Sie ist aber durch die masernbedingte Abwehrschwäche (s. o.) auch isoliert möglich.
Eine seltene Form der viralen Pneumonie ist die Riesenzellpneumonie mit vielkernigen, von den Alveolarepithelien abstammenden Riesenzellen (Hecht-Riesenzellen), die typisch für Masern und Keuchhusten ist, selten jedoch auch bei Diphtherie oder Grippe vorkommt. Sie tritt vor allem bei geschwächten Patienten auf und hat eine schlechte Prognose.
==== Meningoenzephalitis ====
Die Entzündung des Gehirns und seiner Häute (Meningoenzephalitis) ist selten (bei 0,1 % der Erkrankungen), verläuft jedoch in 10–20 % der Fälle tödlich. In weiteren 20–30 % bleiben dauerhafte Schädigungen des Gehirns zurück.Die Meningoenzephalitis kann sich vier bis sieben Tage nach Exanthembeginn entwickeln, bei Patienten über sechs Jahren häufiger als bei Kleinkindern. Sie manifestiert sich mit Fieber, Kopfschmerz, meningealer Reizung (Nackensteifigkeit, Erbrechen) sowie Bewusstseinsstörungen bis zum Koma. Schwere Verlaufsformen äußern sich in epileptischen Anfällen und anderen neurologischen Funktionsstörungen. Bei der Lumbalpunktion zeigt das gewonnene Hirnwasser eine Zellvermehrung (Pleozytose) und eine erhöhte Proteinkonzentration. Nach Einführung der Masernimpfung sank das Vorkommen der durch Masern ausgelösten Meningoenzephalitis kontinuierlich und liegt in Deutschland bei weniger als zehn Fällen im Jahr.
Bei Kindern mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten kann es in seltenen Fällen zu einer besonderen Form der Gehirnentzündung durch Masernviren kommen („Einschlusskörperchenenzephalitis“, measles inclusion-body encephalitis, MIBE, von englisch measles für „Masern“). Diese Komplikation manifestiert sich meist innerhalb eines Jahres nach Maserninfektion mit schwer behandelbaren fokalen Krampfanfällen und endet in der Regel innerhalb von wenigen Monaten tödlich. Die Diagnose kann durch eine Gewebeprobeentnahme aus dem Gehirn (Biopsie) gestellt werden. Es sind auch Fälle beschrieben worden, die durch das Impfvirus verursacht wurden. Menschen mit bestimmten schweren angeborenen oder erworbenen Immundefekten dürfen daher nicht gegen Masern geimpft werden.
==== Subakute sklerosierende Panenzephalitis ====
Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine Spätkomplikation nach Maserninfektion, die eine generalisierte Entzündung des Gehirns mit Nerven-Entmarkung (Demyelinisierung) und schwersten Schäden nach sich zieht und in mehr als 95 % der Fälle tödlich endet. Die Entstehung der SSPE ist nicht vollständig geklärt. Eine Rolle scheinen dabei Mutationen der Proteine der Virushülle zu spielen, insbesondere bei den Aminosäuren an den Positionen 64 (Pro), 89 (Glu) und 209 (Ala) des M-Proteins (sogenanntes PEA-Motiv). Gerade das Ala209 ist für eine gesteigerte Virenausbreitung innerhalb des Körpers verantwortlich. In Impfviren sowie Laborstämmen tritt dieses Motiv nicht auf, an den jeweiligen Positionen wurden folgende Aminosäuren identifiziert: Ser, Lys bzw. Thr (sog. SKT-Motiv). Dies könnte erklären, warum man in Gewebeproben SSPE-infizierter Gehirne ausschließlich Masern-Wildviren nachgewiesen hat und nicht Masern-Impfviren; außerdem gibt es keine Evidenzen dafür, dass eine Masernimpfung eine SSPE verursachen oder beschleunigen könnte.Die Erkrankung tritt Monate bis zehn Jahre nach einer Maserninfektion auf, im Durchschnitt nach sieben Jahren. Der Verlauf ist langsam progredient über ein bis drei Jahre – die SSPE zählt zu den sog. Slow Virus Infections. In jeweils 10 % der Fälle tritt ein akuter, schnellerer (3 bis 6 Monate) oder ein langsamerer Verlauf (länger als drei Jahre) auf.
Es lassen sich vier Stadien der SSPE abgrenzen. Das erste Stadium ist durch Reizbarkeit, Demenz, Lethargie, Sprachstörungen und Rückgang sozialer Interaktionen gekennzeichnet, das zweite durch Störungen der Motorik wie Dyskinesie, Dystonie und Muskelkrämpfe (Myoklonien). Im dritten Stadium manifestieren sich ein extrapyramidales Syndrom, spastische Lähmungen sowie ein Dezerebrationssyndrom, bei dem das Großhirn stark geschädigt ist. Im EEG finden sich typische Veränderungen, die wegweisend für die SSPE sind (Radermecker-Komplex). Im letzten Stadium kommt es zu Funktionsausfällen der Großhirnrinde, was zu einem Wachkoma, einem akinetischen Mutismus, dem Ausfall vegetativer Funktionen (wie z. B. Atmung, Puls, Blutdruck) und schließlich zum Tode führt.
Die Häufigkeit der SSPE wurde früher mit 5 bis 10 pro 1 Million Masernfällen angegeben. Die neuere Literatur geht jedoch von einer Häufigkeit von etwa 1:1.000 bis 1:5.000 oder 1:10.000 Infizierten aus, bei Kindern unter 5 Jahren liegt das Risiko bei 2 bis 6:10.000. Auswertungen aus Kalifornien haben sogar ein Risiko von 1:1367 für Kinder unter 5 Jahren und von 1:609 für Kinder unter einem Jahr ergeben. Die absolute Häufigkeit der SSPE ist durch die Masernimpfung seit den 1980er Jahren deutlich reduziert worden.
Die SSPE tritt in den meisten Fällen bei Kindern oder Jugendlichen auf, die vor ihrem zweiten Lebensjahr die Masern durchgemacht hatten. Da Kinder erst ab dem 12. Lebensmonat gegen Masern geimpft werden können, liegt die einzige Möglichkeit, Kleinkinder unter 12 Monaten vor den Masern zu schützen, in der Expositionsprophylaxe, d. h. in der Vermeidung des Umgangs mit potentiell infektiösen, d. h. ungeimpften Personen.
SSPE wurde Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst als seltene neurologische Erkrankung (sporadisch auftretende Enzephalitis mit subakutem Verlauf) beschrieben. Mikroskopisch wurden durch die Arbeit von James R. Dawson 1933 die SSPE-assoziierten sichtbaren Veränderungen beobachtet, eine virale Ursache wurde vermutet. Die Bezeichnung „SSPE“ fiel erstmals 1939. Durch die Arbeiten von John H. Connolly und Mitarbeitern von 1967 wurde schließlich die Rolle des Masernvirus bei SSPE identifiziert.
==== Schwächung des Immunsystems ====
Masern gelten als die als erste beschriebene immunsuppressive Erkrankung. Die Masernviren verbreiten sich besonders im lymphatischen System. So dringen sie in einige Zellen des Immunsystems ein, vor allem in Lymphozyten, Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen. Dadurch kommt es zunächst in der akuten Phase der Erkrankung zu einer Immunsuppression mit Lymphopenie in Form eines manchmal drastischen Abfalls der Menge im Blut zirkulierender T- und B-Zellen. Damit werden Masernkranke kurz nach der Maserninfektion anfälliger für andere bakterielle oder virale Krankheitserreger. Außerdem befallen Masernviren auch die Gedächtniszellen des Immunsystems. Dadurch kann die Immunität gegenüber anderen Krankheiten auch mittelfristig verloren gehen oder beeinträchtigt werden („Immunamnesie“). Das Ausmaß der Löschung des körpereigenen Immungedächtnisses variiert von Person zu Person und es kann zwei bis drei Jahre dauern, bis sich die körpereigene Abwehr erholt hat. Nach einer Maserninfektion kommt es in dieser Zeit zu häufigeren Infektionen durch andere Erreger. Die Mortalität ist aufgrund der verlorenen Immunogenität bis zu drei Jahre nach einer durchgemachten Maserninfektion erhöht. Masernimpfungen dagegen führen in Regionen, in denen der Schutz vor anderen Erkrankungen mangels Ressourcen nur eingeschränkt möglich ist, vor allem Entwicklungsländern, zu einem starken Rückgang dieser Krankheiten.Im Oktober 2019 wurde die Erkenntnis, dass nach einer durchgemachten Maserninfektion entgegen früherer Annahmen das menschliche Immunsystem eher geschwächt anstelle gestärkt wird, in einer Studie des britischen Sanger Instituts erneut bestätigt. Masernviren zerstören demnach B-Gedächtniszellen, die bei einer Infektion Antikörper produzieren. Dieses führt zu dem Immungedächtnisverlust und schwächt die Abwehr gegen andere Krankheiten. Im Gegensatz dazu lösen die abgeschwächten Masernviren, die im Rahmen einer Schutzimpfung injiziert werden, diesen Immungedächtnisverlust nicht aus.
==== Konjunktivitis ====
Auch eine Bindehautentzündung, gelegentlich assoziiert mit einer Entzündung der Hornhaut (Keratitis) des Auges mit multiplen, punktförmigen, epithelialen Läsionen, kann als Komplikation der Maserninfektion auftreten. In Entwicklungsländern sind die Masern eine der häufigsten Ursachen für Erblindungen von Kindern, besonders im Zusammenhang mit Vitamin-A-Mangel und/oder Immunschwächeerkrankung infolge von HIV oder anderen Krankheiten.
==== Weitere Komplikationen ====
Durch eine Kehlkopfentzündung mit Schwellung der Schleimhaut kommt es zu Heiserkeit und Atemnot bereits im Vorstadium (vgl. Pseudokrupp), dies wird als „Masernkrupp“ bezeichnet. Weitere Komplikationen sind die Wurmfortsatzentzündung (Appendizitis), Leberentzündung (Hepatitis) oder generalisierte Lymphknotenschwellung (Lymphadenitis). Selten sind eine Herzmuskelentzündung (Myokarditis), Nierenentzündung (Glomerulonephritis) oder ein Abfall der Blutplättchen (thrombozytopenische Purpura).
== Diagnose ==
Die Diagnose anhand des Krankheitsbildes, insbesondere des „typischen“ Masernexanthems, ist aufgrund des zunehmend selteneren Vorkommens und untypischer Verlaufsbilder mit einer großen Fehlerhäufigkeit behaftet, so dass zusätzliche Untersuchungen notwendig sind, um die Krankheit sicher diagnostizieren zu können. Im Epidemiefall kann die Diagnose dennoch häufig klinisch gestellt werden, insbesondere von erfahrenen Untersuchern.Am sichersten ist die Diagnose über den serologischen Nachweis von IgM-Antikörpern zu führen. Dies wird heute methodisch meist mit Hilfe eines Enzymimmunoassay (ELISA) erreicht, in manchen Labors wird auch noch die Komplementbindungsreaktion (KBR) oder der Hämagglutinationshemmtest (HHT) durchgeführt.
Bei der Bestimmung der IgM-Antikörper können falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse auftreten. Ein mindestens vierfacher Anstieg des Masern-IgG-Titers innerhalb etwa einer Woche oder das Neuauftreten der IgG-Antikörper ist jedoch ein valider Hinweis auf eine frische Infektion. Eine erhöhte Sicherheit bietet die kombinierte Bestimmung von IgM- und IgG-Antikörpern. Der Nachweis von IgM ist im Allgemeinen mit dem Ausbruch des Exanthems positiv, kann in den ersten Tagen jedoch auch negativ ausfallen. Vom dritten Tag bis etwa 4 bis 6 Wochen nach Auftreten des Exanthems sind die IgM-Antikörper meist nachweisbar, so dass ein rückwirkender Nachweis einer Erkrankung möglich ist. IgG-Antikörper sind meist nicht vor dem 7. Tag nach dem Ausbruch des Exanthems festzustellen.Der direkte Erregernachweis (Vermehrung von Virus-RNA mittels RT-PCR oder Virusanzucht in Zellkulturen) ist aufwändiger als der indirekte (Antikörpernachweis) und nur bei speziellen Fragestellungen sinnvoll. Er bietet aber den Vorteil, dass der Erreger genetisch typisiert werden kann, so dass Übertragungsketten der Infektion im Detail nachvollzogen werden können. Der Erregernachweis im Liquor kommt nur bei Verdacht auf eine Masern-Enzephalitis in Frage; aufgrund der Instabilität der Virus-RNA im Liquor schließt ein negativer PCR-Befund die Masernenzephalitis nicht aus. Bei Verdacht auf eine SSPE ist meist nicht der direkte Erregernachweis erfolgreich, sondern der Nachweis von Masern-IgM im Liquor.
Neben der spezifischen Virusdiagnostik der Masern fallen bei Blutuntersuchungen (Labordiagnostik) eine Verminderung der weißen Blutkörperchen (Leukopenie), insbesondere der Lymphozyten (Lymphopenie) und der eosinophilen Granulozyten (Eosinopenie), sowie eine vorübergehende Verminderung der Blutplättchen (Thrombozytopenie) auf. Bei Infektionen des Gehirns findet man eine erhöhte Eiweißkonzentration sowie vermehrt Lymphozyten (lymphozytäre Pleozytose) im Hirnwasser (Liquor).
=== Differenzialdiagnose ===
Differenzialdiagnostisch kommen bei der klinischen Diagnose am ehesten Scharlach und Röteln in Betracht. Bei Scharlach beginnt der eher feinfleckige Ausschlag in der Leisten- oder Achselregion und steigt von dort zum Kopf auf, wo er das Mund-Kinn-Dreieck auslässt. Typisch ist auch die sogenannte Himbeerzunge und eine Pharyngitis (Rachenentzündung). Die Röteln zeigen meist ein nur mildes Krankheitsbild mit mäßigem Fieber und einem schwachen, nichtkonfluierenden Exanthem an Hals und Brust. Hier ist eine starke Schwellung der im Nacken gelegenen Lymphknoten typisch. Neben diesen Erkrankungen kommen auch Ringelröteln, Pfeiffer-Drüsenfieber, Toxoplasmose, Infektionen mit Mykoplasmen, das Kawasaki-Syndrom und Arzneimittelallergien in Frage. Durch den Nachweis spezifischer Antikörper bei Vorhandensein von anti-Masern-IgM-Antikörpern lassen sich diese Krankheiten ausschließen.
=== Meldepflicht ===
In Deutschland sind seit 2001 laut § 6 Infektionsschutzgesetz (IfSG) der Krankheitsverdacht, die Erkrankung an und der Tod durch Masern meldepflichtig, ebenso nach § 7 IfSG der direkte oder indirekte Nachweis des Masernvirus. Zudem ist auch die Erkrankung oder der Tod an einer SSPE infolge einer Maserninfektion meldepflichtig (§ 6 Absatz 2 Satz 1 IfSG). Leiter von Gemeinschaftseinrichtungen sind bei Kenntnis von Erkrankungsfällen nach § 34 Absatz 6 IfSG zur Meldung an das Gesundheitsamt verpflichtet. Bei Krankheitsverdacht oder tatsächlicher Erkrankung besteht Tätigkeits- und Aufenthaltsverbot in Gemeinschaftseinrichtungen (§ 34 Absatz 1 IfSG), dies gilt auch für Personen, in deren Wohngemeinschaft nach ärztlichem Urteil eine Erkrankung an oder ein Verdacht auf Masern aufgetreten ist (§ 34 Absatz 3 IfSG).
In Österreich besteht Meldepflicht seit Dezember 1997 (BGBl. II Nr. 456/2001 Verordnung: Anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten, nun nach § 1 Abs. 1 Epidemiegesetz 1950), in der Schweiz seit März 1999 (Melde-Verordnung, SR 818.141.1, nun nach Nummer 30 von Anhang 1 der Verordnung des EDI über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen).
== Therapie ==
Eine spezifische antivirale Therapie gegen das Masernvirus existiert nicht. In der akuten Krankheitsphase soll Bettruhe eingehalten werden. Als symptomatische Therapie können fiebersenkende Medikamente (Antipyretika) und Hustenmittel (Antitussiva) eingesetzt werden. Da der Körper bei Fieber einen erhöhten Flüssigkeitsbedarf hat, sollte unbedingt viel getrunken werden. Bakterielle Superinfektionen (Sekundärinfektionen) wie eine Mittelohr- (Otitis media) oder Lungenentzündung (Pneumonie) werden mit Antibiotika behandelt.Bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 5 Jahren, insbesondere bei Kindern unter 2 Jahren, zeigten verschiedene Studien in Entwicklungsländern einen günstigen Effekt der Gabe von Vitamin A auf die Komplikationsrate (Erblindung oder Augenschäden) und Sterblichkeit bei vorliegendem Vitamin-A-Mangel. Der Mechanismus der Wirkung ist noch nicht ganz geklärt; Vitamin A fördert den Zellaustausch von Epithelzellen insbesondere der Atmungswege und des Verdauungstraktes. Die WHO empfiehlt eine zweimalige Vitamin-A-Gabe im Krankheitsfall. Wiederholte Gaben von 200.000 IE zeigen klinische Effekte. Untersuchungen über eine Vitamin-A-Therapie in westlichen Industrieländern existieren nicht. Die Empfehlungen des Robert Koch-Institutes enthalten keine Vitamin-Gabe. Zur Prävention dagegen eignen sich Vitamin-A-Gaben nicht, hierfür sind nur Schutzimpfungen effektiv.Das Virostatikum Ribavirin ist in vitro gegen das Masernvirus wirksam; Studien zur Anwendung beim Menschen fehlen, es liegen nur einzelne Fallberichte vor, in denen eine Ribaviringabe (ggf. zusammen mit Interferon α) von Nutzen war. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie gibt an, dass bei Immunsupprimierten mit schwerem Krankheitsverlauf in Einzelfällen eine antivirale Therapie mit Ribavirin in Kombination mit Immunglobulinen erwägenswert sei.
Die Rolle von Steroiden bei der Behandlung von Masernpneumonien wird ebenfalls diskutiert, jedoch gibt es auch hier nur Fallstudien.Gemeinschaftseinrichtungen dürfen während der Erkrankung nicht besucht werden (s. u.). Durch die passive oder aktive Impfung nach Exposition kann die Krankheit unter Umständen gemildert oder verhindert werden (Postexpositionsprophylaxe, s. u.).
== Vorbeugung ==
=== Quarantäne ===
Nach dem deutschen Infektionsschutzgesetz (IfSG) aus dem Jahr 2001 dürfen Infizierte so lange keine Gemeinschaftseinrichtungen besuchen, bis sie nach Abklingen der Erkrankung keine Viren mehr absondern und keine weiteren Personen mehr infizieren können. Unter Gemeinschaftseinrichtungen werden unter anderen Institutionen verstanden, in denen überwiegend Säuglinge, Kinder oder Jugendliche betreut werden, wie Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten, Kinderhorte, Schulen oder sonstige Ausbildungseinrichtungen, außerdem Heime und Ferienlager. Dieselbe Regelung gilt auch für die Beschäftigten dieser Einrichtungen (§ 34 des Infektionsschutzgesetzes). In anderen Ländern bestehen vergleichbare Regelungen. Sogenannte „Masernpartys“ – organisierte Treffen, bei denen nicht gegen Masern geimpfte Kinder sich bei Kindern, die akut an Masern erkrankt sind, anstecken sollen – sind strafrechtlich relevant.Für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in Deutschland gilt die Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO), nach der Infizierte bis vier Tage nach Beginn des Ausschlags isoliert werden sollen, immunsupprimierte Patienten für die gesamte Dauer der Symptomatik.
=== Impfung ===
Die Impfung gegen Masern gilt als die effektivste Methode, um das Auftreten der Krankheit zu verhindern. Vor Einführung von Masernimpfungen erkrankten etwa 95–98 % aller Kinder unter 18 Jahren an Masern. Durch Impfungen wurden die Masern-Todesfälle von 2000 bis 2015 geschätzt um 79 % gesenkt. Impfen ist grundsätzlich mit einem Einzelimpfstoff möglich, dies wird vor allem in Afrika oder auch Russland gemacht. In Deutschland, Europa und Nordamerika wird dies in aller Regel als Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR) oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocken-Impfung (MMRV) mit einem Kombinationsimpfstoff durchgeführt.
Das Robert-Koch-Institut teilt in diesem Zusammenhang mit, dass ein „… Kombinationsimpfstoff … grundsätzlich nicht schlechter verträglich ist als ein Einzelimpfstoff“. Es handelt sich bei der Masernimpfung um einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, der nach einmaliger Impfung bei 95 % der Kinder einen ausreichenden Schutz gegen Masern bewirkt. Da bei einer Durchimpfungsrate von weniger als 95 % mit sporadischen Masernepidemien in mehrjährigen Abständen zu rechnen ist, müssen mit einer zweiten Impfung, frühestens vier Wochen nach der ersten, Impflücken geschlossen werden, um „Impfversagern“ (Non-Responder) den entsprechenden Impfschutz zu gewähren. Daher wurde im Falle von Masern eine Zweitimpfung empfohlen. Umfangreiche Untersuchungen zeigen, dass ein exzellenter Schutz gegen Masern durch zwei Impfungen ermöglicht wird. Nach einer zweifachen MMR-Impfung entwickeln über 99 % eine lebenslange Immunität, die durch einen Titer-unabhängigen Nachweis von Masern-IgG festgestellt werden kann. Die MMR-Impfung kann mit weiteren Impfungen kombiniert werden. Zu einer nachhaltigen Schwächung des Immunsystems, wie bei einer Masernerkrankung, kommt es bei der Impfung nicht.
Gegenanzeigen zu einer Impfung sind akute Infekte, HIV-positive und andere immungeschwächte Patienten (z. B. Kortikosteroid-Therapie, Leukämie), Schwangerschaft sowie eine Gelatineallergie oder ein Abfall der Blutplättchen (Thrombozytopenie) in der Vergangenheit. Im Fall eines Kontaktes mit Masernviren werden bei diesen Gegenanzeigen Immunglobuline als Postexpositionsprophylaxe gespritzt.Nach dem Impfkalender der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut ist die erste MMR-Impfung bei allen Kindern zwischen dem vollendeten 11. und 14. Lebensmonat, die zweite im Alter von 15 bis 23 Monaten vorgesehen. Seit dem Sommer 2006 ist außerdem ein Kombinationsimpfstoff zugelassen, der zusätzlich eine Windpockenkomponente enthält und damit den Impfplan weiter vereinfacht. Auch dieser Impfstoff wird zu denselben Zeiten zweimalig verabreicht. „Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die zweite MMR-Impfung so früh wie möglich, spätestens jedoch bis zum vollendeten 18. Lebensjahr nachgeholt wird; bei Mädchen wird damit auch der unverzichtbare Schutz vor einer Rötelnembryopathie gesichert.“ Im Jahr 2012 waren in Deutschland 92,4 Prozent der neu eingeschulten Kinder zweifach gegen Masern geimpft.In Österreich werden zwei Teilimpfungen gegen Masern-Mumps-Röteln ab dem vollendeten 9. Lebensmonat mit einem Mindestabstand von vier Wochen empfohlen. Bei Schuleintritt bzw. mit vollendetem 12. Lebensjahr soll der Impfstatus (Impfpass) kontrolliert werden. Fehlende Impfungen können in jedem Lebensalter kostenlos nachgeholt werden. Eine Erhebung des Gesundheitsministeriums aus 2016 ergab, dass über 95 Prozent der 6-jährigen Kinder zumindest einmal gegen Masern geimpft sind. Bei den 2- bis 5-jährigen Kindern beträgt die Durchimpfungsrate jedoch nur 92 Prozent, zudem sind etwa 10 Prozent davon nur einfach anstatt zweimal geimpft.Die Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit und der Schweizerischen Kommission für Impffragen sehen zwei MMR-Impfungen im Alter von 12 und 15–24 Monaten vor. Die WHO schätzt die Impfquote in der Schweiz für 2006 auf 86 % für die Erstimpfung und 70 % für die Zweitimpfung.Steht bei einem Kind die Aufnahme in eine Kindereinrichtung an, kann die MMR-Impfung auch vor dem zwölften Lebensmonat, jedoch nicht vor dem neunten Lebensmonat erfolgen, da im ersten Lebensjahr im Blut des Säuglings noch vorhandene mütterliche Antikörper die Impfviren neutralisieren können. Auch wenn von Eltern oder Impflingen angegeben wird, dass eine Masern-, Mumps- oder Rötelnerkrankung bereits durchgemacht wurde, wird die Durchführung der MMR-Impfung empfohlen. Anamnestische Angaben über eine Masern- oder Rötelnerkrankung sind ohne mikrobiologisch-serologische Dokumentation der Erkrankungen unzuverlässig und nicht verwertbar. Eine serologische Untersuchung auf masernspezifische IgG-Antikörper vor der zweiten Impfung und der Verzicht auf dieselbe bei ausreichendem Titer ist möglich, alle aktuellen Impfempfehlungen sehen allerdings eine routinemäßige zweite Impfung ohne vorherige Diagnostik vor.
Die Impfung schützt nicht nur den größten Teil der Geimpften, sondern durch die Herdenimmunität auch Neugeborene und Säuglinge vor der ersten Impfung oder Impfversager und Immunsupprimierte, die nicht geimpft werden können. Eine wirksame Impfung schützt idealerweise nicht nur den Einzelnen, sondern hat auch eine soziale Dimension. Um Masern auszurotten, ist eine Impfquote von über 95 % der Bevölkerung erforderlich. Während dieses Ziel in Amerika bereits 2016 erreicht wurde, sind Masern in Europa in 11 von 53 Ländern endemisch.In der Literatur wird eine dritte MMR(V)-Impfung diskutiert, dafür bedarf es noch weiterer Studien.
==== Impfpflicht ====
Seit 1. März 2020 besteht laut § 20 Abs. 8 Infektionsschutzgesetz in Deutschland für Kinder und Beschäftigte im Bildungs- und Gesundheitswesen eine Impfpflicht gegen Masern. Diese Impfpflicht ist laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2022 verfassungskonform.Die in Tschechien geltende bußgeldbewehrte Impfpflicht gegen neun bekannte Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Mumps verstößt nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK.
==== Impfreaktionen und -komplikationen ====
Fieber, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen und lokale Impfreaktionen wie Rötung, Schmerzen und Schwellungen an der Injektionsstelle können wie bei allen Impfungen vorkommen und stellen harmlose Nebenwirkungen dar. Schwerwiegendere Impfkomplikationen wie ausgeprägte allergische Reaktionen sind sehr selten. Bei der Durchführung der Impfung sollte jedoch Personal und Ausrüstung vorhanden sein, um auch eine solche Anaphylaxie behandeln zu können. Das Auftreten einer Gehirnentzündung (Enzephalitis) oder Thrombozytopenie (Abfall der Blutplättchenzahl) ist extrem selten, der Zusammenhang der beobachteten Fälle mit der Impfung wird zudem kontrovers diskutiert. Das Risiko des Auftretens von Fieberkrämpfen ist nach der Impfung leicht erhöht, jedoch ohne langfristige Schädigungen.Da es sich bei der Masernimpfung um eine Impfung mit einem abgeschwächten Lebendimpfstoff handelt, können in 3–5 % der Fälle so genannte Impfmasern auftreten. Diese stellen eine milde Form der Masern dar und können die typischen Symptome zeigen, diese treten meistens in abgeschwächter Form auf. Die Impfmasern sind nicht infektiös.Immer wieder wurden neue Nebenwirkungen von der Impfgegnerszene in den Raum gestellt. Die Mutmaßungen, dass Allergien, Asthma, Diabetes mellitus oder Morbus Crohn durch Impfungen ausgelöst würden, konnten allesamt nicht bestätigt werden. Beispielsweise behauptete der ehemalige britische Chirurg Andrew Wakefield 1998 einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und dem Auftreten von Autismus. Es stellte sich jedoch heraus, dass Wakefield seine Untersuchungen gefälscht hatte. Die Angehörigen von Autismus-Betroffenen hatten Wakefield 3,5 Millionen britische Pfund dafür bezahlt. Wakefield hat mittlerweile ein Berufsverbot in Großbritannien, seine Veröffentlichungen wurden zurückgezogen (siehe auch der Wakefield-Fall). Dem postulierten Zusammenhang ist in der Zwischenzeit in einer Vielzahl von Studien als sehr unwahrscheinlich widersprochen worden. In einer am 5. März 2019 veröffentlichten Studie aus Dänemark wurde nach der Auswertung von 657.000 geimpften Kindern erneut der Zusammenhang zwischen einer Masernimpfung und Autismus widerlegt.Die Impfung gegen Masern gilt als notwendig und sicher; die Studien zur Untersuchung der Nebenwirkungen der MMR(V)-Impfung sind mittlerweile ausführlich genug und bezüglich des Studiendesigns teilweise adäquat. Ende 2013 hat das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) alle vom 1. Januar 2001 bis 31. Dezember 2012 gemeldeten Verdachtsfälle ausgewertet. Es konnte kein neues Risikosignal entdeckt werden, damit bleibt das PEI bei einer positiven Risiko-Nutzen-Bewertung der monovalenten und kombinierten Masernimpfstoffe.
=== Postexpositionsprophylaxe ===
Bei abwehrgeschwächten Patienten kann der Ausbruch durch eine passive Immunisierung mit humanem Immunglobulin innerhalb von drei Tagen eventuell verhindert oder abgeschwächt werden (mitigierter Verlauf). Bei immungesunden ungeimpften oder nur einmal geimpften Kontaktpersonen ohne Antikörpernachweis (seronegativ) ist innerhalb desselben Zeitraumes die aktive Immunisierung wie oben beschrieben angezeigt. Durch diese sogenannte Riegelungsimpfung soll das weitere Ausbreiten im Epidemiefall verhindert werden.
== Masern und Schwangerschaft ==
Der Kenntnisstand über mögliche Schäden einer Maserninfektion während einer Schwangerschaft ist nur unzureichend. Möglicherweise erhöht die Erkrankung die Rate der Komplikationen bei der Mutter, ein fruchtschädigender Einfluss der Masern kann im Moment weder bewiesen noch ausgeschlossen werden, wird jedoch im Falle des Bestehens für sehr klein gehalten. Ein typisches Fehlbildungsmuster wie bei den Röteln besteht nicht. Es kann zu einer Frühgeburt oder einem Spontanabort kommen. Eine Erkrankung während der Geburt muss nicht notwendigerweise eine Infektion des Neugeborenen verursachen. Solche perinatal (in der Geburtsphase) erworbene Masern gehen beim Kind jedoch mit erhöhten Komplikationsraten einher.Schwangere, die an Masern erkrankt sind, sollten medizinisch beobachtet werden, eine invasive pränatale Diagnostik ist nicht empfohlen. Die Behandlung erfolgt symptomorientiert. Unter Umständen kann eine Immunglobulin-Gabe indiziert sein (s. o.).
Die MMR-Impfung wird mit einem Lebendimpfstoff durchgeführt und ist deshalb in der Schwangerschaft nicht angezeigt (kontraindiziert). Eine versehentliche Impfung mit MMR in einer Schwangerschaft stellt jedoch keinen Grund zum Schwangerschaftsabbruch dar.
== Geschichte ==
Erste Berichte über die Masern sollen aus dem 7. Jahrhundert stammen und wurden durch den persischen Arzt Rhazes (Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya al-Razi) einem jüdischen Arzt („al-Yehudi“) zugeschrieben. 910 erfolgte die erste bekannte ausführliche Beschreibung der Masern durch Rhazes, der sie als hasbah (arabisch für „Ausbruch“) bezeichnete. Zudem gab er an, sie wären „mehr gefürchtet als die Pocken“. Auch wenn er die beiden Krankheiten differenzierte, so ging er (und auch andere) davon aus, dass sie eng miteinander verwandt seien. Zudem nahm er an, dass die Masern nicht ansteckend seien.
Berichte aus der Antike lassen sich nicht finden, so werden die Masern weder in den Texten Hippokrates’ noch in denen seines Nachfolgers Galen überliefert. Auch im Römischen Reich wurden die Masern nicht beschrieben; linguistische Analysen weisen darauf hin, dass die Masern in Europa erst im Frühmittelalter in Erscheinung getreten sind und entsprechend benannt wurden. Dort wurden sie erstmals als „Rubeola“ bzw. „Morbilli“ bezeichnet. Morbilli ist dabei das Diminutiv von Morbus (Krankheit), mit letzterem hatte man damals die Pest gemeint. Bis zumindest Ende des 19. Jh. wurde auch der eingedeutschte Plural „Morbillen“ verwendet. Die englische Bezeichnung „measles“ stammt wahrscheinlich von „mesels“ ab, die anglisierte Form von „misellus“, was wiederum das Diminutiv von „miser“ (Elend) ist.
Trotz dieser frühen Berichte wurde daher auch vermutet, das Masernvirus sei erst im 11. oder 12. Jahrhundert evolutionär aus dem Rinderpestvirus hervorgegangen.Mittels RNA-Sequenzierung des Lungenpräparates eines 1912 an Masern verstorbenen Mädchens und im Vergleich mit jüngeren RNA-Proben konnte eine Molekulare Uhr erstellt werden, der zufolge der Zeitpunkt des Übergangs auf den Menschen bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. liegen könnte. Ausschlaggebend für den Übergang auf den Menschen sei möglicherweise das Entstehen größerer Städte mit ausreichender Bevölkerungsdichte gewesen, in denen das Virus auf Dauer zirkulieren kann.
Im Mittelalter forderten die Masern aufgrund ausgedehnter Epidemien viele Todesopfer. Nach der Entdeckung Amerikas starb ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung an den aus Europa importierten Krankheiten wie Masern, Pocken, Keuchhusten und Typhus. Der Grund dafür war, dass die einheimischen Populationen keinerlei Immunität gegen diese Erreger aufwiesen. So kam es in Santo Domingo (1519), Guatemala (1523) und Mexiko (1531) zu verheerenden Masernepidemien. Im Jahre 1529 kam es zu einer sich über Honduras und Mittelamerika ausbreitenden Masernepidemie, die zwei Drittel der Überlebenden der zuvor ausgebrochenen Pockenepidemie das Leben kostete.Das Phänomen, dass das Masernvirus dann eine hohe Letalität zeigt, wenn es auf eine zuvor unberührte, nicht-immune Bevölkerung trifft, findet sich mehrfach auch im 19. Jahrhundert. So starben 40.000 der 148.000 Einwohner von Hawaii im Jahre 1848 und etwa ein Viertel der Bevölkerung der Fidschi-Inseln 1874.
Im 17. Jahrhundert war es das Verdienst Thomas Sydenhams, während einer großen Epidemie in London die Masern als eigenständige Krankheit vom Scharlach und anderen fieberhaften ansteckenden exanthemischen Krankheiten, vor allem den mit Masern lange Zeit verwechselten Pocken und Röteln (German measles) abzugrenzen. 1882 veröffentlichte der französische Arzt Antoine Louis Gustave Béclère seine Aufsehen erregende Arbeit Die Ansteckung mit Masern. (Die französische Bezeichnung der Masern ist rougeole). Er und weitere französische Kliniker erreichten, dass die Masern im 19. Jahrhundert endgültig als eigenständige Krankheitseinheit gegenüber den anderen Erkrankungen mit Hautausschlägen wie den Röteln abgegrenzt wurden. Im Zuge einer Masern-Epidemie auf den Färöer-Inseln erfolgte eine epidemiologische und klinische Präzisierung der Unterschiede von Scharlach und Masern.
1911 gelang es Joseph Goldberger und John F. Anderson erstmals, Affen mit Masern zu infizieren. 1927 entwickelte Rudolf Degkwitz die passive Masernschutzimpfung (Postexpositionsprophylaxe). 1954 wurde das Virus von Enders und Thomas C. Peebles erstmals isoliert und gezüchtet. Dies führte 1958 zur Entwicklung des ersten Impfstoffes, der ab 1963 allgemein erhältlich war.
Die Arbeitsgemeinschaft Masern und Varizellen wurde 1999 gegründet.
== Literatur ==
Masern. RKI-Ratgeber Infektionskrankheiten – Merkblätter für Ärzte. Robert Koch-Institut. Aktualisiert am 23. Juli 2021
Paul Gastanaduy et al.: Measles. In: Epidemiology & Prevention of Vaccine-Preventable Diseases – “The Pink Book”, 14. Auflage, 2021. Public Health Foundation, S. 193–206 (englisch) cdc.gov (PDF; 113 kB).
William J. Moss: Measles. In: The Lancet. Band 390, Nr. 10111, 2. Dezember 2017, S. 2490–2502, doi:10.1016/S0140-6736(17)31463-0, PMID 28673424.
Andrea Misin et al.: Measles: An Overview of a Re-Emerging Disease in Children and Immunocompromised Patients. In: Microorganisms. Band 8, Nr. 2, 18. Februar 2020, doi:10.3390/microorganisms8020276, PMID 32085446, PMC 7074809 (freier Volltext) – (englisch).
== Weblinks ==
Masern – Informationen des Robert Koch-Instituts
Weiterführende Informationen. WHO (englisch)
Alice Wittig: VacMap - Masern-Impfquoten in Deutschland. Brockmann Lab - Institut für Biologie - Humboldt Universität zu Berlin + RKI, 2017, abgerufen am 6. März 2020.
Volker Schuster: Was wir über die Masernimpfung wissen sollten. In: Kinder- und Jugendmedizin. Band 20, Nr. 2, April 2020, S. 83–92, doi:10.1055/a-1113-3316.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Masern |
Primaten | = Primaten =
Die Primaten (Primates) oder Herrentiere sind eine zu der Überordnung der Euarchontoglires gehörige Ordnung innerhalb der Unterklasse der Höheren Säugetiere. Ihre Erforschung ist Gegenstand der Primatologie. Der Ausdruck „Affen“ wird bisweilen für diese Ordnung verwendet, ist aber missverständlich, da Affen nur eine Untergruppe darstellen. Primaten werden in die beiden Unterordnungen der Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten (Haplorrhini) eingeteilt, wobei letztere auch die Menschenaffen (Hominidae) inklusive des Menschen (Homo sapiens) mit einschließen. Die Bezeichnung stammt vom lateinischen primus (der Erste) und bezieht sich auf den Menschen als „Krone der Schöpfung“.
== Verbreitung ==
Mit Ausnahme des Menschen, der eine weltweite Verbreitung erreicht hat, sind die Verbreitungsgebiete anderer Primaten größtenteils auf die Tropen und Subtropen Amerikas, Afrikas und Asiens beschränkt. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent reicht ihr heutiges Verbreitungsgebiet vom südlichen Mexiko bis ins nördliche Argentinien. Die Arten auf den Karibischen Inseln, die Antillenaffen (Xenotrichini), sind ausgestorben, heute gibt es dort nur vom Menschen eingeschleppte Tiere. In Afrika sind sie weit verbreitet, die größte Artendichte erreichen sie in den Regionen südlich der Sahara. Auf der Insel Madagaskar hat sich eine eigene Primatenfauna (ausschließlich Feuchtnasenprimaten) entwickelt, die Lemuren. In Asien umfassen die Verbreitungsgebiete der Primaten die Arabische Halbinsel (der dort lebende Mantelpavian wurde jedoch möglicherweise vom Menschen eingeschleppt), den indischen Subkontinent, die Volksrepublik China, Japan und Südostasien. Die östliche Grenze ihres Vorkommens bilden die Inseln Sulawesi und Timor. In Europa kommt frei lebend eine einzige Art vor, der Berberaffe in Gibraltar, doch ist auch diese Population wahrscheinlich vom Menschen eingeführt.
Nicht-menschliche Primaten fehlen im mittleren und nördlichen Nordamerika, dem größten Teil Europas, den nördlichen und zentralen Teilen Asiens, dem australisch-ozeanischen Raum sowie auf abgelegenen Inseln und in den Polarregionen.
Anders als andere Säugetiergruppen sind Primaten nicht im großen Ausmaß vom Menschen in anderen Regionen sesshaft gemacht worden, außer den bereits erwähnten Mantelpavianen auf der Arabischen Halbinsel und den Berberaffen in Gibraltar betrifft das nur kleine Gruppen, beispielsweise eine Population der Grünen Meerkatze, die von afrikanischen Sklaven auf die Karibikinsel Saint Kitts mitgebracht wurde, oder eine Gruppe Rhesusaffen in Florida.
== Merkmale ==
Obwohl die Primaten eine relativ klar definierte Säugetierordnung sind, gibt es relativ wenig Merkmale, die bei allen Tieren dieser Ordnung und sonst bei keinem anderen Säugetier zu finden sind. Dennoch lassen sich laut dem Biologen Robert Martin neun Merkmale der Primatenordnung festhalten:
Der große Zeh ist opponierbar (Ausnahme: Mensch) und die Hände sind zum Greifen geeignet.
Die Nägel an den Händen und Füßen der meisten Arten sind flach (keine Krallen). Zudem haben Primaten Fingerabdrücke.
Die Fortbewegung ist von den Hinterbeinen dominiert, der Schwerpunkt liegt näher an den hinteren Gliedmaßen.
Die olfaktorische Wahrnehmung ist unspezialisiert und bei tagaktiven Primaten reduziert.
Die visuelle Wahrnehmung ist hochentwickelt. Die Augen sind groß und nach vorn gerichtet (Stereoskopie).
Die Weibchen haben geringe Wurfgrößen. Schwangerschaft und Abstillen dauern länger als bei anderen Säugetieren vergleichbarer Größe.
Die Gehirne sind verhältnismäßig größer als bei anderen Säugetieren und weisen einige einzigartige anatomische Merkmale auf.
Die Backenzähne sind relativ unspezialisiert und es gibt maximal drei; sowie maximal zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, und drei Prämolare.
Es gibt weitere (für Systematiker nützliche) subtile anatomische Besonderheiten, die sich jedoch nur schwer funktionell einordnen lassen.
=== Körpergröße ===
Die kleinste Primatenart ist der Berthe-Mausmaki mit weniger als 10 Zentimetern Kopfrumpflänge und maximal 38 g Gewicht. Am größten sind die bis zu 275 kg schweren Gorillas. Generell sind Feuchtnasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht um 500 g kleiner als die Trockennasenprimaten mit einem Durchschnittsgewicht von 5 kg. Dies gründet auch auf den unterschiedlichen Aktivitätszeiten (siehe unten). Einige Arten haben einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus, wobei die Männchen mancher Arten doppelt so schwer wie die Weibchen sein können und sich auch in der Fellfarbe unterscheiden können (zum Beispiel beim Mantelpavian).
=== Behaarung ===
Der Körper der meisten Primaten ist mit Fell bedeckt, dessen Färbung von weiß über grau bis zu braun und schwarz variieren kann. Die Handflächen und Fußsohlen sind meistens unbehaart, bei manchen Arten auch das Gesicht oder der ganze Kopf (zum Beispiel Uakaris). Am wenigsten behaart ist der Mensch.
=== Gesicht ===
Die größten Augen aller Primaten haben die Koboldmakis. Bei den größtenteils nachtaktiven Feuchtnasenprimaten ist zusätzlich eine lichtreflektierende Schicht hinter der Netzhaut, das Tapetum lucidum vorhanden.
Namensgebender Unterschied der beiden Unterordnungen ist der Nasenspiegel (Rhinarium), der bei den Feuchtnasenprimaten feucht und drüsenreich ist und sich in einem gut entwickelten Geruchssinn widerspiegelt. Die Trockennasenprimaten hingegen besitzen einfache, trockene Nüstern und ihr Geruchssinn ist weit weniger gut entwickelt.
=== Zähne ===
Die ältesten gefundenen fossilen Primaten besaßen eine Zahnformel von 2-1-4-3, das bedeutet pro Kieferhälfte zwei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren, insgesamt also 40 Zähne. Die maximale Zahnformel der rezenten Primaten lautet jedoch 2-1-3-3, die beispielsweise bei den Gewöhnlichen Makis und Kapuzinerartigen auftritt. Manche Gattungen haben ernährungsbedingt weitere Zähne eingebüßt, so besitzen die Wieselmakis keine Schneidezähne im Oberkiefer. Die wenigsten Zähne aller lebenden Arten hat mit 18 das Fingertier, das keine Eckzähne und nur mehr einen Schneidezahn pro Kieferhälfte besitzt. Die Altweltaffen, einschließlich des Menschen, haben die Zahnformel 2-1-2-3, also 32 Zähne.
Die Form insbesondere der Backenzähne gibt Aufschluss über die Ernährung. Vorwiegend fruchtfressende Arten haben abgerundete, insektenfressende Arten haben auffallend spitze Molaren. Bei Blätterfressern haben die Backenzähne scharfe Kanten, die zur Zerkleinerung der harten Blätter dienen.
=== Gliedmaßen ===
Da die meisten Primatenarten Baumbewohner sind, sind ihre Gliedmaßen an die Lebensweise angepasst. Die Hinterbeine sind fast immer länger und stärker als die Vorderbeine (Ausnahmen sind die Gibbons und die nicht-menschlichen Menschenaffen) und tragen den größeren Anteil der Bewegung. Besonders ausgeprägt ist das bei den springenden Primaten und beim Menschen. Bei Arten, die sich hangelnd durch die Äste bewegen, ist der Daumen zurückgebildet (beispielsweise bei den Klammeraffen und Stummelaffen). Feuchtnasenprimaten haben an der zweiten Zehe eine Putz- oder Toilettenkralle, die der Fellpflege dient. Die Unterseite der Hände und Füße ist unbehaart und mit sensiblen Tastfeldern versehen.
=== Schwanz ===
Für viele baumbewohnende Säugetiere ist ein langer Schwanz ein wichtiges Gleichgewichts- und Balanceorgan, so auch bei den meisten Primaten. Jedoch kann der Schwanz rückgebildet sein oder ganz fehlen. Mit Ausnahme der Menschenartigen, die generell schwanzlos sind, ist die Schwanzlänge kein Verwandtschaftsmerkmal, da Stummelschwänze bei zahlreichen Arten unabhängig von der Entwicklung vorkommen. Sogar innerhalb einer Gattung, der Makaken, gibt es schwanzlose Arten (zum Beispiel der Berberaffe) und Arten, deren Schwanz länger als der Körper ist (zum Beispiel der Javaneraffe). Einen Greifschwanz haben nur einige Gattungen der Neuweltaffen ausgebildet (die Klammerschwanzaffen und die Brüllaffen). Dieser ist an der Unterseite unbehaart und mit sensiblen Nervenzellen ausgestattet.
== Lebensweise ==
=== Lebensraum ===
Man vermutet, dass sich die Primaten aus baumbewohnenden Tieren entwickelt haben und noch heute sind viele Arten reine Baumbewohner, die kaum jemals auf den Boden kommen. Andere Arten sind zum Teil terrestrisch (auf dem Boden lebend), dazu zählen beispielsweise Paviane und Husarenaffen. Nur wenige Arten sind reine Bodenbewohner, darunter der Dschelada und der Mensch. Primaten finden sich in den verschiedensten Waldformen, darunter tropische Regenwälder, Mangrovenwälder, aber auch Gebirgswälder bis über 3000 m Höhe. Obwohl man diesen Tieren generell nachsagt, wasserscheu zu sein, finden sich Arten, die gut und gerne schwimmen, darunter der Nasenaffe oder die Sumpfmeerkatze, die sogar kleine Schwimmhäute zwischen den Fingern entwickelt hat. Für einige hemerophile Arten (Kulturfolger) sind auch Städte und Dörfer Heimat geworden, zum Beispiel den Rhesusaffen und den Hanuman-Langur.
=== Aktivitätszeiten ===
Vereinfacht gesagt sind Feuchtnasenprimaten meist nachtaktiv (Ausnahmen: Indri, Sifakas und Varis), während Trockennasenprimaten meist tagaktiv sind (Ausnahmen: Koboldmakis und Nachtaffen). Die unterschiedlichen Aktivitätszeiten haben sich auch im Körperbau niedergeschlagen, so sind in beiden Untergruppen nachtaktive Tiere durchschnittlich kleiner als tagaktive. Eine weitere Anpassung an die Nachtaktivität stellt der bessere Geruchssinn der Feuchtnasenprimaten dar. Vergleichbar mit anderen Säugetieren ist die Tatsache, dass Arten, die sich vorwiegend von Blättern ernähren, längere Ruhezeiten einlegen, um den niedrigen Nährwert ihrer Nahrung zu kompensieren.
=== Fortbewegung ===
Primaten verwenden unterschiedliche Arten der Fortbewegung, die sich in verschiedenen Anpassungen im Körperbau widerspiegeln und auch vom Lebensraum abhängig sind. Es lassen sich folgende Formen unterscheiden:
Klettern und Springen: Hierfür werden vorwiegend die senkrechten Stämme genutzt. Springfähige Primaten haben besonders starke hintere Gliedmaßen.
Langsames Klettern: Diese Form ist insbesondere für Loris typisch, die behäbig durch die Äste klettern und sich mit festem Klammergriff halten.
Schwinghangeln: Bei dieser Methode wird der Körper mit Hilfe kräftiger Arme durch das Geäst geschwungen. Schwinghangeln lässt sich beispielsweise bei Spinnenaffen und Orang-Utans beobachten, perfektioniert bei Gibbons (Brachiation).
Vierbeiniges Gehen in den Bäumen: Bei dieser Form der Fortbewegung werden vorwiegend waagrechte Äste benutzt.
Vierbeiniges Gehen am Boden: Während Paviane Zehen und Finger plantar bzw. palmar am Boden aufsetzen, stützen sich Gorillas und Schimpansen auf die Rückseite der zweiten Fingerglieder (sogenannter Knöchelgang).
Bipedie: Den zweibeinigen, aufrechten Gang auf dem Boden praktizieren mehrere Primatenarten zeitweise, in Reinform kommt diese Methode nur beim Menschen und dessen Vorfahren (Hominini) vor.
=== Sozialverhalten ===
Primaten haben in den meisten Fällen ein komplexes Sozialverhalten entwickelt. Reine Einzelgänger sind selten, auch bei Arten, die vorwiegend einzeln leben (zum Beispiel der Orang-Utan), überlappen sich die Reviere von Männchen und Weibchen, und bei der Fortpflanzung werden Tiere aus solchen überlappenden Territorien bevorzugt. Andere Arten leben in langjährigen monogamen Beziehungen (zum Beispiel Indriartige oder Gibbons). Vielfach leben Primaten jedoch in Gruppen. Diese können entweder Harems- oder Einzelmännchengruppen sein, wo ein Männchen zahlreiche Weibchen um sich schart, oder gemischte Gruppen, in denen mehrere geschlechtsreife Männchen und Weibchen zusammenleben. In Gruppen etabliert sich meist eine Rangordnung, die durch Alter, Verwandtschaft, Kämpfe und andere Faktoren bestimmt ist. Vermutlich im Zusammenhang mit dem zunehmenden Gehirnvolumen ist die elterliche Fürsorge relativ hoch entwickelt.Auch die Kommunikation und Interaktion spielt eine bedeutende Rolle. Etliche Arten haben eine Vielzahl von Lauten, die zur Markierung des Territoriums, zur Suche nach Gruppenmitgliedern, zur Drohung oder zur Warnung vor Fressfeinden dienen kann. Besonders bekannt sind die Urwaldkonzerte der Brüllaffen und die Duettgesänge der Gibbonpärchen. Der Mensch ist der einzige, der wirklich ein hochkomplexes Lautsystem (Sprache) benutzt. Auch Körperhaltungen und Grimassen können eine Kommunikationsform darstellen, eine weitere wichtige Form der Interaktion ist die gegenseitige Fellpflege. Bei den Feuchtnasenprimaten spielt der Geruchssinn eine bedeutendere Rolle, oft wird das Revier mit Duftdrüsen oder Urin markiert.
Mit der Soziologie der Primaten befasste sich im 20. Jahrhundert insbesondere der deutsche Psychiater Detlev Ploog.
=== Ernährung ===
Unter den Primaten besteht eine erhebliche Variabilität in der Ernährungsweise. Folgende Verallgemeinerungen lassen sich dennoch treffen:
Alle Primaten greifen auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Proteingehalt und auf mindestens ein Nahrungsmittel mit hohem Kohlenhydratgehalt zurück. Insekten bzw. Pflanzengummi und Früchte sind die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle von Halbaffen. Insekten und junge Blätter bzw. Früchte sind meist die Hauptprotein- bzw. Kohlenhydratquelle der Affen und Menschenartigen.
Die meisten Primaten ernähren sich stärker von bestimmten Nahrungsmitteln als von anderen. Wissenschaftler verwenden die Begriffe Frugivoren, Folivoren, Insektivoren und Gumnivoren, um Arten zu bezeichnen, die sich vorrangig von Früchten, Blättern, Insekten bzw. Pflanzengummi ernähren.
Insektivoren sind meist kleiner als Frugivoren, und Frugivoren sind kleiner als Folivoren. Dies liegt daran, dass kleinere Tiere relativ mehr Energie benötigen als größere. Sie brauchen schnell verfügbare, qualitativ hochwertige Nahrung, während größere Tiere nicht so eingeschränkt sind, da sie es sich erlauben können, qualitativ minderwertige Nahrung langsamer aufzunehmen.Vermutlich waren die Vorfahren der Primaten Insektenfresser, die Mehrzahl der Arten ist heute jedoch vorrangig Pflanzenfresser. Früchte stellen für viele Arten den Hauptbestandteil der Nahrung dar, ergänzt werden sie durch Blätter, Blüten, Knollen, Pilze, Samen, Nüsse, Baumsäfte und andere Pflanzenteile. Viele Arten sind jedoch Allesfresser, die neben pflanzlicher auch tierische Nahrung zu sich nehmen, insbesondere Insekten, Spinnen, Vogeleier und kleine Wirbeltiere. Zu den Gattungen, die gelegentlich Jagd auf größere Säugetiere (Hasen, kleine Primaten, junge Paarhufer) machen, gehören Paviane und Schimpansen.
Primaten gehören zu den wenigen Wirbeltieren, die das wichtige Vitamin C nicht selbst produzieren können. Sie müssen es deshalb mit der Nahrung aufnehmen.Folivore Arten weisen besondere Anpassungen auf: so haben die Stummelaffen einen mehrkammerigen Magen, in welchem Mikroorganismen die Zellulose abbauen. Dieses Konzept ähnelt dem der Wiederkäuer oder mancher Känguruarten. Andere, wie die Brüllaffen oder die Gorillas, haben einen vergrößerten Dickdarm, der demselben Zweck dient.
Reine Fleischfresser sind selten unter den Primaten, dazu gehören beispielsweise die insektenfressenden Koboldmakis und Bärenmakis.
Da das Nahrungsangebot für Folivoren dazu tendiert, zeitlich und räumlich uniform und vorhersehbar zu sein, sind ihre Aktionsräume meist kleiner als die von Frugivoren und Insektivoren.
=== Fortpflanzung ===
Generell zeichnen sich Primaten durch eine lange Trächtigkeitsdauer, eine lange Entwicklungszeit der Jungen und eine eher hohe Lebenserwartung aus. Die Jungtiere werden in der Regel von der Mutter umhergetragen und halten sich hierzu als aktive Traglinge in deren Fell fest. Die Strategie dieser Tiere liegt darin, viel Zeit in die Aufzucht der Jungtiere zu investieren, dafür ist die Fortpflanzungsrate gering. Die kürzeste Tragzeit haben Katzenmakis mit rund 60 Tagen, bei den meisten Arten liegt sie zwischen vier und sieben Monaten. Die längste Trächtigkeitsdauer haben der Mensch und die Gorillas mit rund neun Monaten.
Bei den meisten Arten überwiegen Einzelgeburten, und auch bei den Arten, die üblicherweise Mehrfachgeburten aufweisen (darunter Katzenmakis, Galagos und Krallenaffen) liegt die Wurfgröße selten über zwei oder drei Neugeborenen.
== Systematik und Stammesgeschichte ==
=== Äußere Systematik ===
Die Primaten gehören innerhalb der Plazentatiere zu den Euarchontoglires, einer aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen festgelegten Überordnung. Ihre nächsten Verwandten sind die Riesengleiter (Dermoptera). Die Spitzhörnchen (Scandentia), die früher manchmal den Primaten zugerechnet wurden, zeigen zwar im Schädelbau und im Verhalten Ähnlichkeiten, diese sind aber entweder generelle Merkmale der Säuger oder konvergente Entwicklungen, sodass sie heute in eine eigene Ordnung, Scandentia, gestellt werden. Das nachfolgende Diagramm gibt die vermuteten Entwicklungsverhältnisse innerhalb dieser Überordnung wieder:
=== Innere Systematik ===
Die Primaten umfassen mehr als 500 Arten, man teilt sie heute in zwei Unterordnungen, die Trockennasenprimaten (Haplorrhini) und die Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini). Die Feuchtnasenprimaten teilen sich in die Lemuren (Lemuriformes), die ausschließlich auf Madagaskar leben, und die Loriartigen (Lorisiformes), zu denen Loris und Galagos gehören. Bei den Trockennasenprimaten stehen die Koboldmakis den anderen Arten gegenüber, die als Affen (Anthropoidea oder Simiae) bezeichnet werden und sich wiederum in die Neuweltaffen und die Altweltaffen teilen. Früher wurden die Feuchtnasenprimaten und die Koboldmakis als Halbaffen (Prosimiae) zusammengefasst (teilweise inklusive der Riesengleiter und der Spitzhörnchen); diese wurden den „Echten“ Affen gegenübergestellt.
=== Stammesgeschichte ===
Die ältesten zweifelsfrei den Primaten zuzuordnenden Fossilfunde stammen aus dem frühen Eozän (vor rund 55 Millionen Jahren).
Diese Funde, wie diejenigen des Trockennasenprimaten Teilhardina, dokumentieren jedoch bereits die Aufspaltung in die beiden Unterordnungen, daher liegt der Ursprung der Primaten vermutlich in der Oberkreidezeit vor rund 80 bis 90 Millionen Jahren.
Es existieren einige Funde aus der Oberkreide und dem Paläozän wie Purgatorius oder die Plesiadapiformes, die manchmal als früheste bekannte Primaten bezeichnet werden. Ihre Stellung ist jedoch umstritten, viele Autoren sehen in ihnen eine gänzlich eigene Säugetierordnung.
Die Funde aus dem Eozän werden den Adapiformes und den Omomyidae, einer den Koboldmakis ähnlichen Familie zugeordnet und sind aus Afrika, Asien, Europa und Nordamerika bekannt. Während die Primaten in Nordamerika im Oligozän ausstarben, entwickelten sie sich auf den anderen Kontinenten weiter. Die heutigen Primaten Amerikas, die Neuweltaffen, sind seit rund 35 Millionen Jahren fossil belegt, älteste bekannte Gattung ist Perupithecus. Aus dem Miozän sind Vorfahren der meisten heutigen Familien bekannt, eine Ausnahme bilden die Primaten Madagaskars, was aber wohl auf eine schlechte Fossilienfundrate zurückzuführen ist. In Europa starben die nichtmenschlichen Primaten – aus der Familie der Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) – im Pleistozän aus. In beispielloser Weise hat sich der Mensch (Homo sapiens) innerhalb der letzten 100.000 Jahre über die gesamte Welt ausgebreitet, sodass heute – mit Ausnahme des antarktischen Kontinents, wo dauerhafte Wohnsiedlungen fehlen – überall auf der Erde Primaten zu finden sind.
== Primaten und Menschen ==
Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Menschen und anderen Primaten, wobei der Mensch selbst weitestgehend unbeachtet bleibt.
=== Forschungsgeschichte ===
Zu den frühesten im Mittelmeerraum bekannten Primaten zählten der Berberaffe Nordafrikas und der Mantelpavian Ägyptens. Der karthagische Seefahrer Hanno († 440 v. Chr.) brachte von seiner Afrikareise die Felle von drei „wilden Frauen“ mit, vermutlich Schimpansen. Aristoteles schreibt über Tiere, die sowohl Eigenschaften des Menschen als auch Eigenschaften der „Vierfüßer“ teilen und unterteilt sie in (Menschen-)Affen, „Affen mit Schwanz“ (κῆβοι kēboi, vermutlich Meerkatzen oder Makaken) und Paviane (κυνοκέφαλοι kynokephaloi). Den Pavianen attestierte er eine hundeähnliche Schnauze und Zähne und prägte so den Begriff der Hundsaffen. Im 2. Jahrhundert nach Christus sezierte Galenos von Pergamon Berberaffen und schlussfolgerte daraus die menschliche Anatomie; bis ins 16. Jahrhundert hinein waren seine Forschungen für die Medizin bestimmend. Die Vorstellungen von Primaten im Mittelalter waren überlagert von Fabelwesen wie behaarten, geschwänzten Menschen und Halbwesen ähnlich dem Satyr. Pan, der Gattungsname der Schimpansen, abgeleitet vom bocksfüßigen Hirtengott Pan, geht auf solche Vorstellungen zurück. 1641 kam erstmals ein lebendiger Schimpanse nach Holland und wurde vom niederländischen Arzt Nicolaes Tulpius (1593–1674), der durch seine Verewigung in Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp berühmt wurde, untersucht und unter dem Titel „Indischer Satyr“ veröffentlicht. Als Begründer der Primatologie gilt der englische Arzt und Zoologe Edward Tyson (1650–1708), der 1699 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dem von ihm untersuchten „Orang-Utan oder Homo sylvestris“ – in Wahrheit einem Schimpansen aus Angola – und dem Menschen feststellte. Carl von Linné schuf die grundsätzlich heute noch gültige Systematik der Tiere, er teilte in der zehnten Auflage seiner Systema Naturae (1758) die Primaten in vier Gattungen: Homo (Mensch), Simia (Menschenaffen und andere Affen), Lemur (Lemuren und andere „niedere“ Affen) und Vespertilio (Fledermäuse) – in früheren Auflagen hatte er auch noch die Faultiere zu den Primaten gerechnet.
Ganz mochte man sich mit der Einordnung der Menschen unter die Primaten nicht abfinden, so teilte Johann Friedrich Blumenbach diese Gruppe in die „Bimana“ (Zweihänder, also Menschen) und „Quadrumana“ (Vierhänder, also nicht-menschliche Primaten). Diese Einteilung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass Menschenaffen in jener Zeit oft mit einem Stock dargestellt wurden, da das zweifüßige Gehen ohne Hilfe dem Menschen vorbehalten war. Im 19. Jahrhundert wurde die Evolutionstheorie entwickelt und Thomas Henry Huxley band mit seinem Werk Evidence as to Man’s Place in Nature (1863) den Menschen konsequent in die Evolutionsvorgänge ein, was noch jahrzehntelange Diskussionen anheizen sollte, ob der Mensch denn wirklich vom Affen abstamme. Der britische Zoologe St. George Mivart (1827–1900), ein konservativer Katholik und Autodidakt, versuchte einerseits, Darwins und Huxleys Thesen zu widerlegen, unter anderem mit der Behauptung, die Erde existiere für die beschriebenen Evolutionsprozesse noch nicht lang genug, andererseits aber modifizierte er die Einteilung Linnés, indem er die Fledermäuse von den Primaten abtrennte und die bis vor kurzem gültige Einteilung in Halbaffen und Affen durchführte. Mivart etablierte auch eine Merkmalsliste der Primaten, in der er unter anderem ausgebildete Schlüsselbeine, einen Greiffuß mit gegenüberstellbarer Großzehe und einen freihängenden Penis mit dahinterliegendem Skrotum anführte.
Ab dem 20. Jahrhundert spaltete sich die Forschungsgeschichte in zahlreiche Bereiche auf, die hier nur stichwortartig wiedergegeben werden können:
Paläontologie: Mit Hilfe von Fossilien wurde versucht, die genauen Abstammungsverhältnisse innerhalb der Primaten zu ermitteln. Besonders intensiv wurde versucht, die Stammesgeschichte des Menschen nachzuvollziehen und den lang gesuchten „Missing Link“ zu seinen direkten tierischen Vorfahren zu finden.
Systematik: Mit Hilfe von DNA-Vergleichen und anderer Vergleichsmethoden wurden die stammesgeschichtlichen Beziehungen der verschiedenen Primatengruppen genauer analysiert. Kladistische Systematiken wurden entwickelt, die dem früheren „Fortschrittsvorurteil“ der klassischen Systematik gegenüberstehen. Zwei grundlegende Korrekturen in der Systematik sind dadurch entstanden: Die traditionelle Einteilung in Halbaffen und Affen wurde zugunsten der Gruppierung in Feuchtnasenprimaten und Trockennasenprimaten aufgegeben. Die zweite Änderung betrifft den Menschen, der früher – vielleicht als letztes Überbleibsel einer traditionell zugestandenen Sonderrolle – in einer eigenen Familie (Hominidae) den Menschenaffen (Pongidae) gegenübergestellt wurde, heute allerdings zweifelsfrei als Mitglied der Menschenaffen (Hominidae) eingeordnet wird.
Verhaltensforschung: Anstatt rein äußerlicher Beschreibungen rückte das Verhalten der Tiere in den Mittelpunkt. Verhaltensweisen und Sozialformen wurden exakter analysiert, viele Forscher verbrachten mehrere Jahre in der Nähe der Tiere, um genaue Freilandstudien durchführen zu können. Zu den bekanntesten Forscherinnen zählen Dian Fossey und Jane Goodall. In diesen Bereich gehört auch die Intelligenz- und Lernforschung. Anhand ihrer Fähigkeiten, Aufgabenstellungen zu lösen (zum Beispiel eine Frucht aus einer mit Schnallen verschlossenen Schachtel zu holen) oder mittels Symbolkärtchen oder Gebärdensprache in eine Kommunikation mit Menschen zu treten, soll die Intelligenz und das Lernverhalten der Tiere ermittelt werden. In jüngster Zeit untersucht zudem die Primatenarchäologie die Geschichte der frühesten belegbaren materiellen Kultur bei Primaten, das heißt deren Werkzeuggebrauch.
Erhaltungsbiologie: Angesichts der zum Teil drastisch zurückgehenden natürlichen Lebensräume vieler Arten werden Fragen des Naturschutzes und der Errichtung geeigneter Schutzgebiete immer brennender.Generell lässt sich in den letzten Jahrzehnten ein Rückgang der Forschung mit anatomischen und physiologischen Fragestellungen und ein Aufschwung in Freilandforschung und Verhaltensbiologie erkennen.
=== Kulturelle Bedeutung ===
Die Menschenähnlichkeit im Körperbau und mehrere Angewohnheiten haben oft zu mythischen Vorstellungen beigetragen. Zu diesen Angewohnheiten zählen das morgendliche Aalen in der Sonne, das als religiöse Sonnenverehrung gedeutet wurde, die Schreie und Gesänge und die vermutete eheliche Treue mancher Arten.
In verschiedenen Religionen wurden manche Arten zu heiligen Tieren erklärt. Der altägyptische Gott Thot wurde manchmal in Gestalt eines Pavians dargestellt. Im ägyptischen Totenbuch wird von den Pavianen berichtet, sie sitzen am Bug der Todesbarke und der Tote kann sich an sie wenden und beim Totengericht um Gerechtigkeit im Totenreich bitten. Paviane genossen deshalb Schutz und wurden sogar mumifiziert. In Indien gelten Rhesusaffen und Hanuman-Languren als heilig. Im Epos Ramayana helfen Affen, geführt von Hanuman, dem Prinzen Rama bei der Befreiung seiner Gattin aus den Fängen des Dämonenfürsten Ravana. Der affengestaltige Gott Hanuman gehört heute zu den populärsten Göttern des Hinduismus. In verschiedenen Regionen der Erde genossen gewisse Primaten aufgrund mythischer Vorstellungen Schutz vor der Bejagung, so zum Beispiel der Indri auf Madagaskar. In der chinesischen Kultur wurden die Duettgesänge der Gibbons mit der angeblichen Melancholie dieser Tiere in Verbindung gebracht, was sich in Gedichten und Gemälden niedergeschlagen hat.
Bekannt ist das buddhistische Symbol der drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.
=== Primaten als Haustiere ===
Die ältesten Belege über Primaten als Haustiere stammen aus dem Alten Ägypten, wo Bilder zeigen, wie Paviane an der Leine geführt wurden und mit Kindern spielten. Aus dem alten China sind Gibbons als Haustiere bekannt. Über Jahrtausende hinweg wurden Primaten als Haustiere gehalten, auch heute ist dies noch mancherorts üblich. Gehalten werden vor allem Menschenaffen und kleinere Arten wie Totenkopfaffen – bekannt war der Schimpanse Michael Jacksons. Problematisch ist dabei, dass diese Tiere selten gezüchtet, sondern meistens als Jungtiere gefangen werden, was oft mit der Tötung der Mutter einhergeht. Unter dem Aspekt des Tierschutzes werden Primaten als Haustiere generell abgelehnt, da eine artgerechte Haltung kaum möglich ist und es auch zur Übertragung von Krankheiten – in beide Richtungen – kommen kann.
=== Primaten als Nutztiere ===
Unter den Primaten finden sich keine klassischen Nutztiere. Im Bereich der medizinischen Forschung und der Erprobung von Kosmetika werden Primaten vielfach für Tierversuche benutzt. Am bekanntesten ist wohl der Rhesusfaktor, der 1940 am Rhesusaffen entdeckt wurde. Früher hat die Suche nach Versuchstieren die Populationen zum Teil drastisch dezimiert; heute stammen die Tiere für diese Zwecke meist aus eigener Züchtung.
Ein weiteres Einsatzgebiet von Primaten war die Raumfahrt. Der erste war 1958 „Gordo“, ein Totenkopfaffe, der an Bord einer Redstone-Rakete ins All befördert wurde. Es folgten weitere Totenkopfaffen, Rhesusaffen und Schimpansen in den Raumfahrtprogrammen der USA, Frankreichs und der Sowjetunion.
In den USA gab es Projekte, bei denen Kapuzineraffen als Hilfen für körperlich behinderte Menschen ausgebildet wurden.
=== Bedrohung ===
Das größte Artensterben in jüngerer Vergangenheit hat auf Madagaskar stattgefunden. Die Insel, die erst vor rund 1500 Jahren von Menschen besiedelt wurde, ist Heimat zahlreicher endemischer Tierarten, darunter fünf Primatenfamilien. Mindestens acht Gattungen und fünfzehn Arten sind seither dort ausgestorben, höchstwahrscheinlich aufgrund der Bejagung, möglicherweise gekoppelt mit klimatischen Veränderungen. Zu den dort ausgerotteten Primaten zählen vorrangig größere, bodenlebende Arten, darunter die Riesenlemuren Megaladapis und der gorillagroße Archaeoindris sowie die Palaeopropithecidae („Faultierlemuren“) und Archaeolemuridae („Pavianlemuren“).
Global betrachtet ist die Situation vieler Primatenarten besorgniserregend. Als vorrangig waldbewohnende Tiere sind sie den Gefahren, die mit den großflächigen Abholzungen der Wälder einhergehen, drastisch ausgeliefert. Die Verbreitungsgebiete vieler Arten machen nur mehr einen Bruchteil ihres historischen Vorkommens aus. Die Jagd tut ein Übriges: Gründe für die Bejagung sind unter anderem ihr Fleisch, das verzehrt wird, und ihr Fell. Hinzu kommt die Tatsache, dass sie Plantagen und Felder verwüsten, sowie die – weitgehend illegale – Suche nach Haustieren. Dabei werden meist die Mütter erlegt, um halbwüchsige Tiere einfangen zu können. Obwohl die International Union for Conservation of Nature keine Primatenart als in den letzten 200 Jahren ausgestorben listet, gilt eine Reihe als stark gefährdet. Zu den bedrohtesten Primaten zählen beispielsweise die Spinnenaffen und die Löwenäffchen Südamerikas, der auf Java endemische Silbergibbon, mehrere Stumpfnasenarten und der Sumatra-Orang-Utan.
Einer im Juni 2019 veröffentlichten Untersuchung zufolge geht der Bestand von 75 % der Primaten-Arten zurück und 60 % sind vom Aussterben bedroht. Zu den Hauptgründen gehört die zunehmende Entwaldung. Zwischen 2001 und 2015 wurde 47 % der Waldfläche in Südostasien abgeholzt, in Süd- und Mittelamerika und in Südasien liegt dieser Wert bei 26 % und in Afrika verschwand 7 % der Waldfläche.Durch den vom Menschen verursachten Klimawandel bedingte Änderungen des Ausmaßes und der Intensität von Extremwetterereignissen – darunter Wirbelstürme und Dürren – wirken sich negativ auf die weltweite Primatenpopulation aus. So zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2019, dass 16 % der Primaten-Taxa für Wirbelstürme anfällig sind (insbesondere in Madagaskar) und 22 % für Dürren (vor allem auf der malaysischen Halbinsel, in Nordborneo, auf Sumatra und in den tropischen Feuchtwäldern Westafrikas).
== Weblinks ==
Primate Info Net (englisch)
The Primata – Fakten und Links zu zahlreichen Arten (englisch)
EUPRIM-Net: European Primate Network (englisch)
== Literatur ==
Louis de Bonis: Vom Affen zum Menschen 1 & 2. Spektrum Compact 2004,1. Verlag Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 2004, ISBN 3-936278-70-9.
Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-43645-6.
Colin Groves: Primate Taxonomy. Smithsonian Institution Press, Washington 2001, ISBN 1-56098-872-X.
Andreas Paul: Von Affen und Menschen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13869-4.
Detlev Ploog: Soziologie der Primaten. In: Psychiatrie der Gegenwart. Band I.2. Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 379–544.
Daris Swindler: Introduction to the Primates. University of Washington Press, Washington 1998, ISBN 0-295-97704-3.
Thomas S. Kemp: The Origin and Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-850761-5.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Primaten |
Rutherford B. Hayes | = Rutherford B. Hayes =
Rutherford Birchard Hayes (* 4. Oktober 1822 in Delaware, Ohio; † 17. Januar 1893 in Fremont, Ohio) war amerikanischer Politiker und Mitglied der Republikanischen Partei. Er war Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten und anschließend längere Zeit Gouverneur von Ohio, bevor er 1877 19. Präsident der Vereinigten Staaten wurde.
Hayes kam als Halbwaise in bürgerlichen Verhältnissen zur Welt. Nach einem Abschluss am Kenyon College brach er eine Anwaltslehre ab, um an der Harvard University Rechtswissenschaften zu studieren. Im Jahr 1845 erhielt er seine Zulassung als Anwalt und eröffnete eine Kanzlei in Marietta, die er einige Jahre später nach Cincinnati verlegte. 1852 heiratete er Lucy Ware Webb, eine überzeugte Abolitionistin.
Nach politischen Anfängen in der Whig Party wechselte er Mitte der 1850er Jahre zu den Republikanern und unterstützte bei der Präsidentschaftswahl 1860 Abraham Lincoln. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs diente er in der Armee der Nordstaaten und stieg bis zum Generalmajor auf. Einer seiner Offiziere im 23. Ohio-Infanterieregiment war der spätere Präsident William McKinley. Nach zwei Jahren als Abgeordneter im Repräsentantenhaus wurde er im Januar 1868 Gouverneur des Bundesstaats Ohio. Mit einer Unterbrechung von drei Jahren hatte er dieses Amt bis zu seiner Amtseinführung als Präsident inne.
1876 nominierte ihn die Republican National Convention zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1876. Hayes gewann die Mehrheit der Wahlmänner-, sein Gegenkandidat Samuel J. Tilden jedoch die der Wählerstimmen. Es war der erste derart umstrittene Wahlausgang in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Zur Klärung des Endresultats setzte der Kongress eine Kommission ein. Die Kernfrage war, inwieweit Afroamerikaner in den Südstaaten an der Stimmabgabe gehindert worden waren. Der Konflikt wurde zwar durch den bis heute umstrittenen Kompromiss von 1877 gelöst, Teile der Opposition warfen Hayes aber bis zum Ende seiner Präsidentschaft fehlende Legitimität vor.
Der Kompromiss sah vor, dass die Demokratische Partei Hayes' Präsidentschaft anerkannte, die Republikaner dafür aber dem von den Demokraten dominierten Solid South Zugeständnisse machten. Infolgedessen wurde die Militärbesatzung der letzten Südstaaten und damit auch die Politik der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg beendet. Dies ebnete den Jim-Crow-Gesetzen den Weg, die den 14. und den 15. Zusatzartikel aushebelten, die Rassentrennung etablierten und in der Folge den Schwarzen fast ein Jahrhundert lang die vollen Bürgerrechte verwehrten.
Als der Große Eisenbahnstreik von 1877 in Gewalt ausartete, entsandte Hayes die United States Army zur Wiederherstellung der Ordnung. Er initiierte eine Verwaltungsreform, um die Macht der Parteimaschinerie über die staatlichen Behörden zu brechen, womit er sich einflussreiche Republikaner vor allem in New York zu Gegnern machte. Außenpolitisch schlichtete er einen Grenzdisput zwischen Argentinien und Paraguay, der wenige Jahre nach dem Tripel-Allianz-Krieg wieder aufgeflammt war. Er strebte keine zweite Amtszeit an und setzte sich nach seiner Präsidentschaft in seiner Residenz Spiegel Grove zur Ruhe, die sich heute auf dem Gelände des Rutherford B. Hayes Presidential Centers befindet.
== Leben ==
=== Erziehung und Ausbildung ===
Rutherford B. Hayes kam im Oktober 1822 als Halbwaise zur Welt, weil sein Vater, der aus Vermont stammende Rutherford Hayes, Jr., drei Monate zuvor an Typhus gestorben war. Die Hayes’ waren eine presbyterianische Familie, die 1625 aus Schottland nach Connecticut ausgewandert war. Die Mehrzahl der väterlichen Vorfahren des späteren Präsidenten hatten jedoch englische Wurzeln, wie er später selbst durch Ahnenforschung herausfand. Rutherford Hayes, Jr führte bis 1817 gemeinsam mit seinem Schwager, dem späteren Kongressabgeordneten John Noyes, einen Laden in Dummerston, bevor er mit seiner Familie nach Delaware, Ohio umzog. Hier betätigte er sich als Farmer, Händler und trotz seines presbyterianischen Glaubens als Investor in eine Brennerei. Hayes’ Mutter, Sophia Birchard, stammte wie der Vater aus Neuengland und heiratete Rutherford Hayes, Jr. im September 1813. Ihre Vorfahren väterlicherseits waren im Jahr 1634 aus England in die Dreizehn Kolonien migriert. Nach dem Tod ihres Mannes erbte sie etwas Land nahe Delaware und ein noch nicht fertig gestelltes Haus in der Ortschaft, dessen Bau erst sechs Jahre später abgeschlossen wurde. Der spätere Präsident wurde nach seinen Eltern benannt, also Rutherford Birchard Hayes. Hayes hatte eine ältere Schwester und einen älteren Bruder, der 1825 ertrank. Im Haushalt lebten ferner eine Kusine der Mutter und ihr jüngerer Bruder, der Geschäftsmann und Bankier Sardis Birchard. Dieser wurde zu einer Vaterfigur von Hayes, kümmerte sich um dessen Ausbildung und unterstützte ihn finanziell, auch nachdem er 1827 nach Fremont gezogen war. Das Haupteinkommen der Familie bildeten die Pachteinnahmen aus dem bewirtschafteten Landbesitz.Hayes, der als Kind so krankheitsanfällig war, dass sein Überleben anfangs nicht sicher war, besuchte zuerst eine Schule in Delaware. 1834 unternahm er mit der Mutter eine Reise zu Verwandten in Vermont, Massachusetts und New Hampshire, was seine lebenslange Reiselust weckte. Ab 1836 besuchte er auf Vorschlag von Birchard eine methodistische Schule in Norwalk und im folgenden Jahr, gleichfalls auf Anraten seines Onkels, die Isaac Webb School in Middletown, Connecticut. Obwohl ihn Webb noch zu jung für das College hielt, ging Hayes ab dem Jahr 1838 auf das Kenyon College in Gambier. Ausschlaggebend dafür war der Wunsch der Mutter, ihn wieder in ihrer Nähe zu haben. Hier schloss er erste politisch bedeutsame Freundschaften mit Stanley Matthews, Rowland E. Trowbridge, Christopher Wolcott und insbesondere Guy M. Bryan. Ab Juni 1841 führte er bis zu seinem Lebensende regelmäßig Tagebuch. Auf dem College engagierte sich Hayes in den Bereichen Literatur und Theater, wovon seine rednerischen Fähigkeiten enorm profitierten. In seinem Abschlussjahrgang war er daher im August 1842 einer der Abschiedsredner.Nach dem Collegestudium begann er mit der Anwaltslehre in der Kanzlei von Sparrow & Matthews in Columbus. Hier beschäftigte er sich neben der juristischen Fachliteratur mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Auf Drängen seines Onkels und selbst angezogen von renommierten Professoren wie Joseph Story, die an der Harvard University unterrichteten, begann er dort im August 1843 ein reguläres Studium der Rechtswissenschaften. Hier übten neben den Vorlesungen Storys diejenigen von Simon Greenleaf am meisten Einfluss auf ihn aus. Beide setzten Moot Courts im Unterricht ein, was Hayes als Rollenmodell für seine spätere Rechtspraxis diente. Er setzte in Harvard außerdem das Deutschstudium fort und besuchte auf dem Campus Gastvorträge von Berühmtheiten wie John Quincy Adams, George Bancroft, Henry Wadsworth Longfellow und Daniel Webster. Nach drei Semestern machte er im Februar 1845 sein juristisches Examen und bestand am 10. März die Zulassungsprüfung zum Anwalt in Marietta. Kurz darauf zog er nach Fremont, weil er hier Verwandtschaft hatte und dem Rat Greenleafs folgte, als Berufsanfänger nicht in einer großen Stadt zu praktizieren. Nach gut einem Jahr selbständiger Anwaltstätigkeit eröffnete Hayes am 1. April 1846 mit Ralph P. Buckland eine Gemeinschaftskanzlei.
=== Anwaltstätigkeit und Heirat ===
Schon bald vertrat Hayes den Bundesstaat Ohio in einer Rechtssache, bei der es um die Schulden eines Sheriffs ging. Im Frühjahr 1847 erkrankte Hayes an Tuberkulose und spielte für einige Zeit mit dem Gedanken, sich als Freiwilliger bei der United States Army für den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg zu melden und dort von dem besseren Klima zu profitieren, obwohl er den Krieg als ungerecht erachtete. Auf Anraten seiner Ärzte entschied er sich jedoch für einen mehrmonatigen Erholungsurlaub in Neuengland. Nachdem er seine Anwaltstätigkeit wieder aufgenommen hatte, besuchte er von Dezember 1848 bis März 1849 seinen Freund Bryan auf seiner Zuckerplantage am Brazos River in Texas. Hier kam er erstmals mit der Institution der Sklaverei in enge Berührung. Als er von seinem Freund George Hoadly noch vor dem Aufbruch nach Texas vom Boom in Cincinnati hörte, hatte er den Entschluss gefasst, dorthin zu ziehen. Wegen einer Cholera-Epidemie um mehrere Monate verzögert, verwirklichte er dies Vorhaben erst im Dezember 1849 und eröffnete im Januar 1850 eine neue Anwaltskanzlei. Später gründete er mit William Rogers und Richard Corwine eine Sozietät.Die ersten Jahre in Cincinnati gestalteten sich schwierig; er konnte sich keinen eigenen Hausstand leisten und zog nach der Hochzeit Anfang 1853 zu seinen Schwiegereltern. Erst im folgenden Jahr verfügte er über genügend Einkommen, um ein eigenes Haus zu kaufen. Hayes trat einem Literaturclub bei, wo er seine rednerischen Fähigkeiten weiter ausbauen konnte und im Mai 1850 an einer Lesung Ralph Waldo Emersons teilnahm. Anfangs skeptisch entwickelte er später eine tiefe Verehrung für diesen Dichter. Weitere Gastredner, die einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machten, waren Theodore Parker, Henry Ward Beecher und Edward Everett. Außerdem wurde er zu dieser Zeit Mitglied einer Loge des Independent Order of Odd Fellows.Bald vertrat er zwei Mordfälle vor Gericht, wodurch er sich die Anerkennung des Richters verschaffte und der Öffentlichkeit bekannt wurde. Einer der Prozesse endete in einem Todesurteil gegen die psychisch labile Nancy Farrer, das er vor den Supreme Court von Ohio brachte, wo die Todesstrafe im Dezember 1854 in eine Einweisung in eine Nervenklinik abgeändert wurde. Im anderen Fall erreichte er vor dem Supreme Court, dass die Jury kein einstimmiges Urteil fällte. Der Angeklagte James Summons wurde 1857 von Gouverneur Salmon P. Chase zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe begnadigt. Außerdem vertrat Hayes seinen Onkel Birchard in mehreren Landstreitigkeiten, von denen eine bis zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ging. Im Dezember 1853 bot ihm der Anwalt Richard M. Corwine die Partnerschaft in seiner Kanzlei an. Mit seinem Freund William K. Rogers nahm er die Offerte an, so dass noch im gleichen Jahr die Kanzlei Corwine, Hayes & Rogers gestartet werden konnte. Das Unternehmen stellte sich als erfolgreich heraus.
Im Jahr 1846 hatte der bis dahin in Liebesdingen gehemmte Hayes Fanny Perkins kennengelernt und ihr den Hof gemacht. Perkins kam aus einer alteingesessenen neuenglischen Familie in Norwich, Connecticut. Am Ende scheiterte diese Beziehung im August 1847, weil Perkins’ Mutter ihr nicht den Umzug nach Ohio gestattete. Nach einer weiteren unglücklich verlaufenden Liebelei mit Helen Kelley wandte er 1850 seine Aufmerksamkeit verstärkt Lucy Ware Webb zu, die er erstmals im Juli 1847 als Studentin an der Ohio Wesleyan University getroffen hatte. Wie Hayes war sie ohne Vater aufgewachsen. Dieser war zur Sklavenbefreiung nach Kentucky gezogen und dort an einer Krankheit gestorben. Ihre Mutter hatte sie im Geiste des Puritanismus erzogen. Nachdem sie sich schließlich im Juni 1851 gegenseitig ihre Liebe erklärt hatten, fand am 30. Dezember 1852 die Hochzeit im Haus der Braut in Delaware statt. Die Ehe erwies sich als glückliche Wahl und hielt bis zum Lebensende. Aus der Verbindung gingen zwischen 1853 und 1873 sieben Jungen und ein Mädchen hervor, von denen fünf Kinder, nämlich Birchard, Webb, Rutherford Platt, Fanny und Scott Russell das Erwachsenenalter erreichten. Lucy war eine erklärte Abolitionistin und übte großen politischen Einfluss auf ihren Mann aus.
=== Politische Anfänge bei den Whigs ===
Hayes zeigte sich seit seiner Jugend politisch interessiert. Bereits auf dem Kenyon College war er wie sein Onkel Birchard zu einem überzeugten Anhänger der Whig Party geworden, hatte die Präsidentschaftswahl von 1840 verfolgt sowie den Wahlkampf genau dokumentiert. Mit Begeisterung reagierte er auf den Sieg William Henry Harrisons, der nach nur einem Monat im Amt verstarb. Obwohl dessen Nachfolger John Tyler wegen seines Vetos gegen die Gründung einer Nationalbank von den Whigs ausgeschlossen wurde, kritisierte Hayes die negative Haltung von Whigs als auch Demokraten gegenüber dem Präsidenten. Zwar neigte er weiterhin den Whigs zu, dennoch reichte sein politisches Engagement nicht so weit, dass er sich an den Halbzeitwahlen (Midterm elections) 1842 beteiligte. Bei der Präsidentschaftswahl von 1844 unterstützte er Henry Clay, den er zwei Jahre zuvor persönlich kennengelernt hatte, und nahm dessen Niederlage gegen James K. Polk er mit großer Enttäuschung auf. Bei der Präsidentschaftswahl von 1848 engagierte er sich im Wahlkampf für Zachary Taylor und wurde ein Jahr später Mitglied im Ortskomitee der Whigs in Fremont.Zu dieser Zeit hatte die strittige Sklavenfrage zwischen Sklavenstaaten und freien Bundesstaaten weiter an Intensität gewonnen. Obwohl Hayes diese Institution ablehnte und seine Mutter eine resolute Sklavereigegnerin war, die die Sklaven ihres Vaters befreit hatte, äußerte er erst Vorbehalte gegen den Abolitionismus. Dies änderte sich allmählich, nachdem er seine Anwaltstätigkeit nach Cincinnati verlagert hatte und die Verteidigung entflohener Sklaven übernahm. Am Kompromiss von 1850, der in den Nordstaaten wegen des rigiden Sklavenfluchtgesetzes, der Öffnung der Territorien für die Sklaverei und ihr Weiterbestehen in Washington, D.C. zu einem Reizthema wurde, hegte er noch während der Debatte im Kongress starke Zweifel. Als sich Daniel Webster, bis dahin ein politisches Vorbild für Hayes, im März 1850 für den Kompromiss starkmachte, verlor er das Vertrauen in dessen Rechtschaffenheit.
=== Wechsel zu den Republikanern (1852–1861) ===
Bei der Präsidentschaftswahl von 1852 wurde er ein begeisterter Unterstützer des Whig-Kandidaten Winfield Scott, den er im Jahr zuvor bei einem Auftritt in Cincinnati gesehen hatte. Dennoch rechnete er ihm gegen den Demokraten Franklin Pierce nicht zu viele Chancen aus. Er hoffte in diesem Falle darauf, dass Pierce als Präsident die Annexion von Kuba als Sklavenstaat vorantreiben werde, und sich somit die Opposition gegen die Demokraten verstärkte. Hayes behielt mit seiner Vorahnung recht und die Whigs erlitten bei der Präsidentschaftswahl 1852 eine deutliche Niederlage und verloren danach massiv an Bedeutung. Als unter der Präsidentschaft von Pierce im Jahr 1854 der Kansas-Nebraska Act den Missouri-Kompromiss außer Kraft setzte, womit die Sklaverei nördlich des 36° 30′ Breitengrads im Gebiet des ehemaligen Louisiana-Territoriums nicht länger untersagt war, löste das in großen Teilen der Nordstaaten Empörung aus. In der Folge kam es unter Beteiligung vieler ehemaliger Whigs zur Bildung der Republikaner als Oppositionsbewegung gegen die Demokraten im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt. Hayes engagierte sich bei der Gründung dieser Partei in Cincinnati und war Delegierter auf ihrem Parteitag in Ohio. Durch seinen mittlerweile ausgeprägten Abolitionismus errang er unter den Republikanern ein hohes Ansehen. Ohne ihren Antikatholizismus zu teilen, versuchte er mit der nativistischen Know-Nothing Party zu kooperieren, als sein Anwaltspartner Corwine für den Posten des State Attorney Generals kandidierte. 1856 schlug er wegen unsicherer Wahlaussichten die ihm angebotene Kandidatur als Richter aus und war wenig überrascht über den Sieg James Buchanans gegen den Republikaner John C. Frémont bei der Präsidentschaftswahl in diesem Jahr.Im folgenden Jahr nominierte ihn der nationale Parteitag für den 36. Kongress der Vereinigten Staaten. Hayes trat jedoch von der Kandidatur zurück, weil er einem anderen Republikaner größere Wahlaussichten zutraute. 1858 wählte ihn der Stadtrat zum Rechtsberater von Cincinnati, was ihm ein nicht unbeträchtliches Einkommen bescherte. Er wurde später zweimal bei den städtischen Kommunalwahlen in diesem Amt bestätigt, unterlag aber 1861 seinem demokratischen Gegner, als vor dem Hintergrund der Sezessionskrise die Republikaner im südlichen Ohio abgestraft wurden. Hayes erkannte zwar, dass die Republikaner moderat auftreten mussten, um Erfolg zu haben, aber er frohlockte trotzdem, als der radikale Sklavereigegner Chase 1860 in den Senat gewählt wurde. Im Präsidentschaftswahlkampf 1860 saß er im Vorstand der Partei im Hamilton County. Da neben Abraham Lincoln mit John C. Breckinridge, John Bell und Stephen A. Douglas insgesamt vier Kandidaten im Rennen um das Weiße Haus waren, rechnete er mit keiner ausreichenden republikanischen Mehrheit im Electoral College, sondern ging von einer Entscheidung über die Präsidentschaft im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten aus. Mit den Wahlsiegen Lincolns in Ohio und Pennsylvania im Oktober stieg seine Zuversicht. Während der auf den Triumph der Republikaner folgenden Sezessionskrise hielt er in seinem Tagebuch fest, dass er vor einem Kompromiss mit den Südstaaten mehr Angst habe, als vor einem Bürgerkrieg. Amerika als respektable Nation könne nur auf der Grundlage von freien Bundesstaaten bestehen. Als sich bis Ende Januar 1861 immer mehr Staaten den Konföderierten anschlossen, war er zu ihrer Anerkennung als eigene Nation bereit. Einen Krieg sah er nur als notwendig an, um die Grenzstaaten in der Union zu halten. Die Beziehung zu seinem texanischen Freund Bryan blieb von diesem Konflikt ungetrübt und Hayes gratulierte ihm, als er in die State Legislature gewählt wurde.Im Februar 1861 traf Hayes den gewählten Präsidenten in Cincinnati. Den radikalen Abolitionismus immer noch ablehnend, nahm er mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass Lincoln sich dort nicht von den gewaltbereiten Sklavereigegnern der deutschamerikanischen Turnbewegung vereinnahmen ließ. Als Rechtsberater abgewählt, eröffnete er eine neue Anwaltskanzlei mit Leopold Markbreit, dem Bruder des Journalisten und Politikers Friedrich Hassaurek, als Partner. Mit dem Angriff auf Fort Sumter durch die Confederate States Army Mitte April 1861 änderte sich Hayes Ablehnung eines Bürgerkriegs zur Wiederherstellung der Union. Als Mitglied eines Komitees, das eine große Versammlung von Unionsanhängern in Cincinnati gewählt hatte, entwarf er eine Resolution, die dazu aufrief, mit allen Mitteln im Sezessionskrieg die Einheit der Nation zu erzwingen. Kurz darauf meldete er sich gemeinsam mit seinem Freund Matthews, der mittlerweile Richter war, als Freiwilliger für das gleiche Regiment im Unionsheer.
=== Im Amerikanischen Bürgerkrieg ===
==== Eintritt in die Unionsarmee und die Schlacht bei Carnifex Ferry (1861) ====
Hayes bildete zunächst die Soldaten einer Kompanie aus und wurde am 27. Juni zum Major des 23. Ohio-Infanterieregiment ernannt und zum gleichlautenden Dienstgrad befördert. Matthews wurde zum stellvertretenden Regimentskommandeur ernannt. Regimentskommandeur war zunächst William S. Rosecrans, danach Oberst Eliakim P. Scammon. Trotz einiger Kontroversen konnte Hayes zu ihm eine vernünftige Beziehung aufbauen. Die Stimmung im Regiment war anfangs verhalten, weil es den Soldaten verboten worden war, ihre Offiziere selbst zu wählen. Als die Soldaten bei der Waffenausgabe die Annahme alter Steinschlossmusketen verweigerten, ordnete Scammon die Inhaftierung einiger ihrer Offiziere an. Hayes gelang es, die Situation zu beruhigen, wodurch er bei den Rekruten ein hohes Ansehen erlangte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits an den neuen Finanzminister Chase geschrieben und um bessere Ausrüstung sowie Geld für die Regimentskasse gebeten. Anfangs versah das Regiment Dienst an seinem Standort, so dass Hayes die Familie seiner verstorbenen Schwester besuchen und seine Frau in Columbus treffen konnte. Außerdem verschaffte er seinem Schwager Joseph T. Webb den Posten als Regimentsarzt.Ende Juli verließ das Regiment Camp Chase und marschierte in das Gebiet, aus dem 1863 West Virginia als neuer Bundesstaat entstehen sollte. Dort sicherte es im Tal des Kanawha Rivers die Bahnstrecke der Baltimore and Ohio Railroad und übernahm den Schutz der unionstreuen Bewohner. In der Gegend um Weston sah sich das Regiment mit ersten, kleineren Angriffen durch konföderierte Truppen konfrontiert. Zwar geschah diese Operation nicht auf einem der Hauptschauplätze des Sezessionskriegs, aber weil das Kanawha-Tal als die erste Verteidigungslinie seines Heimatstaats galt, wurden die Bewegungen von Hayes’ Regiment in Ohio mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Am 10. September 1861 nahm das 23. Ohio-Infanterieregiment als Teil der 3. Brigade Scammons als Reserve unter Hayes’ Führung an der Schlacht bei Carnifex Ferry teil. Während des Angriffs der Unionstruppen auf das Zentrum der Konföderierten führte Hayes am Nachmittag vier Kompanien an die rechte Flanke des Gegners, aber erreichte die Stellung erst bei Einbruch der Dunkelheit, so dass es zu keinen Kampfhandlungen mehr kam.
==== Verwendung als Judge advocate und erste Gefechte im Westen Virginias (1861/62) ====
Ab dem 20. September 1861 wurde er zum Rechtsberater (Judge advocate) ins Hauptquartier von Brigadegeneral Jacob Dolson Cox berufen. Einerseits trennte sich Hayes nur ungern von seinem Verband, andererseits schätzte er Cox und erhielt in dieser Verwendung eine höhere Besoldung. Er bereiste den gesamten Militärbezirk (Department of Western Virginia) um Gerichtsverhandlungen durchzuführen. Obwohl ihm während der Schlacht bei Carnifex Ferry Zweifel aufgekommen waren, schätzte er die Kampfmoral des konföderierten Heeres immer noch niedrig ein. Gegnerische Offiziere, die er als Kriegsgefangene zuvorkommend behandelte, seien meist moderat in ihren Einstellungen und im Prinzip froh, wenn nach ihrer Niederlage die Union wieder hergestellt werden sollte. Im Dezember 1861 ging er nach wie vor von einer raschen Niederlage der Konföderierten aus, sollte nicht das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland intervenieren.Hayes wurde am 23. Oktober 1861 zum stellvertretenden Regimentskommandeur ernannt und einen Tag darauf zum Oberstleutnant befördert und folgte damit seinem Freund Matthews nach, der Kommandeur des 51. Ohio Infanterie-Regiments wurde. Hayes’ Regiment stand zu diesem Zeitpunkt in einem Feldlager am Gauley River, während der konföderierte General Floyd südlich davon am New River Stellung bezogen hatte. Scammon setzte den Konföderierten nach, wurde aber durch Hochwasser aufgehalten. Nahe dem New River im weitgehend verlassenen Fayetteville bezog Hayes mit dem Regiment schließlich das Winterquartier. Hier erfuhr er am Jahresende von der Geburt seines Sohnes Joe, ohne deswegen Fronturlaub gewährt zu bekommen. Etliche geflohene Sklaven trafen während dieser Zeit in Fayetteville ein, die Hayes als frei erachtete und weiter nach Ohio schickte. Am Jahresanfang 1862 stieß er südlich zu Major J. M. Comly nach Raleigh vor, der hier mit fünf Kompanien lag und in einen Guerillakrieg mit Bushwhackern verwickelt war. Im Februar erhielt Hayes schließlich kurzen Heimaturlaub, um seinen neugeborenen Sohn zu sehen. Zurück in Raleigh erfuhr er, dass der von ihm sehr geschätzte Generalmajor Frémont Befehlshaber des Wehrbereichs Berge (Mountain Department) geworden war, zu dem auch das westliche Virginia gehörte. Zu dieser Zeit vertrat Hayes die Auffassung, dass die Sklaverei in den Sezessionsstaaten verboten werden und den unionstreuen Grenzstaaten die Lösung des Problems selbst überlassen werden sollte. Genau diese Linie wurde letzten Endes von Präsident Lincoln verfolgt.Nachdem der Sieg bei der Schlacht von Shiloh und die Einnahme der „Insel Nummer 10“ im Mississippi bei ihm kurzzeitig wieder die Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende geweckt hatte, marschierte Hayes mit dem Regiment als Teil der Division von Brigadegeneral Cox Richtung Princeton im Mercer County, wobei sie durch starke Regenfälle aufgehalten wurden. Am 1. Mai entsetzte er nicht nur seine in Bedrängnis geratene Vorhut, sondern drängte anschließend die Konföderierten bis hinter Princeton zurück. Trotz des Lobes von General Cox für diesen militärischen Erfolg warf Scammon Hayes vor, sich zu weit vorgewagt zu haben. Als nächstes rückte er in Pearisburg ein, wo er von mehreren tausenden Konföderierten unter dem Kommando von General Henry Heth angegriffen wurde. Hayes konnte sich der Attacke entziehen, wobei er eine leichte Verwundung davontrug, und schließlich nach Princeton ausweichen. Dort bezog das Regiment Stellung nahe dem New River auf dem Flattop Mountain und versah eine Zeit lang Routinedienst. In dieser Zeit trafen die lang erwarteten, schlagkräftigeren Gewehre mit gezogenem Lauf ein. Am 12. Juli drang Hayes mit sechs Infanterie- und mehreren Kavalleriekompanien sowie vier Artilleriegeschützen nach Green Meadows in die feindlichen Linien ein, wo sie ansehnliche Beute machten. Hayes’ wurde als vielseitig und befähigt, aber nicht herausragend beurteilt. Dabei zeigte er vor allem im weiteren Verlauf seiner Laufbahn im Heer bei mehreren Gefechten beachtliche persönliche Tapferkeit.
==== Beförderung zum Oberst und Schlacht am South Mountain (1862/63) ====
Am 23. Juli 1862 wurde Hayes zum Regimentskommandeur des 79. Ohio-Infanterieregiments ernannt. Er zögerte jedoch, die Ernennung anzunehmen, da er eigentlich Kommandeur „seines“ 23. Ohio-Infanterieregiments werden wollte. Anfang August wurde gemeldet, dass mehrere tausend Konföderierten sich entlang des anderen Ufers des White Rivers näherten, um die Fähre über den Fluss anzugreifen. Hayes verstärkte die Einheiten, die dort bereits auf Erkundung waren, und es gelang ihm die Konföderierten, die sich zahlenmäßig als deutlich schwächer als gemeldet erwiesen, unter klingendem Spiel der Regimentskapelle zum Ausweichen zu zwingen. Noch bevor sich Hayes zur Annahme des Kommandeurspostens entscheiden konnte, wurde das Regiment nach Osten zur Army of Virginia beordert, die von Generalmajor John Pope geführt wurde. Im Feldlager dort gewann Hayes ein weiteres Mal an Popularität, als er seine Männer gegen General Jesse Lee Reno in Schutz nahm, den sie mit der Verwendung von Stroh als Schlafunterlage erzürnt hatten, obwohl es als Pferdefutter vorgesehen war. Nach Popes’ Niederlage in der zweiten Schlacht am Bull Run – an der Hayes’ Regiment nicht teilgenommen hatte – wurde die Army of Virginia in die Potomac-Armee integriert. Das 23. Ohio-Infanterieregiment wurde als Spitze von General Cox’ Division am 14. September in der Schlacht am South Mountain nahe Sharpsburg eingesetzt. Dreimal führte Hayes das Regiment bei Attacken auf den von Konföderierten gehaltenen Pass Fox’s Gap an, wobei er beim letzten Mal am linken Ellenbogen verwundet wurde.Nach der Versorgung durch seinen um ihn besorgten Schwager erholte sich Hayes im nahegelegenen Middletown, wo er bei einer Familie einquartiert wurde, während sein Regiment in der Schlacht am Antietam kämpfte. Hier fand und pflegte ihn Lucy Hayes, die sich nach Gerüchten über seinen Tod auf die Suche nach ihm begeben hatte. Als Lincoln im September 1862 die Emanzipationsproklamation verkündete, reagierte Hayes darauf mit Genugtuung, an der auch die Verluste der Republikaner bei den Kongresswahlen im November nichts änderten. Er hielt ebenso die Ablösung von George B. McClellan vom Oberkommando über die Potomac-Armee für die richtige Entscheidung Lincolns. Am 24. Oktober 1862 wurde er zum Oberst befördert und zum Kommandeur des 23. Ohio-Infanterieregiments ernannt, zu dem er nach seiner Genesung zurückkehrte. Bald nach seiner Ankunft im Feldlager am Gauley River wurde Hayes der Dienstposten des Brigadekommandeurs der 1. Brigade der 2. Kanawha-Division angeboten. Mitte Dezember trat der spätere Präsident William McKinley seinen Dienst als Oberleutnant im Regiment an, wo Hayes ihn als Quartiermeister einsetzte. Bis März 1863 besuchten ihn Lucy und die Kinder im Feldlager. Hayes wurde am 19. März 1863 zum Brigadekommandeur ernannt. Danach marschierte die 1. Brigade zum Camp White, das gegenüber Charleston lag.
==== Von Morgan’s Raid bis zur Schlacht am Cedar Creek (1863/64) ====
Ende März gelang Hayes in einem Scharmützel bei Point Pleasant die Gefangennahme von 50 konföderierten Soldaten. Später wehrte er zwei Angriffe von General Albert Gallatin Jenkins auf Camp White ab. Bei einem Besuch der Familie im Feldlager im Juni erkrankte sein jüngster Sohn Joe an Dysenterie und starb wenige Tage später. Im Juli verlegte die Brigade über Fayetteville in das Raleigh County, woraufhin sich die Konföderierten trotz ihrer Überlegenheit von dort zurückzogen. Als Hayes vom bis nach Ohio reichenden Morgan’s Raid erfuhr, nahm er mit drei Regimentern dessen Verfolgung auf. In Pomeroy am Ohio River gelang es ihm, am 19. Juli die Stadt gegen John Hunt Morgan zu verteidigen und seinen Rückzug über den Fluss zu verhindern, aber er ließ die Konföderierten entkommen, sein größter Fehler im Sezessionskrieg. Als die Konföderierten am nächsten Tag in der Schlacht von Buffington Island zum großen Teil aufgerieben wurden, waren Hayes und seine Truppen nur in einer Beobachterrolle. In Morgans Operation sah er eine Verzweiflungstat der Südstaaten, deren Niederlage durch die Unionssiege in Vicksburg und Gettysburg näher rückte. Den Triumph von John Brough über den demokratischen Copperhead („Kupferkopf“), also Kriegsgegner, Clement Vallandigham bei der Gouverneurswahl von Ohio wertete er als dazu gleichrangigen politischen Erfolg.Als die dreijährige Verpflichtungszeit der Regimentsangehörigen auslief, überzeugte Hayes viele von ihnen, sich erneut zu verpflichten. Anfang Dezember 1863 kooperierte er mit dem Kavalleriegeneral William W. Averell bei einer Angriffsoperation gegen die Eisenbahn bei Salem in Virginia, die erst erfolgreich verlief, aber wegen gegnerischer Verstärkung vor dem Zielort abgebrochen wurde. Nach einem Heimaturlaub bei der Familie, die nun in Chillicothe lebte, kommandierte er bei der Frühlingsoffensive 1864 die 1. Infanteriebrigade unter Brigadegeneral George Crook. Dieser plante einen Überfall auf die Strecke des Eisenbahnunternehmens Virginia and Tennessee Railroad und die Zerstörung der Brücke über den New River. Bevor Crook die Brücke in Brand stecken konnte, musste er am 9. Mai die Schlacht am Cloyds Mountain schlagen. Hierbei attackierte Hayes am linken Flügel mit der 1. Brigade die Stellung der Konföderierten auf einem bewaldeten Hügel, wobei er schwere Verluste hinnehmen musste, und warf den Gegner zurück. Er machte über 300 Gefangene, darunter Brigadegeneral Albert Gallatin Jenkins. Am nächsten Tag erreichten sie die Brücke und konnten sie sowie anschließend knapp 30 Kilometer der Virginia and Tennessee Railroad zerstören.Im Braxton County besiegten sie mehrere Kavallerieregimenter, die unter dem Kommando von William Lowther Jackson standen. Danach befahl Crook den Rückzug, weil er fürchtete, ansonsten vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Anfang Juni stießen sie über das Shenandoah-Tal nach Virginia vor, vereinigten sich in Staunton mit den Truppen von Generalmajor David Hunter und nahmen am 11. Juni Lexington ein, wobei Hayes’ Brigade an vorderster Front kämpfte. Nachdem die Konföderierten bei Lynchburg (Virginia) ihre Truppen verstärkten, marschierte Hunter mit den Unionstruppen zurück nach West Virginia.Mitte Juli marschierte die Kanawha-Division unter Crook nach Winchester, um dort die Unionsarmee gegen die überlegenen Konföderierten Jubal Anderson Earlys während der zweiten Schlacht von Kernstown zu unterstützen, die dennoch in einer Niederlage endete. Hayes gelang es hierbei, seine Brigade ohne größere Verluste zurückzuziehen. Ab August nahm Hayes’ Brigade an der Kampagne von Generalmajor Philip Sheridan im Shenandoahtal teil. Dabei stießen sie auf starken Widerstand der Konföderierten, unter anderem am 19. September in der dritten Schlacht von Winchester, wobei Hayes an vorderster Front kämpfte. Nach der Überquerung des Opequon-Baches fand er sich mit seiner Einheit kurzzeitig in einer isolierten Stellung, erhielt aber rechtzeitig Verstärkung. Drei Tage nach diesem Sieg kämpften er und seine Männer in der in einen weiteren Erfolg der Unionsarmee mündenden Schlacht bei Fishers Hill, wobei sie einen Flankenangriff durchführten. Bei der Schlacht am Cedar Creek am 19. Oktober verletzte sich Hayes, als sein Reitpferd getroffen wurde. Dennoch gelang es ihm, dem Rückzug seiner Einheit zu stoppen und die Stellung zu halten, bis Sheridan mit Verstärkung eintraf und den Sieg sicherte.
==== Wahl in das Repräsentantenhaus, Beförderung zum Brigadegeneral und Kriegsende (1864/65) ====
Während der Präsidentschaftswahlkampfes 1864 unterstützte er als Republikaner zwar Lincoln, aber begrüßte auf der anderen Seite den Sieg des „Kriegsdemokraten“ McClellan bei der Primary („Vorwahl“) in der Hoffnung, dass damit die Copperheads innerhalb der demokratischen Partei geschwächt worden seien. Hayes kandidierte selbst für das Repräsentantenhaus, nachdem ihn der zweite Kongresswahlbezirk Cincinnatis dafür nominiert hatte. Obwohl ihm der befreundete Verleger und Secretary of State Ohios, William Henry Smith, dazu geraten hatte, verzichtete er auf einen Heimaturlaub zum Zwecke des Wahlkampfes, sondern blieb im aktiven Dienst bei seiner Brigade. Am 11. Oktober wurde er schließlich in den 39. Kongress der Vereinigten Staaten gewählt. Hayes, der seit der Schlacht von Cedar Creek in einem Feldlager bei Winchester verwendet wurde, erhielt am 30. November die Beförderung zum Brigadegeneral. Nach einem Heimaturlaub Anfang 1865 kehrte er in sein Hauptquartier bei Cumberland in Maryland zurück. Im März 1865 wurde Hayes der Brevet-Rang eines Generalmajors verliehen und ein neues Kommando in New Creek, West Virginia zugeteilt, das er jedoch nach der Kapitulation von General Robert Edward Lee am 9. April 1865 nicht mehr antrat. Seine Freude darüber wurde kurze Zeit später durch das tödliche Attentat auf Lincoln stark getrübt. Ende April war er auf Fronturlaub in Washington bei einem Freund und traf bei dieser Gelegenheit den neuen Präsidenten Andrew Johnson, von dem er erst einen günstigen Eindruck hatte. Zurück im Dienst reichte er sein Entlassungsgesuch aus der Armee ein, das am 8. Juni 1865 akzeptiert wurde.
=== Abgeordneter im Repräsentantenhaus (1865–1867) ===
Der Sitzungsbeginn des 39. Kongresses lag im Dezember 1865. Vor seinem Aufbruch in die Hauptstadt unterstützte Hayes seinen früheren Vorgesetzten Cox bei der Wahl zum Gouverneur von Ohio und zog mit der Familie zurück nach Cincinnati. Im Repräsentantenhaus gehörte er zu den gemäßigten Republikanern und nicht zur Fraktion der radikalen Republikaner um Thaddeus Stevens, die die Pflanzeraristokratie im Süden zerschlagen wollten. Aus Gründen der Fraktionsdisziplin stimmte er aber meistens mit den Radikalen, was sein Fortkommen in der Partei und seine Popularität begünstigte. Schnell identifizierte Hayes Stevens als den mächtigsten Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Seine erste Abstimmung erfolgte auf einem parteiinternen Caucus am 1. Dezember, dem am folgenden Tag ein weiterer folgte. Hayes stimmte hier zu, Delegierte aus den Südstaaten vom Kongress auszuschließen und einen Kongressausschuss zur Reconstruction zu bilden. Im Repräsentantenhaus wurde Hayes zum Vorsitzenden des Congress Joint Committee on the Library bestimmt, dem die Administration der Library of Congress („Kongressbibliothek“) oblag.Zu dieser Zeit ging Präsident Johnson durch seine Südstaatenpolitik in offene Konfrontation mit dem Kongress. So gewährte er den meisten an der Sezession Beteiligten Amnestie und beließ sie in ihren Machtpositionen, solange sie der Union die Treue schworen und die Sklaverei abschafften. Dadurch entstanden im Süden konservative Regierungen mit vielen Ex-Konföderierten in hohen Ämtern, die zwar die Afroamerikaner aus der Sklaverei befreiten, aber sie durch Black Codes in ihren Bürgerrechten einschränkten. Loyal zur Parteilinie unterstützte Hayes die republikanische Mehrheit im Kongress in ihrem Kampf gegen die präsidiale Politik. Zwar sah er in den Südstaaten abtrünnige Provinzen, die durch den Kongress gesteuert eine Reconstruction durchlaufen müssten, aber anders als die radikalen Republikaner kein erobertes, fremdes Territorium, für das die amerikanische Verfassung nicht galt.Wie viele andere Republikaner hoffte er noch im Februar 1866 darauf, dass der endgültige Bruch mit dem Präsidenten vermieden werden könnte. Als im Monat darauf Johnson den Civil Rights Act („Bürgerrechtsgesetz“) von 1866, der allen Bürgern unabhängig von ihrer Hautfarbe die gleichen Rechte zubilligte, mit seinem Veto blockierte, sah Hayes ein, dass eine Verständigung mit dem Weißen Haus nicht mehr möglich war. Seine Zufriedenheit darüber, dass dieses Veto und weitere vom Kongress überstimmt wurden, wurde durch den Tod seine Sohnes George an Scharlach getrübt. Im August wurde er ohne Gegenkandidaten für den 40. Kongress nominiert und siegte am Wahltag gegen den Demokraten Thomas Cook. Nachdem er von seiner Partei als Nachfolger für den nicht mehr antretenden Cox als Kandidat für die Gouverneurswahlen von Ohio im Jahr 1867 aufgestellt worden war, trat er im Juli von seinem Mandat im Repräsentantenhaus zurück, das ihm ohnehin nicht sonderlich behagt hatte.Während dieser kurzen Amtszeit Hayes’ eskalierte der Konflikt zwischen Kongress und Präsident, der den 1866 von beiden Häusern verabschiedeten, die Gleichheit vor dem Recht garantierenden 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten immer noch bekämpfte. Um die Macht Johnsons einzuschränken, forcierte der Kongress unter anderem den Tenure of Office Act („Amtsdauergesetz“) und begann direkt nach dem Ende des 39. Kongresses im März 1867 mit den Sitzungen. Alle diese Maßnahmen wie auch die Reconstruction Acts, die die ehemaligen Konföderierten Staaten dem Militärrecht unterwarfen, unterstützte Hayes mit seiner Stimme. Die wesentliche Leistung seiner insgesamt unauffälligen Amtszeit als Repräsentant war die Erweiterung der Kongressbibliothek um zwei Flügel, die er im Congress Joint Committee on the Library durchsetzen konnte, sowie die Aufnahme der Bücherei der Smithsonian Institution in die Library of Congress. Außerdem bemühte er sich darum, die Kongressbibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
=== Die ersten zwei Amtszeiten als Gouverneur von Ohio (1867–1871) ===
Die Kampagnenführung um das Amt des Gouverneurs gestaltete sich schwierig, weil sich Hayes für das Wahlrecht von Afroamerikanern einsetzte, was in Ohio äußerst unpopulär war und zum wichtigsten Thema im Wahlkampf wurde. Die Demokraten um seinen Konkurrenten Allen G. Thurman nutzten dies in einem Bundesstaat aus, der diese Bevölkerungsgruppe lange Zeit diskriminiert hatte, und lehnten ein garantiertes Wahlrecht für Schwarze ab. Ein weiteres Wahlkampfthema von Hayes war die Geldpolitik, wo er sich im Gegensatz zu den Demokraten für Hartgeld auf Basis eines reinen Goldstandards einsetzte. Am Ende errangen die Demokraten zwar die Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus von Ohio, aber Hayes gewann mit knappem Vorsprung die Gouverneurswahlen. In seiner Antrittsrede, der kürzesten in der Geschichte Ohios, am 13. Januar 1868 warb er erneut für ein vorbehaltloses Wahlrecht und den 14. Zusatzartikel.Weil die Amtsgewalt des Gouverneurs zu dieser Zeit deutlich eingeschränkt war und kein Vetorecht gegenüber der State Legislature beinhaltete, beschäftigte sich Hayes vor allem mit Personalpolitik. Dies umfasste unter anderem die Ernennung von Richtern oder Universitätspräsidenten, aber auch die Begnadigung von Verurteilten. Zustimmung in der State Legislature fand er zudem für eine geologische Vermessung des gesamten Bundesstaats und den Bau eines Grabmonumentes für den früheren Präsidenten William Henry Harrison in North Bend. Er engagierte sich weiterhin in der Bundespolitik; so war er ein überzeugter Verfechter des Amtsenthebungsverfahrens gegen Andrew Johnson und setzte sich im Präsidentschaftswahlkampf für Ulysses S. Grant ein, von dem er später bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen einen sehr positiven Eindruck gewann, auch hinsichtlich seiner Identifikation mit dem Parteiprogramm der Republikaner. Im Präsidentschaftswahlkampf 1868 warb er vor allem um die Stimmen der jüdischen Amerikaner, die Grant durch diskriminierende Maßnahmen im Bürgerkrieg gegen sich aufgebracht hatte.Im Juni 1869 nominierten ihn die Republikaner für die Wiederwahl zum Gouverneur. Während seiner Wahlkampagne, die er aggressiver führte als beim letzten Mal, setzte sich Hayes für den 15. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten ein, der allen Männern unabhängig von ihrer Hautfarbe das Wahlrecht garantierte. Sein demokratischer Gegner, den er mit knappem Vorsprung besiegte, war der Vizepräsidentschaftskandidat von 1868, George H. Pendleton. Weil die Republikaner die Mehrheit in der State Legislature zurückerobert hatten, konnte Hayes während seiner zweiten Amtszeit, die bis zum 8. Januar 1872 andauerte, mehr Akzente setzen. So ratifizierte der Kongress von Ohio den 15. Zusatzartikel, initiierte eine Gefängnisreform für jugendliche Inhaftierte und beschloss die Errichtung von Waisenhäusern für Soldatenkinder sowie die Vergrößerung einer bundesstaatlichen Psychiatrie. Außerdem setzte er die Einrichtung des Agricultural and Mechanical Colleges durch, aus dem später die Ohio State University hervorging. Hayes sorgte des Weiteren für die Vergrößerung der Staatsbibliothek von Ohio, beispielsweise um die Schriften des amerikanischen Revolutionärs Arthur St. Clair. Parteipolitisch stärkte er die Organisation der Republikaner in Ohio und konsolidierte ihre Macht in diesem Bundesstaat. Als sich General Pope an ihn wandte, der juristisch von dem um seine Rehabilitierung kämpfenden Fitz-John Porter belangt wurde, gab er ihm in der Sache Recht, ohne etwas konkret zu seiner Unterstützung zu unternehmen. Später während seiner Präsidentschaft empfahl ein Untersuchungsausschuss des Kriegsministeriums, Porter seinen Dienstgrad zurückzugeben, was Hayes ohne weitere Stellungnahme an den Kongress weiterleitete.Als es 1870 in Akron zu einem Streik der Bergarbeiter kam, bat er den Sheriff vor Ort, die Ordnung wiederherzustellen. Dieses staatliche Eingreifen zugunsten der Arbeitgeber war zur damaligen Zeit das übliche Vorgehen und wurde von Hayes bei späteren Arbeitskämpfen wiederholt. Hayes, der mit dem Deutschamerikaner Carl Schurz befreundet war und wie die meisten Bürger der Vereinigten Staaten Napoleon III. verachtete, sympathisierte im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 mit Königreich Preußen. Bis Anfang 1871 war in ihm der Entschluss gereift, der Politik den Rücken zu kehren und für keine dritte Amtszeit als Gouverneur zu kandidieren. Auch die, seiner Einschätzung nach, sichere Wahl in den Senat der Vereinigten Staaten verwarf er. Einen Gesichtspunkt dieser Entscheidung stellte neben der Absicht, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, der Umstand dar, dass seine politische Karriere mit einem nicht unerheblichen Einkommensverlust verbunden war. Im Sommer führte ihn eine seiner zahlreichen Reisen nach Vermont und Connecticut, wo er die Grabstätten und Häuser seiner Vorfahren besuchte. Im kurz darauf folgenden Gouverneurswahlkampf engagierte er sich mit Erfolg für Edward F. Noyes, den er selbst als seinen Nachfolger ausgesucht hatte. Nach einer letzten Ansprache als amtierender Gouverneur zum Jahresanfang 1872, in der er sich unter anderem für eine staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens, den Bau von mehr Waisenhäusern und Psychiatrien sowie einem gesetzlichen Verbot staatlicher Überschuldung aussprach, zog Hayes sich ins Privatleben zurück und eröffnete eine Anwaltskanzlei in Cincinnati. Zuvor hatte er noch die Bitte von unzufriedenen Republikanern abgelehnt, anstelle von John Sherman für den Senat zu kandidieren, wobei ihm eine Mehrheit im Caucus zugesichert worden war.
=== Kurzzeitiger politischer Ruhestand und dritte Amtszeit als Gouverneur (1871–1876) ===
Kurz nach der Rückkehr von einer Reise in das Dakota-Territorium lernte er den Schriftsteller William Cullen Bryant kennen und schätzen. Angesichts der Präsidentschaftswahlen 1872 und der innerparteilichen Opposition gegen Grant, die zur Abspaltung in Form der Liberal Republican Party geführt hatte, musste er als Ex-Gouverneur Stellung beziehen. Zwar war er wie die Liberal Republicans von der Korruption im Kabinett Grant sowie dessen Abhängigkeit von Parteimaschinerie abgeschreckt und lehnte die Annexionsbestrebungen des Präsidenten bezüglich der Dominikanischen Republik ab, dennoch sah er davon ab, die Republikaner zu verlassen. In den für Hayes entscheidenden Bereichen der Südstaaten- und Schuldenpolitik sah er den Präsidenten auf dem richtigen Weg. Er besuchte die National Convention der Liberal Republicans in Cincinnati, die Horace Greeley zu ihrem Präsidentschaftskandidaten wählte. Seine Befürchtung, dass diese neue Partei mit Unterstützung der Demokraten Grant schlagen konnte, wich auf der Republican National Convention in Philadelphia neuer Zuversicht, der das spätere Ergebnis recht gab. Gegen seinen Willen nominierte ihn die Versammlung als Repräsentanten für den 43. Kongress der Vereinigten Staaten. Bei der Wahl im Oktober 1872 unterlag er jedoch Henry B. Banning von den Liberal Republicans. Dies stellte die einzige Wahlniederlage in Hayes’ politischer Karriere dar.
Nachdem ihm sein Onkel Sardis Birchard Spiegel Grove übertragen hatte, bezog Hayes mit seiner Familie im Frühjahr 1873 das Anwesen, das er sofort zu vergrößern begann. Zu dieser Zeit begann er mit Birchard die Projektarbeit zum Bau einer öffentlichen Bibliothek, die er nach dessen Tod im folgenden Jahr allein fortsetzte. Außerdem begann er nun geschäftsmäßig in Immobilien zu investieren. Als Grant ihn 1873 zum stellvertretenden Schatzmeister der Vereinigten Staaten bestellte, lehnte er das Amt ab, das er angesichts seiner bisherigen politischen Positionen als zu gering erachtete und er insgeheim auf einen Ministerposten gehofft hatte. Die das Land erschütternde Panik von 1873 führte bei den Wahlen zu großen Verlusten der Republikaner, unter anderem bei den Gouverneurswahlen in Ohio, wodurch Hayes als populärer Ex-Gouverneur für die Partei wieder attraktiv wurde. Dennoch konnte sein Engagement bei den Kongresswahlen 1874 die großen Verluste der Republikaner in Ohio nicht abwenden. Im März 1875 wählte ihn ein republikanischer Caucus zum Gegenkandidaten des demokratischen Gouverneurs William Allen. Hayes nahm die Nominierung erst nicht an, wobei er unter anderem den Whiskey Ring und andere Skandale im näheren Umfeld des Präsidenten geltend machte, aber gab dem Drängen seiner Partei schließlich nach. Im Juni kürte ihn der Parteitag mit deutlicher Mehrheit gegenüber Alphonso Taft, dem Vater des späteren Präsidenten William Howard Taft, zum Kandidaten. Zentrales Thema im Wahlkampf, bei dem ihn Schurz und die Senatoren Oliver Hazard Perry Throck Morton und Sherman als Redner unterstützten, wurde die Geldpolitik, in der sich Hayes mit seiner Präferenz für antiinflationäres Hartgeld gegen die Demokraten positionierte. Am Ende gewann er nicht nur die Gouverneurswahlen, sondern auch beide Häuser der State Legislature. Hayes wurde damit zum ersten Gouverneur Ohios, der für eine dritte Amtszeit gewählt wurde, und galt in der Folge als potenzieller Präsidentschaftskandidat für das folgende Jahr, auch wenn er landesweit noch relativ unbekannt war.Hayes’ dritte Amtszeit als Gouverneur begann am 10. Januar 1876 mit seiner Antrittsrede. Aufgrund der republikanisch kontrollierten State Legislature konnte er etliche seiner Vorhaben umsetzen. Dazu gehörten wie schon in den vorherigen Amtszeiten Gefängnisreformen, die unter anderem die Einführung von Arbeitshäusern vorsahen, und die Förderung von Wohlfahrtsinstitutionen. Außerdem setzte er auf eine sparsamere Ausgabenpolitik, wodurch er das bundesstaatliche Haushaltsdefizit senken konnte. Einen Bergarbeiterstreik in Massillon im April 1876 beendete er wie denjenigen von Akron 1870 mit militärischer Gewalt. Nach der Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner im Juni trat Hayes’ Tätigkeit als Gouverneur in den Hintergrund. Kurz vor seiner Amtseinführung als amerikanischer Präsident trat er am 1. März 1877 als Gouverneur zurück.
=== Präsidentschaftswahlen 1876 ===
Als Gouverneur hatte Hayes sich den Ruf eines scharfsinnigen Politikers und fleißigen sowie liberalen Administrators erworben. Außerdem galt er in einer von Korruptionsskandalen gebeutelten Zeit als politisch nicht vorbelastet. Trotzdem glaubte Hayes vor dem nationalen Parteitag nicht, sich gegen die namhaften innerparteilichen Konkurrenten James G. Blaine, Morton, Roscoe Conkling und Benjamin Bristow durchsetzen zu können, sondern rechnete allenfalls mit einer Nominierung als Running Mate. Die Republican Convention von Ohio bestimmte ihn im März 1876 zu ihrem Spitzenkandidaten, wobei er unter anderem vom späteren Präsidenten James A. Garfield und Sherman unterstützt wurde. Dass der Nominierungsparteitag in seiner langjährigen Heimatstadt Cincinnati stattfand, sollte ihm später zum Vorteil gereichen. Hayes entsandte Sherman als seinen Vertrauten auf die Mitte Juni stattfindende Republican National Convention, der durch Noyes und Benjamin Wade verstärkt wurde. In den ersten Wahlgängen erreichte Hayes lediglich hintere Ränge, aber er profitierte zunehmend von der starken Rivalität zwischen den prominenteren Kandidaten. Nach dem sechsten Wahldurchgang sah Blaine wie der sichere Sieger aus, bis seine Rivalen eine Vertagung der Versammlung erreichten. Über Nacht versammelten sich Blaines Gegner hinter Hayes, so dass dieser am nächsten Tag im siebten Wahlgang die notwendige Stimmenmehrheit erhielt. Als Kandidat für die Vizepräsidentschaft setzte sich der Kongressabgeordnete William A. Wheeler durch, den Hayes so gut wie nicht kannte.Das von der National Convention beschlossene Wahlprogramm repräsentierte die Überzeugungen Hayes’. So forderte es für alle, einschließlich Frauen und Afroamerikaner, Gleichheit vor dem Gesetz, die Befriedung der Südstaaten und eine stärkere Gewaltenteilung. Hier war vorgesehen, dass Ernennungen des Präsidenten durch den Senat gebilligt werden mussten. Die republikanische Presse reagierte auf die Nominierung von Hayes überwiegend positiv und hob unter anderem seine Vertrauenswürdigkeit und militärischen und politischen Leistungen hervor, während demokratische Zeitungen spotteten, Hayes’ Qualifikation sei vor allem seine Unbekanntheit gewesen. Ende Juni nominierten die Demokraten auf ihrem Parteitag den als Reformer geltenden Gouverneur von New York, Samuel J. Tilden, zu ihrem Spitzenkandidaten. In seinem öffentlichen Schreiben zur Annahme der Nominierung kommunizierte Hayes als wichtigste Ziele eine Verwaltungsreform, die Bildung stabiler Regierungen in den Südstaaten, die Beendigung des Konflikts um Papier- oder Hartgeld sowie die Verbesserung des öffentlichen Schulsystems unter strikter Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen. Außerdem kündigte er an, für keine zweite Amtszeit zu kandidieren, wovon er sich mehr Autonomie beim innerparteilichen Kampf gegen das Spoilssystem („Beutesystem“) erhoffte, weil er ohne diese Ambition nicht auf die Anhäufung „politischen Kapitals“ in der eigenen Partei angewiesen war, und einige abgewanderte Liberal Republicans zurückgewinnen konnte. Aufgrund der Korruptionsaffären in der Grant-Administration, die unter anderem zu einem Impeachmentverfahren gegen William W. Belknap selbst nach dessen Rücktritt als Kriegsminister führten, der andauernden Deflation und republikanischen Hartgeldpolitik sah Hayes Tilden im Vorteil. Wie damals üblich beteiligte er sich als Präsidentschaftskandidat nicht aktiv am Wahlkampf, aber er gab die Order, in der Kampagne einen demokratischen Sieg als Triumph der Südstaaten-Rebellen darzustellen, um Ängste zu schüren. Hayes angeheirateter Cousin William Dean Howells verfasste im Rahmen der Wahlkampagne seine Biographie.Hayes wurde wegen seiner antiklerikalen Schulpolitik des Nativismus bezichtigt und in die Nähe der antikatholischen Know-Nothing Party gerückt. Schwerwiegender war der Vorwurf, dass er während des Sezessionskriegs das Eigentum eines hingerichteten Deserteurs für sich behalten habe, den er in einem Zeitungsinterview richtigstellen musste. Außerdem hinterfragten die Demokraten Hayes’ Vermögenssteuerzahlungen der letzten Jahre. Insgesamt war der Wahlkampf zwischen Hayes und Tilden jedoch vergleichsweise fair. Mit Sorge betrachtete er das für den Wahlausgang im Electoral College so wichtige New York, den Heimatstaat von Tilden, in dem der republikanische Führer Conkling fast keinen Wahlkampf für ihn machte. Als kritisch erwies sich zudem Indiana, wo die United States Greenback Party vor allem bei den Republikanern Stimmen abfischte. Trotz sich mehrender Anzeichen für eine Wahlniederlage blieb er optimistisch. Republikanische Erfolge bei den Wahlen für den Kongress und die jeweilige State Legislature in Maine und Ohio im September und Oktober stärkten seine Zuversicht.Als am 7. November, dem Tag der Präsidentschaftswahl, die erste Auszählung ergab, dass New York und Indiana verloren waren und Tilden mit 184 zu 165 Wahlmännern führte, ging Hayes angesichts der demokratisch dominierten Südstaaten von einer Niederlage aus. Im New Yorker Hauptquartier des republikanischen Wahlkampfteams, das von Zachariah Chandler, dem Vorsitzenden des Republican National Committees geleitet wurde, zeigte die Analyse der Ergebnisse währenddessen, dass ein Sieg für Hayes weiterhin möglich war, wenn einige, noch nicht ausgezählte Bundesstaaten im Westen und im Süden an die Republikaner gingen. Telegramme mit entsprechenden Weisungen wurden daher an die Parteiführer vor Ort in Oregon, Nevada, South Carolina, Florida und Louisiana übermittelt. Am folgenden Tag berichteten einige Zeitungen von einem ungewissen Wahlausgang, andere verkündeten den Sieg Tildens. Am Abend des 8. November informierte William E. Chandler Hayes darüber, dass er vier der noch offenen Bundesstaaten gewonnen habe und somit trotz weniger Stimmen im Popular Vote im Electoral College einen Wahlmann mehr als Tilden habe, wodurch er gewählter Präsident der Vereinigten Staaten sei. Kurz darauf versammelte sich eine Menschenmenge vor seinem Haus in Columbus und feierte ihn; Hayes verwies in seiner Rede jedoch auf den noch unklaren Wahlausgang.
=== Umstrittener Wahlausgang und Kompromiss von 1877 ===
In den folgenden Tagen klärte sich die Frage nach dem Wahlausgang nicht. Alles hing an den Südstaaten Florida, Louisiana und South Carolina. Dort hatten Wahlleiterkomitees die Befugnis, fragwürdigen Auszählungsergebnissen die Anerkennung zu verweigern. Gleiches galt für Wahlresultate aus Countys, in denen Afroamerikaner oder frühere Anhänger der Union mit Gewalt von der Ausübung ihres Stimmrechts abgehalten worden waren. Beide Parteien entsandten daher Delegierte in die betreffenden Bundesstaaten, um dort die Arbeit der Komitees zu überwachen, wobei sich unter anderem Garfield und Sherman von der gewissenhaften Arbeit der Wahlleiter überzeugen konnten. In Louisiana strichen die Komitees die Ergebnisse einiger Parishes, in denen es offensichtlich war, dass Schwarze an der Wahl gehindert worden waren, so dass dieser Bundesstaat wie auch später Florida und South Carolina von den Demokraten an die Republikaner fiel. Hayes war danach davon überzeugt, dass er bei einer landesweit fairen Präsidentschaftswahl nicht nur die Mehrheit der Wahlmänner, sondern auch den Popular Vote gewonnen hätte. Dennoch untersagte er es den republikanischen Delegierten, Druck auf die Wahlleiter in den Südstaaten auszuüben, selbst wenn dies bedeutete, dass Tilden mittels Betrug und Gewalt in das Weiße Haus einziehen sollte.Als am 6. Dezember die Abstimmung im Electoral College anstand, kamen aus Florida, Louisiana und South Carolina jeweils zwei Delegationen von Wahlmännern: eine republikanische auf Grundlage des Entscheids der Wahlleiterkomitees und eine demokratische auf Basis der Erstauszählung. Auch die Zusammensetzung der Delegation aus Oregon war umstritten. Der Kongress stand vor der schwierigen Aufgabe, zu entscheiden, welche der fraglichen Wahlmännerstimmen zählten. Dies wurde dadurch erschwert, dass die amerikanische Verfassung für einen solchen Fall wenig Hilfestellung bot und sich das demokratisch kontrollierte Repräsentantenhaus und der mehrheitlich republikanische Senat in einer Pattsituation gegenüberstanden.Hayes, der nach wie vor an seinen Wahlsieg glaubte, reiste nicht nach Washington, sondern blieb in Ohio, um den Entscheid über das Wahlergebnis im Februar abzuwarten. Derweil wuchs die Unruhe in der Nation, Gerüchte über einen bewaffneten Konflikt und über Attentatspläne gegen Hayes machten die Runde. Im Januar schufen Senat und Repräsentantenhaus ein Wahlkomitee, das über das Ergebnis entscheiden sollte und nur von beiden Häusern gemeinsam überstimmt werden konnte. Es setzte sich aus jeweils sieben Demokraten und Republikanern aus Senat, Repräsentantenhaus und Obersten Gerichtshof zusammen. Als vermeintlich unabhängiges Gremienmitglied wurde Bundesrichter Joseph P. Bradley ausgewählt, der den Republikanern nahestand. Dennoch lehnten viele Republikaner sowie Hayes selbst diese Lösung ab, wobei er neben verfassungsrechtlichen Bedenken Vorbehalte gegen seinen innerparteilichen Gegner Conkling geltend machte, der Kommissionsmitglied war. Noch bevor dieser Ausschuss mit seiner Arbeit begann, führten Freunde von Hayes Gespräche mit einflussreichen Südstaatlern wie zum Beispiel Arthur St. Clair Colyar, um die Möglichkeiten für einen Kompromiss auszuloten. Hayes signalisierte, dass er in den Bereichen Bildung und Subvention von Infrastrukturprojekten zu Kompromissen bereit sei.
Anfang Februar akzeptierte die Kommission die von den Wahlleitern gemeldeten Wahlergebnisse aus den umstrittenen Bundesstaaten, wobei die Stimme von Bradley den Ausschlag gab. Um zu verhindern, dass die Demokraten mit einem Filibuster im Senat die Amtseinführung verzögerten, trafen sich Ende Februar Delegationen der beiden Parteien in einem Hotel in Washington. Die Verhandlungen, in die Hayes wahrscheinlich nicht direkt verwickelt war, führten schließlich zum sogenannten Kompromiss von 1877. Dieser sah vor, dass die Republikaner in Louisiana die umstrittene Wahl von Francis T. Nicholls zum Gouverneur anerkannten und die Besatzung von Louisiana und South Carolina durch Bundestruppen beendeten. Im Gegenzug sicherten die Südstaaten-Demokraten zu, die Bürger- und Wahlrechte der Afroamerikaner zu respektieren, wenn der Bund sich in diese Angelegenheit nicht länger einmischte. Am Morgen des 2. März 1877 wurden schließlich im Senat die Voten der Wahlmänner ausgezählt und Hayes Sieg mit einer Stimme Vorsprung festgestellt. Dieser Ausgang blieb umstritten – Teile der demokratischen Presse bezeichneten ihn bis zum Ende der Amtszeit von Hayes als den „großen Betrug“ und zweifelten Hayes’ Legitimität als Präsident an.
=== Präsident der Vereinigten Staaten (1877–1881) ===
Nach seinem Rücktritt als Gouverneur von Ohio traf Hayes am 2. März 1877 in der Hauptstadt ein und besuchte Grant im Weißen Haus. Um eine befürchtete Intervention der Demokraten zu verhindern, wurde Hayes auf Veranlassung Grants am 3. März 1877 im Weißen Hauses unter Ausschluss der Öffentlichkeit vom Obersten Richter Morrison R. Waite vereidigt. Erst zwei Tage später wurde die Vereidigung zum 19. Präsidenten in der Öffentlichkeit im Rahmen der Amtseinführung wiederholt, weil der 4. März ein Sonntag war. In der Antrittsrede wiederholte er im Wesentlichen die Punkte aus seiner Erklärung zur Annahme der Nominierung vom letzten Jahr. Hayes betonte die Bedeutung einer Befriedung in den Südstaaten und der rechtlichen Gleichstellung aller vor dem Gesetz. Neben einer Reform des Öffentlichen Dienstes sprach er sich für kostenlose Schulen und eine Fortführung der Hartgeldpolitik aus, nach der Papiergeld nur auf frei konvertierbarer Münzbasis akzeptabel sei.Hayes plante seinen Tagesablauf im Weißen Haus inklusive der Gebets- und Gymnastikzeiten minuziös durch. So setzte er die Kabinettssitzungen auf dienstags und freitags für jeweils zwei Stunden fest. Er verbannte auf Betreiben seiner Frau, einer überzeugten Methodistin, neben Karten- und Billiardspielen und Tanzen auch Alkohol aus dem Weißen Haus und wurde selbst ein Abstinenzler. Lucy Hayes wurde daraufhin zwar von der Woman’s Christian Temperance Union gefeiert aber von vielen als Lemonade Lucy verspottet. Ihrer allgemeinen Beliebtheit in der Bevölkerung tat dies jedoch keinen Abbruch. Als bleibendes Vermächtnis führte Lucy Hayes die Tradition des Ostereierkullerns im Garten des Weißen Hauses ein. Außerdem sorgte sie für eine Modernisierung der Inneneinrichtung, die unter anderem fließendes Wasser in den Badezimmern und ein Telefon sowie eine Schreibmaschine im Büro des Präsidenten umfasste, während Hayes Porträtbilder seiner Vorgänger aufkaufte und sie im Weißen Haus aufhängte. Das größte gesellschaftliche Ereignis im Weißen Haus während seiner Präsidentschaft war der silberne Hochzeitstag, den Hayes und seine Frau als erstes Präsidentenpaar dort feierten. Der Sommerhitze Washingtons entzog sich Hayes wie schon Buchanan und Lincoln abseits des Potomac-Tals in einem früheren Soldatenheim, dem heutigen President Lincoln and Soldiers’ Home National Monument.Anfang 1878 flammte die Debatte um das Ergebnis der vergangenen Präsidentschaftswahlen wieder auf, als ein Wahlvorstand zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil er die Stimmauszählung einiger Parishes nicht anerkannt hatte. Obwohl der oberste Gerichtshof von Louisiana das Urteil im März des gleichen Jahres kassierte, sah sich Hayes beschädigt. Noch schwerwiegender war der Vorstoß des demokratischen Repräsentanten Clarkson Nott Potter zwei Monate später. Seine vom Kongress verabschiedete Resolution führte zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses über betrügerische Machenschaften bei den Präsidentschaftswahlen in Louisiana und Florida. Gegenüber einem Bekannten äußerte Hayes in diesem Zusammenhang, dass er Tilden verhaften und hinrichten lassen werde, sollte er versuchen, ihn zu stürzen. Als ein Journalist der Philadelphia Times von diesem Gespräch berichtete, führte das zu einem Skandal. Die Potter-Kommission führte am Ende zu nichts, sondern schadete vielmehr den Demokraten: Als im Oktober bekannt wurde, dass ein Neffe Tildens versucht hatte, Wahlvorstände in den Südstaaten zu bestechen, erwähnte dies der Abschlussbericht der Kommission mit keinem Wort.Bei den Halbzeitwahlen zum 45. Kongress konnten die Republikaner im Norden zwar Gewinne verbuchen, doch der Süden festigte sich als demokratischer Block, der sogenannte Solid South. Sowohl Repräsentantenhaus als auch Senat waren nun in demokratischer Hand. Dennoch äußerte Hayes Zufriedenheit über den Wahlausgang, weil er vor allem die Stärke der Republikaner im Norden im Fokus hatte. Besondere Erleichterung verspürte er über die Niederlage des als Demagogen berüchtigten Benjamin Butler, der für die Greenback Party als Gouverneur von Massachusetts kandidiert hatte. Obwohl die Demokraten nun die Mehrheit in beiden Häusern hatten, unternahmen sie keine weiteren Versuche, die Legitimität von Hayes infrage zu stellen.
==== Kabinettsauswahl und Spoilssystem ====
Bei der Kabinettauswahl achtete Hayes darauf, keine Minister aus der Grant-Administration zu übernehmen. Ebenso wollte er keine Gegner vom Nominierungsparteitag oder Personen berufen, die ihm Parteigrößen auf Grundlage des Spoilssystems vorschlugen. Daher berücksichtigte er in seinem Kabinett vor allem Männer, die er als unabhängig wahrgenommen hatte sowie Freunde und Wahlkampfhelfer. So wurde William M. Evarts, der Johnson im Amtsenthebungsverfahren verteidigt hatte, Außenminister, während seine langjährigen Unterstützer und Freunde Sherman und Schurz, der zur Liberal Republican Party gewechselt war, das Finanz- beziehungsweise Innenministerium erhielten. George Washington McCrary, der eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Wahlkomitees im Kongress gespielt hatte, wies Hayes das Kriegsministerium zu, und als Geste an Indianas Senator Morton, der auf dem Nominierungsparteitag durch seinen Rücktritt die Kandidatenkür von Hayes ermöglicht hatte, setzte er den aus Indiana stammenden Richard W. Thompson zum Leiter des Marine-Ressorts ein. Um den nationalen Frieden zu stärken, plante er mit Joseph E. Johnston einen der bedeutendsten Befehlshaber der Konföderierten in sein Kabinett zu holen. Gegen dieses Vorhaben erhob sich jedoch so viel Protest, dass Hayes davon Abstand nahm, und David M. Key, einen Oberstleutnant der Confederate States Army, zum Postminister ernannte. Insbesondere die Berufungen von Evarts und Schurz, die er später als Minister am meisten wertschätzte und die neben Sherman den größten Einfluss auf ihn ausübten, riefen bei vielen Republikanern im Kongress, darunter Conkling und Blaine, Widerspruch hervor. Dadurch trübte sich Hayes’ Verhältnis zum Kongress bereits zu Beginn der Präsidentschaft, und er war für die Verabschiedung dieser Personalien auf die Unterstützung von Südstaaten-Senatoren angewiesen.Wegen seiner Ablehnung des Spoilssystems sah er von einer pauschalen Neubesetzung öffentlicher Ämter ab, sondern tat dies nur für freiwerdende Stellen. Eine davon ergab sich durch den Rücktritt von David Davis am Obersten Gerichtshof. Hayes schlug seinen Freund und Senator Matthews für diese Position vor, scheiterte damit jedoch im Senat. Dieser kreidete Matthews an, dass er vor dem Bürgerkrieg in einem Fall Anklage gegen einen Nordstaatler erhoben hatte, der Sklaven auf der Flucht geholfen hatte. Mehr Erfolg hatte Hayes im Oktober 1877, als er John Marshall Harlan mit Erfolg für den freien Richterposten im Supreme Court vorschlug. Dies stellte sich langfristig als seine beste Personalentscheidung dar, denn Harlan setzte sich in den über drei Jahrzehnten seiner Amtszeit für eine Stärkung der Bundesgewalt und Bürgerrechte sowie ein strengeres Vorgehen gegen die Monopole der Räuberbarone ein. Weitere von ihm vorgenommene Personalmaßnahmen waren unter anderem die Ernennung des afroamerikanischen Abolitionisten Frederick Douglass zum U. S. Marshal, James Russell Lowells zum Gesandten in Spanien, Bayard Taylors zum Gesandten im Deutschen Kaiserreich und Noyes’ zum Gesandten in Frankreich. Außerdem berief er John Hay, den früheren Privatsekretär von Lincoln, zum stellvertretenden Außenminister.
==== Südstaatenpolitik ====
Die größte Herausforderung für den neuen Präsidenten war die Frage nach den verbliebenen Bundestruppen in den Südstaaten, die in Louisiana und South Carolina standen. Sie hatten vor allem dem Schutz der republikanischen Landesregierungen gedient. In South Carolina und Louisiana war der Ausgang der Gouverneurswahlen von 1876 so umstritten, dass dort jeweils zwei konkurrierende Administrationen regierten, während die anderen Bundesstaaten bereits fest in demokratischer Hand waren. Noch im März 1877 bestellte Hayes daher den Republikaner Daniel Henry Chamberlain und den Demokraten Wade Hampton III. zu sich. Beide sahen sich als Sieger der umstrittenen Gouverneurswahlen in South Carolina vom letzten Jahr. Gegen das Versprechen Hamptons, die Bürger- und Wahlrechte der Afroamerikaner zu achten, und trotz der Warnungen Chamberlains sagte Hayes gemäß den Vereinbarungen des Kompromisses von 1877 einen Rückzug der Truppen vom South Carolina State House zu und besetzte außerdem ein Drittel aller Bundes-Dienstposten im Süden mit Demokraten. Dies führte dazu, dass viele Carpetbagger („Teppichtaschenträger“), das waren während der Reconstruction in den Süden gezogene Nordstaatler, ihre Stellung verloren. So waren es vor allem sie, die gemeinsam mit der Fraktion um Conkling den Präsidenten wegen dieser Personalpolitik angriffen. Chamberlain behielt mit seinem Pessimismus recht, denn bald nach der flächendeckenden Rückkehr der konservativen, sogenannten Bourbon-Demokraten an die Macht wurde die schwarze Bevölkerung durch Jim-Crow-Gesetze und Rassentrennung nach und nach ihrer Rechte beraubt, was einige Jahrzehnte später zur Great Migration („Große Wanderung“) in die Nordstaaten führte.Eine ähnliche Situation mit zwei konkurrierenden Gouverneuren wie in South Carolina hatte sich in Louisiana entwickelt. Der Republikaner Stephen B. Packard konnte sich mit der von ihm kontrollierten State Legislature nur mit Hilfe von Bundestruppen gegen den Demokraten Nicholls halten. Hayes setzte eine Kommission ein, die den Kongress von Louisiana schließlich dazu brachte, Nicholls als Gouverneur anzuerkennen. Wie im Falle South Carolinas erwies sich in Louisiana die Zusage der Demokraten, die Bürgerrechte der Afroamerikaner zu achten, ebenfalls als trügerisch. Am 24. April zog schließlich der letzte Unionssoldat aus den Südstaaten ab. Hayes Zufriedenheit über das friedliche Ende der Reconstruction wich bald Enttäuschung und Ernüchterung über die Lage der Schwarzen in den Südstaaten, wenngleich er sich auf zwei Reisen durch die Südstaaten im Herbst 1877 noch optimistisch hinsichtlich ihrer zukünftigen Situation zeigte. Bis Dezember 1878 hatte sich dies jedoch geändert, denn in seiner zweiten und im Jahr darauf dritten State of the Union Address („Ansprache zur Lage der Union“) thematisierte er die gebrochenen Versprechen vieler Südstaaten in dieser Frage und betonte seine Bereitschaft zur Durchsetzung des 14. und 15. Zusatzartikels.Sein Vorgehen in South Carolina und Louisiana stellte eine seiner umstrittensten Regierungsmaßnahmen dar. Laut dem Historiker James Ford Rhodes verlor Hayes durch diese liberale und versöhnliche Haltung binnen sechs Wochen nach Amtseinführung den Rückhalt seiner Partei. Zwar lobten einige Republikaner wie der Schriftsteller und Politiker Richard Henry Dana, Jr. die Südstaatenpolitik des Präsidenten, aber große Teile der Republikaner im Kongress reagierten empört auf den Rückzug und den vermeintlichen Verrat an Chamberlain und Packard. Zu diesen gehörte auch Wade, der im Jahr zuvor noch Hayes Nominierung auf dem Parteitag vorangetrieben hatte. Die Mehrheit der gemäßigten republikanischen Zeitungen hingegen begrüßten das Ende der Reconstruction und sahen somit den Konflikt mit den Südstaaten als endgültig gelöst. Hayes’ Biograph Hans L. Trefousse macht jedoch geltend, dass bereits Grant entschieden habe, die umstrittenen republikanischen Administrationen in Louisiana und South Carolina nicht mehr zu unterstützen. Außerdem sei die öffentliche Meinung im Norden gegen eine Fortführung des Militärregimes in diesen Bundesstaaten gewesen. Hayes habe so aus einer schwachen Verhandlungsposition heraus noch das Beste herausgeholt, wenngleich sein Glaube an die Versprechen der Demokraten bezüglich der afroamerikanischen Bürgerrechte naiv erscheine.
==== Verwaltungsreform ====
Ab Mitte April 1877 engagierte sich Hayes für eine Verwaltungsreform. Bereits im Monat zuvor hatte er Innenminister Schurz und Finanzminister Evarts damit beauftragt, Regeln für die Personalauswahl im öffentlichen Dienst zu entwickeln. Das Spoilssystem hatte mittlerweile so ein Eigenleben entwickelt, dass es das verfassungsgemäße Recht des Präsidenten zur Ämterbesetzung untergrub und diese Vollmacht praktisch bei den Senatoren lag. Mit diesen Reformbemühungen entfremdete Hayes sich noch weiter von seiner Partei. Eine von Sherman eingerichtete Kommission legte offen, dass das Zollamt in New York City, das vom späteren Präsidenten Chester A. Arthur geleitet wurde, völlig unter der Kontrolle von Conklings Parteimaschinerie stand. Hayes untersagte als Reaktion darauf im Juni 1877 allen Bundesbeamten, an der Organisation von Parteien, politischen Versammlungen und Wahlkämpfen mitzuwirken. Vor allem Schurz setzte diese Vorgabe in seinem Ressort durch, während der Parteivorsitzende der Republikaner von New York, Alonzo B. Cornell, sich weigerte, seinen Posten in der Zollstelle des New Yorker Hafens aufzugeben. Selbst als Hayes Arthur und Cornell explizit zum Rücktritt aufforderte, um an dieser besonders stark unter Ämterpatronage leidenden Behörde ein Exempel zu statuieren, blieben sie auf ihren Posten. Er ließ es daher auf die Kraftprobe mit Conkling ankommen, nominierte ihre Nachfolger, darunter mit Theodore Roosevelt den Vater des späteren Präsidenten Theodore Roosevelt, Jr. und brachte die Sache vor den Senat.Im September musste der Parteiflügel um Hayes auf den Parteitagen in New York und Ohio Niederlagen gegen die Parteimaschinerie um Conkling hinnehmen. So wurde eine Resolution zur Unterstützung des Präsidenten abgelehnt und das Recht von Beamten bekräftigt, sich in der Politik zu engagieren. Als Mitte Oktober der 45. Kongress der Vereinigten Staaten mit der ersten Sitzungsperiode begann, bewilligte er zwar die von Hayes gewünschte Teilnahme der Vereinigten Staaten an der Pariser Weltausstellung und an einem internationalen Gefängnis-Kongress in Schweden-Norwegen, aber das Repräsentantenhaus wählte entgegen anderslautender Zusagen an Garfield mit Samuel J. Randall einen Demokraten zum Sprecher des Repräsentantenhauses. Außerdem widerrief der Kongress mit Zustimmung einiger Republikaner zum Unmut des Weißen Hauses den Specie Payment Resumption Act („Gesetz zur Wiedereinführung von Münzgeld“) von 1875, der die Rückkehr zum Goldstandard und ein Ende der inflationären Geldpolitik festgesetzt hatte, und führte wieder Silbermünzen als Zahlungsmittel ein. Ein republikanischer Caucus führte den Präsidenten vor, indem es ein Komitee vorschlug, dass Hayes auf Fehler in seiner Regierungsführung aufmerksam machen sollte.Obwohl der Präsident in der Bevölkerung weiterhin populär war, er im Süden für das Ende der Besatzungsregimes gepriesen wurde und seine erste State of the Union Address vom 3. Dezember 1877 von vielen Seiten mit Beifall bedacht wurde, setzte der Kongress unbeirrt seinen Konfrontationskurs fort. So blockierte er die von Hayes nominierten Nachfolger für Cornell und Arthur und verabschiedete im Februar 1878 den Silver Bill („Silber-Gesetz“) beziehungsweise Bland-Allison Act. Dieses Gesetz brachte Silbermünzen in Umlauf, deren Materialwert niedriger war als ihr Nennwert. Das präsidiale Veto überstimmte der Kongress noch am gleichen Tag. Es blieb das einzige der 13 Vetos von Hayes, das scheiterte. Die Entfremdung der Partei von ihrem Präsidenten verdeutlichte ein Manifest des Republikaners William E. Chandler aus New Hampshire, der den Kompromiss von 1877 als einen gewissenlosen Handel brandmarkte, mit dem Hayes sich den Einzug in das Weiße Haus gesichert habe. Allerdings distanzierte sich die State Legislature von ihrem Landeskind und sicherte Hayes ihre Unterstützung zu. Im Januar 1878 wurden sogar Gerüchte von einem möglichen Impeachment gegen den Präsidenten laut.
Nachdem sich der Kongress im Juni 1878 in die Sitzungspause verabschiedet hatte, entließ Hayes unter Beachtung des Tenure of Office Acts Cornell und Arthur. Auch dieses Mal brauchte er für die nominierten Nachfolger die Zustimmung des Kongresses und musste mit der erbitterten Opposition Conklings rechnen, der den Präsidenten mittlerweile als „Rutherfraud“ (Fraud bedeutet übersetzt „Betrug“ oder „Betrüger“) verhöhnte. Hayes übermittelte dem Senat eine Botschaft, in der er auf die New Yorker Parteimaschinerie hinwies, welche die Posten in der Zollbehörde kontrollierte. So werde eine Besetzung der Ämter mit dazu befähigtem Personal verhindert und letztendlich die Geschäftstüchtigkeit der Behörde beeinträchtigt. Im Februar 1879 folgte der Senat mehrheitlich der Argumentation des Präsidenten und bestätigte die Personalie. Dies stellte einen der größten Triumphe der Amtszeit von Hayes dar, zumal sich in der Folge die New Yorker Zollbehörde durch größere Effizienz und ein besseres Management auszeichnete. Kurz zuvor hatte er bereits einen politischen Erfolg verzeichnen können, weil die von ihm forcierte Wiedereinführung des Münzgelds am 1. Januar nicht zum befürchteten Ansturm auf die Banken geführt hatte. Von den knapp 350 Millionen US-Dollar, die als Greenbacks in Umlauf waren, wurden lediglich 130.000 US-Dollar von ihren Besitzern gegen Münzen getauscht. In der zweiten Hälfte seiner Präsidentschaft verbesserte sich Hayes’ Verhältnis zu den Republikanern wieder. Gelegentlich musste er Kritik aus dem Senat einstecken, weil er selbst Freunde und politische Verbündete in Ämter hievte. Im Falle des Sohns von Morton, den Hayes in der Zollbehörde von San Francisco platzieren wollte, verweigerte der Senat die Zustimmung.
==== Konflikt um die Zuweisung der Bundesmittel ====
Die Demokraten blockierten im 45. Kongress die Zuweisung von Haushaltsmitteln durch die Verabschiedung von Zusatzklauseln im Repräsentantenhaus. Damit wollten sie die gesetzliche Durchsetzung des 13., 14. und 15. Zusatzartikels verhindern. Nachdem sie bei den Halbzeitwahlen 1878 auch den Senat gewonnen hatten, konnte sie nur noch Hayes in ihrem Vorhaben aufhalten. Er berief im März 1879 den 46. Kongress zu einer Sondersitzung, um die ausstehende Zuweisung der Bundesmittel für Legislative, Exekutive und Judikative abzuschließen. Als der Kongress den Haushalt für die Streitkräfte unter den Vorbehalt stellte, dass Bundestruppen kein Recht mehr zur Sicherung von Wahlen eingeräumt wurde, legte er sein Veto ein, das die Abstimmung in beiden Häusern überstand. Im Mai blockierte Hayes mit Erfolg ein Gesetz, das dem Militär explizit jegliche Intervention in den Wahlprozess untersagte. In den nächsten Wochen folgten weitere Zusatzklauseln, die den United States Marshals Service und andere Bundesbehörden von der Wahlaufsicht ausschließen sollten. Keiner dieser Vorstöße des Kongresses überstand das präsidiale Veto.Als sich die beiden Häuser im Juli 1879 vertagten, hatte Hayes stark an Ansehen gewonnen und das Verhältnis zu seiner Partei deutlich verbessert. Viele Republikaner und politische Beobachter bedauerten nun, dass er für keine zweite Amtszeit kandidieren wollte. Hayes bekräftigte diesen Entschluss während seiner Reden auf einer spätsommerlichen Rundreise, die ihn bis nach Kansas und Fort Leavenworth führte, wo er General Pope traf. Weitere Stationen auf dieser Reise waren das frühere Wohnhaus von Lincoln in Springfield, die heutige Lincoln Home National Historic Site, sowie das Grab seines berühmten Amtsvorgängers. Bei den Wahlen in den Bundesstaaten im Herbst 1879 schnitten die Republikaner gut ab, was allgemein als eine Bestätigung der Vetopolitik des Präsidenten angesehen wurde. Besonders erfreut war Hayes über den Sieg von Charles Foster bei den Gouverneurswahlen in Ohio. In New York wurde zwar Cornell zum Gouverneur gewählt, aber mit Lucius Robinson besiegte er einen Protegé Conklings. Trotz des Misserfolgs bei den Wahlen im Herbst 1879 setzten die Demokraten ihre Blockade der Bundesmittelzuweisungen mit Zusatzklauseln im Mai und Juni 1880 fort. Ihre Absicht blieb, Bundesbehörden von den Wahlen in den Bundesstaaten fernzuhalten. Wie 1879 verhinderte Hayes mit seinem Veto dieses Unterfangen.
==== Arbeitskämpfe ====
Ab dem Juni 1877 kam es in 14 Bundesstaaten zu Eisenbahnerstreiks an den wichtigsten Strecken. Dieser als Großer Eisenbahnstreik von 1877 bekannte Arbeitskampf war der größte seiner Art in der amerikanischen Geschichte. Die Streikenden legten aus Protest gegen fortgesetzte, rezessionsbedingte Lohnkürzungen in Höhe von bis zu 10 % ihre Arbeit nieder. Gemeinsam mit Bergarbeitern, die sich mit ihnen solidarisierten, besetzten sie Bahnhöfe und Lokomotiven. Auf dem Höhepunkt des Arbeitskampfes kontrollierten mehr als 100.000 Streikende knapp 10.000 Kilometer Eisenbahnstrecken. In Pittsburgh, Chicago, St. Louis und anderen Städten brachen zwischen den Arbeitern und den Milizen der Bundesstaaten so schwere Kämpfe aus, dass neun Gouverneure Mitte Juli um Unterstützung durch Truppen des Bundes baten. Diese wurden erstmals in ihrer Geschichte gegen Streikende eingesetzt und konnte die Situation ohne Blutvergießen beruhigen, auch weil sie keine Streikbrecher unterstützten. Die öffentliche Meinung sympathisierte überwiegend mit der Sache der Arbeiter und einige Pressestimmen kritisierten Hayes für sein Eingreifen. Bis Ende Juli setzten die Eigentümer der Eisenbahngesellschaften ein Ende des Streiks durch, ohne irgendwelche Konzessionen zu machen. Der Präsident ergriff daraufhin für die Arbeiter Partei und betonte, er habe die Bundestruppen eingesetzt, um die Gewalt zu beenden und nicht um die Unternehmer zu unterstützen.
==== Indianerpolitik ====
In der Indianerpolitik versuchte Hayes, die indigenen Völker gerechter zu behandeln als frühere Administrationen und die jahrhundertelangen Kämpfe zu beenden. Die Verantwortung für dieses Feld übertrug er Schurz, der eine Übernahme des Bureau of Indian Affairs („Amt für indianische Angelegenheiten“) durch das Kriegsministerium und somit weiter ausufernde militärische Gewalt gegen die Ureinwohner verhinderte. Hayes und Schurz glaubten wie viele reformorientierte Politiker dieser Zeit, dass die Indianer ihre Lebensweise an die der Weißen anpassen müssten, um ihre Integration in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten zu ermöglichen. Es gab daher Versuche, ihnen Flächen zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Dennoch konnte Schurz den Ausbruch einiger Indianerkriege nicht verhindern. So wehrten sich 1877 die Nez Percé unter Chief Joseph gegen ihre Umsiedlung. Der Nez-Percé-Krieg endete mit ihrer Niederlage nahe der kanadischen Grenze gegen General Oliver Otis Howard. Weitere Konflikte entstanden mit den Bannock und den Nördlichen Cheyenne.Im September 1879 erhoben sich die Ute, töteten einen Beamten des Bureau of Indian Affairs und nahmen dessen Frau und Kinder als Geiseln. In Verhandlungen mit Häuptling Ouray konnte Schurz die Situation gewaltfrei lösen. Als immer mehr weiße Siedler in das Indianerterritorium, das heutige Oklahoma, vordrangen, versuchte Hayes dem durch mehrere Proklamationen einen Riegel vorzuschieben. Zum Ende seiner Amtszeit wurde vor allem die Behandlung der Ponca zum Problem. Wegen einer fehlerhaften Landzuweisung an die Sioux waren diese auf einem zweiten Pfad der Tränen aus ihrem Siedlungsgebiet in das Indianerterritorium deportiert worden. Unter der Führung von Standing Bear versuchten einige von ihnen, in ihre Heimat zurückzukehren, aber wurden von der Armee in Haft genommen. Auch als sie auf Initiative von reformorientierten Politikern auf freien Fuß gesetzt wurden, blockierte Schurz ihre Heimkehr. Hayes setzte eine Untersuchungskommission ein, die einen Kompromissvorschlag erarbeitete, laut dem die Poncas zu entschädigen und ihnen der Rückweg nach Nebraska zu ermöglichen sei. Als der Präsident diese von ihm unterstützte Empfehlung dem Kongress präsentierte, beendete er seine Rede mit einer Entschuldigung bei den Poncas und übernahm für das ihnen zugefügte Unrecht die Verantwortung.
==== Einwanderungspolitik ====
Aufgrund der starken fremdenfeindlichen Stimmung gegen Sinoamerikaner insbesondere in den Großstädten an der Westküste, wo sie wegen ihrer niedrigen Löhne von vielen als Konkurrenz gesehen wurden, verabschiedete der Kongress ein restriktives Zuwanderungsgesetz. Weil diese Resolution gegen den Geist des Burlingame Treaty („Burlingame-Abkommen“) mit dem Kaiserreich China verstieß, der für die Einwanderung das Meistbegünstigungsprinzip vorsah, verhinderte sie Hayes Anfang 1879 mit einem Veto. Trotz des auf ihn ausgeübten Drucks machte er geltend, dass für einen Vertragsbruch keine hinreichenden Gründe vorlagen. Außerdem warnte Hayes vor den möglichen negativen Folgen dieser scharfen Gesetzgebung für amerikanische Geschäftsleute und Missionare in China. Außerhalb des amerikanischen Westens erhielt Hayes für dieses Vorgehen viel Lob. Der Präsident richtete unter der Leitung von James Burrill Angell eine Kommission ein, die einen neuen Handelsvertrag mit Peking aushandelte. Der neue Vertragstext von November 1880 erlaubte den Vereinigten Staaten, die chinesische Zuwanderung zu begrenzen, was dem Chinese Exclusion Act von 1882 die Bahn bereitete.
==== Außenpolitik ====
In Folge der gewaltsamen Machtübernahme von Porfirio Díaz in Mexiko, den Hayes nicht als legitimen Präsidenten anerkannte, breitete sich Sorge um die Sicherheit im Grenzgebiet aus. Nachdem McCrary General Edward Otho Cresap Ord erlaubte, marodierende Banden bis nach Mexiko hinein zu verfolgen, wurde Hayes vorgeworfen, dass er einen Krieg vom Zaun brechen wollte. Durch Verhandlungen beruhigte sich die Situation an der Grenze und im Frühjahr 1878 erkannte Washington Díaz als mexikanischen Präsidenten an. Im November 1878 schlichtete Hayes den Grenzdisput zwischen Argentinien und Paraguay nach dem Tripel-Allianz-Krieg. Dabei sprach er das Gebiet zwischen Río Verde und Río Pilcomayo Paraguay zu. Aus Dankbarkeit benannte Asunción ein Departamento, das Departamento Presidente Hayes, sowie dessen Hauptstadt Villa Hayes nach dem amerikanischen Präsidenten. Außerdem veranlasste Hayes die Auszahlung der letzten offenen Beträge aus dem Schiedsspruch zur Alabamafrage an das Vereinigte Königreich und etablierte insgesamt gute Beziehungen zu allen europäischen Großmächten.In Hayes’ zweiter Amtshälfte stand außenpolitisch die Kanalfrage in Mittelamerika im Fokus, weil mit dem Franzosen Ferdinand de Lesseps der Erbauer des Sueskanals in der Region ein Unternehmen gegründet hatte, das die Verbindung von Karibischem Meer und Pazifik über einen Wasserstraße zum Ziel hatte. Der Präsident sah dies als eine europäische Einmischung in die westliche Hemisphäre und dementsprechend als eine Verletzung der Monroe-Doktrin. Im Januar 1880 beorderte er zwei Kriegsschiffe an den Isthmus von Panama. Mit dem Kabinett war er sich einig, dass ein transozeanischer Kanal in Mittelamerika in jedem Fall unter Kontrolle der Vereinigten Staaten zu stehen habe. De Lesseps berief daraufhin einige Amerikaner in den Unternehmensvorstand und bot dem Marineminister Thompson den Vorsitz an. Zur Verärgerung von Hayes nahm dieser das Angebot an und wurde in der Folge vom Präsidenten zum Rücktritt aus dem Kabinett aufgefordert. Zu Thompsons Nachfolger ernannte der Präsident Anfang 1881 Nathan Goff.Der amerikanische Schiffsbauer William Henry Webb hatte sich in den 1870er Jahren in Washington für Samoa als wichtigen Hafen für eine geplante Linie zwischen San Francisco und Australien starkgemacht und von Grant in beschränktem Umfang Unterstützung erhalten. Eine Anfrage Samoas, das eine Annexion durch das Vereinigte Königreich fürchtete, nach Protektion durch die Vereinigten Staaten lehnte Hayes Ende 1877 ab. Jedoch wurde im Januar 1878 ein bilateraler Freundschafts- und Handelsvertrag geschlossen, der die Erlaubnis zum Bau eines Stützpunktes für die United States Navy in Pago Pago beinhaltete. Im folgenden Jahr entsandte Hayes die USS Lackawanna, um Vermessungen durchzuführen und die Vertragsbedingungen zu überwachen. In Partnerschaft mit dem Deutschen Kaiserreich und Großbritannien wurde ein loses Drei-Mächte-Protektorat über die Inselgruppe gebildet.
==== Der Fall Johnson Chesnut Whittaker ====
Johnson Chesnut Whittaker war der erste afroamerikanische Rekrut, der an der Militärakademie West Point aufgenommen worden war. Hier wurde er von den anderen Soldaten mit Duldung des Schuldirektors General John McAllister Schofield schikaniert und geächtet. Am 5. April 1880 wurde er nachts attackiert, verstümmelt und am Morgen gefesselt aufgefunden. Die Führung West Points schenkte seiner Aussage keinen Glauben und warf ihm vor, die Situation gestellt zu haben. Der Vorfall erfuhr große Aufmerksamkeit in der Presse. Hayes und sein Kabinett stellten im folgenden Militärtribunal Whittaker den ehemaligen Kongressabgeordneten Martin I. Townsend als Verteidiger. Dennoch sprachen die Militärrichter Whittaker Ende Mai 1880 schuldig. Der Präsident sah die Verantwortung für das Mobbing gegen Whittaker weniger bei den Kadetten als bei der Institution an sich und ersetzte Schofield im Dezember 1880 durch General Oliver Otis Howard. Auf dessen Empfehlung hin ordnete Hayes eine erneute Untersuchung des Falls an und sorgte dafür, dass eine Mehrheit im Tribunal nicht aus West-Point-Absolventen bestand. Er hatte das Weiße Haus schon verlassen, als das Militärgericht Whittaker im Frühling 1881 erneut für schuldig befand.
=== Präsidentschaftswahlen 1880 ===
Wie angekündigt, trat Hayes nicht für eine zweite Amtszeit an, sondern unterstützte die Kandidatur von Finanzminister Sherman. Auf der National Convention im Juni 1880 in Chicago galt Ex-Präsident Grant als Favorit, der vom Parteiflügel um Conkling protegiert wurde. Letztendlich vereinigten sich die Gegner Grants hinter dem Außenseiter Garfield und bereiteten somit dessen Präsidentschaftskandidatur den Boden. Um die Fraktion Conklings zu beschwichtigen, wurde Arthur als Running Mate nominiert. Obwohl Sherman keinen Erfolg hatte, war Hayes mit dem Ausgang zufrieden, denn zum einen wurde auf dem Parteitag die Politik seiner Administration gebilligt, zum anderen hatte der Conkling-Flügel eine Niederlage einstecken müssen. Gleichfalls mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, dass bei den Demokraten Tilden auf dem Nominierungsparteitag scheiterte und stattdessen General Winfield Scott Hancock der Gegenkandidat von Garfield wurde.Während der Endphase des Wahlkampfes befand sich Hayes auf einer seiner vielen Reisen. Diese Tour stellte die weiteste seiner Amtszeit dar und führte ihn als ersten Präsidenten überhaupt an die Westküste der Vereinigten Staaten. Stationen waren unter anderem San Francisco, Portland, Seattle und Sacramento. Als er von dieser Unternehmung zurückkehrte, war die Wahl bereits gelaufen. Dieses Mal war der Wahlausgang unumstritten und Garfield hatte beim Popular Vote und bei den Wahlmännern die Nase vorn. Viele Beobachter sahen in diesem Erfolg der Republikaner eine Bestätigung der von Hayes verfolgten Politik. Hayes stand in engem Kontakt zu seinem Nachfolger und sie kooperierten soviel wie möglich, zum Beispiel in Personalfragen, um einen bruchfreien Machttransfer zu ermöglichen. So setzte Garfield als Präsident die Berufung von Matthews an den Obersten Gerichtshof durch, woran Hayes noch gescheitert war, weil der Senat seinem Freund die Anwaltstätigkeit für große Eisenbahnunternehmen vorgeworfen hatte. Zu einer Aufrechterhaltung des Alkoholverbots im Weißen Haus konnte Hayes seinen Nachfolger jedoch nicht bewegen. Im Dezember 1880 nominierte Hayes noch als eine letzte wichtige Personalentscheidung William Burnham Woods für den Obersten Gerichtshof. Er kam dabei der allgemeinen Stimmung nach, dass ein Richter aus den Südstaaten an den Supreme Court berufen werden sollte, denn Woods war ein Carpetbagger aus Alabama. In einem Interview mit The New York Times wenige Tage vor der Amtsübergabe stellte er als die drei größten Leistungen seiner Präsidentschaft das Ende der Besatzung der Südstaaten, die Verwaltungsreform und die Wiedereinführung des Münzgelds heraus.
=== Elder Statesman ===
Unmittelbar nach der Amtseinführung seines Nachfolgers machte sich Hayes mit seiner Familie auf den Weg nach Spiegel Grove. Nahe Baltimore hatte ihr Zug einen Unfall, bei dem drei Menschen starben und mehrere verletzt wurden. Hayes seine Familie blieben unverletzt und leisteten Erste Hilfe.
Beruflich engagierte sich Hayes nun im Immobiliengeschäft und als Direktor der First National Bank von Fremont. Außerdem war er Treuhänder beziehungsweise Vorstandsmitglied bei mehreren Bildungseinrichtungen und Stiftungen wie zum Beispiel der Case Western Reserve University, der Ohio Wesleyan University und Peabody Foundation. Während seines Ruhestands erweiterte er Spiegel Grove und modernisierte die Einrichtung. Ein wichtiges Anliegen war Hayes seine Bibliothek, die am Ende mehr als 5.000 Bücher umfasste. Er blieb der Politik verbunden und korrespondierte regelmäßig mit seinem Nachfolger, dessen Politik er größtenteils guthieß. Als Garfield gleich nach Amtsantritt eine Ermittlung im Star-Route-Skandal einleitete, die betrügerische Machenschaften im United States Postal Service während der Hayes-Administration zum Inhalt hatte, sah Hayes sich kurzzeitig durch seine früheren Gegner einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, gegen die er sich energisch zur Wehr setzte. Der Kongressausschuss stellte jedoch bald fest, dass Hayes in keiner Form in diese Affäre verwickelt war.Nach dem Mordanschlag auf Garfield im Juli 1881 war Hayes besorgt um die Einheit der Partei, weil mit Vizepräsident Arthur ein Mann Conklings zur Nachfolge anstand. Er besuchte die Beerdigungszeremonien für seinen Nachfolger in Washington und später in Cincinnati. Obwohl er sich später mit Arthurs Amtsführung zufrieden zeigte, der unter andere das von Pendleton initiierte Verwaltungsreformgesetz von 1883 in Kraft setzte, sah er die Zukunft der Republikaner durch den Tod Garfields für lange Zeit immer noch als unsicher an. Außer Bildung, die seiner Meinung nach mehr praktisch, also am späteren Berufsleben orientiert, sein sollte, und Erziehung umfasste sein Engagement als elder statesman die Bürgerrechte für Afroamerikaner, die gerechtere Verteilung des Wohlstands und die Reform von Verwaltung und Gefängnissystem. Entsprechend trat Hayes immer mehr Organisationen bei, wobei er die Arbeit und Zusammenkünfte der Veteranenverbände aus dem Bürgerkrieg am meisten schätzte. Über die Tätigkeit im Slater Fund, der die Ausbildung von Schwarzen in den Südstaaten unterstützte, wurde er ein persönlicher Förderer von W.E.B. Du Bois. Hayes war davon überzeugt, dass sich die prekäre bürgerrechtliche Lage der Schwarzen im Süden vor allem dadurch verbessern ließ, dass sie eine bessere Ausbildung erhielten. Sein aufrichtiges Interesse an ihrer Sache zeigte sich, als er 1883 Harlan zu seinem Minderheitenvotum am Obersten Gerichtshof gratulierte, mit dem dieser sich gegen die Aufhebung des Civil Rights Act von 1875 („Bürgerrechtsgesetz von 1875“) durch seine Amtskollegen ausgesprochen hatte. Neben all diesen Projekten ging Hayes ausgiebig seiner Leidenschaft für das Reisen nach und setzte seine Ahnenforschung fort. Sein generelles Interesse an Geschichte führte dazu, dass er der American Historical Association unmittelbar nach ihrer Gründung im Jahr 1884 beitrat.Hayes’ Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit sticht hervor, weil im Gilded Age der Laissez-faire-Liberalismus das dominierende wirtschaftspolitische Leitbild war und einige extreme Vertreter sogar das evolutionstheoretische Prinzip vom Survival of the Fittest als Zielvorstellung postulierten. Er sah die zunehmende Etablierung einer Geldaristokratie, deren Angehörige nicht durch eigene Leistung, sondern durch Erbe zu beträchtlichem Vermögen gelangten, sehr kritisch und befürwortete deshalb höhere Steuern und Höchstsätze bei Erbfällen. Trotzdem stand er wie die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Meinung hinter der gewaltsamen Niederschlagung der Haymarket Riots im Mai 1886. Die Initiative des demokratischen Präsidenten Grover Cleveland, dem er nach anfänglicher Skepsis nach einem persönlichen Treffen mit Wohlwollen begegnete, durch die Bildung einer entsprechenden Kommission zwischen Arbeitern und Unternehmern zu vermitteln, begrüßte er. Nach einer Begegnung mit dem Großunternehmer Cornelius Vanderbilt hielt er in seinem Tagebuch in Abwandlung von Lincolns Gettysburg-Rede fest, dass Amerika sich hin zu einer „Regierung der Reichen, durch die Reichen und für die Reichen“ bewegte.Ungeachtet seiner Sympathien für Cleveland, stand er nach wie vor zu den Republikanern und unterstützte Benjamin Harrison bei der Präsidentschaftswahl 1888 sowie McKinley bei den Gouverneurswahlen von Ohio 1892. Davon überzeugt, dass er nach seiner Amtszeit eine prosperierende und geeinigte Nation sowie eine gestärkte Partei hinterlassen habe, sammelte er in seinem Tagebuch positive Referenzen der öffentlichen Meinung zu seiner Präsidentschaft. Insbesondere die lobende Erwähnung in den Memoiren Grants erfreute ihn. Die regelmäßig wiederkehrenden Vorwürfe, er habe die Wahl von 1876 „gestohlen“, konterte er mit dem Hinweis auf den 15. Zusatzartikel, der in den betreffenden Südstaaten verletzt worden sei, und den deutlichen Wahlerfolg der Republikaner vier Jahre später.
Lucy litt im Alter verstärkt an Rheumatismus und hatte im Juni 1889 einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie noch am 25. desselben Monats starb. Tief getroffen von diesem Verlust, suchte Hayes sich danach durch umtriebige Aktivität abzulenken, ohne sich auf eine Sache konzentrieren zu können. Mit seiner Tochter Fanny unternahm er 1890 eine Reise nach Bermuda, die ihm willkommene Zerstreuung verschaffte. Hayes, der nun gelegentlich Opfer von Schwindelanfällen wurde, erlitt zum Jahresanfang 1893 auf dem Rückweg von Cleveland einen Herzinfarkt. Er erreichte noch Spiegel Grove, wo er kurze Zeit später am 17. Januar in seinem Bett starb. Die öffentliche Beerdigungsfeier vier Tage später wurde vom gewählten Präsidenten Cleveland, Ministern aus dem Kabinett Benjamin Harrison sowie Gouverneur McKinley besucht. Er wurde an der Seite seiner Frau auf dem Oakwood Cemetery beigesetzt.
== Persönlichkeit ==
In vielerlei Hinsicht war Hayes vor allem auf seine militärischen Leistungen im Sezessionskrieg und weniger auf seine politischen Errungenschaften als Präsident stolz. Nicht von ungefähr betitelte Ari Hoogenboom daher seine Hayes-Biographie Warrior and President („Krieger und Präsident“). Hayes war ein ausgesprochener Familienmensch, der sich im Kreise seiner Liebsten am wohlsten fühlte. Die Heirat mit Lucy betrachtete er immer als das glücklichste Ereignis in seinem Leben. Außerdem verhielt er sich Freunden gegenüber loyal und verschaffte einigen von ihnen Posten im öffentlichen Dienst. Obwohl er kein Angehöriger einer Konfession war, besuchte er jeden Sonntag den Gottesdienst und war ein gläubiger Christ. So finanzierte er den Bau einer methodistischen Kirche in Fremont und ihre Neuerrichtung, als sie 1888 abgebrannt war. In Konfessionsfragen hatte er keine Vorurteile und sprach auch vor Versammlungen der römisch-katholischen Kirchengemeinde. Anders als viele seiner Landsleute war er frei von Antisemitismus, der zu dieser Zeit besonders virulent war. Obwohl er ein Anhänger der Temperenzbewegung war, lehnte er die Einführung einer Prohibition ab. Seiner Überzeugung nach sollte die Bevölkerung durch Erziehung, Religion und persönliche Vorbilder zur Abstinenz bekehrt werden.Hayes war ein Intellektueller, der sich mit philosophischen Fragen beschäftigte. Sehr belesen, kannte er die Werke von William Shakespeare, Mark Twain, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, George Gordon Byron und vielen anderen. Den größten Einfluss übten auf ihn die Bücher Emersons aus. Seine Lebenseinstellung war insgesamt optimistisch und aufgeschlossen. So hegte er keinen persönlichen Groll gegen frühere Konföderierte. Schon in seiner Jugend zeigte Hayes eine ausgeprägte Selbstsicherheit, die er als Anwalt, Offizier und Politiker beibehielt.
== Nachleben ==
=== Historische Bewertung ===
Die Korrespondenz und Aufzeichnungen Hayes’ gaben Charles R. Williams (1922–1926) und Harry T. Williams (1969) heraus. Eine umfangreiche Quellensammlung beherbergt die Präsidentenbibliothek im Rutherford B. Hayes Presidential Center, die eine der ältesten ihrer Art ist. Laut der Historikerin Ulrike Skorsetz gilt die Biographie von Harry Barnard (1954), die sich mehr auf die Persönlichkeit von Hayes als auf sein politisches Handeln konzentriert, nach wie vor als die beste. Als bedeutsame Bücher über seine Präsidentschaft führt sie Kenneth E. Davison (1972) sowie Ari Hogenboom (1988 und 1995) an, der bei einer positiven Grundhaltung das Leben Hayes’ mit großer Detailtiefe nachzeichne. Seit 1976 veröffentlicht das Rutherford B. Hayes Presidential Center vierteljährlich die Zeitschrift Hayes Historic Journal: A Journal of the Gilded Age.Hayes bleibt als Präsident vor allem dafür in Erinnerung, dass er die Reconstruction endgültig beendete, ohne die sozialen und politischen Spannungen zwischen Nord und Süd beruhigt zu haben. Positiv ist laut Skorsetz zu beurteilen, dass nach den krisengeschüttelten Präsidentschaften von Johnson und Grant wieder mehr Ruhe in das Weiße Haus einkehrte und eine Phase wirtschaftlicher Erholung ihren Anfang nahm. Weil er gegen einen demokratisch kontrollierten Kongress regieren musste, festigte Hayes die Befugnisse des Präsidenten, womit er eine Basis für spätere Umstrukturierungen im politischen System Amerikas setzte. In den historischen Expertenrankings aller Präsidenten nimmt er einen mittleren Platz ein. Skorsetz sieht die wesentliche Errungenschaft von Hayes darin, dass er die Fähigkeit gehabt habe, traditionelle und moderne Werte miteinander zu verbinden und in der Öffentlichkeit dafür ein Bewusstsein zu wecken.Laut Hoogenboom stärkte Hayes das Amt des Präsidenten, dessen Bedeutung in den Jahrzehnten zuvor durch den Einfluss der Whig-Ideologie, die den Kongress als das eigentliche Machtzentrum ansah, abgenommen hatte. Er beriet sich zwar in allen möglichen Fragen mit seinem Kabinett, traf am Ende aber selbst die Entscheidung, auch gegen widerspenstige Ressortleiter. Anders als Lincoln folgte er bei der Besetzung öffentlicher Ämter nicht dem Kongress und gab seinen Ministern keine freie Hand in ihrem Geschäftsbereich. Im Kampf mit dem Kapitol gegen dessen Ämterpatronage und für eine Förderung der Bildung durch den Bund hatte er John Quincy Adams zum Vorbild und am Ende mehr Erfolg als dieser. Hayes gelang es, selbst die politischen Richtlinien festzulegen und in dieser Hinsicht nicht nur auf den Kongress zu reagieren. Seine Amtsführung stellt daher einen Schritt in Richtung der modernen Präsidenten dar. Dazu gehört auch, dass er, wie im Konflikt um die Zuweisung der Bundesmittel geschehen, von seiner gesetzgeberischen Gewalt in Form des Vetorechts Gebrauch machte, vor allem wenn er die öffentliche Meinung hinter sich wusste. In diesem Zusammenhang nutzte er im Vorgriff auf Theodore Roosevelt sein Amt als eine Rednertribüne und reiste während seiner Amtszeit so viel wie keiner seiner Vorgänger. Sein soziales Engagement als Ex-Präsident wurde erst wieder von Jimmy Carter erreicht.Ferner macht Hoogenboom geltend, dass kaum ein Präsident bei späteren Historikern einen größeren Ansehensverlust zu verzeichnen hatte als Hayes. Während die meisten seiner Zeitgenossen seine Amtsführung positiv beurteilten, selbst frühere scharfe Kritiker wie Henry Adams, zeichnete die Geschichtswissenschaft vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein negatives Bild dieser Präsidentschaft. Autoren wie Eric Foner (1988) und William Gillette (1979) aber auch W. E. B. Du Bois (1935) kritisierten insbesondere die Südstaatenpolitik der Hayes-Administration mit ihren Zugeständnissen an die Weißen, wobei sie vernachlässigen, dass nach der Krise von 1873 für die Bürger wirtschaftliche Fragen vorrangig und die öffentliche Meinung sowie eine Mehrheit im Kongress gegen eine Fortführung der Militärbesatzung waren. Weil aus der modernen Perspektive heraus die Werte des Gilded Age, die unter anderem Laissez-faire-Liberalismus und ein paternalistisches Reformverständnis waren, negativ behaftet sind, fehlte laut Hoogenboom den Historikern im späten 20. Jahrhundert außerdem oft das Verständnis für Hayes Entscheidungen. So wurde zum Beispiel seine Indianerpolitik kritisiert, weil sie eine Integration der Ureinwohner in die Gesellschaft und eine Anpassung ihrer Lebensweise zum Ziel hatte. Andererseits folgte er damit dem Zeitgeist und stoppte zudem die Deportation früherer Präsidenten.Der Kompromiss von 1877 ist bis heute umstritten. Einige Historiker weisen auf den deutlichen Sieg Tildens im Popular Vote hin, andere geben die fehlende Fairness der Wahlen in den Südstaaten zu bedenken. So sei durch die Unterdrückung der afroamerikanischen Wahlberechtigten nicht nur in Florida, Louisiana und South Carolina die Wahl von Hayes verhindert worden, sondern wahrscheinlich auch in Mississippi. Der Historiker Trefousse weist in diesem Zusammenhang auf die frappierenden Parallelen zum umstrittenen Wahlausgang der Präsidentschaftswahlen von 2000 hin. In beiden Fällen sei der Unterlegene im Popular Vote Präsident geworden und habe die Stimmenauszählung in Florida eine entscheidende Rolle gespielt. Sowohl Tilden als auch Al Gore seien nach ihrer Niederlage von der politischen Bühne verschwunden. Ein Unterschied sei, dass die Demokraten nach der Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof die Präsidentschaft von George W. Bush akzeptiert, die Legitimität von Hayes aber immer in Frage gestellt hätten.Die meisten seiner Biographen heben hervor, dass Hayes das Land geeint habe, jedoch daran gescheitert sei, den Afroamerikanern in den Südstaaten die vollen Bürgerrechte zu sichern. Dies sei aber nicht geschehen, weil ihm ihr Schicksal gleichgültig gelassen habe, wie sein soziales Engagement als Ex-Präsident verdeutliche. Laut Trefousse war Hayes einer der gebildetsten Präsidenten in der amerikanischen Geschichte, dessen größte Errungenschaft vor allem darin bestanden habe, nach der skandalträchtigen und von Korruptionsaffären gezeichneten Grant-Administration das Ansehen des Weißen Hauses wieder hergestellt zu haben. Dadurch habe er den Boden für den Erfolg der Republikaner bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen 1880 bereitet. Seine Aktivitäten nach seiner Amtszeit zeichneten ihn als einen frühen Progressiven aus. Durch seine moderierenden Fähigkeiten sei es ihm gemäß Trefousse gelungen, nicht nur zwischen Nord- und Südstaaten, sondern auch zwischen den Fraktionen seiner Partei und im Kongress zu vermitteln. In politischen Fragen wie der chinesischen Immigration und Beziehungen zu Mexiko habe er auch gegen Widerstände moderate Positionen eingenommen und durchsetzen können. Insgesamt habe er mit dieser Art der Politikführung die dubiosen Umstände seiner Wahl die meisten seiner Zeitgenossen vergessen lassen.Laut dem Historiker Frank P. Vazzano hinterließ Hayes als Präsident die zwischen Blaines Half-Breeds („Halbblüter“) und Conklings Stalwarts („Feste, Starke“) aufgespaltenen Republikaner geeinter, als er sie bei seinem Amtsantritt vorgefunden hatte. Allerdings brach der Parteikampf nach der Ermordung von Garfield im September 1881 erneut wieder auf.
=== Ehrungen und Denkmäler ===
Im Mai 1916 wurde in Fremont das Rutherford B. Hayes Presidential Center mit der Einweihung der Bibliothek fertig eingerichtet, deren Bücher Hayes Sohn Webb C. geerbt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hatte. Neben der Präsidentenbibliothek beherbergt das Areal mit Spiegel Grove die frühere Residenz Hayes. Diese hat seit Januar 1964 den Status eines National Historic Landmarks („Nationales historisches Wahrzeichen“). Das Hayes County in Nebraska ist nach diesem Präsidenten benannt, desgleichen die Hayes Townships in Otsego (Michigan) und Swift County, Minnesota.
== Werke ==
Thomas Harry Williams (Hrsg.): Hayes: The Diary of a President (1875–1881). David McKay, New York 1964, OCLC 1204279005
Charles Richard Williams (Hrsg.): Diary and Letters of Rutherford B. Hayes. Neuauflage der fünfbändigen Gesamtausgabe von 1922–1926. Kraus Reprint, New York 1971, OCLC 270571664
== Literatur ==
Sachbücher
Jolyon P. Girard: 19. Rutherford B. Hayes (1822–1893). In: Derselbe (Hrsg.): Presidents and Presidencies in American History: A Social, Political, and Cultural Encyclopedia and Document Collection. ABC-CLIO, Santa Barbara 2019, ISBN 978-1-4408-6590-9, S. 583–601.
Thomas Culbertson: Rutherford B Hayes: A Life of Service. Nova Science, New York 2016, ISBN 978-1-63485-360-6.
Ulrike Skorsetz: Rutherford B. Hayes (1877–1881): Das Ende der Rekonstruktion. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 213–218.
Hans L. Trefousse: Rutherford B. Hayes. (= The American presidents series. Band 19). Times Books, New York 2002, ISBN 0-8050-6908-9.
Ari Hoogenboom: Rutherford B. Hayes: Warrior and President. University Press of Kansas, Lawrence 1995, ISBN 0-7006-0641-6.
Ari Hoogenboom: The presidency of Rutherford B. Hayes. University Press of Kansas, Lawrence 1988, ISBN 0-7006-0338-7.
Kenneth E. Davison: The Presidency of Rutherford B. Hayes. Greenwood, Westport 1974, ISBN 0-8371-6275-0.
T. Harry Williams: Hayes of the Twenty-Third: The Civil War Volunteer Officer. Neuauflage der Erstausgabe von 1965. University of Nebraska Press, Lincoln 1995, ISBN 0-8032-9761-0.
Harry Barnard: Rutherford B. Hayes and his America. Neuauflage der Erstausgabe von 1954. American Political Biography Press, Newton 1992, ISBN 0-945707-05-3.
Charles Richard Williams, William Henry Smith: The Life of Rutherford Birchard Hayes: Nineteenth President of the United States. 2 Bände. Houghton Mifflin, Boston und New York 1914, OCLC 9173955Belletristik
Achdé, Laurent Gerra: Der Mann aus Washington. Egmont, Berlin 2009, ISBN 978-3-7704-3283-7.
== Weblinks ==
Rutherford B. Hayes im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
American President: Rutherford B. Hayes (1822–1893), Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Ari Hoogenboom)
The American Presidency Project: Rutherford B. Hayes. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Rutherford Hayes in der National Governors Association (englisch)
Rutherford B. Hayes in der Notable Names Database (englisch)
Rutherford Hays im Archiv der Ohio History Connection
Life Portrait of Rutherford B. Hayes auf C-SPAN, 19. Juli 1999, 148 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historiker Thomas “Tom” J. Culbertson und Ari Hoogenboom sowie Führung durch das Rutherford B. Hayes Presidential Center)
Rutherford B. Hayes in der Datenbank von Find a Grave (englisch)Vorlage:Findagrave/Wartung/Verschiedene Kenner im Quelltext und in Wikidata
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Rutherford_B._Hayes |
Braunbär | = Braunbär =
Der Braunbär (Ursus arctos) gehört zu den Säugetieren aus der Familie der Bären (Ursidae). In Eurasien und Nordamerika kommt er in mehreren Unterarten vor, darunter Europäischer Braunbär (U. a. arctos), Grizzlybär (U. a. horribilis) und Kodiakbär (U. a. middendorffi).
Als eines der größten an Land lebenden Raubtiere der Erde spielt er in zahlreichen Mythen und Sagen eine wichtige Rolle. Er wurde als Nahrungskonkurrent und Gefährder des Menschen vielerorts dezimiert oder ausgerottet. So gibt es in West- und Mitteleuropa nur noch Reliktpopulationen. Innerhalb des deutschen Sprachraums lebt nur in Österreich dauerhaft eine kleine Gruppe. In den Alpen wandern einzelne Tiere umher.
== Beschreibung ==
Braunbären haben den stämmigen, kraftvollen Körperbau aller Bären, ihr Skelett ist aber in der Regel stärker gebaut als das anderer Vertreter ihrer Familie. Merkmale, die sie mit den übrigen Vertretern ihrer Familie teilen, sind der Penisknochen (Baculum) und der kurze, stummelartige Schwanz. Ein artspezifisches Merkmal ist der muskulöse Buckel über den Schultern, der den Vorderbeinen zusätzliche Kraft verleiht.
=== Kopf und Sinne ===
Braunbären haben wie alle Bären einen schweren, massiven Kopf mit vorstehender Schnauze. Im Gegensatz zum oft ähnlich gefärbten Amerikanischen Schwarzbären ist die Stirn deutlich höher und die Schnauze nach innen gewölbt (=konkav). Die Ohren sind abstehend und abgerundet, die Augen hingegen sehr klein. Dementsprechend ist auch der Gesichtssinn unterentwickelt, der Gehörsinn ist durchschnittlich, der Geruchssinn hingegen sehr gut ausgeprägt. Die Halswirbel weisen eine große Drehbarkeit auf, der Nacken ist allerdings kürzer als beim nahe verwandten Eisbären.
=== Zähne und Verdauungstrakt ===
Braunbären haben im bleibenden Gebiss 42 Zähne. Die Zahnformel lautet 3/3-1/1-4/4-2/3; pro Kieferhälfte haben sie also drei Schneide-, einen Eck-, vier Vorbacken- und zwei (Oberkiefer) beziehungsweise drei (Unterkiefer) Backenzähne. Die Tiere weisen die für viele Raubtiere typischen vergrößerten Eckzähne auf, die Backenzähne sind als Anpassung an die Pflanzennahrung mit breiten, flachen Kronen versehen.
Wie bei allen Raubtieren (Carnivora) ist der Verdauungstrakt der Braunbären einfach gebaut. Der Magen ist einhöhlig, der Blinddarm fehlt. Der Darm ist 7 bis 10 Meter lang und somit länger als bei rein fleischfressenden Carnivoren.
=== Gliedmaßen ===
Die Gliedmaßen sind lang und kräftig, wobei die Vorder- und Hinterextremitäten annähernd gleich lang sind. Die Knochen des Unterarms (Elle (Ulna) und Speiche (Radius)) beziehungsweise Unterschenkels (Schien- (Tibia) und Wadenbein (Fibula)) sind getrennt, was zu einer starken Drehbarkeit führt. Die Füße sind groß und haben auf der Unterseite schwere, behaarte Ballen. Vorder- und Hinterfüße haben jeweils fünf Zehen, die in bis zu 8 Zentimeter langen, nicht einziehbaren Krallen enden. Bei der Fortbewegung wird der Fuß jeweils mit der ganzen Sohle aufgesetzt, Braunbären sind also wie alle Bären Sohlengänger.
=== Fell ===
Das Fell der Braunbären ist üblicherweise dunkelbraun gefärbt, kann aber eine Vielzahl von Farbschattierungen annehmen. Die Variationen reichen dabei von gelb- und graubraun über verschiedene Brauntöne bis fast schwarz. Tiere in den Rocky Mountains weisen oft ein weißgrau gesprenkeltes Oberfell auf, dieser gräulichen (engl. „grizzly“) Färbung verdankt die Unterart der Grizzlybären ihren Namen. Das Haarkleid der Braunbären ist generell durch ein dichtes Unterhaar charakterisiert, die Deckhaare sind lang. Das Fell ist jahreszeitlichen Veränderungen ausgesetzt, das für die kalten Monate angelegte Winterfell ist dicht und rau und erweckt einen zotteligen Eindruck.
=== Abmessungen und Gewicht ===
Die Kopfrumpflänge dieser Tiere liegt zwischen 100 und 280 Zentimetern, die Schulterhöhe beträgt rund 90 bis 150 Zentimeter. Der Schwanz ist nur rund 6 bis 21 Zentimeter lang. Das Gewicht variiert je nach Verbreitungsgebiet sehr stark, wobei aber in allen Populationen die Männchen deutlich schwerer als die Weibchen sind.
Die schwersten Braunbären sind die Kodiakbären, die an der Südküste Alaskas und auf vorgelagerten Inseln wie Kodiak leben. Sie können ein Gewicht von bis zu 780 Kilogramm erreichen, wobei das Durchschnittsgewicht der Männchen aber nur bei 389 Kilogramm und bei Weibchen 207 Kilogramm liegt. Braunbären im Landesinneren Alaskas sind deutlich leichter, das Durchschnittsgewicht liegt hier bei 243 Kilogramm für Männchen und 117 Kilogramm bei Weibchen. Weiter südlich in Nordamerika (in Kanada und dem nordwestlichen Kerngebiet der USA) beträgt das Gewicht der Männchen 140 bis 190 Kilogramm, das der Weibchen 80 bis 130 Kilogramm. In Nordeuropa und Sibirien wiegen Braunbären durchschnittlich 150 bis 250 Kilogramm, in Südeuropa sind sie deutlich leichter, nur rund 70 Kilogramm. In Asien nimmt ihr Gewicht nach Osten hin zu, die Tiere auf der Halbinsel Kamtschatka erreichen wiederum 140 bis 320 Kilogramm.
== Verbreitung und Lebensraum ==
=== Ursprüngliche Verbreitung ===
Nordamerika wurde erst zu Ende des Pleistozäns vor etwa 14.000 Jahren über die damalige Landbrücke Beringia durch Braunbären besiedelt. Das Verbreitungsgebiet der Braunbären nach Ende der jüngsten Kaltzeit umfasste weite Teile Nordamerikas, Eurasiens und Nordafrikas. Braunbären lebten im gesamten westlichen und mittleren Teil Nordamerikas bis zur Höhe der Hudson Bay und südwärts bis in das nördliche Mexiko. In Eurasien kamen sie von Westeuropa bis zur sibirischen Ostküste und zum Himalaya vor, sie fehlten lediglich auf dem Indischen Subkontinent und in Südostasien. In Afrika waren sie im Atlasgebirge beheimatet.
=== Heutige Verbreitung und Bestandsentwicklung ===
Durch Bejagung und die Zerstörung ihres Lebensraumes wurde das Verbreitungsgebiet der Braunbären stark eingeschränkt. In vielen Regionen sind Braunbären ausgestorben, in Großbritannien beispielsweise bereits im 10. Jahrhundert, in Deutschland und dem nordafrikanischen Atlasgebirge im 19. Jahrhundert, in Mexiko und weiten Teilen der USA im 20. Jahrhundert.
In West- und Mitteleuropa gibt es nur noch Reliktpopulationen, ebenso im Kernland der USA, wo sie nur mehr im nordwestlichen Landesteil leben. Auch in Südwestasien und Teilen Nord- und Osteuropas hat ihre Anzahl deutlich abgenommen. Größere Populationen gibt es noch in Alaska, dem westlichen Kanada und in Nordasien. Durch Auswilderung von Bären aus anderen Gebieten wird versucht, besonders gefährdete Gruppen wieder aufzustocken. Die weltweite Gesamtpopulation des Braunbären beläuft sich auf rund 185.000 bis 200.000 Tiere.
==== Deutschland ====
In Deutschland gibt es keine wildlebenden Braunbären mehr. Bereits im Mittelalter wurden sie in waldreiche und schwer zugängliche Gebiete zurückgedrängt. Der letzte Bär im Harz wurde Ende des 17. Jahrhunderts geschossen, in Thüringen Mitte des 18. Jahrhunderts und in Oberschlesien 1770. Im Bayerischen Wald töteten in der Umgebung von Zwiesel die Gebrüder Forster von 1760 bis 1800 noch etwa 60 Bären. Der 1835 in Ruhpolding erlegte Braunbär soll der letzte Braunbär Deutschlands gewesen sein. Der Bärenfang auf dem Großen Waldstein im Fichtelgebirge erinnert an die Jagd auf den Braunbären.
Mit der Einwanderung beziehungsweise Wiederansiedlung der Bären in Österreich ist auch die Frage nach der möglichen Etablierung einer Population in Deutschland wieder aktuell geworden. Im Jahr 2005 hatte der Naturschutzbund Deutschland (NABU) den Braunbären zum Wildtier des Jahres erklärt.
Tatsächlich zeigte sich im Mai und Juni des Jahres 2006 erstmals seit rund 170 Jahren wieder ein Braunbär in Deutschland: JJ1, später in der Presse Bruno oder auch Problembär Bruno genannt, wanderte wochenlang in der deutsch-österreichischen Grenzregion umher. Er riss einige Nutztiere und war öfter in der Nähe menschlicher Siedlungen zu sehen. Daraufhin wurde das Tier zeitweilig zum Abschuss freigegeben, was jedoch auf Druck der Öffentlichkeit zunächst wieder zurückgezogen wurde. Die daraufhin erfolgten Versuche, den Bären lebend zu fangen, wurden nach drei erfolglosen Wochen eingestellt. Am 26. Juni wurde der Bär in der Nähe des Spitzingsees erschossen.
Am 1. Oktober 2019 wurde die Gegenwart eines Braunbären im Allgäu anhand von Exkrementen durch eine Touristin nachgewiesen. Eine Woche später wurde der Bär mittels einer Fotofalle im Landkreis Garmisch-Partenkirchen abgelichtet. Der junge Bär machte sich offenbar im Frühsommer von Trentino in Italien über Österreich, wo er drei Schafe riss, auf den Weg in Richtung Deutschland.Von Jahresbeginn 2023 bis Juni gab es ungefähr ein Dutzend bestätigte Meldungen von Bären. Die Meldungen kommen aus Süddeutschland. Zwischenfälle mit dem Mensch gab es Stand jetzt nicht. Im April 2023 wurden im Landkreis Rosenheim zwei Schafe getötet.
==== Österreich ====
In Österreich waren die Bären ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerottet. Vereinzelt gab es in den 1950er- und 1960er-Jahren in Kärnten Nachweise von Bären, die aus dem damaligen Jugoslawien zugewandert waren. Im Jahr 1972 ließ sich ein junges männliches Tier in der Ötscher-Region im südwestlichen Niederösterreich nieder, in jener Gegend, in der die letzten Exemplare im 19. Jahrhundert geschossen worden waren. Dieses Tier wurde unter dem Namen „Ötscherbär“ bekannt. 1989 wurde in der Region ein aus Kroatien stammendes Weibchen ausgesetzt, und 1991 kamen drei Jungtiere zur Welt. Mit der Aussetzung zweier weiterer Tiere in den Jahren 1992 und 1993 wurde das Wiederansiedlungsprojekt fortgesetzt.
In jener Zeit kam es zu ersten größeren Schadensmeldungen wie gerissenen Schafen und geplünderten Fischteichen, die bei der lokalen Bevölkerung für Skepsis und Ablehnung des Projektes sorgten; österreichische Medien prägten den Begriff „Problembär“. Eine „Eingreiftruppe“ wurde gegründet, welche die Bären, die sich öfter in der Nähe menschlicher Siedlungen blicken ließen, mit Warnschüssen verjagte.
Seit 1998 wurden jedes Jahr Jungtiere gesichtet, vereinzelt kam es auch zu Zuwanderungen aus Slowenien, so dass bis vor kurzem eine kleine, aber stabile Population von 25 bis 30 Tieren bestand. Die meisten davon lebten im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet, vorwiegend im Naturpark Ötscher-Tormäuer – in den nördlichen Kalkalpen wurden in den letzten 18 Jahren 35 Individuen nachgewiesen, 1999 war ein Maximalbestand von 12 Tieren vorhanden – und eine kleine Gruppe auch im südlichen Kärnten, in den Karnischen und Gailtaler Alpen und den Karawanken. Im Jahr 2002 wurde außerdem ein aus dem Trentino eingewandertes Exemplar in Tirol gesichtet. Ein weiterer Braunbär in Tirol war der oben erwähnte „JJ1“ im Jahr 2006. Im Oktober 2008 wurde der Bär „MJ4“ im Stubaital gesichtet – der zuletzt im Südtiroler Sarntal angetroffen wurde.Trotz gelegentlicher Schäden an Haustieren und Bienenstöcken ist die Anwesenheit von Braunbären in Österreich heute von der Bevölkerung weitgehend akzeptiert. Drei eigens beauftragte „Bärenanwälte“ sollen in Bärenregionen die Akzeptanz der Tiere fördern und bei der Klärung von Schadensfällen helfen.
2004 wurde das LIFE Nature Co-op Projekt ins Leben gerufen, das, von der EU unterstützt, versucht, im Alpenraum den Braunbären wieder anzusiedeln. Beteiligt sind die Länder Italien mit den Regionen Trentino und Friaul, Österreich mit Kärnten, Nordösterreich, Oberösterreich und Steiermark, sowie Slowenien. Im Rahmen des Projektes sollen die im Alpenraum ansässigen Teilpopulationen des Braunbären zu einer sogenannten Metapopulation vernetzt werden, die es den Tieren ermöglichen soll, sich untereinander zu vermehren und selbstständig zu überleben.Mit Jahreswechsel 2007/2008 gab der WWF Österreich bekannt, dass nur mehr 4 der etwas über 30 seit 1991 in Österreich geborenen Braunbären auffindbar sind. Mehrere illegale Abschüsse wurden bekannt (zuletzt im Dezember 2007 ein Jungtier, das vom Bundeskriminalamt sichergestellt wurde), der Verbleib der restlichen Tiere ist unklar. Ohne Schutzmaßnahmen ist der Fortbestand des Braunbären in Österreich gefährdet. Das brächte Österreich nicht nur in den zweifelhaften Ruf, dass ein Tier gleich zweimal ausgerottet worden wäre, es würde auch die Wiederansiedlung des Braunbären – zumindest in den österreichischen Ostalpen, in den Kalkalpen leben heute nurmehr zwei Tiere – langfristig in Frage stellen: Eine Richtlinie der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) fordert, dass vor einer neuerlichen Aussendung einer Art die „Identifizierung und Beseitigung der ursprünglich für den Niedergang verantwortlichen Faktoren“ notwendig sei – und das Verschwinden der österreichischen Bären ist insgesamt ungeklärt.Seit 2011 wird diese Population in Österreich als erloschen angesehen, womit gegenwärtig keine österreichische Bärenpopulation mehr besteht. Die immer wieder in Österreich vorkommenden Tiere sind einzelne Individuen, die aus dem benachbarten Ausland einwandern.Im Jahr 2012 wurden im österreichisch-schweizerischen Grenzgebiet mehrfach zwei aus Italien zugewanderte Bärenbrüder, als „M12“ und „M13“ bezeichnet, gesichtet. „M12“ wurde im Juni 2012 in Südtirol überfahren. „M13“ wurde in Graubünden, unmittelbar nachdem er aus dem Winterschlaf erwacht war, Ende Februar 2013 erschossen.Im Mai 2014 kam abermals ein Braunbär, der als „M25“ bezeichnet wird, nach Tirol, der im schweizerisch-österreichischen Grenzgebiet umherwanderte. Es handelte sich um ein zweijähriges Männchen aus dem Trentino. Die Berichterstattung war sehr unterschiedlich geprägt: Während die Tageszeitung Kurier unter „In Tirol ist der Bär los“ einen eher positiv gehaltenen Artikel veröffentlichte, titelte der ORF Tirol „Bär ‚M25‘ treibt sich bei Nauders herum“ und spekulierte „… er soll aber bereits Schäden verursacht haben“. Nach wenigen Tagen verließ der Bär Österreich und wanderte über die Schweiz zurück nach Italien.Im Bericht nach Artikel 17 der Richtlinie 92/43/EWG für den Berichtszeitraum 2007–2012 hat Österreich für diese in der Europäischen Union streng zu schützende Art einen schlechten Erhaltungszustand bei weiterer Verschlechterung angegeben, nachdem bereits in der vorangegangenen Berichtsperiode ein schlechter Erhaltungszustand festgestellt worden war.
==== Schweiz ====
Der bis vor kurzem letzte Abschuss eines Bären in der Schweiz erfolgte 1904 im Unterengadin, an der Südflanke des Piz Pisoc. 1923 gab es noch einmal eine Sichtung. Eine Studie im Anschluss an das österreichische Wiederansiedlungsprojekt aus dem Jahr 1993 zeigte, dass es auch in der Schweiz geeignete Lebensräume für Bären gibt.
Tatsächlich wanderte im Juli 2005 ein Bär aus dem italienischen Trentino ins Val Müstair ein, es war „JJ2“, genannt „Lumpaz“. Dadurch wurden neue Diskussionen über die Möglichkeit einer Etablierung einer Schweizer Braunbärpopulation entfacht. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat ein „Konzept Bär Schweiz“ verfasst. Darin ist eine prinzipiell positive Grundeinstellung zur Wiederansiedlung der Braunbären unter Berücksichtigung aller möglichen Konsequenzen und Risiken festgeschrieben. Bären, die für Menschen gefährliches Verhalten zeigen, können als Risikobären eingestuft und abgeschossen werden.Ein weiterer Bär, der Bruder von JJ1 (alias Bruno) und „JJ2“, „JJ3“ genannt, wurde im April 2008 aufgrund seiner fehlenden Scheu vor Menschen in Graubünden erlegt. Gleichzeitig hielt sich noch ein weiteres Tier, der menschenscheue „MJ4“, das wie JJ3 ebenfalls im Sommer 2007 einwanderte, in Graubünden auf. Es verließ die Schweiz jedoch noch im Frühling 2008 in Richtung Italien. Im Juni 2010 wanderte erneut ein Bär in die Schweiz ein.2012 näherte sich im Puschlav mit „M13“ ein weiterer Bär allzu sehr den menschlichen Siedlungen. Er wurde als „Risikobär“ eingestuft und im Februar 2013, kaum aus seiner Winterruhe erwacht, getötet.Mit „M25“ wanderte im Mai 2014 abermals ein Braunbär nach Graubünden, der sich in weiterer Folge im schweizerisch-österreichischen Grenzgebiet aufhielt. Das zweijährige besenderte Männchen stammte aus dem Trentino. Der Bär hielt sich nur kurze Zeit in der Schweiz auf und wanderte Ende Mai 2014 zurück nach Italien. Innerhalb eines Monats sammelte der WWF Schweiz 22.509 Unterschriften für seine Petition „Viva M25“, mit der die Behörden dazu aufgefordert wurden, den Braunbären nicht wie seine Vorgänger töten zu lassen. Im August 2014 riss er in Puschlav zwei Esel auf der Weide. Am 26. Mai 2017 wurde in Eriz BE ein Braunbär gesichtet und fotografiert; der Braunbär ist somit nach 190 Jahren wieder in den Kanton Bern zurückgekehrt. Es handelt sich vermutlich um das bereits im Kanton Uri gesichtete Tier. Im Jahr 2017 wurde ein Braunbär noch zwei weitere Male im Kanton Bern gesichtet, beide Male auf dem Gebiet der Gemeinde Innertkirchen: Im Juli beim Sustenhorn, Anfang September in der Nähe des Engstlensees, nämlich im Gental.
==== Italien ====
In Italien gibt es zwei kleine Gruppen. Die Population im Naturpark Adamello-Brenta im Trentino war bis 2012 wieder auf 43 bis 48 Tiere angewachsen und betrug 2021 um die 100 Exemplare. Der Bestand dort war vor 1999 auf 3 Tiere geschrumpft. Daher wurden zwischen 1999 und 2002 im Projekt „Life Ursus“ zehn Tiere aus Slowenien dort ausgesiedelt. Die zweite Gruppe im Abruzzen-Nationalpark umfasst rund 30 bis 50 Tiere. Diese Population unterscheidet sich im Schädelbau von anderen Braunbären und könnte darum eine eigene Unterart, Ursus arctos marsicanus, darstellen.Nach dem Start des Projektes „Life Ursus“ kam es 2014 zu einer ersten Bärenattacke im Trentino, bei der ein Pilzsucher von einer Bärin in Begleitung ihrer Jungtiere verletzt wurde. Bis 2022 zählte man weitere sechs Angriffe auf Menschen im Trentino. Tödlich endete der Angriff eines Braunbären am 5. April 2023 bei der Ortschaft Caldes im Val di Sole, dem ein 26 Jahre alter Jogger zum Opfer fiel. Es handelte sich um den ersten dokumentarisch belegten Angriff eines Braunbären mit tödlichem Ausgang in Italien und den vierten überhaupt in den letzten 150 Jahren in Europa. DNA-Proben zufolge, soll das Opfer von der 17-jährigen Bärin JJ4 angegriffen worden sein. JJ4 entstammt dem gleichen Wurf wie Problembär JJ1, alias Bruno. Voraussichtlich am 25. Mai 2023 wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erwartet. Noch scheint nicht sicher zu sein, ob JJ4 wirklich die „Täterin“ war.
==== Übriges Europa ====
Anmerkung: Da Braunbären wanderfreudig sind und sich dabei nicht an Landesgrenzen halten, handelt es sich bei den folgenden Zahlen um grobe Schätzungen (Stand ist 2006).
In Rumänien lebt die größte europäische Population außerhalb Russlands. Dort gibt es vor allem in den Waldgebieten der Karpaten noch eine vierstellige Zahl von Braunbären: 2021 wurde die Anzahl auf etwa 6700 geschätzt.
In Frankreich leben rund 10 bis 20 Braunbären in den Pyrenäen, die dortige Population stammt aber komplett von ausgewilderten Tieren ab, der letzte autochthone französische Bär wurde 2004 erlegt. Früher gab es auch eine Population in den französischen Alpen, sie ist jedoch in den 1930er-Jahren erloschen.
In Spanien gibt es rund 160 Tiere in drei Populationen. Schätzungsweise 140 Tiere leben im Parque Natural de Somiedo in Asturien, einem Teil des kantabrischen Gebirges unweit der Stadt Oviedo. Eine geringere Population (ca. 25 Tiere) existiert im selben Gebirge im Naturpark Saja-Besaya rund 200 km weiter östlich zwischen Reinosa und Torrelavega in der Provinz Kantabrien. Der Tierbestand in diesen beiden Regionen gilt als stabil, da es sich um unbewohnte Bergregionen ohne Durchgangsstraßen handelt. Die kleinste Population (etwa ein Dutzend Tiere) lebt in den Pyrenäen in einer Grenzregion zwischen Spanien und Frankreich. (siehe auch unter Frankreich) Man geht davon aus, dass diese Population aussterben wird, da es hier seit längerer Zeit keinen Nachwuchs mehr gibt. Da diese Region auch von Menschen nicht ganz unbewohnt ist, gibt es hier eine Forderung, die Tiere umzusiedeln oder gar auszurotten. Näheres siehe unter Kantabrischer Braunbär.
In der Slowakei (vorwiegend in der Hohen Tatra, der Niederen Tatra, der Kleinen Fatra, der Großen Fatra und dem Slowakischen Erzgebirge) leben 700–900 Bären.
In Polen 80.
In Nordeuropa gibt es noch größere Bestände, so leben in Finnland 2300 bis 2500 und in Schweden max. 3.000 Tiere, in Norwegen leben in vereinzelten Gebieten 30 Bären.
Auf dem Westbalkan gibt es noch größere Populationen, so leben in Slowenien 500 bis 800 Tiere, in Kroatien zwischen 600 und 800 Braunbären, dort vorwiegend im Gorski Kotar und in der Lika. An den Hängen des Velebit-Bergmassives befindet sich das Bärenrefugium von Kuterevo. In Bosnien und Herzegowina gibt es derzeit ebenfalls etwa 900 Braunbären. Kleine Gruppen sind auch aus Albanien (250) und Nordmazedonien (90) bekannt. Über die jetzige Situation der Braunbären in Serbien und Montenegro ist wenig bekannt, laut einer Statistik leben in Serbien etwa 500 Stück.
In Bulgarien leben in den Bergen etwa 600 bis 800 Braunbären frei.
In Griechenland haben sich in den Rhodopen und im Epirus-Gebirge rund 250 Tiere halten können.
Auch in Estland, wo sich heute Bestände von 700 Tieren aufhalten, ist der Braunbär noch immer, bzw. mittlerweile wieder heimisch.
In Lettland gibt es dagegen nur etwa zwölf Tiere.
==== Russland und Asien ====
Der Bestand in den Ländern der früheren Sowjetunion wurde 1989 auf 130.000 Tiere geschätzt, durch illegale Bejagung und die Suche nach Bodenschätzen hat er vermutlich abgenommen. In China leben geschätzte 4000 bis 8000 Tiere, kleine Populationen gibt es auch in der Mongolei und auf der japanischen Insel Hokkaidō. Für viele südwestasiatische Länder (wie Türkei oder Iran) gibt es keine genauen Daten, hier sind die Populationen aber ebenfalls vermutlich im Rückgang begriffen.
Der Syrische Braunbär (Ursus arctos syriacus), eine Unterart der Braunbären kommt vom Kaukasus bis zum Nahen Osten vor, wobei er in seiner natürlichen Umgebung akut vom Aussterben bedroht ist.
==== Afrika ====
Der Atlasbär, die Population im Atlasgebirge ist im 19. Jahrhundert, vermutlich in den 1870er-Jahren ausgestorben, genauere Daten gibt es nicht.
==== Nordamerika ====
In Mexiko, ursprünglich ihrem südlichsten Verbreitungsgebiet, sind die Braunbären wahrscheinlich in den 1960er Jahren ausgestorben. Im Kernland der USA waren Braunbären ursprünglich über weite Teile verbreitet, Knochenfunde sind sogar aus Ohio und Kentucky bekannt. Der Rückgang der Populationen begann möglicherweise bereits, als die Indianer dank der von den Spaniern eingeführten Pferde ihre Jagdtechniken verfeinerten. Mit der großflächigen Besiedlung des Landes durch Europäer ging dann ein drastischer Rückgang der Bestandszahlen einher. In den 1920er und 1930er Jahren sind sie aus dem Südwesten des Landes (Kalifornien, Arizona, Utah) verschwunden. Heute leben rund 1100 bis 1200 Tiere in sechs isolierten Populationen im nordwestlichen Landesteil, im Glacier-Nationalpark, dem Yellowstone-Nationalpark sowie vereinzelt in den Bundesstaaten Montana, Idaho und Washington.In Kanada waren Braunbären bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen des Landes verbreitet, ihr Vorkommen reichte in die Great-Plains-Region und sogar bis auf die Halbinsel Labrador. Heute sind sie auf die nördlichen und westlichen Landesteile beschränkt und kommen nur mehr in British Columbia, dem westlichen Alberta und den nördlichen Territorien vor. Im dünn besiedelten Alaska sind Braunbären noch relativ häufig. Die Braunbär-Population in Kanada und Alaska wird auf zusammen rund 55.000 Tiere geschätzt.
=== Lebensraum ===
Braunbären bewohnen eine Vielzahl von Habitaten. In Amerika bevorzugen sie offenes Gelände wie Tundra, Bergwiesen und Küstenregionen, früher waren sie auch in der Great-Plains-Region zu finden. Die verbliebenen Tiere Europas leben hauptsächlich in bewaldeten Gebirgsregionen, auch in Sibirien sind sie eher in Wäldern als im offenen Terrain zu finden. Solange genügend Nahrung und Plätze für die Winterruhe vorhanden sind, sind sie nicht allzu wählerisch in Bezug auf ihren Lebensraum. Allerdings benötigen sie auch in offenem Gelände ausreichend dicht mit Vegetation bestandene Gebiete als Ruheplätze.
== Lebensweise ==
=== Aktivitätszeiten und Fortbewegung ===
Die Aktivitätszeit der Braunbären hängt von den Umweltbedingungen, der Jahreszeit oder der Nähe von Menschen ab. Sie gelten als vorwiegend dämmerungs- oder nachtaktiv, insbesondere in von Menschen besiedelten Gebieten. Zur Zeit des größten Nahrungsbedarfs, im Frühling und Herbst, sind sie auch tagsüber auf Nahrungssuche, im Sommer hingegen eher hauptsächlich in der Nacht.
Bären sind Sohlengänger und bewegen sich im Passgang fort, das heißt, dass beide Beine einer Körperseite gleichzeitig bewegt werden. Normalerweise sind ihre Bewegungen langsam und schleppend, bei Bedarf können sie aber sehr schnell laufen und Geschwindigkeiten von 50 Kilometern pro Stunde erreichen. Sie können auch sehr gut schwimmen. Während Jungtiere noch oft auf Bäume klettern, ist dies ausgewachsenen Tieren aufgrund ihres Gewichtes meist nicht mehr möglich.
=== Winterruhe ===
Da sie während der Wintermonate nicht genug Nahrung finden, begeben sie sich in eine Winterruhe. Diese Winterruhe ist kein echter Winterschlaf, da sie relativ leicht wieder aufzuwecken sind. Zwar gehen der Herzschlag und die Atemfrequenz deutlich zurück, die Körpertemperatur sinkt hingegen nur leicht – von normalerweise 36,5 bis 38,5 °C geht sie nur um 4 bis 5 °C zurück. Während dieser Zeit nehmen sie weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich, urinieren und defäkieren auch nicht. Um eine Harnvergiftung zu vermeiden, werden Aminosäuren statt in Harnstoff in wiederverwertbare Aminosäuren umgewandelt. Der Beginn und die Dauer der Winterruhe hängen von den Umweltbedingungen ab. Üblicherweise beginnt sie zwischen Oktober und Dezember und endet zwischen März und Mai, in den südlichen Teilen ihres Verbreitungsgebietes halten sie hingegen gar keine oder nur eine verkürzte Winterruhe.
Im Herbst haben Braunbären einen erhöhten Nahrungsbedarf, sie legen Fettgewebe an, um während der Winterruhe nicht zu verhungern. Interessanterweise werden Fette nicht an den Gefäßwänden abgelagert, was ihnen ermöglicht, sich ohne Gesundheitsgefahren einen Vorrat anzufressen, Braunbären erkranken also nicht an Arteriosklerose. Für den Eintritt der Winterruhe spielt auch der Sättigungsgrad eine Rolle, gut genährte Tiere begeben sich früher zur Ruhe, während hungrige Tiere länger auf Nahrungssuche bleiben, bis sie von der Kälte in ihre Winterquartiere getrieben werden. Der Gewichtsverlust während der Wintermonate ist bei Weibchen deutlich höher (40 %) als bei Männchen (22 %), was auf den höheren Energieaufwand während der Trag- und Säugezeit zurückzuführen ist.
Zur Winterruhe ziehen sie sich in einen Bau zurück, der oft selbst gegraben und mit trockenen Pflanzen ausgekleidet wird. Manchmal benutzen sie auch natürliche Höhlen oder Felsspalten. Diese Baue werden an witterungsgeschützten Stellen angelegt und oft mehrere Jahre hintereinander verwendet, allerdings verteidigen sie sie nicht gegenüber anderen Braunbären.
=== Sozialverhalten und Kommunikation ===
Braunbären leben in der Regel einzelgängerisch. Während der Paarungszeit von April bis August kommt es zu kurzzeitigen Verbindungen, die Männchen wollen so verhindern, dass sich die Weibchen mit anderen Tieren fortpflanzen. Die einzige dauerhaftere Bindung ist die der Mutter zu ihrem Nachwuchs. Braunbären zeigen kein ausgeprägtes Territorialverhalten, die Streifgebiete können sich überlappen, sie verteidigen ihr Revier auch nicht gegenüber Artgenossen. Bei üppigen Nahrungsquellen wie fischreichen Gewässern, beerenbestandenen Gebieten oder Mülltonnen kommt es manchmal zu Ansammlungen dutzender Tiere.
Die Reviergröße ist variabel, sie hängt unter anderem vom Nahrungsangebot, von der Topographie, vom Alter, Gesundheitszustand oder Geschlecht des Tieres ab. Die Reviere der Weibchen sind deutlich kleiner als die der Männchen, vermutlich um die Begegnungsmöglichkeiten mit aggressiven Tieren zu vermindern und so die Jungen zu schützen. Die durchschnittliche Reviergröße auf der Kodiakinsel beträgt 24 km² bei Männchen und 12 km² bei Weibchen, im nördlichen Alaska hingegen wächst dieser Wert auf 700 bis 800 km² für Männchen und 300 km² für Weibchen an. Das Territorium eines Männchens überlappt üblicherweise mit dem mehrerer Weibchen, was zu gesteigerten Chancen führt, bei der Fortpflanzung zum Zug zu kommen.
Braunbären sind nicht standorttreu, sie unternehmen saisonale Wanderungen zu Orten mit großem Nahrungsreichtum. In unberührten Gegenden können diese Wanderungen manchmal hunderte Kilometer lang sein.
Für die Kommunikation der Tiere spielt neben Lauten und Körperhaltungen insbesondere der Geruchssinn die wichtigste Rolle. Individuen, die sich direkt gegenüberstehen, kommunizieren mittels Körperhaltungen: Dominanz wird durch direkte Annäherung mit gestrecktem Nacken, zurückgelegten Ohren und präsentierten Eckzähnen ausgedrückt, Unterwerfung durch das Senken oder Wegdrehen des Kopfes und durch Niedersetzen, Hinlegen oder Weglaufen. Kämpfe zwischen Artgenossen werden mit Prankenhieben auf Brust oder Schultern oder mit Bissen in den Kopf oder Nacken ausgetragen.
Braunbären geben wenig Laute von sich, außer wenn sie verwundet sind oder attackiert werden. Jungtiere heulen, wenn sie hungrig oder von der Mutter getrennt sind oder wenn ihnen kalt ist. Es sind keine Laute bekannt, mit denen die Mutter ihre Kinder ruft. Brummende und knurrende Laute sind ein Zeichen für Aggression. Puffende Laute, die durch intensives, wiederholtes Ausatmen erzeugt werden, dienen der freundlichen Kontaktaufnahme zwischen Tieren, zum Beispiel bei der Paarung.
Um visuelle oder olfaktorische Hinweise zu geben, scheuern sie sich an Bäumen, wälzen sich am Boden, beißen oder kratzen sie Teile der Baumrinde heraus oder urinieren und defäkieren auf den Boden. Diese Zeichen dienen der Kennzeichnung des Reviers, der Signalisierung der Paarungsbereitschaft oder der Markierung von Wanderwegen.
=== Nahrung ===
Braunbären sind Allesfresser, die aber üblicherweise in erster Linie pflanzliche Nahrung zu sich nehmen. So stehen Gräser, Kräuter, Schößlinge, Blüten, Wurzeln, Knollen, Nüsse und Pilze auf ihrem Speiseplan, im Sommer und Herbst machen Beeren einen wichtigen Bestandteil ihrer Nahrung aus. Auch Honig wird gefressen.An fleischlicher Nahrung nehmen sie unter anderem Insekten und deren Larven, Vögel und deren Eier sowie Nagetiere, beispielsweise Erdhörnchen (wie Ziesel und Murmeltiere), Lemminge, Taschenratten und Wühlmäuse zu sich. Mit Hilfe ihrer Krallen graben sie diese Beute aus deren Bauen. Insbesondere in den Rocky Mountains fressen sie auch größere Säugetiere wie Elche, Rentiere, Wapitis, Bisons, Weißwedelhirsche und Gabelböcke. Von diesen Tieren fallen ihnen allerdings kaum gesunde erwachsene Tiere zum Opfer, meist töten und fressen sie kranke oder alte Exemplare sowie Jungtiere. Auch das Aas dieser Tiere wird verzehrt, vor allem im Winter umgekommene Exemplare nach der Winterruhe der Bären. Selten greifen sie auch Schwarzbären oder sogar Artgenossen an. Wo sie in ihrer Nähe gehalten werden, fressen Braunbären auch Weidetiere wie Schafe, Ziegen oder junge Rinder.
Braunbären sind keine spezialisierten Jäger größerer Säugetiere, sie verfügen jedoch über erhebliche Kräfte. Huftiere werden meist durch Prankenhiebe auf Kopf oder Nacken getötet, daher ist häufig der Schädel oder die Wirbelsäule des Beutetieres gebrochen. Häufig sind auch Bisse in den Hals- oder Schulterbereich. Bären öffnen dann meist die Bauch- oder die Brusthöhle und fressen die Innereien, sehr gerne auch das Euter. Diese charakteristische Bearbeitung der Beutetiere wird in Schadensfällen bei Haustieren für die Identifizierung des Verursachers genutzt.Manchmal vergraben Bären ihre Nahrung, um sie vor Nahrungskonkurrenten zu verbergen oder vor der Verrottung zu bewahren. Oft legen sie sich dann auf oder neben den Erdhaufen, um ihre Beute zu bewachen. Dieses Verhalten kann aber nur bei Nahrungsmangel beobachtet werden und kommt in Gebieten oder Perioden mit reichem Angebot nicht vor. Tiere, die ihre Nahrung solcherart bewachen, gelten als besonders aggressiv und greifen jeden Eindringling, auch Menschen, an.
In den Küstenregionen, insbesondere am Pazifik, zählen Lachse während deren Laichwanderungen in den Sommermonaten zur bevorzugten Nahrung der Braunbären. Die Fangtechniken variieren, so werden die Fische beispielsweise direkt aus dem Wasser gefischt oder in der Luft gefangen, während sie kleine Wasserfälle überspringen. Vermutlich gehen die großen Ausmaße der Bären in Alaska und Kamtschatka auf eine besonders fischreiche Nahrung zurück. Die Bären an den Küsten und Fjorden ernähren sich auch gern von Muscheln, die sie bei Niedrigwasser ohne Probleme mit ihren großen Tatzen aus dem Sand ausgraben. Vom ausgestorbenen Kalifornischen Braunbären ist bekannt, dass er Kadaver von gestrandeten Walen verspeiste.
=== Fortpflanzung ===
Als charakteristisch für Braunbären gelten eine hohe Lebenserwartung, eine vergleichsweise langsame Fortpflanzungsrate sowie ein spätes Eintreten der Geschlechtsreife.
==== Paarung und Trächtigkeit ====
Braunbären sind polygam, das heißt ein Männchen kann sich mit mehreren Weibchen paaren. Während der Paarungszeit folgen oft mehrere männliche Tiere einem Weibchen, es kann dabei auch zu Kämpfen unter den Männchen um das Paarungsrecht kommen. Um zu verhindern, dass sich ein befruchtetes Weibchen erneut paart, bleiben die Männchen ein bis drei Wochen bei diesem. Aus der Sicht der weiblichen Tiere, macht es dagegen Sinn sich mit verschiedenen Partnern zu paaren.
Die Paarungszeit fällt in die Monate Mai bis Juli. Nach dem Geschlechtsakt nistet sich die befruchtete Eizelle allerdings nicht gleich ein, sondern bleibt frei im Uterus. Dieses Stadium der Keimruhe kann fünf Monate dauern, erst zu Beginn der Winterruhe erfolgt die Nidation und somit der eigentliche Beginn der Tragzeit. Aus diesem Grund beträgt die Zeitspanne zwischen Fortpflanzung und Geburt 180 bis 270 Tage, während die eigentliche Trächtigkeit mit sechs bis acht Wochen relativ kurz ist.
==== Geburt und Jungenaufzucht ====
Die Geburt fällt in die Zeit der Winterruhe, in die Monate Januar bis März. Die Wurfgröße beträgt eins bis vier, meist jedoch zwei oder drei Jungtiere. Wie alle Bären zählen die Braunbären zu den Plazentatieren mit dem größten Gewichtsunterschied zwischen dem Weibchen und ihrem Wurf. Neugeborene sind 23 bis 28 Zentimeter lang und wiegen 340 bis 680 Gramm. Ihre Augen sind geschlossen und sie erscheinen nackt, obwohl sie mit kurzen grauen Haaren bedeckt sind. Jungtiere sind durch einen rundlichen Schädel gekennzeichnet, der erst im Wachstum die langgestreckte Form des Erwachsenenschädels annimmt, ein Prozess, der sich über ihr ganzes Leben erstrecken kann.
Weibchen haben ein Paar Zitzen an der Brust und zwei weitere am Bauch. Ihre Milch zeichnet sich durch einen hohen Protein- (6 bis 17 %), und Fettgehalt (20 %) aus. Darum wachsen die Jungtiere sehr schnell, mit drei Monaten wiegen sie bereits 15 Kilogramm, mit 6 Monaten 25 Kilogramm. Im ersten Sommer haben die jungen Braunbären oft ein weißliches, V-förmiges Nackenmuster, das im zweiten Lebensjahr verblasst.
Mit rund fünf Monaten nehmen die jungen Braunbären erstmals feste Nahrung zu sich, endgültig abgesetzt werden sie mit 1,5 bis 2,5 Jahren. Mindestens bis zum zweiten Frühling, meist aber bis zum dritten oder vierten, bleiben die Jungen bei ihrer Mutter, bis diese sie verjagt, um neuen Nachwuchs zu zeugen. Im Anschluss bleiben Geschwister manchmal noch für zwei bis vier Jahre zusammen, sie spielen miteinander und gehen gemeinsam auf Nahrungssuche.
Männliche Tiere erreichen die Geschlechtsreife mit rund 4,5 Jahren, Weibchen in der Regel etwas später, mit rund vier bis sechs Jahren, in Ausnahmefällen auch erst mit sieben oder acht. Ihr Wachstum setzt sich aber danach noch fort, ausgewachsen sind Braunbären erst mit 10 oder 11 Jahren.
=== Lebenserwartung und natürliche Bedrohungen ===
Eine Untersuchung im Yellowstone-Nationalpark hat die durchschnittliche Lebenserwartung der Braunbären auf sechs Jahre berechnet. Das mögliche Höchstalter von Tieren in freier Natur wird auf 20 bis 30 Jahre geschätzt, wie viele andere Tiere können Braunbären in menschlicher Obhut aber ein deutlich höheres Alter erreichen. Das älteste bislang bekannte Exemplar starb mit 47 Jahren, das potentielle Höchstalter von Tieren in Gefangenschaft wird auf 50 Jahre geschätzt.
Viele Tiere sterben an Mangelernährung oder Krankheiten. Insbesondere während der Paarungszeit kommt es zum Infantizid, wenn Jungtiere von erwachsenen Männchen attackiert werden. Auch Fälle von Kannibalismus, das heißt, dass Braunbären Artgenossen fressen, sind bekannt. Zum Tod können auch Verletzungen führen, die ihnen von den Hörnern der Beutetiere zugefügt werden. In Gebieten, wo sich die Verbreitungsgebiete überlappen, sind Pumas, Luchse, Wölfe oder Vielfraße Nahrungskonkurrenten der Braunbären. Erwachsene Tiere haben aber kaum natürliche Feinde, lediglich aus Sibirien gibt es Berichte, wonach sie manchmal dem Sibirischen Tiger zum Opfer fallen. Allerdings sind einige Parasiten bekannt: Zu den Ektoparasiten der Braunbären zählen Flöhe der Gattung Chaetopsylla und Zecken der Gattung Dermacenter. Als Endoparasiten sind unter anderem Fadenwürmer (Baylisascaris transfuga) und Trichinen verbreitet.
== Systematik ==
=== Externe Systematik ===
Der Braunbär ist einer der vier bis sechs lebenden Vertreter der Gattung Ursus, zu welcher auch der Eisbär, der Amerikanische Schwarzbär, der Asiatische Schwarzbär, meist der Malaienbär und manchmal der Lippenbär gezählt werden. Der älteste bekannte Vertreter dieser Gattung ist Ursus minimus, ein relativ kleiner Bär, der im Pliozän lebte. Als Vorfahre des Braunbären gilt Ursus etruscus, der den heutigen Tieren bis auf eine etwas urtümlichere Form der Zähne ähnelte. Die ältesten Fossilienfunde des Braunbären selbst sind rund 500.000 Jahre alt und stammen aus dem Zhoukoudian-Höhlensystem in China. Vor rund 250.000 Jahren kam die Art nach Europa, wo sie in mehreren Gebieten zusammen mit dem Höhlenbären (Ursus spelaeus) koexistierte. Während der Weichseleiszeit wanderte die Art über die damals trockene Beringstraße nach Nordamerika ein und erreichte, bevor sie vom Menschen zurückgedrängt wurde, Gebiete bis zur Höhe von Ontario, Kentucky oder Nordmexiko. Möglicherweise ist dort das Aussterben der riesigen Kurznasenbären durch die Nahrungskonkurrenz des Braunbären begünstigt worden.
Der Eisbär gilt als der nächste Verwandte des Braunbären und hat sich erst vor relativ kurzer Zeit, vermutlich im mittleren Pleistozän, aus ihm entwickelt. Jüngere Untersuchungen haben sogar gezeigt, dass manche Braunbärpopulationen genetisch näher mit dem Eisbären verwandt sind als mit anderen Braunbären. Nach kladistischen Gesichtspunkten ist der Braunbär somit eine „paraphyletische Art“ und wird als Musterbeispiel verwendet, um das gängige Artkonzept in Frage zu stellen. In traditioneller Sichtweise werden die beiden allerdings als getrennte Arten geführt.
Untermauert wird diese Sichtweise damit, dass Braun- und Eisbären kreuzbar sind und sogar fertile Nachkommen produzieren können. Bis vor kurzem fehlten entsprechende Berichte aus der Natur, im April 2006 erlegte jedoch ein Jäger auf der Banksinsel (Nordwest-Territorien, Kanada) einen vermeintlichen Eisbären. Dessen Fell war nicht richtig weiß oder gelblich, sondern zeigte eher ein sehr helles Braun. Eine DNA-Analyse durch Experten des Umweltministeriums der Nordwest-Territorien ergab, dass es sich bei dem erlegten Tier überraschenderweise um einen Hybriden aus Eisbär und Grizzlybär handelte.
Frühere Vermutungen, der Eisbär sei nur eine, vergleichsweise junge, Sonderlinie des Braunbären (der dadurch paraphyletisch wäre) beruhen nach neueren Erkenntnissen auf Fehldeutung einer unerkannten Hybridisierung (mit Introgression).In menschlicher Obhut sind auch Hybride zwischen Braun- und Amerikanischem Schwarzbär gezüchtet worden, die Jungtiere starben jedoch innerhalb weniger Wochen.
=== Interne Systematik ===
Innerhalb des großen Verbreitungsgebietes der Braunbären gibt es beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Größe und des Gewichtes, der Schädelform, der Fellfärbung und anderer morphologischer Merkmale. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Unterarten beschrieben, über deren Anzahl große Meinungsunterschiede bestehen. Im Lauf der Forschungsgeschichte wurden dutzende Unterarten beschrieben, eine Zahl, die heute wieder nach unten korrigiert wurde. In modernen Systematiken werden meist folgende Unterarten unterschieden:
Der Europäische Braunbär (Ursus arctos arctos) umfasst die Bestände in den Alpen, den Pyrenäen, in Ost- und Südeuropa sowie in Skandinavien. Zu dieser Unterart gehört auch der Kantabrische Braunbär.
Der Syrische Braunbär (U. a. syriacus) ist relativ kleinwüchsig und hat eine hellbraune Färbung. Ob es sich bei diesem in der Kaukasusregion und Vorderasien heimischen Vertreter um eine eigenständige Unterart oder um eine lokale Variante des Europäischen Braunbären handelt, ist umstritten.
Der Sibirische Braunbär (U. a. beringianus) lebt im asiatischen Teil Russlands und ist ein großgewachsener Vertreter.
Der Kamtschatkabär (U. a. piscator) ist ein auf der Halbinsel Kamtschatka beheimateter besonders großgewachsener Vertreter des Sibirischen Braunbären. Er wird manchmal als eigene Unterart aufgeführt. Er ist mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 2,5 Meter und einem Gewicht von 600 Kilogramm der zweitgrößte heute lebende Braunbär.
Der Atlasbär (U. a. crowtheri) umfasste die Bestände im nordafrikanischen Atlasgebirge, die im 19. Jahrhundert ausgerottet wurden. Manchmal wird er als eigenständige Art (Ursus crowtheri) geführt.
Der Grizzlybär (U. a. horribilis) bewohnt Nordamerika. Er ist kräftiger und schwerer als europäische Braunbären und gilt als aggressiver. „Grizzly“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „gräulich“.
Der Kalifornische Braun- oder Grizzlybär (U. a. californicus) ist ausgestorben. Er wurde aufgrund seiner Fellfärbung im Englischen als „Golden Bear“ bezeichnet und lebte im US-Bundesstaat Kalifornien sowie auf der Halbinsel Niederkalifornien.
Der Mexikanische Braun- oder Grizzlybär (U. a. nelsoni) war im nördlichen Mexiko beheimatet. Er ist vermutlich in den 1960er Jahren ausgestorben.
Der Isabellbär (U. a. isabellinus) ist nach seinem isabellfarbenen Fell benannt, er ist in Nordindien, im Himalaya und in Zentralasien beheimatet.
Der Mandschurische Braunbär (U. a. manchuricus) kommt im Nordosten Chinas und in der Mongolei vor.
Der Gobibär (U. a. gobiensis) kommt in Zentralasien und Südasien vor. Der Status dieser Unterart ist stark umstritten.
Der Kodiakbär (U. a. middendorffi), lebt auf der Insel Kodiak und benachbarten Inseln vor der Südküste Alaskas. Er ist mit einem Gewicht von bis zu 750 Kilogramm und einer Körperlänge (Kopf – Rumpf) von bis zu 2,70 Metern der größte der heute lebenden Braunbären.
Der Tibetische Braunbär (U. a. pruinosus) ist in Tibet und Sichuan beheimatet und durch sein blaugraues Fell gekennzeichnet. Vermutlich sind zahlreiche vermeintliche Sichtungen des Yetis auf Verwechslungen mit diesem Tier zurückzuführen.
Der Jessobär (U. a. lasiotus) lebt auf der japanischen Insel Hokkaidō.Genetische Untersuchungen unterstützen diese Einteilung jedoch nicht. Mittels Vergleichs der mitochondrialen DNA (mtDNA) wurden mehrere Abstammungslinien (Kladen) der Braunbären festgestellt, mit teilweise erstaunlichen Ergebnissen: So gibt es in Europa zwei Abstammungslinien – eine umfasst die Tiere in Skandinavien und in Südeuropa, die zweite die Tiere in Osteuropa und Sibirien. Die Kodiakbären gehören zur selben Linie wie die weit kleineren Exemplare im Landesinneren Alaskas, und die Population auf dem Alexanderarchipel vor der Südostküste Alaskas repräsentiert eine gänzlich eigene Linie, die genetisch den Eisbären nähersteht als den Tieren auf dem Festland.
== Mensch und Braunbär ==
=== Braunbären in der Kultur ===
Der Braunbär spielt, vermutlich aufgrund seiner Größe und Kraft, in der Kulturgeschichte eine bedeutende Rolle. Er hat Eingang in zahlreiche Mythen gefunden, ist ein häufiges Motiv in der Heraldik und kehrt auch in vielen Märchen, literarischen Werken und Filmen wieder. Auch einige Vornamen leiten sich von ihm ab. Allerdings wird nahezu überall nicht explizit vom Braunbären, sondern nur vom „Bären“ gesprochen. Da er aber in Europa die einzige in geschichtlicher Zeit lebende Bärenart war, lassen sich zumindest auf diesem Kontinent die Verweise als auf den Braunbären bezogen betrachten.
==== Etymologie und Benennung ====
Das eigentliche Wort für „(Braun-)Bär“ im Urindogermanischen hatte die Wortwurzel *ṛktos, wie aus Wörtern wie griechisch arktos und lateinisch ursus (< *urcsus < *urctus) zu schließen ist. Auch in einigen keltischen Sprachen ist die Wurzel erhalten, so im Altirischen (art), im Walisischen (arth) und im Bretonischen (arz). Die Wurzel taucht auch in den Namen der keltischen Gottheiten Artaios und Artio auf sowie bei den Griechen in den Namen der mythologischen Figuren Artemis und Arkas. Auch im Altindischen lässt sich diese Wurzel nachweisen (Sanskrit Ṛkṣa ऋक्ष).
Die Wortwurzel Bär kommt nur in germanischen Sprachen vor (Althochdeutsch bero, englisch bear, niederländisch beer, skandinavisch björn) und wird von einigen Sprachwissenschaftlern von einem alten Wort für braun abgeleitet. Aufgrund dieser Sonderstellung der germanischen Sprachen wird vermutet, dass das Wort bei den Germanen als eine Art von Tabuwort („Brauner“ statt „Bär“) entstanden ist, mit dessen Hilfe aus magischen Gründen die Verwendung des eigentlichen Bärenwortes vermieden werden sollte, um das mächtige Raubtier nicht beschwörend „herbeizurufen“.
Auch der germanische Heldenname Beowulf (neuhochdeutsch: „Bienenwolf“) ist eine Umschreibung (Kenning) für den Bären.
Ein ähnlicher Effekt ist in den slawischen Sprachen zu beobachten, wo der Bär regelmäßig mit einem Wort für Honigfresser (russisch медведь, polnisch niedźwiedź, tschechisch medvěd, slowenisch medved) benannt wird.
Der wissenschaftliche Name des Braunbären, Ursus arctos, geht auf Carl von Linné zurück und verbindet den lateinischen Namen des Bären, ursus, als Gattungsnamen und die griechische Bezeichnung arktos als Artname.
==== Mythologie und Kult ====
Höhlenmalereien von Bären und Hinweise auf einen möglichen „Bärenkult“ finden sich bereits im Jungpaläolithikum, unklar ist aber, inwieweit es sich dabei eher um den ausgestorbenen Höhlenbären und nicht um den Braunbären gehandelt hat.
In der griechischen Mythologie wird die Nymphe Kallisto, eine Begleiterin von Artemis, mit der sie manchmal gleichgesetzt wird, von Zeus verführt. Nach der Geburt ihres Sohnes Arkas wird sie entweder von Zeus’ eifersüchtiger Gattin Hera oder von Artemis, die über den Verlust von Kallistos Jungfräulichkeit entsetzt war, in einen Bären verwandelt. Jahre später tötete Arkas seine Mutter beinahe, als er auf der Jagd war und sie für einen gewöhnlichen Bären hielt. Doch Zeus hielt ihn davon ab, verwandelte ihn auch in einen Bären und setzte beide als Großer Bär und Kleiner Bär an den Sternenhimmel. Beide sind an ihrem Schwanz in den Himmel geschleudert worden, wodurch sie ihren untypischen Schweif bekamen. Die Bezeichnung Arktis leitet sich davon ab und bedeutet Land unter dem (Sternbild des) Großen Bären.
Die Kelten kannten Bärengottheiten. So wurde bei den Helvetiern die Bärengöttin Artio verehrt, wobei diese möglicherweise die Herkunft des Berner Wappentiers ist. Andere keltische Bärengottheiten waren Artaios und Matunus. In keltischen Erzählungen nimmt der Bär als „König der Tiere“ eine ähnliche Rolle ein wie später der Löwe. In welcher Beziehung der Name des sagenhaften Königs Artus zum keltischen Wort für Bär – art – steht, ist umstritten.
Aus der Nordischen Mythologie stammt die Vorstellung, bestimmte Menschen können sich in Bären verwandeln oder deren Eigenschaften annehmen. Bekannt sind die Berserker, die als Inbegriff des entfesselten Kämpfers gelten. Der Name Beowulf aus dem bekannten angelsächsischen Epos ist eine Kenning für Bär und steht möglicherweise in dieser Tradition. Das Motiv von Menschen, die Bärengestalt annehmen können, taucht beispielsweise auch in der Gestalt des Beorn in Tolkiens Roman Der Hobbit auf. Auch im lettischen Nationalepos Lacplēsis spielt der Bär eine wichtige Rolle, indem ein mythischer Held, halb Bär, halb Mensch, zum Retter des lettischen Volkes aufsteigt.
Auch von anderen eurasischen Völkern sind mythische oder kultische Vorstellungen überliefert. Im finnischen Nationalepos Kalevala gibt es Hinweise auf eine Bärenverehrung. Es war verboten, den eigentlichen Namen des Bären, karhu, auszusprechen, sodass Umschreibungen wie otso oder metsän kuningas (König des Waldes) gebraucht wurden. Nachdem ein Bär erlegt worden war, gab es Zeremonien, um den Geist des Bären zu besänftigen. Auch die Samen kannten einen Bärenkult, eine eigene Jagdzeremonie für Bären. Bei den Ainu ist bis ins 20. Jahrhundert ein Bärenopfer bezeugt: Ein junger Bär wurde gefangen, über Monate hinweg ernährt und in einem Ritual geopfert.
Manche tengristische Völker Zentral- und Nordasiens wie zum Beispiel die Ewenken sehen den Bären als heiligen Ahnen. Er gilt in Sibirien als der Herrscher der Wildnis. Seinen Namen auszusprechen gilt als Tabu, daher wird er mit anderen Worten beschrieben.
In indianischen Mythen und im Kult finden sich ebenfalls zahlreiche Bezüge zum Bären: es gab Bären-Clans, Bärentänze, der Bär fand als Totemtier Verwendung und auch bei der Namensgebung, zum Beispiel Big Bear oder Sun Bear. Anzumerken ist aber, dass es in Nordamerika neben dem Braunbären auch noch den Schwarzbären gibt, die äußerlich manchmal nur schwer zu unterscheiden sind und im mythisch-kultischen Bereich meist auch nicht getrennt wurden.
==== Heraldik ====
In der Heraldik ist der Bär ein häufiges Motiv, das Macht und Stärke widerspiegelt. Oft kommt er in sogenannten „redenden Wappen“ vor, in Wappen für Personen oder Orte, in deren Namen ein wie „Bär“ klingender Bestandteil vorkommt, unabhängig von der Etymologie. Bekanntes Beispiel ist der „Berliner Bär“ im Wappen Berlins. Im Alpenraum sind das Wappen der Schweizer Hauptstadt und des Kantons Bern sowie die der österreichischen Ortschaften Petzenkirchen und den beiden Orten Berndorf in Salzburg oder Berndorf in Niederösterreich weitere Beispiele.
In verschiedenen Heiligenlegenden der Spätantike bzw. des frühen Mittelalters – auch hier vor allem aus dem Alpenraum – werden Begegnungen von christlichen Missionaren mit Bären geschildert, in denen der Heilige zeigt, dass er Macht über das stärkste Raubtier ausüben kann, was zur Demonstration der Macht Gottes verwendet wurde. Diese Geschichten werden dem Hl. Gallus und dem Hl. Korbinian zugeschrieben. So kommt es vor, dass Orte, die von diesen Heiligen gegründet oder nach ihnen benannt wurden, später den Bären als Wappentier angenommen haben. Im Fall des Hl. Gallus ist dies beispielsweise im Wappen der Abtei und der Stadt St. Gallen der Fall. Der Korbiniansbär ist unter anderem im Wappen der Stadt Freising und im Wappen des Erzbistums München-Freising zu sehen. Papst Benedikt XVI. war hier eine Zeit lang Erzbischof und hat das Motiv in sein Papstwappen übernommen.
Allgemein gilt der Alpenraum als Rückzugsgebiet der Bären, so dass hier auch zum Zeitpunkt der Wappenentstehung noch häufig Bären anzutreffen waren, die dann als Wappentiere angenommen wurden. Dies ist bei den beiden Halbkantonen Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden sowie bei der Ortschaft Mannenbach der Fall.
Der Fürst Bernhard III. von Anhalt-Bernburg führte im Jahre 1323 ein heraldisches Bärenmotiv in seinem Reitersiegel. Dieses Bärenmotiv wurde zum Wappen der Linie Anhalt-Bernburg des Fürstenhauses der Askanier, dessen berühmtester Vertreter der später so genannte Albrecht der Bär war. In dieser Linie gab es von 1252 bis 1468 sechs Herzöge mit Namen Bernhard. Das Wappen mit dem Bären wurde zum Wappen des Herzogtums und späteren Freistaates Anhalt und ist heute im Wappen des Bundeslandes Sachsen-Anhalt vertreten: Im weißen Feld ein schwarzer, schreitender Bär auf einer schwarzgefugten, roten Zinnenmauer mit geöffnetem Tor.
Durch die Heirat einer Erbtochter kam das Bärenwappen der westfälischen Grafen von Rietberg in das bis heute verwendete Wappen von Ostfriesland.
Besonders originell ist das Wappen der historischen Grafschaft Hoya, das bis heute von der Samtgemeinde Grafschaft Hoya geführt wird; es zeigt zwei abgewendete, durch einen Hautfetzen verbundene Bärentatzen. Einzelne abgehackte Bärentatzen bilden ein vergleichsweise häufiges Motiv in den Wappen deutscher Adelsfamilien. Das rührt vermutlich daher, dass die Tatzen als einzige Teile eines erlegten Bären gelten, die für den menschlichen Genuss geeignet sind und deshalb als Jagdbeute mit nach Hause gebracht wurden.
Bären weisen unter anderem auch das Wappen der russischen Republik Karelien und Flagge und Siegel des US-Bundesstaates Kalifornien auf. Letztere zeigen die ausgestorbene Unterart Kalifornischer Braunbär (Ursus arctos californicus).
Meist sind die Braunbären nicht in ihrer natürlichen Farbe abgebildet, sondern in schwarz, rot oder gold. Das rührt daher, dass Braun keine heraldische Farbe ist und daher oft auf die nächstliegenden Farben zurückgegriffen wurde.
Weitere Wappenabbildungen: Bären in der Heraldik auf Commons
==== Märchen, Literatur und Film ====
In Märchen und Fabeln spielt der Braunbär, als „Meister Petz“ oder „Braun“ bezeichnet, eine in der Regel gutmütige, manchmal etwas tollpatschige Figur. In der Literatur, insbesondere in der Kinderliteratur sowie im Zeichentrickfilm finden sich zahlreiche Ableger dieses Motivs, darunter „Balou der Bär“ aus dem Dschungelbuch, Käpt’n Blaubär, Pu der Bär, Petzi und viele andere. Bei Schneeweißchen und Rosenrot schließlich erweist sich der hilfreiche Bär als ein verwandelter Mensch.
Der Spielfilm Der Bär (L’ours) von Jean-Jacques Annaud beschreibt die Geschichte eines verwaisten Bärenjungen, das in der kanadischen Wildnis von einem männlichen Bären „adoptiert“ wird. Der Film ist aus Sicht der Bären erzählt und enthält kaum herkömmliche Dialoge.
==== Sonstiges ====
In der Börse steht der Begriff „Bärenmarkt“ im Gegensatz zum „Bullenmarkt“ für sinkende Kurse (Baisse). Diese Bezeichnung geht auf Tierkämpfe zurück, die im 19. Jahrhundert in den USA abgehalten wurden.
Eine Reihe von Vornamen leiten sich vom Bären ab, darunter die deutschen Namen Bernhard und Bernward, das aus dem Nordgermanischen stammende Björn, aus dem Keltischen Artur, oder die auf die lateinische Bezeichnung Ursus zurückgehenden Namen Urs und Ursula. Auch Sportmannschaften und andere Vereine tragen zu Bezeichnung „Bären“ oder englisch „Bears“ in ihrem Namen, beispielsweise die Bergkamener Bären oder die Chicago Bears. Erwähnt seien an dieser Stelle noch zahlreiche Markennamen, die an den Bären angelehnt sind, wie der Likör Bärenfang, die Kaffeesahne Bärenmarke und das Bärenpils von Berliner Kindl.
Auch für den Teddybären stand der Braunbär Pate. Richard Steiff wurde durch die Braunbären im Stuttgarter Zoo dazu inspiriert, auch wenn es sich bei der legendenhaften Erzählung der Entstehung des Namens um ein Schwarzbärbaby gehandelt hat, das von Theodore „Teddy“ Roosevelt verschont wurde.
Ein schlechter Dienst, den man jemandem leistet, heißt redensartlich Bärendienst.
=== Der Umgang mit realen Braunbären ===
==== Braunbären in Gefangenschaft ====
Die Verwendung von Braunbären als Objekte der Unterhaltung hat eine weitreichende Geschichte. Mit Netzen und Fallgruben gefangene Bären – in den Legionen des Römischen Reiches gab es speziell ausgebildete „ursarii“ – wurden ab etwa 169 v. Chr. in großer Zahl nach Rom transportiert.
Seit Caesars Regierungszeit wurden Bären zu Tausenden in Zirkusspielen getötet. Die Bärenhatz, also die öffentliche Tötung von Bären, blieb bis in die frühe Neuzeit hinein eine beliebte Vergnügungsveranstaltung. Bärenkämpfe, bei denen man Bären gegeneinander oder gegen Hunde kämpfen lässt, waren ebenfalls früher verbreitet. Heute finden solche Darbietungen noch in Teilen Asiens statt, allerdings mit Asiatischen Schwarzbären.
Gefangene und abgerichtete Bären waren in Europa als Tanzbären bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Jahrmarktsattraktion. Auch in der Zirkusdressur spielten Bären eine wichtige Rolle. Sie gelten für den Tierbändiger als die gefährlichsten Raubtiere. Durch das Erstarken des Tierschutzes im öffentlichen Bewusstsein sind diese Erscheinungen seit etwa einem halben Jahrhundert rückläufig. Vielerorts werden bis heute Braunbären gehalten. Während sich Zoos heutzutage vermehrt um eine artgerechte Haltung bemühen, entspricht die Unterbringung der Tiere in Bärengräben oder Käfigen in der Regel nicht den modernen Anforderungen des Tierschutzes.
==== Zusammenleben mit Braunbären ====
Aufgrund seiner großen Kraft kann ein einziger Biss oder Prankenhieb eines Bären beim Menschen schwere Verletzungen oder sogar den Tod verursachen. Für gewöhnlich greifen sie Menschen jedoch selten an; sie fliehen, wenn sie Menschen nahen hören. Es gibt allerdings Situationen, in denen sie gefährlich werden können. Dazu zählen die Begegnung mit verletzten Tieren, mit Müttern, die Jungtiere bei sich haben, mit Tieren, die an Kadavern fressen oder wenn der Mensch einen Hund bei sich hat.
Es gibt eine Reihe von Verhaltensregeln, die beispielsweise von den Nationalparkverwaltungen in Nordamerika herausgegeben werden. Durch Lärm durch Sprechen, Singen oder ein Glöckchen am Stiefel soll verhindert werden, dass ein Bär überrascht und erschreckt wird. Provokatives oder bedrohendes Verhalten sollte vermieden werden, dazu zählen auch Versuche, das Tier zu verscheuchen. Im Fall eines Angriffes soll man nicht weglaufen, sondern sich tot stellen.
Trotzdem kommt es nahezu jedes Jahr in Nordamerika und Asien, selten auch in Europa, zu vereinzelten Todesfällen, die gegebenenfalls auf provokantes oder unvorsichtiges Verhalten der Menschen zurückzuführen sind.
Bekannt in Europa wurde 2006 der Braunbär „Bruno“, korrekter Name „JJ1“, der wegen vermuteter Bedrohlichkeit („Problembär“) nach mehreren Aktivitäten in der Nähe menschlicher Siedlungen im Gebiet Spitzingsee erlegt wurde. Vorgang und Begleitumstände wurden kontrovers diskutiert.
==== Jagd auf Braunbären ====
Gaston Phébus, der Graf von Foix, verfasste in den 1380er Jahren sein vielfach kopiertes und zitiertes Livre de Chasse (deutsch: „Jagdbuch“), in dem er auch Einzelheiten über die Lebensweise der Bären mitteilte und Empfehlungen zur Jagd auf den Bären aussprach. So sollte man zur Jagd auf den Bären Bogen- oder Armbrustschützen mitnehmen. Wenn die Hunde den Bären gestellt hätten, seien mindestens zwei Männer zum Abfangen des Bären mit Spießen (Bärenspieß oder Bärenfeder, ähnlich der Saufeder) notwendig, wobei einer den Bären verletzen und auf sich lenken solle, der zweite dann den Bären gezielt von hinten abfangen könne. Ein Schwert, wie bei Wildschweinen häufig verwendet, eigne sich zum Abfangen des Bären nicht, vermutlich weil der Jäger dann in die Reichweite der tödlichen Pranken des Bären kommt. Das Fleisch sei nicht sehr schmackhaft, eine Delikatesse seien dagegen die Bärentatzen.
Neben dem Aspekt der Unterhaltung wurden Braunbären vielfach auch gejagt, um ihre Körperteile zu nutzen. Diese Bejagung ist von vielen Völkern Eurasiens und Nordamerikas bekannt und war oft mit rituellen Zeremonien verbunden. Das Fleisch der Bären wurde gegessen, das Fell für Kleidung oder Decken verwendet, Krallen und Zähne wurden zu Schmuckstücken verarbeitet. Auch (vermeintlich) medizinische oder abergläubische Gründe waren ausschlaggebend: In römischer Zeit wurden beispielsweise Fett, Galle, Blut und Hoden teils gegen verschiedene Krankheiten, teils in der Landwirtschaft gegen Raupen, Läuse und Frostschäden angewandt. In der traditionellen Chinesischen Medizin spielt die Gallenflüssigkeit der Bären bis heute eine wichtige Rolle. Zwar werden vorrangig Asiatische Schwarzbären dafür erlegt oder sogar gehalten, diese Art wird aber immer seltener. Die Gewinnung der Galle ist einer der Gründe, weswegen heute auch zahlreiche Braunbären, insbesondere in Asien, gewildert werden.
Ein weiterer Grund für die Bejagung der Braunbären war die Sicht als Nahrungskonkurrent, der Weidetiere wie Schafe, Ziegen und Rinder reißt, Fischteiche plündert und Bienenstöcke aufbricht. Während unbestritten ist, dass solche Vorfälle passieren, ist das Ausmaß der tatsächlichen Schäden ungewiss und dürfte oft übertrieben dargestellt werden. Häufig war auch der Mensch die Hauptursache dafür, indem er massiv in den natürlichen Lebensraum der Bären eingriff und sie so zwang, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen.
Heute noch immer verbreitet ist die Jagd auf Braunbären, die im Gegensatz zur früheren wirtschaftlichen Nutzung als reine Trophäenjagd durchgeführt und auch von heimischen Reiseveranstaltern angeboten wird. Dabei wird ein Bär durch regelmäßige Fütterung an einen Platz gebunden. Sobald der Bär regelmäßig am Luderplatz erscheint, kann ein Jagdgast eingeladen werden, der ohne große Anstrengung den Bären erschießen kann.
== Literatur ==
Bernd Brunner: Eine kurze Geschichte der Bären. Claassen, Berlin 2005, ISBN 3-546-00395-0.
Igor Chestin: Der Braunbär. (= Die Neue Brehm-Bücherei. Band 633). Westarp, Magdeburg 1996, ISBN 3-89432-494-5.
Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 (englisch).
Maria Pasitschniak-Arts: Ursus arctos. In: Mammalian Species. Nr. 439, American Society of Mammalogists, Washington DC 1993, ISSN 0076-3519, S. 1–10.
L. P. Waits, S. L. Talbot, R. H. Ward, G. F. Shields: Mitochondrial DNA phylogeography of the North American brown bear and implications for conservation. In: Conservation Biology. Band 12, Nr. 2, Blackwell, Boston Mass 1998, ISSN 0888-8892, S. 408–417.Belletristik
Lew Tolstoi: Die Bärenjagd. Sankt Petersburg 1875.
== Weblinks ==
Ursus arctos in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: B. N. McLellan, C. Servheen, D. Huber, 2008. Abgerufen am 24. Februar 2008.
Informationen des Schweizer Bundesamts für Umwelt mit („Konzept Bär“) (Memento vom 17. September 2014 im Internet Archive)
Homepage der deutschen Stiftung für Bären
waldwissen.net – Dossier Großraubtiere (Memento vom 11. Januar 2013 im Internet Archive)
Bären in Rumänien
Bären in der Slowakei (slow. und engl.)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Braunb%C3%A4r |
Curium | = Curium =
Curium ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cm und der Ordnungszahl 96. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt zu den Transuranen. Curium wurde nach den Forschern Marie Curie und Pierre Curie benannt.
Bei Curium handelt es sich um ein radioaktives, silbrig-weißes Metall großer Härte. Es wird in Kernreaktoren gebildet, eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 20 g.
Curium wurde im Sommer 1944 erstmals aus dem leichteren Element Plutonium erzeugt, die Entdeckung wurde zunächst nicht veröffentlicht. Erst in einer amerikanischen Radiosendung für Kinder wurde durch den Entdecker Glenn T. Seaborg als Gast der Sendung die Existenz der Öffentlichkeit preisgegeben, indem er die Frage eines jungen Zuhörers bejahte, ob neue Elemente entdeckt worden seien.
Curium ist ein starker α-Strahler; es wird gelegentlich aufgrund der sehr großen Wärmeentwicklung während des Zerfalls in Radionuklidbatterien eingesetzt. Außerdem wird es zur Erzeugung von 238Pu für gammastrahlungsarme Radionuklidbatterien, beispielsweise in Herzschrittmachern, verwendet. Das Element kann weiterhin als Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide eingesetzt werden. Es dient auch als α-Strahlenquelle in Röntgenspektrometern, mit denen u. a. die Mars-Rover Sojourner, Spirit und Opportunity auf der Oberfläche des Planeten Mars Gestein chemisch analysieren. Der Lander Philae der Raumsonde Rosetta sollte damit die Oberfläche des Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko untersuchen.
== Geschichte ==
Curium wurde im Sommer 1944 von Glenn T. Seaborg und seinen Mitarbeitern Ralph A. James und Albert Ghiorso entdeckt. In ihren Versuchsreihen benutzten sie ein 60-Inch-Cyclotron an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Nach Neptunium und Plutonium war es das dritte seit dem Jahr 1940 entdeckte Transuran. Seine Erzeugung gelang noch vor der des in der Ordnungszahl um einen Platz tiefer stehenden Elements Americium.Zur Erzeugung des neuen Elements wurden meistens die Oxide der Ausgangselemente verwendet. Dazu wurde zunächst Plutoniumnitratlösung (mit dem Isotop 239Pu) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2 aufgetragen, die Lösung danach eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (PuO2) geglüht. Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst und anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst. Die weitere Trennung erfolgte mit Ionenaustauschern. In diesen Versuchsreihen entstanden zwei verschiedene Isotope: 242Cm und 240Cm.
Das erste Isotop 242Cm erzeugten sie im Juli/August 1944 durch Beschuss von 239Pu mit α-Teilchen. Hierbei entsteht in einer sogenannten (α,n)-Reaktion das gewünschte Isotop und ein Neutron:
94
239
P
u
+
2
4
H
e
⟶
96
242
C
m
+
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{239\!\,}_{\ 94}Pu\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 96}^{242}Cm\ +\ _{0}^{1}n} }
Die Identifikation gelang zweifelsfrei anhand der charakteristischen Energie des beim Zerfall ausgesandten α-Teilchens. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde erstmals auf 150 Tage bestimmt (162,8 d).
96
242
C
m
⟶
94
238
P
u
+
2
4
H
e
{\displaystyle \mathrm {^{242}_{\ 96}Cm\ \longrightarrow \ _{\ 94}^{238}Pu\ +\ _{2}^{4}He} }
Das zweite, kurzlebigere Isotop 240Cm, das ebenfalls durch Beschuss von 239Pu mit α-Teilchen entsteht, entdeckten sie erst später im März 1945:
94
239
P
u
+
2
4
H
e
⟶
96
240
C
m
+
3
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 96}^{240}Cm\ +\ 3\ _{0}^{1}n} }
Die Halbwertszeit des anschließenden α-Zerfalls wurde erstmals auf 26,7 Tage bestimmt (27 d).
Auf Grund des andauernden Zweiten Weltkriegs wurde die Entdeckung des neuen Elements zunächst nicht veröffentlicht. Die Öffentlichkeit erfuhr erst auf äußerst kuriose Weise von dessen Existenz: In der amerikanischen Radiosendung Quiz Kids vom 11. November 1945 fragte einer der jungen Zuhörer Glenn Seaborg, der als Gast der Sendung auftrat, ob während des Zweiten Weltkriegs im Zuge der Erforschung von Nuklearwaffen neue Elemente entdeckt worden seien. Seaborg bejahte die Frage und enthüllte damit die Existenz des Elements gleichzeitig mit der des nächstniedrigeren Elements, Americium. Dies geschah noch vor der offiziellen Bekanntmachung bei einem Symposium der American Chemical Society.
Die Entdeckung von Curium (242Cm, 240Cm), ihre Produktion und die ihrer Verbindungen wurden später unter dem Namen Element 96 and compositions thereof patentiert, wobei als Erfinder nur Glenn T. Seaborg angegeben wurde.Der Name Curium wurde in Analogie zu Gadolinium gewählt, dem Seltenerdmetall, das im Periodensystem genau über Curium steht. Die Namenswahl ehrte das Ehepaar Marie und Pierre Curie, dessen wissenschaftliche Arbeit für die Erforschung der Radioaktivität bahnbrechend gewesen war. Es folgte damit der Namensgebung von Gadolinium, das nach dem berühmten Erforscher der Seltenen Erden, Johan Gadolin benannt wurde: As the name for the element of atomic number 96 we should like to propose "curium", with symbol Cm. The evidence indicates that element 96 contains seven 5f electrons and is thus analogous to the element gadolinium with its seven 4f electrons in the regular rare earth series. On this basis element 96 is named after the Curies in a manner analogous to the naming of gadolinium, in which the chemist Gadolin was honored.
Die erste wägbare Menge Curium konnte 1947 in Form des Hydroxids von Louis B. Werner und Isadore Perlman hergestellt werden. Hierbei handelte es sich um 40 μg 242Cm, das durch Neutronenbeschuss von 241Am entstand. In elementarer Form wurde es erst 1951 durch Reduktion von Curium(III)-fluorid mit Barium dargestellt.
== Vorkommen ==
Das langlebigste Isotop 247Cm besitzt eine Halbwertszeit von 15,6 Millionen Jahren. Aus diesem Grund ist das gesamte primordiale Curium, das die Erde bei ihrer Entstehung enthielt, mittlerweile zerfallen. Curium wird zu Forschungszwecken in kleinen Mengen künstlich hergestellt. Weiterhin fällt es in geringen Mengen in abgebrannten Kernbrennstoffen an.
In der Umwelt vorkommendes Curium stammt größtenteils aus atmosphärischen Kernwaffentests bis 1980. Lokal gibt es höhere Vorkommen, bedingt durch nukleare Unfälle und andere Kernwaffentests. Zum natürlichen Hintergrund der Erde trägt Curium allerdings kaum bei.Über die Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe, Ivy Mike, am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll hinaus wurden neben Plutonium und Americium auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden: vor allem die Isotope 245Cm und 246Cm, in kleineren Mengen 247Cm und 248Cm, in Spuren 249Cm. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst später im Jahr 1956 publiziert.
== Gewinnung und Darstellung ==
=== Gewinnung von Curiumisotopen ===
Curium fällt in geringen Mengen in Kernreaktoren an. Es steht heute weltweit lediglich in Mengen von wenigen Kilogramm zur Verfügung, worauf sein sehr hoher Preis von etwa 160 US-Dollar pro Mikrogramm 244Cm bzw. 248Cm beruht. In Kernreaktoren wird es aus 238U in einer Reihe von Kernreaktionen gebildet. Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das Plutoniumisotop 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt.
92
238
U
→
(
n
,
γ
)
92
239
U
→
23
,
5
m
i
n
β
−
93
239
N
p
→
2
,
3565
d
β
−
94
239
P
u
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 92}^{239}U\ {\xrightarrow[{23,5\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 93}^{239}Np\ {\xrightarrow[{2,3565\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 94}^{239}Pu} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.Zwei weitere (n,γ)-Reaktionen mit anschließendem β−-Zerfall liefern das Americiumisotop 241Am. Dieses ergibt nach einer weiteren (n,γ)-Reaktion mit folgendem β-Zerfall 242Cm.
94
239
P
u
→
2
(
n
,
γ
)
94
241
P
u
→
14
,
35
a
β
−
95
241
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
242
A
m
→
16
,
02
h
β
−
96
242
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {2(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{241}Pu\ {\xrightarrow[{14,35\ a}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{241}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{242}Am\ {\xrightarrow[{16,02\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{242}Cm} }
Zu Forschungszwecken kann Curium auf effizienterem Wege gezielt aus Plutonium gewonnen werden, das im großen Maßstab aus abgebranntem Kernbrennstoff erhältlich ist. Dieses wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor, so dass hier ein anderer Reaktionspfad als der oben dargestellte überwiegt. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu dem Americiumisotop 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm.
94
239
P
u
→
4
(
n
,
γ
)
94
243
P
u
→
4
,
956
h
β
−
95
243
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
244
A
m
→
10
,
1
h
β
−
96
244
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {4(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{243}Pu\ {\xrightarrow[{4,956\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{243}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{244}Am\ {\xrightarrow[{10,1\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{244}Cm} }
96
244
C
m
→
18
,
11
a
α
94
240
P
u
{\displaystyle \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow[{18,11\ a}]{\alpha }}\ _{\ 94}^{240}Pu} }
Diese Reaktion findet auch in Kernkraftwerken im Kernbrennstoff statt, so dass 244Cm auch bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Kernbrennstoffe anfällt und auf diesem Wege gewonnen werden kann.
Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächst schwereren Isotope. In der Forschung sind besonders die Isotope 247Cm und 248Cm wegen ihrer langen Halbwertszeiten beliebt. Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind. Dieses Isotop ist jedoch aus dem α-Zerfall von 254Cf zugänglich. Problematisch ist hierbei jedoch, dass 254Cf hauptsächlich durch Spontanspaltung und nur in geringem Maße durch α-Zerfall zerfällt. 249Cm zerfällt durch β−-Zerfall zu Berkelium 249Bk.
96
A
C
m
+
0
1
n
⟶
96
A
+
1
C
m
+
γ
{\displaystyle \mathrm {^{A}_{96}Cm\ +\ _{0}^{1}n\ \longrightarrow \ _{\ \ 96}^{A+1}Cm\ +\ \gamma } }
(n,γ)-Reaktionen für die Nukleonenzahlen A=244–248, selten auch für A=249 und 250.Durch Kaskaden von (n,γ)-Reaktionen und β-Zerfällen hergestelltes Curium besteht jedoch immer aus einem Gemisch verschiedener Isotope. Eine Auftrennung ist daher mit erheblichem Aufwand verbunden.
Zu Forschungszwecken wird auf Grund seiner langen Halbwertszeit bevorzugt 248Cm verwendet. Die effizienteste Methode zur Darstellung dieses Isotops ist durch den α-Zerfall von Californium 252Cf gegeben, das auf Grund seiner langen Halbwertszeit in größeren Mengen zugänglich ist. Auf diesem Wege gewonnenes 248Cm besitzt eine Isotopenreinheit von 97 %. Etwa 35–50 mg 248Cm werden auf diese Art derzeit pro Jahr erhalten.
98
252
C
f
→
2
,
645
a
α
96
248
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{252}_{\ 98}Cf\ {\xrightarrow[{2,645\ a}]{\alpha }}\ _{\ 96}^{248}Cm} }
Das lediglich zur Isotopenforschung interessante reine 245Cm kann aus dem α-Zerfall von Californium 249Cf erhalten werden, welches in sehr geringen Mengen als Tochternuklid des β−-Zerfalls des Berkeliumisotops 249Bk erhalten werden kann.
97
249
B
k
→
330
d
β
−
98
249
C
f
→
351
a
α
96
245
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 97}Bk\ {\xrightarrow[{330\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 98}^{249}Cf\ {\xrightarrow[{351\ a}]{\alpha }}\ _{\ 96}^{245}Cm} }
=== Darstellung elementaren Curiums ===
Metallisches Curium kann durch Reduktion aus seinen Verbindungen erhalten werden. Zuerst wurde Curium(III)-fluorid zur Reduktion verwendet. Dieses wird hierzu in wasser- und sauerstofffreier Umgebung in Reaktionsapparaturen aus Tantal und Wolfram mit elementarem Barium oder Lithium zur Reaktion gebracht.
CmF
3
+
3
Li
⟶
Cm
+
3
LiF
{\displaystyle {\ce {CmF3 + 3 Li -> Cm + 3 LiF}}}
Auch die Reduktion von Curium(IV)-oxid mittels einer Magnesium-Zink-Legierung in einer Schmelze aus Magnesiumchlorid und Magnesiumfluorid ergibt metallisches Curium.
== Eigenschaften ==
Im Periodensystem steht das Curium mit der Ordnungszahl 96 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Americium, das nachfolgende Element ist das Berkelium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoiden ist das Gadolinium.
=== Physikalische Eigenschaften ===
Curium ist ein radioaktives Metall. Dieses ist hart und hat ein silbrig-weißes Aussehen ähnlich dem Gadolinium, seinem Lanthanoidanalogon. Auch in seinen weiteren physikalischen und chemischen Eigenschaften ähnelt es diesem stark. Sein Schmelzpunkt von 1340 °C liegt deutlich höher als der der vorhergehenden Transurane Neptunium (637 °C), Plutonium (639 °C) und Americium (1173 °C). Im Vergleich dazu schmilzt Gadolinium bei 1312 °C. Der Siedepunkt von Curium liegt bei 3110 °C.
Von Curium existiert bei Standardbedingungen mit α-Cm nur eine bekannte Modifikation. Diese kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 365 pm und c = 1182 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La.
Oberhalb eines Drucks von 23 GPa geht α-Cm in β-Cm über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe Fm3m (Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 mit dem Gitterparameter a = 493 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (fcc) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht.
Die Fluoreszenz angeregter Cm(III)-Ionen ist ausreichend langlebig, um diese zur zeitaufgelösten Laserfluoreszenzspektroskopie zu nutzen. Die lange Fluoreszenz kann auf die große Energielücke zwischen dem Grundterm 8S7/2 und dem ersten angeregten Zustand 6D7/2 zurückgeführt werden. Dies erlaubt die gezielte Detektion von Curiumverbindungen unter weitgehender Ausblendung störender kurzlebiger Fluoreszenzprozesse durch weitere Metallionen und organische Substanzen.
=== Chemische Eigenschaften ===
Die stabilste Oxidationsstufe für Curium ist +3. Gelegentlich ist es auch in der Oxidationsstufe +4 zu finden. Sein chemisches Verhalten ähnelt sehr dem Americium und vielen Lanthanoiden. In verdünnten wässrigen Lösungen ist das Cm3+-Ion farblos, das Cm4+-Ion blassgelb. In höher konzentrierten Lösungen ist das Cm3+-Ion jedoch ebenfalls blassgelb.Curiumionen gehören zu den harten Lewis-Säuren, weshalb sie die stabilsten Komplexe mit harten Basen bilden. Die Komplexbindung besitzt hierbei nur einen sehr geringen kovalenten Anteil und basiert hauptsächlich auf ionischer Wechselwirkung. Curium unterscheidet sich in seinem Komplexierungsverhalten von den früher bekannten Actinoiden wie Thorium und Uran und ähnelt auch hier stark den Lanthanoiden. In Komplexen bevorzugt es eine neunfache Koordination mit dreifach überkappter trigonal-prismatischer Geometrie.
=== Biologische Aspekte ===
Curium besitzt keine biologische Bedeutung. Die Biosorption von Cm3+ durch Bakterien und Archäen wurde untersucht.
=== Spaltbarkeit ===
Die ungeradzahligen Curiumisotope, insbesondere 243Cm, 245Cm und 247Cm eignen sich aufgrund der hohen Spaltquerschnitte prinzipiell auch als Kernbrennstoffe in einem thermischen Kernreaktor. Generell können alle Isotope zwischen 242Cm und 248Cm sowie 250Cm eine Kettenreaktion aufrechterhalten, wenn auch zum Teil nur mit schneller Spaltung. In einem schnellen Reaktor könnte also jede beliebige Mischung der genannten Isotope als Brennstoff verwendet werden. Der Vorteil liegt dann darin, dass bei der Gewinnung aus abgebranntem Kernbrennstoff keine Isotopentrennung durchgeführt werden müsste, sondern lediglich eine chemische Separation des Curiums von den anderen Stoffen.
Die unten stehende Tabelle gibt die kritischen Massen für eine reine Kugelgeometrie ohne Moderator und Reflektor an:
Mit Reflektor liegen die kritischen Massen der ungeradzahligen Isotope bei etwa 3–4 kg. In wässriger Lösung mit Reflektor lässt sich die kritische Masse für 245Cm bis auf 59 g reduzieren (243Cm: 155 g; 247Cm: 1,55 kg); diese Werte sind aufgrund von Unsicherheiten der für die Berechnung relevanten physikalischen Daten nur auf etwa 15 % genau, dementsprechend finden sich in unterschiedlichen Quellen teils stark schwankende Angaben. Aufgrund der geringen Verfügbarkeit und des hohen Preises wird Curium aber nicht als Kernbrennstoff eingesetzt und ist daher in § 2 Abs. 1 des Atomgesetzes in Deutschland auch nicht als solcher klassifiziert.
Die ungeradzahligen Curiumisotope, hier wiederum insbesondere 245Cm und 247Cm, könnten ebenso wie für den Reaktorbetrieb auch zum Bau von Kernwaffen eingesetzt werden. Bomben aus 243Cm wären aber aufgrund der geringen Halbwertszeit des Isotops mit einem erheblichen Wartungsaufwand verbunden. Außerdem müsste 243Cm als α-Strahler durch die beim radioaktiven Zerfall freiwerdende Energie glühend heiß sein, was die Konstruktion einer Bombe sehr erschweren dürfte. Da die kritischen Massen zum Teil sehr klein sind, ließen sich so vergleichsweise kleine Bomben konstruieren. Bisher sind allerdings keine Aktivitäten dieser Art publik geworden, was sich ebenfalls auf die geringe Verfügbarkeit zurückführen lässt.
== Isotope ==
Von Curium existieren nur Radionuklide und keine stabilen Isotope. Insgesamt sind 20 Isotope und 7 Kernisomere des Elements zwischen 233Cm und 252Cm bekannt. Die längsten Halbwertszeiten haben 247Cm mit 15,6 Mio. Jahren und 248Cm mit 348.000 Jahren. Daneben haben noch die Isotope 245Cm mit 8500, 250Cm mit 8300 und 246Cm mit 4760 Jahren lange Halbwertszeiten. 250Cm ist dabei eine Besonderheit, da sein radioaktiver Zerfall zum überwiegenden Teil (etwa 86 %) in spontaner Spaltung besteht.
Die am häufigsten technisch eingesetzten Curiumisotope sind 242Cm mit 162,8 Tagen und 244Cm mit 18,1 Jahren Halbwertszeit.
Die Wirkungsquerschnitte für induzierte Spaltung durch ein thermisches Neutron betragen: für 242Cm etwa 5 b, 243Cm 620 b, 244Cm 1,1 b, 245Cm 2100 b, 246Cm 0,16 b, 247Cm 82 b, 248Cm 0,36 b. Dies entspricht der Regel, nach der meist die Transuran-Nuklide mit ungerader Neutronenzahl "thermisch leicht spaltbar" sind.
→ Liste der Curiumisotope
== Verwendung ==
=== Radionuklidbatterien ===
Da die beiden am häufigsten erbrüteten Isotope, 242Cm und 244Cm, nur kurze Halbwertszeiten (162,8 Tage bzw. 18,1 Jahre) und Alphaenergien von etwa 6 MeV haben, zeigt es eine viel stärkere Aktivität als etwa das in der natürlichen Uran-Radium-Zerfallsreihe erzeugte 226Ra. Aufgrund dieser Radioaktivität gibt es sehr große Wärmemengen ab; 244Cm emittiert 3 Watt/g und 242Cm sogar 120 Watt/g. Diese Curiumisotope können aufgrund der extremen Wärmeentwicklung in Form von Curium(III)-oxid (Cm2O3) in Radionuklidbatterien zur Versorgung mit Elektrischer Energie z. B. in Raumsonden eingesetzt werden. Dafür wurde vor allem die Verwendung von 244Cm untersucht. Als α-Strahler benötigt es eine wesentlich dünnere Abschirmung als die Betastrahler, jedoch ist seine Spontanspaltungsrate und damit die Neutronen- und Gammastrahlung höher als die von 238Pu. Es unterlag daher wegen der benötigten dicken Abschirmung und starken Neutronenstrahlung sowie seiner kürzeren Halbwertszeit (18,1 Jahre) dem 238Pu mit 87,7 Jahren Halbwertszeit.242Cm wurde auch eingesetzt, um 238Pu für Radionuklidbatterien in Herzschrittmachern zu erzeugen. Im Reaktor erbrütetes 238Pu wird durch die (n,2n)-Reaktion von 237Np immer mit 236Pu verunreinigt, in dessen Zerfallsreihe der starke Gammastrahler 208Tl vorkommt. Ähnliches gilt auch für aus Uran unter Deuteronenbeschuss gewonnene 238Pu. Die anderen gewöhnlicherweise im Reaktor in relevanten Mengen erbrüteten Curium-Isotope führen in ihren Zerfallsreihen schnell auf langlebige Isotope, deren Strahlung für die Konstruktion von Herzschrittmachern dann nicht mehr relevant ist.
=== Röntgenspektrometer ===
244Cm dient als α-Strahlenquelle in den vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz entwickelten α-Partikel-Röntgenspektrometern (APXS), mit denen die Mars-Rover Sojourner, Spirit und Opportunity auf dem Planeten Mars Gestein chemisch analysierten. Auch der Lander Philae der Raumsonde Rosetta ist mit einem APXS ausgestattet, um die Zusammensetzung des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko zu analysieren.Außerdem hatten bereits die Mondsonden Surveyor 5–7 Alphaspektrometer an Bord. Diese arbeiteten jedoch mit 242Cm und maßen die von den α-Teilchen aus dem Mondboden herausgeschlagenen Protonen und zurückgeworfene α-Teilchen.
=== Herstellung anderer Elemente ===
Weiterhin ist Curium Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide. So führt zum Beispiel der Beschuss von 248Cm mit Sauerstoff (18O) beziehungsweise Magnesiumkernen (26Mg) zu den Elementen Seaborgium 265Sg beziehungsweise Hassium 269Hs und 270Hs.
== Sicherheitshinweise ==
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen, die eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt.
Da von Curium nur radioaktive Isotope existieren, darf es selbst sowie seine Verbindungen nur in geeigneten Laboratorien unter speziellen Vorkehrungen gehandhabt werden. Die meisten gängigen Curiumisotope sind α-Strahler, weshalb eine Inkorporation unbedingt vermieden werden muss. Auch zerfällt ein Großteil der Isotope zu einem gewissen Anteil unter Spontanspaltung. Das breite Spektrum der hieraus resultierenden meist ebenfalls radioaktiven Tochternuklide stellt ein weiteres Risiko dar, das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigt werden muss.
=== Wirkung im Körper ===
Wird Curium mit der Nahrung aufgenommen, so wird es größtenteils innerhalb einiger Tage wieder ausgeschieden und lediglich 0,05 % werden in den Blutkreislauf aufgenommen. Von hier werden etwa 45 % in der Leber deponiert, weitere 45 % werden in die Knochensubstanz eingebaut. Die verbleibenden 10 % werden ausgeschieden. Im Knochen lagert sich Curium insbesondere an der Innenseite der Grenzflächen zum Knochenmark an. Die weitere Verbreitung in die Kortikalis findet nur langsam statt.Bei Inhalation wird Curium deutlich besser in den Körper aufgenommen, weshalb diese Art der Inkorporation bei der Arbeit mit Curium das größte Risiko darstellt. Die maximal zulässige Gesamtbelastung des menschlichen Körpers durch 244Cm (in löslicher Form) beträgt 0,3 µCi.In Tierversuchen mit Ratten wurde nach einer intravenösen Injektion von 242Cm und 244Cm ein erhöhtes Auftreten von Knochentumoren beobachtet, deren Auftreten als Hauptgefahr bei der Inkorporation von Curium durch den Menschen betrachtet wird. Inhalation der Isotope führte zu Lungen- und Leberkrebs.
== Kernreaktor-Abfallproblematik ==
In wirtschaftlich sinnvoll (d. h. mit langer Verweildauer des Brennstoffs) genutzten Kernreaktoren entstehen physikalisch unvermeidlich Curiumisotope durch (n,γ)-Kernreaktionen mit nachfolgendem β−-Zerfall (siehe auch oben unter Gewinnung von Curiumisotopen). Eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 20 g verschiedener Curiumisotope. Darunter befinden sich auch die α-Strahler mit den Massenzahlen 245–248, die auf Grund ihrer relativ langen Halbwertszeiten in der Endlagerung unerwünscht sind und deshalb zum Transuranabfall zählen. Eine Verminderung der Langzeitradiotoxizität in nuklearen Endlagern wäre durch Abtrennung langlebiger Isotope aus abgebrannten Kernbrennstoffen möglich. Zur Beseitigung des Curiums wird derzeit die Partitioning-&-Transmutation-Strategie verfolgt. Geplant ist hierbei ein dreistufiger Prozess, in welchem der Kernbrennstoff aufgetrennt, in Gruppen aufgearbeitet und endgelagert werden soll. Im Rahmen dieses Prozesses sollen abgetrennte Curiumisotope durch Neutronenbeschuss in speziellen Reaktoren zu kurzlebigen Nukliden umgewandelt werden. Die Entwicklung dieses Prozesses ist Gegenstand der aktuellen Forschung, wobei die Prozessreife zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erreicht ist.
== Verbindungen und Reaktionen ==
→ Kategorie:Curiumverbindung
=== Oxide ===
Curium wird leicht von Sauerstoff angegriffen. Von Curium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Cm2O3) und +4 (CmO2). Auch das zweiwertige Oxid CmO ist bekannt.Das schwarze Curium(IV)-oxid kann direkt aus den Elementen dargestellt werden. Hierzu wird metallisches Curium an Luft oder in einer Sauerstoffatmosphäre geglüht. Für Kleinstmengen bietet sich das Glühen von Salzen des Curiums an. Meistens werden hierzu Curium(III)-oxalat (Cm2(C2O4)3) oder Curium(III)-nitrat (Cm(NO3)3) herangezogen.
Aus Curium(IV)-oxid kann das weißliche Curium(III)-oxid durch thermische Zersetzung im Vakuum (ca. 0,01 Pa) bei 600 °C erhalten werden:
4
CmO
2
→
Δ
T
2
Cm
2
O
3
+
O
2
{\displaystyle {\ce {4 CmO2 ->[\Delta T] 2 Cm2O3 + O2}}}
Ein weiterer Weg ist durch die Reduktion von Curium(IV)-oxid mit molekularem Wasserstoff gegeben:
2
CmO
2
+
H
2
⟶
Cm
2
O
3
+
H
2
O
{\displaystyle {\ce {2 CmO2 + H2 -> Cm2O3 + H2O}}}
Weiterhin ist eine Reihe ternärer oxidischer Curiumverbindungen des Typs M(II)CmO3 bekannt.Der größte Teil des in freier Natur vorkommenden Curiums (s. Abschnitt "Vorkommen") liegt als Cm2O3 und CmO2 vor.
=== Halogenide ===
Von den vier stabilen Halogenen sind Halogenide des Curiums bekannt.
Das farblose Curium(III)-fluorid (CmF3) kann durch Versatz von Cm(III)-haltigen Lösungen mit Fluoridionen erhalten werden. Das tetravalente Curium(IV)-fluorid (CmF4) ist nur durch die Umsetzung von Curium(III)-fluorid mit molekularem Fluor zugänglich:
2
CmF
3
+
F
2
⟶
2
CmF
4
{\displaystyle {\ce {2 CmF3 + F2 -> 2 CmF4}}}
Eine Reihe komplexer Fluoride der Form M7Cm6F31 (M = Alkalimetall) sind bekannt.Das farblose Curium(III)-chlorid (CmCl3) kann durch die Reaktion von Curium(III)-hydroxid (Cm(OH)3) mit wasserfreiem Chlorwasserstoffgas dargestellt werden. Dieses kann genutzt werden, um die weiteren Halogenide, Curium(III)-bromid (hellgrün) und -iodid (farblos), zu synthetisieren. Hierzu wird Curium(III)-chlorid mit dem Ammoniumsalz des Halogenids umgesetzt:
CmCl
3
+
3
NH
4
I
⟶
CmI
3
+
3
NH
4
Cl
{\displaystyle {\ce {CmCl3 + 3 NH4I -> CmI3 + 3 NH4Cl}}}
=== Chalkogenide und Pentelide ===
Von den Chalkogeniden sind das Sulfid und das Selenid bekannt. Sie sind durch die Reaktion von gasförmigem Schwefel oder Selen im Vakuum bei erhöhter Temperatur zugänglich.Die Pentelide des Curiums des Typs CmX sind für die Elemente Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon dargestellt worden. Ihre Herstellung kann durch die Reaktion von entweder Curium(III)-hydrid (CmH3) oder metallischem Curium mit diesen Elementen bei erhöhter Temperatur bewerkstelligt werden.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Analog zu Uranocen, einer Organometallverbindung, in der Uran von zwei Cyclooctatetraen-Liganden komplexiert ist, wurden die entsprechenden Komplexe von Thorium, Protactinium, Neptunium, Plutonium und Americium dargestellt. Das MO-Schema legt nahe, dass eine entsprechende Verbindung (η8-C8H8)2Cm, ein Curocen, synthetisiert werden kann, was jedoch bisher nicht gelang.
== Literatur ==
Gregg J. Lumetta, Major C. Thompson, Robert A. Penneman, P. Gary Eller: Curium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1397–1443 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_9).
Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Band 7 a, Transurane: Teil A 1 I, S. 34–38; Teil A 1 II, S. 18, 315–326, 343–344; Teil A 2, S. 44–45, 164–175, 185–188, 289; Teil B 1, S. 67–72.
== Weblinks ==
Eintrag zu Curium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 3. Januar 2015.
William G. Schulz: Curium, Chemical & Engineering News, 2003.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Curium |
Wiedehopf | = Wiedehopf =
Der Wiedehopf (Upupa epops) ist eine von drei Arten aus der Vogelfamilie der Wiedehopfe (Upupidae). Die Wiedehopfe werden gemeinsam mit der etwas artenreicheren Familie der Baumhopfe (Phoeniculidae) in die Ordnung der Bucerotiformes gestellt. Die Zuordnung zu den Rackenvögeln (Coraciiformes) ist nicht mehr üblich.
Die Anzahl der Unterarten schwankt je nach wissenschaftlicher Auffassung zwischen fünf und zehn. Bis auf die in Ägypten vorkommende Subspezies U. e. major werden zurzeit die früher als Unterarten von U. epops aufgefassten afrikanischen Wiedehopfe als selbstständige Arten betrachtet.In Mitteleuropa kommt die Nominatform U. e. epops vor. Sie ist ein in ihrem Bestand stark zurückgehender, seltener, in weiten Teilen ihres früheren Verbreitungsgebietes verschwundener Brutvogel.
Der Wiedehopf wurde in Deutschland zum Vogel des Jahres 1976 und 2022 gewählt.
== Aussehen ==
Der etwa drosselgroße, aber bedeutend größer wirkende Vogel (durchschnittlich 28 cm vom Schnabel bis zur Schwanzspitze) ist unverkennbar und auch in Mitteleuropa allgemein bekannt, obgleich ihn hier wohl nur sehr wenige Menschen in freier Natur beobachten können. Charakteristisch sind die kontrastreich schwarz-weiß gebänderten Flügel mit deutlichen gelben Einschlüssen, der lange, gebogene Schnabel und die etwa fünf bis sechs Zentimeter lange aufrichtbare Federhaube, deren Enden in einem weiß-schwarzen Abschluss auslaufen. Der Schwanz ist schwarz mit einer breiten weißen Binde etwa im letzten Schwanzdrittel und einer weißen Zeichnung auf der Schwanzwurzel. Der übrige Körper ist rostbraunrot. Charakteristisch ist auch der wellenförmige, schmetterlingsartig gaukelnde Flug, bei dem die breiten, tief gefingerten Flügel nach jedem Schlag fast angelegt werden. Auf mehrere lange, durchgezogene Flügelschläge erfolgen einige kurze, flatternde, so dass der Flug instabil und ungleichmäßig erscheint. Die Geschlechter sind einander sehr ähnlich; die Weibchen sind etwas kleiner und eine Spur matter gefärbt. Während der Nahrungssuche und in Erregungssituationen ist das ständige Kopfnicken sehr auffallend.
== Stimme ==
Auch der von Singwarten vorgetragene Gesang des Männchens ist unverkennbar. Er besteht aus meistens drei (zwei bis fünf) dumpfen, rohrflötenähnlichen Elementen auf ‚u‘ (auch ‚up‘ oder ‚pu‘), die recht weit tragen. Dieser Ruf hat zum wissenschaftlichen Gattungsnamen geführt (Onomatopoesie). Die Intervalle zwischen den Strophen sind nur selten länger als fünf Sekunden. Beide Geschlechter rufen bei Störung rau ‚rääh‘, was stark an den Warnruf des Eichelhähers erinnert. Bei Erregung ist zuweilen Schnabelknappen zu hören.
== Lebensraum ==
Der Wiedehopf vermag vielfältige Lebensräume zu besiedeln, immer sind es jedoch wärmeexponierte, trockene, nicht zu dicht baumbestandene Gebiete mit nur kurzer oder überhaupt spärlicher Vegetation. In Mitteleuropa kommt die Art vor allem in extensiv genutzten Obst- und Weinkulturen, in Gegenden mit Weidetierhaltung sowie auf bebuschten Ruderalflächen vor. Auch sehr lichte Wälder, insbesondere Kiefernwälder, sowie ausgedehnte Lichtungsinseln in geschlossenen Baumbeständen dienen gelegentlich als Bruthabitat. Im mediterranen Bereich ist die Art relativ häufig in Olivenkulturen sowie in Korkeichenbeständen anzutreffen; aber auch karge, nur spärlich mit Sträuchern und Büschen bestandene Stein- und Geröllfluren sowie weitgehend baumlose Steppenlandschaften können dem Wiedehopf geeignete Lebensräume bieten. Geschlossene Waldgebiete, Regenwaldgebiete sowie Wüsten werden im gesamten Verbreitungsgebiet der Art nicht beziehungsweise nur in ihren äußersten Randbereichen besiedelt.
Im Allgemeinen ist der Wiedehopf eher ein Bewohner tieferer Lagen, doch gibt es, zum Beispiel aus dem Altai-Gebirge, Brutnachweise der Nominatform aus Höhen über 3000 Metern; auch in Mitteleuropa brütet der Wiedehopf zumindest auch in der montanen Stufe, der höchstgelegene Brutnachweis in Österreich lag in einer Höhe von 1260 Metern.
== Verbreitung und Systematik ==
Die Brutgebiete der Nominatform (U. e. epops) erstrecken sich von den Kanarischen Inseln und Madeira ostwärts über das gesamte Europa mit Ausnahme der Britischen Inseln, der Niederlande und Skandinaviens bis östlich des Ob und südöstlich über den gesamten Nahen Osten, den Iran, Afghanistan und Pakistan bis nach Nordwestindien. Im Süden besiedelt diese Unterart weite Teile des Maghrebs sowie einige Oasen in der zentralen Sahara.An dieses große Verbreitungsgebiet schließen sich im zentralen eurasischen Bereich das von
U. e. saturata, in den südöstlichen Bereichen die von U. e. longirostris und U. e. ceylonesis, sowie in Ostlibyen und Ägypten das von U. e. major an.
U. e. saturata: Das Verbreitungsgebiet dieser insgesamt etwas dunkleren und an der Oberseite leicht grau gefärbten Unterart beginnt im Westen etwa im mittleren Abschnitt des Ob und reicht, nördlich vom Südrand der Taiga begrenzt, in einem breiten Gürtel bis zum Pazifik. Auf Sachalin, den Japanischen Inseln sowie dem größten Teil Koreas brütet diese Unterart nicht.
U. e. longirostris: Diese lebhaft rötlichbraun gefärbte Unterart kommt in weiten Teilen des südöstlichen Asiens, südostwärts bis nach Sumatra vor.
Zentralindien, südwärts bis Sri Lanka ist das Verbreitungsgebiet der Unterart U. e. ceylonensis. Auch bei dieser ist die Grundfärbung des Obergefieders ein intensives Rötlichbraun; von U. e. longirostris unterscheidet sie sich nur unwesentlich.
An die nordafrikanischen Brutgebiete der Nominatform schließen sich nach Osten hin die der großen, fahlgefärbten Unterart U. e. major an. Sie ist von den übrigen Subspezies deutlich durch den insgesamt stärkeren und auch etwas längeren Schnabel zu unterscheiden. Ihre Hauptverbreitungsgebiete liegen im Niltal und reichen südwärts bis in den Nordsudan; auch in einigen Oasen Ostlibyens und Ägyptens ist sie Jahresvogel.In Afrika kommen weitere vier Arten (Unterarten) der Gattung Upupa vor, die alle bis vor kurzem als Unterarten von Upupa epops galten. Zurzeit ist ihr systematischer Rang als Art oder Unterart sehr umstritten. Allein dem auf Madagaskar vorkommenden Madagaskar-Wiedehopf wird ziemlich einhellig Artstatus zuerkannt.
U. e. senegalensis oder U. senegalensis ist im Trockengürtel südlich der Sahara von Senegal bis Äthiopien beheimatet. Die Gefiederfärbung dieser Vögel ist insgesamt heller, die Weißanteile an den großen Deckfedern sowie an den Handschwingen sind ausgedehnter als bei U. e. epops.
Südöstlich davon beginnt das sehr große Verbreitungsgebiet von U. e. africana bzw. Upupa africana, das sich von Äthiopien und Kenia bis zur Kapprovinz erstreckt.
Am Nordrand des Regenwaldgürtels liegen in einem schmalen Streifen die Brutgebiete von U. e. waibeli. Diese Unterart ist größer und dunkler als die beiden zuvor genannten. Sie besiedelt auch Lichtungen und Rodungsgebiete im geschlossenen Regenwald.
U. e. marginata kommt nur auf Madagaskar vor. Auch dieser Hopf ist vergleichsweise groß. Die Weißanteile des Gefieders, insbesondere des Schwanzes sind kleiner als bei anderen Unterarten.
== Nahrung und Nahrungserwerb ==
Der Wiedehopf ernährt sich fast ausschließlich von Insekten. Bevorzugt werden größere Insektenarten, wie Feldgrillen, Maulwurfsgrillen, Engerlinge sowie verschiedene Raupenarten und Käfer. Seltener werden Spinnen, Asseln, Tausendfüßer oder Regenwürmer aufgenommen. Gelegentlich erbeutet er Frösche und kleine Eidechsen. Auch Vogelgelege und Nestlinge gehören zur seltenen Beikost.
Der Wiedehopf erbeutet seine Nahrungstiere am Boden, nur ausnahmsweise fängt er langsam fliegende Insekten auch im Fluge. Die Beutetiere werden meistens visuell, oft aber auch taktil sowie wahrscheinlich auch akustisch geortet. Auf der Oberfläche laufende Beutetiere werden verfolgt, im Boden verborgene durch Stochern ertastet. Dabei werden die Stocherlöcher (insbesondere beim Fang von Maulwurfsgrillen) oft dadurch erweitert, dass der Wiedehopf mit in den Boden gestecktem Schnabel mehrmals im Kreis herumläuft. Oft werden die Beine sowie harte Chitinteile der Beutetiere vor dem Verzehr entfernt. Größere Insekten schlägt er häufig gegen einen Stein oder bearbeitet sie am Boden; zum Verschlucken wirft er sie oft etwas in die Luft.
== Brutbiologie ==
=== Balz und Paarbildung ===
Der Wiedehopf führt eine monogame Brutsaisonehe. Seine Balz ist durch laute Rufreihen (auch Wülen oder Ülen genannt), die mit aufgestellter Federhaube und gesträubtem Kehlgefieder meistens in guter Deckung vorgetragen werden, gekennzeichnet. Reagiert ein Weibchen, versucht er es mit Futterübergaben zu beeindrucken, auf die oft lange Verfolgungsflüge folgen. Häufig bietet er mit lautem Krächzen Bruthöhlen an. Schlüpft das Weibchen in eine solche Höhle, ist die Paarbildung abgeschlossen. Die Kopulationen finden meistens auf dem Boden statt. Der Wiedehopf nistet in Baum- oder Mauerlöchern. Meistens gelingt dem Wiedehopf nur eine Brut pro Jahr. Das Weibchen legt dabei zwischen 5 und 7 Eier, die dann 16 bis 19 Tage bebrütet werden. Die Jungen benötigen nach dem Schlüpfen noch zwischen 20 und 28 Tage, bis sie das Nest verlassen.
=== Neststandort, Gelege und Brut ===
Die Neststandorte sind äußerst unterschiedlich und umfassen Ganz- oder Halbhöhlen jeglicher Art. Natürliche Baumhöhlen werden ebenso genutzt wie Spechthöhlen, Halbhöhlen in Bruchsteinmauern oder Holzstößen, Höhlungen unter Wurzeln oder andere Erdhöhlen. Bei Brutbäumen zeigt die Art eine Bevorzugung von hochstämmigen alten Obstbäumen, insbesondere von Apfelbäumen. Auch Nistkästen werden angenommen, wenn sie eine genügend große Einschlupföffnung und ein ausreichendes Raumvolumen aufweisen. Die Neststandshöhe liegt meistens in einem Bereich bis zu fünf Metern.
Meistens kommt es nur zu einer Jahresbrut, südlichere Populationen scheinen öfter (vielleicht sogar regelmäßig) zu einer Zweitbrut zu schreiten. Das Gelege besteht aus sechs bis zehn, auffallend längselliptischen, auf bläulichem oder grünlichem Grund verschiedenfarbig gepunkteten Eiern in der Durchschnittsgröße von etwa 26 × 18 Millimetern; es wird ausschließlich vom Weibchen bebrütet, das meistens schon nach Ablage des ersten Eis zu brüten beginnt. Die Eier werden in den frühen Morgenstunden im Tagesabstand gelegt, sodass sich bei einer reinen Brutdauer von 16 Tagen die Brutperiode auf 25 Tage und mehr ausdehnen kann und Junge in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien in einer Brut vereint sind. Die Nestlingszeit kann bis zu 30 Tage währen. Während der gesamten Brutzeit sowie mindestens der ersten zehn Tage der Nestlingszeit werden das Weibchen und später auch die Jungen ausschließlich vom Männchen mit Nahrung versorgt. Erst wenn die Jungen nicht mehr gehudert werden müssen, beteiligt sich auch das Weibchen an der Futtersuche. Nach dem Verlassen der Bruthöhle werden die flüggen Jungvögel noch etwa fünf Tage von den Eltern gefüttert, ehe sie das Elternrevier verlassen und oft über weite Strecken dismigrieren.
== Feindverhalten ==
Im Feindverhalten haben die Wiedehopfe und deren Junge einige besondere Verhaltensweisen entwickelt. Beim plötzlichen Auftauchen eines Greifvogels, wenn eine gefahrlose Flucht in ein Versteck nicht mehr möglich ist, nehmen Wiedehopfe eine Tarnstellung ein, die untermauert, wie körperkonturauflösend das so kontrastreich gefärbte Gefieder sein kann. Dabei legt sich der Vogel mit breit gespreizten Flügeln und Schwanz flach auf den Boden; Hals, Kopf und Schnabel sind steil nach oben gerichtet. Meistens wird er in dieser regungslosen Schutzhaltung übersehen. Völlig abweichend von der Interpretation als Tarnstellung sehen neuerdings einige Forscher in dieser Körperposition einen Ausdruck des Komfortverhaltens beim Sonnenbaden; auch beim Einemsen wurden Wiedehopfe in dieser Körperhaltung beobachtet.
Sich bedroht fühlende Nestlinge zischen schlangenähnlich, etwas ältere Nestlinge spritzen als Abwehrreaktion ihren Kot aus der Höhle. Auch wenn sie gegriffen werden, koten sie intensiv. Besonders wirkungsvoll scheint jedoch das Absondern eines sehr übel riechenden Sekretes aus der Bürzeldrüse zu sein. Während der Brutzeit ist die Bürzeldrüse beim Weibchen besonders entwickelt, ebenso bei den Nestlingen. Beide geben offenbar in regelmäßigen Abständen das Bürzeldrüsensekret ab, in Erregungssituationen möglicherweise verstärkt. Von diesem Bürzeldrüsensekret rührt der strenge Geruch her, der üblicherweise von Wiedehopfbrutstätten ausgeht. Die Behauptung, dass Wiedehopfe grundsätzlich den Kot der Jungen nicht aus dem Nest befördern, ist nicht richtig. Zwar wurden Nestlinge gefunden, die auf einer bereits hohen Kotschicht saßen, doch handelte es sich in solchen Fällen meist um Bruthöhlen, die auf Grund ihrer Enge eine systematische Säuberung nicht zuließen. Häufig stammen die festgestellten Kotschichten auch von einem Vorbesitzer der Höhle, zum Beispiel der Hohltaube, die tatsächlich den Kot der Jungen nicht aus dem Nest befördert.
== Wanderungen ==
Die Nominatform ist fast in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet Zugvogel, ihre Hauptüberwinterungsgebiete liegen im Savannengürtel südlich der Sahara. In Ostafrika überwintert die Art in Höhenstufen bis zu 3500 Metern. Kleine, vor allem südwesteuropäische Populationen (Südspanien, Balearen sowie Sizilien) überwintern im Brutgebiet. Zum Teil erfolgreiche Überwinterungen werden in Südengland regelmäßig, in Südschweden sowie in Mitteleuropa gelegentlich festgestellt. In Mitteleuropa beginnt der Abzug bereits Ende Juli mit einem Wegzugsgipfel Mitte August. Wiedehopfe ziehen meistens einzeln und während der Nachtstunden. Offenbar werden die Alpen, das Mittelmeer und zumindest gelegentlich auch die Sahara in ihrer gesamten Breite ohne Umgehungsstrategien überflogen. Im Himalayagebiet wurden ziehende Wiedehopfe in Höhen von annähernd 7000 Metern beobachtet. Die ersten Heimzieher erreichen ihre europäischen Brutplätze Mitte März, im letzten Aprildrittel sind die europäischen Brutplätze in der Regel besetzt. Relativ häufig wurde bei Heimziehern Zugprolongation festgestellt, sodass auch im Frühjahr ähnlich der nachbrutlichen Dismigration der Jungvögel einzelne Individuen in hochnordischen Gebieten erscheinen. Die Weibchen weisen eine bedeutend ausgeprägtere Brutplatztreue als die Männchen auf. Über die Zuggewohnheiten der außereuropäischen, insbesondere der asiatischen Populationen sind keine genauen Daten bekannt. (2007/08 überwinterte ein Irrgast nahe Lachendorf in der Lüneburger Heide.) Die nördlicheren Populationen der Unterart U. e. longirostris überwintern in Südindien und in Sri Lanka. Die afrikanischen Unterarten sind Standvögel, streichen jedoch außerhalb der Brutzeit weiträumig umher. Die Dismigrationsflüge junger Wiedehopfe können über weite Distanzen erfolgen. So gelangen junge Wiedehopfe regelmäßig nach Finnland, Schottland und auf die Orkneys. Auch von Island gibt es eine Reihe von Nachweisen.
== Bestand und Bestandsentwicklung ==
In Europa war der Wiedehopf bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts ein in manchen Gebieten häufiger Brutvogel. Verschiedene Faktoren (stärker atlantisch beeinflusstes Klima, Biotopzerstörung und zunehmender Pestizideintrag) lösten einen starken Areal- und Bestandsrückgang aus. Viele früher regelmäßig besetzte Brutgebiete in Großbritannien, Südskandinavien, Belgien und den Niederlanden sowie im gesamten Mitteleuropa wurden aufgegeben. In den letzten Jahren ist ein besonders deutlicher Bestandsrückgang in Ostgriechenland und in der Türkei feststellbar.
Zurzeit scheinen sich einige Kleinpopulationen in Südengland und Südschweden wieder etwas zu erholen. In manchen Gebieten Mitteleuropas dürfte die Art von der intensivierten Pferdehaltung profitieren.
In Gesamteuropa wird der Bestand, der insgesamt als gesichert gilt, auf fast eine Million Brutpaare geschätzt. In den Niederlanden, Belgien und Luxemburg gilt der Wiedehopf als ausgestorben, in der Schweiz, in Tschechien sowie in Österreich erscheint er auf den Roten Listen, meistens in den höchsten Gefährdungsstufen.
In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2015 wird die Art in der Kategorie 3 als gefährdet geführt, ihr Brutbestand wurde für die Jahre 2005 bis 2009 auf 650 bis 800 Brutpaare geschätzt. In der Schweiz wurden 2007 nur noch 185 Paare nachgewiesen.Die dichtesten Bestände dieser Art in Mitteleuropa werden heute in sogenannten Sekundärlebensräumen, insbesondere auf Truppenübungsplätzen beziehungsweise ehemals militärisch genutztem Gelände verzeichnet. In Deutschland laufen intensive Schutzmaßnahmen zum Beispiel auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen Jüterbog, Lieberose und Donauwörth.
== Namensherleitung ==
Der deutsche Name hat weder mit Wiede noch mit hüpfen oder, wie trivialetymologisch ebenfalls oft vermutet wird, mit Schopf etwas zu tun. Am wahrscheinlichsten ist ein althochdeutsches, lautmalerisches wūthūp als Ursprung anzunehmen. Die ahd. Bezeichnung ist jedoch bereits wituhopfa (mhd. wit(e)hopfe, widhopfe, as. widohoppa), in dem ein altes Wort für „Holz, Baum“ (vgl. ae. widu, wudu, anord. viðr, air. fid) enthalten ist; die Bezeichnung ist möglicherweise schon in dieser Zeit volksetymologisch. Der wissenschaftliche Gattungsname ist ebenfalls onomatopoetischer Natur; epops ist der altgriechische Name des Vogels, upupa der lateinische. Weitere etymologisch anschließbare deutsche Namen sind Hoppevogel, Puvogel sowie das schlesisch/ostpreußische Huppup (vgl.a. ndl. hop, afr. hoephoep, engl. hoopoe und frz. huppe) und das niedersorbische Hubbatz/hupac. Die Herleitung der Schlachtrufe „Hipp hipp“ bzw. „Hup hup“ oder „Hopp hopp“ (im englischen, niederländischen und deutschen Sprachraum) aus dem Ruf des Wiedehopfes ist zwar weit verbreitet, aber möglicherweise ebenso volksetymologisch.
== Rezeption ==
=== Kunst ===
In den Metamorphosen des Ovid verwandelt sich der Thrakerkönig Tereus in einen Wiedehopf. Diese Erzählung, die sich im 6. Buch der Metamorphosen findet, gilt als eine der grausamsten. Hier wird auch auf die Form des Schnabels hingewiesen, die einem Schwert gleicht: „facies armata videtur“ (6. Buch, Vers 674).
Der Wiedehopf ist König der Vögel in Aristophanes’ Die Vögel und ihr Anführer in Fariduddin Attars Epos Mantiq ut-tair („Die Vogelgespräche“). Letzteres wurde dadurch inspiriert, dass der Koran den Wiedehopf als Bote zwischen Sulaimān (Salomo) und der Königin von Saba erwähnt (Koran 27:20+28). Dies hat ihm in islamischen Ländern Wertschätzung und im Persischen unter anderem den Namen „Salomonvogel“ (persisch morgh-e Soleymān) eingebracht.
Der mittelalterliche Dichter Heinrich von dem Türlin stellt in seinem Roman Diu Crône den Wiedehopf als böse der guten Lerche gegenüber.
Otto von Loeben lässt in seiner Parodie Reise zum Parnaß einen Gegner der Romantik (bei dem es sich wohl um Christian Friedrich Voß handeln soll) in Gestalt eines „Wiedehopf auf stolzen Beinen“ auftreten.
Berühmt ist auch das Gedicht über den Hoppevogel in Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts:
Wenn der Hoppevogel schreit,
Ist der Tag nicht mehr weit.
Wenn die Sonne sich aufthut,
Schmeckt der Schlaf noch so gut! –Er versinnbildlicht hier die von Eichendorff mehrfach kritisierte gottferne Dichtung. Der Wiedehopf galt ja gleich in zweierlei Hinsicht als sündhaft: wegen seines unsauberen Nestes und des unangenehmen Geruchs versinnbildlicht er falschen Glauben und Unzucht, wegen seines prächtigen Federkleides hingegen besonderen Hochmut. In Eichendorffs Werken finden sich mehrfach Gestalten, die eine schlechte oder falsche Dichtung verkörpern, die den Schlachtruf „Hup Hup“ ausstoßen.In Mahmoud Darwishs „Wir reisen wie alle Menschen“ steht ein Wiedehopf für Äußeres wie Verhalten des Menschen im unfreiwilligen Exil.
In Achim von Arnims „Die Kronenwächter“ beschimpft Anton die religiösen Schwärmer, die die alte Stadtkirche verwüsten wollen, mit den Worten: „Ihr Wiedehopfe, die ihr euer eignes Nest besudelt“.
Der Wiedehopf ist zudem Titelheld einer Oper von Hans Werner Henze, L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe (2000–2003, UA 2003).
Wiedehopf im Mai (1967) war die deutsche Version des Liedes Puppet on a string von Sandie Shaw. Darin heißt es: Wenn du wieder kommst, dann sing’ ich, dann spring’ ich zur Tür wie ein Wiedehopf im Mai.
Siehe auch das alte Volkslied Die Vogelhochzeit: „Der Wiedehopf, der Wiedehopf, der bringt der Braut nen Blumentopf“.
Robert Gernhardts Gedicht Was wäre wenn (2002) reflektiert das mögliche Aussterben des Wiedehopfs: Fehlte der Wiedehopf,/ fehlte noch mehr: / fehlte ein steter Ruf,/ fehlte ein rascher Flug, / fehlte ein lichtes Braun, / fehlte schwarz-weißes Flirr'n, / fehlte dieses / ganz einzigartig / mitreißend Fremde, / fehlte dies Anderssein, …
=== Heraldik ===
Der Wiedehopf ist als gemeine Figur ein Wappentier in der Heraldik. Er wird in der Seitenansicht gezeigt und die Hauptblickrichtung ist nach heraldisch rechts. Oft erfolgt die Darstellung leicht stilisiert in den natürlichen Farben, aber auch gelb oder Gold ist möglich. Wichtig ist die Hervorhebung der Flügel und des Federkammes, um ihn eindeutig zu erkennen. Der Vogel wird auf einer Sitzgelegenheit (Zweig, Ast) abgebildet.
In Dortmund-Brechten ist der Wiedehopf abgebildet. Über dem nur unten blau-rot gespaltenen Wappenschild sind im oberen goldenen Teil zwei Tiere in naturnaher Farbe erkennbar. Sie werden als Sinnbild der beiden Ortsteile Unter- und Oberdorf angesehen. Unten sind zwei goldene Strohgarben. Auch das Wappen der Gemeinde Armstedt führt in Rot einen auf einem goldenen Ast sitzenden goldenen Wiedehopf. Auf goldenem Grund einen stehenden schwarz-roten Wiedehopf mit leicht geöffnetem silbernem Schnabel, silbernen Füßen, gesträubter Haube und erhobenen Flügeln zeigt das Ortswappen von Kuktiškės (Litauen).
=== Briefmarken ===
=== Sonstiges ===
Wiedehopfe gelten in einigen Kulturkreisen als eine unreine, stinkende Vogelart (siehe oben: Feindverhalten). Die im Deutschen gebräuchlichen Redewendungen „stinken wie ein Wiedehopf“ bzw. „Das riecht wie Hubbatz!“ weisen darauf hin.
Der Wiedehopf wurde in Deutschland Vogel des Jahres 1976 und 2022, sowie 2014 in Armenien, 2015 in Ungarn und 2016 in Russland.
Am 29. Mai 2008 wurde der Wiedehopf (hebräisch Duchifat) in Israel zum Nationalvogel gewählt.
Der Name des Zyklon Hudhud, der im Oktober 2014 auf Indien traf, leitet sich von dem Vogel ab
Die Vogelart ist Namensgeber für das gleichnamige Werkzeug.
Der Asteroid des mittleren Hauptgürtels (2868) Upupa wurde am 10. November 1992 nach dem Wiedehopf (lateinischer Gattungsname Upupa) benannt. Am 2. Februar 1999 wurde der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (8586) Epops ebenfalls nach dem Wiedehopf benannt.
== Literatur ==
Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Wiesbaden: Aula-Verlag ²1997, S. 279 f. ISBN 3-89104-613-8
Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Wiesbaden: Aula-Verlag. Bd. 9. Columbiformes – Piciformes. Wiesbaden: Aula-Verlag 1994, S. 852–876. ISBN 3-89104-562-X
Susanne Oehlschläger, Torsten Ryslavy: Brutbiologie des Wiedehopfes Upupa epops auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen bei Jüterbog, Brandenburg. In: Die Vogelwelt. Aula-Verlag, 2002, S. 171–188 ISSN 0042-7993
Hans Münch: Der Wiedehopf. Die neue Brehm-Bücherei; Heft 90. Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig K.-G., Leipzig 1952
Max Grube: Der Wiedehopf als Wappentier. in Herold 47, 1916
Bernhard Koerner: Der Wiedehopf als Wappenvogel. in „Der deutsche Roland“ 8, 1920
== Weblinks ==
factsheet birdlife europe (en) (PDF-Datei; 282 kB)
Wiedehopf (Upupa epops) auf eBird.org
Upupa epops in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: BirdLife International, 2004. Abgerufen am 4. Januar 2009.
Alters- und Geschlechtsmerkmale (PDF; 5,3 MB) von J. Blasco-Zumeta und G.-M. Heinze (englisch)
ORF Dokumentation: „Die Rückkehr des Wiedehopfs“
Federn des Wiedehopfes
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedehopf |
Hyänen | = Hyänen =
Die Hyänen (Hyaenidae) sind eine Säugetierfamilie aus der Ordnung der Raubtiere (Carnivora) mit vier rezenten Arten, die in weiten Teilen Afrikas sowie im westlichen und südlichen Asien leben. Häufig ist mit dem Begriff Hyäne speziell die größte und individuenreichste Art Tüpfelhyäne gemeint, die vor allem durch ihre Rivalität zu Löwen häufig in Tierfilmen zu sehen ist.
Bei den Hyänen werden zwei Unterfamilien unterschieden. Die drei Arten der ersten, der Eigentlichen Hyänen (Hyaeninae), sind durch ein kräftiges Gebiss charakterisiert: die Tüpfel-, die Streifen- und die Schabrackenhyäne. Die Tüpfelhyäne ernährt sich vorwiegend durch aktive Jagd, während die Streifen- und die Schabrackenhyäne in erster Linie Aasfresser sind. Die monotypische zweite Unterfamilie (Protelinae) repräsentiert der Erdwolf, der sich fast ausschließlich von den Vertretern einer Termitengattung ernährt, und dessen Backenzähne deswegen stark verkleinert sind. Hauptbedrohung für die Hyänen stellt die Bejagung durch den Menschen dar.
== Merkmale ==
=== Allgemeiner Körperbau und Fell ===
Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt 55–160 cm, der Schwanz ist mit 20–40 cm relativ kurz. Die Schulterhöhe misst 45–81 cm, die Vorderbeine sind länger und kräftiger gebaut als die Hinterbeine, was die Ursache für den bei allen Hyänenarten typischen, schräg nach hinten abfallenden Rücken darstellt. Die Weibchen der Tüpfelhyänen, der größten Art, sind rund 10 % größer als die Männchen; bei den anderen Arten gibt es keinen signifikanten Geschlechtsdimorphismus hinsichtlich der Größe. Die Eigentlichen Hyänen wiegen 26–55 kg, wobei einzelne Tüpfelhyänen bis zu 86 kg erreichen; der Erdwolf ist mit 8–14 kg die bei weitem kleinste und leichteste Art. Hyänen haben an Vorder- und Hinterbeinen vier Zehen, außer dem Erdwolf, der an den Vorderbeinen je einen Zeh mehr aufweist. Die Pfoten tragen stumpfe, nicht einziehbare Krallen.
Die Deckhaare sind rau, mit Ausnahme der Tüpfelhyäne besitzen alle Arten eine lange Rückenmähne, die sich von den Ohren bis zum Schwanz erstreckt. Diese Mähne kann aufgerichtet werden, wodurch das Tier größer erscheint. Beim Fell der einzelnen Arten zeigen sich verschiedene Brauntöne, die Tüpfelhyäne ist gefleckt, die Streifenhyäne und der Erdwolf sind gestreift, nur die Schabrackenhyäne ist weitgehend einfarbig. Der Schwanz ist buschig.
Die Weibchen haben ein bis drei Paare Zitzen, den Männchen fehlt – im Unterschied zu den meisten anderen Raubtieren – der Penisknochen (Baculum). Weibliche Tüpfelhyänen weisen eine unter den Säugetieren einmalige Maskulinisierung („Vermännlichung“) auf: Die Clitoris ist vergrößert, die Schamlippen sind verschlossen und bilden eine hodensackähnliche Struktur. Dieser „Schein-Penis“ verhindert durch seine Lage das Paaren ohne das Einverständnis der Partnerin. Das Urinieren, die Begattung und Geburt erfolgen durch die Clitoris. Heranwachsende Streifenhyänen haben Wölbungen im Genitaltrakt, ausgewachsen zeigen sie jedoch, ebenso wie die beiden anderen Hyänenarten, keine Besonderheiten im Bau des Geschlechtstraktes. Beide Geschlechter besitzen einen gut entwickelten Analbeutel, aus dem ein Sekret abgegeben wird, das zur Reviermarkierung dient.
=== Kopf und Zähne ===
Diagnostische Merkmale der Hyänen finden sich im Keilbein, wo der Alisphenoidkanal fehlt, und in den Knochen der Mittelohrregion, wo der endotympanale Teil der Paukenblase klein, der ectotympanale Teil jedoch aufgebläht ist. Darüber hinaus zeigt der Bau des Schädels und der Zähne die größten Unterschiede zwischen beiden Unterfamilien: Die Eigentlichen Hyänen tragen einen wuchtigen Kopf auf ihrem kräftigen Nacken, und ihre Schnauze ist breit gebaut, der Kopf des Erdwolfs hingegen ist schlank mit zugespitzter Schnauze.
Die Schneidezähne der Hyänen sind unspezialisiert, und die äußeren sind größer als die anderen. Die Eckzähne sind vergrößert. Das Gebiss der Eigentlichen Hyänen ist kräftig. Die Prämolaren sind an das Aufbrechen von Knochen angepasst und vergrößert, besonders der dritte obere und der dritte untere Prämolar. Ihr Zahnschmelz besitzt eine komplexe Struktur, was das Zerbrechen der Zähne verhindert. Der vierte obere Prämolar und der erste untere Molar sind wie bei allen Landraubtieren zu Reißzähnen entwickelt; diese Zähne sind klingenförmig und dienen dem Zerschneiden von Fleisch. Die hinter den Reißzähnen gelegenen Molaren sind verkleinert oder fehlen völlig, dadurch bleibt für die verbleibenden Backenzähne mehr Platz: die Prämolaren werden breiter, und die Reißzähne sind so besser vor Abrieb geschützt. Die Zahnformel der Eigentlichen Hyänen besteht aus 3/3 I, 1/1 C, 4/3 P und 1/1 M, insgesamt also 34 Zähne. Die Eckzähne des Erdwolfs dienen ausschließlich der Auseinandersetzung mit Artgenossen. Die Backenzähne sind zu kleinen, weit voneinander entfernten Stiften rückgebildet, deren Anzahl variieren kann. Die Zahnformel des Erdwolfs ist 3/3 I, 1/1 C, 3/1–2 P und 1/1–2 M, insgesamt 28–32 Zähne.
Verbunden mit dem kräftigen Gebiss der Eigentlichen Hyänen ist eine starke Kaumuskulatur; der Musculus temporalis besitzt einen hohen Kamm an der Ansatzstelle am Schädel. Der gewölbte Schädel sorgt für eine bessere Umsetzung der Beißkräfte. Dank ihres außergewöhnlichen Kieferapparates können Tüpfelhyänen Beißkräfte von über 9 kN entwickeln. Sie sind in der Lage, die Beinknochen von Giraffen, Nashörnern und Flusspferden aufzubrechen, die über 7 cm Durchmesser haben. Anpassungen der Erdwölfe an die Insektennahrung bestehen aus einem breiten Gaumen mit einer breiten, spatelförmigen Zunge, die mit großen, kegelförmigen Papillen bedeckt ist.
Die Augen aller Hyänen sind mit einem Tapetum lucidum ausgestattet, was eine gute Sehleistung in der Nacht ermöglicht. Die Ohren sind groß und zugespitzt, nur bei der Tüpfelhyäne sind sie rundlich.
== Verbreitung und Lebensraum ==
Hyänen sind in weiten Teilen Afrikas und im westlichen und südlichen Asien beheimatet. In Afrika reicht ihr Verbreitungsgebiet vom Atlasgebirge bis nach Südafrika, sie fehlen allerdings in den reinen Wüstengebieten der Sahara und im Kongobecken. In Asien kommen sie von der Türkei und der Arabischen Halbinsel über Afghanistan bis nach Indien vor. Noch im Pleistozän waren sie über weite Teile Eurasiens verbreitet, mit Chasmaporthetes ist hingegen nur eine ausgestorbene Gattung bekannt, die auch in Nordamerika vorkam. In Südamerika und Australien gab es nie Hyänen.
In Asien kommt mit der Streifenhyäne nur eine Art vor; diese bewohnt auch das nördliche Afrika und hat somit das nördlichste Verbreitungsgebiet aller Arten. Die Tüpfelhyäne ist in weiten Teilen Afrikas südlich der Sahara beheimatet. Der Erdwolf lebt in zwei voneinander getrennten Gebieten im östlichen und südlichen Afrika, die Schabrackenhyäne bewohnt ein relativ kleines Gebiet im Süden des Kontinents.
Generell bewohnen Hyänen eher trockene Gebiete wie Halbwüsten, Savannen, Buschsteppen und felsige Bergländer; manchmal sind sie auch in Sumpfgebieten und Gebirgswäldern zu finden. Im Äthiopischen Hochland sind sie bis in 4100 m anzutreffen. Allerdings meiden sie reine Sandwüsten ebenso wie Tiefland-Regenwälder. Hyänen sind in der Regel nicht sehr wählerisch in Bezug auf ihren Lebensraum, jede der vier Arten kommt in mehreren Habitaten vor. Sie haben wenig Scheu vor Menschen und halten sich gelegentlich auch in der Nähe menschlicher Ansiedlungen auf.
== Lebensweise ==
=== Fortbewegung und Aktivitätszeiten ===
Hyänen sind digitigrad (Zehengänger) und halten sich ausschließlich am Boden auf. Sie können nicht auf Bäume klettern, kommen aber mit felsigem Terrain gut zurecht. Sie sind sehr ausdauernde Tiere: Schabrackenhyänen können pro Nacht mehr als 50 Kilometer zurücklegen. Alle Hyänenarten sind größtenteils nachtaktiv, nur selten gehen sie in der Dämmerung oder – im Fall der Tüpfelhyäne – auch tagsüber bei bewölktem, regnerischem Wetter auf Nahrungssuche. Tagsüber schlafen sie in Erdbauen, im Gebüsch verborgen oder auf dem Erdboden. So schlafen Erdwölfe häufig in Bauen, die sie von Springhasen oder anderen Tieren übernommen haben; manchmal legen Hyänen auch ihre eigenen Unterschlupfe an oder nehmen mit Felsspalten vorlieb. Die Tüpfelhyäne benutzt außer zur Aufzucht der Jungtiere keine Baue.
=== Sozial- und Territorialverhalten ===
Beim Sozialverhalten gibt es eine große Vielfalt. Tüpfel- und Schabrackenhyänen leben in Gruppen, die „Clans“ genannt werden. Bei beiden Arten bilden Gruppen miteinander verwandter Weibchen den Kern eines Clans, die fortpflanzungsfähigen Männchen sind jeweils zugewandert und nicht mit den Weibchen verwandt. Das Sozialverhalten der Tüpfelhyänen ist einzigartig unter den Raubtieren: Es gleicht dem mancher Altweltaffen, etwa den Pavianen. Bei dieser Art können die Clans bis zu 80 Tiere umfassen, die sich immer wieder in kleinere Untergruppen aufteilen und wieder zusammenkommen. Die Weibchen sind dominant und etablieren eine strikte Rangordnung, wobei die Ränge erblich sind, da die Mütter ihren Töchtern dabei helfen, die gleiche Position wie sie zu erlangen. Die Männchen sind den Weibchen stets untergeordnet und ihr Gruppenrang ist umso höher, je länger sie der Gruppe angehören. Bei den Schabrackenhyänen umfassen die Clans 4–14 Tiere, es existiert je nach Lebensraum eine Varianz in der Lebensweise. Nur bei hoher Populationsdichte etablieren sich Rangordnungen; Männchen und Weibchen haben ihre jeweils eigenen Hierarchien, und beide Geschlechter sind gleichberechtigt. Bei der Streifenhyäne, der am wenigsten erforschten Art, wurden verschiedene Beobachtungen gemacht: Es gibt Berichte über einzelgängerische Tiere, über stabile Paarbindungen und über das Zusammenleben in Gruppen. Vermutlich ist das Sozialverhalten dieser Art variabel. Die Erdwölfe gehen bei der Jungenaufzucht stabile und langlebige Paarbeziehungen ein, allerdings wurden die Jungtiere häufig nicht vom aufziehenden Männchen gezeugt. Außerhalb der Paarungszeit zeigen Erdwölfe kaum Sozialverhalten: Sie bewohnen getrennte Baue und gehen getrennt auf Nahrungssuche.
Hyänen sind territoriale Tiere, die Reviergröße hängt von der Art und dem Nahrungsangebot ab: Die Reviere der Tüpfelhyänen in den beutereichen Savannen Ostafrikas messen rund 20 km², während die Territorien von Tüpfel- und Schabrackenhyänen in den Trockengebieten des südlichen Afrika über 1000 km² groß sein können. Das Revier der Erdwölfe umfasst rund 3000 Termitenhügel und misst 1,5–4 km². Die Reviere werden mit dem streng riechenden Sekret ihrer Analbeutel markiert, welches weißlich oder gelblich gefärbt ist. Es wird in halb hockender Position auf Grasbüschel oder andere Objekte gestreift. Während Tüpfelhyänen häufig nur die Reviergrenzen markieren, bringen die anderen Arten ihre Duftspuren oft auch im Inneren des Territoriums an. Zusätzlich legen alle Arten in der Nähe der Reviergrenzen oder bei häufig begangenen Routen Kotgruben an, in die sie regelmäßig defäkieren. Trifft eine Hyäne ein gruppenfremdes Tier im eigenen Revier an, versucht sie es zu verjagen. Dabei richtet sie – mit Ausnahme der Tüpfelhyäne – ihre Rückenmähne auf und sträubt ihre Schwanzhaare, wodurch sie größer erscheint. Nützt das nichts, versucht sie den Eindringling zu vertreiben, diese Jagden enden an der Reviergrenze. Manchmal kommt es aber auch zu Kämpfen, die mit Bissen ausgetragen werden.
=== Kommunikation ===
Da die Reviere oft riesige Ausmaße haben und die Tiere oft allein unterwegs sind, spielt die olfaktorische Kommunikation, das heißt mittels Gerüchen, eine wichtige Rolle. Anhand des Analbeutelsekrets können Hyänen das Geschlecht, den Reproduktionsstatus und die Gruppenzugehörigkeit anderer Hyänen erkennen. Bei den Eigentlichen Hyänen gibt es ein spezielles Begrüßungsritual, das Mitglieder derselben Gruppe zeigen, wenn sie zusammenkommen: Sie schnuppern an der Nase oder am Analbeutel des anderen Tiers oder lecken dessen Rücken ab. Bei Tüpfelhyänen spielen dabei zusätzlich die erigierten Geschlechtsorgane – sowohl der Männchen als auch der Weibchen – eine Rolle, die vom gegenüberstehenden Tier beschnuppert oder beleckt werden.
Drei der vier Hyänenarten geben nur wenige Laute von sich. Bestenfalls stoßen sie Knurr- oder Kreischlaute aus, die nur über geringe Distanzen vernehmbar sind. Im Gegensatz dazu besitzt die Tüpfelhyäne ein reichhaltiges Repertoire lautlicher Kommunikation. Der am häufigsten zu hörende Laut ist ein lautes wuup, das über mehrere Kilometer hinweg wahrgenommen werden kann und der Kontaktaufnahme mit anderen Clanmitgliedern dient. Auch geben sie grunzende, weinende und muhende Laute von sich. Bekannt ist schließlich noch der Lach- oder Kicherlaut, der dem menschlichen Lachen ähnelt; er signalisiert, dass das Tier einen niedrigeren Rang akzeptiert.
=== Nahrung ===
Die vier Hyänenarten haben hinsichtlich der Ernährung drei verschiedene ökologische Nischen besetzt. Tüpfelhyänen sind aktive Jäger, die 60 bis 95 % ihrer Beute selbst erlegen. Sie haben eine sehr hohe Bandbreite an Beutetieren: das Spektrum reicht von Insekten bis Elefanten. Am häufigsten erlegen sie jedoch größere Huftiere, wie verschiedene Antilopen – etwa Gnus und Gazellen – oder Zebras. Sie jagen je nach Beutetier einzeln oder in Gruppen. Dabei schleichen sie sich nicht an ihre Opfer heran, sondern verlassen sich auf ihre Ausdauer. Auch die Form des Nahrungserwerbs ist flexibel: Neben selbst gejagten Tieren fressen sie auch Aas oder betreiben Kleptoparasitismus, das heißt, sie jagen anderen Fleischfressern deren Beute ab. Dies wurde bei Schakalen, Geparden, Leoparden, Afrikanischen Wildhunden, den beiden anderen Eigentlichen Hyänen sowie bei Löwen beobachtet.
Streifen- und Schabrackenhyänen sind Aasfresser, die daneben auch selbst getötete Beutetiere und pflanzliches Material verzehren. Einen Gutteil ihrer Nahrung macht das Aas größerer Wirbeltiere aus. Dank ihres kräftigen Gebisses können sie auch dicke Knochen oder Schildkrötenpanzer zerbrechen, ihr effizientes Verdauungssystem verwertet alle Körperteile eines Tiers mit Ausnahme der Haare, der Hufe und der Hörner. Die im Aas enthaltenen bakteriellen Gifte beeinträchtigen weder ihr Verdauungs- noch ihr Immunsystem. Kleine Säugetiere, Vögel und deren Eier sowie Insekten ergänzen ihren Speiseplan. Es ist unklar, in welchem Ausmaß sie selbst getötete, größere Beutetiere fressen. Sie sind keine guten Jäger, die meisten Jagden scheitern. Eine Ausnahme sind die Schabrackenhyänen der namibischen Küste, die mit großem Erfolg die dort lebenden Jungtiere der Südafrikanischen Seebären jagen.
Erdwölfe fressen nahezu ausschließlich Termiten, dabei haben sie sich auf die Tiere der Gattung Trinervitermes spezialisiert. Die Termiten dieser Gattung bewegen sich in der Nacht in großen Gruppen an der Erdoberfläche fort und werden von Erdwölfen mit deren klebriger Zunge aufgeleckt. Die Soldaten dieser Termiten sondern ein Gift ab, das für zahlreiche andere insektenfressende Säugetiere unverträglich ist, eine Ausnahme bildet unter anderem das Erdferkel. Dank ihrer Unempfindlichkeit für dieses Gift vermeiden Erdwölfe weitgehend Nahrungskonkurrenz mit anderen Tieren.
Außer den in Gruppen jagenden Tüpfelhyänen gehen Hyänen in der Regel einzeln auf Nahrungssuche, bei größeren Beutetieren oder Kadavern können jedoch mehrere Hyänen zusammenkommen und gemeinsam fressen.
Hyänen brauchen nicht zu trinken; wenn Wasser verfügbar ist, trinken sie allerdings täglich. Streifen- und Schabrackenhyänen decken ihren Flüssigkeitsbedarf mit Kürbisgewächsen und anderen Pflanzen.
=== Fortpflanzung ===
Das Paarungsverhalten der Hyänen ist unterschiedlich. Häufig herrscht ein promiskuitives Verhalten vor, das heißt Männchen und Weibchen pflanzen sich mit jeweils mehreren Partnern fort. Daneben findet sich bei Streifenhyänen manchmal die, bei Säugetieren seltene, Polyandrie, das heißt ein Weibchen hat mehrere männliche Paarungspartner. Auch die Wahl des Partners ist variabel: Bei Schabrackenhyänen werden gelegentlich die nomadischen Männchen, die im Gebiet des Clans ohne eigenes Revier und einzelgängerisch herumziehen, als Partner erkoren, was möglicherweise vom Nahrungsangebot abhängt. Bei Erdwölfen begattet in rund 40 % der Zeugungen nicht der Partner, mit dem das Weibchen zusammenlebt, sondern ein aggressiveres, stärkeres Männchen aus einem benachbarten Revier. Männchen der Serengetihyänen investieren viel Zeit in die Brautwerbung. Sanfte Männchen haben weit mehr Paarungserfolge als angriffslustige Geschlechtsgenossen.Die Fortpflanzung ist in den meisten Fällen nicht saisonal, sondern kann das ganze Jahr über erfolgen. Nach einer rund 90- bis 110-tägigen Tragzeit bringt das Weibchen ein bis vier Jungtiere zur Welt, in menschlicher Obhut können es fünf sein. Der Entwicklungsgrad der Neugeborenen ist unterschiedlich: Während bei Tüpfelhyänen bei der Geburt bereits die Schneide- und Eckzähne des Milchgebisses vorhanden und die Augen geöffnet sind, sind Streifen- und Schabrackenhyänen weniger weit entwickelt und ihre Augen noch geschlossen. Neugeborene Tüpfelhyänen sind schwarz gefärbt, bei den anderen Arten gleicht die Fellfärbung der Jungtiere jener der ausgewachsenen Tiere, lediglich anstelle der Rückenmähne ist ein dunkler Aalstrich vorhanden.
Neugeborene Hyänen verbringen ihre ersten Lebenswochen in einem Bau. Bei Tüpfel- und manchmal auch bei Schabrackenhyänen gibt es Gemeinschaftsbaue, in denen die Jungtiere eines Clans gemeinsam aufwachsen. Bei den Erdwölfen bewachen die Männchen im Bau der Mutter den Nachwuchs, der nicht oder nur zum Teil von ihnen gezeugt wurde. Dies ist, soweit bekannt, einzigartig unter Säugetieren. Nach einigen Wochen beginnen die Jungtiere, die Gegend außerhalb des Baus zu erkunden. Nach einigen Monaten unternehmen sie ihre ersten Streifzüge zur Nahrungssuche, anfangs noch in Begleitung eines ausgewachsenen Tieres, später dann allein. Junge Hyänen werden relativ lang gesäugt, Eigentliche Hyänen werden erst mit 12–16 Monaten endgültig entwöhnt. Im zweiten oder dritten Lebensjahr tritt die Geschlechtsreife ein.
== Hyänen und Menschen ==
=== Etymologie ===
Das Wort „Hyäne“ ist schon im Althochdeutschen als ijēna bezeugt, im Mittelhochdeutschen steht verdeutlichend hientier und später hienna. Letztlich stammt es über das lateinische hyaena aus dem griechischen ὕαινα (hýaina), das aus dem Wort ὗς (hӯs), „Schwein“, abgeleitet ist. Vermutlich wurde die Hyäne wegen ihres borstigen Rückens mit einem Schwein verglichen.
=== Hyänen in der Kultur ===
In Afrika und Asien gibt es zahlreiche Mythen über Hyänen, wobei oft nicht zwischen den einzelnen Arten unterschieden wird. In afrikanischen Erzählungen spielen sie eine ambivalente Rolle: Zum einen gelten sie als grausame und gefährliche Tiere, manchmal symbolisieren sie aber auch Kraft und Ausdauer und gelten als heilige Tiere. In der Mythologie der Tabwa aus dem östlichen Afrika hat eine Tüpfelhyäne die Sonne gebracht, um die Erde zu wärmen, in westafrikanischen Kulturen versinnbildlichen sie hingegen schlechte Eigenschaften. Den Hexen wird nachgesagt, sie ritten auf diesen Tieren, und in Riten mancher Völker werden Hyänenmasken verwendet, um die Verschlagenheit und andere Eigenschaften auf die Träger überzuleiten. Das Alter Ego zu den nachtaktiven, wilden Hyänen verkörpern in der Beziehung mit den Menschen die tagaktiven, domestizierten Hunde. In den Mythen der Beng, einer Ethnie in der Elfenbeinküste, symbolisieren Knochen das gegenpolige Verhältnis beider Tiere zum Menschen. Hunde kauen Knochen von Wildtieren, die ihnen von Menschen (freiwillig) hingeworfen werden, während Hyänen bei den Beng als Grabräuber verschrien sind, die Menschenknochen (gegen menschlichen Willen) ausgraben. Wegen ihrer den Hyänen entsprechenden magischen Fähigkeiten werden im Süden Malis der Gottheit Nya Hunde geopfert, damit diese den Kampf gegen die gefürchtete Hexerei aufnimmt. Bei den Yoruba gelten Hyänen als Symbole des Endes aller Dinge, da sie die Kadaver beseitigen, die andere Fleischfresser hinterlassen haben.Im Nahen und Mittleren Osten gelten Hyänen als Manifestationen von Dschinn. Bei den Beduinen gibt es zahlreiche Mythen über Begegnungen mit mystischen Hyänen oder Hyänen-Menschen-Mischwesen, die kaftar genannt werden. Die Genitalien galten als Liebeszauber, die Zunge sollte ein Heilmittel gegen Tumoren sein, und auch anderen Körperteilen wurden Heilkräfte zugeschrieben; das ist bereits vom antiken Griechenland und dem alten Rom bekannt. In Afghanistan wurden Kämpfe zwischen Haushunden und Hyänen veranstaltet, um die Körperteile anschließend magischen Ritualen zuzuführen.Schon Aristoteles schrieb in seinem Werk Historia animalium, die Hyäne liebe verfaultes Fleisch und grabe in Friedhöfen, um an Essbares zu gelangen. Er weist aber die Behauptung zurück, Hyänen seien Hermaphroditen, dieser Irrtum hielt sich allerdings bis in das 20. Jahrhundert. Auch Plinius der Ältere beschäftigt sich mit den Hyänen in seinem Werk Naturalis historia, worin er hauptsächlich die Erkenntnisse des Aristoteles wiedergibt und die Heilkräfte diverser Körperteile beschreibt. Der Physiologus, eine frühchristliche Tiersymbolik, schreibt, die Hyänen würden ihr Geschlecht wechseln können. Sie werden darum mit betrügerischen Menschen verglichen, diese Deutung wird auch in antisemitischer Weise auf die Juden angewandt, die zunächst den wahren Gott, später aber angeblich Götzen anbeteten. Dies geschieht im Barnabasbrief, einem frühchristlichen, gegen die Juden gerichteten theologischen Traktat. Dort wird in Vers 10.7 die antike Ansicht von der Zweigeschlechtlichkeit der Hyänen übernommen, um damit ein Verzehrverbot zu rechtfertigen.Verschiedene Bestiarien des Mittelalters wiederholen diese Ansichten. Auch in verschiedenen jüngeren Werken werden Hyänen häufig negativ geschildert und der Irrtum, sie seien Hermaphroditen oder würden regelmäßig ihr Geschlecht wechseln, wiederholt. Der schlechte Ruf wird beispielsweise noch in Brehms Thierleben deutlich, so schreibt Alfred Brehm über die Tüpfelhyäne: „Unter sämmtlichen Raubthieren ist sie unzweifelhaft die mißgestaltetste, garstigste Erscheinung; zu dieser aber kommen nun noch die geistigen Eigenschaften, um das Thier verhaßt zu machen.“ Sie gelten auch heute noch als heimtückische und feige Aasfresser. Beispielsweise wurde ein aufdringliches Telefoninterview von Bankräubern von Journalisten der Tageszeitung Österreich als „Hyänenjournalismus“ bezeichnet.
=== Bedrohung ===
Es kommt immer wieder vor, dass Hyänen in Viehweiden eindringen und Haustiere reißen. Auch töten Tüpfelhyänen gelegentlich Menschen, beispielsweise wenn diese ungeschützt im Freien schlafen. Von der Streifenhyäne gibt es Berichte, wonach sie in Friedhöfe eindringen, Leichen ausgraben und fressen. Aus diesen Gründen werden sie häufig verfolgt und mit Giftködern, Schusswaffen oder Fallen zur Strecke gebracht. Ein weiterer Grund für die Bejagung sind die Heilkräfte, die verschiedenen Körperteilen der Hyänen zugeschrieben werden. Die Tuareg haben zumindest bis in die 1940er-Jahre Streifenhyänen gemästet und gegessen, eine Praxis, die auch aus dem Alten Ägypten bekannt ist. Weitere Bedrohungen sind die Zerstörung ihres Lebensraumes sowie der Rückgang an Beutetieren durch menschliche Einflussnahme. Eine Gefährdung stellt der Automobilverkehr dar. Diese Gefahr wird dadurch gesteigert, dass Hyänen häufig direkt auf der Straße die Kadaver von überfahrenen Tieren fressen und dabei unvorsichtig gegenüber nachkommenden Fahrzeugen sind.
Mit Ausnahme des Erdwolfs gehen die Bestände aller Hyänenarten zurück. Bei den Erdwölfen sorgt die großflächige Weidewirtschaft eher für eine Vermehrung ihrer bevorzugten Termitengattung, was sich positiv auf die Gesamtbestände auswirkt. Schätzungen über die Gesamtpopulation der verschiedenen Hyänenarten belaufen sich auf 27.000–47.000 Tüpfelhyänen, 5000–8000 Schabrackenhyänen, 5000–14.000 Streifenhyänen sowie zumindest mehrere tausend Erdwölfe. Die IUCN listet die Streifen- und die Schabrackenhyäne als „gering gefährdet“ (near threatened) und den Erdwolf und die Tüpfelhyäne als „nicht gefährdet“ (least concern).
== Systematik und Stammesgeschichte ==
=== Äußere Systematik ===
Die Hyänen werden innerhalb der Raubtiere trotz ihres hundeähnlichen Äußeren in die Katzenartigen eingeordnet, was durch Schädelmerkmale, insbesondere den Bau der Paukenhöhle, abgesichert ist. Die Beziehungen zu den anderen Katzenartigen waren lange Zeit ungeklärt, man hielt Hyänen für nahe Verwandte der Katzen, der Mangusten oder für einen eigenständigen frühen Seitenzweig der Katzenartigen. Durch molekulare Untersuchungen wurde festgestellt, dass das Schwestertaxon der Hyänen eine gemeinsame Klade aus Mangusten und Madagassischen Raubtieren ist. Die Position der Hyänen innerhalb der Katzenartigen ist in folgendem Kladogramm wiedergegeben:
Die Entwicklungslinien zwischen den Hyänen einerseits und den Mangusten und Madagassischen Raubtieren andererseits haben sich vor rund 29,2 Millionen Jahren getrennt.
=== Innere Systematik der heutigen Hyänen ===
Es gibt vier rezente Hyänenarten:
Streifenhyäne (Hyaena hyaena (Linnaeus, 1758))
Schabrackenhyäne (Parahyaena brunnea (Thunberg, 1820); teilweise auch Hyaena brunnea)
Tüpfelhyäne (Crocuta crocuta (Erxleben, 1777))
Erdwolf (Proteles cristatus (Sparrman, 1783))Diese vier Arten werden in zwei Unterfamilien aufgeteilt, einerseits die Protelinae mit dem Erdwolf, andererseits die Hyaeninae (Eigentliche Hyänen) mit den anderen drei Arten. Manche Systematiken halten die Unterschiede in Körperbau und Lebensweise zwischen dem Erdwolf und den Eigentlichen Hyänen für so groß, dass sie den Erdwolf in eine eigene Familie, die Protelidae, stellen. Diese Aufteilung wird von jüngeren taxonomischen Veröffentlichungen aber nicht durchgeführt. Molekulare Untersuchungen haben die Monophylie, das heißt der Abstammung von einer gemeinsamen Stammform, sowohl der Hyänen als auch der Eigentlichen Hyänen bestätigt. Demnach ist der Erdwolf das Schwestertaxon der Eigentlichen Hyänen und die Tüpfelhyäne ist das Schwestertaxon einer gemeinsamen Klade aus Streifen- und Schabrackenhyäne. Das wird in folgendem Kladogramm deutlich:
Die Entwicklungslinien zwischen dem Erdwolf und den Eigentlichen Hyänen haben sich vor rund 10,6 Millionen Jahren getrennt, die zwischen der Tüpfelhyäne und der Streifen- und Schabrackenhyäne vor rund 8,6 Millionen Jahren. Die Aufspaltung zwischen Streifen- und Schabrackenhyänen geschah vor rund 4,2 Millionen Jahren.
=== Überblick über die rezenten und fossilen Gattungen der Hyänen ===
Die unten stehende Liste der fossilen und rezenten Hyänengattungen folgt bei den ausgestorbenen Vertretern weitgehend der Klassifizierung von Werdelin und Solounias (1991) sowie McKenna und Bell (1997). Die heutigen Gattungen wurden durch Wozencraft (2005) in Wilson und Reeders Mammal Species of the World ergänzt. Im Gegensatz zur Klassifizierung von McKenna und Bell werden die Percrucotiden jedoch nicht mit aufgeführt, sondern als eigene Familie aufgefasst. Die ausgestorbenen afrikanischen Formen erhielten im Jahr 2010 durch Werdelin und Peigné eine ausführliche Überarbeitung, auch wurden weitere Studien berücksichtigt:
Familie Hyaenidae Gray, 1821† Tongxinictis Werdelin & Solounias, 1991 (Mittleres Miozän von Asien)
† Belbus Werdelin & Solounias, 1991 (Oberes Miozän von Griechenland)
† Allohyaena Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän Europas)
† Protoviverrops de Beaumont & Mein, 1972 (Unteres Miozän Europas)† Unterfamilie Ictitheriinae Trouessart, 1897† Ictitherium Roth & Wagner, 1854 (=Galeotherium; einschließlich Lepthyaena, Sinictitherium, Paraictitherium; Mittleres Miozän Afrikas, Oberes Miozän bis Unteres Pliozän Eurasiens)
† Thalassictis Nordmann, 1950 (einschließlich Palhyaena, Miohyaena, Hyaenalopex; mittleres bis Oberes Miozän Asiens, Oberes Miozän Europas)
† Hyaenictitherium Zdansky, 1924 (Oberes Miozän und Unteres Pliozän Nord- und Ostafrikas)
† Hyaenotherium Semenov, 1989 (Oberes Miozän (bis Unteres Pliozän?) Eurasiens)
† Miohyaenotherium Semenov, 1989 (Oberes Miozän Europas)
† Lycyaena Hensel, 1863 (Oberes Miozän Eurasiens)
† Lycyaenops Kretzoi, 1938 (Mittleres Miozän Nordafrikas)
† Tungurictis Colbert, 1939 (Mittleres Miozän Asiens, möglicherweise auch Afrikas und Europas)
† Protictitherium Kretzoi, 1938 (Mittleres Miozän Afrikas, Mittleres Miozän Asiens, Mittleres bis Oberes Miozän Europas)Unterfamilie Hyaeninae Gray, 1821† Palinhyaena Qiu, Huang & Guo, 1979 (Oberes Miozän Asiens)
† Ikelohyaena Werdelin & Solounias, 1991 (Unteres Pliozän Afrikas)
Hyaena Brisson, 1762 (=Euhyaena, Hyena, Pliohyaena, Anomalopithecus; frühes Pliozän (möglicherweise Mittleres Miozän) bis heute in Afrika, Oberes Pliozän (möglicherweise Unteres Miozän) bis Spätpleistozän Europas, Oberes Pliozän bis heute in Asien)
Parahyaena Hendey, 1974 (vom Unteren Pliozän fossil im östlichen und südlichen Afrika bis heute)
† Pliocrocuta Kretzoi, 1938 (Pliozän Eurasiens und Nordafrikas)
† Hyaenictis Gaudry, 1861 (Oberes Miozän Asiens?, Oberes Miozän Europas, Unteres Pliozän (möglicherweise auch Unteres Pleistozän) Afrikas)
† Leecyaena Young & Liu, 1948 (Oberes, möglicherweise auch Unteres Miozän Asiens)
† Chasmaporthetes Hay, 1921 (= Ailuriaena; einschließlich Euryboas; Oberes Miozän bis Unteres Pleistozän Eurasiens, Unteres Pliozän bis Oberes Pliozän oder Unteres Pleistozän Afrikas, Oberes Pliozän bis frühes Pleistozän Nordamerikas)
† Pachycrocuta Kretzoi, 1938 (Pliozän und Pleistozän Eurasiens und Afrikas)
† Adcrocuta Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän Eurasiens)
Crocuta Kaup, 1828 (=Crocotta; einschließlich Eucrocuta; Oberes Pliozän bis heute in Afrika, Oberes Pliozän bis Oberes Pleistozän in Eurasien)Unterfamilie Protelinae Flower, 1869† Mesoviverrops de Beaumont & Mein, 1972 (einschließlich Jourdanictis; Mittleres Miozän Europas)
† Plioviverrops Kretzoi, 1938 (Oberes Miozän bis Unteres Pliozän Europas)
† Gansuyaena Galiano, Solounias, Wang, Qiu & White, 2021 (Mittleres und Oberes Miozän Asiens)
Proteles I. Geoffroy St.-Hillaire, 1824 (=Geocyon; Pleistozän bis heute in Afrika)
=== Stammesgeschichte ===
Die Hyänen traten erstmals im Miozän Europas vor etwa 17 Millionen Jahren auf und brachten im Verlauf ihrer Stammesgeschichte etwa 70 Arten hervor, von denen vier noch heute leben. Als älteste Gattungen gelten Protictitherium, Tungurictis und Plioviverrops aus dem Unteren und Mittleren Miozän. Diese frühen Hyänen waren deutlich kleiner als die heutigen Arten und erreichten etwa die Ausmaße eines Fuchses. Protictitherium glich äußerlich eher einer Schleichkatze und war vermutlich ein teilweise auf Bäumen lebender Insekten- oder Allesfresser. Plioviverrops war dagegen eher bodenorientiert und glich einer Manguste. Beide Gattungen dürften ihren Ursprung in Westeuropa gehabt haben und waren seit dem Mittleren Miozän in Europa und Westasien verbreitet. Am Ende des Mittleren Miozäns erschien mit Thalassictis zusätzlich eine etwas größere Gattung in Europa. Thalassictis wog etwa 20–30 kg und hatte ein hundeartiges Gebiss. Tungurictis war hingegen zu jener Zeit in Ostasien verbreitet und besaß im Vergleich zu seinen westeurasischen Verwandten deutlichere hypercarnivore Eigenschaften. Möglicherweise ist Tungurictis aus einer im Mittleren Miozän erfolgten, ostwärts gerichteten Expansion der frühen Hyänen hervorgegangen. Die unterschiedlichen Anpassungen an Fleischnahrung können darüber hinaus ein Ausdruck abweichender paläoökologischer Verhältnisse zwischen dem westlichen und östlichen Eurasien sein. Demnach lebte Tungurictis eher in offenen Landschaften, worauf auch sein stärker entwickelter Zehengang hinweist. Ähnlich abweichende Spezialisierungen sind bei Ictitherium und Hyaenictitherium belegt, die im Oberen Miozän im östlichen Mittelmeergebiet auftraten. Für beide, zwischen 10 und 30 kg schweren Vertreter ergeben sich sowohl in der Schädel- als auch Zahnmorphologie und daraus resultierenden biomechanischen Eigenschaften, etwa der Beißkraft, stärkere Ähnlichkeiten zum heutigen Kojoten, dessen ökologische Nische sie wohl einnahmen. Da sich die beiden Fossilformen in den Gliedmaßenproportionen unterscheiden, nutzten sie allerdings unterschiedliche Landschaftsräume. Für Ictitherium wird eine deutlicher allesfressende Ernährung angenommen, wofür etwa die recht großen Backenzähne sprechen. Eine weitere Form, Hyaenotherium, die wie Ictitherium in Westasien entstanden sein dürfte, glich dagegen sehr stark Thalassictis, war aber noch größer. Zur gleichen Zeit weitete Protictitherium sein Verbreitungsgebiet noch aus und erreichte Nordafrika.
Die ersten Hyänen waren demnach keine spezialisierten Aasfresser, ihre Gebisse waren nicht dafür ausgelegt, größere Knochen zu zerbeißen. Dennoch gab es bereits im Mittleren Miozän große Raubtiere, die ähnlich aussahen wie moderne Hyänen und vermutlich auch deren ökologische Nische besetzten, allerdings nicht zu den Hyänen zählen. Verschiedene hyänenähnliche Tiere der Gattungen Percrocuta und Dinocrocuta, die früher zu den Hyänen gerechnet wurden, werden heute als eine gesonderte Raubtierfamilie Percrocutidae angesehen. Insbesondere im Schädelbau ähnelten diese Räuber den Hyänen stark. Die riesige, möglicherweise bis zu 380 kg schwere, Dinocrocuta aus dem späten Miozän hatte bereits ein weit entwickeltes Brechscherengebiss zum Knacken von Knochen, wie es von verschiedenen Hyänen bekannt ist. Konkurrenz erhielten die Percrocutidae im Oberen Miozän mit dem Erscheinen von Adcrocuta, einer vergleichsweise großen Hyänengattung mit bis zu 70 kg. Körpergewicht und einem auf das Zerkleinern von Knochen spezialisierten Zahnapparat. Das Auftreten dieser großen, knochenknackenden Hyänen dürfte den Niedergang der Percrucotidae am Ende des Miozän eingeleitet haben. Ein anderer Zweig der Hyänen brachte zur gleichen Zeit relativ große, hundeähnliche Hyänen hervor, die auf schnelles, ausdauerndes Laufen ausgerichtet waren. Ein früher Vertreter dieser Gruppe war Hyaenictis. Ein weiterer war Lycyaena.Hyaenictis überlebte in Afrika zusammen mit der hundeähnlichen Form Hyaenictitherium bis in das Untere Pliozän, verschwand aber kurz darauf. Die meisten dieser hundeähnlichen Hyänen wurden am Übergang des Miozän ins Pliozän von Vertretern der Hunde (Canidae) abgelöst, die zu dieser Zeit erstmals aus Amerika in die Alte Welt einwanderten. Während sich die Hyänen im Miozän in Eurasien und Afrika entwickelten und mit einer Ausnahme nie den amerikanischen Kontinent erreichten, hatten sich die Hunde zur gleichen Zeit in Nordamerika entwickelt. Die beiden Familien gleichen sich stark in ihrer Entwicklungsgeschichte und brachten jeweils Typen hervor, die als konvergent betrachtet werden können. So gab es unter den frühen Hyänen zahlreiche Formen, die stark an Hunde erinnerten, während im Miozän und Pliozän Nordamerikas an Stelle von knochenknackenden Hyänen aasfressende Hunde der Gattung Osteoborus lebten. Im Gegensatz zu den an schnelles Laufen angepassten Hyänen, die größtenteils von Hunden ersetzt wurden, überlebten die aasfressenden Formen und brachten immer größere Formen hervor. Zu diesen knochenknackenden Hyänen, deren Vorläufer seit dem Pliozän auftauchten, gehörte neben den heutigen Gattungen Crocuta und Hyaena auch Pachycrocuta. Pachycrocuta war die größte Hyäne aller Zeiten und wog um die Hälfte mehr als heutige Tüpfelhyänen. Die Gattung überlebte in Afrika und Eurasien bis ins Pleistozän. Als möglicher Vorfahre der heutigen Streifenhyänen und Schabrackenhyänen wird Ikelohyaena abronia in Betracht gezogen. Eine Gattung der ans Laufen angepassten Formen, Chasmaporthetes, kam noch im Pliozän vor und gelangte sogar über die Beringbrücke nach Amerika. Sie war damit die einzige Hyäne, die jemals die Neue Welt erreichte. Der nördlichste bekannte Fundpunkt der Gattung liegt im Old Crow Basin im Yukon Territory in Kanada, wo unter den rund 50.000 geborgenen Säugetierfunden auch einige Zähne von der Hyänenform stammen. Nach Süden drang sie bis ins mittlere Mexiko vor. Allerdings währte das Auftreten von Chasmaporthetes nicht sehr lange in Nordamerika, da die Gattung dort im Verlauf des Mittelpleistozäns wieder verschwand. Es wird vermutet, dass sie dem Konkurrenzdruck seitens anderer großer Beutegreifer wie etwa des riesigen Kurznasenbären nicht standhalten konnte.Erdwölfe (Proteles) sind erstmals aus dem frühesten Pleistozän Südafrikas bekannt. Ein naher Verwandter trat mit Gansuyaena bereits im Mittleren und Oberen Miozän Asiens auf. Die kleinwüchsige Forem zeichnete sich wie der heutige Erdwolf durch eine vergrößerte Paukenblase aus. Bedeutendes Material in Form von Schädel- und Gebissteilen stammt unter anderem aus der Region um Lanzhou in der chinesischen Provinz Gansu. Noch im späten Pleistozän kamen Hyänen auch in Europa vor. Die Höhlenhyäne, meist als Unterart der Fleckenhyäne (Crocuta crocuta) betrachtet, war um einiges größer als heutige Tüpfelhyänen und starb erst am Ende der Epoche aus.
== Literatur ==
Kay E. Holekamp, Joseph M. Kolowski: Family Hyaenidae (Hyenas). In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Carnivores (= Handbook of the Mammals of the World. Band 1), Lynx Edicions, Barcelona 2009, ISBN 978-84-96553-49-1, S. 234–261.
Markus Krajewski, Harun Maye (Hrsg.): Die Hyäne. Lesarten eines politischen Tiers. Diaphanes, Zürich 2010, ISBN 978-3-03734-136-0.
Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Jordi Agustí, Mauricio Antón: Mammoths, Sabertooths and Hominids. 65 Million Years of Mammalian Evolution in Europe. Columbia University Press, New York 2002, ISBN 0-231-11640-3.
== Weblinks ==
Informationen der Hyaena Specialist Group der IUCN (englisch)
Brown Hyena Research Project (englisch)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Hy%C3%A4nen |
Martin Heidegger | = Martin Heidegger =
Martin Heidegger (* 26. September 1889 in Meßkirch; † 26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Philosoph. Er stand in der Tradition der Phänomenologie vornehmlich Edmund Husserls, der Lebensphilosophie insbesondere Wilhelm Diltheys sowie der Existenzdeutung Søren Kierkegaards, die er in einer neuen Ontologie überwinden wollte. Die wichtigsten Ziele Heideggers waren die Kritik der abendländischen Philosophie und die denkerische Grundlegung für ein neues Weltverständnis.
1926 entstand sein erstes Hauptwerk Sein und Zeit, das die philosophische Richtung der Fundamentalontologie begründete (publiziert 1927).
Ab Mitte 1930 begann Heidegger mit einer Gesamtinterpretation der abendländischen Philosophiegeschichte. Dazu untersuchte er die Werke bedeutender Philosophen unter phänomenologischen, hermeneutischen und ontologischen Gesichtspunkten und versuchte so, deren „unbedachte“ Voraussetzungen und Vorurteile freizulegen. Alle bisherigen philosophischen Entwürfe vertraten laut Heidegger eine einseitige Auffassung der Welt – eine Einseitigkeit, die er als Merkmal jeder Metaphysik ansah.
Diese metaphysische Weltauffassung gipfelte aus Heideggers Sicht in der modernen Technik. Mit diesem Begriff verband er nicht allein, wie sonst üblich, ein neutrales Mittel zum Erreichen von Zwecken. Vielmehr versuchte er zu zeigen, dass mit der Technik auch eine veränderte Auffassung der Welt einhergehe. So wird nach Heidegger durch die Technik die Erde vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Nutzbarmachung in den Blick gebracht. Wegen ihrer globalen Verbreitung und der damit verbundenen schonungslosen „Vernutzung“ natürlicher Ressourcen sah Heidegger in der Technik eine unabweisbare Gefahr.
Der Technik stellte er die Kunst gegenüber und erarbeitete ab Ende der 1930er Jahre u. a. anhand von Hölderlins Dichtungen Alternativen zu einem rein technischen Weltbezug. In späten Texten ab 1950 widmete er sich verstärkt Fragen der Sprache. Deren geschichtlich gewachsener Beziehungsreichtum soll metaphysische Einseitigkeiten vermeiden. Heidegger versuchte, den Menschen nicht mehr als Zentrum der Welt zu denken, sondern im Gesamtzusammenhang einer Welt, die er „Geviert“ nannte. Anstatt über die Erde zu herrschen, soll der Mensch in ihr als sterblicher Gast wohnen und sie schonen.
Eine breite Rezeption machte Heidegger zu einem der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl ist sein Werk inhaltlich umstritten. Vornehmlich ist sein nationalsozialistisches Engagement bis heute Gegenstand kontroverser Debatten. Heidegger war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP und 1934 eines der Gründungsmitglieder des von Hans Frank geleiteten Ausschusses für Rechtsphilosophie der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht. Durch die Publikation der Schwarzen Hefte 2014/2015 als Teil seines Gesamtwerks wurden u. a. bisher unbekannte antisemitische Äußerungen öffentlich.
== Leben und Werk ==
=== Kindheit, Jugend und Studium ===
Martin Heidegger kam am 26. September 1889 als erstes Kind der Eheleute Friedrich und Johanna Heidegger (geb. Kempf aus Göggingen) in Meßkirch (Baden) zur Welt. 1892 wurde seine Schwester Maria geboren, 1894 sein Bruder Friedrich (Fritz). Der Vater war Küfermeister und versah an der örtlichen katholischen Kirche das Amt des Mesners. Die Familie lebte in einfachen, aber wohlgeordneten Verhältnissen. Die tief gläubigen Eltern bemühten sich trotz knapper Geldmittel um eine möglichst gute Ausbildung ihrer Kinder und ließen darüber hinaus die Söhne schon früh in den Ministranten-Dienst berufen. Höhere Bildung jenseits der Gemeindeschule schien unerreichbar, bis der Ortspfarrer Camillo Brandhuber 1903 auf die Begabung Martins aufmerksam wurde und ihm ein Stipendium für das Konradihaus, ein erzbischöfliches Studienheim zur Heranbildung zukünftiger Geistlicher, und den Besuch des humanistischen Gymnasiums, dem heutigen Heinrich-Suso-Gymnasium, beide in Konstanz, ermöglichte.
Ab 1906 lebte Heidegger am bischöflichen Seminar in Freiburg und absolvierte das Gymnasium. Nach seinem Abitur trat er im September 1909 in Feldkirch (Vorarlberg) als Novize in den Jesuitenorden ein, verließ das Kloster aber wegen Herzbeschwerden schon nach einem Monat wieder. Stattdessen wurde er Priesterseminarist und begann das Studium der Theologie und Philosophie an der Universität Freiburg. Heidegger veröffentlichte erste Artikel und Kommentare. Der Hausarzt des Collegium Borromaeum, Heinrich Gassert, konstatierte am 16. Februar 1911 bei dem Theologiestudenten Martin Heidegger nervöse Herzbeschwerden asthmatischer Natur, welche Gassert zu dem Vorschlag an den Konviktsdirektor veranlassten, Heidegger solle nach seiner Heimat entlassen werden, um einige Wochen „vollständige Ruhe zu haben“. Daraufhin wurde Heidegger jedoch für das gesamte Sommersemester 1911 beurlaubt, und es wurde ihm angeraten, ganz auf das Theologiestudium zu verzichten. Heidegger folgte diesem Rat, gab 1911 das Theologiestudium ganz auf und ergänzte die Philosophie mit Mathematik, Geschichte und Naturwissenschaften. Da in dieser Zeit an philosophischen Seminaren vor allem der Neukantianismus und eine durch ihn geprägte Ablehnung der vor-kantischen Ontologie vorherrschten, war Heideggers früher Bildungsweg durch seine Bindung an den Katholizismus eher atypisch.
Zwei Texte prägten Heidegger in dieser Zeit: Franz Brentanos Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles und Vom Sein. Abriß der Ontologie des Freiburger Dogmatikers Carl Braig, dessen Vorlesungen er besuchte. Daraus entstand ein fruchtbares Spannungsverhältnis zur scholastischen Tradition. Heidegger urteilte später, dass er ohne seine theologische Herkunft nicht auf seinen Weg des Denkens gebracht worden wäre.Im Herbst 2014 wurde mitgeteilt, dass das Deutsche Literaturarchiv Marbach 572 bisher unveröffentlichte Briefe und 36 Postkarten aus dem Schriftwechsel mit seinem Bruder Fritz erworben habe. Im Sommer dieses Jahres hatte das Literaturarchiv 70 Briefe Heideggers und seiner Gattin an seine Eltern aus den Jahren 1907 bis 1927 erhalten. Heidegger hatte dem Archiv bereits einen Großteil seines Nachlasses selbst übergeben.
=== Familie und Beziehungen ===
1917 heiratete Heidegger Elfride Petri (1893–1992). Sie war Protestantin; am 21. März 1917 traute Engelbert Krebs die beiden in der Universitätskapelle des Freiburger Münsters nach katholischem Ritus, und vier Tage später heirateten sie in Wiesbaden evangelisch.Im Januar 1919 kam der erste Sohn Jörg († 2019), im August 1920 Hermann († 2020) zur Welt: Sein leiblicher Vater war der Arzt Friedrich Caesar, ein Jugendfreund Elfrides, worüber Martin Heidegger in Kenntnis gesetzt war, was jedoch erst 2005 mit der Veröffentlichung der Briefe Martin Heideggers an seine Frau ans Tageslicht kam. Die beiden lebten offensichtlich eine so genannte offene Ehe.Heidegger hatte eine Affäre mit der Pädagogin Elisabeth Blochmann, mit der er einen Briefwechsel unterhielt über ihre Berufsentlassung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933. Sie war eine Freundin und frühere Klassenkameradin Elfride Heideggers.
Ab Februar 1925 verband Heidegger eine Liebesbeziehung mit seiner achtzehnjährigen, ebenfalls jüdischen Studentin Hannah Arendt. Briefe von ihm an sie und ihre Notizen über diese Beziehung wurden in ihrem Nachlass gefunden, während Briefe von ihr an ihn nicht erhalten sind. Aus seiner frühen Korrespondenz mit der Studentin geht hervor, welche Vorstellung er von einer universitär gebildeten Frau hatte: „Männliches Fragen lerne Ehrfurcht an schlichter Hingabe; einseitige Beschäftigung lerne Weltweite an der ursprünglichen Ganzheit fraulichen Seins.“ Am 24. April desselben Jahres schrieb er: „Zerrissenheit und Verzweiflung vermag nie so etwas zu zeitigen wie Deine dienende Liebe in meiner Arbeit.“ Die Beziehung war ungleichgewichtig: Da Heidegger weder seine Stellung noch seine Ehe gefährden wollte, bestimmte er Ort und Zeit ihrer Treffen; die Kontakte mussten im Geheimen ablaufen. Erst nach beider Tod wurde die Liebesbeziehung bekannt. Zum Wintersemester 1925/26 ging Arendt auf Heideggers Rat hin nach Heidelberg, um bei Karl Jaspers zu studieren. Es kam noch zu einzelnen Treffen, bis Heidegger 1928 die Beziehung beendete. Die Beziehung hatte für Heidegger allerdings lebenslange Bedeutung, auch wenn es immer wieder zu langen Zeiten ohne Kontakte kam, so vor allem von 1933 bis 1950. Jedoch hat er in keinem seiner Werke Bezug auf die Veröffentlichungen Hannah Arendts genommen und ist auch im privaten Briefwechsel mit keinem Wort auf ihre Arbeiten eingegangen, die sie ihm jeweils zugesandt hatte.
Der beste Kenner der Schriften und Gedankengänge Martin Heideggers war sein fünf Jahre jüngerer Bruder Fritz. Dieser transkribierte alle zu Lebzeiten seines Bruders veröffentlichten Texte von dessen schwer lesbaren Manuskripten in entsprechende Typoskripte.
=== Frühe Schaffenszeit ===
1913 wurde Heidegger mit der Arbeit Die Lehre vom Urteil im Psychologismus zum Doktor der Philosophie bei Artur Schneider promoviert. Im Freiburger Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine war er bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst sehr aktiv und beteiligte sich regelmäßig an den wöchentlichen Treffen. 1915 hielt er dort einen Vortrag über den Wahrheitsbegriff in der modernen Philosophie.
Schon 1915 folgte seine Habilitation bei Heinrich Finke und Heinrich Rickert als Zweitgutachter mit der Schrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus und dem Vortrag Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft. Heidegger bezog sich in seiner Habilitationsschrift einerseits auf die Kategorienlehre Duns Scotus', andererseits auf die Schrift Grammatica Speculativa – später Thomas von Erfurt und nicht Scotus zugeschrieben – einen Traktat über Typen sprachlicher Ausdrucksweisen und ihnen entsprechende ontologische Kategorien. Hier zeigt sich ein frühes Interesse Heideggers an dem Verhältnis von Sein und Sprache. Heidegger versucht hier, die mittelalterliche Philosophie mit den begrifflichen und methodischen Mitteln des modernen Denkens, vor allem der Phänomenologie, für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Der Erste Weltkrieg unterbrach seine akademische Laufbahn. Heidegger wurde 1915 einberufen und den Diensten für Post und Wetterbeobachtung zugewiesen. Für Kampfeinsätze war er nicht tauglich; die Ausmusterung erfolgte 1918.
Mit Edmund Husserl kam 1916 der führende Phänomenologe an die Universität Freiburg. Er trat die Nachfolge Rickerts an. Heidegger wurde ab 1919 als Assistent (Nachfolger von Edith Stein) und Privatdozent zu seinem engsten Vertrauten. Husserl gewährte ihm Einblicke in seine Forschung, und Heidegger hob rückblickend den Gewinn hervor, den dieses enge Verhältnis für ihn hatte. Ab 1920 begann der freundschaftliche Briefwechsel mit dem Philosophen Karl Jaspers. Um eine außerordentliche Professur in Marburg erhalten zu können, erstellte Heidegger 1922 für Paul Natorp die Skizze eines Aristoteles-Buchs, den sogenannten Natorp-Bericht, der viele Gedanken aus Sein und Zeit vorwegnahm. Heidegger bezeichnete seine Philosophie, die hier gerade im Entstehen war, als ausdrücklich atheistisch, erklärte jedoch zugleich in einer Fußnote: Eine Philosophie, die sich als faktische Lebensauslegung verstehe, müsse auch wissen, dass dies eine „Handaufhebung gegen Gott“ bedeute.In der Zeit der Weimarer Republik brach Heidegger mit dem „System des Katholizismus“ und widmete sich ausschließlich der Philosophie.
Heidegger war durch die tiefe Verwurzelung im süddeutschen Landleben geprägt. Von Freiburg aus entdeckte er für sich den Südschwarzwald. In der Landschaft zwischen Feldberg und Belchen sah er eine intakte Natur, gesundes Klima und idyllische Dörfer. In Todtnauberg kaufte Elfride Heidegger von ihren letzten Ersparnissen ein Grundstück und ließ nach eigenen Plänen von dem Zimmermeister und Bauern Pius Schweitzer eine Hütte erbauen, die am 9. August 1922 bezogen werden konnte und erst 1931 einen Stromanschluss erhielt. Dort schrieb Heidegger zahlreiche seiner Werke. Mit den hektischen Großstädten konnte er sich sein ganzes Leben lang nicht anfreunden.
Während einer außerordentlichen Professur an der Universität Marburg von 1923 bis 1927 freundete er sich mit dem Theologen Rudolf Bultmann an. Unter den Studenten galt Heidegger bereits als herausragender Lehrer. Zu seinen Schülern zählten Karl Löwith, Gerhard Krüger und Wilhelm Szilasi. Auch die junge Hannah Arendt hörte Vorlesungen bei ihm, ebenso ihr späterer erster Ehemann Günther Anders und deren gemeinsamer Freund Hans Jonas. Sie erinnerte sich in einem Rundfunkbeitrag 1969 an die Faszination, die damals von seiner Lehrtätigkeit ausging: „Heideggers Ruhm ist älter als die Veröffentlichung von Sein und Zeit […] Kollegnachschriften [gingen] von Hand zu Hand [… und] der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König. […] Das Gerücht, das [die Studierenden] nach Freiburg zu dem Privatdozenten und etwas später nach Marburg lockte, besagte, dass es einen gibt, der die Sache, die Husserl proklamiert hatte, wirklich erreicht.“1927 erschien sein Aufsehen erregendes Hauptwerk Sein und Zeit. Das Buch wurde als eigenständiger Band in der von Edmund Husserl herausgegebenen Reihe Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung veröffentlicht. Die durch die Gesamtausgabe zugänglichen frühen Vorlesungen machen die Entstehungsgeschichte von Sein und Zeit sehr genau nachvollziehbar. Es zeigt sich, dass schon früh die für Sein und Zeit wesentlichen Grundgedanken im Werk Heideggers hervortreten. 1928 wurde er in Freiburg Nachfolger auf Husserls Lehrstuhl. Seine Antrittsvorlesung hielt er über das Thema: Was ist Metaphysik? Daneben sorgten seine Vorlesungen sowie die Davoser Disputation mit Ernst Cassirer über Immanuel Kant anlässlich der II. Internationalen Hochschulkurse 1929 für die Bekanntheit Heideggers.
=== Nationalsozialismus ===
Dieser Abschnitt behandelt die historischen Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus. Für Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus siehe den Artikel →Martin Heidegger und der Nationalsozialismus.
Nach der Machtergreifung 1933 beteiligte sich Heidegger mit Enthusiasmus an dem, was er als nationalsozialistische Revolution begriff. Am 21. April 1933 wurde er Rektor der Freiburger Universität. Für das Amt wurde er von seinem Vorgänger Wilhelm von Möllendorff vorgeschlagen, der als Sozialdemokrat unhaltbar geworden und einen Tag zuvor – vermutlich auf Druck des NS-Regimes – zurückgetreten war. Heidegger, der bereits 1932 die NSDAP gewählt hatte, trat ihr zum 1. Mai 1933 bei (Mitgliedsnummer 3.125.894) und blieb bis Kriegsende Mitglied.
In seiner Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 mit dem Titel Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität fand sich das Wort von der „Größe und Herrlichkeit dieses Aufbruchs“. Die Rede war nationalsozialistisch konnotiert und hat bis heute viel negatives Aufsehen erregt: Heidegger forderte darin eine grundlegende Erneuerung der Universität. Sie solle, mit der Philosophie als Zentrum, ihre Ganzheit wiedergewinnen, ähnlich wie in der Antike. Das Verhältnis von Professoren und Studenten solle dem von „Führern“ und „Gefolgschaft“ entsprechen. Ferner betonte er die Notwendigkeit der Bindung an die sogenannte „Volksgemeinschaft“ und die wichtige Rolle der Universität bei der Ausbildung von kulturellen Führern des Volkes.
Während seines Rektorats beteiligte sich Heidegger an NS-Propaganda und Gleichschaltungspolitik der „Bewegung“ und hielt eine Rede zur Bücherverbrennung, die er abzuhalten in Freiburg allerdings nach eigenen Angaben untersagte. Während Heideggers Rektorat wurden jüdische Kollegen an der Universität Freiburg wie der Chemiker Georg von Hevesy und der Altphilologe Eduard Fraenkel ebenso entlassen wie Jonas Cohn, Wolfgang Michael sowie Heideggers Assistent Werner Gottfried Brock. Nach eigener Aussage untersagte er an der Universität die Aufhängung des „Judenplakats“. Doch er unternahm nichts, um die zunehmenden antisemitischen Ressentiments an der Universität einzudämmen. Er denunzierte zwei Kollegen, Eduard Baumgarten, mit dem er 1931 einen fachlichen Streit gehabt hatte, und Hermann Staudinger als wenig überzeugte Nationalsozialisten. Heidegger veranstaltete 1933 in Todtnauberg ein Wissenschaftslager für Dozenten und Assistenten, denen die „nationalsozialistische Umwälzung des Hochschulwesens“ nähergebracht werden sollte. Am 11. November 1933 unterzeichnete er in Leipzig das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler und hielt auf der Veranstaltung eine Hauptrede. Den Wahlaufruf Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler vom 19. August 1934 unterzeichnete er ebenfalls.
Am 27. April 1934 trat Heidegger vom Amt des Rektors zurück, da seine Hochschulpolitik weder an der Universität noch bei der Partei genügend Unterstützung fand. Der Grund war nicht (wie er dies später selbst darstellte), dass er die nationalsozialistische Hochschulpolitik nicht mittragen wollte, vielmehr ging ihm diese nicht weit genug: Heidegger plante eine zentrale Dozentenakademie in Berlin. Alle zukünftigen deutschen Hochschullehrer sollten in dieser Akademie philosophisch geschult werden. Der nationalsozialistische Marburger Psychologe Erich Jaensch schrieb dazu ein Gutachten, in dem er Martin Heidegger als „einen der größten Wirrköpfe und ausgefallensten Eigenbrötler“ bezeichnete, „die wir im Hochschulleben haben“. Heideggers ehrgeizige Pläne scheiterten, und er zog sich aus der nationalsozialistischen Hochschulpolitik zurück. Eine Vorlesung, welche unter dem Titel Der Staat und die Wissenschaft geplant war und zu der führende Parteimitglieder mit einer gewissen Erwartungshaltung angereist waren, wurde kurzerhand abgesagt. Heidegger zum Auditorium: „Ich lese Logik.“ Darüber hinaus berichtete Heidegger, er sei nach seinem Rücktritt vom Rektorat von der Partei überwacht worden, und einige seiner Schriften seien nicht mehr im Handel erhältlich gewesen oder nur noch unter der Ladentheke ohne Titelblatt verkauft worden.Im Mai 1934 war Heidegger gemeinsam mit Carl August Emge und Alfred Rosenberg Gründungsmitglied des Ausschusses für Rechtsphilosophie bei der von Hans Frank geleiteten nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht und gehörte dem Ausschuss bis mindestens 1936 an.Von 1935 bis 1942 war Heidegger Mitglied im Wissenschaftlichen Ausschuss des Nietzsche-Archivs. Er trat jedoch 1942 ohne nähere Angabe von Gründen aus. Seine Kritik an der Historisch-Kritischen Ausgabe, die er dort hätte betreuen sollen, hat er später in seinem zweibändigen Nietzsche-Buch deutlich dargestellt.
Im November 1944 wurde er im Rahmen des Volkssturms zur Schanzarbeit eingezogen, doch durch die Intervention der Universität schon im Dezember wieder entlassen. Nach Bombenangriffen auf Meßkirch brachte Heidegger seine Manuskripte nach Bietingen. Die Philosophische Fakultät der Freiburger Universität wurde vorübergehend nach Burg Wildenstein ausgelagert, wo Heidegger das Ende des Krieges erlebte.
Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens hatte die philosophische Fakultät der Universität Freiburg im September 1945 ein Gutachten gefertigt, das sich für eine Emeritierung Heideggers mit beschränkter Lehrbefugnis aussprach. Dagegen protestierte das Mitglied der Bereinigungskommission Adolf Lampe und auch Walter Eucken und Franz Böhm erhoben Einwände, weshalb der Fall am 1. Dezember 1945 erneut aufgenommen wurde. Heidegger ließ daraufhin ein Gutachten von Karl Jaspers anfragen, das dieser am 22. Dezember 1945 in Briefform verfasste. Jaspers hielt Heidegger aber durch dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus als Teil des Lehrkörpers für untragbar und schlug „die Suspension vom Lehramt für einige Jahre“ vor. Am 19. Januar 1946 beschloss der Senat auf dieser Grundlage und auf der des neuen Kommissionsgutachtens des Vorsitzenden Constantin von Dietze den Entzug der Lehrbefugnis. Am 5. Oktober 1946 stellte auch die französische Militärregierung klar, dass Heidegger weder lehren noch an irgendwelchen Veranstaltungen der Universität teilnehmen dürfe.Das Lehrverbot endete am 26. September 1951 mit Heideggers Emeritierung. Die Rezeption von Heideggers Werken ist aber bis heute durch seine NS-Vergangenheit, durch sein späteres Schweigen dazu und durch diverse antisemitische Äußerungen in den Schwarzen Heften schwer belastet.
=== Späte Jahre ===
1946 erlitt Heidegger einen körperlichen und seelischen Zusammenbruch und wurde von Victor Freiherr von Gebsattel behandelt. Nachdem er sich wieder erholt hatte, nahm Jean Beaufret mit einem Brief Kontakt zu ihm auf. Darin stellte er Heidegger die Frage, wie nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs dem Wort Humanismus noch ein Sinn gegeben werden könne. Heidegger antwortete mit dem Brief über den »Humanismus«, der auf große Resonanz stieß: Heidegger war zurück auf der philosophischen Bühne. Ernst Jünger, dessen Buch Der Arbeiter Heidegger stark geprägt hatte (er übernahm den Begriff der „totalen Mobilisierung“ in den Beiträgen), kam 1949 zu Besuch nach Todtnauberg.
Mit der Emeritierung erhielt Heidegger seine Rechte als Professor zurück. Sogleich kündigte er eine Vorlesung an und las im Wintersemester erstmals wieder in der Freiburger Universität. Seine Vorlesungen hatten großen Zulauf und lösten, wie auch seine Schriften, ein breites Echo aus. Nebenbei hielt er Vorträge im kleineren Rahmen, so zum Beispiel 1950 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über „Das Ding“ und 1951 bei den Darmstädter Gesprächen des Deutschen Werkbundes zum Thema „Bauen – Wohnen – Denken“. 1953 stellte Heidegger vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste die „Frage nach der Technik“, und 1955 hielt er bei der Conradin-Kreutzer-Feier in Meßkirch den Vortrag „Gelassenheit“.
1947 wurde Heidegger vom Zürcher Psychotherapeuten Medard Boss kontaktiert, woraus eine lebenslange Freundschaft erwuchs. Er hielt die „Zollikoner Seminare“ im Hause von Medard Boss von 1959 bis 1969, wovon ausgehend der Schweizer Psychiater eine an Heideggers Analytik des Daseins angelehnte Daseinsanalyse entwickelte.
1955 lernte René Char den deutschen Philosophen in Paris kennen. René Char lud Heidegger mehrfach zu Reisen in die Provence ein. So kam es zu den Seminaren in Le Thor 1966, 1968, 1969 und in Zähringen 1973, einem Austausch der Dichter und Denker.Zu seinem 70. Geburtstag am 26. September 1959 wurde ihm in seiner Geburtsstadt Meßkirch die Ehrenbürgerwürde zuteil. Am 10. Mai 1960 erhielt Heidegger in Hausen im Wiesental den Johann-Peter-Hebel-Preis. Seit 1958 war er ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Heideggers Denken entfaltete weltweit Wirkung. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Übersetzungen von Sein und Zeit, unter anderem ins Japanische. Auch bei den fernöstlichen Philosophen hinterließ Heidegger eine dauerhafte Wirkung. Hannah Arendt unterstützte die Herausgabe seines Werks in den USA. Zum 500-Jahres-Jubiläum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 1957 hielt er den Festvortrag „Der Satz der Identität“. Neben einem Interview für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 1966 gab er auch vereinzelt Fernsehinterviews, so 1969 Richard Wisser.
Bedeutsam für ihn waren die beiden Reisen nach Griechenland 1962 und 1967, deren Eindrücke er in den Aufenthalten festhielt, die Reisen nach Italien 1952 und 1963 mit Medard Boss sowie seine wiederholten Ferien in der Lenzerheide bei diesem. 1967 traf Heidegger in Freiburg den von ihm geschätzten Dichter Paul Celan, der sich dort zu einer Lesung aufhielt. Die Brisanz des Treffens ergab sich aus der Biographie Celans, dessen Eltern als Juden von den Nationalsozialisten ermordet worden waren und der daher offenbar von Heidegger eine Erklärung für sein Verhalten in der Zeit nach 1933 erwartete, die er aber nicht erhielt. Trotzdem fuhren beide zusammen nach Todtnauberg, wo sich Celan ins Gästebuch eintrug. Später schickte er Heidegger das Gedicht Todtnauberg, in dem er „einer Hoffnung, heute …“ Ausdruck gab „… auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“.Heidegger hatte die Veröffentlichung seiner Gesamtausgabe selbst vorbereitet, deren erster Band 1975 erschien. Am 26. Mai 1976 starb Martin Heidegger im Alter von 86 Jahren in Freiburg. Seinem Wunsch entsprechend wurde er am 28. Mai 1976 in seinem Geburtsort Meßkirch beigesetzt. Zu seiner Beerdigung las sein Sohn Hermann Heidegger Gedichte Hölderlins, die sein Vater ausgesucht hatte. Die Grabrede hielt einer seiner philosophischen Nachkommen, Bernhard Welte.Heidegger war davon überzeugt, dass die „verstehende Aneignung“ eines denkerischen Werks sich an dessen Inhalten zu vollziehen hat – die Person des Denkers tritt somit in den Hintergrund. Daher sind autobiografische Daten äußerst spärlich, und vieles ist nur durch Briefe oder Berichte von Zeitgenossen zu erschließen. Die geringe Bedeutung, die Heidegger der Biografie eines Denkers zusprach, lässt sich an den Worten ablesen, mit welchen er einmal eine Vorlesung über Aristoteles eröffnete: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb. Wenden wir uns also seinem Denken zu.“
== Denken als Weg ==
Fragen, nicht Antworten
Im Text „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt“ 1969 bezog Hannah Arendt zugunsten von Heideggers Philosophie Stellung. Politisch habe er wie Platon zu den Philosophen gehört, die Tyrannen oder Führern vertrauten. Sie resümierte sein Lebenswerk: „Denn es ist nicht Heideggers Philosophie – von der man mit Recht fragen kann, ob es sie überhaupt gibt – sondern Heideggers Denken, das so entscheidend die geistige Physiognomie des Jahrhunderts mitbestimmt hat. Dies Denken hat eine nur ihm eigene, bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ‚denken‘ liegt. Heidegger denkt nie ‚über‘ etwas; er denkt etwas.“
Arendts Zitat macht deutlich, worum es Heidegger in der Philosophie ging: Das Denken selbst ist schon Vollzug, ist Praxis, und es geht weniger darum, Antworten auf Fragen zu liefern, denn vielmehr das Fragen selbst wach zu halten. Heidegger lehnte daher sowohl historische als auch systematische „Philosophiegelehrsamkeit“ ab. Die Aufgabe der Philosophie ist vielmehr ein Offenhalten dieser Fragen, die Philosophie bietet nicht Gewissheit und Sicherheit, sondern „das ursprüngliche Motiv der Philosophie [entspringt] aus der Beunruhigung des eigenen Daseins“.Die zentrale Stellung des Fragens in Heideggers Werk hat ihren Grund darin, dass er die Philosophiegeschichte vor allem als eine Geschichte der Verdeckung der grundsätzlichen Fragen interpretierte. Dabei habe die Philosophie nicht nur die Grundfragen – die Frage nach dem Sein – vergessen, sondern auch die Tatsache, dass sie vergessen hat. Ziel des Fragens ist somit nicht, eine Antwort zu bekommen, sondern durch das Fragen aufzudecken, was ohne es weiter in Vergessenheit geriete. So wurde für Heidegger das Fragen zum Wesensmerkmal des Denkens: „Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“Zugang zum Werk und sprachliche Hürden
Gleichwohl bleibt trotz dieser im Fragen angelegten Offenheit der Zugang zu Heideggers Werk überaus schwierig. Dies liegt nicht zuletzt an Heideggers eigentümlicher, wortschöpferischer Sprache – eine durch ihre Unnachahmlichkeit besonders leicht zu parodierende Diktion. Ein „Spiegel“-Journalist schrieb 1950 nach einem Vortrag ironisch, Heidegger habe „die ärgerliche Angewohnheit, Deutsch zu sprechen“.Heideggers Sprache ist – vor allem in Sein und Zeit – geprägt von Neologismen, außerdem erfand er Verben wie nichten, lichten, wesen. Anstoß erregten Konstruktionen wie „das Nichts nichtet“ (in: Was ist Metaphysik?), die Heideggers Versuchen geschuldet sind, die Sachen als sie selbst zu denken: Es ist das Nichts selbst, das nichtet. Zur Erklärung soll kein metaphysisches Konzept herangezogen werden. Durch solche gewaltsamen semantischen Dopplungen wollte Heidegger den theoretisch distanzierten Blick der Philosophie überwinden und auf den Boden springen, auf dem wir – auch wenn wir es nicht sehen – in unserem konkreten Leben immer schon stehen.
In seinem Spätwerk kehrte sich Heidegger zwar von den Neologismen ab, lud dafür jedoch Worte aus der Alltagssprache semantisch bis zur Unverständlichkeit auf, sodass deren Bedeutung nur noch im Gesamtzusammenhang seiner Abhandlungen zu verstehen ist. Wegen seines Umgangs mit der Sprache wurde Heidegger scharf angegriffen: Am prominentesten ist dabei Theodor W. Adornos polemische Schrift Jargon der Eigentlichkeit. Heidegger verwandte diesen Jargon jedoch nicht um seiner selbst willen, sondern er wollte sich damit von der philosophischen Tradition lösen, Sprache und Inhalt stünden in untrennbarem Zusammenhang.
Für den Leser bedeutet dies, dass er sich zunächst das heideggersche Vokabular aneignen, ja zum Bewohner dieses Diskurses werden muss, wenn er sich anschließend gleichsam von innen mit dem heideggerschen Denken beschäftigen möchte. Dolf Sternberger kritisierte genau dies: Auf die Terminologie Heideggers kann man nur mittels heideggerscher Begriffe antworten. Um Heideggers Denken nachzuvollziehen, bietet sich ein Mittelweg an: seine Sprache ernst nehmen und gleichzeitig vermeiden, bloß einen Jargon nachzusprechen. Heidegger selbst hat daher immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, seine Aussagen nicht „so [zu] verstehen wie das, was in der Zeitung steht.“ Seine Begriffe sollen stattdessen einen neuen Bereich aufschließen, indem sie auf immer schon Vorhandenes, aber stets Übersehenes hinweisen: Was sie formal anzeigen, soll letztlich jeder in der eigenen unmittelbaren Erfahrung finden können. „Der Bedeutungsgehalt dieser Begriffe meint und sagt nicht direkt das, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf, dass der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein zu vollziehen.“Wege, nicht Werke
An Heideggers Schriften fällt die eher geringe Anzahl großer und geschlossener Abhandlungen auf. Es finden sich stattdessen vor allem kleine Texte und Vorträge – eine Form, die ihm wohl geeigneter schien, sein Denken zu vermitteln, zumal sie sich einer Auslegung dieses Denkens als philosophischen Systems in den Weg stellt.
Dass für Heidegger Denken und Philosophieren eine Bewegung vollzieht und dabei einen Weg zurücklegt, zeigt sich an Werktiteln wie Wegmarken, Holzwege und Unterwegs zur Sprache. Denken wird so zum Weg und zur Bewegung, weshalb Otto Pöggeler auch vom Denkweg Heideggers spricht. Heideggers Denken ist nicht so sehr als Kanon von Meinungen aufzufassen, sondern bietet verschiedene Ansätze zu den „wesentlichen Fragen“. In hinterlassenen Aufzeichnungen für ein nicht mehr fertig gewordenes Vorwort der Gesamtausgabe seiner Schriften notierte Heidegger daher: „Die Gesamtausgabe soll auf verschiedene Weise zeigen: ein Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens der mehrdeutigen Seinsfrage. Die Gesamtausgabe soll dadurch anleiten, die Frage aufzunehmen, mitzufragen und vor allem dann fragender zu fragen.“
== Frühe Phänomenologie: Hermeneutik der Faktizität ==
Nach einer recht konventionellen Dissertation und Habilitation wurde Heideggers Vertrauen in die damalige Schulphilosophie vor allem durch Denker wie Kierkegaard, Nietzsche und Dilthey erschüttert. Diese haben der Metaphysik und ihrer Suche nach einer überzeitlichen Wahrheit die Geschichte mit ihren Zufällen und der Wandelbarkeit moralischer Werte und Bezugssysteme entgegengestellt. Heidegger kehrte rein theoretischen Philosophiekonzepten den Rücken. Ihn interessierte verstärkt, wie sich das konkrete Leben phänomenologisch beschreiben lässt, als Leben, das in seiner historisch gewachsenen Tatsächlichkeit gegeben ist, jedoch nicht notwendig so werden musste. Mit diesem Ansatz, als phänomenologische Hermeneutik der Faktizität bezeichnet, versucht Heidegger, Lebenszusammenhänge und Erfahrungen aufzuweisen, nicht zu erklären. Ziel dieser phänomenologischen Herangehensweise ist es, das eigene Leben nicht zum Objekt zu machen und so als Ding aufzufassen, sondern zum Lebensvollzug durchzustoßen. Exemplarisch erläutert Heidegger dies 1920/21 in der Vorlesung „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“ am Wort des Apostels Paulus „der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“ In der urchristlichen Lebenserfahrung des Apostels drückt sich für Heidegger ein Lebensgefühl aus, das nicht versucht, die unverfügbare Zukunft durch Festlegungen oder Berechnungen verfügbar zu machen. Es ist die allzeitige Offenheit für das plötzlich einbrechende Ereignis, das unmittelbar gelebte Leben, das Heidegger einer theoretischen Betrachtung des Lebens entgegenhält.Nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sich Heidegger als Assistent Husserls besonders intensiv mit dessen phänomenologischer Methode. Husserl gewährte ihm Einblicke in noch nicht veröffentlichte Schriften und hoffte, in Heidegger einen Schüler und Kronprinzen gefunden zu haben. Heidegger allerdings verfolgte seine eigenen Interessen, und auch Husserl bemerkte, dass Heidegger „schon in Eigenart [war], als er meine Schriften studierte.“ Vor allem Diltheys Annahme von der historischen Gewordenheit und Kontingenz jedes Welt- und Selbstverhältnisses war es, die Heidegger dazu führte, Husserls Konzept absolut gültiger Wesenheiten des Bewusstseins abzulehnen: „Leben ist historisch; keine Zerstückelung in Wesenselemente, sondern Zusammenhang.“ Ausgehend von dieser Sicht auf das Leben als Vollzug lehnte Heidegger Husserls phänomenologische Reduktion auf ein transzendentales Ich ab, das der Welt bloß apperzeptiv gegenüberstünde. Diese frühen Überlegungen gipfelten zusammen mit Anregungen aus Kierkegaards Existenzphilosophie in Heideggers erstem Hauptwerk Sein und Zeit.
== „Sein und Zeit“ ==
=== Die Seinsfrage ===
Thema des 1927 erschienenen Werks ist die Frage nach dem Sinn von Sein. Diese Frage hatte schon Platon beschäftigt. Heidegger zitierte ihn zu Beginn der Untersuchung: „Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ‚seiend‘ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.“ Auch nach zweitausend Jahren ist, so Heidegger, diese Frage noch unbeantwortet: „Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort »seiend« eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen.“Heidegger fragte nach dem Sein. Wenn er zugleich nach dessen Sinn forschte, dann setzt er voraus, dass die Welt keine formlose Masse ist, sondern es in ihr sinnhafte Bezüge gibt. Das Sein ist also strukturiert und besitzt in seiner Mannigfaltigkeit eine gewisse Einheitlichkeit. So gibt es beispielsweise einen sinnhaften Bezug zwischen Hammer und Nagel – wie aber lässt sich dieser verstehen? „Von wo aus, das heißt: aus welchem vorgegebenen Horizont her verstehen wir dergleichen wie Sein?“ Heideggers Antwort hierauf war: „Der Horizont aus dem dergleichen wie Sein überhaupt verständlich wird, ist die Zeit.“ Die Bedeutung der Zeit für das Sein wurde Heidegger zufolge in aller bisherigen Philosophie nicht beachtet.
Kritik an der traditionellen Seinslehre
Die abendländische Seinslehre hat, laut Heidegger, zwar in ihrer Tradition verschiedene Antworten darauf gegeben, was sie unter „Sein“ versteht. Sie hat die Seinsfrage jedoch nie so gestellt, dass sie dessen Sinn nachfragte, also die dem Sein eingeschriebenen Beziehungen untersuchte. Heidegger kritisierte am bisherigen Verständnis, dass Sein stets wie etwas einzeln Seiendes, etwas Vorhandenes charakterisiert worden sei, also im zeitlichen Modus der Gegenwart. Als etwas bloß gegenwärtig Vorhandenes betrachtet, sei Vorhandenes jedoch aller zeitlichen und sinnhaften Bezüge zur Welt entkleidet: Von der Feststellung, dass etwas ist, lasse sich nicht verstehen, was etwas ist.
Bei einer Bestimmung des Seins als beispielsweise Substanz oder Materie werde das Sein nur in Bezug auf die Gegenwart vorgestellt: Das Vorhandene ist gegenwärtig, jedoch ohne dass es Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft hätte. Heidegger versuchte im Verlauf der Untersuchung zu zeigen, dass im Gegensatz dazu die Zeit eine wesentliche Bedingung für ein Verständnis des Seins ist, da sie – vereinfacht gesagt – einen Verständnishorizont darstellt, in dessen Rahmen die Dinge in der Welt erst sinnhafte Bezüge zwischeneinander ausbilden können. So dient beispielsweise der Hammer dazu, Nägel in Bretter zu schlagen, um ein Haus zu bauen, welches Schutz vor kommenden Unwettern bietet. Es lässt sich also nur im Gesamtzusammenhang einer Welt mit zeitlichen Bezügen verstehen, was der Hammer außer einem vorhandenen Stück Holz und Eisen ist.
Der von der philosophischen Tradition gewählte Ausweg zur Bestimmung dessen, was etwas ist, der ontologische Reduktionismus, stellte für Heidegger ebenso eine Verfehlung dar, wenn er versucht, alles Sein auf ein Urprinzip oder ein einzig Seiendes zurückzuführen. Dieses von Heidegger kritisierte Vorgehen ermöglicht es beispielsweise der Onto-Theologie, innerhalb einer linearen Seinsordnung ein höchstes Seiendes anzunehmen und dies mit Gott gleichzusetzen.
Ontologische Differenz
Diesen Fehler des bisherigen philosophischen Denkens, nicht die Bedeutung der Zeit für das Verständnis des Seins in den Blick zu bringen, sollte eine fundamentalontologische Untersuchung korrigieren. Heidegger wollte also in Sein und Zeit die Ontologie auf ein neues Fundament stellen. Ausgangspunkt seiner Kritik an traditionellen Positionen der Ontologie war das, was er die ontologische Differenz von Sein und Seiendem nannte.
Mit Sein bezeichnete Heidegger in Sein und Zeit grob gesagt den Verständnishorizont, auf dessen Grundlage einem innerweltlich Seiendes begegnet. Jedes verstehende Verhältnis zu innerweltlich Seiendem muss sich in einem solchen kontextuellen Horizont bewegen, in dem das Seiende erst offenbar wird. Wenn uns also etwas begegnet, dann verstehen wir dies immer nur durch seine Bedeutung in einer Welt. Dieser Bezug macht erst sein Sein aus. Jedes einzelne Seiende wird demnach immer schon transzendiert, d. h. überstiegen und als Einzelnes in Bezug zum Ganzen gesetzt, von wo aus es erst seine Bedeutsamkeit empfängt. Das Sein eines Seienden ist daher das im „Überstieg“ Gegebene: „Sein ist das transcendens schlechthin. […] Jede Erschließung von Sein als das transcendens ist transzendentale Erkenntnis.“Geht man von der ontologischen Differenz aus, dann wird auch jedes einzelne Seiende nicht mehr bloß als gegenwärtig Vorhandenes aufgefasst. Es wird vielmehr überstiegen in Bezug auf ein Ganzes: Im Ausblick auf etwas Zukünftiges und in seiner Herkunft aus der Vergangenheit ist sein Sein wesentlich zeitlich bestimmt.
Sprachliche Schwierigkeiten
Das Sein als ein solcher zeitlicher Verständnishorizont ist daher die stets unthematische Voraussetzung dafür, dass einzelnes Seiendes begegnen kann. So wie im Gegebenen das Geben und der Gebende nicht enthalten sind, sondern unthematisiert bleiben, wird das Sein selbst nie explizit.Allerdings ist das Sein stets das Sein eines Seienden, weshalb zwar eine Differenz zwischen Sein und Seiendem besteht, beide aber nie getrennt voneinander auftreten können. Das Sein zeigt sich somit als das Nächste, weil es im Umgang mit der Welt immer schon vorausgehend und mitgängig ist. Als Verständnishorizont ist es allerdings eigentlich unthematisierbar – denn ein Horizont kann niemals erreicht werden. Wird trotz allem das Sein sprachlich zum Thema erhoben, so wird es gleichzeitig verfehlt. Da sich nämlich die meisten Begriffe der Alltagssprache und auch der Philosophie allein auf Dinge in der Welt beziehen, sah sich Heidegger in Sein und Zeit vor eine sprachliche Hürde gestellt. Dies zeigt sich in der Substantivierung „das Sein“, die Sein als innerweltlich Seiendes vorstellt. Um nicht an metaphysisch vorbelastete Begriffe anknüpfen zu müssen, hat Heidegger in Sein und Zeit viele Neologismen gebildet.
=== Hermeneutische Phänomenologie ===
Heidegger geht also davon aus, dass das Sein weder als vorhandenes Ding zu bestimmen ist noch als struktur- und zusammenhangslose Masse. Die Welt, in der wir leben, stellt vielmehr ein Beziehungsgeflecht aus sinnhaften Bezügen dar. Nun konnte die Untersuchung für Heidegger nicht einfach mit einem Paradigma ansetzen, wenn sie eine wirklich phänomenologische sein soll, denn die Phänomenologie versucht, Sachverhalte aufzuweisen, nicht deduktiv zu erklären. Da er also immer schon in einer Welt lebt, kann der Mensch hinter diesen gegebenen Verständnishorizont nicht zurückgehen, er kann nur versuchen, ihn zu verstehen und einzelne Momente aufweisend hervorheben. Daher wählte Heidegger einen hermeneutischen Zugang.
Der hermeneutische Zirkel in Sein und Zeit
Um die sinnhaften Bezüge in der Welt verstehen zu können, muss nach Heidegger ein hermeneutischer Zirkel durchlaufen werden, der bei jedem Durchgang ein besseres Verständnis zu Tage fördert. Die Bewegung dieses Zirkels verläuft so, dass sich das Einzelne nur im Bezug zum Ganzen verstehen lässt, und das Ganze sich nur am Einzelnen zeigt. Wenn der Verständnisvorgang nur im Durchlaufen eines Zirkels möglich ist, ist trotzdem fraglich, wo dieser Zirkel einsetzen soll. Heideggers Antwort hierauf: Einsatzpunkt ist der Mensch selber, denn er ist es offensichtlich, der die Frage nach dem Sinn von Sein stellt.Das Sein des Menschen nennt Heidegger Dasein, die Untersuchung dieses Daseins Fundamentalontologie. Die Frage nach dem Sinn von Sein kann nur vom Dasein beantwortet werden, denn dieses allein verfügt über ein Vorverständnis, wie es für jede hermeneutische Untersuchung notwendige Voraussetzung ist. Dieses Vorverständnis über das Sein bezeichnet Heidegger als Seinsverständnis. Es kommt allen Menschen zu, wenn sie die verschiedenen Seinsarten der Dinge verstehen: So versuchen wir nicht mit Bergen zu sprechen, wir gehen mit Tieren anders um als mit unbelebter Natur, wir versuchen nicht die Sonne anzufassen usf. All diese selbstverständlichen Verhaltensweisen beruhen auf Auslegungen darüber, wie und was die Dinge sind. Da dem Dasein diese grundlegende Eigenschaft zukommt, also der Mensch immer schon in einen vorreflexiven Verständnishorizont eingelassen ist, richtet Heidegger seine Befragung folglich an das Dasein.
Durch diese grundsätzlich hermeneutische Ausrichtung geht er nicht mehr von einem erkennenden Subjekt aus, welches (wie etwa bei Kant) hauptsächlich Körper in Raum und Zeit wahrnimmt. Das Dasein ist vielmehr ein verstehendes, das immer schon in eine Welt eingebunden ist. Heidegger wählte als Eintrittspunkt in den Zirkel denn auch kein besonderes Dasein, sondern das Dasein in seiner Alltäglichkeit. Sein Ziel war es, die Philosophie von transzendentalen Spekulationen zurück auf den Boden der gängigen Erfahrungswelt zu bringen. Dabei kam dem Boden selbst, als „Bodenständigkeit“ und „Bodenlosigkeit“, gemeinsam mit Begrifflichkeiten wie der „Verwurzelung“ und dem „entwurzelten“ Dasein des „Man“ eine Bedeutung zu, die epistemologisch aber nicht ganz klar zu fassen ist, wodurch eine langjährige Debatte darüber ausgelöst wurde.Dazu sind nach Heideggers Auffassung zwei Schritte des hermeneutischen Zirkels erforderlich: Im ersten soll untersucht werden, wie sich die Sinnbezüge in der Welt für das Dasein darstellen. Die Welt wird demzufolge phänomenologisch beschrieben. Heidegger tat dies anhand des Sinnzusammenhangs von Werkzeugen, wie dem oben erwähnten Hammer. Im zweiten Schritt erfolgt eine „existenziale Daseinsanalyse“, also die Untersuchung der Strukturen, welche das Dasein ausmachen wie etwa Sprache, Befindlichkeit, Verstehen und Endlichkeit des Daseins. Ist so das Verhältnis von Dasein und Welt angemessen verstanden, muss es, wenn das Sein bestimmt werden soll, zugleich ontologisch gefasst werden.
=== Fundamentalontologie ===
Unterwegs zu einer neuen Ontologie
Um die Überwindung der neuzeitlichen auf dem Subjekt-Objekt-Schema basierenden Ontologie voranzutreiben, führte Heidegger den Begriff des In-der-Welt-seins ein. Er sollte die grundlegende Zusammengehörigkeit von Dasein und Welt anzeigen. Welt bezeichnet dabei nicht so etwas wie die Summe alles Seienden, sondern eine sinnhafte Totalität, eine Bedeutungsganzheit, in der sich die Dinge sinnhaft aufeinander beziehen. Ging die Transzendentalphilosophie Kants von einem selbstgenügsamen, in sich ruhenden Subjekt aus, dessen Verbindung zur Außenwelt erst hergestellt werden musste, so ist bei Heidegger einerseits dem Dasein immer schon Welt gegeben, andererseits ist Welt überhaupt nur für das Dasein. Der Begriff des In-der-Welt-seins fasst beide Aspekte zusammen. Nun ist die Welt für Heidegger kein Ding, sondern ein zeitliches Beziehungsgeflecht. Er nennt dieses Geschehen von Welt die Weltlichkeit der Welt. Sie ist nur im Zusammenhang mit dem Dasein zu verstehen. Was also der Hammer als Hammer ist, lässt sich nur in Bezug auf das Dasein begreifen, das ihn gebraucht. Dem Sein ist also ein Sinn eingeschrieben und „Sinn ist das, worin sich die Verständlichkeit von etwas hält.“ Der Sinn von Sein und Dasein bedingen einander: „Nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ›gibt es‹ Sein.“ Damit vertrat Heidegger weder einen metaphysischen Realismus („die Dinge existieren, so wie sie sind, auch ohne uns“) noch einen Idealismus („der Geist erzeugt die Dinge, wie sie sind“).
So soll die Analyse des Daseins das Fundament für eine neue Ontologie jenseits von Realismus und Idealismus abgeben. Heidegger stellt in Sein und Zeit hierzu verschiedene Strukturen heraus, die das Dasein in seiner Existenz, also in seinem Lebensvollzug, bestimmen. Diese nannte er Existenzialien: Verstehen, Befindlichkeit, Rede sind grundlegende Weisen, wie sich das Dasein auf sich und die Welt bezieht. Die Existenzialien sind Momente eines Strukturganzen, das Heidegger als Sorge bestimmte. Damit erweist sich das Sein des Daseins als Sorge: Der Mensch ist Sorge. Diese Bestimmung des menschlichen Seins als Sorge will Heidegger jedoch von Nebenbedeutungen wie „Besorgnis“ und „Trübsal“ frei halten.
Wenn die Existenz des Daseins sich als Sorge erweist, dann lässt sich von hier aus die Welt verstehen: Der Hammer und anderes Werkzeug dienen zum Hausbau. Die verschiedenen Werkzeuge sind durch ein Um-zu verbunden, das letztendlich im Um-Willen des Daseins mündet, dieses besorgt Dinge, weil es sich um sich und seine Mitmenschen sorgt. Auch die wissenschaftliche Erfassung der Welt und das Naturverständnis erheben sich letztlich für Heidegger aus dem Dasein als Sorge.Zeitlichkeit und Dasein
Da das Dasein als Sorge offensichtlich immer aus einer Vergangenheit her bestimmt ist und sich auf Zukünftiges richtet, folgt im zweiten Teil von Sein und Zeit eine erneute Interpretation der Existenzialien unter dem Aspekt der Zeit. Dabei erweist sich für Heidegger die Zeit zunächst nicht als objektiv-physikalisch ablaufende, sondern als die dem Dasein eingeschriebene Zeitlichkeit, die in engem Zusammenhang mit der Sorge steht. Die enge Beziehung von Zeit und Sorge zeigt sich beispielsweise an alltagssprachlichen Zeitangaben wie „bis dahin ist es ein Spaziergang“. Nach Heidegger ist die an die Sorge gebundene Zeit die ontologisch primäre. Erst aus dem alltäglichen Umgang mit der Zeit heraus entwickelt das Dasein eine objektive (wissenschaftliche) Zeit, mit der es rechnen und planen kann und die sich durch Uhren bestimmen lässt. Dabei bleibt allerdings alles Planen und Rechnen an die Sorge gebunden.
=== Abkehr von „Sein und Zeit“ ===
Sein und Zeit blieb aus verschiedenen Gründen ein Fragment, von dem nur die erste Hälfte vorliegt. Zwar konnte Heidegger mit dem neuen ontologischen Denken, das auf dem Verhältnis von Dasein und Sein basierte, viele Probleme der überkommenen Ontologie überwinden, allerdings führte sein Ansatz lediglich zu relativ begrenzten Möglichkeiten philosophischen Verstehens. Dies vor allem aufgrund der Sorge-Struktur und der dem Dasein eingeschriebenen Zeitlichkeit. Damit bestand die Gefahr, dass alle Aspekte des menschlichen Lebens nur noch unter diesen Gesichtspunkten interpretiert werden sollten. Heidegger warnte selbst vor einer Überschätzung der Zeitlichkeit, was aber nicht überzeugen konnte.Heidegger hatte zudem in Sein und Zeit seinen Wahrheitsbegriff an das Dasein gekoppelt: Die Welt ist dem Dasein im praktischen Umgang mit ihr immer schon erschlossen. Mit dieser Formulierung wollte er seinem Verständnis von Wahrheit eine ontologische Dimension zuweisen: Erst für das Dasein lichtet sich Welt, erst für es ist Welt, und von hier aus bestimmt sich auch, was das Seiende ist. Dabei wird deutlich, wie stark die Sorge-Struktur die Welt und die Dinge zeitlich und inhaltlich um das Um-zu und Um-willen, also um die praktischen Bedürfnisse des Daseins zentriert. Unter diesem Gesichtspunkt sind geschichtliche Umwälzungen des Selbst- und Weltverständnisses und die Passivität des Menschen im Gang der Geschichte schwer zu verstehen. Hinzu kam die Schwierigkeit, sich von der Sprache der Metaphysik abzugrenzen, wie Heidegger rückblickend 1946 im Brief über den »Humanismus« schrieb.Die genannten Gründe veranlassten Heidegger schließlich zur Abkehr vom fundamentalontologischen Ansatz. So war „der Weg durch Sein und Zeit ein zwar unumgänglicher und doch ein Holzweg – ein Weg, der plötzlich aufhört“. Es folgte für Heidegger ein Umdenken, das er als Kehre bezeichnete.
== Die Auseinandersetzung mit Kant ==
Der angekündigte zweite Teil von Sein und Zeit sollte mit Kants Zeitbegriff beginnen, und nach der Publikation des ersten Teils wandte sich Heidegger umgehend der Auseinandersetzung mit Kant zu. Zunächst fand sie durch die Vorlesungen des Wintersemesters 1927/28 in Marburg statt, die Heidegger die Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft nannte. In dieser mit seiner eigenen Terminologie gedeuteten und erläuterten Lesung des kantischen Hauptwerks zielte Heidegger im Schluss auf die Frage des Subjekts und der Zeit. Dagegen trat in den Kant-Vorlesungen in Riga und anlässlich der II. Davoser Hochschultage im Frühling 1929, wie auch in der dort geführten Disputation mit Ernst Cassirer die Thematik der Endlichkeit in den Vordergrund, die auch im von Heidegger so genannten „Kantbuch“, Kant und das Problem der Metaphysik, zentral blieb. Gleichwohl können die Themen des Subjekts und der Endlichkeit bei Kant nicht auf je eine der genannten Arbeiten begrenzt werden, da die Übergänge darin fließend sind. Heideggers Auseinandersetzung mit Kant in jenem Zeitraum wird durch den Vortrag Die Frage nach dem Ding von 1934/35 abgeschlossen.
=== Die phänomenologische Deutung der Kritik der reinen Vernunft ===
In der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant den ersten und objektiven von dem zweiten und subjektiven Teil der transzendentalen Deduktion und, so Heidegger, „verkennt gerade dadurch den inneren Zusammenhang der objektiven Seite der Deduktion mit der subjektiven – mehr noch: er verkennt, daß gerade die radikale Durchführung der subjektiven Seite der Aufgabe der Deduktion die objektive Aufgabe mit erledigt.“ Heidegger fügt dieser Interpretation in den Marburger Vorlesungen die entsprechende Forderung hinzu und stellt dazu fest: „Diesen radikalen Weg geht Kant hier nicht“. Damit kündigt sich ein Deutungsmuster an, auf das er noch im Kantbuch zurückkommt, wo es heißt: „Die transzendentale Deduktion ist in sich notwendig objektiv-subjektiv zugleich. Denn sie ist Enthüllung der Transzendenz, die ja die für eine endliche Subjektivität wesenhafte Zuwendung zu einer Objektivität überhaupt erst bildet.“ Da Kant aber „die Weitläuftigkeit einer vollständigen Theorie“ der Analyse der „drei subjektiven Erkenntniskräfte“ vermieden habe, bleibe für ihn „die Subjektivität des Subjekts in der Verfassung und der Charakteristik leitend, die sich ihm durch die überlieferte Anthropologie und Psychologie anbot.“ Heidegger sieht dagegen in der kantischen transzendentalen Einbildungskraft zunächst „die zentrale Funktion (…) in der Ermöglichung der Erfahrung“, schließlich auch die „einheitliche Wurzel (…) für Anschauung und Denken“, die den „universalen Zeithorizont bildet.“Die einmalige, in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft eingefügte Erwähnung der Zeit als einer Form, die das Gemüt sich selbst setzt (B 68), erhält bei Heidegger dann als „reine Selbstaffektion“ und „apriorischer Selbstangang“ der Zeit eine zentrale Rolle bei der Deutung des Selbst: „Die ursprüngliche Zeitlichkeit ist das, worin die Urhandlung des Selbst und sein Selbstangang gründet, und dieselbe Zeitlichkeit ist es, die eine Selbstidentifizierung des Selbst jederzeit ermöglicht.“ Dabei erhebt sich Heideggers Einwand, dass Kant diese Identifizierung „einzig aus der Gegenwart“ verstehe, „in dem Sinn, daß das Ich in jedem Jetzt sich als dasselbe identifizieren kann.“ So bleibe es nur bei einem im Grunde „zeitfreien, punktuellen Ich“, das durch eine „ontologische Interpretation der Ganzheit des Daseins“, durch das „Sich-Vorweg“ und das „Seinkönnen“ überwunden werden müsse.Obgleich Heidegger in den Marburger Vorlesungen einräumt, dass „Kant weder den ursprünglichen einheitlichen Charakter der produktiven Einbildungskraft im Hinblick auf die Rezeptivität und Spontaneität“ sehe, „noch gar den weiteren radikalen Schritt vollzieht, diese produktive Einbildungskraft als die ursprüngliche ekstatische Zeitlichkeit zu erkennen“, deutet er sie in philologisch durchaus zweifelhafter Weise als „ekstatische Grundverfassung des Subjekts, des Daseins selbst“, die „die reine Zeit aus sich entläßt, sie also der Möglichkeit nach in sich enthält“. Die kantische transzendentale Einbildungskraft sei somit die „ursprüngliche Zeitlichkeit und daher das Radikalvermögen der ontologischen Erkenntnis“. Mit der Reduktion auf die Selbstaffektion der Zeit und die durch sie bestimmte Einbildungskraft als die eine „Wurzel“ der Erkenntnis entfernt sich Heideggers Deutung jedoch insgesamt vom kantischen Dualismus und nähert sich eher dem Solipsismus an, der mit Fichte auf Kant folgte.
=== Das Kantbuch und die Endlichkeit ===
In Sein und Zeit, in den Marburger Kant-Vorlesungen und auch im Kantbuch nannte Heidegger die Kritik der reinen Vernunft als Referenz für sein Denken im Sinn einer „Bestätigung der Richtigkeit des Weges, auf dem ich suchte“. Gleichwohl hatte er bei Kant „das Fehlen einer thematischen Ontologie des Daseins“ konstatiert, also das einer „vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjekts“. Kant und das Problem der Metaphysik, in dem die drei Vorlesungen von Riga und Davos zusammengefasst und durch ein viertes Kapitel erweitert wurden, sollte dem abhelfen und durch eine „Destruktion am Leitfaden“ der „Problematik der Temporalität (…) das Schematismuskapitel und von da aus die Kantische Lehre von der Zeit“ interpretieren. Dabei erschien es Heidegger nötig zu sein, die „Frage nach der Endlichkeit in Absicht auf eine Grundlegung der Metaphysik ans Licht“ zu bringen, denn: „Die Endlichkeit und die Eigentümlichkeit der Frage nach ihr entscheiden erst von Grund aus über die innere Form einer transzendentalen 'Analytik' der Subjektivität des Subjekts.“ Zur Endlichkeit des Daseins
Seit den Davoser Vorträgen rückt die Endlichkeit des Menschen als Themenfeld überhaupt in den Vordergrund des heideggerschen Denkens: „Die Endlichkeit war nämlich in der Einleitung von Sein und Zeit kein einziges Mal erwähnt worden, und sie blieb auch in den Vorlesungen vor Sein und Zeit diskret im Hintergrund, bevor sie zum allesbestimmenden Thema Ende der zwanziger Jahre werden wird.“ Im zweiten der drei im Frühling 1929 gehaltenen Davoser Vorträge über Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik, in denen Heidegger „den Gedankengang der ersten drei Abschnitte des Ende desselben Jahres noch erschienenen Kantbuches vorgetragen“ hatte, stellt er „das Wesen der endlichen Erkenntnis überhaupt und die Grundcharaktere der Endlichkeit“ als entscheidend für „das Verständnis der Durchführung der Grundlegung“ der Metaphysik heraus. In seinen eigenen Worten formuliert, fragt Heidegger somit: „Wie ist die innere Struktur des Daseins selbst, ist sie endlich oder unendlich?“Dabei sieht er nicht erst die Frage nach dem Sein, sondern schon jene nach der „inneren Möglichkeit des Seinsverständnisses“, also auch nach „der Möglichkeit des Seinsbegriffes“, als Voraussetzung dafür, die andere Frage zu entscheiden, die auch von der antiken Seinsphilosophie nicht geklärt worden sei, nämlich, „ob und in welcher Weise das Seinsproblem einen inneren Bezug zur Endlichkeit im Menschen bei sich führt“. Noch in durchaus kantischer Gedankenfolge setzt Heidegger voraus, Existenz bedeute „Angewiesenheit auf Seiendes“, doch diese selbst sei „als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur möglich auf dem Grunde des Seinsverständnisses. Dergleichen wie Sein gibt es nur und muß es geben, wo Endlichkeit existent geworden ist. (…) Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.“ Endlichkeit als Problembasis der KrV
Wie Heidegger selbst einräumt, ist die Grundlegung der Endlichkeit des Menschen als „Problembasis“ des kantischen Hauptwerks eben dort „kein ausdrückliches Thema“ – wörtlich wird der Begriff „Endlichkeit“ in der KrV nicht erwähnt – und somit gehört diese Akzentuierung zu der „Überdeutung Kants“, in der „die Kritik der reinen Vernunft im Gesichtskreis der Fragestellung von 'Sein und Zeit' ausgelegt, in Wahrheit jedoch der Frage Kants eine ihr fremde, wenngleich sie bedingende Fragestellung untergelegt wurde.“ Endlichkeit ist für Heidegger „primär nicht die des Erkennens, sondern das ist nur eine Wesensfolge der Geworfenheit.“ Vielmehr ist „die Ontologie ein Index der Endlichkeit. Gott hat sie nicht. Und daß der Mensch die exhibitio hat, ist das schärfste Argument seiner Endlichkeit. Denn Ontologie braucht nur ein endliches Wesen.“ In Bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis und die Frage der Wahrheit deutet Heidegger in der Davoser Disputation mit Cassirer bereits die später in Wesen der menschlichen Freiheit dargelegte, „in dieser Endlichkeit existente (…) Zusammenkunft des Widerstreitenden“ an: „Auf Grund der Endlichkeit des In-der-Wahrheit-seins des Menschen besteht zugleich ein In-der-Unwahrheit-sein. Die Unwahrheit gehört zum innersten Kern der Struktur des Daseins. (…) Ich würde aber sagen, daß diese Intersubjektivität der Wahrheit, dieses Hinausbrechen der Wahrheit über den Einzelnen selbst als In-der-Wahrheit-sein, schon heißt, an das Seiende selbst ausgeliefert zu sein, in die Möglichkeit versetzt zu sein, es selbst zu gestalten.“Die Akzentuierung der Endlichkeit als Seinsart des Daseins rief bereits bei der Davoser Disputation die kritische Frage hervor, wie darin der „Übergang zum mundus intelligibilis“ möglich sei und zwar im Bereich der mathematischen Wahrheiten wie in jener des Sollens. Cassirer fragte, ob Heidegger „auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im Ethischen, Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertreten hat, verzichten“ wolle: „Will er sich ganz zurückziehen auf das endliche Wesen, oder, wenn nicht, wo ist für ihn der Durchbruch zu dieser Sphäre?“ Heideggers Antwort einer „Endlichkeit der Ethik“ und einer endlichen Freiheit, in der der Mensch vor das Nichts gestellt sei und die Philosophie die Aufgabe habe, ihm „bei all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen“, gilt rückblickend als „Zeichen der Schwäche, in der sich Heidegger nach Sein und Zeit befindet, weil er sein fundamentalontologisches Projekt durchzuführen nicht in der Lage ist.“Heidegger schließt das Kantbuch mit rund zwanzig zumeist rhetorischen Fragen, in denen die Themengebiete der Subjektivität, der Endlichkeit und des transzendentalen Wesens der Wahrheit benannt werden. So fragt er, ob sich die transzendentale Dialektik der KrV nicht „im Problem der Endlichkeit“ konzentriere und die „transzendentale Unwahrheit nicht hinsichtlich ihrer ursprünglichen Einheit mit der transzendentalen Wahrheit aus dem innersten Wesen der Endlichkeit im Dasein positiv begründet werden“ und fügt hinzu: „Welches ist das transzendentale Wesen der Wahrheit überhaupt?“ Im Kantbuch bleibt Heidegger die Antworten schuldig, skizziert mit den Fragestellungen aber den Entwurf seiner Studien der folgenden Jahre.
== Das Umdenken in den 1930er Jahren: Die Kehre ==
=== Der Wandel im Wahrheitsverständnis ===
Im Denkweg Martin Heideggers vollzog sich zwischen 1930 und 1938 ein Umdenken, das er selbst als Kehre bezeichnete. Er wandte sich von seinem fundamentalontologischen Denken ab und einem seinsgeschichtlichen Ansatz zu. Es ging ihm nach der Kehre nicht mehr um den Sinn von Sein oder dessen transzendentalen Auslegungshorizont (die Zeit), sondern er bezog die Rede vom Sein als solchem darauf, wie das Sein sich von sich selbst her sowohl entbirgt als auch verbirgt. Heidegger ging es dabei um ein neues, nicht vergegenständlichendes Verhältnis des Menschen zum Sein, das er im „Humanismusbrief“ mit dem Ausdruck „Hirte des Seins“ beschreibt. Dadurch wurde er auch Vorläufer eines neuen ökologischen Denkens.Vom Wesen der Wahrheit …
Sein und Zeit war bestimmt von der existenzialen Wahrheit: Das Dasein hat im vorreflexiven Weltbezug, der sich im praktischen Umgang mit den Dingen einstellt, den Verweisungszusammenhang des Innerweltlichen immer schon irgendwie entdeckt; außerdem hat es ein vor dem Denken vorhandenes Verständnis von sich selbst und der Unumgänglichkeit, Entscheidungen treffen zu müssen, also sein Leben führen zu müssen. Diese für das Existieren notwendige Zugehörigkeit von Wahrheit und Dasein nannte Heidegger Wahrheit der Existenz. Mit der Kehre verschob er diesen Schwerpunkt. Für ein Verständnis des Welt- und Selbstverhältnisses ist seiner Auffassung nach nicht nur die Struktur unserer Existenz von Bedeutung, sondern auch, wie sich die Welt, das Sein, für uns von sich her zeigt. Es braucht daher auch ein Sicheinlassen auf das Offene der Unverborgenheit. Heidegger vollzog diese Ausweitung seines Wahrheitsbegriffs 1930 im Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“. Zwar fasste er Wahrheit immer noch – wie in Sein und Zeit – als Unverborgenheit auf; jedoch zeigte sich für Heidegger nun, dass der Mensch diese Unverborgenheit nicht von sich aus herstellen kann.… zur Wahrheit des Wesens
Das Sein entbirgt sich dem Menschen nicht nur in Bezug zu dessen Existenz, sondern in mannigfaltiger Form. So kann Wahrheit beispielsweise durch die Kunst geschehen, was Heidegger 1935 in seinem Vortrag „Der Ursprung des Kunstwerkes“ beschrieb. Macht ein Kunstwerk vormals Unthematisches oder Verborgenes ausdrücklich und hebt es ins Bewusstsein, dann zeigt sich Wahrheit als ein Prozess: Wahrheit geschieht. Um dies sprachlich zu fassen, ergab sich für Heidegger die Notwendigkeit zu sagen: Wahrheit west; denn da sich ja im Geschehen der Wahrheit als Entbergung erst zeigt, was ist, kann man nicht sagen, „Wahrheit ist.“ Das Wesen der Wahrheit ist also ihr Wesen als Prozess. Wenn nach der Kehre nun Wahrheit nicht mehr starr an die immer schon vorhandene Erschlossenheit von Welt und Selbst durch das Dasein gebunden ist, meint dies ein Zweifaches: Wahrheit wird prozessual, und sie kann Bestimmungen mit einschließen, die sich nicht vom pragmatisch existierenden Dasein her verstehen lassen. Diese Verschiebung des Schwerpunktes drückt sich in der Umkehrung aus: Aus dem Wesen der Wahrheit wird die Wahrheit des Wesens. Heidegger bezeichnete sein eigenes Umdenken als Kehre:
A-letheia: Ver- und Entbergung des Seins
Damit sich nun das Sein in seiner Unverborgenheit von sich her zeigt, bedarf es allerdings immer noch des Menschen als „Lichtung“: Was ist, zeigt sich ihm in verschiedenem Licht (z. B. „alles ist Geist/Materie“, „die Welt ist von Gott erschaffen“ usf.). Heideggers Wahrheitsbegriff ist wesentlich ontologisch. Es geht ihm darum, wie überhaupt sich dem Menschen zeigt, was ist. Alle anderen Bestimmungen von Wahrheit, beispielsweise als Aussagewahrheit (richtig/falsch) können erst daran anknüpfen, dass sich dem Menschen das Sein zuvor in einer bestimmten Weise entborgen hat.
Heideggers Rede vom Ent- und Verbergen ist allerdings nicht mit perspektivistischen Wahrheitsauffassungen zu verwechseln. Denn zum einen bezieht sich Unverborgenheit nicht auf einzelnes Seiendes, das aufgrund der Perspektive nur von einer bestimmten Seite her einsehbar wäre. Zum anderen möchte Heidegger die Wahrheit auch nicht an sinnliche Erkenntnisweisen, wie die des Sehens, knüpfen. Wahrheit ist vielmehr ein übergreifender Sinnzusammenhang, und so meint die Rede von der Unverborgenheit des Seins ein Ganzes, also eine Welt als Sinntotalität, die sich dem Menschen eröffnet.
Wenn Heidegger den Entbergungsprozess nun vom Sein selbst her dachte, dann war für ihn damit auch immer ein Verbergen verbunden. Dies meint, dass immer, wenn das Sein sich als bestimmtes zeigt (bspw. „alles ist Materie“), es zugleich einen anderen Aspekt verbirgt. Das Verborgene ist allerdings nicht eine konkrete andere Bestimmung des Seins („alles ist Geist“), sondern was sich verbirgt, ist die Tatsache, dass sich das Sein entborgen hat. Der Mensch hält sich daher meist nur beim entborgenen Seienden auf, vergisst jedoch, wie diese Bestimmung des Seins erst selbst geschehen ist. Er entspricht lediglich dem schon Entborgenen und nimmt davon das Maß für sein Handeln und Besorgen.Dieses Ausbleiben der Frage nach dem „Sinn von Sein“ und das bloße Aufhalten beim Seienden nannte Heidegger schon vor Sein und Zeit Seinsvergessenheit. Wegen der grundlegenden Zusammengehörigkeit von Ver- und Entbergen erweist sich dieses Vergessen des Seins nach der Kehre aber nicht mehr als Verfehlung seitens des Menschen, sondern ist dem Seinsgeschick selbst zugehörig. Heidegger sprach daher auch von der Seinsverlassenheit. Nun ist der Mensch aber darauf angewiesen, sich an das ihm entborgene Seiende zu halten, denn er kann sich nur nach dem richten, was ist. Mit dieser Angewiesenheit des Menschen auf das Sein deutet sich also eine erste Wesensbestimmung des Menschen an. Das Aufhalten beim Seienden jedoch hält den Menschen meist davon ab, einen ursprünglicheren Zugang zu seinem eigenen Wesen als dem Entbergen zugehörig zu erfahren.
Trotz dieser Akzentverlagerung zwischen Sein und Zeit und Heideggers Denken nach der Kehre ist es ein übertriebenes, verzerrtes Bild, beim frühen Heidegger von einem heroischen Aktivismus des Daseins zu sprechen und demgegenüber beim späten Heidegger von einem gegenüber dem Sein zur Passivität verurteilten Menschen. Ein solcher Vergleich stützt sich auf lediglich zwei aus dem Gesamtwerk gewaltsam herausgetrennte Aspekte, die so in ihrer Vereinzelung bei Heidegger nicht vorkommen.
=== Verwindung der Metaphysik ===
Rückgang in den Grund der Metaphysik
In Sein und Zeit wollte Heidegger die Ontologie auf ihr Fundament zurückführen. Damit blieb er weitestgehend im Bereich der klassischen Metaphysik, verstand er seine Bemühungen ja selbst als Reform und Weiterführung der Ontologie. Nach der Kehre gab Heidegger die Pläne, einen neuen Grund der Ontologie zu finden, auf. Stattdessen widmete er sich in Was ist Metaphysik? der Frage nach dem Grund der Metaphysik: Wie kommt es, dass die Metaphysik nur vom Seienden aus das Sein zu bestimmen versucht und auf das Seiende zu. indem sie je einen letzten oder höchsten Grund für die Bestimmung alles Seienden ausmacht? Mit dieser Frage versuchte Heidegger also nicht selbst wieder eine Bestimmung des Seienden zu geben (dies ist ja das Vorgehen der Metaphysik), sondern er untersuchte die Metaphysik als Metaphysik und die Bedingungen ihres Vorgehens: Wie kamen die verschiedenen Auslegungen des Seins durch die Metaphysik zustande? Diese Frage, welche die Bedingungen der Metaphysik selbst thematisiert, blieb der Metaphysik per definitionem verschlossen, die selbst nur das Seiende und dessen Sein zum Gegenstand hat.
Ab-gründiges Denken
Ziel Heideggers war weiterhin eine Überwindung der Metaphysik. Notwendig hierfür ist als erstes ein Zurückweisen metaphysischer Letztbegründungen. Die Untersuchung darf nicht selbst wieder paradigmatische Vorannahmen an ihren Gegenstand herantragen. Ein nicht-metaphysisches Denken hat ohne letzte Gründe auszukommen. Es muss sich selbst in den Ab-grund bringen. Heidegger bezeichnete deshalb sein Denken von da ab als ab-gründig. Vom Ab-grund aus kritisierte er nun seine frühe Philosophie: „Überall noch in Sein und Zeit bis an die Schwelle der Abhandlung Vom Wesen des Grundes wird metaphysisch gesprochen und dargestellt und doch anders gedacht. Aber dieses Denken bringt sich nicht ins Freie des eigenen Ab-grundes.“ Erst von diesem Ab-grund aus, von einer Position aus, die keinen letzten Grund kennt, konnte Heidegger die Geschichte der Metaphysik in den Blick bringen und interpretieren.
Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas
Vorherrschende philosophische Strömung der neuzeitlichen Philosophie war für Heidegger die von Descartes ausgehende Subjektphilosophie. Dieses-Subjekt-Objekt-Schema wies er für eine unvoreingenommene Auslegung der Philosophiegeschichte zurück. Wenn die Metaphysik die Welt und das Sein im Ganzen betrachtet und eine Bestimmung dessen gibt (bspw. „alles ist Geist“: Idealismus oder „alles ist Materie“: Materialismus), dann besteht der Kern ihres Vorgehens darin, dass sie das Seiende vor sich bringt, um es zu bestimmen. Heidegger sprach daher von vor-stellendem Denken. Die Eigenart dieses vor-stellenden Denkens ist es aber, dass es das Seiende als Objekt für ein Subjekt vor-stellt und somit die Subjekt-Objekt-Spaltung aktualisiert. Dadurch inthronisiert aber die Metaphysik den Menschen als Maß aller Dinge. Das Seiende hat von nun an beim Subjekt Mensch vorstellig zu werden: Nur was so fest-gestellt und sicher-gestellt wurde, ist auch. Für Descartes ist allein das, was sich durch den Menschen mathematisch beschreiben lässt.
Auch die kantische Transzendentalphilosophie setzte den Menschen als Subjekt in die Mitte alles Seienden, was Kant als kopernikanische Wende bezeichnete: Nicht das Subjekt richtet sich nach der Welt, sondern die Welt wird nach seinem Erfassungsvermögen beurteilt. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft versucht, durch die dem reinen Verstand gegebenen Kategorien der Erkenntnis dem Erkennen einen sicheren Grund zu geben. Ziel war für Kant demnach nicht die Überwindung der Metaphysik, sondern die Schaffung eines gesicherten Fundaments für anschließende Spekulationen. Heidegger deutete Kant also als Metaphysiker, so schon das Ziel seines Kant-Buchs, wo es gleich zu Beginn heißt: „Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen […]“. Für Heidegger zeigte sich bei Kant ein metaphysisches Bedürfnis nach einer Letztbegründung: Das Subjekt (die Vernunft) soll zugleich als Grund für alle Erkenntnis dienen. Es be-gründet das Erkannte. Die Metaphysik besteht also ihrem Wesen nach daraus, dass sie das Seiende als Objekt für ein Subjekt vor-stellt und sogleich durch das Subjekt be-gründet.
Hierbei ergibt sich Heidegger zufolge jedoch eine Paradoxie. Denn wenn die Metaphysik nur das als begründet anerkennt, was sich dem Subjekt zeigt, aber das Subjekt sich nicht selbst begründen kann, dann ist es ihr unmöglich, sich des eigenen Grundes zu versichern. Auch in der reflexiven Selbstversicherung, in der Selbstreflexion, erfasst sich das Subjekt immer nur als Objekt und verfehlt sich somit gerade als Subjekt. Die anscheinende Unmöglichkeit des doppelten „Sich“, des Sich-selbst-vor-sich-selbst-Habens, wäre nur durch eine gewaltsame Selbst-setzung zu übergehen.Verwindung der Metaphysik als Teil der Seinsgeschichte
Da in der Metaphysik das Sein verschiedenartige Bestimmungen durch den Menschen erfahren hat, kommt Heidegger zu dem Schluss, dass das Sein selbst eine Geschichte hat. Heidegger nennt dies Seinsgeschichte. Die Kehre als Verwindung der Metaphysik beschreibt zweierlei:
Einerseits markiert die Kehre die Abwendung von Metaphysik hin zur Untersuchung der Geschichte der Metaphysik, der Seinsgeschichte.
Zugleich ist diese Abwendung selbst ein seinsgeschichtliches Ereignis, also ein neuer Teil der Seinsgeschichte. Nicht weil sie die Geschichte der Metaphysik fortsetzt, sondern weil sie in einer Gesamtrückschau diese in den Blick bringt und sie abzuschließen und zu überwinden sucht. Die Überwindung der Metaphysik bleibt selbst auf das bezogen, was es zu überwinden gilt. Heidegger sprach daher von einer Verwindung.Im Gespräch mit den großen Denkern, nicht durch ablehnende Feindschaft, sollte die Metaphysik an ihre Grenzen gebracht werden: „Darum muss das Denken, um der Verwindung der Metaphysik zu entsprechen, zuvor das Wesen der Metaphysik verdeutlichen. Einem solchen Versuch erscheint die Verwindung der Metaphysik zunächst wie eine Überwindung, die das ausschließlich metaphysische Vorstellen nur hinter sich bringt. […] Aber in der Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück.“ Im Rückblick besann sich Heidegger auf die ersten Anfänge des abendländischen Philosophierens. In ihrer Verwindung suchte er einen anderen Anfang.
=== Erster und anderer Anfang ===
Heidegger versuchte in der Geschichte der Metaphysik verschiedene Epochen auszumachen. In Bezug auf die Philosophie der frühen Griechen sprach er vom ersten Anfang, der die Metaphysik begründete. Sein eigenes Denken und das von ihm angestrebte nach-metaphysische Zeitalter sah er als anderen Anfang.
Verfehlungen des ersten Anfangs
Der erste Anfang der alten Griechen teilt sich für Heidegger in zwei Ereignisse, das vorsokratische Denken und die von Platon und Aristoteles ausgehende Metaphysik. Wie sich für Heidegger im Begriff der Aletheia (A-letheia als Un-verborgenheit) ausdrückte, hatten die frühen Griechen eine unverstellte Erfahrung des Seins: Sie haben dieses noch als Unverborgenheit zu sehen vermocht. Damit stand für sie noch nicht das Seiende als solches im Zentrum des Interesses, sondern die Entbergung zur Unverborgenheit. Mit Platon und Aristoteles ereignete sich nach Heideggers Auffassung jedoch ein Abfall von diesem unverstellten Wahrheitsbezug. Es begann das Vorherrschen der Metaphysik. Platon suchte in den Ideen Halt, Aristoteles in den Kategorien, womit sich beide nur noch für die Bestimmung des Seienden interessierten und dem metaphysischen Bedürfnis folgend versuchten, es durch letzte Gründe sicherzustellen und festzuschreiben.
Rückgang auf die Vorsokratiker
Heidegger wollte mit dem anderen Anfang hinter Platon und Aristoteles zurückgehen. Die Offenheit und frühen Erfahrungen der Vorsokratiker sollten erneut aufgegriffen und für ein zukünftiges Denken nutzbar gemacht werden. So verstand Heidegger den anderen Anfang weder als einen neuen Anfang – da er auf einer konstruktiven Aneignung der philosophischen Tradition und ihrer Verfehlungen beruhe – noch sei der Rückgang zu den Vorsokratikern durch eine romantisch-restaurative Tendenz bestimmt.Vorherrschend ist hingegen der prospektive Aspekt, der dem Menschen die Wiedereinkehr in sein Wesen ermöglicht, indem er die zurückliegende Geschichte zu verstehen weiß und den metaphysischen Seinsauslegungen ein neues Denken entgegenstellt. Um den Unterschied zwischen anfänglichem Denken und andersanfänglichem Denken deutlich zu machen, führte Heidegger die Unterscheidung zwischen Leitfrage und Grundfrage ein. Dabei bezeichnet die Leitfrage das Fragen nach dem Seienden als Seienden und dem Sein des Seienden, die in der Metaphysik und Ontologie seit Platon und Aristoteles zu verschiedenen Antworten geführt hatte, während Heidegger beanspruchte, mit seiner Formulierung der Grundfrage auf das Sein als solches abzuzielen. Sein Ziel war es nicht, das „Sein“ zu definieren, sondern zu untersuchen, wie es überhaupt zu solchen Bestimmungen in der Philosophiegeschichte gekommen war.Der Sprung
Dieses neue Denken kann – bei allem Rückbezug – aber nicht einfach aus dem alten kompiliert oder hergeleitet werden, denn es enthält sich ja gerade aller Seinsbestimmungen. Um diesen radikal anderen Charakter zu verdeutlichen, sprach Heidegger vom Sprung in ein anderes Denken. Diesen Sprung vorzubereiten, schickte sich Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) an. Diese Arbeit, verfasst 1936–1938 und zu Heideggers Lebzeiten nicht veröffentlicht, gilt als sein zweites Hauptwerk. Die „Beiträge“ zählen zu Heideggers privaten Schriften und sind äußerst kryptisch formuliert, weshalb Heidegger empfahl, sich zuvor mit den Vorlesungen der 1930er Jahre vertraut zu machen.Der Sprung ist der Übergang vom ersten zum anderen Anfang und somit ein Vordringen in das seinsgeschichtliche Denken. Im Kontext der „Beiträge“ sind auch die Schriften Besinnungen (1938–1939, GA 66), Die Geschichte des Seyns (1938–1940, GA 69), Über den Anfang (1941, GA 70), Das Ereignis (1941–1942, GA 71) und Die Stege des Anfangs (1944, GA 72) zu verorten.
Eine andere Metapher für den Übergang von der traditionellen Metaphysik hin zum seinsgeschichtlichen Denken ist Heideggers Rede vom Ende der Metaphysik bzw. Ende der Philosophie und dem Anfang des Denkens, wie sie sich in Heideggers Vortrag „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“ (GA 14) findet. Um dieses Denken zu ermöglichen, muss nach Heidegger zunächst die Geschichte der Metaphysik konkret nachgezeichnet und anhand der Werke ihrer wesentlichen Denker interpretiert werden. Erst so werde die Seinsgeschichte greifbar.
== Philosophiegeschichte als Seinsgeschichte ==
Unter Seinsgeschichte verstand Heidegger das geschichtliche Verhältnis des Menschen zum Sein. Dabei ist Geschichte nicht der kausal aufeinander bezogene Geschehenszusammenhang, sondern ihr bestimmendes Moment ist die Wahrheit des Seins. Dieser Ausdruck bezeichnet allerdings nicht eine Wahrheit über das Sein. Dies würde bedeuten, dass es nur eine Wahrheit gibt, und diese Vorstellung lehnte Heidegger ab. Vielmehr beschrieb Heidegger mit dieser Wendung seinen neu gewonnenen ontologischen Wahrheitsbegriff. Die Bezeichnung „Wahrheit des Seins“ bezieht sich auf die Weise, wie das Sein als Ver- und Entbergen anwest, sich dem Menschen zeigt. Es handelt sich nach Heidegger dabei um einen geschichtlichen Prozess von Ver- und Entbergung, über den der Mensch nicht verfügen könne.
=== Eine Welt ereignet sich ===
Ereignisdenken und Seinsgeschichte
Wenn also das Sein sich im Laufe der Geschichte in unterschiedlicher Weise zeigt, dann muss es laut Heidegger Schnittpunkte zwischen zwei solchen Epochen geben. Was an diesen Schnitt- und Übergangspunkten passiert, nannte er Ereignis. Soll der Verlauf der verschiedenen Zeitalter nachgezeichnet werden, in welchen die Metaphysik jeweils unterschiedliche Bestimmungen des Seins gab, dann darf dieser Interpretation selbst kein metaphysisches, ontologisches oder psychologisches Prinzip untergeschoben werden. Entsprechend dem abgründigen Denken gibt es, so argumentiert er, keinen absoluten und letzten Grund, welcher die Übergänge erklären und versichern könnte. Alles, was daher über solche geschichtlichen Umbrüche in der Weltauffassung gesagt werden könne, ist, dass sie sich ereignen.
Seinsgeschichte bedeutet nicht die Geschichte des Seins (denn dies hat keine Geschichte), sondern die Geschichte der Ent- und Verbergungen, durch welche sich epochal eine Welt als Bedeutungsganzheit ereignet und von woher sich dann bestimmt, was wesentlich und was unwesentlich ist, was ist und was nicht ist. Dabei ist die Geschichte als Seinsgeschichte kein Prozess, der von einer zentralen Macht reguliert wäre: Nur das „Dass“ – dass Seinsgeschichte ist – kann gesagt werden.In diesem Zusammenhang spricht Heidegger auch vom Seinsgeschick, als die Weise, wie sich das Sein dem Menschen zuschickt. Heideggers Rede vom Ereignis, von Seinsgeschick und Seinsentzug hat ihm durch die Deutung als unabwendbares Schicksal oft den Vorwurf des Fatalismus eingebracht. Allerdings ist für Heidegger das Seinsgeschick kein ontisches (in der Welt vorkommendes) Schicksal, das über die Menschen herrscht, sondern eben ein Seins- und Weltgeschick, wonach das durchschnittliche Verhalten der Menschen in bestimmten Bahnen verlaufen wird. Entsprechend drückt sich hierin lediglich aus, „dass nämlich der Mensch nicht als autonomes Subjekt Geschichte macht, sondern dass er […] immer auch schon selbst von der Geschichte »gemacht« ist in dem Sinne, dass er in ein Überlieferungsgeschehen eingebunden ist, über das er nicht einfach disponieren kann, sondern das ihn in gewisser Weise disponiert.“Heidegger geht schon gar nicht davon aus, dass alles, was dem Menschen im Einzelnen widerfährt, diesem Geschick zu verdanken ist. Seinsgeschick und Ereignis sind für ihn keine ontischen (also innerweltlichen) Mächte, die über den Menschen verfügten. Da das Sein kein Seiendes ist, kann es weder genealogisch noch kausal aufgefasst werden. Heidegger prägte also den Begriff Ereignis, um den Übergang zwischen seinsgeschichtlichen Epochen anzuzeigen, ohne dabei auf ideologische Termini wie Idealismus oder Materialismus zurückzugreifen. Würde man, führt er diesen Gedanken aus, beispielsweise versuchen, mit diesen Weltanschauungen das geschichtliche Verhältnis des Menschen zur Wahrheit zu denken, so ergäbe sich ein ständiger und nicht aufzulösender Rückbezug zwischen den beiden: Die Frage, wie ein neuer idealistischer Verständnishorizont möglich ist, würde auf die veränderten materiellen Bedingungen verweisen. Für eine Veränderung der materiellen Bedingungen ist jedoch ein besseres Verstehen der Naturvorgänge Voraussetzung usf.
Die Philosophie bringt das Sein zur Sprache
Für die Interpretation der Seinsgeschichte kommt der Philosophie in den Augen Heideggers eine entscheidende Rolle zu, denn sie ist der Ort, an welchem der Zuwurf des Seins zur Sprache kommt, indem er von ihr denkerisch erfasst wird. Die großen Philosophen fassten die Weltauffassung ihres Zeitalters in Worte und philosophische Systeme. Dies darf Heidegger zufolge allerdings nicht so missverstanden werden, als würde die Philosophie mit ihren theoretisch-metaphysischen Entwürfen die Geschichte hervorbringen: „Daß sich seit Platon das Wirkliche im Lichte von Ideen zeigt, hat Platon nicht gemacht. Der Denker hat nur dem entsprochen, was sich ihm zusprach.“ Da nach seiner Auffassung in den philosophischen Entwürfen das, was ist – das Sein – am klarsten zur Sprache kommt, nutzte Heidegger für das Nachzeichnen der Seinsgeschichte die überlieferten philosophischen Schriften. Dabei markieren die Werke der großen Denker auch die unterschiedlichen Epochen der Seinsgeschichte.
=== Epochen der Seinsgeschichte ===
Heidegger machte in der Seinsgeschichte unterschiedliche Epochen aus. Er führt die Etymologie des (griechischen) Wortes epochê an: „an sich halten“. Das Sein hält in seinem Zuspruch an den Menschen an sich, was meint, dass sich zwar zum einen Wahrheit entbergend ereignet, aber zugleich auch die Tatsache dieses Entbergens verbirgt.Vorsokratiker, Platon und Aristoteles
Seinsgeschichte war für Heidegger überwiegend Verfallsgeschichte, die nach einem frühen Zuspruch des Seins bei den Griechen von zunehmender Seinsverlassenheit geprägt ist und ihre höchste Steigerung in der planetarischen Technik und dem Nihilismus findet. Hatten die frühen Griechen, die Vorsokratiker, noch eigens die Wahrheit als Unverborgenheit (ἀλἠθεια) gedacht und somit den prozessualen Aspekt von Wahrheit als Entbergen erkannt, so war Heidegger zufolge mit Platon die Metaphysik auf den Plan getreten. Nachdem die Sophisten die Auffassung von Wahrheit erschüttert hatten, versuchte dieser ihnen durch seine Ideenlehre ein absolut Sicheres entgegenzustellen. Indem er das Seiende in seiner Erkennbarkeit von der Idee abhängig machte, trat der Bereich des Erscheinenden (und somit Vergänglichen) dem Unvergänglichen und daher einzig wahrhaft Seienden, den Ideen, entgegen. Die Idee selbst verursacht dabei das Seiende, und die Unwandelbarkeit der Idee ermöglicht Aussagen von absoluter Gültigkeit. Damit wurde aber Wahrheit, so Heidegger, das erste Mal als vom Menschen unabhängig gedacht. Der Ort der Wahrheit hatte sich somit verschoben. Wahrheit wurde zur Angleichung des Vorstellens an ein „Vorgestelltes“, worüber ihre eigentliche Voraussetzung, also Unverborgenheit, vergessen wird.Von diesem Punkt an wurde es Heidegger zufolge möglich, durch methodische Ausrichtung sich dem Vorgestellten anzugleichen. Diese Auffassung schlägt sich in der hohen Bedeutung nieder, die dem Logos beigemessen wird. Der Mensch wird zum vernunftbegabten Tier, zum animal rationale. Sein Werkzeug ist der Logos, mit welchem er über das Vorgestellte verfügt. Der Logos entlässt aus sich die Logik als eigene Disziplin, die nun im Feld des Denkens ausschließliche Geltung beansprucht. Mit ihr lässt sich, so Heidegger, in wissenschaftlicher Strenge vom als eigentlich seiend Angesetzten, also bei Platon den Ideen, bei Aristoteles der Form, alles andere, was ist, also das Sein ableiten. Nach Platon und Aristoteles kommt es zur Bildung von Schulen, in denen die Philosophie dogmatisiert wird.Christliches Mittelalter
Das christliche Mittelalter blieb im Rahmen dieses metaphysischen Denkens. Die Verstellung wurde sogar noch größer, da zuvor die Römer durch ihre Übersetzung der griechischen Begriffe (a-letheia, idea, energeia usw.) ins Lateinische die ursprüngliche Erfahrung der Denker nicht mehr verstanden hätten. Im Zuge dieses Denkens verlagerte sich das Sein in die Ursachen, und folglich wurde im christlichen Mittelalter eine erste Ursache als Schöpfergott gesetzt. Damit wurde Sein zu Geschaffensein (ens creatum). Das Geschaffene, so Heidegger, scheint zugleich von Gott rational bestimmt. Dies bereitete den Rationalismus vor, laut dem der Mensch durch seine Vernunft das Seiende verstehen und beherrschen kann.Neuzeit
Als zu Beginn der Neuzeit der Bezug des Seins von Gott nach und nach gelöst wurde, blieb nur noch das moderne cartesische Subjekt, das das Seiende als Objekt erfasste und ihm sein eigenes Maß vorgab. Der in der Subjektivität latent angelegte Wille zur Erfassung und Beherrschung von allem, was er selbst nicht ist, wird besonders in Nietzsches Willen zur Macht deutlich. Um zu beherrschen, setzt der Wille oberste Prinzipien an, denen sich alles unterzuordnen hat: die moralischen Werte. Der Wille ist ein Werte setzender Wille und behauptet sich, indem er seine aus ihm selbst geschaffene Weltdeutung anderem aufzwingt. Heideggers Nietzsche-Deutung ist jedoch uneinheitlich. In der Rektoratsrede (1933) und noch im ersten Band der Nietzsche-Interpretation stellt sich Heidegger hinter Nietzsches Willensphilosophie, während er im zweiten Band behauptet, es sei gerade der Wille, der die Offenheit verhindere und ein neues Denken unmöglich mache.
=== Seinsgeschichte und Technik ===
Immer mehr war der Mensch ins Zentrum alles Seienden gerückt und zur zentralen Instanz der philosophischen Interpretationen geworden. Zugleich entstand die neuzeitliche Willens-Metaphysik, die in Nietzsche ihren Höhepunkt fand. Heidegger sah diese Tendenzen nicht allein in der Philosophiegeschichte, sondern ebenso in den Ereignissen seiner Zeit, vor allem in Form der sich stetig weiter ausbreitenden Technik. Auf die Frage „Was ist Technik?“, worin besteht ihr Wesen? antwortet er: Das Wesen der Technik hat selbst nichts Technisches an sich. Die Technik müsse vielmehr aus ihrer Herkunft her gedacht werden. Ihre geschichtliche Herkunft hat sie, Heidegger zufolge, in der abendländischen Seinsgeschichte.
Für Heidegger stand Technik mit dem metaphysischen Denken in einem Zusammenhang. Darin unterschied er sich deutlich von gängigen Formen der Technikkritik seiner Zeit. Zwar weist seine Technikkritik viele Parallelen zu anderen Deutungen auf, welche Entfremdung, subjektive Herrschaft, Machtsteigerung und technische Rationalität thematisieren. Allerdings grenzt er sich durch seine seinsgeschichtliche Interpretation grundlegend von diesen ab, da er nicht die Eigenmacht politischer, sozialer und ökonomischer Kräfte als Hauptproblem ausmacht, sondern die Ursache sucht im Entbergen des Seins selbst. Heideggers Technikkritik hat also einen seinsgeschichtlichen Kern über den praktischen Umgang mit Technik im Einzelnen hinaus.
== Technikkritik ==
=== Naturwissenschaft und Technik ===
Weltauffassung der exakten Naturwissenschaften
Heidegger war der Auffassung, dass die Naturwissenschaft erklären könne, wie das Vorhandene, die Dinge, arbeiten – aber nicht, was die Dinge sind: Die Physik kann erklären, warum das Eisen des Hammers dazu geeignet ist, harte Objekte zu bearbeiten, nicht jedoch, was ein Hammer ist. Die Bedeutung des Hammers erschließt sich erst in einem Bedeutsamkeitszusammenhang, hinter dessen sinnhafte Totalität das Denken nicht zurückgehen kann.
Heideggers Betrachtung der Wissenschaft stellt einen ihrer Aspekte besonders hervor: Sie ist eine spezifische Art, Seiendes zu entdecken. Eigenschaften des wissenschaftlichen Vorgehens sind Rechnen, Vergegenständlichen, Vorstellen und Sicherstellen. Diese prägen ihre Weise des Sehens und Befragens von Naturvorgängen. Berechnet werden Gegen-Stände. Heidegger betonte beide Teile des Wortes: Was Gegenstand ist, wird gegenüber einem Subjekt zum Objekt, nur „was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend“. Einzig, was der Mensch in dieser Form vor sich bringen kann, wird als seiend betrachtet. Der zweite Teil des Begriffs Gegenstand betont das Fest- und Sicherstellen als Methode der Wissenschaft. Hierin zeigt sich, führt Heidegger aus, ein der Metaphysik nicht unähnliches Bedürfnis, im Subjekt-Objekt-Bezug einen Grund für alles Seiende zu finden. Dadurch wird der Mensch seinerseits „Maß und Mitte des Seienden“. Diese zentrale Stellung des Menschen verstärkt jedoch wiederum die neuzeitliche, mit Descartes einsetzende Subjektivität. Nur was sich in dieser Weise der Welterschließung zeigt, wird anerkannt. Der Art und Weise, wie die Wissenschaft mit ihrem Gegen-Stand umgeht, liegt eine bestimmte Ontologie zu Grunde. Diese Ontologie besteht im Kern aus einem Subjekt, welches als vorhanden vorgestellte Objekte wahrnimmt und denkerisch verarbeitet.
Verwandtschaft von Naturwissenschaft und Technik
Gleiches wie für die Naturwissenschaft macht Heidegger auch für die Technik geltend. Diese entkleidet durch ihre Art, Seiendes zu betrachten, das Seiende von seinen sinnhaften Bezügen innerhalb der Welt. Jedoch gelingt ihr diese Entkleidung des Seienden niemals gänzlich; die Dinge, welche sie entdeckt, werden nicht zu singulären Objekten ohne jegliche Beziehung. Da die Welt nämlich stets eine sinnhafte Totalität ist, bricht auch die Technik niemals alle Bezüge ihrer Gegenstände ab. Stattdessen zwingt sie diese durch Objektivierung zurück auf den Menschen als Subjekt. Damit verliert die Welt an Bedeutungs- und Bezugsreichtum und das Seiende verkommt zum bloßen Rohstoff für das Subjekt Mensch. Zunächst wird dem Menschen allerdings diese gewandelte Weltauffassung nicht bewusst, ihm bleiben die Voraussetzungen seines eigenen Denkens verschlossen. So wird zum einen technisch immer mehr möglich, zum anderen führt die zentrale Rolle, in welcher sich der Mensch innerhalb des Weltgeschehens wähnt, auch zur Steigerung des Willens zur technischen Beherrschbarkeit und Verfügbarmachung:
Das Wesen von Naturwissenschaft und Technik
Naturwissenschaft und Technik sind damit für Heidegger dem Wesen nach beide eine metaphysische Auffassung der Welt. Wie die Metaphysik fassen Naturwissenschaft und Technik das Seiende als bloß Vorhandenes auf. Während Metaphysik eigentlich als eine das klassische und antike Denken bestimmende Figur gilt, welche in der Neuzeit in die Krise gerät, verband Heidegger mit ihr eine Technikkritik, deren Wesen historisch angelegt ist.
Technik und Naturwissenschaften als Phänomene der Moderne werden von Heidegger also mit der Überlieferung der antiken Metaphysik zusammengedacht. Heidegger betrachtet sowohl Naturwissenschaft als auch Technik ihrem Wesen nach als metaphysisch, wobei sich dies in der technischen Auffassung der Welt schärfer offenbare: „[D]as für die historische Feststellung Spätere, die moderne Technik, ist hinsichtlich des in ihm waltenden Wesens das geschichtlich Frühere.“Die gängige Interpretation sieht in Neuzeit und Moderne sowie im technischen Zeitalter etwas vollkommen Neues, das als Bruch mit ehemals Gewesenem zu verstehen ist. Heideggers Experimentieren mit der Sprache ist seiner Metaphysikkritik geschuldet. Er suchte nach einer Sprache, die möglichst wenig von dieser belastet ist. Das führt ihn auf die Sprache als die Stiftung von Sein und jene Naturanlage, die den Menschen selbst erst zum Menschen macht. Nicht der Mensch spricht, sondern „die Sprache spricht“ und erst durch sie wird der Mensch zum sprechenden Wesen. Demgegenüber verlagerte Heidegger den Ursprung der Technik zurück in die metaphysischen Denkformen der Antike, insbesondere in den Zeitraum zwischen den Vorsokratikern und der entstehenden Metaphysik bei Platon und Aristoteles.
=== Überlagerung anderer Weisen des Weltverständnisses ===
Kern der heideggerschen Kritik ist, dass das technische Weltverständnis andere Weisen des Verstehens überlagert. Nach einer üblichen Interpretation betrifft Metaphysik die bleibenden theoretischen Prinzipien, die Technik hingegen bestimme den praktischen Bezug zur veränderlichen Umwelt des Menschen. Heidegger jedoch setzt beide in eine Beziehung der gegenseitigen Beeinflussung: Das Denken bestimmt zum einen, was praktisch umgesetzt wird (Anwendung der Naturwissenschaften), zum anderen legt aber der Praxisbezug auch die Auffassung fest, die der Mensch von der Welt hat. Mehr noch als eine bloße Beeinflussung ist jede der beiden Seiten konstitutiv für die andere: ohne Denkbestimmung keine Praxis und ohne Praxis keine Interpretation der Welt.
Aufgrund des Erfolges technischer Errungenschaften und der Herrschaft technischer Mittel breite sich die damit einhergehende Weltauffassung über den ganzen Planeten aus und überlagere alle neben ihr bestehenden Formen des Weltverständnisses. Damit richtet sich die technische Weltauffassung immer fester in der Welt ein, befindet Heidegger, und wird so zum Gestell.
=== Technik als Gestell ===
Der Begriff des Gestells
Heidegger bezeichnet das technische und verobjektivierende Denken als das vorstellende Denken in dem Sinne, dass dieses Denken das Seiende als Objekt vor sich bringt und zugleich damit im zeitlichen Modus der Gegenwart als für es vorhandenes auffasst. So stellt also der Mensch mittels Technik die Natur vor sich als bloße Ressource. Er tut dies in Verwendung technischer Mittel, deren Gesamtheit Heidegger Gestell nennt.
Stellen und Bestand
Technik bringe Dinge zur Erscheinung, die sich nicht von selbst zeigen. Damit hat sie wesentlich Teil am Prozess der Weltentdeckung. Jedoch gebe es noch eine andere Seite, wie Technik die Welt entdeckt. Denn, so Heidegger, auf der anderen Seite liefert das technische Weltentdecken die Interpretation dessen, was mit dem Entdeckten zu tun ist, gleich mit: Das Entdeckte wird Objekt der Manipulation oder verkommt zur bloßen Ressource. Heidegger sagt, die Technik stelle die Dinge auf ihre Verwendbarkeit. Daher die Rede von Technik als Ge-stell.
Technik ist für Heidegger ein Herausfordern, das z. B. „an die Natur das Ansinnen stellt[,] Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.“ In Bezug auf den Rhein heißt dies für Heidegger, dass der Rhein auf seinen Wasserdruck hin ge-stellt wird. Selbst wenn der Rhein trotz allem noch als Erholungsgebiet dient, dann wird er auf seine Erholungsqualitäten als touristisches Urlaubsziel hin ge-stellt.
Verhältnis zu anderen Weltauffassungen
Den tiefgreifenden Unterschied im Weltbezug des technischen Weltbezugs zu anderen zeigt Heidegger in seinem Vortrag „Die Frage nach der Technik“ (1953). Den technisch-fordernden Weltbezug kontrastiert er hier zum einen zum dichterischen (wie er beispielsweise in Hölderlins Hymne Der Rhein zum Ausdruck kommt), zum anderen zum seiner Auffassung nach traditionellen bäuerlichen Tun, welches den Acker nicht auf Abgabe von Lebensmitteln stelle, sondern die Saat den Wachstumskräften der Natur überlasse. Durch seinen Willen zur Herstellung und Vorstellung der Dinge übergehe der Mensch die eigene Bedeutung der Dinge. Wird alles nur noch unter dem Aspekt der Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachtet, so verkomme Natur zum Bestand, den es bloß zu erschließen und zu verarbeiten gilt.
Eigengesetzlichkeit der Technik
Heidegger lehnte es ab, das Wesen der Technik im Verhältnis von Zweck und Mittel zu betrachten. Er sieht die Technik nicht als verlängertes Werkzeug des Menschen, sondern macht darauf aufmerksam, dass sie vollkommen eigene Gesetzmäßigkeiten mit sich bringt. Das Problem sieht Heidegger nicht nur darin, dass moderne Technik – anders als traditionelles Werkzeug – für ihren Arbeitsprozess eine von menschlicher Arbeitskraft unabhängige Energiequelle nutzt und damit auch einen davon unabhängigen Bewegungsablauf hat, sondern vor allem der Herrschaftscharakter, der von der modernen Technik ausgehe, bereitete ihm Sorge. So bringe dieser aus sich heraus neue Ansichten und Notwendigkeiten hervor und ein dem entsprechendes Bewusstsein des Sieges: beispielsweise wenn die Fabrikation von Fabriken, in denen wiederum Fabriken fabriziert werden, als faszinierend empfunden wird. All dieses berge, Heidegger zufolge, die Gefahr, dass „die Nutzung eine Vernutzung“ wird und die Technik nur noch ihre eigene Ziellosigkeit zum Ziel hat.Der Mensch im Gestell
So findet zwar technisches Handeln nicht jenseits menschlichen Tuns statt, aber es vollzieht sich „nicht nur im Menschen und nicht maßgebend durch ihn.“ Durch die Verselbstständigung des technischen Prozesses komme der Mensch im Wortsinn selbst unter die Räder, er werde zum Besteller des Bestandes degradiert. Im äußersten Fall führe dies dazu, dass der Mensch selbst zum Bestand wird, als welcher er dann nur noch soweit interessiert, wie er der Sicherung zielloser Möglichkeiten dienstbar gemacht werden kann. Ähnlich der Kritik am Begriff des Humankapitals erinnerte Heidegger an die Rede vom Menschenmaterial. Daher sei es nicht der Mensch, der die Dinge stellt, sondern die Technik selbst: Sie ist das Gestell.
Somit werde der Mensch einerseits zum Herrn der Erde, andererseits durch die Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses vom Gestell entmachtet und zum bloßen Moment des alles umspannenden technischen Prozesses. Jeder Winkel des Planeten sei in die technische Beherrschbarkeit integriert, und der Mensch treffe überall nur noch sich selbst, weil er durch die technische Art der Weltentdeckung sich selbst als Maß vorgebe. Lässt er so das Seiende sich nicht mehr von sich selbst her zeigen, geht mit diesem Prozess ein Wahrheitsverlust einher, schlussfolgert Heidegger. Der Mensch stehe nicht mehr in seinem ursprünglichen Verhältnis zum Sein als der von der Entbergung Angesprochene. Der Wahrheitsverlust bedeute also auch einen Selbstverlust.
In einem ZDF-Gespräch mit Richard Wisser von 1969 verdeutlichte Heidegger, dass es keine Technikfeindschaft sei, die ihn zu seinen Überlegungen gebracht habe, dass er aber im unkritischen Umgang mit der Technik die Gefahr eines Selbstverlustes des Menschen sieht: „Zunächst ist zu sagen, dass ich nicht gegen die Technik bin. Ich habe nie gegen die Technik gesprochen, auch nicht über das so genannte Dämonische der Technik, sondern ich versuche: das Wesen der Technik zu verstehen.“ Heidegger äußerte weiterhin seine Besorgnis über die Entwicklung in der Biotechnologie: „[…] so denke ich an das, was sich heute als Biophysik entwickelt: dass wir in absehbarer Zeit im Stande sind, den Menschen so zu machen, d. h. rein seinem organischen Wesen nach so zu konstruieren, wie man ihn braucht.“Auch vor einer Zerstörung der natürlichen Umwelt warnte Heidegger. Die Verwüstung der Erde durch die globalen technischen Machtmittel sei ein doppelter Verlust: Nicht allein die biologischen Lebensgrundlagen seien der Zerstörung ausgesetzt, auch die heimatliche, also geschichtliche, Natur verkomme zur Ressource für die globale Logistik des Gestells. Verlust der Natur sei so auch Verlust der Heimat.
=== Möglichkeiten eines gewandelten Verhältnisses zur Technik ===
Ob es dem Menschen gelingt, in ein neues und reflektiertes Verhältnis zur Technik zu gelangen, ist – entsprechend dem seinsgeschichtlichen Denken – keine Frage des subjektiven Entschlusses, sondern vom Geschick der Entbergung selbst abhängig. Die Gefahr, die von der Technik ausgeht, ermöglicht für Heidegger jedoch auch, dass das Seinsverständnis sich vom technischen Denken zum Seinsdenken ändert. Er zitiert Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Das „Wo“ im Worte Hölderlins zeigt für Heidegger den Ort der Errettung an, welcher mit dem Ursprung der Gefahr zusammenfällt. Das Rettende muss aus demselben erwachsen, das seinerseits die Verwüstung hervorbringt: „Meine Überzeugung ist, daß nur von demselben Weltort aus, an dem die moderne technische Welt entstanden ist, auch eine Umkehrung sich vorbereiten kann, daß sie nicht durch Übernahme von Zen-Buddhismus oder anderen östlichen Welterfahrungen geschehen kann. Es bedarf zum Umdenken der Hilfe der europäischen Überlieferung und ihrer Neuaneignung.“ Ein fruchtbarer Weg bestand gemäß Heidegger zum einen darin, die Technik allgemein mit der Kunst zu vergleichen und so Unterschiede in der Weltauffassung sichtbar zu machen, zum anderen bemühte er sich insbesondere, der Dichtung neue Möglichkeiten des Weltbezuges abzugewinnen.
== Rückbesinnung auf Kunst und Dichtung ==
Seit etwa den Jahren 1929/30 wendete sich Heidegger verstärkt Sprache und Dichtung, wie der Kunst überhaupt als geschichtsgründender Macht zu. Er entdeckte in diesen Formen des Weltbezugs Alternativen zum metaphysischen und berechnend-technischen Zugang zur Welt, der sich mit der modernen Zivilisation ausbreitete. Die Kunst ist, nach Heideggers Auffassung, ein Mittel, sich mit der Technik auseinanderzusetzen, denn „weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die […] Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits doch von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“Verwandt sind Kunst und Technik demnach durch ihren Bezug zum Wahrheitsgeschehen: Beide seien Formen des Entdeckens, bei beiden komme das Seiende in die Unverborgenheit. Während aber die Kunst einen Bereich eröffne, in dem sich ein neues Selbst- und Weltverhältnis des geschichtlichen Menschen einstellen könne, reproduziere die technische Erfassung der Welt stets das gleiche herrschaftliche Verhältnis gegenüber der Welt.
Kunst, Dichtung, Denken, Staatsgründung sind, Heidegger zufolge, Akte, in denen Wahrheit geschieht, indem sich eine neue Weltauffassung verwirklicht, „[d]agegen ist die Wissenschaft kein ursprüngliches Geschehen von Wahrheit, sondern jeweils der Ausbau eines schon offenen Wahrheitsbereichs“. So entwerfe beispielsweise die Physik ihren Gegenstandsbereich als die Veränderung von Materie und Energie in Raum und Zeit. Alle Erkenntnis, die daraus folgend in der physikalischen Wissenschaft entsteht, verbleibe in diesem einmal als wahr eröffneten Bereich. In der Kunst hingegen vollzögen sich neue Weisen des Fühlens und der Weltauffassung, die sich nicht aus einer vorangehenden Weltauffassung ableiten ließen.
=== Die Wahrheit und die Kunst ===
Die Frage nach der Kunst muss neu gestellt werden
Traditionelle Antworten darauf, was Kunst ist oder zu sein hat, finden sich in der Ästhetik als Kunsttheorie. Um ihren Gegenstand zu erläutern, wurden Begriffe wie „Sinnbild“, „Allegorie“, „Metapher“ und „Gleichnis“ geprägt. Dabei geht der Kunsttheoretiker von einer auf Platon zurückgehenden Trennung zwischen Materiellem und Geistigem aus: Das Kunstwerk ist materieller Träger einer geistigen Bedeutung, die über es selbst hinausweist. Die Trennung von Materiellem und Geistigem scheidet Heidegger zufolge metaphysisch das Sein in zwei Seinsbereiche, weshalb er die traditionelle Ästhetik als „metaphysische Kunstlehre“ bezeichnete. Entsprechend seinem Vorhaben einer Verwindung der Metaphysik, strebte Heidegger eine „Überwindung der Ästhetik“ an. Einen ersten, vorläufig gebliebenen Entwurf zu diesem Programm stellte Heidegger in einem 1935 gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Der Ursprung des Kunstwerkes“ vor.
Nicht Schönheit, sondern Wahrheit
Im Mittelpunkt des heideggerschen Interesses am „Rätsel“ der Kunst steht nicht das auf der Antike beruhende Ideal der Ästhetik des Klassizismus, die Schönheit, sondern das Verhältnis von Kunst und Wahrheit. Kunst dient bei Heidegger nicht mehr dem Gefallen eines Betrachters, sondern durch sie findet ein Wahrheitsvollzug statt. Anders als der technische Zugang zur Welt, der durch ein pragmatisches und am Nutzen orientiertes Vorgehen gekennzeichnet ist, lässt sich das Kunstwerk nicht durch diese Kategorien erfassen. Da das Kunstwerk nicht zu einem bestimmten Zweck angefertigt wurde, nimmt es in der Welt eine Sonderstellung ein: Es kann nicht ‚benutzt‘ werden. Gerade durch diese Verweigerung zeige sich an ihm jedoch die Welt als Bedeutungsganzheit, in der die Gebrauchsgegenstände ihren Platz haben. Dieses Aufleuchten der Welt als Ganzes kann Heidegger zufolge das menschliche Verhältnis zur Welt ins Bewusstsein heben und ermöglicht so einen anderen Bezug zu ihr.
Es gibt zwei Lesarten der Arbeit zum Ursprung des Kunstwerks: Die eine deutet sie so, dass Heidegger lediglich im Rückblick auf vergangene Kunst die Stiftung einer Welt durch das Kunstwerk erläutere, die andere hingegen betont, dass für Heidegger in der Kunst auch das Stiften selbst als Akt erkennbar wird. Wichtig für den Fortgang seines Denkwegs war in erster Linie, dass Heidegger selbst die stiftende Kraft der Kunst zumindest philosophisch einfing.
Große Kunstwerke, wie etwa die Dichtung Homers, können nach Heidegger die Kultur eines ganzen Volkes begründen. Hierin liege die geschichtsgründende Macht der Kunst: „[D]as Werk stellt eine Welt auf“. Nach Heidegger ist die Kunst ein „Werden und Geschehen der Wahrheit“, weil mit dem Kunstwerk eine Welt erschaffen oder ausgeleuchtet wird. Er zweifelte allerdings daran, ob es noch möglich sei, „große Kunst“ mit verbindlichem Anspruch für eine ganze Kultur hervorzubringen. Wege hierzu eröffnet, befand Heidegger, Friedrich Hölderlins Dichtung, deren Andenken wieder allmählich im Einzelnen geweckt werden müsse.
=== Hölderlin als Geschick ===
Nietzsche war Heidegger zufolge der Denker, der die Metaphysik ins Äußerste trieb und so das Denken vor die Entscheidung stellt, ob es dem zustimmen kann oder neue Wege abseits der Metaphysik suchen muss. Auch Wissenschaft und Technik seien keine Alternativen zur Metaphysik, sondern tragen diese ebenfalls gleichsam praktisch aus. Seine Suche nach etwas „ganz anderem“ führte Heidegger seit etwa 1934 zu Hölderlin, dessen Dichtung er als Geschick deutete. Hölderlin weise die damalige Gegenwart als Krise aus und frage im Rückbezug auf die abendländische Geschichte nach einer neuen Zukunft.
Seinsverlassenheit als Schicksal
Heideggers Rekapitulation der Philosophiegeschichte und ihre Deutung als Seinsgeschichte fasst den Beginn der Philosophie als Verfehlung auf. Zwar habe sich dem frühen griechischen Denken das Sein in unterschiedlicher Weise entborgen, allerdings so, dass dieses Entborgene fortan das Maß für das menschliche Denken und Handeln abgab. Wesentlich war dabei eine Auffassung des Seins als Vorhandenheit, Gegenständlichkeit, als Objekt für ein Subjekt, welche letztlich in der technischen Herausforderung der Welt mündete. Laut Heidegger geriet dabei die Tatsache in Vergessenheit, dass sich das Sein in dieser Weise entborgen hat. Diese Seinsvergessenheit oder auch Seinsverlassenheit bestimme als Grundzug des Denkens die abendländische Geschichte, gleichsam ihr Schicksal oder ihr Geschick: „Indes befällt die Vergessenheit als anscheinend von ihm Getrenntes nicht nur das Wesen des Seins. Sie gehört zur Sache des Seins selbst, waltet als Geschick seines Wesens.“Hölderlin zufolge haben die Menschen zwar großes wissenschaftliches Wissen erworben (er nennt sie „die Vielwissenden“), darüber haben sie jedoch verlernt, das menschliche Leben in seiner Fülle, Vielseitigkeit und Ursprünglichkeit zu erfahren. Dieser Verlust ist der Verlust des Göttlichen. Das Göttliche ist, unterstreicht Heidegger, bei Hölderlin kein Jenseitiges, sondern es äußert sich in einer gewandelten Beziehung zwischen den Menschen und im Umgang der Menschen mit der Natur. Es sei eine Lebensauffassung, in deren Zentrum der Jubel über das In-der-Welt-Sein steht.Mit Hölderlin Gott denken – als gründenden Grund
Heidegger dachte das Göttliche nicht scholastisch in Form eines Schöpfergottes, der die Erde geschaffen hat. Damit wäre Gott wieder „Ursache des Seienden“ und das Sein zum ens creatum (Geschaffenen) degradiert. Eine solche traditionelle Vorstellung impliziert ein Kausalitätsprinzip zwischen Gott und dem Geschaffenen und reproduziert somit ein Denken, das auf Letztbegründungen aus ist. Dementgegen wollte Heidegger den Gott nicht als Entstehungs- und Erklärungsgrund denken, sondern von allen genealogischen und kausalen Denkzwängen befreit. Das Göttliche entsprach bei Heidegger eher einer Art Ordnungsprinzip, welches die Dinge sammelt und in einer geordneten Vielfalt hält. Es bringt ein neues Verhältnis der zwischenmenschlichen Beziehungen und bietet so einen Grund für das menschliche Miteinander.
Hier setzte Heidegger einen Begriff ein, den er zuvor zurückgewiesen hatte: den Begriff des Grundes. Heideggers Rede vom „gründenden Grund“, zeigt an, dass es sich hierbei nicht um den metaphysischen begründenden Grund handelt, sondern um einen, den Gott gewähren müsse. Die Metapher von Gott als Lautenspieler (in Der Satz vom Grund) zeigt, dass der gründende Grund ohne die oben genannten metaphysischen Erklärungen zu denken ist. Er zitierte den Spruch von Angelus Silesius: „Ein Herze, das zu Grund Gott still ist, wie er will, / Wird gern von ihm berührt: es ist ein Lautenspiel.“ Gott ist demzufolge der Spieler und das Herz seine Laute. Ohne ihn bliebe das Herz ohne Musik. Dazu aber – „ein Herz das von Grund Gott still ist“ – muss das Herz richtig gestimmt sein, damit es auf Gott anspricht, anklingt. Diesen Übergang bereitet Hölderlin als der Dichter, der das Göttliche „erschweigt“, wie Heidegger sagt. Hölderlins Dichtungen seien nicht als festgelegte Aussagen über Gott aufzufassen, sondern sollten vor allem einen Raum eröffnen, in dem einem eine neue Form des Göttlichen begegnen kann.
Hölderlin als Dichter des Übergangs
Hölderlin bringt Heidegger zufolge als erster die Seinsverlassenheit als geschichtliches Phänomen zur Sprache. Der Dichter begreife sein Zeitalter als das am tiefsten von der Seinsverlassenheit geprägte, als „Götternacht“. Die Seinsverlassenheit zeigt sich als Abwesenheit der Götter. Hölderlin hatte sich zuerst der erschütternden Erkenntnis der Götternacht ausgesetzt und „stellvertretend und deshalb wahrhaft seinem Volke die Wahrheit“ erwirkt.Mit der Entscheidung darüber, ob noch mal ein Gott sein kann, stellt Hölderlin vor die Entscheidung, ob das Abendland sein eigenes Schicksal meistern wird. Hölderlin sei der Erste gewesen, der erkannte, dass Seinsgeschichte ist. Ihm komme die geschichtliche Rolle zu, nach der Abkehr von der Metaphysik die „Nähe und Ferne der gewesenen und künftigen Götter zur Entscheidung gestellt“ zu haben. Seine Dichtung versteht Heidegger als „worthafte Stiftung des Seins“. Um diesen neuen Bezug zum Sein zu kennzeichnen, schrieb Heidegger nun „Seyn“. Sein wird als Seyn ausdrücklich als geschichtliches aufgefasst und nicht mehr als unvergängliches Sein eines Seienden.Verhältnis von Dichten und Denken
Die Aufgabe des Dichters „in dürftiger Zeit“ sah Hölderlin darin, die von ihm erwartete Ankunft des zukünftigen Gottes in Gestalt von Dionysos-Christus vorzubereiten. Heidegger wollte das dichterische Werk Hölderlins durch philosophische Reflexion zugänglich machen: „Die geschichtliche Bestimmung der Philosophie gipfelt in der Erkenntnis der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu verschaffen.“ Er sah sich selbst als den ersten Denker, der Hölderlins Dichtung „hören“ konnte. Dabei war es Heideggers Anliegen, „uns“ Hölderlin näher zu bringen, da seine Dichtung „uns […] schicksalhaft angeht.“Um dies herauszuheben, entkoppelt Heidegger Hölderlin von jeglicher literaturwissenschaftlichen, politischen, philosophischen und ästhetischen Betrachtung, um einzig in der von seinen Gesängen eröffneten Wahrheit zum Stehen zu kommen: Es geht ihm nicht darum, von außen Interpretationsschemata an Hölderlin heranzutragen, sondern den An- und Zuspruchsbereich des Göttlichen zur Sprache kommen zu lassen, wie er sich in Hölderlins Dichtung ausdrücke. Heidegger war unsicher, ob ihm dies gelingen konnte und inwieweit dies noch möglich sei: „Ob wir es einmal noch erkennen? Hölderlins Dichtung ist für uns ein Schicksal. Es wartet darauf, dass die Sterblichen ihm entsprechen. Was sagt Hölderlins Dichtung? Ihr Wort ist: das Heilige. Dies Wort sagt von der Flucht der Götter.“
=== Gang der Hölderlin-Interpretation ===
1934/35 widmete sich Heidegger eingängig den Hölderlinschen Hymnen Der Rhein und Germanien. In den 1936–1938 abgefassten Beiträgen spricht Heidegger Hölderlin eine wichtige Rolle zu, wenn es um die Möglichkeit eines anderen Anfangs geht. Im Wintersemester 1941/42 besprach er die Hymne Andenken (GA 52). Er interpretiert das Gedicht als ein Andenken an das Gewesene, an das griechische Götterfest, und weist auf einen aus diesem Denken heraus beginnenden anderen Anfang hin. In seiner Vorlesung 1942 zu Hölderlins Hymne „Der Ister“ (GA 53) setzte sich Heidegger genauer damit auseinander, wie dieser andere Anfang zu erarbeiten sei: als Gang durch das Unheimische, das Griechische, soll er zum Heimischen, dem Deutschen im Speziellen und allgemein zum Abendländischen, gefunden werden. Es soll also am Fremden das Eigene erarbeitet werden, denn nur durch den Abstand zum Eigenen könne dieses erkannt und konstruktiv angeeignet werden. Erst so könne das unterirdisch verlaufende Seinsgeschick, das die eigene Geschichte bestimmte, in den Blick gebracht werden.
In dem 1946 gehaltenen Vortrag „Wozu Dichter?“ weist Heidegger nochmals auf die Gefahr durch die technische Weltbeherrschung hin. Hölderlins Wort „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ (Patmos) brachte Heideggers Denken auf den Weg: Die Gefahr selber sei es, welche zu einer Besinnung drängt. Sich besinnen heißt für Heidegger, über die eigenen Motive des Handelns Rechenschaft abzulegen. Zunächst vermögen dies allerdings nur wenige: die Dichter und die ihnen zugehörigen Denker.1970 konfrontierte Heidegger in Das Wohnen des Menschen (GA 13) das dichterische Wohnen mit der undichterischen Vermessenheit und Maßlosigkeit des technischen Zeitalters, welchem Gott fehle. „Heimkehr“ und „Wohnen“ wurden zwei das Spätwerk Heideggers bestimmende Begriffe. Bei aller Nähe dieser Worte zum dichterisch-literarischen Ausdruck waren sie für Heidegger dennoch strenge Beschreibungen eines gewandelten Verhältnisses des Menschen zum Sein, eines Verhältnisses, das sich durch „Nähe zum Sein“ ausdrückt.
== Nähe: Das Verhältnis des Menschen zum Sein ==
=== Das Wesen des Menschen ===
Nach Heideggers Überzeugung können die drängenden Fragen im „Weltzeitalter des Nihilismus“ nur gelöst werden, wenn sich nicht allein die Auffassung, welche der Mensch von der Welt hat, ändert, sondern zugleich diejenige, welche der Mensch von sich selbst hat.
Frühe Bestimmungen des Wesens des Menschen
Um sich über die dem Zeitalter eingeschriebene Selbstauffassung des Menschen Klarheit zu verschaffen, rekapituliert Heidegger historische Weisen des menschlichen Selbstverständnisses. In den Anfängen der Philosophie, bei den Vorsokratikern, sei der Mensch noch „zum Wahrer der Unverborgenheit des Seienden be-stimmt“ worden. Damit einher ging ein ursprüngliches Staunen und das Wissen, dass die Unverborgenheit sich nicht von selbst ergibt, sondern dass der Mensch sie zu wahren hat. Diese Wahrung des Seienden vollzieht der Mensch, indem er dem Seienden das Werk entgegenbringt: In den Werken der Schaffenden, Dichtenden, Denkenden und Staatsmänner wird dem Seienden ein Erscheinen gewährt. So zeigt sich das Selbstverständnis des abendländischen Menschen in den Anfängen des Denkens noch durch einen bewussten und unverborgenen Bezug zum Sein.
Metaphysische Verstellungen und Humanismus
Mit dem Aufkommen der Metaphysik jedoch wird der Mensch nicht mehr als Wahrer des Seins verstanden, sondern als animal rationale. Der Mensch wird zum denkenden Tier, dessen vornehmlichste Denkform Descartes als mathematische Beschreibung der Welt bestimmt. Mit diesem festen und einseitigen Menschenbild verliert die Metaphysik jedoch die Frage aus den Augen, in welcher Weise das Wesen des Menschen zur Wahrheit gehört. Eine solche metaphysische Bestimmung wird letztlich als überzeitlich und ewig gültig angenommen und dadurch jeglicher Wandel des Seins aus dem Denken ausgeschlossen. Damit verschließt sich die Metaphysik jedoch „dem einfachen Wesensbestand, dass der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird“, sich also offen hält für den Anspruch des Seins.Letztlich, so Heidegger, kleidet sich die Metaphysik noch in das moralische Kleid des Humanismus, der ebenfalls ein festes Bild vom Menschen vertritt, das sich konkret bestimmen lässt und auf einzelnen aus dem Weltzusammenhang herausgelösten Momenten basiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang Heideggers Brief über den »Humanismus«, den er 1946 an Jean Beaufret schrieb. Der Humanismus, wie zuvor bereits Aristoteles, beschreibt den Menschen als animal rationale, welches in der Mitte des Seienden stehend, dieses denkerisch erfasse. So bestärkt er letztlich den Menschen nur in seinem herrschaftlichen Gehabe. Er rückt ihn ins Zentrum der Welt und spricht ihm somit eine ausgezeichnete Stellung gegenüber allem anderen Seienden zu. So „kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst als animal rationale“.Die Folge ist der Nihilismus, in welchem sich der Mensch zum Herrn des Seienden aufschwingt und der seinen Ausdruck im Gestell findet. Heidegger kritisiert nicht einfach den Egoismus des Menschen, denn für den Egoisten gibt es durchaus einen Bezugs- und Geltungsraum, der von ihm unabhängig ist, den er jedoch gewaltsam übergeht. Der neuzeitliche Mensch, der sich selber als animal rationale oder Subjekt betrachtet, sieht hingegen gar keine andere Geltung außer in Bezug des Seienden auf sich selbst. Während für Heidegger der Egoist durch Selbstüberwindung dahin zurückgelangen kann, das Andere gelten zu lassen, kann das neuzeitliche Subjekt nicht aus sich heraus eine neue Welt schaffen – jeder Versuch dies zu tun, muss wie ein willkürliches Konstrukt wirken und ist zum Scheitern verurteilt. Der Mensch ist vielmehr darauf angewiesen, dass sich ihm vom Sein her eine Welt eröffnet, eine Welt mit einer leeren Mitte, ohne Zentrum.
Der Hirt des Seins
Ein neues Verhältnis zur Welt muss, argumentiert Heidegger, einem seinsgeschichtlichen Denken entspringen, welches ins Bewusstsein hebt, dass Mensch und Sein aufeinander angewiesen sind. So ist das Wesen des Menschen durch die Nähe zum Sein bestimmt, was Heidegger durch die Formulierung des Menschen als „Hirt des Sein“ auszudrücken suchte. Dass hierbei vom Hirten und nicht vom Herrn des Seins die Rede ist, zeigt an, dass die Wahrheit des Seins für den Menschen laut Heidegger unverfügbar ist; er kann allein achtsam auf das Sein sich richten, im Sinne einer Offenheit für das Ereignis.Auf dieser Grundlage beschreibt Heidegger seine denkerischen Anstrengungen: Sie sollen dem Menschen die Einkehr in sein Wesen ermöglichen: „Angesichts der […] Heimatlosigkeit des Menschen zeigt sich dem seinsgeschichtlichen Denken das künftige Geschick des Menschen darin, dass er in die Wahrheit des Seins findet und sich zu diesem Finden auf den Weg macht.“ Mit Beschreibungen wie „Einkehr“, „auf den Weg machen“ sowie „Heimkehr“ wollte Heidegger deutlich machen, dass ein neues Denken nicht aus feststehenden Wahrheiten bestehen könne, die sich in seiner Philosophie fänden, sondern als Weg erst noch vollzogen werden müsse.
=== Heimkehr ===
Erst die Heimat, betont Heidegger, macht die Unheimischkeit möglich, und so gelte es, „nur erst eigens dorthin [zu] gelangen, wo wir uns schon aufhalten“. Die Einkehr des Menschen in sein Wesen soll die im Zeitalter des Nihilismus begründete Entfremdung und Heimatlosigkeit, wie Heidegger mit Nietzsche und Hölderlin sagte, überwinden. Sie gelingt, wenn der Mensch in der Achtsamkeit auf das Sein, der Ankunft des Ereignisses eines anderen Anfangs entspricht. Dabei braucht einerseits das Sein die Achtsamkeit des Menschen, es braucht ihn als „Unterkunft“, andererseits braucht der Mensch das Sein, damit er zu seinem Wesen findet. Den Gedanken dieser „Zusammengehörigkeit“ entdeckt Heidegger schon bei Parmenides, der von der Identität von Denken und Sein sprach.Selbstinterpretation der frühen Schriften
Um die mit der neuzeitlichen Subjektzentriertheit einhergehende Aufschwingung des Menschen zum „Herrn des Seins“ zu überwinden, muss sich, so Heidegger, der Mensch wieder seiner Endlichkeit und seines Wesens bewusst werden. In diesem Zusammenhang kehren die in Sein und Zeit erarbeiteten Existenzialien wieder, also die Wesensmomente menschlicher Existenz, wie Sorge, Sein zum Tode, Entschlossenheit, Angst usw. Heidegger verlagert jedoch ihren Schwerpunkt: So versteht er die „Sorge um das eigene In-der-Welt-sein“ neu als „Sorge um die Offenbarkeit des Seins“.
In einer umdeutenden Selbstinterpretation stellt Heidegger dies so dar, als habe er die Existenzialien schon zur Zeit der Abfassung von „Sein und Zeit“ so gedacht, bzw. gleichsam unbewusst so gemeint.
Der Brauch
In Sein und Zeit sieht Heidegger allein im Dasein die Lichtung des Seins, wobei „Wahrheit (Entdecktheit) […] dem Seienden immer erst abgerungen werden“ musste, eine Aneignung, die „gleichsam immer ein Raub“ war. In seiner späteren Philosophie ging er davon aus, dass Mensch und Sein einander brauchen. Dieser Brauch sei jedoch keiner, der sich als Aneignen oder Verbrauchen äußere. Im Brauchen schmiegt sich der Mensch vielmehr den Verhältnissen an. Für Heidegger ist der Mensch in diesem Zusammenhang nicht das Subjekt des Brauchens. Er verdeutlicht dies an einem Vers Hölderlins aus dessen Hymne Der Ister:
Heidegger interpretiert Hölderlin: „»Es brauchet« sagt aber hier: Eine Wesenszugehörigkeit besteht zwischen Fels und Stichen, zwischen Furchen und Erde innerhalb des Wesensbereiches, der sich mit dem Bewohnen der Erde eröffnet. Das Wohnen der Sterblichen hat seinen eigenen Ort.“Über diesen inneren Zusammenhang von Erde und Mensch könne der Mensch nicht verfügen. Das Und, das die Ortschaft für das Wohnen der Sterblichen gründet, sei vielmehr eine uralte Ordnung. „Der Mensch wohnt, indem er sich diesem Verhältnis anschmiegt. Sich bemächtigen kann sich der Mensch nicht des Und“, fasst Byung-Chul Han Heideggers Gedankengang zusammen. Der Mensch kann, so Heidegger, den inneren Zusammenhang nicht technisch herstellen oder ihn anders selbst herbeiführen. Dass der Mensch sich ihm anschmiegt, könne sich lediglich ereignen. In der „Achtsamkeit auf das Sein“ könne der Mensch dem Ereigneten entsprechen als der vom Sein Angesprochene und Gebrauchte.
Gelassenheit
In einem 1955 gehaltenen Vortrag unter dem Titel Gelassenheit stellte Heidegger Ansätze für einen kritischen, aber nicht abwehrenden Umgang mit der Technik vor. Mit dem Begriff Gelassenheit beschreibt er das gleichzeitige Ja und Nein zur Technik, durch das sich der Mensch von einer übermächtigen Beanspruchung seiner selbst durch die Technik freihalten könne: „Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt hinein und lassen sie zugleich draußen. Das heißt: auf sich beruhen als Dinge, die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen bleiben.“ Damit gehe die „Offenheit für das Geheimnis“ einher, für die weder zu verhindernde noch abzusehende technische Umwälzung der Lebensbedingungen des Menschen im Laufe der vergangenen und kommenden Jahrhunderte als etwas historisch völlig Neues.
=== Geviert ===
Heideggers Konstellation der Welt als Geviert wird als Gegenentwurf zu der von ihm konstatierten Heimatlosigkeit und Seinsverlassenheit des modernen Menschen gesehen. Der moderne Mensch setze sich selbst ins Zentrum alles Seienden und erschließe durch seine planend-berechnende Subjektivität alles ihn Umgebende nur im Hinblick auf die Verwertbarkeit als Rohstoff oder Energiequelle. Damit beraubt er sich selbst seiner Welt, als einer sinnhaften Totalität, welche auch solche Beziehungen in sich birgt, deren Verweisungskette nicht in das Um-willen des Menschen mündet. Dies versagt letztlich dem Menschen das Wohnen und macht ihn heimatlos.Vier Weltregionen
Das Geviert ist gleichsam das räumliche Gegenstück zum zeitlichen Ereignis. Es spannt durch vier Dimensionen einen Raum auf, bestehend aus Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen. Die Sterblichen sind nach Heidegger diejenigen Menschen, deren Handeln nicht durch den Willen zur Macht bestimmt ist, sondern die „den Tod als Tod vermögen“. Mit den Göttlichen bezog sich Heidegger zwar auch auf seine an Hölderlin erarbeitete Weise, Gott zu denken, hielt aber offen, ob es der eine ist oder ob es eine Vielzahl von Göttern sind, die hier von ihm als eine Region des Gevierts gedacht wurden. Was nun den Raum des Gevierts erst in seiner Räumlichkeit ausmacht, nannte Heidegger das Wohnen. Wohnen ist die Räumlichkeit in der Zeit. Die Sterblichen wohnen aufgrund ihrer Endlichkeit. Damit bestimmte Heidegger das Seinsverhältnis der Menschen als „Sterblichkeitsverhältnis“: „Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind.“Die Welt als Geviert weist Möglichkeiten auf, eine Welt ohne Zentrum zu denken. So erhält jede der vier Weltregionen ihren Sinn nur in Bezug zu den anderen dreien. Heidegger postulierte ein dynamisches Walten von Sinn: „das ereignende Spiegel-Spiel“. Der Bezug der vier „Weltgegenden“ aufeinander ist dabei nicht als bloße Repräsentation der einen in der anderen zu verstehen, sondern als untrennbare Innigkeit. Dass die Weltregionen also nicht erst nachträglich zusammengefügt sind, versuchte Heidegger 1950 in seinem Vortrag über „Das Ding“ zu verdeutlichen.
Das Ding
Die Innigkeit der Weltregionen wird Heidegger zufolge durch das Ding gestiftet, welches die Welt versammelt, indem es auf die vier Weltgegenden des Gevierts verweist. In seinem Aufsatz „Das Ding“ verdeutlichte er das Versammelnde des Dinges am Beispiel eines Kruges. Heidegger näherte seine Sprache dabei stark der dichterischen an:
Anders als in Sein und Zeit ist das Ding hier nicht durch seine Verweisungskette auf andere Dinge – das Um-zu und die Finalität des Um-willens des Daseins – bestimmt. Stattdessen wählt Heidegger nun die Bezüge des Wesens und Weilens: „Im Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde.“ Die Beziehung von Himmel und Erde und ihr gegenseitiges Durchdringen geschieht durch das Regen- und Quellwasser und ist in diesem aufgehoben. Wasser ist hier nicht H2O, das sich an einer Stelle in der physikalischen Raumzeit befindet. Heidegger beansprucht, die Dinge dort zu lassen, wo sie sind: in der Welt. „Ausgießen aus dem Krug ist schenken. […] Das Krughafte des Kruges west im Geschenk […] Das Geschenk des Gusses kann ein Trunk sein. Es gibt Wasser, es gibt Wein zu trinken.“ Das Wasser ist Trunk. Aber erst weil es aus dem Krug gegossen wird, ist es Geschenk. Das Geschenk ist Geschenk, weil es aus dem Krug als Guss kommt, es hat sein Wesen aus dem Krughaften. Entsprechend ist der Krug Krug, weil er den Trunk in der Leere bewahrt, die zwischen seinen Gefäßwänden liegt. Beide, Trunk und Krug, sind, was sie sind nur durch den Bezug aufeinander, jedoch nicht als Einzelnes. Die Bezüge sind nach Heidegger, bevor die Einzeldinge sind, und werden nicht erst durch diese konstituiert.
Wohnen
Das Ding hat Heidegger zufolge also die Eigenschaft zur Versammlung der Weltregionen, wodurch die Welt als Beziehungsganzheit des Gevierts eröffnet wird. Heidegger griff zur Erörterung dessen zurück auf die Etymologie des Wortes Ding aus „Thing“, der germanischen Bezeichnung für Versammlung, eine Versammlung, die den Menschen angeht, in Heideggers Sprache: „Das Ding dingt“, d. h., es versammelt eine Welt. Damit gewähren die Dinge dem Menschen ein Verweilen und „schonendes Wohnen“ in der durch sie eröffneten Welt.
Der Mensch, so Heidegger, steht nicht im Zentrum der Welt, die er nicht bestimmt, sondern ist selbst be-dingt. Welt ist nicht »an sich« und so »für« jemanden, sondern das Geschehen der Offenheit des Seienden im Menschen. Dementsprechend lehnt Heidegger jegliche Philosophie der Weltanschauung ab.Eine solche Welt ereigne sich geschichtlich. Sie hat kein Zentrum, von dem aus sich eine überzeitliche Ordnung etablieren könnte. Ein Denken, das dieser Welt entspricht – gelegentlich „Ereignisdenken“ genannt – verfährt weder deduktiv noch begründend, es ereignet sich vielmehr, wie „wenn das frühe Morgenlicht still über den Bergen wächst …“Heidegger hat dazu nicht allein philosophische Überlegungen angestellt, sondern betont, wie wichtig für einen Wandel des Denkens Einstellungen wie Gefühle und Stimmungen sind. Ein anderer Anfang müsse mit einer gewissen stimmungsmäßigen Haltung (Verhaltenheit) einhergehen. Stimmungen sind in ihrer Offenheit nicht auf einzelne Dinge gerichtet, sondern auf das Ganze der Welt. So wird zuweilen das Herz als Mitte des heideggerschen Denkens angesehen. In seiner Offenheit für das Ereignis „schlägt [es] dem Ganzen entgegen“.
=== Sprache als Haus des Seins ===
Für Heidegger wurde im Laufe seines Denkweges immer deutlicher, dass das Wahrheitsgeschehen ein Sprachgeschehen ist. Geschieht Wahrheit in Form von Kunst, Wissenschaft oder Technik, dann ist dies immer auch ein sprachliches Ereignis. Daher muss sich der Denker darüber Klarheit verschaffen, was überhaupt Sprache ist.
Die Sprache spricht
Eine Auffassung der Sprache als bloßes Instrument der Mitteilung lehnte Heidegger ab. Eine solche lag aus seiner Sicht dem technischen Zeitalter zugrunde, dessen rechnendes Denken Informationen lediglich zur Organisation der Beherrschung des Seienden „kommuniziert“. Das rechnende Denken stelle den Menschen auch gegenüber der Sprache in die Mitte alles Seienden. Wenn der Mensch „die Sprache in seinem Besitz“ wähnt, verfehlt er laut Heidegger jedoch gerade ihr Wesen: „Die Sprache spricht, nicht der Mensch. Der Mensch spricht nur, indem er geschickt der Sprache entspricht.“ Damit wollte Heidegger zum Ausdruck bringen, dass der Mensch Teilnehmer an einer Sprache ist, die er selbst nicht allein hervorgebracht hat. Er ist eingebunden in einen Überlieferungsprozess und kann sich lediglich zum Überlieferten, der Sprache, verhalten.
Heideggers Überlegung ist jedoch keine kulturphilosophische: Mit der tautologischen Formulierung „die Sprache spricht“ will er verhindern, dass das Phänomen der Sprache auf etwas anderes als die Sprache selbst zurückgeführt wird. Entsprechend seinem „ab-gründigen“ Denken, will er einer Begründung der Sprache durch etwas anderes entgehen. So könne, was die Sprache als Sprache ist, zum Beispiel nicht durch die Rückführung auf die akustische Verlautbarung, das Sprechen, verstanden werden. Heidegger zufolge ist die Sprache vielmehr etwas, das wegen unserer Nähe zu ihr schwer zu fassen ist, und daher muss dasjenige zur Sprache gebracht werden, welches für gewöhnlich unthematisiert bleibt, weil es eben so nah ist. In der Abhandlung „Unterwegs zur Sprache“ stellte er den Versuch an, zu dem zu gelangen, „in dessen Bereich wir uns je schon aufhalten.“Sprache und Welt
Der Philosoph wollte beschreiben, was Sprache über das bloße Mittel der Kommunikation hinaus ist. So habe die Sprache eine welteröffnende Funktion, welche er vor allem in der Dichtung entdeckte. Wie das Ding eine Welt eröffne und dem Menschen hierdurch das Wohnen gewähre, gelte dies auch für die Sprache, vor allem für die dichterische. In der nicht berechnenden Sprache der Dichtung werde das Sein als Ganzes berührt. Die Sprache sei der Ort, an welchem das Sein erscheint. Insofern Sprache als Ort gedacht wird, ‚wohnt‘ das Sein gleichsam in ihr. Sprache nannte Heidegger „das Haus des Seins“.Zentral für Heideggers Auffassung von Sprache ist daher nicht die Annahme einer Kette von propositionalen Aussagen, aus denen Wahrheit nach den Regeln der Logik herzuleiten ist, sondern ihr Bezug zum Sein. In Sprache kommt demnach entsprechend der jeweiligen seinsgeschichtlichen Erfahrung des Menschen eine Welt zur Sprache. Damit vertritt Heidegger eine Gegenposition zur philosophischen Tradition: „In der Philosophie lassen sich niemals Sätze anbeweisen; und dies schon deshalb nicht, weil es keine höchsten Sätze gibt, aus denen andere abgeleitet werden könnten, sondern weil hier überhaupt nicht »Sätze« das Wahre sind und auch nicht einfach jenes, worüber sie aussagen.“Die gänzlich andere Form der Sprachlichkeit in der Dichtung erläutert Heidegger an einem Fragment des Vorsokratikers Heraklit: „‚Der Herr [Apollon], dessen Spruchort zu Delphi ist, sagt weder, noch verbirgt er, sondern winkt.‘ Das ursprüngliche Sagen macht weder nur unmittelbar offenbar, noch verhüllt es einfach nur schlechthin, sondern dieses Sagen ist beides in einem und als dieses Eine ein Winken, wo das Gesagte auf Ungesagtes, das Ungesagte auf Gesagtes und zu Sagendes weist.“Die Sprache gewährt ein dichterisches Wohnen
Indem das dichterische Wort die sinnhaften Bezüge in der Welt zur Sprache bringe, stifte es Welt. Dabei lässt die Dichtung, anders als propositionale Aussagen, offene Stellen. Im Ungesagten bleibt Raum für die nicht zur Sprache gekommenen Bezüge der Welt. Durch die vielen Nebenbedeutungen, welche die dichterischen Wörter tragen, wird die Welt erst reich an Bezügen. Es sind semantische Verweise, weshalb die Welt ein sprachliches Phänomen ist: Wohnen lässt sich nicht in einem stummen Raum; die Dinge in der Welt sind vielmehr beredt. Die reine Funktionalität einer technischen Welt wäre hingegen arm an Bezügen.
Die Dichtung mache keine Aussagen über einzelne Dinge, sondern stelle deren Beziehung in den Mittelpunkt. Als Beispiel dazu erläutert Heidegger, Geschenk und Krug sind nur durch ihre Beziehung aufeinander zu denken, nicht für sich allein. Indem nun die Dichtung die Beziehung, die vor den Einzeldingen liegt, zur Sprache bringt, stiftet sie erst die Welt als eine Beziehungsganzheit, die den Einzeldingen vorausgeht. Durch die Stiftung der Welt gewährt die Dichtung den Sterblichen (in dieser) Aufenthalt und Wohnen. Diese Bedeutung entnahm Heidegger einem Ausschnitt aus einem Gedicht Hölderlins: „Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet / Der Mensch auf dieser Erde.“ Das Dichtertum bleibt dabei jedoch auf die Sprache angewiesen.
Über die Sprache, so Heidegger, verfügt der Mensch niemals in ihrer Gänze, sondern verhält sich zu ihr. Der Dichter kann also nicht kraft seiner selbst das Wohnen möglich machen, sondern ist auf das Gewährende der Sprache angewiesen. Daher müsse der Mensch die Vorstellung von der Sprache als Kommunikationsmittel überwinden, denn in diesem Sprachverständnis drücke sich allein ein technischer Weltbezug aus. Nur wenn er erkenne, dass Sprache nicht Einzelteil in einer technischen Welt ist, sondern das Haus des Seins, könne sich eine neue Welt ereignen.
== Wirkung und Rezeption ==
=== Überblick ===
Martin Heidegger gilt als einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Gedanken üben direkt und über einige seiner Schüler großen und bleibenden Einfluss auf die moderne Philosophie auch außerhalb Deutschlands sowie auf die Geisteswissenschaften aus.
Heidegger wurde von vielen als charismatische Persönlichkeit empfunden, die eine starke Faszination auf seine Schüler ausstrahlte. Karl Löwith, Heidegger-Schüler, Nietzsche-Kenner und Skeptiker, charakterisierte ihn wie folgt:
Zu seinen direkten Schülern zählen Hans-Georg Gadamer, der den hermeneutischen Ansatz weiterführte, Hannah Arendt, die sich u. a. in ihren politischen Schriften durch ihr revolutionäres Konzept freier pluraler Auseinandersetzungen im politischen Raum von Heidegger absetzte, Hans Jonas, der als Existenzphilosoph in seinem Spätwerk verantwortungsethische Positionen zur Ökologie und Medizin bezog und Ernst Tugendhat, der ausgehend von einer kritischen Haltung gegenüber Heideggers Wahrheitsbegriff zur analytischen Philosophie fand.
Über Jean-Paul Sartre gab Heidegger den Anstoß für den französischen Existenzialismus. Herbert Marcuse verband die Überlegungen aus Sein und Zeit mit dem Marxismus. Emmanuel Levinas entwickelte in kritischer Abgrenzung zu Heideggers starker Orientierung am Sein seine stärker am Menschen orientierte Ethik. Michel Foucaults denkerische Biographie wurde von einer intensiven Heideggerlektüre begleitet, Jacques Derrida greift die Idee der ontologischen Differenz und der Destruktion in seinem Begriff der Différance auf. Kritisch setzte sich Pierre Bourdieu mit Heideggers politischer Ontologie auseinander. Großen Einfluss übte Heidegger auch auf die moderne japanische Philosophie aus, so erscheint die Heidegger-Gesamtausgabe auch auf Japanisch. Mit Bezug auf Heideggers spätes Denken wurde vielfach versucht, seine Ansätze mit fernöstlichen Denktraditionen zu verbinden – Arbeiten jüngeren Datums stellen diese Verbindung jedoch in Frage. Heidegger hatte auch Einfluss auf die Theologie von Rudolf Bultmann, mit dem er in den 1920er Jahren gemeinsam an der Universität Marburg lehrte.
==== „Kreis der Besinnung“ ====
Im Jahre 1953 gründete Walter Schloß (1917–1994) in Berlin den Heidegger-Kreis „Kreis der Besinnung“, der sich mit Schriften Heideggers auseinandersetzte und mit Heidegger und seiner Frau zusätzlich durch Korrespondenz und Besuche verbunden war. Gäste, Mitglieder und Leiter des Kreises waren u. a. auch spätere Professoren. Der Kreis wurde mit staatlichen Mitteln gefördert, hatte bis zu 17 Mitglieder und bestand ungefähr zehn Jahre.
=== Kritik ===
==== Allgemeine Ablehnung ====
Heideggers philosophisches Wirken wurde von verschiedensten Seiten als Ganzes verworfen, so zum Beispiel vom empirisch-positivistisch ausgerichteten Wiener Kreis, der in Heideggers Philosophie eine Rückkehr zur Metaphysik sah. Sprachanalytisch arbeitende Philosophen wie Rudolf Carnap lehnten Heideggers Terminologie schon früh als inhaltsleer ab. Carnap entwickelte 1932 seine Kritik in Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Er erklärt metaphysische Begriffe hier generell für sinnlos, da das von ihnen Bezeichnete sich weder logisch noch empirisch nachweisen lasse. Anhand von Heideggers Begriff des „Nichts“ versuchte er aufzuzeigen, dass metaphysische Begriffsbildung oft auch einfach auf logischen Konfusionen basiere: Dieser entstehe durch eine Ontologisierung des negativen Existenzquantors („nicht“), die in einer logisch korrekten Sprache überhaupt nicht vorgenommen werden könne.Zwar sind Carnaps strenge Kriterien für sinnhaften Sprachgebrauch von späteren analytischen Philosophen nicht geteilt worden (vor allem aufgrund der erweiternden Arbeiten von Wittgenstein und Popper), aber die Spaltung von kontinentaler und analytisch-angelsächsischer philosophischer Tradition geht hierauf zurück und blieb lange bestimmend. Erst Richard Rorty versuchte wieder Brücken zwischen beiden zu bauen.
Von großer Schärfe waren auch die Attacken seitens der Frankfurter Schule, besonders Theodor W. Adornos Jargon der Eigentlichkeit (Erstausgabe 1964), die das kontinentale intellektuelle Leben in den 1960er Jahren polarisierten. Im ersten Teil der Negativen Dialektik führt Adorno seine zentrale Auseinandersetzung mit Heidegger: „Geschichtlichkeit stellt Geschichte still ins Ungeschichtliche […]. Andererseits wieder gestattet es die Ontologisierung der Geschichte, der unbesehenen geschichtlichen Macht Seinsmächtigkeit zuzusprechen und damit die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten.“Hans Albert übte aus der Perspektive des kritischen Rationalismus Kritik an Heidegger. Heidegger habe in der Nachfolge Hegels und Husserls einem neuen Irrationalismus den Boden bereitet, der „im Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken in der Nähe der Dichtung angesiedelt ist“. Albert erblickt in Heideggers Philosophie einen Versuch, vorwissenschaftliche Denkweisen zu rehabilitieren und die Tradition rationalen Argumentierens zu untergraben, wobei durch unklare, mystifizierende Sprache der Eindruck von gedanklicher Tiefe erzeugt werde, die seinem Werk tatsächlich vollständig fehle. Eindruck erwecke dies vor allem bei „Zeitgenossen […], die sich zwar in philosophischen Gefilden tummeln, in Wirklichkeit aber nach religiöser Erbauung suchen oder einen Religionsersatz nötig haben.“
==== Kritik an Heideggers Nationalsozialismus ====
Ein großer Teil der Kritik an Heidegger und seinem Werk gilt dem Vorhalt des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, sowohl in Bezug auf seine Person wie auf seinen philosophischen Gedanken. Das Verhältnis zwischen seinem Werk und dem Nationalsozialismus wird seit einer Studie von A. Schwan von 1965 erörtert. Silvio Vietta dagegen hat auch die explizite Kritik Heideggers am Nationalsozialismus und dessen Entwicklung zu einer großtechnischen Weltmachtpolitik wie der technischen Globalisierung herausgearbeitet.Zeigten sich zuvor nur wenige Bemerkungen mit antisemitischen Konnotationen in seinen Schriften, so herrscht seit der Veröffentlichung von Äußerungen aus den Schwarzen Heften im Jahr 2014 aufgrund zahlreicher antisemitischer Stereotype darin weitgehende Einigkeit unter den Forschern, dass Heidegger Antisemit war, wobei jedoch ein biologistischer Rassismus mehrheitlich ausgeschlossen wird. Im Kontext nationalsozialistischer Überzeugungen werden außer den diversen Reden, in denen er Hitler explizit verherrlichte, insbesondere nationalsozialistische Aspekte seiner Arbeiten zu Hölderlin und Nietzsche debattiert. Dabei reicht das Spektrum der Meinungen von dem auch von Heidegger selbst vertretenen Standpunkt, dass sein nationalsozialistisches Engagement eine irrtümliche Phase ohne Auswirkungen auf sein Werk gewesen sei, bis zur Deutung seiner gesamten Philosophie als nationalsozialistische Ideologie.
Siehe auch: →Doxographie zur Frage des Antisemitismus bei Heidegger →Debatte über Martin Heidegger und Fake News
==== Kritik an „Sein und Zeit“ ====
Edmund Husserl empfand das Werk als Abkehr von den Zielen seiner Phänomenologie, auch wenn Heidegger es unter den Titel Phänomenologie stellte und Husserl widmete, wobei er das Werk in der 5. Auflage von 1941 ohne diese Widmung erscheinen ließ. Heidegger tendierte in der Schrift zu starken Zuspitzungen. Dies trug ihm von verschiedenen Seiten Kritik ein. So wurde beispielsweise bei seiner Analyse der Zeitformen kritisiert, dass er die Gegenwart einem auf die Zukunft gerichteten Leben opfere. Auch wurde bemängelt, dass die Selbstständigkeit, die er für ein bewusstes Leben proklamierte, sich so sehr von Gesellschaft und Mitmenschen lossage, dass es sich bei ihr letztlich um Solipsismus handle.
Seine Weltanalyse führte Heidegger nur anhand von Werkzeugen für die praktischen Bedeutungszusammenhänge des Lebens durch. Damit lassen sich andere Dinge als Werkzeuge jedoch nicht verstehen; etwa was der Ring bedeutet, den wir am Finger tragen. Auch die Rückbindung aller Dinge an das Umwillen des Daseins verenge den Blick auf die Welt.
Die große Bedeutung, die Heidegger dem Tod beimaß, stößt in der Rezeption ebenfalls häufig auf Ablehnung. So ist nicht klar, warum Probleme der Existenz nur angesichts des Todes erhellt werden können.Hannah Arendt, die ihr philosophisches Hauptwerk eigentlich Heidegger gewidmet hätte, wenn nicht seine Haltung zum Nationalsozialismus dies unmöglich gemacht hätte, entwickelte gegen Heideggers Konzept der Sterblichkeit das Gegenmodell der „Geburtlichkeit“, d. h. jeder neu geborene Mensch, jede Generation hat immer wieder die Chance, einen Neuanfang zu machen, um eine freiere bessere Welt zu gestalten. In ihrem zuerst 1946 in den USA erschienenen Artikel Was ist Existenzphilosophie? hatte sich Arendt ein einziges Mal öffentlich kritisch zu Heideggers Philosophie geäußert.Die fehlende Einbeziehung der Leiblichkeit des Daseins bei Heidegger bemängelte Maurice Merleau-Ponty. In Abgrenzung zu Husserl und Heidegger zeigt Merleau-Ponty einen „dritten Weg“ zur Beschreibung des fundamentalen Zusammenhangs von Dasein und Welt auf. Anders als Heidegger, der das Subjekt in seinem Sein als Dasein betrachtet, sieht er es in seiner Leiblichkeit, aus der sich die ursprüngliche Welterfahrung ergebe.
Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich kommentiert Heidegger von seinen Begriffen her und gelangt zu einer radikalen Kritik seiner Philosophie.Grundlegende Kritik an Heideggers Thesen und deren Begründungen liefert Andreas Graeser.
==== Kritik am Wahrheitsbegriff ====
Ernst Tugendhat verglich den Husserlschen Wahrheitsbegriff mit demjenigen Heideggers. Bei Husserl eröffnet sich Wahrheit dann, wenn sich das Seiende zeigt, „wie es an sich selbst ist“. Diese Formel enthält durch ihr „wie“ einen Abgleich der Sache mit sich selbst. Heidegger deutet hingegen Wahrheit als Entdecktheit. Dabei lässt er jedoch in Abgrenzung zu Husserl den kritischen Abgleich der Sache mit sich selbst weitestgehend fallen, was für Tugendhat heißt: „Wenn Wahrheit Unverborgenheit besagt, so wie Heidegger das Wort versteht, dann kommt es darauf an, dass ein Weltverständnis sich überhaupt eröffnet, nicht dass wir es kritisch prüfen.“ Tugendhat sieht also keinen Wert in Heideggers Wahrheitsbegriff, da dieser keinen Weg aufzeigt, wie Aussagen auf ihre Wahrheit hin überprüft werden können.
Kritik am Spätwerk
Während Heideggers Spätwerk häufig abgelehnt bzw. mehr oder weniger ignoriert wird, bezieht sich vor allem Jacques Derrida in Abgrenzung zu den Gedankengängen in Sein und Zeit positiv darauf, da Heidegger damit die Philosophie des Subjekts überwunden habe.
Der Versuch Heideggers, das „Göttliche“ zu denken und mit Hölderlin anzurufen, fand auch bei denjenigen, die seine Art zu denken durchaus schätzten, als inkonsistenter Teil seiner Philosophie keine Zustimmung. Byung-Chul Han spricht in diesem Zusammenhang von einem „‚theologischen‘ Zwang“.In den Schriften nach der Kehre, so u. a. Han, werden häufig Erläuterungen zur Wortherkunft als etymologisch richtig ausgegeben, die aber Heidegger bisweilen in gewagter und verstellender Weise durchführe. Heidegger selbst betonte, dass diese nicht als Beweise fungierten, sondern dazu dienen sollten, der philosophischen Sprache neue Dimensionen zu erschließen.Die Deutungen, die Heidegger manchen Gedichten Hölderlins, Trakls, Rilkes und Stefan Georges gab, sind bei Literaturwissenschaftlern auf Kritik gestoßen. Diese Dichtungen habe Heidegger aus seiner eigenen Weltsicht her gelesen und in den Kategorien seines Denkens „umgedeutet“. Allerdings beabsichtigte Heidegger ausdrücklich nicht, mit seinen Deutungen Beiträge zur Literaturwissenschaft zu leisten. Er beanspruchte vielmehr „Anmerkungen“ zu machen, dies auch auf die Gefahr hin, dass sie die „Wahrheit der Hölderlinschen Dichtung“ verfehlen.Auch Heideggers seinsgeschichtliche Interpretationen, zum Beispiel die Platons oder Nietzsches, können einer philosophiegeschichtlichen Nahbetrachtung nicht standhalten. Darauf weisen verschiedene Heidegger-Interpreten hin. Hinzu kommt, dass für Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche eine Kompilation aus Nietzsches Nachlass maßgebend war („Der Wille zur Macht“), die in dieser Form nicht von Nietzsche veröffentlicht worden war. Laut Pöggeler zielten Heideggers bewusste perspektivische Verengungen und Einseitigkeiten allerdings darauf, Grundmuster des abendländischen Denkens freizulegen und so neue Zugänge zum Überlieferungsbestand der Tradition zu erschließen. Es ging ihm weniger um eine historisch richtige Deutung als um eine konstruktive „Zwiesprache“ mit den Denkern, um ein „Gespräch“, das von vornherein unter eine gewisse Frage gestellt wird.Von Seiten der interkulturellen Hermeneutik wird kritisiert, dass Heideggers hermeneutisch-abgeschlossene Sprachphilosophie nur schwer helfe, einen Dialog zwischen Ost und West in Gang zu bringen. Seine Schrift „Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden“ (1953/54) ist ein fingiertes Gespräch mit einem Japaner, das eine Reihe von wichtigen Hindernissen für interkulturelles Verstehen aufweist.
== Dokumente und Quellen ==
=== Schriften ===
Die Martin-Heidegger-Gesamtausgabe erscheint im Verlag Vittorio Klostermann. Sie ist auf 102 Bände angelegt. Ein Verzeichnis sämtlicher Schriften Heideggers (7609 Nummern) findet sich in: Heidegger-Jahrbuch 1. Freiburg/München 2005, ISBN 3-495-45701-1, S. 429–578.
==== Wichtige Werke ====
1912–1916: Frühe Schriften. Klostermann, Frankfurt am Main 1972, ISBN 3-465-00881-2.
1921/1922: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. 2. durchges. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-465-02650-0.
1927: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Klostermann, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-465-03419-8.
1927: Sein und Zeit. Tübingen. 19. Auflage. Niemeyer, Tübingen 2006, ISBN 3-484-70153-6.
1929/1930: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. 3. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 2004 (= Heidegger Gesamtausgabe. Band 29/30), ISBN 3-465-03310-8.
1929: Kant und das Problem der Metaphysik. 6. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-465-02982-8.
1934–1935: Hegel, Rechtsphilosophie. Gesamtausgabe Band 86. Klostermann, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-465-03682-1.
1936–1968: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. 6. erw. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-465-02907-0.
1935–1946: Holzwege. 8. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03238-1.
1935/1936: Der Ursprung des Kunstwerkes. (= UB 8446). Reclam, Ditzingen 1986, ISBN 3-15-008446-6.
1936–1946: Nietzsche I und II. 8. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-91086-5.
1936–1953: Vorträge und Aufsätze. 10. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-91090-5.
1936–1938: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). 3. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03281-0.
1938/1939: Besinnung. Klostermann, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-465-02955-0.
1951–1952: Was heißt Denken? (= UB 8805). Reclam, Ditzingen 1992, ISBN 3-15-008805-4.
1953: Die Technik und die Kehre. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-91050-6.
1919–1961: Wegmarken. Klostermann, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-465-03370-1.
1955–1956: Der Satz vom Grund. 9. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, ISBN 3-608-91076-X.
1955–1957: Identität und Differenz. 12. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-91045-X.
1950–1959: Unterwegs zur Sprache. 14. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-608-91085-8.
1959: Gelassenheit. 14. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-608-91059-9.
1910–1976: Aus der Erfahrung des Denkens. 2. durchges. Auflage. Klostermann, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-465-03201-2.
1910–1976: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Klostermann, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-465-03040-0 (enthält das „Spiegel“-Interview von 1976: Nur noch ein Gott kann uns retten).
==== Sonstiges ====
Günter Figal (Hrsg.): Heidegger Lesebuch. Klostermann, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-465-04011-8.
Richard Wisser (Hrsg.): Martin Heidegger im Gespräch. Karl Alber, Freiburg i. Br. / München 1970, ISBN 3-495-47188-X.
Frithjof Rodi (Hrsg.): Martin Heidegger, Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung. Zehn Vorträge, gehalten in Kassel vom 16. bis 21. April 1925. Maschinenschriftliche Abschrift von Herbert Marcuse nach einer Nachschrift von Walter Bröcker. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Band 8 / 1992–1993, ISBN 3-525-30362-9, S. 143–177.
Digne Meller Marcovicz: Martin Heidegger. Photos 23. September 1966 / 17. + 18. Juni 1968. Fey Verlag, Stuttgart 1978, ISBN 3-88361-102-6.
==== Korrespondenz ====
Martin Heidegger Briefausgabe. Hrsg. v. Alfred Denker. Ca. 20 Bände wissenschaftliche, ca. 10 Bände „private“ und ca. 5 Bände „institutionelle“ Korrespondenz. Alber, Freiburg 2010 ff.
Martin Heidegger, Kurt Bauch: Briefwechsel. 1932–1975. Martin Heidegger Briefausgabe Abt. II, Bd. 1. Herausgegeben und kommentiert von Almuth Heidegger. Alber, Freiburg 2010, ISBN 978-3-495-48409-8.
Martin Heidegger, Elisabeth Blochmann: Briefwechsel: 1918–1969. Hrsg. v. J. W. Storck. 2. durchges. Auflage. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1990, ISBN 3-933679-07-9.
Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith. In: D. Papenfuss, O. Pöggeler (Hrsg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Band 2: Im Gespräch der Zeit. Klostermann, Frankfurt am Main 1990, S. 27–39.
Auszug aus dem unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Otto Pöggeler. Hrsg. v. K. Busch und Chr. Jamme, ins Rumänische übersetzt von G. Cercel, Einleitung von O. Pöggeler (dt./rum.). In: Studia Phænomenologica. I (2001) 3–4, ISSN 1582-5647, S. 11–35.
Martin Heidegger, Heinrich Rickert: Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente. Hrsg. v. A. Denker. Klostermann, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-465-03148-2.
Oskar Becker: Vier Briefe an Martin Heidegger. Hrsg. von Bernd Peter Aust. In: Jürgen Mittelstraß, Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.): Die Philosophie und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers. Fink, München 2002, ISBN 3-7705-3659-2, S. 249–256.
Briefe von und an Martin Heidegger und andere Dokumente. In: Heidegger-Jahrbuch. 1, 2004, ISBN 3-495-45701-1, S. 26–78.
Ausgewählte Briefe Martin Heideggers an Hans-Georg Gadamer. Martin-Heidegger-Gesellschaft, Messkirch 2006.
Alexandru Dragomir – Martin Heidegger: Letters. 1947. In: Studia Phænomenologica. IV (2004) 3–4, ISBN 973-50-0979-X, S. 113–118.
Hannah Arendt, Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Hrsg. von Ursula Ludz. Klostermann, Frankfurt am Main 1998; Neuauflage ebenda 2002, ISBN 3-465-03206-3.
Martin Heidegger, Karl Jaspers: Briefwechsel 1920–1963. Hrsg. v. Walter Biemel u. Hans Saner. Klostermann, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-465-02218-1.
Rudolf Bultmann, Martin Heidegger: Briefwechsel 1925 bis 1975. Hrsg. v. Andreas Großmann u. Christof Landmesser. Klostermann, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-465-03602-9.
Martin Heidegger: Briefe an Sophie Dorothee Podewils. In: Sinn und Form. Heft 1/2006, S. 43–59.
Martin Heidegger und die Anfänge der „Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“. Eine Dokumentation. 1922–1941. Hrsg. von J. W. Storck und Th. Kisiel. Heideggers Korrespondenz mit Erich Rothacker, Paul Kluckkohn und Karl Löwith. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Band 8, 1992–1993, ISBN 3-525-30362-9, S. 181–225.
Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente. Herausgegeben von Holger Zaborowski und Anton Bösl. Karl Alber, Freiburg 2003, ISBN 3-495-48070-6. (Notiz in: Information Philosophie.)
Martin Heidegger, Bernhard Welte: Briefe und Begegnungen. Mit einem Vorwort von Bernhard Casper. Herausgegeben von Alfred Denker und Holger Zaborowski. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, ISBN 3-608-91077-8.
Gertrud Heidegger: „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfriede. 1915–1970. DVA, München 2005, ISBN 3-421-05849-0
Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger. Herder Verlag, Freiburg 2016, ISBN 978-3-451-37529-3
Martin Heidegger/ Karl Löwith: Briefwechsel 1919–1973. Heidegger-Briefausgabe, Bd. II.2, hrsg. von Alfred Denker, Verlag Karl Alber, Freiburg 2017. ISBN 978-3-495-48628-3.
==== Nachlass ====
Auf Veranlassung Martin Heideggers wurde Friedrich-Wilhelm von Herrmann zum wissenschaftlichen Hauptherausgeber der Gesamtausgabe ernannt, die 1975 begonnen wurde und bis heute im Verlag Vittorio Klostermann erscheint.
In der Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft erscheinen noch nicht veröffentlichte Schriften von und zu Martin Heidegger.
Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Abhandlung von 1922, entstanden für die Berufung auf den Marburger Lehrstuhl. Hrsg. von Hans-Ulrich Lessing. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Band 6, 1989, ISBN 3-525-30360-2, S. 235–274. In der Anzeige der hermeneutischen Situation ist die eigentliche Keimzelle von Sein und Zeit. zu sehen.
=== Sekundärliteratur ===
Wegweiser durch die Heidegger-Literatur / Universitätsbibliothek Freiburg im BreisgauPhilosophiebibliographie: Martin Heidegger – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema
==== Einführende Literatur zu Heideggers Denken ====
Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung. 6. Auflage. Junius, Hamburg 2011, ISBN 978-3-88506-381-0.
Charles Guignon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Heidegger. Cambridge University Press, 1993.
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Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. Hanser, München 1994 (diese populäre Biographie wirft zugleich einige einführende Schlaglichter auf sein Denken und behandelt auch die Nationalsozialismus-Debatte).
Stefan W. Schmidt: Grund und Freiheit. Eine phänomenologische Untersuchung des Freiheitsbegriffs Heideggers. Springer, Dordrecht 2016 (= Phaenomenologica, Bd. 217), ISBN 978-3-319-20573-1.
Guido Schneeberger (Hrsg.): Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken. Mit zwei Bildtafeln. Bern 1962.
Silvio Vietta: Heideggers Ecological Criticism. In: Gabriele Dürbeck u. a. (Hrsg.): Ecological Thought in German Literature and Culture: Boulder 2017, 79ff.
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Hans Dieter Zimmermann: Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht. C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52881-3.
George Remete: Martin Heidegger. Zwischen Phänomenologie und Theologie. Edition Hagia Sophia, Wachtendonk 2014, ISBN 978-3-96321-068-6.
==== Periodika ====
Heidegger Studies / Heidegger Studien / Etudes Heideggeriennes (HeiSt). Duncker & Humblot, Berlin (erscheint jährlich, volume 26 erschien 2010).
Alfred Denker, Holger Zaborowski (Hrsg.): Heidegger-Jahrbuch. Alber, Freiburg im Breisgau 2004 ff., verlag-alber.de.
==== Literarische Rezeption ====
Catherine Clement: Martin and Hannah. Novelle. Prometheus Books, 2001, ISBN 1-57392-906-9.
=== Tondokumente ===
Bauen, Wohnen, Denken. Darmstädter Gespräche des Deutschen Werkbundes 1951. In: Eduard Führ: Bauen und Wohnen. Waxmann, Münster 2000, ISBN 3-89325-819-1 (mit Audio-CD des Vortrages).
Von der Sache des Denkens. Vorträge, Reden und ein Interview. Der Hörverlag (5 CDs).
Der Satz der Identität. Klett-Cotta (1 CD).
Martin Heidegger liest Hölderlin. Klett-Cotta (1 CD).
Hölderlins Erde und Himmel. Klett-Cotta (2 CDs).
Heidegger. Einführung von Otto Pöggeler, gelesen von Frank Arnold. Argon, 2007 (1 CD).
Heidegger verstehen. Vorträge u. a. von Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith und Rüdiger Safranski, Terzio 2009 (5 CDs und 1 DVD).
=== Filme ===
Martin Heidegger – Im Denken unterwegs. Dokumentation, 44 Min., Buch und Regie: Richard Wisser und Walter Rüdel, Produktion: SWF, Neske-Produktion, 1975.
Philosophie heute. Der Zauberer von Meßkirch: Martin Heidegger. Dokumentation, 60 Min., Buch und Regie: Rüdiger Safranski und Ulrich Boehm. Produktion: WDR in Zusammenarbeit mit Junius, 1989, ISBN 3-934102-64-6.
Human, All Too Human: Martin Heidegger. Englischsprachige Dokumentation, 49 Min., Buch und Regie: Jeff Morgan, Produktion: BBC, 1999.
Deutsche Lebensläufe: Martin Heidegger. Dokumentation, 60 Min., Buch und Regie: Thomas Palzer, Produktion: SWR, SFB, ORB, Kick Film, 2002, Erstsendung: 21. November 2002. Inhaltsangabe von 3sat.
Der Ister. Mehrsprachige Dokumentation, 189 Min., Buch und Regie: David Barison und Daniel Ross, Australien 2004. Ein Film über Heideggers 1942 gehaltene Vorlesung zu Friedrich Hölderlin. Zu sehen sind unter anderem Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, Bernard Stiegler und Hans-Jürgen Syberberg. fandor.com, The Ister in der Internet Movie Database (englisch)
Jeffrey Van Davis: Only a God Can Save. Dokumentation, D/USA/F 2009.
== Nachlass ==
Einen Großteil seines Nachlasses hat Heidegger dem Literaturarchiv Marbach schon zu Lebzeiten selbst übergeben.In den Jahren 1931–1975 führte Heidegger Tagebuchaufzeichnungen, „Denktagebücher“ mit posthumer Publikationsabsicht: Sie werden seit März 2014 als „Schwarze Hefte“ in mehreren Bänden veröffentlicht. Besonders die darin enthaltenen antisemitischen Äußerungen belebten die wissenschaftliche Debatte und Forschung über Heideggers Stellung zum Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus neu (siehe auch Heidegger und der Nationalsozialismus; Heidegger-Rezeption).
2014 übernahm der Enkel Arnulf Heidegger die Nachlassverwaltung von seinem Vater Hermann.
== Weblinks ==
=== Werk, Person und Forschung ===
Literatur von und über Martin Heidegger im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Martin Heidegger in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Zeitungsartikel über Martin Heidegger in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Martin-Heidegger-Gesellschaft Offizielle Website der Martin-Heidegger-Gesellschaft e. V. Meßkirch
Martin Heidegger Institut
Heidegger-Portal der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau – Umfangreichste Literaturnachweise mit ständiger Verzeichnung des unselbständigen Schrifttums (Zeitschriftenaufsätze und Buchbeiträge) und Zugang zum internationalen monographischen Schrifttum über den Online-Katalog
Burghard Heidegger: heidegger.org – Martin Heidegger Website. Biographisches, Aktuelles, Informationen zu: Meßkircher-Martin-Heidegger-Stiftung, Martin-Heidegger-Gesellschaft e. V., Martin-Heidegger-Forschungsgruppe.
W. J. Korab-Karpowicz: Martin Heidegger (1889–1976). In: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Michael Wheeler: Martin Heidegger. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Iain Thomson: Heidegger’s Aesthetics. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
D. F. Ferrer, A. Denker: Materialien (teilweise englisch).
Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Band 16, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Auf: Google Bücher. Der Band enthält Zeugnisse des öffentlichen und politischen Wirkens Heideggers. Die Jahre der NS-Zeit sind fast komplett als Vorschau abrufbar.
Slideshow (Oktober 2011) über Heideggers Hütte in Todtnauberg, wo er Sein und Zeit geschrieben hat, auf: valeat.wordpress.com (4. November 2011, abgerufen am 24. Oktober 2021).
Micha Brumlik: Martin Heidegger. Vom wahren Sein zur Volksgemeinschaft. In: „gegneranalyse. Antiliberales Denken von Weimar bis heute“ (auf gegneranalyse.de, abgerufen am 24. Oktober 2021), Onlineprojekt des Zentrums Liberale Moderne.
Heidegger, Martin. Hessische Biografie. (Stand: 25. Mai 2020). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
=== Tondokumente ===
Folgende Mitschnitte sind Teil der Serie Rede des Monats der Universitätsbibliothek Freiburg und der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg:
Martin Heidegger: Der Satz der Identität auf ub.uni-freiburg.de, M4A; 12,0 MB, abgerufen am 24. Oktober 2021 (Vortrag zur 500-Jahr-Feier der Universität Freiburg, 1957).
Karl Lehmann: Heideggers Rezeption in der Theologie. auf ub.uni-freiburg.de; M4A; 28,3 MB, abgerufen am 24. Oktober 2021 (Vortrag, 1981).
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Das 10. Buch der Confessiones des Heiligen Augustinus im Horizont von Heideggers hermeneutischer Phänomenologie des faktischen Leben auf ub.uni-freiburg.de; M4A; 19,4 MB (Vortrag, 2001).
Max Müller: Vollendung, Ende und Anfang – philosophische Reflexion im Hinblick auf Martin Heidegger auf ub.uni-freiburg.de; M4A; 16,8 MB (Vortrag, 1970).Weitere Tondokumente:
Günter Figal: Heidegger in der Moderne auf podcasts.uni-freiburg.de, abgerufen am 24. Oktober 2021 (11 Vorlesungen, 2012).
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Heidegger |
Berkelium | = Berkelium =
Berkelium ist ein künstlich erzeugtes chemisches Element mit dem Elementsymbol Bk und der Ordnungszahl 97. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Berkelium wurde nach der Stadt Berkeley in Kalifornien benannt, in der es entdeckt wurde. Bei Berkelium handelt es sich um ein radioaktives Metall mit einem silbrig-weißen Aussehen. Es wurde im Dezember 1949 erstmals aus dem leichteren Element Americium erzeugt. Es entsteht in geringen Mengen in Kernreaktoren. Seine Anwendung findet es vor allem zur Erzeugung höherer Transurane und Transactinoide.
== Geschichte ==
So wie Americium (Ordnungszahl 95) und Curium (96) in den Jahren 1944 und 1945 nahezu zeitgleich entdeckt wurden, erfolgte in ähnlicher Weise in den Jahren 1949 und 1950 die Entdeckung der Elemente Berkelium (97) und Californium (98).
Die Experimentatoren Glenn T. Seaborg, Albert Ghiorso und Stanley G. Thompson stellten am 19. Dezember 1949 die ersten Kerne im 60-Zoll-Zyklotron der Universität von Kalifornien in Berkeley her. Es war das fünfte Transuran, das entdeckt wurde. Die Entdeckung wurde zeitgleich mit der des Californiums veröffentlicht.Die Namenswahl folgte naheliegenderweise einem gemeinsamen Ursprung: Berkelium wurde nach dem Fundort, der Stadt Berkeley in Kalifornien, benannt. Die Namensgebung folgt somit wie bei vielen Actinoiden und den Lanthanoiden: Terbium, das im Periodensystem genau über Berkelium steht, wurde nach der schwedischen Stadt Ytterby benannt, in der es zuerst entdeckt wurde: It is suggested that element 97 be given the name berkelium (symbol Bk) after the city of Berkeley in a manner similar to that used in naming its chemical homologue terbium (atomic number 65) whose name was derived from the town of Ytterby, Sweden, where the rare earth minerals were first found. Für das Element 98 wählte man den Namen Californium zu Ehren der Universität und des Staates Kalifornien.
Als schwerste Schritte in der Vorbereitung zur Herstellung des Elements erwiesen sich die Entwicklung entsprechender chemischer Separationsmethoden und die Herstellung ausreichender Mengen an Americium für das Target-Material.
Die Probenvorbereitung erfolgte zunächst durch Auftragen von Americiumnitratlösung (mit dem Isotop 241Am) auf eine Platinfolie; die Lösung wurde eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (AmO2) geglüht.
Nun wurde diese Probe im 60-Zoll-Zyklotron mit beschleunigten α-Teilchen mit einer Energie von 35 MeV etwa 6 Stunden beschossen. Dabei entsteht in einer sogenannten (α,2n)-Reaktion 243Bk sowie zwei freie Neutronen:
95
241
A
m
+
2
4
H
e
⟶
97
243
B
k
+
2
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{241}_{\ 95}Am\ +\ _{2}^{4}He\ \longrightarrow \ _{\ 97}^{243}Bk\ +\ 2\ _{0}^{1}n} }
Nach dem Beschuss im Zyklotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst und erhitzt, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniak-Lösung als Hydroxid ausgefällt und abzentrifugiert; der Rückstand wurde wiederum in Salpetersäure gelöst.
Um die weitgehende Abtrennung des Americiums zu erreichen, wurde diese Lösung mit einem Gemisch von Ammoniumperoxodisulfat und Ammoniumsulfat versetzt und erhitzt, um vor allem das gelöste Americium auf die Oxidationsstufe +6 zu bringen. Nicht oxidiertes restliches Americium wurde durch Zusatz von Flusssäure als Americium(III)-fluorid ausgefällt. Auf diese Weise werden auch begleitendes Curium als Curium(III)-fluorid und das erwartete Element 97 (Berkelium) als Berkelium(III)-fluorid ausgefällt. Dieser Rückstand wurde durch Behandlung mit Kalilauge zum Hydroxid umgewandelt, welches nach Abzentrifugieren nun in Perchlorsäure gelöst wurde.
Die weitere Trennung erfolgte in Gegenwart eines Citronensäure/Ammoniumcitrat-Puffers im schwach sauren Medium (pH ≈ 3,5) mit Ionenaustauschern bei erhöhter Temperatur.
Die chromatographische Trennung konnte nur aufgrund vorheriger Vergleiche mit dem chemischen Verhalten der entsprechenden Lanthanoide gelingen. So tritt bei einer Trennung das Terbium vor Gadolinium und Europium aus einer Säule. Falls das chemische Verhalten des Berkeliums dem eines Eka-Terbiums ähnelt, sollte das fragliche Element 97 daher in dieser analogen Position zuerst erscheinen, entsprechend vor Curium und Americium.
Der weitere Verlauf des Experiments brachte zunächst kein Ergebnis, da man nach einem α-Teilchen als Zerfallssignatur suchte. Erst die Suche nach charakteristischer Röntgenstrahlung und Konversionselektronen als Folge eines Elektroneneinfangs brachte den gewünschten Erfolg. Das Ergebnis der Kernreaktion wurde mit 243Bk angegeben, obwohl man anfänglich auch 244Bk für möglich hielt.
Im Jahr 1958 isolierten Burris B. Cunningham und Stanley G. Thompson erstmals wägbare Mengen, die durch langjährige Neutronenbestrahlung von 239Pu in dem Testreaktor der National Reactor Testing Station in Idaho erzeugt wurden.
== Isotope ==
Von Berkelium existieren nur Radionuklide und keine stabilen Isotope. Insgesamt sind 12 Isotope und 5 Kernisomere des Elements bekannt. Die langlebigsten sind 247Bk (Halbwertszeit 1380 Jahre), 248Bk (9 Jahre) und 249Bk (330 Tage). Die Halbwertszeiten der restlichen Isotope liegen im Bereich von Millisekunden bis Stunden oder Tagen.Nimmt man beispielhaft den Zerfall des langlebigsten Isotops 247Bk heraus, so entsteht durch α-Zerfall zunächst das langlebige 243Am, das seinerseits durch erneuten α-Zerfall in 239Np übergeht. Der weitere Zerfall führt dann über 239Pu zum 235U, dem Beginn der Uran-Actinium-Reihe (4 n + 3).
97
247
B
k
→
1380
a
α
95
243
A
m
→
7370
a
α
93
239
N
p
→
2
,
355
d
β
−
94
239
P
u
→
24110
a
α
92
235
U
{\displaystyle \mathrm {^{247}_{\ 97}Bk\ {\xrightarrow[{1380\ a}]{\alpha }}\ _{\ 95}^{243}Am\ {\xrightarrow[{7370\ a}]{\alpha }}\ _{\ 93}^{239}Np\ {\xrightarrow[{2,355\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 94}^{239}Pu\ {\xrightarrow[{24110\ a}]{\alpha }}\ _{\ 92}^{235}U} }
Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten.→ Liste der Berkeliumisotope
== Vorkommen ==
Berkeliumisotope kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor.
Über die Erstentdeckung von Einsteinium und Fermium in den Überresten der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe, Ivy Mike, am 1. November 1952 auf dem Eniwetok-Atoll hinaus wurden neben Plutonium und Americium auch Isotope von Curium, Berkelium und Californium gefunden, darunter das 249Bk, das durch den β-Zerfall in 249Cf übergeht. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung wurden die Ergebnisse erst später im Jahr 1956 publiziert.In Kernreaktoren entsteht vor allem das Berkeliumisotop 249Bk, es zerfällt bereits während der Zwischenlagerung (vor der Endlagerung) fast komplett zum Californiumisotop 249Cf mit 351 Jahren Halbwertszeit. Dieses zählt zum Transuranabfall und ist daher in der Endlagerung unerwünscht.
== Gewinnung und Darstellung ==
Berkelium wird durch Beschuss von leichteren Actinoiden mit Neutronen in einem Kernreaktor erzeugt. Die Hauptquelle ist der 85 MW High-Flux-Isotope Reactor (HFIR) am Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, USA, der auf die Herstellung von Transcuriumelementen (Z > 96) eingerichtet ist.
=== Gewinnung von Berkeliumisotopen ===
Berkelium entsteht in Kernreaktoren aus Uran (238U) oder Plutonium (239Pu) durch zahlreiche nacheinander folgende Neutroneneinfänge und β-Zerfälle – unter Ausschluss von Spaltungen oder α-Zerfällen.Ein wichtiger Schritt ist hierbei die (n,γ)- oder Neutroneneinfangsreaktion, bei welcher das gebildete angeregte Tochternuklid durch Aussendung eines γ-Quants in den Grundzustand übergeht. Die hierzu benötigten freien Neutronen entstehen durch Kernspaltung anderer Kerne im Reaktor. In diesem kernchemischen Prozess wird zunächst durch eine (n,γ)-Reaktion gefolgt von zwei β−-Zerfällen das 239Pu gebildet. In Brutreaktoren wird dieser Prozess zum Erbrüten neuen Spaltmaterials genutzt.
92
238
U
→
(
n
,
γ
)
92
239
U
→
23
,
5
m
i
n
β
−
93
239
N
p
→
2
,
3565
d
β
−
94
239
P
u
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 92}^{239}U\ {\xrightarrow[{23,5\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 93}^{239}Np\ {\xrightarrow[{2,3565\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 94}^{239}Pu} }
Bei den angegebenen Zeiten handelt es sich um Halbwertszeiten.Letzteres wird hierzu mit einer Neutronenquelle, die einen hohen Neutronenfluss besitzt, bestrahlt. Die hierbei möglichen Neutronenflüsse sind um ein Vielfaches höher als in einem Kernreaktor. Aus 239Pu wird durch vier aufeinander folgende (n,γ)-Reaktionen 243Pu gebildet, welches durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 4,96 Stunden zu 243Am zerfällt. Das durch eine weitere (n,γ)-Reaktion gebildete 244Am zerfällt wiederum durch β-Zerfall mit einer Halbwertszeit von 10,1 Stunden letztlich zu 244Cm. Aus 244Cm entstehen durch weitere (n,γ)-Reaktionen im Reaktor in jeweils kleiner werdenden Mengen die nächst schwereren Isotope.
94
239
P
u
→
4
(
n
,
γ
)
94
243
P
u
→
4
,
956
h
β
−
95
243
A
m
→
(
n
,
γ
)
95
244
A
m
→
10
,
1
h
β
−
96
244
C
m
;
96
244
C
m
→
5
(
n
,
γ
)
96
249
C
m
{\displaystyle \mathrm {^{239}_{\ 94}Pu\ {\xrightarrow {4(n,\gamma )}}\ _{\ 94}^{243}Pu\ {\xrightarrow[{4,956\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 95}^{243}Am\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 95}^{244}Am\ {\xrightarrow[{10,1\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 96}^{244}Cm} \quad ;\quad \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow {5(n,\gamma )}}\ _{\ 96}^{249}Cm} }
Die Entstehung von 250Cm auf diesem Wege ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da 249Cm nur eine kurze Halbwertszeit besitzt und so weitere Neutroneneinfänge in der kurzen Zeit unwahrscheinlich sind.
249Bk ist das einzige Isotop des Berkeliums, das auf diese Weise gebildet werden kann. Es entsteht durch β-Zerfall aus 249Cm – das erste Curiumisotop, welches einen β-Zerfall eingeht (Halbwertszeit 64,15 min).
96
249
C
m
→
64
,
15
m
i
n
β
−
97
249
B
k
→
330
d
β
−
98
249
C
f
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow[{64,15\ min}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 97}^{249}Bk\ {\xrightarrow[{330\ d}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 98}^{249}Cf} }
Durch Neutroneneinfang entsteht zwar aus 249Bk auch das 250Bk, dies zerfällt aber schon mit einer Halbwertszeit von 3,212 Stunden durch β-Zerfall zu 250Cf.
97
249
B
k
→
(
n
,
γ
)
97
250
B
k
→
3
,
212
h
β
−
98
250
C
f
{\displaystyle \mathrm {^{249}_{\ 97}Bk\ {\xrightarrow {(n,\gamma )}}\ _{\ 97}^{250}Bk\ {\xrightarrow[{3,212\ h}]{\beta ^{-}}}\ _{\ 98}^{250}Cf} }
Das langlebigste Isotop, das 247Bk, kann somit nicht in Kernreaktoren hergestellt werden, so dass man sich oftmals mit dem eher zugänglichen 249Bk begnügen muss. Berkelium steht heute weltweit lediglich in sehr geringen Mengen zur Verfügung, weshalb es einen sehr hohen Preis besitzt. Dieser beträgt etwa 185 US-Dollar pro Mikrogramm 249Bk.Das Isotop 248Bk wurde 1956 durch Beschuss mit 25-MeV α-Teilchen aus einem Gemisch von Curiumnukliden hergestellt. Seine Existenz mit dessen Halbwertszeit von 23 ± 5 Stunden wurde durch das β-Zerfallsprodukt 248Cf festgestellt.247Bk wurde 1965 aus 244Cm durch Beschuss mit α-Teilchen hergestellt. Ein eventuell entstandenes Isotop 248Bk konnte nicht nachgewiesen werden.
96
244
C
m
→
(
α
,
n
)
98
247
C
f
→
3
,
11
h
ϵ
97
247
B
k
{\displaystyle \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow[{}]{(\alpha ,n)}}\ _{\ 98}^{247}Cf\ {\xrightarrow[{3,11\ h}]{\epsilon }}\ _{\ 97}^{247}Bk} }
96
244
C
m
→
(
α
,
p
)
97
247
B
k
{\displaystyle \mathrm {^{244}_{\ 96}Cm\ {\xrightarrow[{}]{(\alpha ,p)}}\ _{\ 97}^{247}Bk} }
Das Berkeliumisotop 242Bk wurde 1979 durch Beschuss von 235U mit 11B, 238U mit 10B, sowie 232Th mit 14N bzw. 15N erzeugt. Es wandelt sich durch Elektroneneinfang mit einer Halbwertszeit von 7,0 ± 1,3 Minuten zum 242Cm um. Eine Suche nach einem zunächst vermuteten Isotop 241Bk blieb ohne Erfolg.
92
235
U
+
5
11
B
⟶
97
242
B
k
+
4
0
1
n
;
90
232
T
h
+
7
14
N
⟶
97
242
B
k
+
4
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{235}_{\ 92}U\ +\ _{\ 5}^{11}B\ \longrightarrow \ _{\ 97}^{242}Bk\ +\ 4\ _{0}^{1}n\quad ;\quad _{\ 90}^{232}Th\ +\ _{\ 7}^{14}N\ \longrightarrow \ _{\ 97}^{242}Bk\ +\ 4\ _{0}^{1}n} }
92
238
U
+
5
10
B
⟶
97
242
B
k
+
6
0
1
n
;
90
232
T
h
+
7
15
N
⟶
97
242
B
k
+
5
0
1
n
{\displaystyle \mathrm {^{238}_{\ 92}U\ +\ _{\ 5}^{10}B\ \longrightarrow \ _{\ 97}^{242}Bk\ +\ 6\ _{0}^{1}n\quad ;\quad _{\ 90}^{232}Th\ +\ _{\ 7}^{15}N\ \longrightarrow \ _{\ 97}^{242}Bk\ +\ 5\ _{0}^{1}n} }
=== Darstellung elementaren Berkeliums ===
Die ersten Proben von Berkeliummetall wurden 1969 durch Reduktion von BkF3 bei 1000 °C mit Lithium in Reaktionsapparaturen aus Tantal hergestellt.
BkF
3
+
3
Li
⟶
Bk
+
3
LiF
{\displaystyle {\ce {BkF3 + 3 Li -> Bk + 3 LiF}}}
Elementares Berkelium kann ferner auch aus BkF4 mit Lithium oder durch Reduktion von BkO2 mit Lanthan oder Thorium dargestellt werden.
3
BkO
2
+
4
La
⟶
3
Bk
+
2
La
2
O
3
{\displaystyle {\ce {3 BkO2 + 4 La -> 3 Bk + 2 La2O3}}}
== Eigenschaften ==
Im Periodensystem steht das Berkelium mit der Ordnungszahl 97 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Curium, das nachfolgende Element ist das Californium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoide ist das Terbium.
=== Physikalische Eigenschaften ===
Berkelium ist ein radioaktives Metall mit silbrig-weißem Aussehen und einem Schmelzpunkt von 986 °C.
Die bei Standardbedingungen auftretende Modifikation α-Bk kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raumgruppe P63/mmc (Raumgruppen-Nr. 194)Vorlage:Raumgruppe/194 mit den Gitterparametern a = 341,6 ± 0,3 pm und c = 1106,9 ± 0,7 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle, einem Metallradius von 170 pm und einer Dichte von 14,78 g/cm3. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La.Bei höheren Temperaturen geht α-Bk in β-Bk über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe Fm3m (Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 mit dem Gitterparameter a = 499,7 ± 0,4 pm, einem Metallradius von 177 pm und einer Dichte von 13,25 g/cm3. Die Kristallstruktur besteht aus einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) entspricht.Die Lösungsenthalpie von Berkelium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −600,2 ± 5,1 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (ΔfH0) von Bk3+(aq) auf −601 ± 5 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Bk3+ / Bk0 auf −2,01 ± 0,03 V.Zwischen 70 K und Raumtemperatur verhält sich Berkelium wie ein Curie-Weiss-Paramagnet mit einem effektiven magnetischen Moment von 9,69 Bohrschen Magnetonen (µB) und einer Curie-Temperatur von 101 K. Beim Abkühlen auf etwa 34 K erfährt Berkelium einen Übergang zu einem antiferromagnetischen Zustand. Dieses magnetische Moment entspricht fast dem theoretischen Wert von 9,72 µB.
=== Chemische Eigenschaften ===
Berkelium ist wie alle Actinoide sehr reaktionsfähig. Es reagiert allerdings nicht schnell mit Sauerstoff bei Raumtemperatur, was möglicherweise auf die Bildung einer schützenden Oxidschicht zurückzuführen ist. Jedoch reagiert es mit geschmolzenen Metallen, Wasserstoff, Halogenen, Chalkogenen und Penteliden zu verschiedenen binären Verbindungen.In wässriger Lösung ist die dreiwertige Oxidationsstufe am beständigsten, jedoch kennt man auch vierwertige und zweiwertige Verbindungen. Wässrige Lösungen mit Bk3+-Ionen haben eine gelbgrüne Farbe, mit Bk4+-Ionen sind sie in salzsaurer Lösung beige, in schwefelsaurer Lösung orange-gelb. Ein ähnliches Verhalten ist für sein Lanthanoidanalogon Terbium zu beobachten.Bk3+-Ionen zeigen zwei scharfe Fluoreszenzpeaks bei 652 nm (rotes Licht) und 742 nm (dunkelrot – nahes Infrarot) durch interne Übergänge in der f-Elektronen-Schale.
=== Spaltbarkeit ===
Berkelium eignet sich anders als die benachbarten Elemente Curium und Californium auch theoretisch nur sehr schlecht als Kernbrennstoff in einem Reaktor. Neben der sehr geringen Verfügbarkeit und dem damit verbundenen hohen Preis kommt hier erschwerend hinzu, dass die günstigeren Isotope mit gerader Massenzahl nur eine geringe Halbwertszeit haben. Das einzig infrage kommende geradzahlige Isotop, 248Bk im Grundzustand, ist nur sehr schwer zu erzeugen, zudem liegen keine ausreichenden Daten über dessen Wirkungsquerschnitte vor.249Bk ist im Prinzip in der Lage, eine Kettenreaktion aufrechtzuerhalten, und damit für einen schnellen Reaktor oder eine Atombombe geeignet. Die kurze Halbwertszeit von 330 Tagen zusammen mit der komplizierten Gewinnung und dem hohen Bedarf vereiteln entsprechende Versuche. Die kritische Masse liegt unreflektiert bei 192 kg, mit Wasserreflektor immer noch 179 kg, ein Vielfaches der Weltjahresproduktion.247Bk kann sowohl in einem thermischen als auch in einem schnellen Reaktor eine Kettenreaktion aufrechterhalten und hat mit 1380 Jahren eine ausreichend große Halbwertszeit, um sowohl als Kernbrennstoff als auch Spaltstoff für eine Atombombe zu dienen. Es kann allerdings nicht in einem Reaktor erbrütet werden und ist damit in der Produktion noch aufwendiger und kostenintensiver als die anderen genannten Isotope. Damit einher geht eine noch geringere Verfügbarkeit, was angesichts der benötigten Masse von mindestens 35,2 kg (kritische Masse mit Stahlreflektor) als Ausschlusskriterium angesehen werden kann.
== Verwendung ==
Die Verwendung für Berkeliumisotope liegt hauptsächlich in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung. 249Bk ist ein gängiges Nuklid zur Synthese noch schwererer Transurane und Transactinoide wie Lawrencium, Rutherfordium und Bohrium. Es dient auch als Quelle für das Isotop 249Cf, welches Studien über die Chemie des Californiums ermöglicht. Es hat den Vorzug vor dem radioaktiveren 252Cf, welches ansonsten durch Neutronenbeschuss im High-Flux-Isotope Reactor (HFIR) erzeugt wird.Eine 22-Milligramm-Probe 249Bk wurde im Jahr 2009 in einer 250-Tage-Bestrahlung hergestellt und dann in einem 90-Tage-Prozess in Oak Ridge gereinigt. Diese Probe führte zu den ersten 6 Atomen des Elements Tenness am Vereinigten Institut für Kernforschung (JINR), Dubna, Russland, nach einem Beschuss mit Calcium-Ionen im U400-Zyklotron für 150 Tage. Diese Synthese war ein Höhepunkt der russisch-amerikanischen Zusammenarbeit zwischen JINR und Lawrence Livermore National Laboratory bei der Synthese der Elemente 113 bis 118, die 1989 gestartet wurde.
== Verbindungen ==
→ Kategorie: Berkeliumverbindung
Obwohl das Isotop 247Bk die längste Halbwertszeit ausweist, ist das Isotop 249Bk leichter zugänglich und wird überwiegend für die Bestimmung der chemischen Eigenschaften herangezogen.
=== Oxide ===
Von Berkelium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Bk2O3) und +4 (BkO2).Berkelium(IV)-oxid (BkO2) ist ein brauner Feststoff und kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur in der Raumgruppe Fm3m (Raumgruppen-Nr. 225)Vorlage:Raumgruppe/225 mit den Koordinationszahlen Cf[8], O[4]. Der Gitterparameter beträgt 533,4 ± 0,5 pm.Berkelium(III)-oxid (Bk2O3) entsteht aus BkO2 durch Reduktion mit Wasserstoff:
2
BkO
2
+
H
2
⟶
Bk
2
O
3
+
H
2
O
{\displaystyle {\ce {2 BkO2 + H2 -> Bk2O3 + H2O}}}
Es ist ein gelbgrüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 1920 °C. Es bildet ein kubisch-raumzentriertes Kristallgitter mit a = 1088,0 ± 0,5 pm.
=== Halogenide ===
Halogenide sind für die Oxidationsstufen +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und auch in wässriger Lösung stabil. Die vierwertige Stufe ist nur in der festen Phase stabilisierbar.
Berkelium(IV)-fluorid (BkF4) ist eine gelbgrüne Ionenverbindung und kristallisiert im monoklinen Kristallsystem und ist isotyp mit Uran(IV)-fluorid.Berkelium(III)-fluorid (BkF3) ist ein gelbgrüner Feststoff und besitzt zwei kristalline Strukturen, die temperaturabhängig sind (Umwandlungstemperatur: 350 bis 600 °C). Bei niedrigen Temperaturen ist die orthorhombische Struktur (YF3-Typ) zu finden. Bei höheren Temperaturen bildet es ein trigonales System (LaF3-Typ).Berkelium(III)-chlorid (BkCl3) ist ein grüner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von 603 °C und kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem. Seine Kristallstruktur ist isotyp mit Uran(III)-chlorid (UCl3). Das Hexahydrat (BkCl3 · 6 H2O) weist eine monokline Kristallstruktur auf.Berkelium(III)-bromid (BkBr3) ist ein gelbgrüner Feststoff und kristallisiert bei niedrigen Temperaturen im PuBr3-Typ, bei höheren Temperaturen im AlCl3-Typ.Berkelium(III)-iodid (BkI3) ist ein gelber Feststoff und kristallisiert im hexagonalen System (BiI3-Typ).Die Oxihalogenide BkOCl, BkOBr und BkOI besitzen eine tetragonale Struktur vom PbFCl-Typ.
=== Chalkogenide und Pentelide ===
Berkelium(III)-sulfid (Bk2S3) wurde entweder durch Behandeln von Berkelium(III)-oxid mit einem Gemisch von Schwefelwasserstoff und Kohlenstoffdisulfid bei 1130 °C dargestellt, oder durch die direkte Umsetzung von metallischem Berkelium mit Schwefel. Dabei entstanden bräunlich-schwarze Kristalle mit kubischer Symmetrie und einer Gitterkonstanten von a = 844 pm.Die Pentelide des Berkeliums (249Bk) des Typs BkX sind für die Elemente Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon dargestellt worden. Ihre Herstellung erfolgt durch die Reaktion von entweder Berkelium(III)-hydrid (BkH3) oder metallischem Berkelium mit diesen Elementen bei erhöhter Temperatur im Hochvakuum in Quarzampullen. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter mit den Gitterkonstanten 495,1 pm für BkN, 566,9 pm für BkP, 582,9 pm für BkAs und 619,1 pm für BkSb.
=== Weitere anorganische Verbindungen ===
Berkelium(III)- und Berkelium(IV)-hydroxid sind beide als Suspension in 1 M Natronlauge stabil und wurden spektroskopisch untersucht. Berkelium(III)-phosphat (BkPO4) wurde als Feststoff dargestellt, der eine starke Fluoreszenz bei einer Anregung durch einen Argon-Laser (514,5 nm-Linie) zeigt.Weitere Salze des Berkeliums sind bekannt, z. B. Bk2O2S, (BkNO3)3 · 4 H2O, BkCl3 · 6 H2O, Bk2(SO4)3 · 12 H2O und Bk2(C2O4)3 · 4 H2O. Eine thermische Zersetzung in einer Argonatmosphäre bei ca. 600 °C (um eine Oxidation zum BkO2 vermeiden) von Bk2(SO4)3 · 12 H2O führt zu raumzentrierten orthorhombischen Kristallen von Berkelium(III)-oxisulfat (Bk2O2SO4). Diese Verbindung ist unter Schutzgas bis mindestens 1000 °C thermisch stabil.Berkeliumhydride werden durch Umsetzung des Metalls mit Wasserstoffgas bei Temperaturen über 250 °C hergestellt. Sie bilden nicht-stöchiometrische Zusammensetzungen mit der nominalen Formel BkH2+x (0 < x < 1). Während die Trihydride eine hexagonale Symmetrie besitzen, kristallisiert das Dihydrid in einer fcc-Struktur mit der Gitterkonstanten a = 523 pm.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Berkelium bildet einen trigonalen (η5–C5H5)3Bk-Komplex mit drei Cyclopentadienylringen, die durch Umsetzung von Berkelium(III)-chlorid mit geschmolzenem Be(C5H5)2 bei etwa 70 °C synthetisiert werden können. Es besitzt eine gelbe Farbe und orthorhombische Symmetrie mit den Gitterkonstanten a = 1411 pm, b = 1755 pm und c = 963 pm sowie einer berechneten Dichte von 2,47 g/cm3. Der Komplex ist bis mindestens 250 °C stabil und sublimiert bei ca. 350 °C. Die hohe Radioaktivität bewirkt allerdings eine schnelle Zerstörung der Verbindungen innerhalb weniger Wochen. Ein C5H5-Ring im (η5–C5H5)3Bk kann durch Chlor ersetzt werden, wobei das dimere [Bk(C5H5)2Cl]2 entsteht. Das optische Absorptionsspektrum dieser Verbindung ist sehr ähnlich zum (η5–C5H5)3Bk.
== Sicherheitshinweise ==
Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt.
== Literatur ==
David E. Hobart and Joseph R. Peterson: Berkelium; in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1444–1498 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_10).
Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Transurane: Teil A 1 I, S. 38–40; Teil A 1 II, S. 19, 326–336; Teil B 1, S. 72–76.
The Solution Absorption Spectrum of Bk3+ and the Crystallography of Berkelium Dioxide, Sesquioxide, Trichloride, Oxychloride, and Trifluoride, Ph.D. Thesis, Joseph Richard Peterson, October 1967, U. S. Atomic Energy Commission Document Number UCRL-17875 (1967).
J. R. Peterson, D. E. Hobart: The Chemistry of Berkelium; in: Harry Julius Emeleus (Hrsg.): Advances in inorganic chemistry and radiochemistry, Volume 28, Academic Press, 1984, ISBN 0-12-023628-1, S. 29–64 (doi:10.1016/S0898-8838(08)60204-4, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
G. T. Seaborg (Hrsg.): Proceedings of the 'Symposium Commemorating the 25th Anniversary of the Discovery of Elements 97 and 98', 20. Januar 1975; Report LBL-4366, Juli 1976.
== Weblinks ==
Eintrag zu Berkelium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 3. Januar 2015.
Amanda Yarnell: Berkelium, Chemical & Engineering News, 2003.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Berkelium |
Enzym | = Enzym =
Ein Enzym, auch Ferment genannt, ist ein Stoff, der aus biologischen Großmolekülen besteht und als Katalysator bestimmte chemische Reaktionen beschleunigen kann. Die katalysierte Reaktion kann zwar prinzipiell auch ohne das jeweilige Enzym ablaufen, doch sehr viel langsamer. Die meisten Enzyme sind Proteine; gebildet werden sie in der Zelle wie die meisten anderen Proteine über die Proteinbiosynthese an den Ribosomen, auch die nichtribosomalen Peptidsynthetasen. Ausnahmen hiervon sind Nukleinsäuren mit katalytischer Aktivität, so natürlich vorkommende RNA wie snRNA als Ribozym oder künstlich hergestellte katalytisch aktive DNA (Desoxyribozym).
Enzyme haben wichtige Funktionen im Stoffwechsel von Organismen. Mit der enzymatischen Katalyse regulieren Zellen Energiefluss und Umsatz über die von ihnen bevorzugten Stoffwechselwege. Enzyme steuern den überwiegenden Teil biochemischer Reaktionen – von der Transkription (RNA-Polymerase) und der Replikation (DNA-Polymerase) der Erbinformationen bis hin zur Verdauung.
== Wortherkunft und Geschichte der Enzymforschung ==
Menschen nutzen seit mehreren tausend Jahren die Wirkung von Enzymen wie jener von Hefen und Bakterien; so ist bekannt, dass die Sumerer bereits 3000 v. Chr. Bier brauten, Brot backten und Käse herstellten. Für den Gebrauch von Bier- oder Backhefe, wie beim Maischen oder im Hefeteig, und die damit eingeleiteten Vorgänge der Gärung entstand die Bezeichnung „Fermentation“, noch ohne Kenntnis der Existenz von Bakterien (bzw. der mikrobiellen Hefepilze) und ihrer Wirkung durch Enzyme.
Die Wörter Fermentation und Ferment hielten im 15. Jahrhundert Einzug in die deutsche Sprache, sie gehen auf das lateinische Wort fermentum (Gärung) zurück. Diesen Ausdruck verwendet Columella etwa 60 n. Chr. auch für das Auflockern und Quellen des Bodens, während Seneca etwa gleicher Zeit in seinen Epistulae damit einen Gärungsvorgang bezeichnet, den er für die Bildung von Honig als nötig ansah. Mit dieser Bedeutung als „Gärungsmittel“ oder „Sauerteig“ wurde das Wort Ferment aus dem Lateinischen entlehnt, und davon fermentieren, Fermentation sowie Fermenter abgeleitet.Die ersten Gärungsprozesse beschrieben Paracelsus und Andreas Libavius. Die ersten Versuche zur Erklärung kamen von Johann Baptist van Helmont und Georg Ernst Stahl. Nachdem René Réaumur 1752 die Verdauung bei Vögeln untersucht und herausgestellt hatte, dass Greifvögel keinen Körner zerkleinernden Muskelmagen haben, sondern im Magen eine Flüssigkeit absondern, konnte Lazzaro Spallanzani 1783 belegen, dass allein deren Magensaft schon hinreicht Fleisch zu verflüssigen. Damit war die Theorie eines nur mechanischen Verdauungsprozesses widerlegt.Die erste unmittelbare Nutzung von Enzymen ohne die Mitbeteiligung von Mikroorganismen erfolgte durch den deutschen Apotheker Constantin Kirchhoff im Jahre 1811, als er entdeckte, dass man durch Erhitzen von Stärke unter Beigabe von Schwefelsäure größere Mengen Zucker herstellen kann. Der französische Chemiker Anselme Payen verfeinerte 1833 den Prozess; da man zu dieser Zeit annahm, dass man den Zucker lediglich von der Stärke trenne, bezeichnete man diesen Prozess als „Diastase“ (griechisch für trennen); heute wird der Begriff „Diastase“ synonym zu Amylase verwendet. Es folgte die Entdeckung von Erhard Friedrich Leuchs im Jahre 1831, dass der menschliche Mundspeichel Stärke scheinbar verzuckere. 1833 wurde von Eilhard Mitscherlich der Begriff „Ferment“ im Zusammenhang mit einem Stoff gebraucht, der bei einer Reaktion nicht verwandelt wird, aber zum Kontakt für eine Reaktion erforderlich ist. 1835 wurde die Diastase vom schwedischen Chemiker Jöns Jakob Berzelius als chemischer Prozess mit der Einwirkung von katalytischen Kräften vermutet.
1837 entdeckten die drei Wissenschaftler Charles Cagniard de la Tour, Theodor Schwann und Friedrich Traugott Kützing unabhängig voneinander, dass Hefe aus Mikroorganismen besteht. Louis Pasteur wies 1862 nach, dass Mikroorganismen für die Fermentation verantwortlich sind; er schlussfolgerte, dass die Fermentation durch eine vitale Kraft erfolge, die in der Schimmelzelle vorhanden sei, welche er „Fermente“ nannte, die nicht mit dem Tod der Schimmelzelle an Wirkung verlieren.
1878 führte Wilhelm Friedrich Kühne das heutige neoklassische Kunstwort Enzym (altgriechisch ἔνζυμον énzymon) ein, abgeleitet von ἐν- en-, „in-“, und ζύμη zýmē, welches ebenfalls „der Sauerteig“ oder „die Hefe“ bedeutet, der Sinn ist daher „das in Sauerteig/Hefe Enthaltene“ (nämlich der die Gärung auslösende oder beeinflussende Stoff). Dieser Begriff hielt dann Einzug in die internationale Wissenschaft und ist nun auch Bestandteil der neugriechischen Sprache.Kühne grenzte den Begriff Enzyme als Bezeichnung für außerhalb lebender Zellen wirksame Biokatalysatoren jedoch von Fermenten ab, die ihre Wirkung nach Pasteurs Auffassung nur innerhalb lebender Zellen entfalten könnten.Einen weiteren Meilenstein stellen die Untersuchungen zur Enzymspezifität von Emil Fischer dar. Er postulierte um 1890, dass Enzyme und ihr Substrat sich wie ein Schloss und der passende Schlüssel verhalten. 1897 entdeckte Eduard Buchner anhand der alkoholischen Gärung, dass Enzyme auch ohne die lebende Zelle katalytisch wirken können; 1907 erhielt er für den Nachweis einer Zell-freien Fermentation den Nobelpreis. 1903 schafften Eduard Buchner und Jakob Meisenheimer es, Mikroorganismen, die Milch- und Essigsäuregärung auslösten, abzutöten, ohne ihre Enzymwirkung zu beeinflussen. Der deutsche Chemiker Otto Röhm isolierte 1908 erstmals Enzyme und entwickelte Verfahren zur enzymatischen Ledergerbung, Fruchtsaftreinigung sowie eine Reihe diagnostischer Anwendungen.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die chemische Komposition von Enzymen noch unbekannt. Man vermutete, dass Enzyme aus Protein bestehen und ihre enzymatische Aktivität mit ihrer Struktur assoziiert sei. Andere Wissenschaftler wie Richard Willstätter argumentierten jedoch, dass Proteine nur Träger der „echten Enzyme“ wären und von sich aus unfähig wären eine katalytische Reaktion einzuleiten. James B. Sumner zeigte 1926, dass das Enzym Urease ein pures Protein ist, und war fähig es zu kristallisieren. Die letzten Zweifel zur Komposition von Enzymen wurden von John H. Northop und Wendell M. Stanley ausgeräumt, als diese 1930 nachwiesen, dass Pepsin, Trypsin und Chymotrypsin aus purem Protein bestehen. Northrop und Stanley erhielten dafür 1946 den Nobelpreis für Chemie.Die Erkenntnis, wie man Enzyme kristallisiert, erlaubte es den Forschern nun durch Kristallstrukturanalyse die Struktur und die Funktionsweise von Enzymen auf atomarem Level aufzuklären. In den Jahren 1930 bis 1939 konnten die Kristallstrukturen von elf weiteren Enzymen aufgedeckt werden. Die erste Aminosäuresequenz, die von einem Enzym komplett entschlüsselt war, ist die der Ribonuklease. Dieser Schritt gelang Stanford Moore und William Howard Stein. 1969 synthetisierte Robert Bruce Merrifield dann die gesamte Sequenz der Ribonuklease mit der nach ihm benannten Technik (Merrifield-Synthese). Gleichzeitig schafften dies auch R. G. Denkewalter und R. Hirschmann.In den 1980er Jahren wurden katalytische Antikörper von Richard Lerner entdeckt, die eine Enzymaktivität aufwiesen, nachdem gegen ein dem Übergangszustand nachempfundenes Molekül immunisiert wurde. Linus Pauling hatte bereits 1948 vermutet, dass Enzyme dem Übergangszustand ähnliche Moleküle besonders gut binden. Ende der 1980er Jahre wurde entdeckt, dass auch RNA im Organismus katalytische (enzymatische) Aktivität entfalten kann (Ribozym). 1994 wurde das erste Desoxyribozym, GR-5, entwickelt.Forscher wie Leonor Michaelis und Maud Menten leisteten Pionierarbeit in der Erforschung der Enzymkinetik mit der Formulierung der Michaelis-Menten-Theorie.
== Nomenklatur und Klassifikation nach IUPAC und IUBMB ==
=== Nomenklatur ===
Die IUPAC und die IUBMB haben zusammen eine sogenannte Nomenklatur der Enzyme erarbeitet, die diese homogene und zahlreiche Vertreter enthaltende Gruppe der Moleküle klassifiziert. Hierzu erarbeitete die IUPAC Prinzipien der Nomenklatur:
Enzymnamen haben die Endung (oder das Suffix) „-ase“, wenn das betreffende Enzym chemische oder organische Verbindungen auftrennt oder spaltet (wie beispielsweise die „Hydrolasen“ oder „Proteasen“) oder neuverbindet (wie beispielsweise die „Oxidasen“ oder „Telomerase“).
Der Enzymname soll erklärend sein, also die Reaktion, die das Enzym katalysiert, beschreiben. (Beispiel: Cholinesterase: Ein Enzym, das die Estergruppe im Cholin-Molekül hydrolysiert.)
Der Enzymname soll seine Klassifikation (siehe unten) enthalten. (Beispiel: Cholinesterase)Außerdem wurde ein Codesystem, das EC-Nummern-System, entwickelt, in dem die Enzyme unter einem Zahlencode aus vier Zahlen eingeteilt werden. Die erste Zahl bezeichnet eine der sieben Enzymklassen. Listen aller erfassten Enzyme gewährleisten ein schnelleres Auffinden des angegebenen Enzymcodes, z. B. bei BRENDA. Zwar orientieren sich die Codes an Eigenschaften der Reaktion, die das Enzym katalysiert, in der Praxis erweisen sich Zahlencodes jedoch als unhandlich. Häufiger gebraucht werden systematische, nach den oben genannten Regeln konzipierte Namen. Probleme der Nomenklatur ergeben sich etwa bei Enzymen, die mehrere Reaktionen katalysieren. Für sie existieren deshalb manchmal mehrere Namen. Einige Enzyme tragen Trivialnamen, die nicht erkennen lassen, dass es sich bei der genannten Substanz um Enzyme handelt. Da die Namen traditionell eine breite Verwendung fanden, wurden sie teilweise beibehalten (Beispiele: die Verdauungsenzyme Trypsin und Pepsin des Menschen).
=== Klassifikation ===
Enzyme werden entsprechend der von ihnen katalysierten Reaktion in sieben Enzymklassen eingeteilt:
EC 1: Oxidoreduktasen, die Redoxreaktionen katalysieren.
EC 2: Transferasen, die funktionelle Gruppen von einem Substrat auf ein anderes übertragen.
EC 3: Hydrolasen, die Bindungen unter Einsatz von Wasser spalten.
EC 4: Lyasen, die die Spaltung oder Synthese komplexerer Produkte aus einfachen Substraten katalysieren, allerdings ohne Verbrauch von Adenosintriphosphat (ATP) oder eines anderen Nukleosidtriphosphats (NTP).
EC 5: Isomerasen, die die Umwandlung von chemischen Isomeren beschleunigen.
EC 6: Ligasen oder Synthetasen, die Additionsreaktionen mithilfe von ATP (oder eines anderen NTP) katalysieren. Eine Umkehrreaktion (Spaltung) ist meist energetisch ungünstig und findet nicht statt.
EC 7: Translokasen, den Transport von Stoffen an oder durch Zellmembranen.Manche Enzyme sind in der Lage, mehrere, zum Teil sehr unterschiedliche Reaktionen zu katalysieren. Ist dies der Fall, werden sie mehreren Enzymklassen zugerechnet.
== Aufbau ==
Enzyme lassen sich anhand ihres Aufbaus unterscheiden. Während viele Enzyme aus nur einer Polypeptidkette bestehen, so genannte Monomere, bestehen andere Enzyme, die Oligomere, aus mehreren Untereinheiten/Proteinketten. Einige Enzyme lagern sich mit weiteren Enzymen zu sogenannten Multienzymkomplexen zusammen und kooperieren oder regulieren sich gegenseitig. Umgekehrt gibt es auch einzelne Proteinketten, welche mehrere, verschiedene Enzymaktivitäten ausüben können (multifunktionelle Enzyme). Eine weitere mögliche Einteilung hinsichtlich ihres Aufbaus berücksichtigt das Vorhandensein von Kofaktoren:
Reine Protein-Enzyme bestehen ausschließlich aus Proteinen. Das aktive Zentrum wird nur aus Aminosäureresten und dem Peptidrückgrat gebildet. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise das Verdauungsenzym Chymotrypsin und die Triosephosphatisomerase (TIM) der Glykolyse.
Holoenzyme (altgr. ὅλος holos „ganz“, „vollständig“ und -enzym) bestehen aus einem Proteinanteil, dem Apoenzym, sowie aus einem Kofaktor, einem niedermolekularen Molekül (kein Protein). Beide zusammen sind für die Funktion des Enzyms wichtig. Organische Moleküle als Kofaktoren werden Koenzyme genannt. Sind sie kovalent an das Apoenzym gebunden, nennt man sie prosthetische Gruppen, andernfalls zutreffender Kosubstrat, da sie in äquivalenten Mengen bei der enzymatischen Reaktion mit dem Substrat umgesetzt werden. Kosubstrate sind zum Beispiel Adenosintriphosphat (ATP) und Nicotinamidadenindinukleotid (NAD). ATP wird oft als Energiequelle für die Reaktion von Proteinkinasen genutzt. NAD wird von Enzymen, wie der Alkoholdehydrogenase, als Elektronenakzeptor verwendet. Benötigt ein Enzym Metallionen (Eisen-, Zink- oder Kupferionen), spricht man von einem Metalloenzym. Die Lipoxygenase zum Beispiel enthält Eisen und die Carboanhydrase enthält Zink.Eine spezielle Gruppe bilden die Protein-RNA-Komplexe bzw. Protein-Ribozym-Komplexe, Beispiele hierfür sind die Telomerasen. Auch die Ribosomen sind solche Komplexe.
== Funktion ==
Enzyme sind Biokatalysatoren. Sie beschleunigen biochemische Reaktionen, indem sie die Aktivierungsenergie herabsetzen, die überwunden werden muss, damit es zu einer Stoffumsetzung kommt. Damit wird die Reaktionsrate erhöht (siehe Theorie des Übergangszustandes). Theoretisch ist eine enzymatische Umsetzung reversibel, d. h., die Produkte können wieder in die Ausgangsstoffe umgewandelt werden. Die Ausgangsstoffe (Edukte) einer Enzymreaktion, die Substrate, werden im so genannten aktiven Zentrum des Enzyms gebunden, es bildet sich ein Enzym-Substrat-Komplex. Das Enzym ermöglicht nun die Umwandlung der Substrate in die Reaktionsprodukte, die anschließend aus dem Komplex freigesetzt werden. Wie alle Katalysatoren liegt das Enzym nach der Reaktion wieder in der Ausgangsform vor. Enzyme zeichnen sich durch hohe Substrat- und Reaktionsspezifität aus, unter zahlreichen Stoffen wählen sie nur die passenden Substrate aus und katalysieren genau eine von vielen denkbaren Reaktionen.
=== Energetische Grundlagen der Katalyse ===
Die meisten biochemischen Reaktionen würden ohne Enzyme in den Lebewesen nur mit vernachlässigbarer Geschwindigkeit ablaufen. Wie bei jeder spontan ablaufenden Reaktion muss die freie Reaktionsenthalpie (
Δ
G
{\displaystyle \Delta G}
) negativ sein. Das Enzym beschleunigt die Einstellung des chemischen Gleichgewichts – ohne es zu verändern. Die katalytische Wirksamkeit eines Enzyms beruht einzig auf seiner Fähigkeit, in einer chemischen Reaktion die Aktivierungsenergie
(
Δ
G
‡
)
{\displaystyle (\Delta G^{\ddagger })}
zu senken: das ist der Energiebetrag, der zunächst investiert werden muss, um die Reaktion in Gang zu setzen. Während dieser wird das Substrat zunehmend verändert, es nimmt einen energetisch ungünstigen Übergangszustand ein. Die Aktivierungsenergie ist nun der Energiebetrag, der benötigt wird, um das Substrat in den Übergangszustand zu zwingen. Hier setzt die katalytische Wirkung des Enzyms an: Durch nicht-kovalente Wechselwirkungen mit dem Übergangszustand stabilisiert es diesen, so dass weniger Energie benötigt wird, um das Substrat in den Übergangszustand zu bringen. Das Substrat kann wesentlich schneller in das Reaktionsprodukt umgewandelt werden, da ihm gewissermaßen ein Weg „geebnet“ wird.
=== Das aktive Zentrum – strukturelle Grundlage für Katalyse und Spezifität ===
Für die katalytische Wirksamkeit eines Enzyms ist das aktive Zentrum (katalytisches Zentrum) verantwortlich. An dieser Stelle bindet es das Substrat und wird danach „aktiv“ umgewandelt. Das aktive Zentrum besteht aus gefalteten Teilen der Polypeptidkette oder reaktiven Nicht-Eiweiß-Anteilen (Kofaktoren, prosthetische Gruppen) des Enzymmoleküls und bedingt eine Spezifität der enzymatischen Katalyse. Diese Spezifität beruht auf der Komplementarität der Raumstruktur und der oberflächlich möglichen Wechselwirkungen zwischen Enzym und Substrat. Es kommt zur Bildung eines Enzym-Substrat-Komplexes.
Die Raumstruktur des aktiven Zentrums bewirkt, dass nur ein strukturell passendes Substrat gebunden werden kann. Veranschaulichend passt ein bestimmtes Substrat zum entsprechenden Enzym wie ein Schlüssel in das passende Schloss (Schlüssel-Schloss-Prinzip). Dies ist der Grund für die hohe Substratspezifität von Enzymen. Neben dem Schlüssel-Schloss-Modell existiert das nicht starre Induced fit model: Da Enzyme flexible Strukturen sind, kann das aktive Zentrum durch Interaktion mit dem Substrat neu geformt werden.
Bereits kleine strukturelle Unterschiede in Raumstruktur oder Ladungsverteilung des Enzyms können dazu führen, dass ein dem Substrat ähnlicher Stoff nicht mehr als Substrat erkannt wird. Glucokinase beispielsweise akzeptiert Glucose als Substrat, deren Stereoisomer Galactose jedoch nicht. Enzyme können verschieden breite Substratspezifität haben, so bauen Alkohol-Dehydrogenasen neben Ethanol auch andere Alkohole ab und Hexokinase IV akzeptiert neben der Glucose auch andere Hexosen als Substrat.
Die Erkennung und Bindung des Substrats gelingt durch nicht-kovalente Wechselwirkungen (Wasserstoffbrücken, elektrostatische Wechselwirkung oder hydrophobe Effekte) zwischen Teilen des Enzyms und des Substrats. Die Bindung des Enzyms muss stark genug sein, um das oft gering konzentrierte Substrat (mikro- bis millimolare Konzentrationen) zu binden, sie darf jedoch nicht zu stark sein, da die Reaktion nicht mit der Bindung des Substrates endet. Wichtig ist eine noch stärkere Bindung des Übergangszustandes der Reaktion und damit dessen Stabilisierung. Nicht selten nehmen zwei Substrate an einer Reaktion teil, das Enzym muss dann die richtige Orientierung der Reaktionspartner zueinander garantieren. Diese letzteren mechanistischen Eigenheiten einer enzymatischen Reaktion sind die Grundlage der Wirkungsspezifität eines Enzyms. Es katalysiert immer nur eine von vielen denkbaren Reaktionen der Substrate. Die Aktivität von Enzymen wird teilweise durch Pseudoenzyme (Varianten von Enzymen ohne Enzymaktivität) reguliert.
=== Katalytische Mechanismen ===
Obwohl die Mechanismen enzymatischer Reaktionen im Detail vielgestaltig sind, nutzen Enzyme in der Regel eine oder mehrere der folgenden katalytischen Mechanismen.
Bevorzugte Bindung des Übergangszustandes
Die Bindung des Übergangszustandes ist stärker als die Bindung der Substrate und Produkte, daraus resultiert eine Stabilisierung des Übergangszustandes.
Orientierung und Annäherung von Substraten
Die Bindung zweier Substrate in der passenden Orientierung und Konformation kann die Reaktionsgeschwindigkeit erheblich erhöhen, da die reaktiven Gruppen der Moleküle in die richtige Lage zueinander kommen und für die Reaktion günstige Konformationen der Moleküle stabilisiert werden.
Allgemeine Säure-Basen-Katalyse
Aminosäurereste beispielsweise von Histidin reagieren als Säure oder Base, indem sie während einer Reaktion Protonen (H+-Ionen) aufnehmen oder abgeben.
Kovalente Katalyse
Aminosäurereste oder Koenzyme gehen kovalente Bindungen mit einem Substrat ein und bilden ein kurzlebiges Zwischenprodukt. In der Regel sind bei solchen Reaktionen nukleophile Aminosäure-Seitenketten (beispielsweise Lysin-Seitenketten mit Aminogruppe) oder Koenzyme wie Pyridoxalphosphat beteiligt.
Metallionen-Katalyse
Metallionen können als strukturstabilisierende Koordinationszentren, Redox-Partner (oft Eisen- oder Kupfer-Ionen) oder als Lewis-Säuren (häufig Zink-Ionen) die Katalyse unterstützen. Sie können negative Ladungen stabilisieren bzw. abschirmen oder Wassermoleküle aktivieren.
== Enzymkinetik ==
Die Enzymkinetik beschäftigt sich mit dem zeitlichen Verlauf enzymatischer Reaktionen. Eine zentrale Größe hierbei ist die Reaktionsgeschwindigkeit. Sie ist ein Maß für die Änderung der Substratkonzentration mit der Zeit, also für die Stoffmenge Substrat, die pro Reaktionsvolumen und pro Zeitspanne umgesetzt wird (Einheit: mol/(l·s)). Neben den Reaktionsbedingungen wie Temperatur, Salzkonzentration und pH-Wert der Lösung hängt sie von den Konzentrationen des Enzyms, der Substrate und Produkte sowie von Effektoren (Aktivatoren oder Inhibitoren) ab.
Im Zusammenhang mit der Reaktionsgeschwindigkeit steht die Enzymaktivität. Sie gibt an, wie viel aktives Enzym sich in einer Enzym-Präparation befindet. Die Einheiten der Enzymaktivität sind Unit (U) und Katal (kat), wobei 1 U definiert ist als diejenige Menge Enzym, welche unter angegebenen Bedingungen ein Mikromol Substrat pro Minute umsetzt: 1 U = 1 µmol/min. Katal wird selten benutzt, ist jedoch die SI-Einheit der Enzymaktivität: 1 kat = 1 mol/s. Eine weitere wichtige Messgröße bei Enzymen ist die spezifische Aktivität (Aktivität pro Masseneinheit, U/mg). Daran kann man sehen, wie viel von dem gesamten Protein in der Lösung wirklich das gesuchte Enzym ist.
Die gemessene Enzymaktivität ist proportional zur Reaktionsgeschwindigkeit und damit stark von den Reaktionsbedingungen abhängig. Sie steigt mit der Temperatur entsprechend der RGT-Regel an: eine Erhöhung der Temperatur um ca. 5–10 °C führt zu einer Verdoppelung der Reaktionsgeschwindigkeit und damit der Aktivität. Dies gilt jedoch nur für einen begrenzten Temperaturbereich. Bei Überschreiten einer optimalen Temperatur kommt es zu einem steilen Abfallen der Aktivität durch Denaturierung des Enzyms. Änderungen im pH-Wert der Lösung haben oft dramatische Effekte auf die Enzymaktivität, da dieser die Ladung einzelner für die Katalyse wichtiger Aminosäuren im Enzym beeinflussen kann. Jenseits des pH-Optimums vermindert sich die Enzymaktivität und kommt irgendwann zum Erliegen. Ähnliches gilt für die Salzkonzentration bzw. die Ionenstärke in der Umgebung.
=== Michaelis-Menten-Theorie ===
Ein Modell zur kinetischen Beschreibung einfacher Enzymreaktionen ist die Michaelis-Menten-Theorie (MM-Theorie).
Sie liefert einen Zusammenhang zwischen der Reaktionsgeschwindigkeit v einer Enzymreaktion sowie der Enzym- und Substratkonzentration [E0] und [S]. Grundlage ist die Annahme, dass ein Enzym mit einem Substratmolekül einen Enzym-Substrat-Komplex bildet und dieser entweder in Enzym und Produkt oder in seine Ausgangsbestandteile zerfällt. Was schneller passiert, hängt von den jeweiligen Geschwindigkeitskonstanten k ab.
Das Modell besagt, dass mit steigender Substratkonzentration auch die Reaktionsgeschwindigkeit steigt. Das geschieht anfangs linear und flacht dann ab, bis eine weitere Steigerung der Substratkonzentration keinen Einfluss mehr auf die Geschwindigkeit des Enzyms hat, da dieses bereits mit Maximalgeschwindigkeit Vmax arbeitet. Die MM-Gleichung lautet wie folgt:
v
=
k
c
a
t
[
E
0
]
[
S
0
]
K
m
+
[
S
0
]
{\displaystyle v={k_{cat}[E_{0}][S_{0}] \over K_{m}+[S_{0}]}}
Die Parameter Km (Michaeliskonstante) und kcat (Wechselzahl) sind geeignet, Enzyme kinetisch zu charakterisieren, d. h. Aussagen über ihre katalytische Effizienz zu treffen. Ist Km beispielsweise sehr niedrig, heißt das, das Enzym erreicht schon bei niedriger Substratkonzentration seine Maximalgeschwindigkeit und arbeitet damit sehr effizient. Bei geringen Substratkonzentrationen ist die Spezifitätskonstante kcat/ Km ein geeigneteres Maß für die katalytische Effizienz. Erreicht sie Werte von mehr als 108 bis 109 M−1 s−1, wird die Reaktionsgeschwindigkeit nur noch durch die Diffusion der Substrat- und Enzymmoleküle begrenzt. Jeder zufällige Kontakt von Enzym und Substrat führt zu einer Reaktion. Enzyme, die eine solche Effizienz erreichen, nennt man „katalytisch perfekt“.
=== Kooperativität und Allosterie ===
Einige Enzyme zeigen nicht die hyperbolische Sättigungskurve, wie sie die Michaelis-Menten-Theorie vorhersagt, sondern ein sigmoides Sättigungsverhalten. So etwas wurde erstmals bei Bindeproteinen wie dem Hämoglobin beschrieben und wird als positive Kooperativität mehrerer Bindungsstellen gedeutet: die Bindung eines Liganden (Substratmolekül) beeinflusst weitere Bindungsstellen im gleichen Enzym (oft aber in anderen Untereinheiten) in ihrer Affinität. Bei positiver Kooperativität hat ein Bindeprotein mit vielen freien Bindungsstellen eine schwächere Affinität als ein größtenteils besetztes Protein. Bindet derselbe Ligand an alle Bindungszentren, spricht man von einem homotropen Effekt. Die Kooperativität ist bei Enzymen eng mit der Allosterie verknüpft. Unter Allosterie versteht man das Vorhandensein weiterer Bindungsstellen (allosterischen Zentren) in einem Enzym, abgesehen vom aktiven Zentrum. Binden Effektoren (nicht Substratmoleküle) an allosterische Zentren, liegt ein heterotroper Effekt vor. Die Allosterie ist zwar begrifflich von der Kooperativität zu unterscheiden, dennoch treten sie oft gemeinsam auf.
=== Mehrsubstrat-Reaktionen ===
Die bisherigen Überlegungen gelten nur für Reaktionen, an denen ein Substrat zu einem Produkt umgesetzt wird. Viele Enzyme katalysieren jedoch die Reaktion zweier oder mehrerer Substrate bzw. Kosubstrate. Ebenso können mehrere Produkte gebildet werden. Bei reversiblen Reaktionen ist die Unterscheidung zwischen Substrat und Produkt ohnehin relativ. Die Michaelis-Menten-Theorie gilt für eines von mehreren Substraten nur, wenn das Enzym mit den anderen Substraten gesättigt ist.
Für Mehrsubstrat-Reaktionen sind folgende Mechanismen vorstellbar:
Sequenzieller Mechanismus
Die Substrate binden nacheinander an das Enzym. Haben alle Substrate gebunden, liegt ein zentraler Komplex vor. In diesem findet die Umwandlung der Substrate zu den Produkten statt, welche anschließend der Reihe nach aus dem Komplex entlassen werden. Man unterscheidet dabei zwischen:Zufalls-Mechanismus (engl. random): Die Reihenfolge der Substratbindung ist zufällig.
Geordneter Mechanismus (engl. ordered): Die Reihenfolge der Bindung ist festgelegt.Ping-Pong-Mechanismus
Die Bindung von Substrat und die Freisetzung von Produkt erfolgen abwechselnd. Erst bindet Substrat A an das Enzym und wird als erstes Produkt P abgespalten. Dabei wird das Enzym modifiziert. Dann wird das zweite Substrat B aufgenommen und reagiert zu einem zweiten Produkt Q. Das Enzym hat wieder seine Ausgangsgestalt.
=== Enzymhemmung ===
Als Enzymhemmung (Inhibition) bezeichnet man die Herabsetzung der katalytischen Aktivität eines Enzyms durch einen spezifischen Hemmstoff (Inhibitor). Grundlegend unterscheidet man die irreversible Hemmung, bei der ein Inhibitor eine unter physiologischen Bedingungen nicht umkehrbare Verbindung mit dem Enzym eingeht (so wie Penicillin mit der D-Alanin-Transpeptidase), von der reversiblen Hemmung, bei der der gebildete Enzym-Inhibitor-Komplex wieder in seine Bestandteile zerfallen kann. Bei der reversiblen Hemmung unterscheidet man wiederum zwischen
kompetitiver Hemmung – das Substrat konkurriert mit dem Inhibitor um die Bindung an das aktive Zentrum des Enzyms. Der Inhibitor ist aber nicht enzymatisch umsetzbar und stoppt dadurch die Enzymarbeit, indem er das aktive Zentrum blockiert;
allosterische Hemmung (auch nicht-kompetitive Hemmung) – der Inhibitor bindet am allosterischen Zentrum und verändert dadurch die Konformation des aktiven Zentrums, sodass das Substrat dort nicht mehr binden kann;
unkompetitive Hemmung – der Inhibitor bindet an den Enzym-Substrat-Komplex und verhindert dadurch die katalytische Umsetzung des Substrates zum Produkt.
Endprodukthemmung – das Endprodukt einer Reihe von enzymatischen Umsetzungen blockiert das Enzym 1 und beendet so die Umwandlung des Ausgangssubstrates in das Produkt. Diese negative Rückkopplung sorgt bei einigen Stoffwechselprozessen für mengenmäßige Begrenzung der Produktion.
== Regulation und Kontrolle der Enzymaktivität im Organismus ==
Enzyme wirken im lebenden Organismus in einem komplexen Geflecht von Stoffwechselwegen zusammen. Um sich schwankenden inneren und äußeren Bedingungen optimal anpassen zu können, ist eine feine Regulation und Kontrolle des Stoffwechsels und der zugrundeliegenden Enzyme nötig. Unter Regulation versteht man Vorgänge, die der Aufrechterhaltung stabiler innerer Bedingungen bei wechselnden Umweltbedingungen (Homöostase) dienen. Als Kontrolle bezeichnet man Veränderungen, die auf Grund von externen Signalen (beispielsweise durch Hormone) stattfinden. Es gibt schnelle/kurzfristige, mittelfristige sowie langsame/langfristige Regulations- und Kontrollvorgänge im Stoffwechsel:
=== Kurzfristige Anpassung ===
Schnelle Veränderungen der Enzymaktivität erfolgen als direkte Antwort der Enzyme auf veränderte Konzentrationen von Stoffwechselprodukten, wie Substrate, Produkte oder Effektoren (Aktivatoren und Inhibitoren). Enzymreaktionen, die nahe am Gleichgewicht liegen, reagieren empfindlich auf Veränderungen der Substrat- und Produktkonzentrationen. Anhäufung von Substrat beschleunigt die Hinreaktion, Anhäufung von Produkt hemmt die Hinreaktion und fördert die Rückreaktion (kompetitive Produkthemmung). Allgemein wird aber den irreversiblen Enzymreaktionen eine größere Rolle bei der Stoffwechselregulation und Kontrolle zugeschrieben.
Von großer Bedeutung ist die allosterische Modulation. Substrat- oder Effektormoleküle, die im Stoffwechsel anfallen, binden an allosterische Zentren des Enzyms und verändern seine katalytische Aktivität. Allosterische Enzyme bestehen aus mehreren Untereinheiten (entweder aus gleichen oder aus verschiedenen Proteinmolekülen). Die Bindung von Substrat- oder Hemmstoff-Molekülen an eine Untereinheit führt zu Konformationsänderungen im gesamten Enzym, welche die Affinität der übrigen Bindungsstellen für das Substrat verändern. Eine Endprodukt-Hemmung (Feedback-Hemmung) entsteht, wenn das Produkt einer Reaktionskette auf das Enzym am Anfang dieser Kette allosterisch hemmend wirkt. Dadurch entsteht automatisch ein Regelkreis.
=== Mittelfristige Anpassung ===
Eine häufige Form der Stoffwechselkontrolle ist die kovalente Modifikation von Enzymen, besonders die Phosphorylierung. Wie durch einen molekularen Schalter kann das Enzym beispielsweise nach einem hormonellen Signal durch phosphat-übertragende Enzyme (Kinasen) ein- oder ausgeschaltet werden. Die Einführung einer negativ geladenen Phosphatgruppe zieht strukturelle Änderungen im Enzym nach sich und kann prinzipiell sowohl aktive als auch inaktive Konformationen begünstigen. Die Abspaltung der Phosphatgruppe durch Phosphatasen kehrt diesen Vorgang um, so dass eine flexible Anpassung des Stoffwechsels an wechselnde physiologische Anforderungen möglich ist.
=== Langfristige Anpassung ===
Als langfristige Reaktion auf geänderte Anforderungen an den Stoffwechsel werden Enzyme gezielt abgebaut oder neugebildet. Die Neubildung von Enzymen wird über die Expression ihrer Gene gesteuert. Eine solche Art der genetischen Regulation bei Bakterien beschreibt das Operon-Modell von Jacob und Monod. Der kontrollierte Abbau von Enzymen in eukaryotischen Zellen kann durch Ubiquitinierung realisiert werden. Das Anheften von Polyubiquitin-Ketten an Enzyme, katalysiert durch spezifische Ubiquitin-Ligasen, markiert diese für den Abbau im Proteasom, einem „Müllschlucker“ der Zelle.
== Biologische Bedeutung ==
Enzyme haben eine hohe biologische Bedeutung, sie spielen die zentrale Rolle im Stoffwechsel aller lebenden Organismen. Nahezu jede biochemische Reaktion wird von Enzymen bewerkstelligt und kontrolliert. Bekannte Beispiele sind Glycolyse und Citrat-Zyklus, Atmungskette und Photosynthese, Transkription und Translation sowie die DNA-Replikation. Enzyme wirken nicht nur als Katalysatoren, sie sind auch wichtige Regulations- und Kontrollpunkte im Stoffwechselgeschehen.
Die Bedeutung der Enzyme beschränkt sich jedoch nicht auf den Stoffwechsel, auch bei der Reizaufnahme und -weitergabe sind sie wichtig. An der Signaltransduktion, also der Vermittlung einer Information innerhalb einer Zelle, sind häufig Rezeptoren mit enzymatischer Funktion beteiligt. Auch Kinasen, wie die Tyrosinkinasen und Phosphatasen spielen bei der Weitergabe von Signalen eine entscheidende Rolle. Die Aktivierung und Deaktivierung der Träger der Information, also der Hormone, geschehen durch Enzyme.
Weiterhin sind Enzyme an der Verteidigung des eigenen Organismus beteiligt, so sind zum Beispiel diverse Enzyme wie die Serinproteasen des Komplementsystems Teil des unspezifischen Immunsystems des Menschen.
Fehler in Enzymen können fatale Folgen haben. Durch solche Enzymdefekte ist die Aktivität eines Enzyms vermindert oder gar nicht mehr vorhanden. Manche Enzymdefekte werden genetisch vererbt, d. h., das Gen, das die Aminosäuresequenz des entsprechenden Enzyms codiert, enthält eine oder mehrere Mutationen oder fehlt ganz. Beispiele für vererbbare Enzymdefekte sind die Phenylketonurie und Galaktosämie.
Artifizielle Enzyme (beispielsweise in Brotteig, die beim Backvorgang nicht denaturiert werden,) bergen das Risiko Allergien auszulösen.
== Verwendung und Auftreten im Alltag ==
Enzyme sind wertvolle Werkzeuge der Biotechnologie. Ihre Einsatzmöglichkeiten reichen von der Käseherstellung (Labferment) über die Enzymatik bis hin zur Gentechnik. Für bestimmte Anwendungen entwickeln Wissenschaftler heute gezielt leistungsfähigere Enzyme durch Protein-Engineering. Zudem konstruierte man eine neuartige Form katalytisch aktiver Proteine, die katalytischen Antikörper, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu den Enzymen Abzyme genannt wurden. Auch Ribonukleinsäuren (RNA) können katalytisch aktiv sein; diese werden dann als Ribozyme bezeichnet.
Enzyme werden unter anderem in der Industrie benötigt. Waschmitteln und Geschirrspülmitteln fügt man Lipasen (Fett spaltende Enzyme), Proteasen (Eiweiß spaltende Enzyme) und Amylasen (Stärke spaltende Enzyme) zur Erhöhung der Reinigungsleistung hinzu, weil diese Enzyme die entsprechenden Flecken in Kleidung oder Speisereste am Geschirr zersetzen.
Enzyme werden auch zur Herstellung einiger Medikamente und Insektenschutzmittel verwendet. Bei der Käseherstellung wirkt das Labferment mit, ein Enzym, das aus Kälbermägen gewonnen wurde.
Viele Enzyme können heute mit Hilfe von gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellt werden.
Die in rohen Ananas, Kiwifrüchten und Papayas enthaltenen Enzyme verhindern das Erstarren von Tortengelatine, ein unerwünschter Effekt, wenn beispielsweise ein Obstkuchen, der rohe Stücke dieser Früchte enthält, mit einem festen Tortengelatinebelag überzogen werden soll. Das Weichbleiben des Übergusses tritt nicht bei der Verwendung von Früchten aus Konservendosen auf, diese werden pasteurisiert, wobei die eiweißabbauenden Enzyme deaktiviert werden.Beim Schälen von Obst und Gemüse werden pflanzliche Zellen verletzt und in der Folge Enzyme freigesetzt. Dadurch kann das geschälte Gut (bei Äpfeln und Avocados gut ersichtlich) durch enzymatisch unterstützte Reaktion von Flavonoiden oder anderen empfindlichen Inhaltsstoffen mit Luftsauerstoff braun werden. Ein Zusatz von Zitronensaft wirkt dabei als Gegenmittel. Die im Zitronensaft enthaltene Ascorbinsäure verhindert die Oxidation oder reduziert bereits oxidierte Verbindungen (Zusatz von Ascorbinsäure als Lebensmittelzusatzstoff).
In der Medizin spielen Enzyme eine wichtige Rolle. Viele Arzneimittel hemmen Enzyme oder verstärken ihre Wirkung, um eine Krankheit zu heilen. Prominentester Vertreter solcher Arzneistoffe ist wohl die Acetylsalicylsäure, die das Enzym Cyclooxygenase hemmt und somit unter anderem schmerzlindernd wirkt.
=== Enzyme in der Technik ===
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Einsatzgebiete von Enzymen. Zur Herstellung siehe Protein.
=== Einsatz von Enzymen für Plastikrecycling ===
Enzyme kommen auch für das Recycling von Plastik zum Einsatz. Diese müssen ausreichend hitzestabil sein, d. h., sie müssen Temperaturen um die 70 Grad aushalten. Die französische Firma Carbios hat ein Enzym gefunden, das Polyethylenterephthalat (PET) in seine Monomere (Ethylenglycol und Terephthalsäure) zerlegt. Die Flaschen müssen vor dem Erhitzen zuerst verkleinert werden. Am Ende des Prozesses steht ein Plastikgranulat, das für neue PET-Produkte verwendet werden kann. Trotz des relativ hohen Aufwands wird das Verfahren als lohnend bewertet, da die Ausgaben sich nur auf etwa 4 % der Kosten belaufen, die für die Produktion neuer Plastikflaschen aus Rohöl anfallen.
=== Bedeutung von Enzymen in der medizinischen Diagnostik ===
Die Diagnostik verwendet Enzyme, um Krankheiten zu entdecken. In den Teststreifen für Diabetiker befindet sich zum Beispiel ein Enzymsystem, das unter Einwirkung von Blutzucker einen Stoff produziert, dessen Gehalt gemessen werden kann. So wird indirekt der Blutzuckerspiegel gemessen. Man nennt diese Vorgehensweise eine „enzymatische Messung“. Sie wird auch in medizinischen Laboratorien angewandt, zur Bestimmung von Glucose (Blutzucker) oder Alkohol. Enzymatische Messungen sind relativ einfach und preisgünstig anzuwenden. Man macht sich dabei die Substratspezifität von Enzymen zu Nutze. Es wird also der zu analysierenden Körperflüssigkeit ein Enzym zugesetzt, welches das zu messende Substrat spezifisch umsetzen kann. An der entstandenen Menge von Reaktionsprodukten kann man dann ablesen, wie viel des Substrats in der Körperflüssigkeit vorhanden war.
Im menschlichen Blut sind eine Reihe von Enzymen anhand ihrer Aktivität direkt messbar. Die im Blut zirkulierenden Enzyme entstammen teilweise spezifischen Organen. Es können daher anhand der Erniedrigung oder Erhöhung von Enzymaktivitäten im Blut Rückschlüsse auf Schädigungen bestimmter Organe gezogen werden. So kann eine Bauchspeicheldrüsenentzündung durch die stark erhöhte Aktivität der Lipase und der Pankreas-Amylase im Blut erkannt werden.
== Literatur ==
Jeremy M. Berg, John L. Tymoczko, Lubert Stryer: Biochemie. 5. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg – Berlin 2003, ISBN 3-8274-1303-6.
David Fell: Understanding the Control of Metabolism. Portland Press Ltd, London 1997, 2003, ISBN 1-85578-047-X.
Alfred Schellenberger (Hrsg.): Enzymkatalyse. Einführung in die Chemie, Biochemie und Technologie der Enzyme. Gustav Fischer Verlag, Jena 1989, ISBN 3-540-18942-4.
Donald Voet, Judith G. Voet: Biochemistry. 3. Auflage. John Wiley & Sons Inc., London 2004, ISBN 0-471-39223-5.
Maria-Regina Kula: Enzyme in der Technik. Chemie in unserer Zeit, 14. Jahrg. 1980, Nr. 2, S. 61–70, doi:10.1002/ciuz.19800140205
Brigitte Osterath, Nagaraj Rao, Stephan Lütz, Andreas Liese: Technische Anwendung von Enzymen: Weiße Wäsche und Grüne Chemie. Chemie in unserer Zeit 41(4), S. 324–333 (2007), doi:10.1002/ciuz.200700412
Otto Westphal, Theodor Wieland, Heinrich Huebschmann: Lebensregler. Von Hormonen, Vitaminen, Fermenten und anderen Wirkstoffen. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1941 (= Frankfurter Bücher. Forschung und Leben. Band 1), insbesondere S. 57–64 (Geschichte der Fermentforschung).
== Weblinks ==
IUBMB – Verzeichnis und Nomenklatur der Enzyme
BRENDA umfangreiche Enzymdatenbank
ExploreEnz – The Enzyme Database
Enzymdatenbank mit Suchmaschine
KEGG Metabolic Pathway Database (graphische Darstellungen der biochemischen Reaktionen mit den dazugehörigen, systematisch identifizierten Enzymen)
Auswahl von Enzymen, die Brotteig zugesetzt werden
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Enzym |
Johannes Calvin | = Johannes Calvin =
Johannes Calvin (* 10. Juli 1509 in Noyon, Picardie; † 27. Mai 1564 in Genf) war einer der einflussreichsten systematischen Theologen unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk, die Institutio Christianae Religionis, wird als eine „protestantische Summa“ bezeichnet.Die Verfolgung der französischen Protestanten unter König Franz I. zwang den Juristen, Humanisten und theologischen Autodidakten Calvin wie viele Gleichgesinnte zu einem Leben im Untergrund, schließlich zur Flucht aus Frankreich. Die Stadtrepublik Genf hatte bei seiner Ankunft dort (1536) gerade erst die Reformation eingeführt. Der Reformator Guillaume Farel machte Calvin zu seinem Mitarbeiter. Nach zweijähriger Tätigkeit wurden Farel und Calvin vom Stadtrat ausgewiesen. Martin Bucer lud Calvin nach Straßburg ein. 1539 erhielt er eine Professur für Theologie an der Hohen Schule von Straßburg. Außerdem war er Pfarrer der französischen Flüchtlingsgemeinde.
Als ihn der Stadtrat von Genf zurückrief, war Calvins Stellung wesentlich stärker als bei seinem ersten Genfer Aufenthalt. Er hatte Erfahrungen mit der Gemeindeorganisation gewonnen, die ihm jetzt zugutekamen. Im Herbst 1541 kam Calvin nach Genf und arbeitete umgehend eine Kirchenordnung aus. Calvins Rückhalt in den folgenden Jahren war das Pastorenkollegium (Compagnie des pasteurs). Der starke Zuzug verfolgter Hugenotten veränderte die Bevölkerungsstruktur Genfs und die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat, was 1555 zur Entmachtung der Calvin-kritischen Ratsfraktion führte. Die 1559 gegründete Akademie profitierte vom Ruf Calvins und machte Genf zum Ziel von Studenten aus mehreren europäischen Staaten.
Calvins Wirken in Genf war durch schwere Konflikte gekennzeichnet, unter denen zwei hervorstechen:
Die Vertreibung Jérôme-Hermès Bolsecs. Er hatte Calvins Prädestinationslehre kritisiert, wurde deshalb 1551 aus Genf ausgewiesen und verfasste später eine viel rezipierte, polemische Calvin-Biografie.
Die Hinrichtung des Antitrinitariers Michel Servet (1553). Calvin hatte bereits die Römische Inquisition, die Servet im französischen Vienne verhörte, mit Belastungsmaterial versorgt. Servet floh vor seiner Hinrichtung nach Genf; dort wurde er auf Betreiben Calvins ebenfalls vor Gericht gestellt. Es war ein politischer Prozess, den der Kleine Rat der Stadt an sich zog. Calvin war daran als theologischer Gutachter, nicht als Richter beteiligt. Er befürwortete das Todesurteil und rechtfertigte es nachträglich gegen die Kritik des Basler Humanisten Sebastian Castellio.Calvins theologisches Hauptwerk ist die Institutio Christianae Religionis, die aber zusammengesehen werden sollte mit Calvins Bibelkommentaren. Die Institutio ist einerseits aus dem Bibelstudium erwachsen, andererseits aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den altkirchlichen Dogmen und den Schriften der Kirchenväter, besonders Augustinus von Hippo. Das Zentrum von Calvins Theologie wird unterschiedlich bestimmt: die Majestät Gottes (Benjamin B. Warfield) oder Christus als der Mittler (Wilhelm Niesel); die doppelte Prädestination ist ein Nebenthema. Die Kirchenordnung hatte für Calvin religiöse Relevanz, denn die Kirche solle in ihrer Gestalt ihrem Auftrag entsprechen. Kirchenzucht sei sowohl für die Integrität der Kirche als auch für die persönliche Heiligung der Mitglieder unverzichtbar.
== Name ==
Der Reformator hieß eigentlich Jehan (Jean) Cauvin ([ʒɑ̃ koːvɛ̃]). Bereits als Jugendlicher, bei Studienbeginn in Paris, latinisierte er seinen Namen: aus Jean Cauvin wurde Ioannes Calvinus. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass reale und fiktive Personen namens Calvinus in der Antike mehrfach bezeugt sind, unter anderem ein fiktiver Schriftsteller Calvinus in Martials Epigrammen.Im französischen Sprachraum ist heute die re-gallizierte Namensform Jean Calvin ([ʒɑ̃ kalvɛ̃]) üblich, im deutschen Sprachraum dagegen Johannes Calvin ([joˈhanəs kalˈviːn] oder, in der Schweiz, [joˈhanəs ˈkalviːn]).
== Leben ==
=== Herkunftsfamilie ===
Jean Cauvin stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie der Bischofsstadt Noyon in der Picardie. Sein Vater Gérard Cauvin war von Pont-l’Évêque hierher zugezogen und arbeitete als Jurist und Finanzberater für den Bischof Charles I. de Hangest und das Domkapitel. Seine erste Ehefrau Jeanne le Franc verstarb früh, von ihr ist wenig bekannt. Der gemeinsame Sohn Jean wurde am 10. Juli 1509 geboren und von einem Domherrn namens Jean de Vatines getauft. Er hatte einen älteren Bruder Charles, einen jüngeren Bruder Antoine und eine Schwester Marie. Weitere Geschwister starben früh. Auch mit Bezug auf den Beruf des Vaters formuliert Wilhelm H. Neuser, Calvin sei „im Schatten einer großen Kathedrale aufgewachsen“; die in der Familie gelebte Frömmigkeit scheint ganz dem damals Üblichen entsprochen zu haben.
=== Jugend und Studium in Paris, Orléans und Bourges ===
Gérard Cauvin sah seinen Sohn Jean, wie schon den älteren Bruder Antoine, für die geistliche Laufbahn vor. Mit etwa sieben Jahren trat er ins Collège des Capettes in Noyon ein, eine Elementarschule. Durch den Kontakt des Vaters zu der adligen Familie de Hangest-Montmort hatte Jean Cauvin Umgang mit den etwa gleichaltrigen Brüdern Jean und Claude de Hangest, den Neffen des Bischofs von Noyon. Er durfte auf Kosten seines eigenen Vaters an deren Hausunterricht teilnehmen und lernte so auch aristokratische Umgangsformen. (Calvin widmete Claude de Hangest, mittlerweile Abt von St. Eligius in Noyon, 1532 seinen Senecakommentar und erinnerte im Vorwort an den gemeinsamen „Unterricht in Leben und Gelehrsamkeit“.) Am 19. Mai 1521, kurz vor seinem zwölften Geburtstag, erhielt er einen Teil einer Pfründe der Kathedrale von Noyon und wurde so zum Kleriker. Das erforderte eine Dispens, da der Junge das kanonische Alter noch nicht erreicht hatte; das war aber nur eine Formalität. Die Pfründe war eine Art Stipendium für das geplante Theologiestudium.
Wahrscheinlich kurz darauf, noch im Jahr 1521 (so Peter Opitz) oder aber 1523/24 (so Wilhelm H. Neuser) kam Calvin gemeinsam mit den Brüdern Jean und Claude de Hangest und deren Tutor nach Paris. Die Universität von Paris bestand aus zahlreichen Kollegien. Einige Monate verbrachte Calvin am Collège de la Marche, um seine Lateinkenntnisse zur Vorbereitung auf das eigentliche Studium zu perfektionieren. Zu seinem Lateinlehrer Mathurin Cordier hatte Calvin eine sehr positive Beziehung. Der Tutor veranlasste aber schon bald, dass Calvin ins Collège de Montaigu wechselte, wo er in Philosophie und Disputationstechnik ausgebildet wurde. Das Collège stand unter der Leitung von Noël Béda, der als Gegner des Bibelhumanismus bekannt war. Vor Calvin hatten bereits Erasmus von Rotterdam und François Rabelais die angesehene Einrichtung besucht, die nach ihren relativ unerfreulichen Erinnerungen eine „Stätte des harten römischen Konservativismus“ (Peter Opitz) war. Wohl etwas später als Calvin studierte Ignatius von Loyola hier. Es scheint, dass Calvin nicht im Internat lebte, sondern als Externer in der Nähe ein Zimmer bewohnte. Er schloss sein Studium an der Artistenfakultät mit dem Magistergrad ab.
Hier deuteten sich wohl schon die Konflikte Gérard Cauvins mit dem Domkapitel von Noyon an, die später eskalierten. (1528 wurde er als Disziplinierungsmaßnahme mit dem Kleinen Kirchenbann belegt: er sollte eine Erbschaftsangelegenheit regeln und hatte sich wegen Krankheit entschuldigen lassen. Nach seinem Tod konnte er deswegen nicht in geweihter Erde bestattet werden.)
Calvin fügte sich den väterlichen Plänen. In Paris konnte man nur das Kanonische Recht studieren, und so wechselte er etwa 1526 an die Universität Orléans zum Studium des Zivilrechts. Damit sah Gérard Cauvin für seinen Sohn eine Karriere als Anwalt oder Richter vor, aber nicht (wie er selbst) im Dienst der Kirche. Calvin hätte nun ein freieres Studentenleben führen können als auf dem Collège de Montaigu; aber er befolgte einen selbstgeschaffenen strikten Lernplan. Der bedeutendste Jurist in Orléans war Pierre de L’Estoile. Er vertrat einen konservativen Zugang zu den Texten. Eine Art Gegenpol war der Humanist Andrea Alciato, der 1529 den Lehrstuhl für Jurisprudenz an der Universität Bourges erhielt. Calvins erster im Druck erschienener Text war ein Vorwort zur Antapologia seines Studienfreundes Nicholas Duchemin (datiert 6. März 1529), in dem dieser seinen akademischen Lehrer Pierre de L’Estoile gegen die Kritik Andrea Alciatos verteidigte. Calvin nahm in seinem Vorwort eine vermittelnde Position ein. Er wechselte im Verlauf des Jahres 1529 von Orléans nach Bourges, um Alciato zu hören.Mit der Aufnahme des Jurastudiums kam Calvin auch mit dem Humanismus in Kontakt, von dem er auf dem Collège de Montaigu abgeschirmt gewesen war. Duchemin und andere Studienfreunde waren humanistisch interessiert, der für Calvin prägendste Kontakt war jedoch der zu Melchior Volmar in Bourges. Bei ihm nahm er Griechischunterricht und lernte das Neue Testament in der Ursprache zu lesen. Volmars theologische Ansichten und sein Einfluss auf Calvins Entwicklung zum Protestanten sind aber nicht genauer bekannt. Ähnliches gilt auch für Calvins Cousin Pierre-Robert Olivétan. Er beherrschte Hebräisch und Griechisch und übersetzte die Bibel ins Französische (Bible d’Olivétan). Olivétans Aufenthalte in Paris und Orléans fallen zeitlich mit denen Calvins zusammen.
Calvins Hinwendung zur Reformation war keine plötzliche Bekehrung. Er selbst schrieb von Fortschritten im Bibelstudium, die ihn der Heiligen- und Bilderverehrung allmählich entfremdeten. Neuser datiert diese Entwicklung in die Jahre 1528/29, als Calvin in Orléans Jura studierte. Eine Zeit der Unsicherheit schloss sich an, in der Calvin sich an den Positionen des bekannten Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples orientierte und in der Öffentlichkeit nicht als Anhänger der Reformation in Erscheinung trat. Lefèvre d’Étaples hielt es zwar für wichtig, das Evangelium zu predigen (Evangelisme), forderte aber keine Änderungen des Gottesdienstes.Im Mai 1531 kehrte Calvin nach Noyon zurück, weil sein Vater schwer erkrankt war. Sein Tod am 26. Mai war für Calvin eine Zäsur, denn er fühlte sich nicht länger verpflichtet, eine juristische Karriere zu verfolgen, und konnte seinen humanistischen Interessen nachgehen. Dazu zog er nach Paris und besuchte Vorlesungen am Collège des trois langues. Er studierte Altgriechisch bei Pierre Danès, wie er in einem Brief erwähnte; dass er auch Hebräischunterricht bei François Vatable nahm, ist wahrscheinlich. Calvin gehörte zu einem Kreis von Reformhumanisten, der sich im Haus von Étienne de la Forge traf. Hier dürften auch Schriften von Martin Luther und Huldrych Zwingli diskutiert worden sein. In seiner ersten selbständigen Publikation trat Calvin im April 1532 als ambitionierter junger Humanist hervor. Es war ein Kommentar zu Senecas Schrift De clementia („Über die Milde“). Erasmus von Rotterdam hatte sie ediert und zu ihrem Studium aufgerufen. Das setzte Calvin nun um und zeigte, dass er das philologische Instrumentarium beherrschte.Wahrscheinlich kehrte Calvin nach der Veröffentlichung seines Seneca-Kommentars noch einmal nach Orléans zurück (1532/33) und schloss dort sein Jurastudium ab. Im Herbst 1533 war Calvin dann wieder in Paris und erlebte die Auseinandersetzungen zwischen reformhumanistischen und konservativen Akteuren mit. Calvin zeigte in einem Brief an François Daniel in Orléans (27. Oktober 1533) seine Sympathie für die Reformer. Margarete von Navarra, die Schwester des französischen Königs Franz I., protegierte die Reformer und stand deshalb in der Kritik. Nicolas Cop nutzte seine Antrittsrede als Rektor der Universität Paris zur Verteidigung Margaretes (1. November 1533). Diese Rede ist eine Auslegung der Seligpreisungen der Bergpredigt im Sinne eines Bibelhumanismus, der mit Erasmus, Martin Bucer und vielleicht auch Philipp Melanchthon vertraut war. Cop war mit Calvin befreundet; in der Forschung wird deshalb diskutiert, wie weit seine Rede Calvins Handschrift trägt. Théodore de Bèze, ein späterer Mitarbeiter Calvins, schrieb, Calvin habe diese Rede für Cop verfasst. Während die Artistenfakultät und die Medizinische Fakultät hinter Cop standen, hatte er die Theologische und die Juristische Fakultät gegen sich. Ein Haftbefehl des Parlaments zwang ihn zur Flucht nach Basel. Auch Calvin ging nun in den Untergrund. Seine Wohnung am Collège Fortet wurde durchsucht, seine Briefe beschlagnahmt.
=== Leben im Untergrund: Angoulême und Basel (1533–1536) ===
Das Königreich Navarra bot den religiösen Dissidenten mehr Schutz als Paris oder auch Orléans. Calvins Studienfreund Louis du Tillet, Kanoniker der Kathedrale von Angoulême und seit 1532 Pfarrer im benachbarten Ort Claix, gab ihm ein Quartier. Im Schloss von Angoulême konnte Calvin die Bibliothek der Familie Du Tillet für das Studium der Bibel und der Kirchenväter nutzen. Das waren Vorarbeiten für die 1536 in Basel gedruckte „Unterweisung in der christlichen Religion“ (Institutio Christianae Religionis). Die wichtigste Quelle für Calvins Aufenthalt in Angoulême ist das Werk des Florimond de Raemond (1623), eines Autors der Gegenreformation, der weitere Details über Calvins Aktivitäten dort zu wissen beansprucht. Wilhelm H. Neuser zufolge ist diese Quelle unbrauchbar, da Fiktion und historische Erinnerung nicht mehr zu trennen seien.Calvin war mittlerweile 25 Jahre alt und konnte die Priesterweihe empfangen; er entschied sich dagegen. Am 4. Mai 1534 reiste er deshalb nach Noyon und gab seine Pfründe offiziell zurück. Streng genommen hätte er sich auch vertreten lassen können, doch geht die Forschung allgemein von einem Besuch Calvin in seinem Herkunftsort aus. Das Datum steht für Calvins Bruch mit der Papstkirche.Die Plakataffäre (Affaire des Placards) markiert das Ende der relativ toleranten Religionspolitik in Frankreich. Der Anlass dafür war ein Text, in dem die Feier der Heiligen Messe und die Transsubstantiationslehre als Werk des Antichristen diffamiert wurden. Dieser Angriff auf das Allerheiligste Sakrament des Altares traf ins Zentrum spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Nach einer ersten Flugblattaktion des Protestanten Antoine Marcourt im Oktober 1534 hatte die altgläubige Seite vorwiegend mit Hostieninszenierungen, etwa durch Prozessionen, reagiert. Das galt als kollektive Buße der Bevölkerung für die Schmähung des Sakraments, war daneben aber auch ein Weg, die Menschen zu mobilisieren und den öffentlichen Raum zu besetzen. Der zweiten Flugblattaktion des gleichen Autors im Januar 1535 folgten landesweite Verhaftungen von Tätern, Mitwissern und verdächtigen „Lutheranern“ (Luthériens). Die monatelange Repression endete mit einem Amnestieangebot für reuige Protestanten (Edikt von Coucy, 16. Juli 1535). Von Oktober 1534 bis Juli 1535 waren allein in Paris 24 Menschen hingerichtet worden, „in so kurzer Zeit wurden nie zuvor und nie danach so viele Todesurteile gegen ‚Ketzer‘ in einer französischen Stadt vollsteckt.“ Eines der Opfer war Étienne de la Forge, in dessen Haus Calvin in seiner Pariser Zeit verkehrt hatte. Du Tillet und Calvin flohen gemeinsam über Metz und Straßburg nach Basel, wo sie wahrscheinlich Anfang 1535 eintrafen.Die Hinrichtung von Häretikern auf dem Scheiterhaufen war in den 1530er Jahren in Frankreich eine Neuerung und wurde aufwändig inszeniert, deshalb auch nur an ausgesuchten, relativ wenigen Einzelpersonen vollzogen. Es war die Elite der (inhaftierten) Protestanten, die so starb. Das Ziel war, diese Personen zu erniedrigen, vollständig zu vernichten und damit die von ihnen in Frage gestellte alte religiöse Ordnung symbolisch wieder in Kraft zu setzen. Die zuschauende Menge war in diesen Anfangsjahren vorwiegend neugierig, im späteren Verlauf aber immer aggressiver gegenüber den Todeskandidaten und ihren Sympathisanten, so dass das inszenierte Ritual der Obrigkeit entglitt und es zu Lynchjustiz und Tumulten kam.
Am 23. August 1535 schrieb Calvin einen Brief an König Franz I., in dem er für die Opfer der Protestantenverfolgung Partei ergriff und die Vorwürfe gegen sie zu entkräften suchte. Es wurde als Widmungsschreiben der 1536 gedruckten Institutio vorangestellt.Calvin lebte in Basel im Untergrund, so dass für diese anderthalb Jahre nur wenige direkte Quellen vorhanden sind. Es war indes eine für Calvins Entwicklung wichtige Zeit: Erstmals trat er in den Kommunikationsraum der oberdeutsch-schweizerischen Reformation ein, die maßgeblich durch Huldrych Zwingli in Zürich und Johannes Oekolampad in Basel geprägt war. Beide waren im Jahr 1531 verstorben. Als Calvin nach Basel kam, amtierte dort Oswald Myconius als leitender Pfarrer (Antistes), ein Schüler Zwinglis. In Basel begegnete Calvin Heinrich Bullinger, dem Zürcher Reformator. Er freundete sich mit Simon Grynaeus an und besuchte seine Römerbriefvorlesung.
Calvin verfasste unter seinem vollen Namen eine Vorrede für die Olivétanbibel; die Abkehr von Jacques Lefèvre d’Étaples wird deutlich. Ein mit den Initialen V. F. C. versehenes weiteres Vorwort bezeichnet die Juden als „das mit uns verbundene und konföderierte Volk des Sinaibundes“; diese Formulierung stammt nicht von Calvin selbst, aber aus seinem Umfeld.Im März 1536 druckten Thomas Platter und Balthasar Lasius in Basel Calvins lateinische Erstfassung der Institutio, deren Text weitgehend in Frankreich verfasst worden war. Dieses Werk machte Calvin bekannt. Es gibt starke Gemeinsamkeiten mit Luthers Kleinem Katechismus und generell Berührungen mit Luthers Theologie, aber Calvin fügte weitere Themen hinzu, so dass die Institutio eine komplette, wenn auch knappe Dogmatik darstellt. Sehr kennzeichnend ist, wie Calvin den Ausgangspunkt der Theologie bestimmt: Erkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis des Menschen (cognitio Dei ac nostri).
=== Erste Genfer Zeit (1536–1538) ===
Das Genf des Jahres 1536 war keine Metropole wie Basel, Bern oder Zürich, hatte aber durch einen Burgrechtsvertrag mit Bern und Freiburg die städtische Unabhängigkeit vom Bischof errungen. Diesen Bischofssitz hatten Mitglieder des Hauses Savoyen traditionell innegehabt, nun galt es, sich dem politischen Zugriff des Herzogtums Savoyens zu entziehen. Genf war damit erfolgreich, gewann „als einzige Stadt Europas seine Unabhängigkeit und wurde eine selbstregierte Stadtrepublik.“ (Philip Benedict) Die Kehrseite dieser Unabhängigkeit von Savoyen war allerdings, so Volker Reinhardt, die politische Anlehnung an die „europäische Großmacht Bern.“Genfs Übergang zum Protestantismus war weniger religiös motiviert gewesen als vielmehr ein Schritt der Emanzipation von Savoyen. Guillaume Farel war 1532 mit einem Berner Geleitbrief nach Genf gekommen. Zunächst hatte sich der Stadtrat gegen Veränderungen gesträubt, aber nach einem Bildersturm im Sommer 1535 war für Farel der Weg frei, neue Regeln des religiösen und bürgerlichen Alltags in Kraft zu setzen: Gottesdienstreformen, Abschaffung der Heiligenverehrung, Verbot von Prostitution, Tanz und Wirtshäusern, eine Neuordnung des Schulwesens und der Armenfürsorge. Nachdem die Stadt Bern Anfang 1536 die Waadt erobert hatte und damit das Umland von Genf kontrollierte, hatte die „Allgemeine Versammlung“ (Conseil général) der Genfer am 21. Mai 1536 gelobt, nach dem „heiligen evangelischen Gesetz und Wort Gottes“ leben zu wollen.Im Frühjahr 1536 reisten Johannes Calvin und Louis du Tillet von Basel nach Ferrara. Sie besuchten den Hof der Herzogin Renée de France; hier hielten sich viele protestantische Flüchtlinge aus Frankreich auf. Die Religionsverfolgung wurde im Sommer 1536 in Frankreich vorübergehend ausgesetzt, damit Personen aus dem Exil zurückkehren und der Häresie abschwören könnten. Calvin nutzte dies, um Erbschaftsfragen in seiner Familie zu klären. Am 2. Juni 1536 traf er deshalb mit seinen Brüdern Charles und Antoine in Paris zusammen. Anschließend wollte er nach Straßburg reisen, war aber gezwungen, einen Umweg über Genf zu nehmen. Als er dort im Juli 1536 eintraf, war er gerade 27 Jahre alt, aber durch die Institutio kein Unbekannter mehr. Deshalb suchte ihn der rund 20 Jahre ältere Guillaume Farel auf und setzte ihn unter Druck, in Genf zu bleiben und sich dort am Aufbau einer reformierten Kirche zu beteiligen. Diese Episode aus Calvins Biografie kann aber auch eine nachträgliche Stilisierung der Ereignisse sein, die begründen sollte, warum Calvin, ein Jurist ohne theologische Ausbildung und ohne Ordination, in Genf die Aufgaben eines Pfarrers wahrnahm.Am 5. September 1536 ernannte der Stadtrat von Genf Calvin zum Lektor. Er hielt fortan Vorträge in der Kathedrale St. Peter und leitete Gottesdienste. In den folgenden zwei Jahren wirkte Calvin stets als Mitarbeiter Farels, der die Agenda bestimmte.
Anfang Oktober 1536 nahm Calvin an einer Disputation in Lausanne teil. Der Rat von Bern hatte die französischsprachigen katholischen Geistlichen der Waadt hierhin eingeladen; man plante, sie in einer theologischen Diskussion für die Anliegen der Reformation zu gewinnen, um sie anschließend als Seelsorger auf dem Lande einsetzen zu können. Es war allerdings kein großer Erfolg: von etwa 160 katholischen Pfarrern, die in Lausanne erschienen waren, ließen sich weniger als 20 überzeugen. In zeitlicher Nähe zur Disputation von Lausanne, vermutlich früher, verfasste Calvin einen französischen Katechismus für die Einwohner Genfs, inhaltlich eine Zusammenfassung der Institutio in ihrer Erstfassung von 1536. Farel kürzte Calvins Text erheblich, erweiterte ihn aber auch um Passagen, die die Erfahrungen der Disputation von Lausanne spiegeln. Die Papstkirche, die in Calvins Katechismus nicht explizit kritisiert worden war, wird nun als teuflisch gebrandmarkt: Ortskirchen, die sich Rom unterstellen, seien „eher Synagogen des Teufels als christliche Kirchen.“Mitte Januar 1537 beantragte Farel im Namen der Pastorenschaft beim Stadtrat von Genf, Reformen einzuführen, die einen deutlichen Bruch mit dem Katholizismus darstellten:
Regelmäßige Feier des Abendmahls (idealerweise wöchentlich, zunächst aber monatlich);
Vollmacht der Geistlichen, Gemeindeglieder vom Abendmahlsempfang auszuschließen (Exkommunikation);
Psalmengesang der Gemeinde anstelle des Chorgesangs;
Katechismusunterricht der Jugend;
Abschaffung der päpstlichen Eheverbote; Einsetzung eines Ehegerichts aus Ratsmitgliedern, in dem Pfarrer als Berater beteiligt sind.Dass Calvin diese Maßnahmen mittrug, führte dazu, dass sein damals engster Freund Louis du Tillet zu ihm auf Distanz ging. Er zog im Sommer 1537 zunächst von Genf nach Straßburg und kehrte dann nach Frankreich zurück, wo er seinen Frieden mit der römisch-katholischen Kirche machte. Er meinte, dass es in dieser Kirche schwere Missstände gebe. Aber es blieb die Kirche, in die er hineingetauft war. An Calvin schrieb er, dieser neige dazu, sein Urteil mit dem Urteil Gottes zu verwechseln. Menschen wie du Tillet waren für Calvin „Nikodemiten“: Wie die biblische Figur Nikodemus hatten sie die Wahrheit erkannt, verweigerten aber die Konsequenz – in diesem Fall den Bruch mit der Papstkirche. Die „Nikodemiten“-Polemik zieht sich ab 1537 (Epistolae duae) durch Calvins Werk; seine Argumentation mit biblischen Paradigmen erschwert es für Historiker, die tatsächlichen Positionen der so diffamierten Personen zu erkennen.Pierre Caroli, der seit November 1537 als Pfarrer von Lausanne amtierte, stammte wie Calvin aus dem Humanistenkreis um Jacques Lefèvre d’Étaples und war ebenfalls nach der Plakataffäre aus Frankreich geflohen. Er verstand sich als Protestant, vertrat aber konservativere Ansichten als Farel und Calvin. Als ihm das vorgeworfen wurde, bezichtigte er die Genfer Pfarrer des Arianismus und forderte sie auf, um sich vom Verdacht der Häresie zu reinigen, das Athanasische Glaubensbekenntnis (Athanasianum) zu unterschreiben. Calvin wurde also eine häretische Abweichung von der Trinitätslehre unterstellt. Er weigerte sich, eine Unterschrift zu leisten, weil er Caroli die Autorität bestritt, ihn dazu zu nötigen. Dabei ließ er aber auch durchblicken, dass die Bibel wichtiger als das Athanasianum sei. Eine Synode in Lausanne und die Berner Pfarrerschaft erklärten im Mai 1538 die Trinitätslehre Calvins für rechtgläubig. Caroli verlor seine Stelle. Er kehrte nach Frankreich und damit auch in die römisch-katholische Kirche zurück.Angehörige der Genfer Oberschicht erklärten, sie seien für die Reformation, aber wollten in Freiheit leben und nicht nach den Regeln Farels. Der Widerstand machte sich an zwei Punkten fest: man verweigerte den Eid auf das im Katechismus formulierte Glaubensbekenntnis, und man gab den Geistlichen nicht das Recht zur Exkommunikation. Anfang 1538 eskalierte der Konflikt; Farel und Calvin erklärten, Unruhestifter vom Abendmahl ausschließen zu wollen, was der Stadtrat ihnen untersagte. Im Februar wurden Mitglieder der Stadtregierung gewählt; nun kamen einige erklärte Gegner Farels neu in den Stadtrat. Im März nahmen Farel und Calvin an einer Synode in Lausanne teil, wo die politisch dominierende Stadt Bern versuchte, ihre eigenen Gottesdienstformen auch für Genf verbindlich zu machen, zum Beispiel Spendung der Taufe an Taufsteinen und Abendmahlsfeier mit Hostien statt mit Brot. Genf hatte alle christlichen Feiertage abgeschafft, die nicht wie Ostern auf einen Sonntag fielen, nun sollten die wichtigsten, darunter Weihnachten und Christi Himmelfahrt, wieder begangen werden. Farel und Calvin hatten Bedenken und sollten daraufhin dem Stadtrat zusichern, dass sie beim anstehenden Osterfest das Abendmahl mit Hostien feiern würden. Sie reagierten ausweichend. Die Verhaftung des blinden Pfarrers Jean Corauld wegen polemischer Predigt verschärfte den Konflikt zwischen Pastorenschaft und Stadtrat weiter; schließlich verbot der Stadtrat Farel und Calvin, Ostergottesdienste zu feiern. Die beiden setzten sich in provokanter Weise darüber hinweg: am Ostersonntag, dem 21. April 1538 bestiegen Calvin in der Kathedrale St. Peter und Farel in St. Gervais die Kanzeln, predigten und erklärten danach, das Abendmahl nicht feiern zu wollen. Das war „die großartigste Exkommunikation …, welche die Geschichte kennt: eine ganze Stadt wurde vom Abendmahl ausgeschlossen durch zwei Prädikanten …“ (Walther Köhler) Der Stadtrat reagierte umgehend. Am 23. April wies er die beiden Pfarrer aus. Calvin ging daraufhin nach Basel und Straßburg, Farel war ab Sommer 1538 Pfarrer in Neuchâtel.
=== Straßburg (1538–1541) ===
Calvin, aus Genf ausgewiesen, hatte sich zunächst in Basel niedergelassen, aber Martin Bucer überzeugte ihn, zu ihm nach Straßburg zu kommen. Er verließ Basel am 23. August 1538. In Straßburg wohnte er zuerst bei Wolfgang Köpfel, dann bei Bucer und schließlich in einem Haus im Thomaskirchenviertel. Am 29. Juli 1539 erwarb er das Straßburger Bürgerrecht. Köpfel schlug vor, Calvin mit Vorlesungen zum Neuen Testament an der Hohen Schule von Straßburg zu beauftragen. Am 1. Februar 1539 wurde er, zuvor ehrenamtlich tätig, für ein Jahr zum Professor der Theologie ernannt. Als Exeget hatte Calvin bald einen guten Ruf und zog Studenten aus Frankreich an. Sein Kennzeichen war die knappe und klare Kommentierung des Bibeltextes (perspicua brevitas), während Bucer vom Bibeltext ausgehend thematische Exkurse einschob. Durch den Kontakt mit dem 18 Jahre älteren Martin Bucer wurde Calvin in seiner Theologie geprägt, beispielsweise in der Prädestinationslehre, im Abendmahlsverständnis, in der Pneumatologie, Ekklesiologie und Bundestheologie. „Mehr als Luther legen sie [Bucer und Calvin] den Schwerpunkt auf die Heiligung des Glaubenden […]. Sie teilen das Idealbild von einer christlichen Stadt […]“ Die Institutio erschien 1539 in erweiterter Fassung. 1540 erschien mit dem Römerbriefkommentar ein Hauptwerk innerhalb von Calvins Bibelauslegungen.
In Straßburg gab es schon seit 1535 einige hundert französische Glaubensflüchtlinge, meist aus Metz. Calvin organisierte sie als Gemeinde mit ihm selbst als Pfarrer, sowie Kirchenältesten und Diakonen, die zusammen das Konsistorium bildeten. Die Kirchenältesten sollten sowohl gegenüber den Gemeindegliedern die Kirchenzucht ausüben, als auch Predigt und Lebenswandel der Geistlichen überprüfen. Die Gottesdienste fanden zunächst in St. Nikolaus, dann in St. Magdalena und ab 1541 im Chor der Dominikanerkirche statt. Calvin predigte sechsmal pro Woche, davon zweimal am Sonntag. Die Liturgie entsprach dem, was in Straßburg üblich war. Um am monatlich gefeierten Abendmahl teilzunehmen, benötigte man bei Bucer eine Einzelbeichte mit Absolution, in Calvins französischer Gemeinde dagegen eine Zulassung, die nach einem Prüfungsgespräch erteilt wurde. Die Gemeinde sang im Gottesdienst Psalmen; 1539 veröffentlichte Calvin mehrere französische Psalmbereimungen zu Melodien von Matthias Greitter und Wolfgang Dachstein (Aulcuns pseaulmes et cantiques mys en chant). Nur die Reimfassung von Psalm 25 und Psalm 46 ist sicher Calvin zuzuweisen; 13 der insgesamt 22 Texte stammen aus der Feder von Clément Marot.Aus eigener Initiative schloss sich Calvin im Februar 1539 der Straßburger Delegation zum Frankfurter Konvent an. Einerseits wollte er um Unterstützung für die verfolgten französischen Protestanten werben – hier ist aber nicht dokumentiert, was er konkret unternahm oder erreichte. Das andere Motiv war, dass er Philipp Melanchthon persönlich kennenlernen wollte. An Guillaume Farel schrieb er Ende März, er habe mit Melanchthon über viele Dinge reden können. In der Abendmahlslehre bestehe Übereinstimmung, und Melanchthon finde die Kirchenzucht ebenfalls sehr wichtig. Er würde auch gern die kirchlichen Zeremonien stärker reduzieren, setze aber auf ein schrittweises Vorgehen.
=== Zweite Genfer Zeit (1541–1564) ===
==== Neuordnung der Genfer Kirche ====
1540 bat der Rat der Stadt Genf Calvin um seine Rückkehr. Ausschlaggebend hierfür war, dass er und Farel nach ihrer Ausweisung weiterhin eine Anhängerschaft in Genf hatten, die Guillermins (nach Farels Vornamen Guillaume benannt). Sie setzten sich im August 1540 politisch durch; im Oktober erreichte Calvin dann die Einladung, wieder nach Genf zu kommen. Der Kurienkardinal Jacopo Sadoleto hatte an die Genfer eine Einladung gerichtet, in den Schoß der römischen Kirche zurückzukehren, und die Genfer wünschten eine schroffe Zurückweisung dieses Angebots, aber mit theologischem Niveau: dazu brauchte man Calvin. Dieser lieferte dann auch eine glänzende Streitschrift ab. In längeren Verhandlungen setzte Calvin Zugeständnisse für seine Rückkehr durch, unter anderem die Zusage, eine Kirchenordnung, einen Katechismus und die Kirchenzucht einzuführen. Calvin hatte in Straßburg miterlebt, wie Bucers Versuch, kirchliche Disziplinarmaßnahmen durchzusetzen, gescheitert war. „Er wollte in Genf das durchführen, was Bucer in Straßburg nicht erreichte.“Calvins Stellung in Genf
Im September 1541 kehrte Calvin nach Genf zurück, und noch im gleichen Jahr entstand unter seiner Federführung die Genfer Kirchenordnung (Ordonnances ecclesiastiques). 1542 folgte der zweite Genfer Katechismus. Calvin hatte nun verschiedene Möglichkeiten, auf die Genfer Bevölkerung Einfluss zu gewinnen:
Predigten: Er predigte sonn- und werktags, wobei er aktuelle Bemerkungen in seine Schriftauslegung einfließen ließ und mitunter die Stadtregierung offen kritisierte.
Konsistorium: Dies war eine kirchliche Disziplinarbehörde, je zur Hälfte Älteste und Pastoren. Sie behandelte Anzeigen gegen Personen, die beispielsweise katholischen Glaubenspraktiken weiter anhingen, Fälle von Streit, Ehebruch, Spiel, Tanz, Alkoholgenuss, Wirtschaftsvergehen (Betrug, Wucher), übler Nachrede usw. Meist endete das Verfahren mit einer Ermahnung der Betroffenen durch Calvin selbst. Wenn das nicht wirkte, wurde die Person vom Abendmahl ausgeschlossen, bis sie Besserung zeigte. Manchmal musste eine öffentliche Wiedergutmachung stattfinden.
Gesetzgebung: Der juristisch ausgebildete Calvin wurde zum Berater der Genfer Stadtregierung. Das Ergebnis waren zum Beispiel Gesetze, die unpassende Taufnamen verboten (und damit in das Recht der Eltern zur Namenswahl eingriffen), Sonntagsheiligung, die Bewirtung von Auswärtigen in Gaststätten (Tischgebet, Vorhandensein von Bibeln), Strafen gegen Blasphemie, Unzucht, Trunkenheit, Landstreicherei usw. Calvin machte auch Vorschläge zur Straßenreinigung, Lebensmittelkontrolle, zum Unfallschutz (Geländer an Fenstern) und zum Aufbau einer Textilindustrie, um Arbeitsplätze für die nach Genf strömenden französischen Flüchtlinge zu schaffen.Politische Organisation Genfs
Die Stadtrepublik Genf wurde zu Calvins Zeit „durch eine Mischform von oligarchischen, demokratischen und ständischen Elementen regiert“, so Peter Opitz:
An der Allgemeinen Versammlung (Conseil Général) konnte man als alteingesessener Genfer (citoyen) ebenso wie als Neubürger (bourgeois), nicht aber als bloßer Einwohner (habitant) teilnehmen und dort über neue Gesetze oder die Vergabe von Ämtern mitentscheiden.
Dem Kleinen Rat (Petit Conseil) gehörten 25 gebürtige Genfer an, die jährlich von der Allgemeinen Versammlung aus dem Rat der Zweihundert gewählt wurden. Der Kleine Rat bestimmte seinerseits die personelle Zusammensetzung des Rats der Zweihundert.
Vier Bürgermeister (Syndics), die jährlich neu von der Allgemeinen Versammlung ernannt wurden, hatten während ihrer Amtszeit die größte Machtfülle.Kirchliche Organisation Genfs: Compagnie des pasteurs und Konsistorium
Die Reformierte Kirche von Genf wurde zur gleichen Zeit von der Compagnie des pasteurs geleitet, in der Regel 10 Pastoren unter dem Vorsitz des sogenannten Moderators – dieses Amt hatte Calvin meist selbst inne. Grundlegend für Calvins Erfolg in Genf war, so Volker Reinhardt, dass er diese Pastorenschaft zu einer Solidargemeinschaft formte, bzw. zu einer „Lehr- und Kampfgemeinschaft von monolithischer Geschlossenheit.“ Wenn Calvin sich mit Wünschen an den Stadtrat wandte, so tat er das stets als Sprecher der Compagnie des pasteurs; dabei wurde er oft von anderen Mitgliedern dieses Gremiums begleitet. Das Konsistorium, das mit der Kirchenzucht beauftragt war, wurde von einem städtischen Syndic geleitet. Mitglieder waren alle Pastoren der Stadt und ein jährlich neu gewählter Ausschuss der Stadtregierung, die zwölf Kirchenältesten. Sie wurden faktisch oft in ihrem Amt bestätigt und nicht neu bestimmt. Das Konsistorium tagte wöchentlich. Die Akten zeigen, dass Calvin sich bei den hier verhandelten Fällen sehr unterschiedlicher Art aktiv einbrachte und meist die Zurechtweisung der angezeigten Personen formulierte, mit der das Konsistorium seine Verhandlung abschloss.Viermal im Jahr wurde in Genf ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert. Dort nicht das Abendmahl empfangen zu dürfen (Exkommunikation), war eine gefürchtete Strafe. Die Folgen betrafen auch das bürgerliche Leben: Ein Exkommunizierter konnte in Genf nicht heiraten und kein Patenamt übernehmen, war also gesellschaftlich ausgegrenzt. Hinzu kam die öffentliche Beschämung. Das Konsistorium bestand darauf, die Exkommunikation nach eigenem Ermessen zu verhängen, ohne dass ein Betroffener dagegen an die Stadtregierung appellieren konnte. Ami Perrin, ein prominenter Genfer Bürger, und die „Kinder Genfs“ (Enfants de Genève) opponierten dagegen. Auch andere Mitglieder der Schweizer Konföderation, wie Bern und Zürich, lehnten die Exkommunikationsstrafe wegen ihrer Missbrauchsmöglichkeiten ab. Sie erinnere an die Art, wie Päpste und Bischöfe in vorreformatorischer Zeit regiert hätten. Calvin und die Compagnie des pasteurs bestanden aber darauf, dass sie ohne Recht zur Exkommunikation nicht amtieren könnten und lieber Genf verlassen wollten.
==== Prozesse wegen „Pestverbreitung“ (1545) ====
Seit dem Herbst 1542 wurde Genf mehrfach von Pestwellen heimgesucht. Der Rat verpflichtete die Pfarrer, die Pestkranken im Spital zu betreuen; Pierre Blanchet übernahm diese Aufgabe, Calvin meldete sich als dessen Stellvertreter. Als Blanchet im Frühjahr 1543 selbst an der Pest starb, wurde Calvin von der gefährlichen Tätigkeit im Spital freigestellt, da er anderswo gebraucht werde. Indes war es nicht einfach, einen Nachfolger für Blanchet zu finden. Die Pfarrer räumten gegenüber dem Rat ein, ihnen fehle die „Standfestigkeit“, um Pestkranke zu besuchen. Dass kurz nach den Reformen des kirchlichen Lebens in Genf die Pest grassierte, war beunruhigend: Handelte es sich womöglich um eine Strafe des Himmels? Zwei Jahre später wurden rund 30 Männer und Frauen aus dem Umkreis des Spitals als „Pestverbreiter“ verhaftet; angeblich hatten sie Haustüren mit Salben bestrichen, um die Pest vom eigenen Haus weg auf andere Häuser zu lenken. Also war die Epidemie nicht Gottes Werk, sondern eine Verschwörung böser Menschen. Calvin stellte als Jurist weder die Folter als Verhörmethode noch die Todesstrafe für das Delikt „Pestverbreitung“ in Frage. Er setzte sich für kürzere Verhöre und für eine schnelle, weniger qualvolle Hinrichtung ein, allerdings vergeblich. Der Rat der Stadt verurteilte 24 Frauen und 7 Männer 1545 zum Tode; die Frauen wurden verbrannt, die Männer gevierteilt. Diese Gruppenhinrichtung fiel zufällig mit dem Ende der Pestepidemie in Genf zusammen. In einem älteren Gutachten hatte Calvin Zauberei als Selbsttäuschung erklärt. Aber im Frühjahr 1545 war er von der Gefährlichkeit der Pestsalben überzeugt. Am 27. März 1545 schrieb er an Oswald Myconius: „Sieh, in welcher Gefahr wir schweben. Gott hat bisher unser Haus unversehrt erhalten, obwohl es schon mehrmals angegriffen wurde. Gut ist nur, dass wir uns in seinem Schutze wissen.“Calvin meinte zwar, dass Hexen hingerichtet werden sollten, weil das in der Bibel stand (Ex 22,18 ). Er war aber, so Brian P. Levack, am Hexenwesen wenig interessiert und äußerte sich kaum dazu. Wirkungsgeschichtlich sei für Hexenverfolgung im Raum des Calvinismus wichtig geworden, dass Calvin die Macht Satans herausstellte, gegen die der Christ einen ständigen Kampf führen müsse.
==== Der Fall Ameaux (1546) ====
Der offene Widerstand Genfer Bürger gegen Calvin begann in Folge der Bestrafung des Ratsherrn Pierre Ameaux. Dieser hatte am 26. Januar 1546 in geselliger Runde über die „Franzosenherrschaft“ geschimpft und in diesem Kontext Calvin als „picardischen Bösewicht“ und Irrlehrer bezeichnet. Ameaux wurde angezeigt, verhaftet und vom Rat dazu verurteilt, Gott, den Rat und Johannes Calvin wegen der ihnen angetanen Ehrverletzung um Entschuldigung zu bitten. Im Blick auf Ameaux’ hohen sozialen Rang gestaltete der Rat die Modalitäten dieser Zeremonie recht milde. Calvin akzeptierte das nicht. Er erklärte, die Beleidigung seiner Person sei unwichtig, aber Ameaux habe die Ehre Gottes verletzt. Die Pfarrerschaft und das Konsistorium unterstützten Calvin, so dass der Rat einlenkte. Ameaux musste im April 1546 im Büßerhemd und mit brennender Kerze in der Hand durch Genf laufen und auf dem Marktplatz kniend um Verzeihung bitten. Besonders in alten Genfer Familien wurde das Urteil gegen Ameaux als reine Machtdemonstration Calvins interpretiert.Der Unmut wuchs durch die Weigerung Genfer Pastoren, populäre Heiligennamen (wie Claude) als Taufnamen zuzulassen. „Und das hatte zur Folge, dass Väter, die einen kleinen Claude aus der Taufe heben wollten, aus den Armen des Pastors einen Abraham zurückerhielten.“ Als Calvin verhinderte, dass der Genfer Jean Trolliet in Genf eine Pfarrstelle erhielt, verstärkte dies den Widerstand gegen die nur aus Exilfranzosen bestehende Pfarrerschaft. Eher lästige als bedrohliche Störaktionen gingen von den „Kindern Genfs“ (Enfants de Genève) aus. Man bekam das Phänomen weder durch städtische Sanktionen noch durch Calvins Gesprächsangebote in den Griff.
==== Der Fall Bolsec (1551) ====
Jérôme-Hermès (Hieronymus) Bolsec war ein ehemaliger französischer Karmelit, der sich der Reformation angeschlossen hatte und seit dem Frühjahr 1551 in Veigy nahe Genf als Mediziner praktizierte. Er widersprach öffentlich der von den Genfer Pastoren gelehrten doppelten Prädestination. Calvin wandte sich an den Kleinen Rat, um Bolsecs theologische Kritik zu unterdrücken. Der Rat ließ Bolsec verhaften, war aber unschlüssig, wie mit ihm zu verfahren sei – zumal das Verhältnis der Compagnie des Pasteurs zum Rat und zu Teilen der Bevölkerung gerade angespannt war. Daher erbat man Gutachten von den Schweizer Nachbarkirchen. Aus Bern, Basel und Zürich trafen Stellungnahmen ein, die zwar für Calvin Partei ergriffen, aber sehr verhalten, und zur Versöhnung mit Bolsec aufriefen. Auch von Philipp Melanchthon in Wittenberg, mit dem er einen freundschaftlichen Briefkontakt pflegte, erhielt Calvin jetzt nicht die klare Unterstützung, die er gebraucht hätte. Dem Genfer Rat gegenüber erklärte er, Melanchthon sei mehr Philosoph als Theologe, außerdem von Natur aus zaghaft. Da die Genfer Pfarrerschaft sich in der Prädestinationslehre einig war, wurde Bolsec am 22. Dezember 1551 aus Genf verbannt. Dass er vergleichsweise milde bestraft wurde, verdankte er den Gutachten aus den Schweizer Nachbarkirchen, aber auch der Protektion durch den niederländischen Adligen Jakob von Burgund, Herr von Falaise und Bredam, dessen Leibarzt er war. Mit diesem Adligen verband Calvin eine enge Freundschaft, die über der Causa Bolsec zerbrach, da Jakob von Burgund der Prädestinationslehre Bolsecs folgte. Von Berner Gebiet aus führte Bolsec seinen theologischen Disput mit Calvin weiter, kehrte aber 1563 in die römisch-katholische Kirche zurück und verfasste schließlich eine polemische, viel rezipierte Lebensbeschreibung Calvins (1577), die das katholische Bild des Reformators bis weit ins 19. Jahrhundert prägte.
==== Der Fall Servet (1553) ====
Michel Servet, ein spanischer Arzt und Universalgelehrter, lehnte die Trinitätslehre und damit die ganze Kirchengeschichte seit dem Konzil von Nicäa (325) ab. Er hoffte auf eine „Wiederherstellung des Christentums“ (Christianismi Restitutio, so der Titel seines 1552 gedruckten Hauptwerks) und suchte den Kontakt zu mehreren Reformatoren, wohl in der Absicht, sie von seinem Programm zu überzeugen. Das gelang ihm weder bei Philipp Melanchthon noch bei Johannes Oekolampad oder Martin Bucer. „Alle verurteilten sie Servets theosophisch-synkretistisches Denken, das in durchaus origineller Weise die vornizänische christliche Tradition mit Elementen aus dem Neuplatonismus, der Kabbala, aber auch mit chiliastischen Zügen verband.“ Eine für beide Seiten gefährliche Kontaktaufnahme Servets mit Calvin 1534 in Paris kam nicht zustande, aber Anfang 1546 kam es zu einem Briefwechsel zwischen ihnen. Calvin beendete diesen Austausch und äußerte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Servet den Ketzertod verdient habe:
Servet lebte unter dem Pseudonym Michel de Villeneuve einige Jahre unbehelligt in Lyon und war seit 1538 Leibarzt des Erzbischofs von Vienne, Pierre Palmier. Ihm wurde zum Verhängnis, dass in Genf, im Umkreis Calvins, seine wahre Identität bekannt war. Guillaume de Trie, ein französischer Glaubensflüchtling, der in Genf lebte, schrieb seinem katholischen Verwandten in Lyon, dessen Stadt dulde einen Gottesleugner. De Trie erhielt von Calvin die Briefe, die Servet diesem geschickt hatte, und ein Exemplar der Institutio, das Servet mit kritischen Anmerkungen versehen hatte. Servet wurde in Lyon von de Tries Vetter mit diesem Beweismaterial angezeigt und seit März 1553 von der Römischen Inquisition verhört. Ihm gelang aber die Flucht, so dass das Todesurteil am 17. Juni 1553 in Vienne in seiner Abwesenheit erfolgte und durch eine symbolische Verbrennungsaktion (in effigie) vollstreckt wurde.Warum Servet auf der Flucht ausgerechnet nach Genf kam, ist unbekannt. Hier wurde er am 13. August 1553 während eines Gottesdienstes erkannt, und Calvin sorgte für seine Festnahme und formelle Anklage. Der Kleine Rat zog den Prozess an sich, da er als politisch relevant beurteilt wurde. Calvin wurde als Experte zur Beurteilung von Servets antitrinitarischer Theologie angefragt. Bisher hatte Genf religiöse Dissidenten, zum Beispiel Täufer, ausgewiesen, was verglichen mit Verfolgungsmaßnahmen anderswo in Europa relativ milde war. Genf setzte sich auch für inhaftierte Häretiker im katholischen Frankreich ein. Nun selbst einen Häretiker hinzurichten, hätte dieses Engagement entwertet. Die Genfer Politiker kamen zu dem Schluss, dass Servets Ablehnung der Trinitätslehre keine Häresie sei, sondern „Atheismus“. Auch in Genf galt das kaiserliche Strafgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina § 106), das für Leugnung der Trinität die Todesstrafe festsetzte. Nach der Befragung Servets beschloss der Rat von Genf, bei den reformierten Schweizer Schwesterkirchen Gutachten einzuholen. Das war nach William G. Naphy der Versuch, die Verantwortung für das Todesurteil zu teilen. Ende August traf ein Auslieferungsersuchen aus Vienne ein. Servet, vor die Wahl gestellt, entschied sich dafür, in Genf zu bleiben. Mitte Oktober trafen die Gutachten aus Schaffhausen, Zürich, Bern und Basel ein; alle sprachen sich für eine strenge Bestrafung aus und überließen das Strafmaß dem Genfer Rat. Das Todesurteil erging am 23. Oktober:
Aus den Quellen geht hervor, dass Calvin den Todeskandidaten im Gefängnis besuchte. „Calvin hatte für den spanischen Arzt nur Missachtung übrig und für dessen Angst vor dem Tod kein Verständnis.“ (Miriam G. K. van Veen)
Am 27. Oktober starb Michel Servet auf dem Scheiterhaufen. Im Dezember kursierten in Basel Manuskripte einer anonymen „Geschichte von Servets Tod“ (Historia de morte Serveti), die Einzelheiten über die Hinrichtung mitteilte: Guillaume Farel habe Servet zur Richtstätte begleitet; der Todeseintritt sei durch Verwendung von nassem Holz hinausgezögert worden. Viele religiöse Menschen hätten diese Hinrichtung als Skandal empfunden, da Gottes Strafe vorgegriffen worden sei und Calvin den Prozess Servets aktiv vorangetrieben habe. Das ganze Verfahren sei eine Annäherung an die Papstkirche, bzw. an das Vorgehen der Römischen Inquisition.Obwohl er im Fall Servet (anders als im Fall Bolsac) die volle Unterstützung anderer Reformatoren hatte, verfasste Calvin eine „Verteidigung des orthodoxen Glaubens an die heilige Trinität“ (Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate), gedruckt 1554. Darin begründete er, warum die politische Obrigkeit das Recht habe, Antitrinitarier hinzurichten. Sebastian Castellio, Humanist und Griechischprofessor in Basel, antwortete mit einer Gegenschrift: „Ob man Häretiker verfolgen soll“ (De haereticis, an sint persequendi). Sie erschien 1554 unter Pseudonym und mit dem falschen Druckort Magdeburg, wahrscheinlich druckte Johannes Oporin in Basel das Werk. Wie wichtig es Calvin war, gegen Servet Recht gehabt zu haben, zeigt der Umstand, dass er in der Endfassung der Institutio (1559) der Widerlegung dieses Autors breiten Raum gibt:
==== „Tumult“ von 1555 ====
Aufgrund der politischen Situation in Frankreich nahm die Zahl der nach Genf geflohenen Hugenotten seit 1551 stark zu. Sie waren fremdenfeindlichen Attacken ausgesetzt, von Calvin und seinen Parteigängern wurden sie als Märtyrer idealisiert. Es waren oft Personen von hohem sozialem Status, die sich mit ihren aristokratischen Umgangsformen vom Genfer Bürgertum unterschieden. Sie brachten einerseits Geld, andererseits neue berufliche Qualifikationen mit. Die städtische Ökonomie änderte sich durch steigende Preise, Mieten und Immobilienwerte. Ein Teil der Hugenotten wollte dauerhaft in Genf bleiben, und indem sie von Einwohnern zu Neubürgern aufstiegen, wurden sie zu einem politischen Machtfaktor. Die Calvin-kritische Ratsfraktion um Ami Perrin hatte in der Vergangenheit eine stärkere Einbindung Genfs in die Schweizer Konföderation angestrebt und dabei die Verhältnisse in Zürich als eine Art Modell betrachtet. 1555 erlitten die Perrinisten eine Wahlniederlage, und die Gegner Perrins erhielten eine Mehrheit von einer Stimme im Kleinen Rat. Sie nutzten dies umgehend zur Einbürgerung von 127 Hugenotten (zum Vergleich: im ganzen Jahrzehnt zuvor waren 269 Flüchtlinge eingebürgert worden). Da Neubürger nur das aktive Wahlrecht erhielten, hatten sie auf diese Weise eine loyale Wählerschaft sichergestellt. Am 16. Mai revoltierten die Perrinisten gegen diese politischen Verschiebungen.Ein spontanes Handgemenge, das unblutig endete, – „eine ebenso lärmende wie desorganisierte Demonstration der Verlierer“ – hatte einen Prozess wegen Landesverrats zur Folge. Die anschließenden Säuberungen ermöglichten es den Parteigängern Calvins, die Opposition zu zerschlagen: Einige Anführer wurden zum Tode verurteilt und trotz verschiedener Gnadengesuche, auch der Stadt Bern, schließlich hingerichtet. Ihr Vermögen wurde eingezogen. In anderen Fällen wurde eine Ausweisung aus Genf auf Lebenszeit verhängt. Ein Drittel der traditionellen Genfer Oberschicht verschwand so im Lauf eines halben Jahres. Genf hatte nun nach 20-jährigen politischen Machtkämpfen Stabilität.
==== Gründung der Akademie (1559) ====
Calvin hatte schon seit seiner Ankunft 1536 kontinuierlich Vorlesungen über biblische Bücher gehalten; ein Ersatz für ein Theologiestudium konnten einige Wochen in Calvins Auditorium allerdings nicht sein. Entsprechend schlecht ausgebildet gingen viele reformierte Pfarrer in die Gemeinden. Nach der Niederschlagung des „Tumults“ von 1555 konfiszierte der Magistrat Grundstücke von oppositionellen Genfern. Nun war das Geld vorhanden, um eine Lateinschule für Jungen (Collège de Genève) und eine Universität (Académie de Genève) zu gründen (5. Juni 1559). Die Studentenzahl zu Calvins Lebzeiten wird auf etwa 300 Personen geschätzt; der Studienplan war wenig reguliert – man konnte nach Interesse unter den Veranstaltungen auswählen. Théodore de Bèze war der erste Rektor. Calvin hatte offiziell keine Aufgabe in der Verwaltung, übte aber durch seine biblischen Vorlesungen und sein Engagement bei Stellenbesetzungen einen prägenden Einfluss aus. Es bestand ein hoher Bedarf an Pastoren in reformierten Kirchen, besonders in Frankreich, und die Gemeinden schickten Kandidaten bevorzugt an die Genfer Akademie beziehungsweise forderten Absolventen von dort an. Calvins Ruf trug zum Aufblühen der Akademie wesentlich bei, außerdem warb Calvin beim Magistrat Geld für die Akademie ein. Von den Absolventen der Jahre 1559 bis 1562, die bekannt sind, kam ein Drittel aus dem Adel und fast alle übrigen aus dem gehobenen Bürgertum. Sie stammten aus Frankreich, und dorthin kehrten sie unter großem persönlichem Risiko zurück – schwerpunktmäßig in die Provinzen Dauphiné, Guyenne, Languedoc und Provence.Die Akademie trug dazu bei, dass Genf eine internationale Ausstrahlung hatte. Die Bevölkerung stieg: Lebten 1536, als Calvin in Genf eintraf, etwa 10.000 Menschen hier, so waren es 1560 etwa 21.000. Es gab nicht nur französische, sondern auch englische, spanische und italienische Gottesdienste.
=== Calvins europäische Kontakte ===
==== Frankreich ====
Die französische reformierte Kirche, deren Entwicklung Calvin beratend begleitete, hatte eine ausgeprägt presbyterial-synodale Struktur. Das stellt einen eigenen Beitrag zur reformierten Kirchenorganisation dar, denn eine Synodalordnung findet sich in Calvins Werk nicht: „In seinen Bemerkungen in der Institutio über den Aufbau der Kirche kommt er so gut wie nicht auf die Synoden zu sprechen, und abgesehen von begrenzten, eingeschobenen Hinweisen in seinen Briefen an die französischen Gemeinden finden sich keinerlei Belege dafür, dass Calvin sich stark für eine Synodalverfassung eingesetzt habe.“ Calvin tat sich schwer damit, den aktiven militärischen Widerstand der Protestanten in Frankreich gutzuheißen. Er verurteilte lange Zeit alle gegen die katholischen Monarchen gerichteten Pläne. Die Revolte unter Louis I. de Bourbon, prince de Condé (1562) billigte er allerdings. Sie erfüllte aus seiner Sicht die notwendigen Kriterien: an ihrer Spitze stand ein Fürst aus königlichem Haus, und sie hatte eine realistische Aussicht auf Erfolg. In Calvins Schülerkreis gingen einige Autoren unter dem Eindruck der französischen Religionskriege (Massaker von Vassy 1562, Bartholomäusnacht 1572) deutlich über Calvin hinaus, zum Beispiel François Hotman, Théodore de Bèze und Philippe Duplessis-Mornay.
==== England und Schottland ====
Seit 1548 stand Calvin im Kontakt mit Edward Seymour, der von 1547 bis 1549 als Lordprotektor de facto England regierte. 1548 machte Calvin ihm konkrete Reformvorschläge; nach dessen Sturz 1549 schrieb er Edward als Privatperson weiterhin Briefe. Trotzdem war Calvin in dieser Phase der englischen Geschichte weniger einflussreich als etwa Martin Bucer, der eine Professur in Cambridge antrat, oder Peter Martyr Vermigli in Oxford.Als Folge der katholischen Restauration unter Maria I. entstanden englischsprachige reformierte Gemeinden (Marianische Exulanten) zum Beispiel in Frankfurt am Main und in Genf. John Knox kam zunächst nach Genf und wurde von Calvin damit beauftragt, die Frankfurter englische Gemeinde zu leiten. Er stieß auf Widerstand, als er die Genfer Gottesdienstordnung einführen wollte. Calvin versuchte zu vermitteln und riet der Frankfurter Flüchtlingsgemeinde dazu, in Äußerlichkeiten Kompromisse zu machen. Knox brachte die Genfer Gottesdienstordnung, mit der er sich in Frankfurt nicht durchsetzen konnte, später nach Schottland, wo die Feier von Taufe und Abendmahl sowie die Hochzeitsliturgie „nach dem Genfer Buch“ 1562 beschlossen wurde.Nachdem Knox vom Frankfurter Rat ausgewiesen worden war, ließ er sich 1558 in Genf nieder und veröffentlichte dort ein Pamphlet, in dem er zum Widerstand gegen Maria I. aufrief, weil die Herrschaft einer Frau unbiblisch sei (The first blast of the Trumpet against the monstrous regiment of women). Als die protestantisch gesonnene Elisabeth I. 1559 die Herrschaft antrat, sah sie dieses Pamphlet als Infragestellung ihrer Regierung an. Calvin versuchte vergeblich, über William Cecil ein gutes Verhältnis mit der Königin herzustellen, indem er sich von Knox distanzierte. Während Calvin als Person kaum noch Einfluss auf die englische Reformation hatte, wurden seine Bücher sehr stark nachgefragt. Diese Entwicklung kam nach Calvins Tod in Gang. In den 1560er Jahren wurden vier theologische Autoren am meisten gelesen: Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Johannes Calvin und Wolfgang Musculus. 1580 dagegen dominierte Calvin den englischen theologischen Büchermarkt, an zweiter Stelle kam Théodore de Bèze, sein Nachfolger in Genf. Von 1559 bis 1603 erschienen 93 Schriften Calvins in englischer Übersetzung, das übertraf die Übersetzung in alle weiteren Sprachen deutlich.Dass das schottische Parlament die von Knox erarbeitete Confessio Scotica annahm (1560), kam für Calvin unerwartet. Er rechnete nicht damit, dass sich die Reformation in Schottland unter der streng katholischen Regierung von Maria Stuart rasch ausbreiten könnte und verhielt sich abwartend. Die Korrespondenz zwischen Calvin und dem nach Schottland zurückgekehrten Reformator John Knox zeigt, dass Knox radikaler vorging, als Calvin dies billigte. Knox wollte zum Beispiel die Kinder von Priestern und Exkommunizierten nicht taufen. Calvin ließ einige Briefe von Knox unbeantwortet, in denen es um Maßnahmen gegen Maria Stuart ging; vermutlich stand Calvin gleichzeitig mit Protestanten am Hof Marias in Kontakt, die ihr gegenüber loyal waren. Trotz der Unterschiede zwischen Knox und Calvin sind die Confessio Scotica, die Kirchenordnung (First Book of Discipline) und die Liturgie (Book of Common Order) stark von Calvin geprägt, ohne die Verhältnisse in Genf einfach nachzuahmen. Schottland behielt das Bischofsamt bei. Die Bischöfe wurden vom Herrscherhaus ernannt und hatten oft mehr Macht als das Presbyterium. Nach Peter Opitz sind Calvins Einflüsse auf England und Schottland im ausgehenden 16. Jahrhundert komplex und „nicht einfach als bruchlose Weiterführungen vorzustellen.“ Wilhelm H. Neuser stellt dagegen fest, Schottland sei das einzige Land Europas, „in dem sich der Calvinismus völlig durchgesetzt hat.“
==== Niederlande ====
Abgesehen von persönlichen Kontakten mit Niederländern wirkte Calvin dort über seine Schriften, die im Untergrund zirkulierten. Reformierte Gemeinden entstanden in den 1540er Jahren in Tournai, Lille und Valenciennes; es folgten Gent, Brügge und Antwerpen; mit dem Aufstand gegen Spanien verbreitete sich der Calvinismus weiter nach Norden. Bezeichnenderweise waren diese ersten reformierten Untergrundkirchen nicht direkt nach Genf orientiert. Über die Londoner (zeitweise: Emder) Gemeinde von Johannes a Lasco wurden Calvins Abendmahlslehre, Ämterlehre und Kirchenzucht in die Niederlande vermittelt.
==== Italien ====
Für Protestanten in katholischen Ländern, die durch die Gegenreformation unter Druck standen, übte Genf als eine Art heilige Stadt eine starke Faszination aus. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten der italienischen Flüchtlingsgemeinde in Genf gehörten Bernardino Ochino und Hieronymus Zanchi. Die Kontakte zwischen Genf und den Waldensergemeinden in Italien führten dazu, dass diese sich in den 1550er Jahren immer mehr am Genfer Vorbild orientierten und 1560 das Bekenntnis der französischen Reformierten (Confessio Gallicana) auch offiziell annahmen.
=== Calvins Familie ===
Das Ehepaar Jean Stordeur und Idelette de Bure gehörte der Täuferbewegung an und war um 1533 von Lüttich nach Straßburg geflohen. Calvin bekehrte die beiden kurz nach seiner eigenen Ankunft in Straßburg 1538. Stordeur verstarb an der Pest. Im August 1540 heiratete Calvin die Witwe, die einen Sohn unbekannten Namens und eine Tochter Judith mit in die Ehe brachte. Die Trauung vollzog Guillaume Farel, der dazu nach Straßburg reiste. Am 28. Juli 1542 brachte Idelette de Bure einen Sohn zur Welt, Jacques, der nach wenigen Tagen starb. Seit dieser Geburt war sie kränklich und starb am 29. Mai 1549 in Genf. In seinen Briefen erwähnte Calvin seine Sorge um Idelettes Gesundheit und seine Trauer, in der ihm Freunde beistanden. 1554 heiratete die Stieftochter Judith Stordeur, und 1557 taufte Calvin ihren Sohn. 1562 wurde sie wegen Ehebruchs verurteilt und geschieden. Calvin lag daraufhin fiebernd im Bett.Antoine Cauvin, der jüngere Bruder des Reformators, lebte seit der Straßburger Zeit mit diesem im gleichen Haushalt. Er war verheiratet mit Anne le Fert. Bald nachdem Calvin mit seiner Frau nach Genf gezogen war, folgte Antoine mit Familie nach; gemeinsam bewohnten sie ein repräsentatives Haus in der Nähe von St. Peter. 1548 kam im Konsistorium zur Sprache, dass Anne le Fert angeblich die Ehe gebrochen hatte, und Calvin bat, für seine Schwägerin keine Ausnahme zu machen. Der Konflikt wurde mit einem Versöhnungsgespräch beigelegt. 1557 klagte Antoine Cauvin seine Frau des Ehebruchs an. Calvin trat in diesem Verfahren als Rechtsbeistand seines Bruders auf. Diesmal wurde Anne le Fert verhaftet und verhört, zweimal unter Anwendung der Folter; sie bestand aber auf ihrer Unschuld. Daraufhin wurde die Ehe geschieden. Anne le Fert wurde von ihren vier Kindern getrennt und aus Genf verbannt; sie ging nach Lausanne und heiratete dort Jean-Louis Ramel, einen politischen Gegner Calvins.
=== Krankheiten, Tod und Begräbnis ===
Schon die Zeitgenossen vermuteten, dass Calvin durch sein immenses Arbeitsvolumen seine Gesundheit früh ruinierte. Krankheiten waren ein ständig wiederkehrendes Thema in Calvins Briefwechsel: Tuberkulose, Rheumatismus, Nierensteine und Darmstörungen. Ende 1563 wurde sein Gesundheitszustand definitiv schlechter. Im Februar 1564 hielt er seine letzte Vorlesung, im März war er letztmals im Konsistorium und in der Compagnie des pasteurs. Am Ostergottesdienst (2. April), den Théodore de Bèze leitete, nahm er noch teil. Nachdem er am 25. April sein Testament gemacht hatte, besuchten ihn Freunde und Mitarbeiter am Krankenbett, um Abschied zu nehmen. Sein letzter Brief am 2. Mai 1564 war an Guillaume Farel gerichtet. Dieser Brief erreichte Farel nicht, denn der 75-jährige war bereits unterwegs nach Genf. Er traf Calvin noch lebend an, und die beiden aßen miteinander, eingedenk der alten Freundschaft. Am 27. Mai starb Johannes Calvin, 54 Jahre alt.
Calvin hatte gewünscht, dass sein Grab nicht mit einem Stein markiert würde. Am Tag nach seinem Tod, Sonntag, den 28. Mai, wurde er nachmittags in einem einfachen Holzsarg auf dem Friedhof des Genfer Stadtteils Plainpalais (Cimetière des Rois) beigesetzt. Die genaue Grabstelle ist unbekannt.
== Werk ==
=== Schriften ===
Der Reformator verstand sich in erster Linie als Ausleger der Heiligen Schrift und hinterließ zahlreiche Bibelkommentare und Vorreden auf biblische Bücher. Er verfolgte dabei ein praktisches Ziel: Den Pfarrern und Lehrern, die wenig freie Zeit hatten, sollten gut verständliche, kurzgefasste Informationen bereitgestellt werden. Während zum Beispiel Philipp Melanchthon in seiner Bibelauslegung die Regeln der Rhetorik nutzte und auf diese Weise Zentralaussagen im Text hervorhob, hielt Calvin eine Vers-für-Vers-Kommentierung für sachgerechter.Calvins Hauptwerk ist die mehrfach umgearbeitete Institutio. Hier kam vieles zur Sprache, was aufgrund der gewählten Auslegungsmethode in den Bibelkommentaren nicht gut unterzubringen war. Institutio und exegetische Werke ergänzen sich daher. Die starken Überarbeitungen rechtfertigen es, bei der Institutio drei Werke zu unterscheiden: die Erstfassung von 1536, die einem Katechismus ähnelte, die zweite Fassung, die in den Ausgaben von 1539, 1543 und 1550 vorliegt und gegenüber der ursprünglichen Version stark erweitert wurde, und die Institutio von 1559, mit der Calvin schließlich zufrieden war – praktisch ein neues Werk. Nicht nur sind aus den sechs Kapiteln von 1536 nun rund 80 Kapitel geworden, es gibt auch eine neue Struktur, die sich am Aufbau des Apostolischen Glaubensbekenntnisses orientiert (dieses hat bei Calvin nicht drei, sondern vier Artikel):
Buch 1: Erkenntnis Gottes des Schöpfers, Trinität, Gottebenbildlichkeit des Menschen.
Buch 2: Christologie. Das Gesetz ist vor allem Richtschnur für das Leben der Christen (Usus in renatis).
Buch 3: Pneumatologie (Lehre vom Heiligen Geist). Heiligung und Rechtfertigung – in dieser Reihenfolge. Ausführliche Gebetslehre und Prädestinationslehre im Kontext der Glaubensgewissheit.
Buch 4: Ekklesiologie. Die äußeren Mittel, die Gott gebraucht, um Menschen in Gemeinschaft mit Christus zu bringen.Calvin verstand seine Theologie als ein Unterwegssein; seit 1543 schloss er das Vorwort der Institutio stets mit einem Augustinus-Zitat ab: „Ich bekenne, einer von denen zu sein, die im Weiterschreiten der Gedanken schreiben und im Schreiben weiterschreiten.“
=== Theologie ===
==== Dogmatik ====
Calvin war theologischer Autodidakt; seine Quellen sind neben der Bibel die Schriften der Kirchenväter, vor allem Augustinus. Unter den Zeitgenossen war er mit den Werken von Luther, Melanchthon, Bucer und Zwingli offensichtlich vertraut. Die mittelalterlichen Theologen werden pauschal und meist negativ als „Sophisten“ bezeichnet; eine Ausnahme bildet Bernhard von Clairvaux, den Calvin schätzte.
===== Theologische Hermeneutik =====
Der Ausgangspunkt jeder Theologie ist nach Calvin: Erkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis des Menschen (cognitio Dei ac nostri). Wer Gott und Mensch eigentlich sind, zeige sich in Jesus Christus. Calvin nannte ihn den „Mittler“ (Mediator). Er ist nach der altkirchlichen, von Calvin bejahten Christologie wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Gottebenbildlichkeit hat nach Calvin ihren Sitz in der Seele. Calvin blieb etwas unklar bei der Frage, wie groß der durch den Sündenfall angerichtete Schaden sei (an dieser Stelle entstand 1934 eine Kontroverse zwischen den beiden reformierten Theologen Karl Barth und Emil Brunner).
Grundlegend für Calvins Verständnis der Bibel ist der Gedanke des Bundes (foedus). In Straßburg hatte er sich mit dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament zueinander beschäftigt, sein theologischer Lehrer war Martin Bucer, der seinerseits Impulse von Heinrich Bullinger und anderen Reformatoren mit humanistischem Hintergrund aufnahm. Calvins Wertschätzung des Alten Testaments ergibt sich aus dem Grundsatz: Der Bund Gottes mit Israel „ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unterscheiden, sondern ein und derselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung.“ (Institutio 2.10.2) So gebe es im Alten Testament irdische Güter, wie die Verheißung des Landes Israel, und mit dem Jerusalemer Tempel verbundene Zeremonien, im Dienst einer göttlichen Pädagogik. „Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt, er tritt uns aber erst im Evangelium klar entgegen“ (Institutio 2.9). Calvin gebrauchte zur Verdeutlichung die Metaphorik des zunehmenden Lichts. Er wandte sich gegen Versuche, einzelne Stellen des Alten Testaments losgelöst vom Kontext allegorisch auf Christus zu deuten, und widersprach dabei mitunter auch einer alten Auslegungstradition, wie bei Gen 3,15 .
===== Trinität =====
Calvin ging von der Bibel aus und bejahte gleichzeitig die altkirchlichen Dogmen. Dabei war ihm klar, dass die dogmatischen Begriffe nicht aus der Bibel erhoben, sondern von außen an sie herangetragen worden waren. Das hielt er für sachgerecht. Die Kirchenväter waren für Calvin einerseits Autoritäten, andererseits Gesprächspartner, die er auch kritisierte, etwa wenn sie durch Allegorese Schriftbeweise für die Dreieinigkeit fanden. Calvin stützte sich bei der biblischen Begründung der Trinitätslehre im Alten Testament auf Gen 1,26 und im Neuen Testament auf triadische Formulierungen, etwa im Taufbefehl (Vater, Sohn, Heiliger Geist) und Eph 4,5 (eine Taufe, ein Glaube, ein Gott). Bei den Beziehungen der drei göttlichen Personen zueinander war Calvin sehr zurückhaltend: Die Bibel setze sie voraus, erläutere sie aber nicht. Er betonte die Selbständigkeit der drei Personen stärker als ihre Verbundenheit untereinander, um damit den Modalismus und den Patripassianismus abzuweisen. Michel Servets Lehre war für ihn ein besonders klarer Fall für die Konfusion, die sich aus der Vermischung der göttlichen Personen ergebe. Veränderungen (mutationes) und Gefühle (passiones) seien von der Gottheit strikt fernzuhalten. Bei grundsätzlicher Bewahrung der traditionellen Trinitätslehre bevorzugte Calvin eine vereinfachte, von ihm selbst formulierte Variante: Gott Vater sei die Quelle (fons), Jesus Christus als der Sohn die Weisheit (sapientia) und der Heilige Geist die Kraft (virtus).
===== Jesus Christus =====
Calvin folgte dem Kirchenvater Augustinus von Hippo in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur Gott überwinden könne. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebe durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenke dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. Damit sei der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). Die aus dem Glauben kommenden Werke des gerechtfertigten Menschen werden nach Calvin von Gott angenommen und belohnt. Mit diesen Überlegungen, so Otto Weber, bewege sich Calvin in der Nähe eines Syllogismus practicus.Mit dem dreifachen Amt Christi als Priester, König und Prophet zeigte Calvin im Sinne seiner Bundestheologie, wie Jesus Christus sich in die Geschichte Gottes mit Israel einfügt. Alle Priester, Könige und Propheten des Alten Testaments weisen nämlich seiner Meinung nach voraus auf Christus. Calvin machte diesen Gedanken in innovativer Weise für das Kirchenverständnis (Ekklesiologie) fruchtbar. Die Gemeinde hat demnach Anteil an den Ämtern Christi (Institutio 2.15):
Priesterliches Amt: Die Gemeinde leistet Fürbitte;
Königliches Amt: Die Gemeinde tritt für die Überwindung lebensfeindlicher Mächte ein;
Prophetisches Amt: Die Gemeinde setzt das Evangelium zur eigenen Gegenwart in Beziehung.Eine Besonderheit calvinischer Christologie ist sein Verständnis der Formulierung „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Dieser sogenannte Descensus Christi ad inferos war für Calvin kein Triumphzug des Auferstandenen durch die Unterwelt, sondern Beschreibung seines Leidens und seiner Gottverlassenheit am Kreuz. Eine weitere Besonderheit wird als Extra Calvinisticum bezeichnet. Der ewige Sohn (als zweite Person der Trinität) sei Mittler zwischen Gott und der Schöpfung, auch abgesehen von der Inkarnation (etiam extra carnem). Eine Schlüsselstelle hierfür lautet:
In dogmatischen Lehrbüchern wird das Extra Calvinisticum oft durch die Formel „Das Endliche kann das Unendliche nicht fassen“ (finitum non capax infiniti) erläutert; dieses philosophische Axiom findet sich bei Calvin aber nicht und verfehlt nach Heiko A. Oberman die Intention von Calvins Argumentation.
===== Sakramente: Taufe und Abendmahl =====
Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Calvin lehnte die von Katholiken und Lutheranern vertretene Heilsnotwendigkeit der Taufe ab. Damit entfällt die Begründung der Nottaufe, „ungetauft sterbende Säuglinge frommer Eltern sind in den Bund eingeschlossen.“In seiner Abendmahlstheologie zeigt sich Calvin klar als Reformator der jüngeren Generation: nachdem die Fronten zwischen den Wittenbergern („Realismus“) und den Zürchern („Symbolismus“) verhärtet waren, begab er sich auf die Suche nach neuen, konsensfähigen Formulierungen. Zunächst setzte er sich vom symbolischen Abendmahlsverständnis eines Huldrych Zwingli ab und formulierte möglichst im Einklang mit den Autoren der Wittenberger Reformation. Im Consensus Tigurinus, einem innerschweizer Konsensdokument, kam Calvin dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger im Sakramentsverständnis weit entgegen (1549). Es folgte der Abendmahlsstreit mit dem Hamburger Gnesiolutheraner Joachim Westphal (ab 1552) und der Bruch mit Melanchthon. In den 1550er Jahren näherte sich Calvin zwinglianischen Positionen an. In den 1560er Jahren suchte Calvin aber wieder Gemeinsamkeiten mit dem Luthertum und wählte Formulierungen, die an die Confessio Augustana und an Melanchthons Confessio Saxonica anklingen. Wenn im Folgenden „das“ Abendmahlsverständnis Calvins wie etwas Feststehendes vorgestellt wird, so handelt es sich angesichts seiner fortwährenden Gesprächs- und Vermittlungsbemühungen um eine Vereinfachung:
Das Abendmahl selbst ist eine Gabe Gottes, nicht nur die Erinnerung an eine göttliche Wohltat. Der Heilige Geist bewirkt, dass Jesus Christus in Brot und Wein als Person gegenwärtig ist (praesentia personalis).
Die Teilnehmer der Abendmahlsfeier sind durch diese in Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Der Heilige Geist ist das Band (vinculum participationis), das den einzelnen Gläubigen mit Leib und Blut Christi verbindet und zum Teil der Kirche als dem mystischen Leib Christi macht. Das Abendmahl stärkt den einzelnen Christen und vertieft seine Christusbeziehung. Darum sollte man häufig am Abendmahl teilnehmen. Die Feier ist außerdem ein Gedächtnis- und Bekenntnismahl.
Was der Christ beim Abendmahl empfängt, ist eine vom Heiligen Geist vermittelte reale Gabe: der ganze Christus und sein erlösendes Handeln. Wo Calvin stärker lutherisch formulierte, heißt es: Das Zeichen (Brot und Wein) bietet das Bezeichnete, nämlich Christus, dar. Mit dem Begriff der Darbietung (exhibitio) hatte Calvin eine Sprachregelung gefunden, die sowohl reinen Symbolismus als auch massiven Sakramentsrealismus vermied. Wo Calvin sich mehr Zwingli annäherte, formulierte er: Das Zeichen ist ein Bild oder etwas dem Bezeichneten Ähnliches (imago oder similitudo), das Gott gebraucht, ohne sich daran zu binden. Entsprechend schwankte Calvins Verständnis der Art und Weise, wie der Gläubige einerseits Brot und Wein, andererseits Christus selbst empfängt (duplex manducatio).
===== Doppelte Prädestination =====
In der Erstfassung der Institutio von 1536 sind die Hauptbegriffe der späteren Prädestinationslehre schon vorhanden: Erwählung Gottes, Vorsehung Gottes, ewiger Ratschluss Gottes, vor Grundlegung der Welt, Erwählte und Verworfene, Beharren bis ans Ende. Aber der Tenor der Ausführungen von 1536 lässt sich laut Wilhelm H. Neuser auf folgende Formel bringen: „Gott ist barmherzig, und die Glaubenden sollen daher Hoffnung für die Außenstehenden hegen.“ Noch lehrte Calvin nicht die doppelte Prädestination. Bereits im folgenden Jahr erfolgte mit dem ersten Genfer Katechismus (Instruction et Confession de Foy dont on use en l’Eglise de Genève) eine Neubestimmung, und der Grund dafür war anscheinend die stärkere Gewichtung des Sündenfalls. Die Entscheidung, ob der einzelne Mensch ein Erwählter oder ein Verworfener sein werde, fällte Gott demnach bereits vor Erschaffung der Welt. Einen Bezug dieses sogenannten „ewigen Ratschlusses“ (decretum aeternum) zum Erlösungshandeln Jesu Christi konnte Calvin nicht herstellen. In der Institutio von 1539 liegt Calvins Prädestinationslehre dann schon fertig vor, in der Endfassung von 1559 nahm er diesen 20 Jahre alten Text und teilte ihn: die göttliche Vorsehung erscheint 1559 im ersten Buch im Rahmen der Schöpfungslehre, die Prädestination im dritten Buch nach den Themen Heiligung und Rechtfertigung; der größere Kontext ist hier die Glaubensgewissheit. Zwischen 1539 und 1559 setzte sich Calvin mit Gegnern seiner Prädestinationslehre auseinander, neben Jérôme-Hermès Bolsec vor allem mit dem Niederländer Albert Pigge (Pighius). Pigge schlug folgende Faustregel für das Verständnis schwieriger Bibelverse vor:
In der Abwehr der Argumentation Pigges betonte Calvin nun Gottes Zorn über die Sünde. Unter dem Motto „Augustinus gehört uns!“ (Augustinus totus noster) trat die Beweisführung aus den Schriften des Kirchenvaters gleichwertig neben die Begründung der Prädestinationslehre aus der Bibel. Die Gegenposition zu Pigge klingt bei Calvin so:
In der Genfer Gemeinde gab es Vorbehalte gegen Calvins Prädestinationslehre. Die Compagnie des Pasteurs verpflichtete Calvin deshalb, eine Predigt eigens zu diesem Thema zu halten; er tat das am 18. Dezember 1551. Interessant ist, dass Calvin den Hörern hier weniger zumutete als in seinen dogmatischen Schriften; er predigte die Gnadenwahl, nicht die doppelte Prädestination. Der Christ solle ehrfürchtig auf Gottes Majestät und die Größe seiner Gnade schauen, mit der er „uns“ aus der ganzen seit Adams Fall verdammten Menschheit erlöst hat. Dann fuhr Calvin fort:
Neuser weist darauf hin, dass Calvins Predigt zwar nicht im Widerspruch zu den dogmatischen Ausführungen der Institutio steht, aber den Hörern vorenthielt, dass er in der Institutio weitere Konsequenzen zog: „D. h. er verteidigt die doppelte Prädestination [in der Institutio] logisch und uneingeschränkt. Dazu gehört auch die Verborgenheit des decretum aeternum.“ Mit anderen neueren Calvinforschern schließt er daraus, dass die Prädestinationslehre in der Endfassung der Institutio von 1559 nicht absolut gesetzt werden solle, sondern dass es in Calvins Werk verschiedene Aussagen zum Thema gibt.
===== Kirche =====
Die Kirche war für Calvin die „Mutter“ der Glaubenden – eine auf Tertullian zurückgehende Formulierung (Institutio, 4.1.1.). Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die Augustinus von Hippo begründete, hat bei Calvin kein besonderes Gewicht. Letzten Endes wisse nur Gott, wer zu ihm gehöre. Wenn Calvin auf die „sichtbare Kirche“ einging, so interessierte ihn meist nicht die Problematik, dass Fromme und Unfromme dieser Organisation angehören, sondern, dass die Kirche sich eine ihrem Auftrag entsprechende Organisationsform geben sollte. Gottes Erwählung der Kirche (zu der Calvin auch das Bundesvolk des Alten Testaments, die Juden, rechnet) und ihre Gestaltwerdung sind bei Calvin aufeinander bezogen wie Rechtfertigung und Heiligung des einzelnen Christen. Daraus ergibt sich, dass für Kirchen calvinistischer Tradition die Kirchenverfassung große Bedeutung hat.
Die Kennzeichen der wahren Kirche (notae ecclesiae) bestimmte Calvin in der Institutio übereinstimmend mit der Confessio Augustana (Artikel 7), die von Philipp Melanchthon als Konsensdokument der Wittenberger Reformation und der altgläubigen Seite formuliert worden war. Predigt des Worts und Verwaltung der Sakramente sind auch für Calvin die beiden Merkzeichen (symbola) der Kirche und konstituieren sie. Auch wenn es viele Missstände (vitii) gibt und etwa in der Liturgie Unterschiede bestehen, ist daher Gemeinschaft mit anderen Konfessionen möglich. Der Prediger des Worts, an dem nach diesem Modell liegt, ob vor Ort die wahre Kirche vorhanden ist, stelle in seiner Person eine Korrelation zwischen Bibeltext und Heiligem Geist her; weder rezitiert er bloß Bibeltexte, noch löst er sich in seiner Predigt vom Bibelwort, denn der Heilige Geist hat sich an diese Texte gebunden. Im Gegensatz zu einigen Bekenntnisschriften reformierter Kirchen (Confessio Scotica 1560, Confessio Belgica 1561) rechnete Calvin die Kirchenzucht nicht unter die notae ecclesiae. Die römisch-katholische Kirche des 16. Jahrhunderts erfüllte nach Meinung Calvins und anderer Reformatoren die notae ecclesiae nicht, war also nicht Kirche im eigentlichen Sinn. Calvin fand aber, im Gegensatz etwa zu Melanchthon, im Katholizismus Spuren von Kirche (Vestigia ecclesiae), ein Motiv, das im 20. Jahrhundert im ökumenischen Gespräch aufgegriffen wurde. Er setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er Anfang der 1540er Jahre bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545–1563) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen.In seiner Kirchenordnung von 1541 führte Calvin nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese Ältesten waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (pasteurs, ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire). Weitere Ämter hatten die Lehrer (docteurs) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten (Vierämterlehre). Calvins Lehre von der Kirche begründete einen neuen Kirchentyp, der als viertes neben die römisch-katholische Kirche, die anglikanische Staatskirche und das landesherrliche Kirchenregiment des Luthertums trat: Kirche als selbständiges Gegenüber des Staates, das den Staat in seinen Aufgabenbereichen respektiert.
===== Missiologie =====
Calvins Missionsgedanken bewegen sich weitgehend in den Bahnen reformatorischer Anschauungen. Auch Calvin ist erstaunt über die Verbreitung des Evangeliums in der Welt. Obwohl Christus nach seiner Auferstehung diese „wie ein Blitz […] durchdrungen“ habe, wird der umfassende Missionsauftrag jedoch erst mit Christi Wiederkunft vollendet sein. Bis dahin könne Gott, wie Calvin glaubt, noch immer Apostel als Sendboten erwecken oder auch die Obrigkeit in seinen Dienst stellen. Eine organisierte Missionsunternehmung indes tritt nicht in das Blickfeld des Reformators.
Der einzelne Christ, so Calvin fortfahrend, sei keineswegs seiner Verantwortung enthoben: Soweit es uns möglich ist, „sollen [wir] uns bemühen, alle Menschen auf der Erde zu Gott zu führen“ resp. „arme Seelen aus der Hölle herauszuziehen […], damit er [sc. Gott] „von allen einmütig geehrt werde und ihm alle dienen.“
==== Ethik ====
Dass Calvin von seiner Ausbildung her Jurist war, hatte Folgen für sein theologisches Denken, das, so Christian Link, „zeitlebens geprägt [war] von der Strenge und Faszination des Gesetzes.“ Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit seien dem Menschen „eingeprägt“ (Institutio 2.8.1.). Es entspreche der Autorität Gottes des Schöpfers, das Leben der Menschen mit dem Gesetz zu regeln; dies sei eine Wohltat Gottes und zeige seine Gerechtigkeit, Heiligkeit und Güte (Institutio 3.23.2.). Calvin lehrt eine dreifache Funktion des Gesetzes:
Es zeigt, worin Gerechtigkeit besteht und hält den Menschen den Spiegel vor;
In der Bürgergemeinde wird mit dem Gesetz ein einigermaßen harmonisches Zusammenleben ermöglicht; Strafandrohung und Strafverfolgung halten die Ungerechten weitgehend davon ab, Schaden anzurichten;
Der wichtigste Gebrauch des Gesetzes ist für Calvin, dass es den Christen anleitet, in der Erkenntnis voranzuschreiten, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und sich vor Müßiggang und Gesetzesübertretung zu hüten (Usus in renatis).Calvins Ethik betont die christliche Freiheit und die Gewissensfreiheit. Unter Freiheit versteht Calvin erstens die aus der Sündenvergebung resultierende Freiheit von Werkgerechtigkeit, zweitens die Freiheit, aus Dankbarkeit gute Werke zu tun und sich für Gerechtigkeit einzusetzen, drittens die Freiheit, die Güter dieser Welt zu genießen und zu gebrauchen, immer orientiert an dem, was dem Nächsten nützt und der Ehre Gottes dient.Die Kirchenzucht ist nach Calvin unerlässlich, sowohl um die Integrität der Kirche zu wahren als auch um den Fortschritt der einzelnen Gläubigen in der Heiligung zu fördern. Vorrangig geht es dabei um öffentliche und provokante Verletzungen der Gebote, aber Calvin ließ unbestimmt, in welchem Umfang private Fehler und persönliche Schwächen ein Thema der Kirchenzucht sind. Das Vorgehen bei Kirchenzucht, vom persönlichen Gespräch bis schlimmstenfalls zum Ausschluss des Unbußfertigen (Exkommunikation) entnahm Calvin dem Neuen Testament. Grundsätzlich sei jeder Christ befugt, sich für die Kirchenzucht in seiner Gemeinde einzusetzen, aber ein besonderer Auftrag sei dies für Pastoren und Presbyter.Innovativ war Calvin beim Thema Ehe und Familie. Ausgehend von Spr 2,17 und Mal 2,14–16 , verstand er die Ehe als Bund: „So wie Gott den erwählten Gläubigen in eine Bundesbeziehung mit ihm hineinzieht, so zieht er die Eheleute in eine Bundesbeziehung miteinander.“ Die Eltern der Brautleute, die Gefährten (Trauzeugen), der Geistliche und der Magistrat müssen bei der Eheschließung zwingend beteiligt sein, da sie für unterschiedliche Dimensionen der Mitwirkung Gottes stehen. Ehe war für Calvin eine heterosexuelle, monogame, auf Lebenszeit angelegte Verbindung zweier Menschen. Alles, was von dieser Norm abwich, wurde von Calvin bekämpft und im Genf seiner Zeit bestraft. (Dabei hatte er argumentative Schwierigkeiten bei der Ablehnung der von den biblischen Patriarchen gelebten Vielehe.) Ehebruch war für Calvin ein Verbrechen und konnte im schweren und wiederholten Fall im Genf seiner Zeit die Todesstrafe zur Folge haben. Alle Arten von sexuellen Normverstößen, ja sogar Tanzen, zweideutige Spiele, Humor, Literatur klassifizierte Calvin tendenziell als Unzucht, die mit Verwarnung oder Geldbuße sanktioniert wurde. Das Konsistorium suchte Eheprobleme durch Mediation zu lösen (was einen erheblichen Teil der Konsistoriumsakten füllt) und eine Versöhnung herbeizuführen. Wo das nicht möglich war, konnte der nichtschuldige Ehepartner auf Scheidung klagen und erhielt so die Möglichkeit der Wiederheirat. Aber auch der schuldige Ehepartner sollte nach einer gewissen Bußzeit wieder heiraten.Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Personen mit Amtsgewalt (magistratz) seien „Stellvertreter und Statthalter Gottes“ (vicaires et lieutenants de Dieu), formulierten Farel und Calvin bereits 1536 in der Confession de la Foy, die sie der Stadt Genf vorlegten. Ihre Aufgabe sei es, den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit durch Gesetze und Rechtsprechung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin war der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lasse. Die Monarchie sah er kritisch, da sie zu Tyrannis neige. Er tendierte zu einer aristokratischen Regierungsform, die ein Element bürgerlicher Selbstverwaltung haben konnte, aber nicht musste. Die Bevölkerung sei verpflichtet, Erlasse zu befolgen, Steuern zu zahlen und Aufgaben für das Gemeinwohl zu übernehmen, darunter der Kriegsdienst in gerechten Verteidigungskriegen. Sie müsse auch Tyrannen erdulden. Diese zu stürzen sei Recht und Pflicht der niederen Obrigkeiten (z. B. Adel, Stände). Nur im Grenzfall sei Widerstandsrecht auch für den Einzelnen erlaubt, nämlich dann, wenn die Obrigkeit Ungehorsam gegen Gott befiehlt.Seine Bibelexegese führte Calvin zu einer „eingeschränkte[n] Billigung des Zinses und des Erwerbs von Eigentum durch ehrliche und harte Arbeit“. Er befürwortete den Zins als Anreiz, Geld produktiv anzulegen, wollte ihn aber auf wirtschaftlich Leistungsfähige beschränken, Arme sollten von der Zinszahlung verschont werden und Wucher war untersagt. Unter seinem Einfluss wurde in Genf ein staatlicher Höchstzins von 5 % festgesetzt. In Genf setzte sich Calvin für sozialpolitische Maßnahmen ein: kostenlose medizinische Versorgung der Armen, Preiskontrolle bei Grundnahrungsmitteln, Arbeitszeitbegrenzung, Lohnerhöhung, Umschulung von Arbeitslosen usw. Dies alles sei Aufgabe der Stadtregierung.
== Wirkungsgeschichte ==
=== Altreformierte Orthodoxie ===
Der Konsens der älteren Forschung (Ernst Bizer, Basil Hall) besagte, dass Calvins Theologie bereits von der Generation seiner Schüler, vor allem Théodore de Bèze, in ein System gebracht worden sei, das die Beschäftigung mit der Bibel und die Bedeutung von Jesus Christus zurücktreten ließ zugunsten der dominierenden Prädestinationslehre. Mit den Arbeiten Richard A. Mullers setzte eine Neubewertung ein, die zum Beispiel Heiko A. Oberman und David C. Steinmetz vertreten. Demnach ist Johannes Calvin eine von mehreren prägenden Persönlichkeiten seiner Theologengeneration. Die altreformierte Theologie setzte Calvins Institutio nicht in der Weise als normativ voraus wie die Lutheraner das Konkordienbuch. Schon mit den nationalen Bekenntnisschriften des späten 16. Jahrhunderts begann eine Differenzierung und Weiterentwicklung. So enthält das Zweite Helvetische Bekenntnis (1566) nicht die Lehre der doppelten Prädestination, weil es sich um einen Text Heinrich Bullingers handelt, der Calvins Prädestinationslehre nicht teilte. Der Anteil Calvins an der Entwicklung der altreformierten Orthodoxie im 17. Jahrhundert ist noch schwerer zu bestimmen. Die Dordrechter Synode war mit einem kleinen Problemkreis befasst, der sich in den Niederlanden durch das Auftreten des Arminianismus ergeben hatte. Die Westminstersynode dagegen erarbeitete einen Gesamtentwurf reformierter Theologie, der offensichtlich in der Tradition Calvins steht. „Dennoch ist der Inhalt der Westminster-Dokumente theologisch gesprochen so allgemein, dass es unmöglich ist, bestimmte Elemente mit Calvin als Einzelperson in Verbindung zu bringen.“
=== Auseinandersetzung mit der Person Calvins im 18. Jahrhundert ===
Im 18. Jahrhundert wurde Calvin weniger gelesen, was auch daran lag, dass Calvins Französisch nun schwer verständlich war. Über die Leserkreise von Calvins Werken ist wenig bekannt. Seine Persönlichkeit wurde in der Aufklärung meist kritisch gesehen. Im römisch-katholischen Raum wurde die polemische Biografie seines zeitgenössischen Gegners Jérôme-Hermès Bolsec viel rezipiert, der zufolge Calvin sexuell aggressiv gewesen sei, sich als Gott habe verehren lassen und an einer „stinkenden Krankheit“ zugrunde gegangen sei. Thomas Jefferson hielt Calvin, Athanasius den Großen und Ignatius von Loyola für drei religiöse Psychopathen, die verantwortlich seien für die Verbreitung vernunftwidriger Dogmen, darunter den Dreigötterglauben. Ganz anders Benjamin Franklin, der sich für Calvins Arbeitsmoral begeisterte. Da er nur wenige Stunden Schlaf brauchte, habe der mit 54 Jahren verstorbene Calvin ein langes Leben gehabt.
Sowohl Jean-Jacques Rousseau, der aus Genf stammte, als auch Voltaire, der dort ein Anwesen besaß, waren der Stadt verbunden und setzten sich mit Calvin auseinander. Rousseau pries Calvin als Genie, das man als Patriot und freiheitsliebender Mensch verehren solle. Voltaire dagegen verachtete den „Papst der Protestanten“, der die Gewissen kontrollieren wollte und, wie der Fall Servet zeige, ein Tyrann gewesen sei. Er gratuliere der Genfer Pastorenschaft dazu, dass sie gegenwärtig keine Calvinisten mehr seien. Der leitende Genfer Pastor, Jacob Vernet, entwickelte die Argumentation zu Calvins Verteidigung, die als klassisch gelten kann: Servet sei überhaupt nur nach Genf gelangt, weil er vor seiner Hinrichtung durch die Inquisition entflohen sei. Nicht Calvin verurteilte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen, sondern der Genfer Rat. Calvin tat nur seine Pflicht, als er Dokumente herausgab, die Servet ihm selbst geschickt hatte. Die Hinrichtungsmethode zeige die Brutalität der Zeit, dafür könne man nicht Calvin als Person verantwortlich machen.
=== Calvinrezeption im 19. und 20. Jahrhundert ===
Nach Arnold Huijgen beherrschten zwei gegenläufige Trends die Beschäftigung mit Calvin im 19. Jahrhundert:
Für die einen war Calvin wegen seiner Rolle im Prozess gegen Servet eine Symbolfigur der religiösen Intoleranz, und Servet wurde als Freigeist stilisiert.
Anderen galt das Genf Calvins als ideale, musterhafte christliche Gesellschaft. Für diesen „politischen Calvinismus“ steht der niederländische Premierminister Abraham Kuyper.
==== Calvin-Biografien ====
Paul Henry, Prediger an der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin, legte die erste große Biografie Calvins vor: Das Leben Calvins, des großen Reformators, 3 Bände 1835–1844. Henry schrieb als Verehrer Calvins, ebenso wie Ernst Staehelin (1863). Zwei römisch-katholische Autoren, Franz Wilhelm Kampschulte (1869; 1899) und Carl Adolph Cornelius (1899), stellten Calvin distanzierter dar; beider Arbeiten blieben unvollendet. Von 1899 bis 1927 erschien die siebenbändige Calvin-Biografie Émile Doumergues, die auf den älteren Arbeiten aufbaute und ganz auf den Ton der Calvin-Bewunderung und Calvin-Apologetik gestimmt ist. Doumergue betreute mehrere Doktoranden, die Einzelaspekte der Biografie Calvins erforschten.
==== Erinnerung an Servet ====
Der Prozess Servets zog als Einzelthema große Aufmerksamkeit auf sich. Der Tenor dieser Publikationen ist starke Kritik der Rolle Calvins. Antonius van der Linde bezeichnete Servet im Titel seiner Schrift geradezu als „Brandopfer der reformierten Inquisition“ (Michael Servet, een brandoffer der gereformeerde inquisitie, 1899). Servet wurde auch in Theaterstücken als Märtyrer der Meinungsfreiheit dargestellt. 1903 jährte sich Servets Todestag zum 350. Mal. Freidenker planten, aus diesem Anlass für Servet ein Denkmal zu errichten. Calvinisten verhinderten dies und kamen ihnen zuvor, indem sie ihrerseits einen Servetus-Gedenkstein aufstellten. Der von Doumergue verfasste Text entlastete Calvin von der Verantwortung für Servets Tod. Er drückt Respekt für Calvin, „unseren großen Reformator“, aus, verdammt „eine Irrung, die die Irrung seiner Zeit war“ und bekennt sich zur Gewissensfreiheit, die den Prinzipien der Reformation und des Evangeliums entspreche.
==== Neocalvinismus ====
Niederlande
Der Politiker Abraham Kuyper kann als Initiator und bekanntester Vertreter des niederländischen Neocalvinismus gelten. Er verstand den Calvinismus als „Lebensprinzip“, der als einziges dem „Modernismus“ Widerstand leisten könne, hinter dem er die Französische Revolution sah. Es gebe eine Menschheitsentwicklung von den Hochkulturen des Alten Orients über Griechenland und Rom, das Papsttum, die calvinistischen Gesellschaften Westeuropas und von dort weiter nach Amerika, erläuterte er in den Stone Lectures, die er 1898 in Princeton hielt. Kuyper stützte sich bei seiner modernen Interpretation Calvins vor allem auf Buch 1 der Institutio (Schöpfung, Gottes Vorhersehung) und Buch 4 (Kirchenordnung, Staat und Politik). Herman Bavinck legte mit der Gereformeerde Dogmatiek (1895) eine systematische Darstellung des modernen Calvinismus vor. Weitere Vertreter waren in den Niederlanden Herman Dooyeweerd und Gerrit Cornelis Berkouwer, in Deutschland Hermann Friedrich Kohlbrügge und Adolf Zahn.Eine besondere Weiterentwicklung des niederländischen Neocalvinismus fand innerhalb der Niederländisch-reformierten Kirche in Südafrika statt. Theologen, die an der Freien Universität Amsterdam studiert hatten und dort durch Kuyper und Bavinck geprägt worden waren, leiteten aus dem Kuyperismus eine religiöse Begründung der Apartheid ab (und das, obwohl Kuyper selbst Rassentrennung nicht befürwortete). Besonders einflussreich war F. J. M. Potgieter, der von 1946 bis 1977 einen Lehrstuhl für Theologie an der Universität Stellenbosch hatte. Er vertrat diese Spielart des Neocalvinismus nicht nur im akademischen Raum, sondern war auch an Dokumenten seiner Kirche, die das Apartheidsystem rechtfertigten, maßgeblich beteiligt.Vereinigte Staaten
Das Princeton Theological Seminary galt von 1812 bis seiner Neuorganisation 1929 als Hochburg des amerikanischen Neocalvinismus, der mit den Namen Archibald Alexander, Charles Hodge, Benjamin Breckinridge Warfield und John Gresham Machen verbunden ist. Nächst der Bibel, die mit dem Vorzeichen der strikten Verbalinspiration gelesen wurde, und den Werken Calvins war François Turretini und die Westminster Confession grundlegend für die reformierte Theologie Princetons. Sie wurden von Hodge in die Formel gefasst: „Der Calvinismus ist schlicht die Religion in Reinform.“ Die Reorganisation Princetons 1929 führte zur Gründung des Westminster Theological Seminary, das die Tradition des alten Princeton weiterführen sollte. Nachdem die großen Kirchen reformierter Tradition in den Vereinigten Staaten heute nicht mehr als konfessionell-calvinistisch anzusprechen sind, sieht Scott M. Manetsch die Pflege des calvinistischen Erbes eher bei einer Reihe von Verlagshäusern, die Werke von und über Calvin für ein großes Publikum anbieten: Baker, Eerdmans, Puritan-Reformed und Westminster/John Knox.
==== Max Weber ====
In einem Klassiker der Religionssoziologie, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) entwickelte Max Weber den Gedanken, dass Calvins Lehre der doppelten Prädestination Ängste weckte, die durch eine bestimmte Arbeitsethik überwunden oder wenigstens erträglich gemacht wurden. Dabei unterscheidet er zwischen Calvins eigenen Auffassungen und dem, was die Epigonen daraus machten: „Er [Calvin] verwirft prinzipiell die Annahme: man könne bei anderen aus ihrem Verhalten erkennen, ob sie erwählt oder verworfen seien, als einen vermessenen Versuch, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben äußerlich in nichts von den Verworfenen.“ Der Schluss von der eigenen Lebensführung auf den Stand der Erwählung (Syllogismus practicus) ist demnach ein Phänomen des späteren Calvinismus, das sich aber, nach Weber, folgerichtig aus den Problemen der damaligen Seelsorger ergab. Sie rieten ihren Gemeindegliedern dazu, sich für erwählt zu halten und jeden Zweifel daran zu unterdrücken, und schufen so den Typ der „selbstgewissen «Heiligen», […] die wir in den stahlharten puritanischen Kaufleuten […] wiederfinden.“ Außerdem war nicht wie im vorreformatorischen Katholizismus eine möglichst große Zahl einzelner guter Werke gefordert (insofern auch keine Werkgerechtigkeit), sondern eine rationale Lebensführung: „eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit.“ (ebd.) Für diese calvinistische Lebensführung prägte Weber den Begriff innerweltliche Askese als Gegensatz zu einer katholischen Askese des Rückzugs aus der Welt ins Kloster. Weber betonte, wie befremdlich der asketische Heroismus des puritanischen Bürgertums im 20. Jahrhundert wirkte. Er postulierte eine „Höchstrelevanz des Religiösen“ (Hartmann Tyrell) im Calvinismus des 17. Jahrhunderts, das Jenseits (Life, eternal life) sei alles gewesen, während Webers Kritiker die Bedeutung religiöser Momente für die reale Entwicklung stark überbewertet sahen.Webers Calvinist ist für sein Seelenheil ganz auf sich gestellt. „Das bedeutet nun aber praktisch, im Grunde, daß Gott dem hilft, der sich selber hilft, daß also der Calvinist […] seine Seligkeit – korrekt müßte es heißen: die Gewißheit von derselben – selbst ‚schafft‘ […] in einer zu jeder Zeit vor der Alternative: erwählt oder verworfen? stehenden systematischen Selbstkontrolle.“ Kurt Samuelsson betont, dass die Parenthese eine Schwäche von Webers Argumentation zeige: Ist der wirtschaftliche Erfolg für den Calvinisten ein Zeichen seiner Erwählung („Seligkeit“) oder ein Mittel, um seine Erwählung selbst zu „schaffen“? Nur die erste Option ist konsistent mit der Lehre der doppelten Prädestination. Weber erwähnte, dass jemand sich seiner Erwählung statt durch asketisches Handeln auch durch „mystische Gefühlskultur“ versichern könne. Diese Option ordnete er aber dem Luthertum zu. Samuelsson kritisiert, dass Weber diese konfessionell verschiedene Rezeption des Prädestinationsgedankens nicht begründete, sondern als Selbstverständlichkeit betrachtete.Dieter Schellong und Heinz Steinert kritisieren Webers selektiven Umgang mit Quellentexten. Seine Hauptquelle für die puritanische Befindlichkeit sei Richard Baxter, der die doppelte Prädestination ablehnte. Weber zitiere aus Baxters Frühwerk The Saints’ Everlasting Rest („Die ewige Ruhe der Heiligen“) und blende weg, dass Baxter darin berufliche Arbeit nur als Hindernis der Kontemplation sieht.
==== Calvin-Jubiläum 1909 ====
Die Feiern zu Calvins 400. Geburtstag 1909 wurden im Reformierten Bund in Deutschland als Chance begriffen, in der deutschen Öffentlichkeit Sympathie für Calvin zu wecken, die mehrheitlich nur zweierlei über ihn wusste: „daß er den lästernden Servet verbrannt und die grausame Lehre von der Prädestination aufgestellt habe“, wie ein Zeitgenosse formulierte. Der Bund unternahm erhebliche Anstrengungen, das Jubiläum mit den damaligen Mitteln als „Multimedia-Ereignis“ (Hans-Georg Ulrichs) zu inszenieren.Die Genfer Festwoche im Juli 1909 hatte ein dichtes kirchlich-akademisches und volksfestartiges Programm. Einige Beobachter meinten, dass es nicht der reformierten Tradition entspreche, eine Person so in den Mittelpunkt zu stellen. Karl Barth vermutete, Calvin wäre die „reformierte Siegesallee“ (das 1909 begonnene, 1917 eingeweihte Internationale Denkmal der Reformation) „ganz einfach ein Greuel gewesen.“ Der wichtigste wissenschaftliche Ertrag des Calvin-Jubiläums war die Edition von Calvins Briefwechsel durch den Pfarrer und Schriftsteller Rudolf Schwarz. Sie zeigte unbekannte Seiten des Reformators und wurde als Korrektur von Kampschultes Calvin-Biografie begrüßt.
==== Karl Barth ====
Barths Calvin-Vorlesung an der Universität Göttingen 1922 war der Auftakt für eine neue Beschäftigung mit der Theologie Calvins im Raum der Dialektischen Theologie. Seine Neugier auf Calvins Schriften formulierte Barth mit den Mitteln des Expressionismus:
Barth war sich aber auch der Distanz bewusst, die zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert besteht: „Die Einzelheiten des viel bewunderten Genfer Lebenssystems kann man wirklich nicht kennenlernen, ohne daß einem Worte wie Tyrannei und Pharisäismus fast unwillkürlich auf die Lippen kommen. Keiner von uns, der wirklich Bescheid weiß, würde in dieser heiligen Stadt haben leben wollen.“Calvins Stärke sah Barth in der Synthese: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, Dogmatik und Ethik.
Unter den Autoren, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Calvins Theologie befassten, sind Max Dominicé (L’humanité de Jesu Christ, 1933) und Wilhelm Niesel (Calvins Lehre vom Abendmahl, 1930) hervorzuheben. Niesel, ein akademischer Schüler Barths, legte 1938 Die Theologie Calvins vor, eine Gesamtschau, die die Christologie als Zentrum von Calvins Denken bewertet und von hier aus Calvins Ekklesiologie interpretiert. „Calvins Kirchenverständnis machte sich Niesel im Kirchenkampf zur Beschreibung der durch Gottes Wort versammelten Gemeinde und später für seine Aufgaben als reformierter Kirchenpolitiker und Ökumeniker nutzbar.“ (Matthias Freudenberg) Die Calvin-Jubiläen 1959 (450. Geburtstag) und 1964 (400. Todestag) waren durch die in der deutschen Theologie dominierende Barth-Schule geprägt. Hans-Georg Ulrichs spricht in diesem Zusammenhang von einer „Calvinisierung“ der Reformierten in Deutschland.
==== Stefan Zweig ====
Am 24. Mai 1935 schrieb der Genfer Pfarrer an St. Peter, Jean Schorer, an Stefan Zweig und schlug dem Schriftsteller vor, die Kontroverse zwischen Castellio und Calvin zum Thema eines historischen Romans zu machen. Schorer stand als Liberaler seinem Amtsvorgänger Calvin sehr kritisch gegenüber. Zweig kannte Castellio bisher nicht und war von dessen Persönlichkeit fasziniert. Bei seinen Literaturrecherchen stellte er sich die Aufgabe, Calvin gerecht darzustellen; Schorer las den am 12. März 1936 abgeschlossenen Text Korrektur. Zweigs Roman Castellio gegen Calvin betitelt das Kapitel über Calvins erste Ankunft in Genf als „Die Machtergreifung Calvins“; die von Calvin nach seiner Rückkehr umgesetzte Kirchenordnung als „Gleichschaltung eines ganzen Volkes“; anders als in den Romanen über Erasmus von Rotterdam und Maria Stuart zieht Zweig in diesem historischen Roman zahlreiche Parallelen zur Neuzeit und zur eigenen Gegenwart. Die Lehre Calvins entspreche dessen Physiognomie, wie Zweig erläutert:
Freudenberg sieht Castellio gegen Calvin als „idealtypische Historiographie“, in der einzelne Personen geschichtliche Phänomene verkörperten; Calvin werde dabei in die Nähe von Adolf Hitler gerückt. Zweig sei von seiner Sekundärliteratur, insbesondere von Kampschulte, abhängig, deren Negativurteile er übernehme.
==== Römisch-katholische Calvinrezeption ====
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden Martin Luther und Philipp Melanchthon von katholischen Kirchengeschichtlern neu und positiver bewertet; in Bezug auf Johannes Calvin kam eine Neubewertung dagegen nur stockend in Gang. Wolfgang Thönissen erläutert: Bis ins 21. Jahrhundert wirke nach, dass die Ausbreitung des Calvinismus in Westeuropa im Ringen mit der katholischen Gegenreformation voranschritt. Das habe auf beiden Seiten die Verhärtung konfessioneller Frontstellungen bewirkt.Karl Barths Theologie regte Yves Congar zu Calvin-Studien an. Calvins Lehre von der Kirche wirkte, vermittelt durch Congar, auf die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ein, und zwar mit dem Motiv der Vestigia ecclesiae und mit der Lehre vom dreifachen Amt Christi – das ganze Volk Gottes habe Anteil an den Ämtern Christi (Lumen gentium 10–12. 31; Apostolicam actuositatem 10).Mit Alexandre Ganoczys Untersuchungen über Amt und Kirche bei Calvin setzte die neuere katholische Calvinforschung ein, die sich vor allem der Ekklesiologie und Sakramentenlehre des Reformators widmete. Eva-Maria Faber bietet eine Auseinandersetzung mit der gesamten Theologie Calvins (Symphonie von Gott und Mensch, 1999): Calvins Theologie ist zwar Kontroverstheologie, aber seine Christologie bietet sich als ein zentrales Thema an, bei dem jenseits der Polemik des 16. Jahrhunderts Gemeinsamkeiten gefunden werden können. Vermittelt über reformierte Theologen (Franz Jehan Leenhardt, Max Thurian, Jean-Jacques von Allmen), lässt sich außerdem in neuerer römisch-katholischer Sakramententheologie ein Grundgedanke Calvins aufzeigen: „Die Gaben von Brot und Wein werden durch Jesus Christus selbst … in der Kraft seines Hl. Geistes in eine völlig neue Beziehung zu uns gesetzt.“ Das Schlussdokument des Dialogs zwischen Reformiertem Weltbund und dem Sekretariat für die Einheit der Christen, Die Gegenwart Christi in Kirche und Welt (1977), zeigt, welche Konvergenzen im Verständnis der Gegenwart Christi im Abendmahl möglich sind, wobei der reformierte Vorbehalt gegenüber dem Messopfer allerdings bleibt.
=== Calvin-Jahr 2009 ===
Das Calvin-Jahr anlässlich seines 500. Geburtstags wurde im Rahmen der Reformationsdekade von der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland begangen; das unterscheidet es von den Calvin-Jubiläen des 20. Jahrhunderts, die die deutschen Reformierten als Minderheit tendenziell in eine apologetische Rolle brachten. Unter dem Titel „Reformation und Bekenntnis“ wurde neben Calvin auch der vor 75 Jahren beschlossenen Barmer Theologischen Erklärung gedacht. Das Deutsche Historische Museum in Berlin, zusammen mit der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, widmete Calvin von April bis Juli 2009 eine eigene Ausstellung (Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa), die am 31. März 2009 vom damaligen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende eröffnet wurde. Bei der zentralen Gedenkfeier zu Calvins Geburtstag am 10. Juli 2009 in Berlin sprach Frank-Walter Steinmeier, der damalige deutsche Außenminister. Beide Politiker entstammen reformierten Kirchen.Weitere Calvin gewidmete Ausstellungen waren im Jahr 2009:
Internationales Museum der Reformation (Genf): Ein Tag im Leben Calvins (Une journée dans la vie de Calvin);
National- und Universitätsbibliothek Straßburg: Als Straßburg Calvin aufnahm, 1538–1541 (Quand Strasbourg accueillait Calvin 1538–1541);
Große Kirche Dordrecht: Calvin und wir (Calvin & Wij).In zahlreichen Städten der Schweiz, Deutschlands und der Niederlande fanden Kolloquien und Studienreisen, Kurse, Ausstellungen und Vorträge aus Anlass des Calvin-Festjahres statt.
=== Gedenktag ===
Evangelische Kirche in Deutschland: 27. Mai im Evangelischen Namenkalender
Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika: 27. Mai
== Werkausgaben ==
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stellten mehrere Calvin-Editionen die Forschung auf eine neue Grundlage. Herausragend war die fast vollständige Straßburger Edition der Calvini Opera von Johann Wilhelm Baum, August Eduard Cunitz, Eduard Reuss: sie löste die Calvin-Gesamtausgabe von J. J. Schipper (1671) ab. 1833/34 gab August Tholuck die Kommentare Calvins zum Neuen Testament heraus, und Aimé-Louis Herminjard veröffentlichte 1866/67 Calvins französischen Briefwechsel. Im 20. Jahrhundert förderte E. F. Karl Müller durch seine Übersetzungen von Calvins Werken ins Deutsche dessen Bekanntheit (1909 ein Auszug aus der Institutio, 1901–19 Calvins Bibelauslegungen in 14 Bänden) und bereitete so die Calvin-Renaissance in der Dialektischen Theologie vor.In den Originalsprachen (lateinisch, französisch)
Johann Wilhelm Baum, August Eduard Cunitz, Eduard Reuss (Hrsg.): Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia, 59 Bände (= Corpus Reformatorum, Bände 29–87). C.A. Schwetschke, Braunschweig / Berlin, 1863–1900 (Zugang zu Digitalisaten). Klassische Werkausgabe (Abkürzung: CO), immer noch wissenschaftlich zitierfähig.
Peter Barth, Wilhelm Niesel (Hrsg.): Ioannis Calvini opera selecta. 5 Bände. Kaiser, München 1926–1936. Werkauswahl (Abkürzung: OS).
Irena Backus u. a. (Hrsg.): Ioannis Calvini opera omnia denuo recognita et adnotatione critica instructa notisque. Droz, Genf 1992 ff. Auf 12 Bände angelegte Neuausgabe der Calvini Opera mit Anmerkungen und Bibliographie nach dem aktuellen Forschungsstand (Abkürzung: COR).In deutscher Übersetzung
Rudolf Schwarz (Hrsg.): Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen in deutscher Übersetzung. 1. Aufl. 2 Bände, Tübingen 1909; 2. Aufl. 3 Bände, Neukirchen 1961/62.
Otto Weber (Hrsg.): Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Neukirchener Verlag, (1. Aufl. 1955) 5. Auflage Neukirchen 1988, ISBN 3-7887-0148-X. (online)
Matthias Freudenberg (Hrsg.): Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae religionis. Die Übersetzung von Otto Weber im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2008, ISBN 978-3-7887-2327-9.
Werner Raupp (Hrsg.): Mission in Quellentexten. Geschichte der Deutschen Evangelischen Mission von der Reformation bis zur Weltmissionskonferenz Edinburgh 1910, Erlangen/Bad Liebenzell 1990 (ISBN 3-87214-238-0 / 3-88002-424-3), S. 29–33 (Auszüge, u. a. aus: Defensio orthodoxae fidei de sacra trinitate, 1554 (Corpus reformatorum 36); Commentarius in Harmoniam Evangelicam, 1555 (ebd., 73); Sermons sur le Deutéronome, 1556 (ebd., 57); Institutio Christianae Religionis, 1559; einschl. Einl. u. Lit.).
Eberhard Busch (Hrsg.): Calvin-Studienausgabe. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1994–2011. Lateinische bzw. französische Originaltexte mit deutscher Übersetzung.
Band 1: Reformatorische Anfänge (1533–1541). Teilband 1, 1994, ISBN 3-7887-1483-2; Teilband 2, 1994, ISBN 3-7887-1484-0.
Band 2: Gestalt und Ordnung der Kirche. 1997, ISBN 3-7887-1554-5.
Band 3: Reformatorische Kontroversen. 1999, ISBN 3-7887-1698-3.
Band 4: Reformatorische Klärungen. 2002, ISBN 3-7887-1842-0.
Band 5: Der Brief an die Römer. Ein Kommentar. Teil 1, 2005, ISBN 3-7887-2100-6 ; Teil 2, 2007, ISBN 978-3-7887-2175-6.
Band 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl. 2008, ISBN 3-7887-2310-6.
Band 7: Predigten über das Deuteronomium und den 1. Timotheusbrief. 2009, ISBN 978-3-7887-2362-0.
Band 8: Ökumenische Korrespondenz. Eine Auswahl aus Calvins Briefen. 2011, ISBN 978-3-7887-2535-8.
Matthias Freudenberg, Georg Plasger (Hrsg.): Calvin-Lesebuch. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 2008, ISBN 978-3-7887-2305-7.
== Literatur ==
=== Calvins Biografie ===
Reiner Rohloff: Johannes Calvin: Leben – Werk – Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011. ISBN 978-3-8252-3456-0.
Christian Link: Johannes Calvin – Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche. TVZ, Zürich 2009. ISBN 978-3-290-17510-8.
Wilhelm Heinrich Neuser: Johann Calvin: Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509–1541. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. ISBN 978-3-525-56915-3 (Rezension).
Peter Opitz: Leben und Werk Johannes Calvins. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. ISBN 978-3-525-55000-7. (Rezension)
Thomas H. L. Parker: Johannes Calvin – Ein großer Reformator. SCM Hänssler, Holzgerlingen 2009, ISBN 978-3-7751-4830-6. Englische Originalausgabe: John Calvin. A biography (1975).
Volker Reinhardt : Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf. Beck, München 2009. ISBN 978-3-406-57556-3 (Rezension).
Christoph Strohm: Johannes Calvin: Leben und Werk des Reformators. Beck, München 2009. ISBN 978-3-406-56269-3.
Willem van’t Spijker: Calvin – Biographie und Theologie (= Die Kirche in ihrer Geschichte. Band 3, Lieferung J,2). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. ISBN 3-525-52338-6.
Bernard Cottret: Calvin. Eine Biographie. Quell, Stuttgart 1998, ISBN 3-7918-1730-2. Französische Originalausgabe: Calvin. Biographie, 1995.
Alister McGrath: Johann Calvin: Eine Biographie. Benziger, Zürich 1991. ISBN 3-545-34095-3. Englische Originalausgabe: A Life of John Calvin. A Study in the Shaping of Western Culture, 1990.
=== Calvins Theologie ===
Georg Plasger : Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-56966-5.
Reiner Rohloff: Calvin kennen lernen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, ISBN 978-3-525-56967-2.
Eberhard Busch: Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins. Theologischer Verlag, Zürich 2005, ISBN 3-290-17366-6.
Heiko A. Oberman: Zwei Reformationen. Luther und Calvin – alte und neue Welt. Siedler, Berlin 2003, ISBN 3-88680-793-2.
Eva-Maria Faber: Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1999, ISBN 3-7887-1722-X.
Peter Opitz: Calvins theologische Hermeneutik. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1994, ISBN 3-7887-1489-1.
=== Handbücher, Kompendien ===
André Birmelé, Wolfgang Thönissen (Hrsg.): Johannes Calvin ökumenisch gelesen. EVA, Leipzig 2012, ISBN 978-3-374-03019-4.
Irena Backus, Philip Benedict (Hrsg.): Calvin and His Influence, 1509–2009. Oxford University Press, New York 2011, ISBN 978-0-19-975185-3.
Herman J. Selderhuis (Hrsg.): Calvin Handbuch. Mohr Siebeck, Tübingen 2008. ISBN 978-3-16-149229-7 (Rezension).
Peter Opitz (Hrsg.): Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung. TVZ, Zürich 2003. ISBN 3-290-17252-X (Rezension).
Donald K. McKim (Hrsg.): The Cambridge Companion to John Calvin. In: Cambridge Companions to Religion. Cambridge University Press, Cambridge 2004, ISBN 0-521-01672-X.
=== Fachlexika ===
Brian Albert Gerrish: Calvin, Johannes. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 2, Mohr-Siebeck, Tübingen 1999, Sp. 16–36.
Willem Nijenhuis: Calvin, Johannes. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 7, de Gruyter, Berlin/New York 1981, ISBN 3-11-008192-X, S. 568–592. (abgerufen über De Gruyter Online)
R. Ward Holder: Eintrag in J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Francis Higman: Calvin, Johannes [Jean Cauvin]. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Andreas Mühling: Calvin, Johannes. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.
=== Forschungsgeschichte ===
Christoph Strohm: 25 Jahre Calvin-Forschung (1985–2009). Teil I: Ausgaben, Übersetzungen, Hilfsmittel, Biographie, Theologie (allgemein). In: Theologische Rundschau, Neue Folge 74/4 (2009), S. 442–469, via JSTOR.
=== Einzelthemen ===
Achim Detmers : Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin (= Judentum und Christentum. Band 7). Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2001, ISBN 3-17-016968-8.
Marijn de Kroon: Martin Bucer und Johannes Calvin. Reformatorische Perspektiven. Einleitung und Texte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1991, ISBN 3-525-55337-4.
Ernst Pfisterer: Der Missionsgedanke bei Kalvin, in: Neue Allgemeine Missionszeitschrift 11 (1934), S. 93–108.
Uwe Plath: Calvin und Basel in den Jahren 1552–1556 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft. Band 133). Basel/Stuttgart 1974; Neuauflage mit neuem Vorwort, hrsg. von Wolfgang Stemmler. Alcorde, Essen 2014, ISBN 978-3-939973-63-8.
Hans Scholl (Hrsg.): Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1995, ISBN 3-7887-1551-0.
Wilhelm Schwendemann: Leib und Seele bei Calvin. Die erkenntnistheoretische und anthropologische Funktion des platonischen Leib-Seele-Dualismus in Calvins Theologie (= Arbeiten zur Theologie. Bd. 83). Calwer, Stuttgart 1996, ISBN 3-7668-3427-4.
Albrecht Thiel: In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1999, ISBN 3-7887-1735-1.
=== Belletristik ===
Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. Frankfurt am Main 1936 und Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1996, ISBN 3-596-22295-8.
== Weblinks ==
Calvin University, Meeter Center: Calvin Bibliography
Publikationen von und über Johannes Calvin im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek
Literatur von und über Johannes Calvin im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Johannes Calvin in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Druckschriften von und über Johannes Calvin im VD 17.
Digitalisate von Werken Calvins auf E-rara.ch
Calvin, Johannes. Hessische Biografie. (Stand: 27. Mai 2022). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Calvin |
Badminton | = Badminton =
Die Ballsportart Badminton ist ein Rückschlagspiel, das mit einem Federball und jeweils einem Badmintonschläger pro Person gespielt wird. Dabei versuchen die Spieler, den Ball so über ein Netz zu schlagen, dass die Gegenseite ihn nicht den Regeln entsprechend zurückschlagen kann. Es kann sowohl von zwei Spielern als Einzel, als auch von vier Spielern als Doppel oder Mixed gespielt werden. Es wird in der Halle ausgetragen und erfordert wegen der Schnelligkeit und der großen Laufintensität eine hohe körperliche Fitness. Weltweit wird Badminton von über 14 Millionen Spielern in mehr als 160 Nationen wettkampfmäßig betrieben.
Im Unterschied zum Freizeitspiel Federball, bei dem der Spielspaß mit möglichst langen Ballwechseln und ohne Spielfeld oder Netz im Vordergrund steht, ist Badminton ein Wettkampfsport mit festen Regeln und dem Ziel zu siegen.
== Allgemeines ==
Badminton ist ein Rückschlagspiel für zwei Spieler (Einzel) oder vier Spieler (Doppel).
Es hat gewisse Ähnlichkeit mit Tennis, unterscheidet sich davon jedoch in grundlegenden spieltechnischen und taktischen Aspekten. Das Badmintonspielfeld ist, verglichen mit dem Tennisspielfeld, deutlich kleiner. Ein Badmintonschläger ist wesentlich leichter als ein Tennisschläger. Der Spielball (Federball) darf den Boden nicht berühren. Er ist mit einem Feder- oder Plastikkranz bestückt, wodurch er seine besonderen Flugeigenschaften erhält.
Badminton stellt hohe Ansprüche an Reflexe, Grundschnelligkeit und Kondition und erfordert weiterhin für ein gutes Spiel Konzentrationsfähigkeit und taktisches Geschick. Lange Ballwechsel und eine Spieldauer ohne echte Pausen fordern eine gut entwickelte Ausdauer. Die Tatsache, dass durch den leichten Schläger Änderungen in der Schlagrichtung ohne deutliche Ausholbewegungen zu erreichen sind, macht Badminton zu einem extrem raffinierten und täuschungsreichen Spiel. Dem schnellen Angriffsspiel ist nur durch gute Reflexe und sehr bewegliche Laufarbeit zu begegnen. Der Wechsel zwischen hart geschlagenen Angriffsbällen, angetäuschten Finten sowie präzisem, gefühlvollem Spiel am Netz ist es, was die Faszination von Badminton ausmacht.
Gezählt wird nach Punkten und nach Sätzen. Seit 2006 wird nach der sogenannten Rally-Point-Methode gezählt. Dabei wird auf zwei Gewinnsätze bis auf 21 Punkte gespielt und jede Partei erzielt, unabhängig vom Aufschlagsrecht, bei einem Fehler des Gegners, einen Punkt. In den Jahren davor wurden zwei Gewinnsätze bis 15 Punkte gespielt (Ausnahme ist das Dameneinzel – bis 11 Punkte), wobei nur die aufschlagende Partei punkten konnte.
Als Fehler gilt es unter anderem, wenn der Ball das Netz nicht überfliegt oder Boden/Wand/Hallendecke (oder Gegenstände die darunter hängen) berührt, wobei eine Deckenberührung je nach Hallenhöhe immer oder nur beim Aufschlag auch eine Wiederholung nach sich ziehen kann. Auch das Berühren des Netzes mit Körper oder Schläger ist ein Fehler. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rückschlagspielen wird beim Badminton auch dann weitergespielt, wenn der Ball beim Aufschlag das Netz berührt, solange er danach seinen Weg weiter in das Aufschlagfeld des Gegners fortsetzt.
== Geschichte ==
Bereits lange vor der Entstehung des Namens Badminton gab es Rückschlagspiele, die dem heutigen Federball ähnelten. In Indien gefundene Höhlenzeichnungen belegen, dass dort bereits vor 2000 Jahren mit abgeflachten Hölzern kleine, mit Hühnerfedern gespickte Holzbälle geschlagen wurden. Auch bei den Inkas und den Azteken waren Rückschlagspiele mit gefiederten Bällen bekannt. In Europa zur Zeit des Barock entwickelte sich ein unter dem Namen Battledore and Shuttlecock oder Jeu de Volant bekanntes Federballspiel zu einer der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen des höfischen Adels. Ziel bei dieser Variante des Federballspiels war es, dass zwei Spieler sich mit einfachen Schlägern einen Federball so oft wie möglich zuspielen, ohne dass dieser den Boden berührt. Ein urkundlich erwähnter Rekord aus dem Jahre 1830 beläuft sich auf 2117 Schläge für einen Ballwechsel zwischen Mitgliedern der Somerset-Familie.
Das heutige Spiel verdankt seinen Namen dem englischen Landsitz des Duke of Beaufort aus der Grafschaft Gloucestershire. Auf diesem Landsitz mit dem Namen Badminton House wurde 1872 das von dem britischen Kolonialoffizier aus Indien mitgebrachte und als Poona bezeichnete Spiel vorgestellt. 1893 wurde in England der erste Badmintonverband gegründet, und schon 1899 fanden die ersten All England Championships statt, die heutzutage unter Badmintonanhängern den gleichen Stellenwert haben wie das Turnier von Wimbledon für die Tennisfreunde.
Der neue Sport erfreute sich großer Beliebtheit. Schwierigkeiten bereitete es nur, geeignete Sportstätten zu finden. Es musste oft an ungewöhnlichen Orten gespielt werden, denn die einzigen uneingeschränkt geeigneten Räumlichkeiten zu dieser Zeit waren Kirchen. Das hohe Mittelschiff einer Kirche bot dem Federball freie Flugbahn, und die Kirchenbänke dienten den Zuschauern als Logenplätze. Mitte der 1920er Jahre breitete sich der organisierte Badmintonsport vermehrt auch in Nordeuropa, Frankreich, Australien und Nordamerika aus, so dass bereits im Juli 1934 die International Badminton Federation (IBF), der Welt-Dachverband (heute BWF), gegründet werden konnte.
=== Entwicklung in Deutschland ===
In Deutschland wurde im Jahr 1902 der erste Badminton-Sportverein auf dem europäischen Festland gegründet – der Bad Homburger Badminton-Club. Fehlende Schläger und Federbälle verhinderten jedoch die weitere Ausbreitung der Sportart im Land, und auch der Homburger Verein löste sich wieder auf. Erst zu Beginn der 1950er Jahre erfuhr Badminton einen neuen Popularitätsschub in Deutschland.
Die ersten deutschen Meisterschaften fanden am 17. und 18. Januar 1953 in Wiesbaden statt. Am selben Wochenende wurde der Deutsche Badminton-Verband (DBV) aus der Taufe gehoben, der noch im gleichen Jahr in die IBF eintrat. Erster Präsident des DBV war der Industrielle Hans Riegel aus Bonn (HARIBO). Er ließ im selben Jahr mit dem Haribo-Center direkt auf dem Betriebsgelände in Bonn-Kessenich die erste reine Badmintonhalle Deutschlands errichten. Im Mai des darauf folgenden Jahres wurde der DBV als 26. Fachverband in den Deutschen Sportbund (DSB) aufgenommen, und 1967 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der European Badminton Union (EBU). 1958 entstand auch in der damaligen DDR ein Federballverband, dessen Landesverbände 1990 in den DBV eingegliedert wurden. Das bedeutendste Turnier des DBV sind die seit 1955 ausgetragenen Internationalen Deutschen Meisterschaften, die German Open.
Während in den 1960er Jahren eine gewisse Stagnation der Mitgliederzahlen zu beobachten war, erfolgte in den 1970er Jahren im Zuge der Erstellung zahlreicher neuer Sporthallen ein wahrer Badminton-Boom. Dieser Aufschwung mit teilweiser Verdreifachung von Mitgliederzahlen in Verbänden und Vereinen hielt bis Ende der 1980er Jahre an, als viele Tennishallen zu Badminton-Zentren umgebaut wurden. In den 1990er Jahren wurde erneut eine leichte Stagnation spürbar, und seit der Jahrtausendwende sind die Mitgliederzahlen im DBV sogar leicht rückläufig, trotz der Integration von Badminton in den Schulsport.
Dem Deutschen Badminton-Verband gehören derzeit 16 Landesverbände mit etwa 217.000 Mitgliedern in 2.700 Vereinen an. Darüber hinaus gibt es etwa 4,5 Millionen Freizeitspieler ohne Vereinszugehörigkeit, die Badminton mehr oder weniger regelmäßig in einem der vielen Zentren betreiben.
=== Badminton international ===
Große Popularität genießt Badminton in seinen europäischen und asiatischen Hochburgen England, Dänemark, China, Indonesien, Malaysia, Singapur, Thailand, Indien und Korea. In diesen Ländern haben große Badminton-Veranstaltungen ähnlichen Stellenwert wie in Deutschland Fußball oder Leichtathletik. In den Siegerlisten der bedeutenden internationalen Turniere findet man deshalb hauptsächlich dänische oder asiatische Namen. 1934 wurde die International Badminton Federation (IBF) als Dachorganisation gegründet. Der Name des Verbandes wurde 2006 in Badminton World Federation (BWF) geändert. Derzeit sind 156 Nationen, darunter auch Deutschland, mit insgesamt über 14 Millionen Spielern Mitglied in der BWF.
Seit 1977 finden Weltmeisterschaften statt, seit 1983 alle zwei Jahre. Im Jahr 2006 wurde zu einem jährlichen Rhythmus übergegangen. Mit dem Davis-Cup im Tennis vergleichbar sind die Mannschaftsweltmeisterschaften im Badminton: seit 1949 der Thomas Cup für Herren-Nationalteams sowie seit 1957 der Uber Cup für Damen-Nationalteams. Im Jahr 1989 wurde der Sudirman Cup ins Leben gerufen, die offizielle Nationalmannschafts-Weltmeisterschaft für gemischte Teams (Damen und Herren). Das Turnier findet in einem zweijährigen Rhythmus statt und war ursprünglich an die Individual-WM gekoppelt. Seit 2003 wird der Sudirman Cup als eigenständige Veranstaltung ausgetragen.
Die damalige IBF führte 1983 den Grand Prix Circuit ein. Hier wurden die internationalen Meisterschaften der verschiedenen Länder zusammengefasst. Von 1983 bis 1999 wurde das Jahr stets mit dem Grand Prix Final abgeschlossen, ein Turnier, bei dem die besten Spieler des Jahres gegeneinander antraten. Nach der Asienkrise Ende der 1990er Jahre fand das Turnier nicht mehr statt. Im Jahre 2007 führte die BWF die BWF Super Series ein, die den Grand Prix nach 23 Jahren ablöste. Zur Super Series gehören zwölf Turniere, bei denen die Turnierveranstalter ein Mindestpreisgeld von 200.000 US-Dollar aufbringen müssen. Acht Turniere finden in Asien und vier in Europa (England, Schweiz, Dänemark und Frankreich) statt. Die seit 1955 ausgetragenen Internationalen Deutschen Meisterschaften – German Open – gehören nicht mehr dazu. Sie sind derzeit mit einem Preisgeld von 120.000 US-Dollar dotiert.
=== Olympische Spiele und Special Olympics Wettbewerbe ===
Bereits 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München war Badminton als so genannte Demonstrationssportart vertreten, wurde jedoch erst 1985 vom IOC für 1992 ins olympische Programm aufgenommen. 1988 in Seoul konnte Badminton als Vorführsportart der künftigen olympischen Disziplin mit ausverkauften Wettkämpfen noch einmal punkten, ehe es 1992 in Barcelona mit vier Wettbewerben regulär im Programm der Spiele vertreten war. 1996 wurden dann alle fünf Disziplinen, inklusive des gemischten Doppels, bei den Spielen von Atlanta ausgetragen.
Badminton (Special Olympics) beruht auf den Regeln von Badminton und wird in Wettbewerben und Trainingseinheiten der Organisation Special Olympics weltweit für geistig und mehrfach behinderte Menschen angeboten. Badminton ist seit 1995 bei Special Olympics World Games vertreten.
== Das Spiel ==
=== Spielfeld ===
In der Regel wird Badminton in der Halle gespielt, da schon leichte Luftbewegungen die Flugbahn des Balles stark beeinflussen können. Die Halle muss dabei eine Mindesthöhe von 5 m aufweisen. Üblicherweise gilt es als Fehler, wenn der Ball während des Spiels die Decke berührt, jedoch wird bei Deckenberührung beim Aufschlag oder bei Berühren von herunterhängenden Teilen (z. B. der Deckenkonstruktion) auf Wiederholung entschieden. Erst ab 9 m Deckenhöhe ist eine Halle uneingeschränkt bespielbar und damit jede Deckenberührung ein Fehler.
Das Spielfeld ist dem des Tennis sehr ähnlich, ist allerdings mit 13,40 m Länge und 6,10 m Breite deutlich kleiner. Das Netz ist nach den Regeln so zu spannen, dass die Netzhöhe an den Pfosten 1,55 m und in der Netzmitte 1,524 m beträgt. Die Linien sind 4 cm breit und Teil des Spielfeldes, das sie begrenzen. Die Distanz vom Netz zur vorderen Aufschlaglinie beträgt 1,98 m.
Einzel
Im Einzel stellt die innere Begrenzungslinie die seitliche Feldbegrenzung dar, das Spielfeld ist somit nur 5,18 m breit. Der Aufschlag darf von der vorderen Aufschlaglinie bis zur hinteren Grundlinie ausgeführt werden.Doppel
Beim Doppel ist das komplette Feld zu bespielen, der Aufschlag muss allerdings zwischen vordere und hintere Aufschlaglinie geschlagen werden.
=== Schläger ===
Die Form des Badmintonschlägers ist mit der eines Tennisschlägers vergleichbar. Er ist jedoch etwas kleiner, deutlich leichter als die Tennisvariante und dünner besaitet. In der einfachsten Ausführung mit Stahlschaft und Stahlkopf wiegt ein Badmintonschläger etwa 120 Gramm. Gehobenere Modelle bestehen aus einem Stück (Carbon) und wiegen nur noch 70 bis 80 Gramm.
Je steifer der Rahmen, desto präziser lässt sich damit spielen. Dabei ist aber eine gute Schlagtechnik erforderlich, da bei ungenauem Treffen des Balles Vibrationen entstehen, die durch den steifen Rahmen durchgeleitet werden und unter Umständen zum sogenannten Tennisarm führen können. Je flexibler der Rahmen, desto ungenauer ist der harte Schlag, aber desto armschonender ist der Schläger bei normalem Spiel.
Zur Bespannung bieten die Hersteller unterschiedliche Varianten an Saiten an. Im Anfängerbereich werden Schläger hauptsächlich mit einfachen, aber günstigen Kunststoffsaiten bespannt. Fortgeschrittene und Profis verwenden eher die teureren Naturdarmsaiten oder mehrfach geflochtene Kunststoffsaiten, die bessere Ballkontrolle und längere Haltbarkeit bieten. Je nach Spielertyp können Badmintonschläger unterschiedlich hart bespannt werden (Zugbelastung ca. 70 – 130 N, entspr. der Gewichtskraft von 7 – 13 kg). Im Unterschied zum Tennisschläger werden bei einem Badmintonschläger die Quersaiten meist um 0,5 – 1 kg härter bespannt als die Längssaiten. Je nach Bespannung verändern sich die Schlageigenschaften eines Schlägers. Mithilfe einer härteren Bespannung können Schläge präziser ausgeführt werden. Dies setzt jedoch einiges mehr an spielerischen Fertigkeiten voraus und ist deshalb nur für erfahrene Spieler geeignet. Eine weichere Bespannung ermöglicht unter vergleichsweise geringerem Kraftaufwand eine stärkere Ballbeschleunigung aufgrund der weiter nachgebenden Bespannung.
Zur Verbesserung des Griffs wird in der Regel ein zusätzliches Griffband eingesetzt. Man setzt es ein, um eine bessere Schlägerkontrolle, bessere Dämpfung oder auch verbesserte Rutschfestigkeit beim Griff zu erreichen.
=== Spielball ===
Bei Wettkämpfen wird in den höheren Spielklassen und auf internationaler Ebene mit Naturfederbällen gespielt. Der Kopf ist aus Kork, der Federkranz besteht in der Regel aus 16 Gänse- oder Entenfedern, die in den Kork eingeklebt und miteinander verschnürt sind. Federbälle werden hauptsächlich in Asien handgefertigt und zeichnen sich durch besondere Flugeigenschaften aus.
Durch die spezielle Anordnung der Federn wird der ca. 5 g leichte Naturfederball während des Fluges von der durchströmenden Luft in Rotation um seine Längsachse versetzt, wodurch der Flug stabilisiert wird. Dennoch wird er in besonderem Maße von den Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit beeinflusst. So können Flughöhe, Geschwindigkeit und damit Reichweite eines lang geschlagenen Balles in Hallen unterschiedlicher Höhenlage stark variieren. Um solche Einflüsse zu kompensieren, sind Naturfederbälle in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erhältlich. Vor einem Spiel testen die Spieler durch das so genannte Durchschlagen die Geschwindigkeit der verwendeten Federbälle, indem die Bälle mit kraftvollen Unterhandschlägen von der hinteren Grundlinie flach über das Netz geschlagen werden. Solche, die innerhalb des Spielfelds in einem Bereich zwischen 53 und 99 cm entfernt von der gegenüberliegenden Grundlinie landen, haben die richtige Geschwindigkeit. Alle anderen werden bei internationalen Spielen meistens direkt aussortiert, oder es wird versucht, die Ballgeschwindigkeit zu beeinflussen, indem man die oberen 2 bis 3 mm der Federspitzen nach außen bzw. innen knickt. Der Ball bietet dadurch mehr oder weniger Luftwiderstand und fliegt entsprechend kürzer bzw. weiter. Es muss dafür gesorgt werden, dass stets genügend durchgeschlagene Bälle einer Sorte für die Dauer des Spiels zur Verfügung stehen. Dadurch soll vermieden werden, dass vor allem konditionsschwache Spieler das Durchschlagen von neuen Bällen mitten in einem Satz als Erholungspause nutzen.
Naturfedern brechen relativ leicht, besonders bei technisch unsauber ausgeführten Schlägen. Bedingt durch den größeren Verschleiß und wegen der etwas höheren Kosten von Naturfederbällen haben sich im Freizeit- und Jugendbereich Imitate aus Kunststoff durchgesetzt. Sie sind günstiger und haltbarer, haben allerdings andere Flugeigenschaften als Naturfederbälle und bieten weniger Möglichkeiten für ein variantenreiches, schnelles Spiel. Fällt ein Naturfederball nach einem Clear (lange, hohe Flugbahn) fast senkrecht, so folgt der Kunststoffball noch weitgehend einer parabelförmigen Flugbahn, wodurch weite Bälle leichter erlaufen werden können.
=== Technik ===
==== Schlägerhaltung ====
Es existieren verschiedene Möglichkeiten, den Badmintonschläger zu greifen. Typischer Anfängerfehler und aus dem Freizeitbereich bekannt ist der so genannte Bratpfannengriff, der für effizientes Spielen nur in zwei Situationen brauchbar ist. Das Töten am Netz und der Drive vor dem Körper sind mit dem Rush-Griff ausführbar. Alle anderen Schläge sind nur unzureichend zu realisieren.
Bei der optimalen Schlägerhaltung bildet die Schlagfläche quasi eine Verlängerung der geöffneten Handfläche. Um dies zu erreichen, legt man die Handfläche auf die Bespannung und führt die Hand, ohne den Winkel zum Schläger zu verändern, in Richtung Griff. Am untersten Ende kurz vor dem spürbaren Wulst umschließt die Hand den Griff. Die schmale Schlägerseite liegt dabei im durch Zeigefinger und Daumen gebildeten V. Mit dieser Griffhaltung können im Prinzip alle Vorhandschläge ausgeführt werden.
Für Schläge mit der Rückhand wird der Schläger leicht gedreht, so dass der Daumen auf der breiten Seite des Griffes Druck ausüben kann.
Bei fortgeschrittener Spielweise sind weitere Schlägerhaltungen üblich. Der Schläger wird schlagabhängig in verschiedenen Positionen gehalten, wie z. B. der sog. Pinzettengriff für ein Spiel am Netz oder beim Aufschlag oder der Rush-Griff beim Drive vor dem Körper. Ebenso wird die Griffhaltung der Schlaghärte angepasst. Für die weiten, kräftigen Schläge wird eher an der Basis (Langgriff) zugegriffen. Bei kurzem und präzisem Netzspiel wandert die Hand dagegen weiter den Griff nach oben (Kurzgriff).
==== Schlagarten ====
Zum Schlagrepertoire eines guten Badmintonspielers gehört eine Reihe von Grundschlägen, die in zahlreichen Varianten angewendet werden können. Die wichtigsten Schläge sind:
Clear
Langer, hoher Ball bis zur Grundlinie als Befreiungsschlag (1); daher der Name (Clear, engl.: klar, frei). Eine Variante ist der so genannte Angriffs-Clear (2), der flacher und schnell gespielt wird, um den Gegner unter Druck zu setzen. Eine andere Variante ist der so genannte Unterhand-Clear, der dicht am Netz gespielt wird.Drive
Schneller, flacher Ball auf Augenhöhe, knapp über das Netz geschlagen (3).Smash
Der klassische Angriffsschlag. Ein hart geschlagener, geradliniger Schmetterschlag steil nach unten (4). Der Ball kann dabei eine Anfangsgeschwindigkeit von über 300 km/h erreichen.Drop
Auch Stoppball genannt. Kurzer Ball knapp hinter das Netz (5). Er ist besonders wirkungsvoll, wenn bei der Schlagbewegung ein Clear oder Smash angetäuscht wird. Unterschieden werden dabei der langsame und der schnelle Drop.
Der langsame Drop wird sehr dicht hinter das Netz geschlagen und soll dem Gegner eine möglichst tiefe Schlagposition aufzwingen und es damit schwer machen, den Ball hoch in die hinteren Regionen des Feldes zurückzubefördern. Daher wird er oft als Auftakt zum Angriffsspiel eingesetzt, da der Gegner im günstigsten Fall gezwungen ist, den Ball steil nach oben zu spielen und sich dadurch die Gelegenheit für einen Smash bietet. Durch den langsamen Flug birgt er allerdings das Risiko, am Netz vom Gegner getötet zu werden. Der schnelle Drop, auch geschnittener Drop, zeichnet sich durch einen schnellen Ballflug aus, um dem Gegner wenig Zeit zu lassen, den Ball zu erreichen. Er sollte jedoch nicht weiter als bis zur vorderen Aufschlaglinie fliegen, da ansonsten der Vorteil dieses Schlages verloren geht.Stop (Drop am Netz)
Auch Netzspiel genannt. Der Ball muss so knapp wie möglich über die Netzkante gehoben werden (6).Gespielt werden können diese Schläge geradlinig (engl. longline) oder diagonal (cross). Daraus ergeben sich typische Spielzüge, die jeder Spieler auf sich und sein Spiel abstimmt und versucht, in sein Spiel einzubauen.
==== Schlagbereiche ====
Bei den einzelnen Schlägen unterscheidet man auch, wo der Ball getroffen wird. Aus der Schlagart und den Schlagbereichen setzt sich die genaue Beschreibung eines Badminton-Schlages zusammen. Beispiele:
==== Aufschlag ====
Neben den Grundschlägen aus dem Spiel heraus gibt es zahlreiche Aufschlagvarianten. Grundlegend unterscheidet man jedoch Vorhandaufschläge und Rückhandaufschläge. Bei den Vorhandaufschlägen wird der Schläger seitlich am Körper des Spielers vorbei beschleunigt und der Ball in die Bahn des Schlägers geworfen. Diese Variante eignet sich besonders für den hohen Aufschlag. Im Doppel und in höheren Spielklassen auch im Einzel wird zumeist auf den Rückhandaufschlag zurückgegriffen. Bei diesem wird der Schläger mit dem Griff nach oben vor dem Körper platziert, der Ball davor in Position gebracht und dann unter Einsatz des Daumens und mit einer Drehung des Handgelenkes gespielt.
Der Aufschlag beim Badminton bietet zwar kaum die Möglichkeit, direkt zu punkten wie z. B. beim Tennis, Volleyball oder Faustball, dennoch versucht der Spieler, sich schon beim Aufschlag einen Vorteil zu verschaffen und die Oberhand für den kommenden Ballwechsel zu gewinnen.
Ein regelgerechter Aufschlag gemäß internationaler Regeln muss beim Badminton in den diagonal gegenüberliegenden Teil des Spielfelds erfolgen. Des Weiteren muss der aufschlagende Spieler mit beiden Füßen im Aufschlagfeld stehen, ohne dabei die Linien zu berühren, und der gesamte Ball muss im Moment, in dem der Schläger den Ball trifft, weniger als 1,15 m vom Boden entfernt sein. Bei nationalen Veranstaltungen im Bereich des DBV gilt jedoch eine abgewandelte Variante: Der Ball muss sich – im Moment der Berührung mit dem Schläger – unterhalb der Taille des Aufschlägers befinden. Die Taille ist als imaginäre Linie um den
Körper beschrieben und befindet sich dort, wo die unterste Rippe zu suchen ist. Zudem müssen der Schaft und der Schlägerkopf – im Augenblick des Treffpunktes mit dem Ball –
in eine Abwärtsrichtung zeigen. Berührt der Ball beim Aufschlag das Netz, so ist das im Gegensatz zu vielen anderen Ballsportarten kein Fehler.
Kurzer Aufschlag
Der kurze Aufschlag (1) ist die Standard-Spieleröffnung beim Doppel und hat sich vorwiegend in höheren Spielklassen auch im Einzel durchgesetzt. Die Flugkurve des Balles sollte ihren höchsten Punkt vor dem Überqueren des Netzes haben und möglichst flach sein, so dass es dem Gegner nicht oder nur schwer möglich ist, mit einem direkten Angriff zu reagieren. Ein getäuschter (z. B. geschnittener) kurzer Aufschlag Richtung Außenlinie kann gerade im Doppel als erfolgreiche Variante eingesetzt werden, wenn der Gegner versucht, die Aufschläge besonders aggressiv zu attackieren.Drive-Aufschlag
Ein Überraschungsaufschlag, bei dem versucht wird, durch einen schnellen, harten und möglichst flachen Aufschlag z. B. die Rückhandseite des Gegners anzuspielen oder direkt auf den Körper zu treffen (2). Der Schläger wird dabei möglichst hoch genommen, muss aber der Regel genügen, dass der Schlägerschaft abwärts gerichtet ist (Griff oben) und der Ball unterhalb der Taille getroffen wird. Eine Variante ist der Drive-Aufschlag vom Spielfeldrand (3). Der von der Seite kommende Ball ist schwer abzuschätzen, und die Aufschlagannahme ist schwierig, wenn der Ball auf die Rückhandseite gespielt wird.Swip-Aufschlag
Bei dieser Variante wird ein kurzer Aufschlag angetäuscht, der Schläger aber im letzten Moment aus dem Handgelenk beschleunigt und der Ball überfliegt den Gegner (4). Der Aufschlag muss dabei so ausgeführt werden, dass der Gegner den Ball nicht schon im Vorbeiflug erwischt, sondern nur im Zurücklaufen. Die Flugbahn sollte auch nicht zu hoch sein, um dem Gegner möglichst wenig Zeit zum Erlaufen des Balles zu geben. Misslingt dieser risikoreiche Aufschlag, beendet meist ein Smash den Ballwechsel zu Ungunsten des Aufschlägers.Hoher Aufschlag
Der hohe Aufschlag wird in der Regel mit der Vorhand ausgeführt. Er stellt besonders im Einzel eine Alternative zum kurzen Aufschlag dar. Der Ball wird kraftvoll möglichst hoch und bis zur hinteren Grundlinie des Feldes geschlagen (5). Im Idealfall ist der höchste Punkt der Flugkurve kurz vor der Grundlinie. Der Gegner wird so gezwungen, zum Erreichen des Balles bis zum Spielfeldende zu laufen. Der schnelle und steile Fall des Balles erschwert zudem das Abschätzen des optimalen Balltreffpunktes für den Rückschlag. Nachteilig wirkt sich jedoch die direkte Angriffsmöglichkeit des Gegners aus, weshalb diese Aufschlagvariante mit wachsendem Niveau des Gegners und der Spielklasse immer seltener gesehen wird.
==== Lauftechnik ====
Um aus der Ausgangsposition, der Spielfeldmitte, schnell die Feldecken erreichen zu können, ist eine ausgefeilte Lauftechnik erforderlich. Im Laufe der Zeit entwickelten sich, vor allem in den international erfolgreichen Badminton-Nationen, unterschiedliche Lauftechniken. So bevorzugten etwa die Engländer noch bis vor einigen Jahren lange, weiche, raumgreifende Schritte ohne Sprünge, während die Chinesen Ende der 1980er Jahre dazu übergingen, schnelle, kurze Schritte kombiniert mit einem abschließenden Sprung zum Ball in ihr Spiel zu integrieren. Diese Techniken wurden von den meisten asiatischen Spielern erfolgreich kopiert, da für sie die englischen Schrittfolgen aufgrund ihrer meist geringeren Körpergröße nicht hinreichend effektiv waren.
Gute Lauftechnik zeichnet sich dadurch aus, dass der Spieler möglichst schnell und mit geringem Energieaufwand den Ball erreicht und anschließend zur Spielfeldmitte zurückkehrt. Automatisierte Schrittfolgen sorgen dafür, dass dies kraftsparend, raumgreifend und effektiv geschieht, diese sind jedoch nur durch jahrelanges Training zu erreichen.
Zentrale Elemente der Lauftechnik sind:
Stemmschritt
Bei Situationen, in denen der Spieler viel Zeit zur Verfügung hat (beispielsweise nach hohem Aufschlag im Einzel) wird häufig der Stemmschritt eingesetzt. Bei dieser Technik wird das auf der Schlaghand befindliche Bein zunächst hinter dem Körper aufgestellt. Ein Abdruck von diesem hinteren Bein leitet die Vorwärtsbewegung ein. Die dadurch automatisch entstehende Rotation des Oberkörpers kann für effektive und kraftschonende Vorhandschläge genutzt werden.
Ausfallschritt
Um einen Ball im vorderen oder seitlichen Spielfeldbereich zu erreichen, stellt der Spieler am Ende seiner Vorwärtsbewegung das sich auf der Schlaghandseite befindliche Bein mit einem großen Ausfallschritt nach vorne, ähnlich wie ein Fechter beim Stoß. Dadurch bremst er abrupt seine Vorwärtsbewegung ab und kann nach dem Schlag sofort wieder in eine Rückwärtsbewegung übergehen.
Umsprung
Mit dieser Technik wird die Rückwärtsbewegung nach einem Schlag gestoppt. Beim Schlag findet während des Sprungs eine Drehung der Hüften statt, und das Bein, das sich auf der entgegengesetzten Körperseite der Schlaghand befindet, wird nach hinten gestellt, um die Rückwärtsbewegung abzufedern und den Körper wieder nach vorne zu beschleunigen.
Chinasprung
Diese Technik wurde in der Volksrepublik China entwickelt und dient dazu, einen Ball im Sprung zu erreichen. Im Gegensatz zum Umsprung wird die Bewegung jedoch mit dem Bein auf der Schlaghandseite gestoppt, was wegen der leichten Verdrehung des Oberkörpers beim Schlag anatomisch gesehen zwar ungünstig, aber in der Praxis dennoch effektiv ist. Sowohl der Absprung als auch die Landung finden hier immer mit beiden Beinen gleichzeitig statt. Ein Chinasprung kann sowohl parallel zum Netz auf die Vorhand- und Rückhandseite als auch diagonal nach hinten erfolgen. Der Schlag, der während des Sprunges ausgeführt wird, ist jedoch immer ein Vorhandschlag.
Sprung-Smash
Eine weitere chinesische Technik. Der Spieler springt beidbeinig hoch in die Luft und schlägt den Ball mit vollem Körpereinsatz ins gegnerische Feld, ähnlich wie beim Smash im Volleyball. Untersuchungen haben ergeben, dass hierdurch zwar keine höheren Geschwindigkeiten erzeugt werden können, jedoch kann der Spieler einen früheren Treffpunkt und einen besseren Winkel erreichen.
Malayen-Schritt
Technik, die es erlaubt, möglichst ökonomisch die hintere Rückhand-Ecke zu erreichen (bei Rechtshändern die hintere linke Ecke). Ziel ist dabei, die Rückhand zu umlaufen und mit dem wirksameren Links-vom-Kopf-Schlag höhere Variabilität zu erzielen. Der Malayen-Schritt ist gekennzeichnet durch einen raumgreifenden Schritt mit links nach hinten, einen kleinen Sprung mit links, um die Hüfte zu drehen, und ein bis drei Nachstellschritte.
=== Zählweise ===
Im Badminton wird, wie auch im Tennis oder Volleyball, nach Sätzen gespielt. Die seit dem 1. Februar 2006 bei internationalen IBF-Wettkämpfen testweise eingeführte sogenannte Rallypoint-Zählweise (auch Running Score genannt) ist seit der letzten Generalversammlung der IBF am 6. Mai 2006 in Tokio für alle IBF-Mitgliedsverbände gültig. Im Bereich des Deutschen Badminton-Verbandes (DBV) gilt die neue Zählweise seit dem 1. August 2006, also seit der Saison 2006/2007.
Durch die bis zu diesem Zeitpunkt geltende Regel, dass Punkte nur bei eigenem Aufschlagrecht erzielt werden konnten, variierte die Spieldauer sehr stark, wodurch die Einhaltung eines Spielplanes z. B. bei Turnieren nur schwer zu erreichen war. Bei einem Feldtest während der Dutch International 2006 zeigte sich, dass kurze Spiele im Durchschnitt zwar etwas länger dauern als bei der alten Zählweise, die durchschnittliche Spielzeit sich bei der Rallypoint-Zählweise über ein ganzes Turnier jedoch um ca. 10 Minuten pro Spiel verringert. Insgesamt vereinfacht sich die Planung und Organisation von Turnieren durch die einheitlichere Spieldauer.
Ein weiterer Grund für die Einführung der neuen Zählweise war, dass das Verschleppen eines Spielstandes für konditionsschwache Spieler nun nicht mehr möglich ist. Dadurch soll dem Leistungsgedanken vermehrt Rechnung getragen werden. Nicht zuletzt führt auch dies zu einer verkürzten Spielzeit.
==== Rallypoint-Zählweise ====
Jede Partei kann unabhängig vom Aufschlag punkten. Es werden zwei Gewinnsätze bis 21 Punkte je Satz gespielt. Pausenregelung: „Erreicht in einem Satz die führende Partei 11 Punkte, so gibt es eine Pause von maximal einer Minute. Zwischen zwei Sätzen (erstem zu zweiten, bzw. zweitem zu dritten) gibt es eine Pause von jeweils maximal zwei Minuten.“ Eine Partei hat einen Satz gewonnen, wenn sie als erste 21 Punkte erreicht und dabei mindestens 2 Punkte mehr als die gegnerische Partei hat. Bei 20:20 wird das Spiel solange verlängert, bis eine Partei mit 2 Punkten führt oder 30 Punkte erzielt hat. Ein Satzergebnis von 30:29 ist demnach möglich.
Für jeden gewonnenen Ballwechsel wird ein Punkt vergeben. Zusätzlich erhält die Partei, die den vorangegangenen Ballwechsel für sich entschieden hat, das Aufschlagsrecht.
Zu Beginn des Spiels wird ausgelost, wer Seitenwahl bzw. den ersten Aufschlag erhält. Eine gängige Methode der Auslosung ist, einen Badmintonball hochzuwerfen oder ihn umgekehrt auf die Netzkante zu legen und fallen zu lassen. Diejenige Partei, zu welcher der Korkfuß des Balles zeigt, darf wählen,
ob sie den ersten Aufschlag machen möchte,
ob sie den ersten Rückschlag machen möchte oder
auf welcher Feldhälfte sie beginnen möchte (Seitenwahl).Die andere Partei entscheidet sich für eine der verbleibenden Möglichkeiten. Die Auslosung kann statt mit einem Federball auch mit einem anderen Los stattfinden.
Nach jedem Satz werden die Seiten gewechselt. Die Partei, die den vorherigen Satz gewonnen hat, hat im folgenden Satz das Aufschlagrecht. Kommt es zu einem dritten Satz, wird erneut die Seite gewechselt, sobald eine der beiden Parteien 11 Punkte erreicht hat. Bei der Seitenwahl ist es aus taktischen Gründen sinnvoll, zunächst auf der Seite mit der „schlechteren“ Sicht zu spielen, weil man dann in der Schlussphase eines möglichen dritten Satzes auf der wieder „besseren“ Seite spielen darf.
Die in anderen Rückschlagspielen weitgehend unbekannte Regelung, sich zwischen erstem Aufschlag und erstem Rückschlag entscheiden zu dürfen, hatte hauptsächlich nach der früheren Zählweise in den Doppeldisziplinen ihren Sinn, als man Punkte nur bei Besitz des Aufschlagrechts erzielen konnte.
Eine weitere Neuerung ist die Erweiterung der Coaching-Regel. Ein am Feld sitzender Coach darf nun auch zwischen den Ballwechseln seinem Spieler durch Zuruf Ratschläge erteilen. Dies darf jedoch nicht den Gegner stören und darf auch nicht während eines laufenden Ballwechsels passieren.
==== Besonderheiten der Zählweise in der Bundesliga ====
In den Bundesligen gilt ebenso wie sonst die Rallypoint-Zählweise, jedoch werden verkürzte Sätze gespielt. Statt zwei Gewinnsätzen bis 21 werden hier drei Gewinnsätze bis 11 gespielt. Bei einem Stand von 10:10 wird so lange verlängert, bis eine Partei mit zwei Punkten führt oder ein Endstand von 14:15 erreicht wurde. Kommt es also dazu, dass es 14:14 steht, entscheidet der kommende Ballwechsel darüber, welche Partei den Satz gewinnt.
==== Frühere Zählweise ====
Bis zum 31. Juli 2006 konnte ein Punkt nur von der Partei erzielt werden, die auch den Aufschlag ausführt. Machte die aufschlagende Partei einen Fehler, verlor sie ein Aufschlagsrecht. Beim Doppel hatte jede Partei zwei Aufschlagsrechte: eins pro Spieler, beginnend bei dem Spieler, der zu diesem Zeitpunkt rechts stand. Ausnahme: Bei einem Fehler nach dem allerersten Aufschlag eines Satzes wechselte das Aufschlagsrecht direkt zur gegnerischen Partei.
Ein Satz galt in der Regel als gewonnen, wenn eine Partei 15 Punkte erlangt hatte (Ausnahme: im Damen-Einzel auf 11). Ein Spiel war gewonnen, wenn eine Partei zwei Sätze für sich entschied. Nach jedem Satz erfolgte Seitenwechsel. Bei einem Entscheidungssatz (3. Satz) wurde die Seite gewechselt, wenn eine Partei 8 (im Damen-Einzel 6) Punkte erreicht hatte.
Sonderregel „Verlängerung“: Bei einem Spielstand von 14:14 konnte die Partei auf 17 (im Damen-Einzel von 10:10 auf 13) verlängern, die den Spielstand von 14 (bzw. 10 im Dameneinzel) Punkten zuerst erreicht hatte. Wurde auf dieses Recht verzichtet, dann endete das Spiel bei 15 Punkten (11 Punkten).
Eine noch ältere Regel, zusätzlich bereits beim Spielstand von 13:13 auf 18 zu verlängern, wurde zum 1. August 1998 gestrichen. Durch diese alte Regel erklären sich Satzergebnisse früherer Spiele von z. B. 18:17. Ebenso konnte vor diesem Zeitpunkt im Dameneinzel beim Stande von 9:9 oder 10:10 auf 12 verlängert werden.
=== Schiedsrichter ===
Ein Badmintonspiel wird in den höheren Spielklassen und im internationalen Wettkampf von einem Schiedsrichterteam („Technische Offizielle“) geleitet.
Der Schiedsrichter sitzt, ähnlich wie beim Tennis, auf einem Hochstuhl und ist für den Ablauf des Spiels, für das Spielfeld und für direkt zum Spielfeld gehörende Dinge verantwortlich. Er wird von einem Aufschlagrichter unterstützt, der speziell den aufschlagenden Spieler beobachtet und eventuelle Regelverstöße durch den Ruf Fehler und entsprechende Handzeichen meldet. Darüber hinaus sind für jede Spielfeldhälfte bis zu fünf Linienrichter eingeteilt, die Seiten-, Mittel- und Grundlinien beobachten und Aus-Bälle ebenfalls durch Ruf- und Handzeichen melden. In unteren Spielklassen oder bei Turnieren kann von dieser aufwändigen Regel abgewichen werden. Dann leitet entweder ein einzelner Schiedsrichter eine Partie, oder die Spieler entscheiden selbst über Regelverstöße, Gut- oder Aus-Bälle. Da jeder vom anderen dieselbe Fairness erwartet, die er selbst zu geben bereit ist, ist diese Regelung durchaus praktikabel und bewährt. Selbst in der Badminton-Bundesliga wird typischerweise nur mit einem Schiedsrichter und ggf. einigen Linienrichtern für kritische Linien gearbeitet.
== Spielbetrieb ==
=== Disziplinen ===
Badminton wird wettkampfmäßig in fünf verschiedenen Disziplinen ausgetragen:
Damen-Einzel
Herren-Einzel
Damen-Doppel
Herren-Doppel
Gemischtes Doppel (Mixed)
==== Damen- und Herreneinzel ====
In der Einzeldisziplin stehen sich zwei Spieler gleichen Geschlechts gegenüber. Beim Aufschlag muss der Aufschläger in seinem Aufschlag-Halbfeld stehen, der Rückschläger im Feld diagonal dazu. Der Federball muss beim Aufschlag in das diagonal gegenüberliegende Aufschlagfeld gespielt werden. Während des laufenden Ballwechsels dürfen sich beide Spieler beliebig in ihrer Feldhälfte aufhalten.
Bei geradem Punktestand des Aufschlägers (0, 2, 4, …) erfolgt der Aufschlag aus der rechten Feldhälfte seiner Sicht, bei ungeradem Punktestand (1, 3, 5, …) von links. Beide Spieler können, unabhängig vom Aufschlagrecht, Punkte erzielen. Jeder Fehler führt also automatisch zu einem Punktgewinn für den Gegner. War der Gegner im vorangegangenen Ballwechsel der Rückschläger, erhält er zusätzlich das Aufschlagrecht.
Aus taktischen Gründen versucht man, den Gegner durch Anspielen in die Eckpunkte des Spielfeldes in Schwierigkeiten zu bringen. Um alle Feldecken gleich schnell erreichen zu können, versucht deshalb jeder Spieler, nach jedem gespielten Ball so schnell wie möglich in die beste Ausgangsposition für den nächsten gegnerischen Ball zu gelangen. Diese befindet sich ca. eine Schrittlänge hinter dem T-Punkt. Von hier aus sind alle Feldbereiche mit wenigen kurzen, schnellen Schritten erreichbar.
==== Damen- und Herrendoppel ====
In der Doppeldisziplin stehen sich zwei Spielerpaare gleichen Geschlechts gegenüber. Beim Aufschlag befinden sich Aufschläger und Rückschläger im jeweiligen Aufschlag-Halbfeld, der Aufschlag muss diagonal gespielt werden. Die beiden nicht am Aufschlag beteiligten Spieler dürfen sich beliebig auf dem Spielfeld positionieren.
Nach der alten Zählweise erfolgte der erste Aufschlag eines Satzes und jeder erste Aufschlag nach dem Wechsel des Aufschlagsrechts aus dem rechten Aufschlagfeld. Bei der neuen Rallypoint-Zählweise hingegen wechselt die Reihenfolge der Aufschläger nach jedem Fehler wie folgt:
Erster Aufschläger (0:0, Beginn im rechten Aufschlagfeld)
Partner des ersten Rückschlägers
Partner des ersten Aufschlägers
Erster Rückschläger
Erster Aufschläger usw.Es gibt, entgegen der alten Zählweise, keinen zweiten Aufschlag mehr. Auch die Regel, den Aufschlag beim Wechsel des Aufschlagrechts immer von rechts auszuführen, existiert nicht mehr.
Die Positionen der Spieler eines Doppels bleiben bei Aufschlag oder Rückschlag so lange bestehen, bis sie bei eigenem Aufschlag einen Punktgewinn erzielen. Erst dann wechseln sie zum nächsten Aufschlag das Halbfeld. Bei Punktgewinn mit gleichzeitigem Aufschlagwechsel wird die Position nicht gewechselt. Die Spieler merken sich also ihre letzte Position, nicht mehr (wie früher) die Aufstellung zu Satzbeginn.
Aus der Aufschlagreihenfolge in Verbindung mit der neuen Zählweise im Doppel folgt, dass das Aufschlagfeld bei einem Aufschlagwechsel stets von der eigenen Punktezahl bestimmt wird (wie im Einzel):
Aufschlagwechsel bei eigenem geraden Punktestand (0, 2, 4, …): Aufschlag durch den Spieler, der rechts steht
Aufschlagwechsel bei eigenem ungeraden Punktestand (1, 3, …): Aufschlag von links„0“ gilt dabei als gerade Zahl, und somit wird auch bei der neuen Zählweise der erste Aufschlag jedes Satzes von rechts ausgeführt.
Punkte können bei jedem Ballwechsel erzielt werden. Jedes Doppel hat solange Aufschlagrecht, bis es einen Fehler macht. Dann erhält die gegnerische Partei einen Punkt, zusätzlich wechselt entsprechend der Aufschlagreihenfolge das Aufschlagrecht zum gegnerischen Doppel.
Bei einem Satzwechsel schlägt das Doppel auf, das den letzten Satz gewonnen hat.
Die Aufstellung beider Spieler einer Doppel-Paarung während des laufenden Ballwechsels ist beliebig und wird von der aktuellen Spielsituation und den technischen Fähigkeiten der Spieler abhängig gemacht. Idealerweise stellen sich beide zur Abwehr nebeneinander und decken die jeweils eigene Seite des Spielfelds ab. Beim eigenen Angriff dagegen steht man hintereinander, der hintere attackiert mit harten, steil nach unten geschlagenen Angriffsbällen (Smash) oder mit gefühlvoll kurz hinter das Netz geschlagenen Stoppbällen (Drop), während sein Partner vorne am Netz agiert und versucht, schlecht abgewehrte gegnerische Bälle zu erreichen und zu verwerten. Diese ständig wechselnde Aufstellung innerhalb eines Ballwechsels erfordert jahrelange Übung, ein gutes Auge für die Spielsituation und Verständnis im Zusammenspiel mit dem Partner.
Beispielhafter Ablauf eines Doppels
Doppel A: Erster Aufschläger A1 und Partner des ersten Aufschlägers A2.
Doppel B: Erster Rückschläger B1 und Partner des ersten Rückschlägers B2.
0:0 Aufschlag A1 (erster Aufschläger) von rechts.Punktgewinn aufschlagendes Doppel A.
Das aufschlagende Doppel A wechselt die Positionen, Doppel B nicht.1:0 Aufschlag A1 (erster Aufschläger) von links.Fehler durch aufschlagendes Doppel A.
Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten.1:1 Aufschlag B2 (Partner des ersten Rückschlägers) von links.Fehler durch aufschlagendes Doppel B.
Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten.2:1 Aufschlag A2 (Partner des ersten Aufschlägers) von rechts.Punktgewinn aufschlagendes Doppel A.
Aufschlagendes Doppel A wechselt die Positionen, Doppel B nicht.3:1 Aufschlag A2 (Partner des ersten Aufschlägers) von links.Fehler durch aufschlagendes Doppel A.
Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten.3:2 Aufschlag B1 (erster Rückschläger) von rechts.usw.Im Beispiel erreichte Doppel B zwei Punkte, hat die Positionen aber nicht getauscht, da die Punkte nicht bei eigenem Aufschlag erzielt wurden. Doppel A erzielte hingegen zwei seiner drei Punkte bei eigenem Aufschlagrecht und tauschte deshalb jedes Mal die Positionen. Man kann hier auch gut erkennen, wie aus dem eigenen Punktestand auf das Aufschlagfeld geschlossen werden kann.
==== Gemischtes Doppel ====
Beim gemischten Doppel oder Mixed (engl.: gemischt) bilden ein weiblicher und ein männlicher Spieler zusammen eine Doppel-Paarung. Die Regeln sind identisch mit denen des Damen- bzw. Herren-Doppels.
Aufstellung und taktisches Verhalten im gemischten Doppel weichen üblicherweise von dem der beiden anderen Doppel-Disziplinen ab, da man versucht, geschlechterspezifische Fähigkeiten ins eigene Spiel zu integrieren. So bewegt sich der Mann in der Regel hauptsächlich im hinteren Feldbereich, von wo aus er seine Reichweiten- und Kraftvorteile zu druckvollem Angriffsspiel nutzen kann. Die Frau dagegen übernimmt das präzise Spiel in der vorderen Feldhälfte, insbesondere am Netz.
Um bereits zu Beginn des Ballwechsels zu dieser Aufstellung zu gelangen, steht der Mann meist schon beim Aufschlag hinter der Frau.
=== Mannschaftsaufstellung ===
Ein Mannschaftsspiel umfasst in den Seniorenklassen in der Regel folgende acht Einzelspiele:
Vor Beginn der Saison gibt der Verein eine Mannschaftsmeldung mit Ranglisten für die Herren und die Damen an den Verband ab. Die Aufstellung der Paarungen für Herreneinzel und -doppel richtet sich nach dieser Rangliste. Dabei ist bei der Doppelpaarung die Summe der Ranglistenplätze der beteiligten Spieler ausschlaggebend (eigentlich werden vier gültige Badmintonpaarungen gemeldet, die dieser Regel unterliegen. Diese müssen vom regionalen Badminton-Verband genehmigt werden. Hier sind in Einzelfällen sogar Ausnahmen von der Summenregel möglich). Alle weiteren Spiele haben sich nicht nach der Rangliste zu richten, da sie nur einmal pro Begegnung ausgetragen werden.
Eine komplette Mannschaft besteht aus mindestens vier Herren und zwei Damen. Jeder Spieler darf maximal zwei Spiele pro Begegnung bestreiten. Nach Ausfüllen des Spielberichtsbogens vor der Begegnung ist die Aufstellung unveränderbar. Vorgesehene Auswechselspieler müssen auf dem Bogen eingetragen sein und können nicht während der Begegnung nachgemeldet werden. Muss ein Spiel z. B. wegen Verletzung abgebrochen werden, gilt es als verloren. Allerdings kann eine Mannschaft mit bis zu acht Herren und vier Damen antreten, so dass alle Spieler nur ein Spiel bestreiten. Es ist aus taktischen Gründen gängige Praxis, mehr Spieler einzusetzen als nötig, um auf diese Weise spielstärkere Spieler gezielter einsetzen zu können. Abhängig von den Regeln der einzelnen Landesverbände ist es auch möglich, in den unteren Spielklassen Mannschaftsspiele mit weniger Spielern zu bestreiten (meist max. fünf Herren und drei Damen).
=== Saison ===
Innerhalb der Saison treten alle Mannschaften einer Liga/Klasse in jeweils einem Hin- und Rückspiel gegeneinander an und spielen auf diese Weise Auf- und Absteiger aus. In der höchsten Liga, der 1. Bundesliga (Deutschland, Österreich) bzw. NLA (Schweiz) wird die Meisterschaft ausgespielt.
=== Ranglistenturniere ===
Unabhängig von der Saison werden Ranglistenturniere in allen fünf Disziplinen ausgetragen. Für die nationalen Ranglisten unterschiedlicher Spielstärken qualifiziert man sich durch die Teilnahme in einer Liga höherer Spielstärke oder durch den Erwerb einer entsprechenden Anzahl an Ranglistenpunkten durch erfolgreiche Teilnahme an den Ranglistenturnieren geringerer Spielstärke.
In der Badminton-Weltrangliste werden alle Badmintonspieler gelistet, die in den zurückliegenden 12 Monaten an mindestens zwei der von der Badminton World Federation dafür anerkannten, internationalen Turnieren teilgenommen haben. Die für das Ranking ausschlaggebende Punktzahl ergibt sich aus der Platzierung bei diesen Turnieren.
Hohe Platzierungen in der Weltrangliste berechtigen zur Teilnahme an den Olympischen Spielen und den Weltmeisterschaften der einzelnen Disziplinen.
=== Spielklassen ===
Die Bezeichnung und Anzahl der Spielklassen, in denen im Badminton Mannschaftswettkämpfe ausgetragen werden, ist abhängig von den Ländern bzw. Landesverbänden. In Deutschland und Österreich heißen die höchsten Spielklassen 1. Bundesliga, in der Schweiz NLA, in den Niederlanden Eredivisie, in Indonesien Indonesian League.
== Sonstiges ==
=== Fachjargon ===
Innerhalb der Badmintonszene haben sich zwecks einfacher Verständigung unter Spielern und Trainern zahlreiche Begriffe entwickelt, um badmintonspezifische Sachverhalte zu bezeichnen:
Bratpfannengriff
Anfänger-Schlägerhaltung, bei der Rückhandschläge fast unmöglich sind, da der Schlägerkopf in einem 90-Grad-Winkel zum Arm steht, statt im üblichen 0-Grad-Winkel. Wird in Ausnahmefällen beim Töten oder Wischen benutzt.
Chinasprung
Schlag im seitlichen Sprung und Landung nicht im Umsprung, sondern Bein auf Schlaghandseite fängt den Sprung ab.
Heben
Spiel am Netz: leichtes Anheben des Balles, so dass er ohne zu trudeln so knapp wie möglich über die Netzkante fliegt.
IGEA
Isoliert gespannte erregte Aktionsbereitschaft: Grundhaltung eines Spielers, in der er den gegnerischen Ball erwarten soll.
Pinzettengriff
Schläger wird mit den Fingerspitzen gehalten. Bevorzugte Schlägerhaltung beim Spiel am Netz, besonders beim Stechen.
Stechen
Der Ball wird beim Spiel am Netz mit einer ruckartigen Vorwärtsbewegung ins Trudeln gebracht und dabei so knapp wie möglich über das Netz befördert. Durch das Trudeln ist er für den Gegner nur schwer zu kontrollieren.
T (T-Punkt)
Sinnbild für die vordere Aufschlaglinie in Verbindung mit der Mittellinie. Der T-Punkt ist der Kreuzungspunkt beider Linien. Ca. eine Schrittlänge dahinter befindet sich die Grundposition (ideale Ausgangsposition zur Erwartung des gegnerischen Balles).
Töten
Beenden des Ballwechsels durch schnelle, peitschenartige Bewegung des Schlägers vorne am Netz, der Ball wird steil nach unten geschlagen.
Wischen
Eine Variante des Tötens, bei der man, um das Netz nicht zu berühren, den Ball mit einer schnellen scheibenwischerähnlichen Bewegung trifft.
=== Wissenswertes ===
Badminton kann als eine der Sportarten angesehen werden, die höchste Ansprüche an den Spieler stellt. Um auch auf hohem Niveau siegreich sein zu können, werden ihm nicht nur körperliche Fähigkeiten unterschiedlichster Prägung abverlangt, sondern auch besondere geistige und charakterliche Voraussetzungen. Das in der Badminton-Szene viel zitierte, oft vereinfacht oder unvollständig wiedergegebene Zitat von Martin Knupp, einem Autor vieler Badminton-Lehrbücher, soll dies verdeutlichen:
Diese metaphorisch formulierten Ansprüche werden, zumindest was die körperliche Fitness betrifft, durch einen wissenschaftlich nicht bestätigten Vergleich dänischer Sportjournalisten untermauert. Verglichen wurde das Badminton-WM-Finale von 1985 in Calgary zwischen Han Jian (Volksrepublik China) und Morten Frost (Dänemark) mit dem Tennis-Endspiel von Wimbledon im gleichen Jahr zwischen Boris Becker und Kevin Curren. Die Analyse beider Spiele liefert interessante Hinweise auf die Belastung bei beiden Sportarten:
Bemerkenswert ist hierbei die Tatsache, dass die Badmintonspieler in weniger als der halben Spieldauer etwa doppelt so viel liefen und etwa doppelt so viele Ballberührungen hatten. Dies ist allerdings vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass Rasentennisspiele wie das hier zum Vergleich herangezogene Wimbledon-Finale in dieser Beziehung für die Sportart Tennis eher untypisch sind. Besonders bei aufschlagstarken Serve-and-Volley-Spielern wie Becker und Curren sind auf diesem Belag die Ballwechsel und damit die Laufwege extrem kurz, und die körperliche Belastung ist entsprechend niedrig.
Badminton ist die schnellste Ballsportart gemessen an der Geschwindigkeit, die der Ball nach dem Abschlag erreichen kann. Im August 2013 stellte Tan Boon Heong aus Malaysia einen neuen Weltrekord mit 493 km/h auf. Dieser Rekord ist von Guinness World Records zertifiziert. In keiner anderen Sportart erreichen Bälle eine derart hohe Geschwindigkeit.
=== Varianten ===
In den letzten Jahren haben sich, zum Teil aus kommerziellem Interesse, einige Varianten des Badmintonsports gebildet:
Beachminton
Beachminton (engl. „beach“: Strand) wurde 1997 erfunden und wird im Sand ausgetragen. Damit das Spiel auch außen, vornehmlich am Strand, ausgetragen werden kann, ist der Spielball im Vergleich zum Badmintonball deutlich weniger windanfällig.
Speed Badminton
Speed Badminton wurde 2001 vom Berliner Bill Brandes erfunden. Ziel war es, eine Sportart mit Badminton-Elementen zu entwickeln, die im Freien gespielt werden kann. Gespielt wird mit einem Schläger ähnlich dem Squash-Schläger, einem wenig windanfälligen Ball (dem so genannten Speeder) und ohne Netz. Seit dem 1. Januar 2016 heißt die Sportart offiziell Crossminton, um Verwechslungen mit der Speedminton GmbH zu vermeiden.Die beiden Feldhälften liegen 12,8 Meter auseinander; durch andere Flugeigenschaften und anderes Equipment vermischen sich bei Speed Badminton neben Elementen des Badmintons auch Aspekte des Squash und Tennis. Die Speed-Badminton-Bälle sind kleiner, aber dafür massiver als normale Badmintonbälle. Wettkampf-Bälle (sogenannte Match Speeder) können bis zu 290 km/h erreichen. Nächtliches Speed Badminton bzw. in dunkler Umgebung heißt Blackminton. Es gibt eine Blackminton-Variante, bei der die Spieler Leuchtbänder tragen. Eine aufwändigere Variante von Blackminton funktioniert mit UV-Licht-Lampen, bei der das Spielgerät, Feld und Spieler durch die Benutzung von fluoreszierenden Materialien und Farben kenntlich gemacht werden. Bei beiden Blackminton-Varianten werden die dafür verwendeten, speziellen Bälle (Night Speeder) mit so genannten Speedlights, ähnlich Knicklichtern beim Angeln, die in die Ballkappe gedrückt werden, zum Leuchten gebracht.
Parabadminton
Parabadminton ist eine Variante von Badminton für Menschen mit Körperbehinderung. Je nach Art der Behinderung erfolgt eine Einteilung in Wettkampfklassen, beispielsweise für Menschen mit Rollstuhl oder mit Prothesen. Grundlage des Spiels ist das übliche Badminton-Regelwerk, je nach Spielklasse werden Änderungen wie Herabsetzen der Netzhöhe oder Verkleinern des Felds vorgenommen. Parabadminton ist seit 2011 in die Badminton World Federation integriert und wird 2020 erstmals Teil der Paralympischen Spiele sein.
== Literatur ==
Wend Uwe Boeckh-Behrens: Badminton heute. intermedia, Krefeld 1983, ISBN 3-9800795-0-3.
Bernd-Volker Brahms: Handbuch Badminton. Meyer & Meyer, Aachen 2009, ISBN 978-3-89899-428-6.
Marcus Busch: Badminton Schlagtechnik-Übungen. SMASH, Velbert 2003, ISBN 3-9808183-1-4.
Michael Dickhäuser: Badminton Tips & Tricks. Aktiv, Stans 1998, ISBN 3-909191-10-X.
Barbara Engel: Badminton-Handbuch – Grundlagentraining mit Kindern. Nürtingen 1992, ISBN 3-928308-01-7.
Klaus Fuchs, Lars Sologub: Badminton. Technik. Taktik. Training. Falken, Niedernhausen 1996, ISBN 3-8068-0699-3.
Martin Knupp: Badminton-Praxis. Rowohlt, Reinbek 1989, ISBN 3-499-18629-2.
Martin Knupp: Badminton verständlich gemacht. Copress, München 1993, ISBN 3-7679-0392-X.
Martin Knupp: 1011 Spiel- und Übungsformen im Badminton. Hofmann, Schorndorf 1996 (6. Aufl.), ISBN 3-7780-6316-2.
Hans Werner Niesner, Jürgen H. Ranzmayer: Badminton – Training, Technik, Taktik. Rowohlt, Reinbek 1985, ISBN 3-499-17042-6.
Detlef Poste, Holger Hasse: Badminton Schlagtechnik. SMASH, Velbert 2002, ISBN 3-9808183-0-6.
== Weblinks ==
Literatur von und über Badminton im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Kroton.de – Badminton Ergebnisdienst (DBV-Bundesligen, DBV-Gruppen und 8 Landesverbände)
Badminton Online-Magazin – News, Training, Interviews
=== Verbände ===
Badminton World Federation – Seite des Welt-Badminton-Verbandes
Badminton Europe – Seite des europäischen Dachverbandes
badminton.de – Seite des Deutschen Badminton-Verbands e. V.
badminton.at – Seite des Österreichischen Badminton-Verbandes
swiss-badminton.ch – Seite des Schweizerischen Badminton-Verbandes
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Kyros II. | = Kyros II. =
Kyros II. (altpersisch Kūruš, neupersisch کوروش بزرگ Kurosch-e bozorg, ‚Kurosch der Große‘, babylonisch Kuraš, elamisch Kuraš, aramäisch Kureš, hebräisch כורש Koreš, altgriechisch Κῦρος Kŷros, lateinisch Cyrus; * um 590 bis 580 v. Chr.; † August 530 v. Chr.), oft auch Kyros der Große genannt, Sohn des Kambyses I., regierte Persien von etwa 559 bis 530 v. Chr. als sechster König der Achämeniden-Dynastie und ernannte seinen ältesten Sohn Kambyses II. zum Nachfolger.
Kyros weitete durch seine Expansionspolitik die Grenzen des ehemals kleinen altpersischen Reichs deutlich aus, das unter seinen Nachfolgern von Indien über Iran, Babylon, Kleinasien bis Ägypten reichte und bis 330 v. Chr. bestand, ehe es von Alexander dem Großen erobert wurde.
Archäologische Kampagnen und inzwischen verbesserte Übertragungen einer Reihe von Keilschrifttexten führten zu neuen Erkenntnissen, die das bisherige Bild des historischen Kyros verfeinern konnten. Schon bald nach seinem Tod wurde der Perserkönig von seinem Volk als idealer König legendenhaft verklärt. Die Griechen übernahmen diese positive Sichtweise. Sie wurde durch seine Darstellung in der Bibel als religiös toleranter Regent verstärkt und beherrscht bis heute seine Beurteilung. Seine Person gilt heute noch als das Vorzeigebild eines Königs und Herrschers.
== Historische Quellen ==
Die erhaltenen Berichte der antiken Historiker gehen insbesondere über die Herkunft und frühen Jahre des Kyros wegen der schon sehr früh aufgekommenen, widersprüchlichen Legenden weit auseinander. Die höchste Glaubwürdigkeit schreibt man den zeitgenössischen Keilschrifttexten zu, anhand derer Wissenschaftler die Aussagen der griechischen Historiker teilweise überprüfen können.
=== Primärquellen ===
Kyros II. ist der erste Herrscher des Achämenidenreichs, der durch Inschriften und Baudenkmäler als Herrscherpersönlichkeit greifbar ist. Als Primärquellen für Kyros II. gelten archäologische Zeugnisse und drei Inschriften, die von Kyros II. selbst verfasst oder in seinem Auftrag angefertigt wurden. Die Inschriften sind in neu-babylonischer Keilschrift verfasst. Der Kyros-Zylinder wurde in Babylon gefunden, eine Inschrift stammt von Uruk (Kyros A) und die dritte von Ur (Kyros B). Ob die drei Inschriften aus Pasargadae, CMa, CMb, CMc und drei weitere Fragmente (Zendan-Inschrift und CM-Fragmente) Kyros II. zugewiesen werden können, konnte noch nicht eindeutig beantwortet werden. Bedeutend ist ferner die sogenannte Nabonid-Chronik, benannt nach dem von Kyros besiegten Nabonid, die in ihrem lesbaren Teil über die letzten Jahre des selbstständigen Babylonien und seine Eroberung durch Kyros berichtet.
=== Antike Historiker ===
Von den antiken griechischen Autoren ist Herodot rund einhundert Jahre nach Kyros der Historiker, der die früheste Darstellung überliefert, die auch vollständig erhalten ist. Deshalb ist er die griechische Hauptquelle über das Leben des Kyros. Schon er kannte verschiedene Legenden über den Perserkönig, so z. B. sowohl über seine Jugendjahre als auch seine Todesumstände. Deshalb wählte er unter den ihm vorliegenden Fassungen die ihm „am wahrscheinlichsten“ erscheinende Variante aus.
Die schon bei Herodot teilweise übernommenen ausschmückenden Elemente entwickelten sich bei späteren Geschichtsschreibern noch ausgeprägter. Dies gilt insbesondere für das politisch motivierte Werk Erziehung des Kyros von Xenophon. Aber auch die umfangreichen Darstellungen des Historikers Ktesias von Knidos über die Geschichte der Perser in seinen Persika, die in den Bänden 7–11 über Kyros berichtet, jedoch heute nur noch in Fragmentform in Auszügen des byzantinischen Patriarchen Photios vorliegt, werden von der Forschung als zweifelhaft und schwer überprüfbar angesehen.
Ein ausführliches Exzerpt des Nikolaos von Damaskus hat die Jugend und den frühen Aufstieg des Perserkönigs zum Inhalt. Der Althistoriker Richard Laqueur widersprach in einer textkritischen Analyse der allgemein verbreiteten, unter anderem von Felix Jacoby vertretenen Ansicht, dass dieser von Nikolaos von Damaskus überlieferte Bericht ein reines Exzerpt aus Ktesias sei. Vielmehr nimmt Laqueur an, dass Nikolaos zwei Quellen ineinanderarbeitete: Die Hauptquelle sei ein lydischer Autor, vielleicht Xanthos gewesen, der Kyros gegenüber eine ähnlich positive Auffassung wie Herodot vertreten und ihn als edlen Helden gefeiert habe. Ganz anders sei die Anschauung der von Nikolaos verwendeten Nebenquelle gewesen, die Laqueur mit Ktesias identifiziert: Der so lange am Perserhof lebende griechische Historiker habe den Gründer des Perserreiches als Person niedriger Abstammung charakterisiert, die völlig unselbstständig gehandelt habe und nur durch die Hilfe anderer geleitet und schließlich auf den Thron gehoben worden sei. Nach dieser Analyse gab Ktesias ein äußerst negatives Porträt von Kyros und alle Berührungspunkte der Darstellung des Herodot mit Nikolaos beruhten auf dessen lydischer Quelle. Es ist möglich, dass die Erzählung des Herodot lydischen Ursprungs ist, nur hat er diese Quelle nicht so rein erhalten wie Xanthos.Der babylonische Historiker Berossos ist zu den Quellen zu zählen, die mehrheitlich zuverlässige Darstellungen enthalten, z. B. auch in dem kurzen erhaltenen Exzerpt, das über die Eroberung Babylons berichtet. Über das Grab des Kyros berichten außerdem Fragmente der Alexanderhistoriker.
Schließlich spielt Kyros „als Befreier“ des jüdischen Volks aus dem Babylonischen Exil eine prominente Rolle in der Bibel und wird dementsprechend dargestellt.
== Name ==
Die Herkunft und Deutung des Namens ist nach wie vor umstritten. Wouter F. M. Henkelman postuliert eine elamische Herkunft und übersetzt ihn mit „verliehene Sorgfalt“, „beschützt“ oder auch „Vermittler des Glücks“. Sprachwissenschaftler wie beispielsweise Karl Hoffmann und Rüdiger Schmitt übersetzen den Namen mit „Gnädiger Herrscher über die Feinde/Herrscher mit dem gnädigen Urteil über die Feinde“. Eine Ableitung aus der vedischen Sprache unter Verwendung von „Ku, ru-“ auf „junger Mann oder Kind“ wird ebenfalls erwogen.Die antiken Historiker Ktesias von Knidos und Plutarch übersetzten den Namen Kyros mit „Sonne“ (Kur-u). Zusätzlich erfolgte der Versuch, eine Erweiterung auf „wie die Sonne“ vorzunehmen, da ein Bezug zur indoeuropäischen Wortwurzel „khor“ und dem Suffix „-vash“ hergestellt wurde. Diese Übersetzung wird aber zwischenzeitlich von der modernen Forschung abgelehnt.
== Herkunft ==
Herodots Angaben zur Abstammungslinie des Kyros werden durch die inschriftlichen Ausführungen des Kyros-Zylinders väterlicherseits bestätigt. Demnach war der Perserkönig ein Sohn des Kambyses I. und Enkel des Kyros I. Die Mutter von Kyros war laut Herodot Mandane, die Tochter des Astyages, unter dessen Oberherrschaft Kyros’ Vater Kambyses I. als „König von Anschan“ (wie sich und seine Vorfahren in den 30er Jahren des 6. Jahrhunderts v. Chr. Kyros der Große nannte). Astyages war zu diesem Zeitpunkt als maßgeblicher Heerführer mit dem medischen Herrschertitel versehen. Ktesias bestritt die Ausführungen Herodots und nannte eine andere Genealogie der Eltern des Perserkönigs, der demnach kein Königssohn, sondern der Sohn eines Räubers und einer Ziegenhirtin gewesen sei. Herodots Bericht erzählt, dass Astyages, durch einen Traum gewarnt, eine Gefahr im kleinen Kyros erkannte und ihn deshalb töten lassen wollte, der Säugling jedoch stattdessen ohne Wissen des Herrschers von einem im fernen Gebirge wohnenden Hirten, dessen Frau ein totes Kind gebar, das heimlich gegen Kyros ausgetauscht worden sein soll, großgezogen und so errettet wurde. All diese Versionen verbinden volkstümliche Themen mit uralten mesopotamischen Überlieferungen wie zum Beispiel mit derjenigen von Sargon von Akkad. Dabei variieren sie je nach Inspiration der Volkserzähler und politischen Zielen. Ihnen gemeinsam ist die Ansiedelung der Ursprünge von Kyros II. im Kontext der Beziehungen zwischen den mächtigen Medern und ihren persischen Vasallen.Der Zylinder-Inschrift, der Nabonid-Chronik und einem weiteren Keilschrifttext kann entnommen werden, dass Kyros um 559 v. Chr. als regionales Mitglied der medischen Konföderation seinem Vater Kambyses I. als König von Anschan folgte.Die Genealogie von Kyros II. und sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Dareios I. werden bis heute diskutiert. Sie konzentriert sich auf die drei Inschriften aus Pasargadae, in denen Kyros II. als Achäemenide bezeichnet wird. Die zeitliche Festlegung und die Zuweisung an den Auftraggeber der Inschriften spielen dabei die zentrale Rolle. Die Inschrift CMa wurde in der Empfangshalle (Palast S) und am Tor R gefunden, die zum ältesten Teil der Palastanlage von Pasargadae gehören. Bei der Inschrift CMc stehen die von den Griechen erfundenen Stilmerkmale in der dargestellten Kleidung der Königsfigur im Mittelpunkt, deren zeitliche Festlegung eine eindeutige Zuweisung ermöglichen könnten. Bei der dritten Inschrift, CMb, hofft man immer noch, bei zukünftigen Grabungen in Pasargadae Fragmente zu finden, um den Text wieder ganz herstellen zu können. Durch den Fundort im Palast P, der erst nach dem Tod von Kyros II. fertig gestellt wurde, und einem Fragment mit einem Teil des Namens von Dareios I. könnte diese Inschrift noch am ehesten Dareios I. zugewiesen werden. Aber da der Text unsicher ist, ist auch hier der Auftraggeber der Inschrift offen. Ebenso ungewiss ist der Ausgang der wissenschaftlichen Diskussion, ob Kyros II. als Teispide oder als Achämenide bezeichnet werden kann.
== Sturz des Astyages ==
Die Auseinandersetzungen zwischen Kyros und Astyages werden in zwei Keilschrifttexten beschrieben. Babylon kannte weder die Bezeichnung Medien noch den Königsnamen Astyages und verwendete, wie auch z. B. im Sippar-Zylinder, die babylonischen Begriffe „König Ištumegu aus Umman-Manda“ („Irgendwo-da-Land“). Der Gott Marduk erzählte Nabonid in einem Traum, dass Ištumegu von dem militärisch viel schwächeren Kyros geschlagen, gefangen und in sein Königreich Anschan verschleppt wurde. Der Text über den Krieg gegen Astyages in der Nabonid-Chronik ist infolge Beschädigung schwer lesbar, doch konnten folgende ergänzenden Nachrichten übersetzt werden: Das medische Heer rebellierte gegen Astyages und lieferte ihn an Kyros aus, der daraufhin in die Mederhauptstadt Agamtanu (Ekbatana) einzog und die Reichtümer der Stadt nach Anschan schaffen ließ. Dazu passt einigermaßen der Bericht des Herodot, dass ein Höfling namens Harpagos, der einst Astyages’ Befehl der Tötung des kleinen Kyros nicht ausgeführt haben und dafür mit der Ermordung seines eigenen Sohnes bestraft worden sein soll, zu Kyros überging, so dass der Mederkönig seine Armee persönlich in die nächste Schlacht führte, aber unterlag und gefangen genommen wurde. Die Darstellung Herodots dürfte richtigerweise bestätigen, dass Kyros einen mächtigen Helfer in Astyages’ Militärstab hatte. Ob dieser aber Harpagos hieß, muss offenbleiben.
Der Sturz des Astyages fand nach Angaben der Nabonid-Chronik 550 v. Chr. in Nabonids sechstem Regierungsjahr statt. In den Inschriften des Sippar-Zylinders wird in Nabonids drittem Regierungsjahr das „Erwachen des Kyros“ geschildert, der mit einem Heer gegen Astyages zog. Der scheinbar zeitliche Widerspruch zeigt, dass der Mederfeldzug des Kyros nachträglich vermerkt und in das dritte Regierungsjahr des Babylonierkönigs verlegt wurde, um eine zeitliche Überschneidung mit dem Tayma-Aufenthalt zu vermeiden, der im sonstigen Bericht des Sippar-Zylinders keine besondere Erwähnung findet.Den Hintergrund zeigt die Tendenzschrift des Kyrosorakels, das als nachträgliche Prophezeiung (vaticinium ex eventu) erst später erstellt wurde. Nabonid äußerte Besorgnis über die Belagerung Harrans durch die Meder, welche damit einen sofortigen Wiederaufbau des Tempels Ehulhul 555 v. Chr. unmöglich machten. Der Mondgott Sin prophezeite dem Babylonierkönig als Antwort, „dass die Meder, ihr Land und ihre Könige sowie alle Verbündeten bald durch die Hand eines anderen Königs vernichtet werden“. Das Jahr der Verheißung verlegte Nabonid auf 553 v. Chr. in sein drittes Regierungsjahr, um einen rechtzeitigen Baubeginn vorzutäuschen. Die dem Babylonierkönig feindlich gesinnte Marduk-Priesterschaft hatte in ihren Schmähschriften den „Zorn Sins“ als Grund genannt, der zur „göttlichen Ausweisung Nabonids nach Tayma“ führte, mit der Sin das Versagen des Babylonierkönigs hinsichtlich der heiligen Pflichten bestrafen wollte.Es ergibt sich aus diesen Angaben der wahrscheinliche Ablauf, dass der Sturz des Astyages sich in Teilschritten vollzog und Kyros über mehrere Jahre einzelne Feldzüge gegen die anderen Partner des Astyages führte, die im Jahr 553 v. Chr. in der Region Harran ihren Anfang nahmen. Die endgültige Übernahme der Meder-Konföderation durch die Perser wird deshalb zumeist auf 550 v. Chr. angesetzt.Der romanhafte Bericht des sich auf Ktesias stützenden Nikolaos von Damaskus erwähnt die keilschriftlich belegten Details, dass Kyros in die feindliche Hauptstadt eindrang und sich ihrer Schätze bemächtigte; ein Punkt, der von Herodot ausgelassen wurde. Nach einem anderen Fragment des Ktesias setzte Kyros den überwundenen Astyages zum Herrscher in Hyrkanien am Kaspischen Meer ein.
Kyros residierte später in mindestens zwei Hauptstädten. Das von den Medern eroberte Ekbatana (entspricht heute ungefähr Hamadan) wurde in den Sommermonaten genutzt. Als neue Metropole folgte die Errichtung von Pasargadae in der Persis; angeblich an der Stelle seines Sieges über Astyages. Nach Fertigstellung hielt er dort im Winter Hof.
== Militärische Expansionen ==
=== Medische Fürstentümer ===
Nach der kampflosen Einnahme von Ekbatana im Jahr 550 v. Chr. begann Kyros ab 549 v. Chr. mit der Unterwerfung der Fürstentümer und Regionen, die früher zur medischen Konföderation gehörten. Diese umfassten wahrscheinlich Parthien und Gebiete südlich des Urmiasees im Zāgros-Gebirge.Auf Grund von Berichten der griechischen Historiker nahm die Forschung früher an, dass Kyros seine militärischen Expansionen als Vasall des Astyages begann. Archäologische Grabungen und neue keilschriftliche Auswertungen der Nachbarländer lassen den Schluss zu, dass die Achämeniden keine Untertanen der Meder waren: „Die Achämeniden standen zu keiner Zeit in einem medischen Abhängigkeitsverhältnis, übernahmen aber von den Medern einen gut funktionierenden Verwaltungs- und Militärapparat“.
=== Urartu ===
Die Verbreitung der Jahreszahl 547. v. Chr. für den Beginn des Lydienkrieges erfolgte unter der Annahme, dass die Lesung von Smith aus dem Jahr 1924 mit „Lu-u-[d-di]“ korrekt sei. Im weiteren Verlauf ergaben sich jedoch Zweifel an dieser Übersetzung. Die Historiker Grayson und Hinz schlossen als erste Silben auch „Su“ und „Zu“ nicht aus und verlegten den Feldzug nach Palmyra. Im Jahr 1977 kam Cargill zu dem Ergebnis, dass eine Lesung als „Lydien“ wenig wahrscheinlich sei und Kyros bis in die Jahre 543/542 v. Chr. mit Feldzügen im medischen Kerngebiet beschäftigt war; Zadok bezweifelte 1985 ebenfalls in diesem Zusammenhang die frühere Lesung von Smith, da die übliche Schreibung von Lydien in „Lu-u-du“ erfolgte.
Neue Untersuchungen in den Jahren 1996 bis 2004 ergaben die Rekonstruktion des beschädigten Fragments: „Ituguana KURU-[raš-tu il-li]k“, wobei der Name „Uraštu“ die keilschriftliche Kurzform von Urartu darstellt.
Genaue Auswertungen der Feldzüge belegen zusätzlich, dass die Euphrat-Route für Unternehmungen in die Regionen von Tabal, nahe Lydien, immer über Karkemiš führten. Die militärische Kampagne im Jahr 547 v. Chr. führte Kyros jedoch über die Urartu-Strecke Arrapḫa, Erbil, Nisibis, Mardin und Tur Abdin. Da Nabonid die Station Erbil erwähnte, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass Kyros den üblichen Weg und gleichzeitig das Territorium von Babylon für den Durchzug in Anspruch nahm.Eine Ansetzung des Lydienfeldzuges für 541 v. Chr. wird durch die Nabonid-Chronik gestützt. Kyros sandte zunächst Boten an die Regenten der kleinasiatischen Griechenstädte vom lydischen König Krösus und forderte diese auf, sich seiner Herrschaft zu unterstellen. Der Anweisung wurde größtenteils nicht Folge geleistet. Der Lyderkönig, der von den Aktivitäten des Perserkönigs unterrichtet wurde, befürchtete nicht zu Unrecht ein Vorrücken von Kyros in sein Land und schloss ein Bündnis mit Ägypten und Babylon, das jedoch nicht vor Nabonids Rückkehr im Jahr 542 v. Chr. erfolgt sein konnte. Nach der anschließenden Befragung des Orakels von Delphi (Das gesprochen haben soll: „Wenn Krösus die Perser angreift, so wird er ein mächtiges Reich zerstören.“ bzw. „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“) ordnete Krösus die Mobilmachung seines Heeres an.
=== Krieg gegen Lydien ===
Anschließend überschritt der Lyderkönig die Grenze nach Kappadokien, eroberte die Festung Pteria und erwartete östlich des Halys das persische Heer. Dieses rückte unter Führung des Kyros bald heran. Nachdem ein langer Kampf in der Schlacht bei Pteria keine Entscheidung gebracht hatte, zog sich Krösus nach Sardes zurück. Er entließ seine Truppen in die Winterquartiere, da er offenbar mit keinen weiteren Kampfhandlungen rechnete. In Erwartung der Fortführung von militärischen Auseinandersetzungen im nächsten Frühjahr hoffte Krösus auf militärische Unterstützung von seinen Bündnispartnern Ägypten und Babylon. Ein Hilferuf an Sparta hatte die Anforderung weiterer Truppenverbände zum Inhalt.Im Bewusstsein dieser Situation ließ Kyros seine Heeresverbände in Eilmärschen nach Lydien ziehen. Der Perserkönig handelte kurzentschlossen, griff die Hauptstadt Sardes an und besiegte die lydische Reiterei vor den Stadttoren. Es folgte eine zweiwöchige Belagerung, die durch erneute Angriffe und die Erstürmung der Hochburg von Sardes wohl 541 v. Chr. mit einem Sieg für Kyros endete.In den Quellen herrscht Uneinigkeit über das weitere Schicksal des Krösus. Er wurde dem griechischen Chronisten Eusebius von Caesarea zufolge von Kyros II. getötet. Bakchylides überliefert, Krösus wollte sich vor Kyros’ Eintreffen mit seiner Familie auf einem Scheiterhaufen verbrennen lassen, doch habe Zeus das Feuer gelöscht und sie entrückt. Dagegen habe – laut Herodot – Kyros II. den Lyderkönig zunächst auf dem Scheiterhaufen verschmoren lassen wollen, es dann aber bereut, die Flammen löschen lassen und ihn künftig als Berater verwendet. Gelegentlich wurde daraus der Schluss gezogen, dass sich Krösus bei Ankunft der Sieger bereits zur Selbstverbrennung auf den Scheiterhaufen gestellt habe, aber durch Kyros von dieser Tat abgehalten wurde.
=== Unterwerfung Kleinasiens ===
Die Griechenstädte Kleinasiens waren nach der Niederlage des Krösus bereit, sich den Persern unter der Bedingung zu unterwerfen, dass Kyros die Privilegien bestätigen würde, die sie unter der Herrschaft des Lyderkönigs genossen hatten. Kyros hatte jedoch die Absage der Fürsten zu Beginn der Auseinandersetzung mit Krösus, seinen Feldzug militärisch zu unterstützen, nicht vergessen und wies ihre Boten nun mit Verachtung ab. Wohl deshalb verhielten sich die kleinasiatischen Städte bei der folgenden Rebellion 540 v. Chr. loyal gegenüber dem von Kyros als Schatzmeister eingesetzten Lyder Paktyes. Dieser hatte zuvor vom Perserkönig den Auftrag erhalten, das lydische Gold einzusammeln und abzuliefern, leitete aber stattdessen das Gold zur Finanzierung der Aufstände an die griechischen Küstenstädte weiter.
Harpagos war für seine Dienste zum Feldherrn des Kyros befördert worden. Jetzt konnte er zusammen mit Mazares die Rebellion schnell unterdrücken und Paktyes bestrafen. Es erfolgten Rachefeldzüge gegen die griechischen Verbündeten des Aufständischen. Mazares plünderte Priene und versklavte dessen vornehmste Bürger. Anschließend verfuhr er mit Magnesia am Mäander ähnlich. Bald darauf verstarb Mazares. Sein Nachfolger wurde Harpagos, der Smyrna, Phokaia und in der Folge alle festländischen Ionier unterwarf, die ihn von nun an auf seinen weiteren Feldzügen unterstützen mussten.
Die Karer ergaben sich fast kampflos mit Ausnahme von Pedasa. Die Bewohner der lykischen Stadt Xanthos sollen beim Kampf gegen die Truppen des Harpagos bis auf den letzten Mann gefallen sein, nachdem sie zuvor ihre Familien und Schätze verbrannt hatten.
Nur Milet wurde verschont und durfte sich eine gewisse Unabhängigkeit bewahren, weil es Kyros gegen Krösus geholfen und nicht die Rebellion gegen die Perser unterstützt hatte.
=== Krieg gegen Babylon ===
Eine genaue Rekonstruktion der 542 v. Chr. erfolgten Rückkehr Nabonids im 14. Regierungsjahr aus seinem Exil in Tayma kann mangels keilschriftlicher Belege nicht vorgenommen werden. Sichere Kenntnisse bestehen über die Tätigkeiten im Vorfeld von Kyros, der die Spannungen zwischen Nabonid und der Marduk-Priesterschaft dadurch schürte, dass er Hilfszusagen gegenüber den Nabonid-Gegnern machte und sich als Regierungsalternative anbot. Zwischenzeitlich leitete Nabonid Verteidigungsmaßnahmen für Babylon ein, die im März 539 v. Chr. durch Heimholung der Ischtar-Statue aus Uruk intensiviert wurden. Erste Übergriffe von Kyros auf Gebiete von Babylon im Frühjahr 539 v. Chr., die der Perserkönig in der Region Gutium durchführte, veranlassten Nabonid, weitere Götterstatuen als Verstärkung nach Babylon zu überstellen. Der Babylonierkönig handelte dabei nach altem mesopotamischem Glauben, da die Götter ihren Segen demjenigen zuteil kommen lassen, der sich im Besitz ihrer Bilder befindet. Später verkehrte Kyros diese Handlung Nabonids in ihr Gegenteil, indem er behauptete, der Babylonierkönig habe die Bilder gegen den Willen der Götter nach Babylon bringen lassen und sich damit deren Zorn zugezogen.
==== Der Fall Babylons ====
Kyros zog seinerseits im Spätsommer mit einer Allianz aus Persern, Medern und anderen Volksstämmen auf dem Rückweg über den Rewanduz-Pass, etwa 66 Kilometer nordöstlich von Erbil, durch die Provinz Sagartien, die er kampflos besetzte, nachdem der Perserkönig mit dem Sagartier-Fürsten Ugbaru ein Militärbündnis geschlossen und ihm die Satrapen-Position in Babylon zugesichert hatte. Der Angriffsfeldzug auf Babylon wurde von dort im September über den Diyala-Fluss in das etwa 400 Kilometer entfernte Opis am Tigris gestartet. An dieser am östlichen Ende der sogenannten „Medischen Mauer“ gelegenen Festung entschied sich die Schlacht sehr schnell, und das Babylonische Reich unterlag der persisch-medischen Allianz. Nach dem folgenden Massaker an den babylonischen Gefangenen wurde die letzte strategische Festung Sippar ohne Gegenwehr eingenommen. Kyros versuchte nun, Nabonid zu stellen, der inzwischen geflohen war. Die Nabonid-Chronik berichtet ausführlich über die Geschehnisse:
Nach Ugbarus kampflosem Einzug in die Stadt am 6. Oktober 539 v. Chr. wurde Nabonid laut der Nabonid-Chronik in Babylon gefangen genommen. Kyros, der Ugbaru nach Babylon vorausgeschickt hatte, zog selbst erst 17 Tage später am 23. Oktober in Babylon ein. Nach dem Bericht der Nabonid-Chronik wurden dem Perserkönig Schilfzweige ausgebreitet, als er bei seinem Eintreffen den Frieden für das ganze Land verkündete.Noch vor dem babylonischen Neujahr, das im Monat Nisanu 538 v. Chr. gefeiert werden sollte, verließ Kyros mit Blick auf den verbleibenden knappen Zeitraum Babylon und ließ in Ekbatana seinen Erlass verkünden.Ugbaru wurde vereinbarungsgemäß zum Satrapen des Landes Babylon ernannt, setzte seinerseits nun ihm unterstehende Provinz-Statthalter ein und bestätigte Nabû-ahhe-bullit in seinem früheren Amt als Befehlshaber von Babylon-Stadt. Gemäß der Verkündung im Kyros-Erlass erfolgte in den Monaten Kislimu bis Adaru die Heimkehr der von Nabonid nach Babylon gebrachten „Götter von Akkad“.
Der Perserkönig respektierte im Gegensatz zu seinem Vorgänger Nabonid Marduk als obersten Gott von Babylon, dessen kultische Verehrung er erneuern und bestätigen musste. Ohne die göttliche Legitimation durch Marduk wäre eine Ernennung zum babylonischen König undenkbar gewesen, die am 21. März 538 v. Chr. durch das babylonisch vorgeschriebene Protokoll mit dem „Ergreifen der Hände von Marduk“ erfolgte. Zur engeren Anbindung an das neuentstandene persische Reich förderte der Perserkönig nicht nur die Mardukpriester, sondern beließ auch weitere bedeutende Beamte Nabonids in ihren Funktionen. Dieses strategisch kluge Verhalten und das nicht mehr existente babylonische Heer bewirkten, dass es zunächst zu keinen Aufständen in Babylon kam, so dass die gesamten Territorien des eroberten Reichs, z. B. Palästina, nach dem Erhalt der Königsinsignien nun dem Perserkönig zufielen.
==== Die Zeit nach Nabonid ====
Über den Verbleib von Nabonid gibt die Chronik keine Auskunft, aber gemäß Berossos verwies ihn Kyros II. des Landes nach Karmanien, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Dass Nabonid darüber auch Regent von Karmanien wurde, berichtete Abydenos.Nach der Krönung veranlasste der Perserkönig den Abriss beziehungsweise die Brandschatzung aller Nabonid-Bauwerke. Schriften, die Nabonid zum Inhalt hatten, ereilten die gleiche Bestimmung wie auch Statuen und Bilder von ihm. Die letzten Aussagen zu Nabonid enden im „Strophengedicht“ mit den Worten: „Alles was Nabonaid in seinem Leben geschaffen hatte, wurde als Asche durch den Wind in alle Richtungen verteilt.“
Ugbaru starb am 18. Oktober 538 v. Chr. etwa ein Jahr nach dem Einzug von Kyros in Babylon, der anschließend seinen Sohn Kambyses II. zum Nachfolger ernannte und ihm den Titel „König von Babylon“ verlieh. Der Perserkönig behielt nach Abgabe des Titels an seinen Sohn selbst den übergeordneten Rang „König der Länder“. Die Gattin von Kyros, Kassandane, erlitt wenige Monate später das gleiche Schicksal wie Ugbaru und starb am 28. März 537 v. Chr. unmittelbar vor dem babylonischen Neujahr, dessen offizielle Hauptfeierlichkeiten nach der angeordneten siebentägigen Staatstrauer am 5. April mit der Anwesenheitspflicht des babylonischen Königs begannen. Kambyses II., der anscheinend mit dem babylonischen Protokoll nicht vertraut war, erschien in Heereskleidung zur Begrüßung der babylonischen Gottheiten und löste damit einen Eklat aus, der die Priesterschaft brüskierte und beleidigte. Wahrscheinlich musste Kambyses II. deshalb bald darauf sein Amt dem Nachfolger Gobryas übergeben, der in der babylonischen Chronik offiziell ab 536 v. Chr. als Satrap von „Babylon und der Transeuphratene“ geführt wurde.Über die von Kyros verfolgte Wirtschafts- und Verwaltungspolitik liegen nur wenige Keilschriftquellen vor. Nabonid hatte bereits begonnen, die Infrastruktur zu ändern und auf mehrere Standbeine zu verteilen. Seinen Aufenthalt in Tayma nutzte der Babylonierkönig zum Aufbau eines weit verzweigten Handelsnetzes, das Kyros nach der Eroberung Babyloniens übernahm und weiter intensivierte. Der Perserkönig vermied es jedoch, grundlegende theologische Änderungen herbeizuführen.
Verwaltungstechnisch ernannte der Perserkönig „Kommissare“, die sich um innenpolitische Angelegenheiten in den neu eingeführten Verwaltungsbezirken kümmerten. Phönizien zeigte sich gegenüber Kyros kooperativ, blieb aber eigenständig. Durch die phönizische Flotte avancierte Persien nun auch zu einer bedeutenden Seemacht. Unter Dareios I. folgte erst später eine grundlegende Einteilung der Regionen in Provinzen, da Kyros schwerpunktmäßig mit den Feldzügen in die Ostprovinzen beschäftigt war.
=== Östliche Perserprovinzen ===
Da Babylon sich in den nächsten Jahren zunächst ruhig verhielt und die kleinasiatischen Länder von Kyros militärisch beherrscht wurden, widmete er seine Aufmerksamkeit nun den Provinzen östlich Elams und unternahm nach 539 v. Chr. in den Folgejahren mehrere Feldzüge. Er unterwarf zunächst 538 v. Chr. Baktrien; im Anschluss Gandhara, Sogdien und Choresmien. Über den Chaiber-Pass gelangte Kyros immer weiter nach Osten, so auch bis nach Sattagydien und dem Indus. Schließlich erreichte er das Gebiet am Yachša-Arta (Jaxartes), das weit im Nordosten des altiranischen Sprachgebietes lag.
Die dort nomadisierenden ansässigen Saken und Massageten konnte der Perserkönig nicht vollständig unterwerfen und ließ zum Schutz mehrere Festungen, so z. B. Kuruschata, errichten. Eine dauerhafte Befriedung konnte der Bau dieser Schutzburgen anscheinend nicht bewirken, da immer wieder kleinere Aufstände der heimischen Stämme vermeldet wurden.
== Religion ==
=== Kyros in der Bibel ===
Über die persönliche Religionseinstellung von Kyros liegen kaum Erkenntnisse vor. Aus den Ausführungen der Bibel wird der Eindruck gewonnen, dass der Perserkönig anderen Glaubensrichtungen, etwa dem Judentum, keine Einschränkungen auferlegte.
So wird Kyros in 2 Chr 36,22 , Esra 1,1 ff. sowie Jesaja (44,28 und 45 ) positiv erwähnt und mit einem „Messias“ verglichen, der „durch die Erweckung seines Geistes“ die Rückkehr jüdischer Bevölkerungsteile aus dem babylonischen Exil ermöglichte. Zusätzlich soll der Perserkönig den Auftrag erhalten haben, „JHWH ein Haus in Jerusalem zu bauen“.
Die historischen Belege lassen vermuten, dass Kyros wahrscheinlich die Religionspraxis der Assyrer und Babylonier fortführte, wenn von Nabonids kurzfristigem Wechsel zur Monolatrie einmal abgesehen wird. Für Einschränkungen der traditionellen und individuellen Religionsausübung im privaten Bereich liegen keine Anzeichen vor. Der Auftrag zum Tempelbau in Jerusalem wird im Kyros-Edikt nicht erwähnt und erscheint erstmals bei Xenophon in seinem Roman Die Erziehung des Kyros, der etwa 160–180 Jahre nach dem Erlass geschrieben wurde.
Die biblische Überlieferung interpretiert daher die Aussagen der allgemein zugebilligten Möglichkeit der Rückkehr in die Heimatländer und die Toleranz gegenüber dem privaten Glauben theologisch aus rückblickender Sicht zu einem Zeitpunkt, als der Tempelbau und andere Maßnahmen schon längst beendet waren.
=== Religionspolitik ===
Kyros, der anscheinend zwar die individuellen Glaubensrichtungen in anderen Ländern respektierte, beschnitt jedoch in den eroberten Staaten konsequent die Befugnisse größerer Tempel, um deren Macht- und Wirkungsbereich zu schwächen. Zunächst wurden die staatlichen Zuschüsse zur Unterhaltung der Tempel gestrichen und eine Steuerzahlung auferlegt. Zusätzlich mussten Dienstleistungen gegenüber den Achämeniden erbracht werden.
Für die Kontrolle und Verwaltung der Tempel wurde das Amt des königlichen Kommissars geschaffen. Neu- und Ausbauten der Tempelanlagen mussten aus eigenen Rücklagen bestritten werden. Die finanziellen Zugabeleistungen, die vorher von den jeweiligen Staaten und Provinzen erbracht wurden, entfielen ersatzlos.Die laut dem biblischen Bericht (vgl. Buch Esra Kapitel 6,9 ff. und 7,20 ff.) von Kyros gewährten finanziellen Hilfen für den Bau des Jerusalemer Tempels und die Steuerbefreiung der Priester stehen im Widerspruch zu diesen Verfügungen.
== Tod ==
Im August des Jahres 530 v. Chr. kam Kyros bei einem erneuten Feldzug gegen einen Nomadenstamm an der Ostgrenze seines Reiches ums Leben. Über die genaueren Todesumstände liegen von Herodot, Ktesias von Knidos und Berossos verschiedene Angaben vor, während Xenophon gänzlich abweicht. Nach Herodot starb der Perserkönig wahrscheinlich bei einem Feldzug gegen die Massageten, obwohl er anfangs durch List gegen den Königssohn Spargapises gewann, der sich deshalb das Leben nahm. In der entscheidenden Schlacht aber unterlag Kyros der Königin Tomyris und wurde tödlich verletzt. Die Siegerin ließ dem gefallenen Kyros aus Rache den Kopf abschneiden und ihn in einen blutgefüllten Schlauch stecken.Laut Ktesias von Knidos führte der Perserkönig zuletzt Krieg gegen die Derbiker, die durch indische Kontingente mit Elefanten Verstärkung erhielten. Während des Kampfes wurde Kyros vom Pferd abgeworfen und erlitt dabei einen Speerstich in den Schenkel. Zwar konnte keine Seite die blutige Schlacht entscheiden, doch erhielten die Perser Zuzug durch weitere Kontingente und gewannen den nächsten Kampf mit einem Verlust von 11.000 Mann, während die Derbiker 30.000 Gefallene, darunter auch ihren König Amoraios, zu beklagen hatten. Drei Tage nach seiner Verletzung starb aber auch Kyros an seinen Wunden. Nur Ktesias erwähnt die Überführung seiner Leiche nach Persien, um sie dort bestatten zu lassen. Alexander dem Großen wurde 330 v. Chr. das angebliche Grab des Kyros in Pasargadae gezeigt. Ein in dessen Nähe gelegenes kleines Gebäude, „Grab der Mutter Salomos“ genannt, wird oft mit dem im Folgenden beschriebenen Kyrosgrab identifiziert.
Der babylonische Geschichtsschreiber Berossos erzählt, dass Kyros in einer Schlacht in der Ebene Daas gefallen sei. Historisch widerlegt ist die Angabe Xenophons in seinem Kyrosroman Erziehung des Kyros, dass der Perserkönig friedlich wie ein griechischer Philosoph gestorben sei.
== Grabmal ==
Auf Wunsch Alexanders des Großen, der Kyros bewunderte, besuchte Aristobulos von Kassandreia zweimal die letzte Ruhestätte des großen Perserkönigs in Pasargadae. Seine Beschreibung nahmen sowohl Arrian als auch Strabon in ihre Werke auf; beide Autoren weichen nur minimal voneinander ab.Danach befand sich der rechteckige Grabbau in einem großen Garten, war an der Basis aus massiven Steinquadern errichtet und hatte darüber eine Grabkammer mit engem Eingang. In ihr befanden sich ein Tisch mit Gläsern, ein Goldsarkophag, in dem einst der Leichnam des Kyros bestattet worden war, eine Bahre sowie prächtige Kleider und Schmuckstücke. In der Nähe beim Aufstieg zum Grab stand eine Hütte für dessen Bewacher, die Mager. Eine persische Inschrift zierte das Grab: „O Mensch, ich bin Kyros, der die Herrschaft der Perser begründete, Asiens König! Neide mir nicht dieses Denkmal!“ Nach dem ersten Besuch des Aristobulos wurde das Grab beraubt. Nun ließ er es wiederherstellen und zumauern.
Einen ähnlichen Text der Inschrift gibt auch der Biograph Plutarch, der im Übrigen nur kurz über das Grab berichtet und als dessen Standort nur allgemein Persien angibt.Das sogenannte „Grab der Mutter Salomo“ (Mašhad-e Madar-e Solayman), ein den Europäern seit dem 16. Jahrhundert bekanntes kleines Steinmonument etwa 1 km südwestlich von Pasargadae, wurde wegen seiner Ähnlichkeit mit der Beschreibung von Aristobulos zuerst 1809 von James Justinian Morier mit dem Kyrosgrab identifiziert. Diese Ansicht ist auch heute größtenteils unumstritten. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde das Gebäude in eine Moschee umfunktioniert.
Das Kyrosgrab ist ein rechteckiges, kleines Gebäude mit schrägem Dach und sehr kleiner Tür (139 cm hoch und 78 cm breit), zu der früher eine Treppe führte. Es steht auf sechs nahezu quadratischen, sich nach oben verjüngenden Steinplatten, deren unterste etwa 13 m lang und 12 m breit ist. Das Gebäude selbst misst circa 6 m in der Länge und 5 m in der Breite und beherbergt ein etwa 3 × 2 m großes, leeres Zimmer. Die Gesamthöhe des Grabes wird auf 11 m geschätzt. Die von Aristobulos erwähnte Inschrift fehlt. Eine 50 m lange und 40 m breite, rechteckige Mauer umschloss früher das Grab. Bei diesem Bau flossen Kunsttraditionen der von den Persern unterworfenen Völker ein. Die stufenförmige Basis ähnelt einem babylonischen Zikkurat, während der Aufbau der Cella griechisch-ionische Stilelemente aufweist.
== Rezeption ==
=== Legenden über Kyros’ Jugend ===
Es wurde schon sehr früh ein überwiegend positives Bild des persischen Reichsgründers gezeichnet und sein Leben durch zahlreiche Legenden verklärt. Besonders über die frühen Jahre des Kyros gab es verschiedene fantasievolle Versionen:
Laut Herodot hatte der Mederkönig Astyages zwei Träume, die auf seinen Sturz durch den Sohn seiner Tochter Mandane hindeuteten. Er befahl deshalb seinem Vertrauten Harpagos die Tötung des neugeborenen Kyros. Doch führte Harpagos den Befehl nicht aus, sondern beauftragte den Hirten Mithradates, den Säugling in den Bergen auszusetzen. Mithradates befolgte aber die Anweisung Harpagos nicht und zog mit seiner Frau den kleinen Kyros auf.
Als nun Kyros zehn Jahre alt war, wurde er von den Dorfkindern spielerisch zum König ernannt und ließ einen der Jungen wegen Unfügsamkeit auspeitschen. Dessen Vater, ein vornehmer Meder, beschwerte sich bei Astyages, der deshalb die Betroffenen vorlud und bei der folgenden Begegnung erfuhr, dass sein Enkel noch lebte. Auf Beruhigung durch seine Wahrsager unternahm er nichts gegen den jungen Kyros, ließ aber den Sohn des Harpagos töten. Später stachelte der trauernde Vater den herangewachsenen Kyros gegen Astyages auf, was zu dessen Sturz führen sollte.Ganz anders lautet der wohl im Wesentlichen auf Ktesias zurückgehende, ausführliche Bericht des Nikolaos von Damaskus, der den Perserkönig vollkommen diskreditieren sollte. Danach sei Kyros der Sohn des armen Räubers Atradates aus dem Stamm der Marder und der Ziegenhirtin Argoste gewesen. Nach Ankunft am Hof des Astyages in jungen Jahren musste er zuerst als Palastfeger niedrigste Arbeiten verrichten. Er soll sogar ausgepeitscht worden und erst langsam durch seine Dienste in der Hierarchie höher gestiegen sein. Schließlich erbte er das große Vermögen eines Obermundschenken, der ihn auch dem König empfahl. So erlangte er die Gunst des Astyages und bedeutenden Einfluss.
Seine Mutter, die er zu sich holen ließ, berichtete ihm von einem Traum, den sie als Schwangere gehabt hatte. Dieser Traum ähnelt unverkennbar dem ersten des Astyages bei Herodot. Ein Babylonier deutete ihn als Zeichen dafür, dass Kyros König werden würde. Die Kadusier planten damals ohne Zustimmung ihres Königs Onaphernes einen Aufstand gegen die Meder. Astyages schickte Kyros als Gesandten zu Onaphernes, der unterwegs auf einen Mann namens Hoibares traf, den er auf Anraten des Babyloniers zu seinem Gefährten machte. Die drei Männer kehrten nach Erledigung der Gesandtschaft an den medischen Königshof zurück und planten den Umsturz. Hoibares beseitigte jedoch den babylonischen Traumdeuter, um einen Mitwisser weniger zu haben.
Auf Wink seines Sohnes rüstete inzwischen Atradates gegen Astyages. Bald darauf verließ Kyros den Mederhof, um seinen Vater zu besuchen. Das Lied einer seiner Sängerinnen machte Astyages auf die Umsturzpläne aufmerksam, da es von einem mächtigen Löwen, der einen Eber in die Freiheit entließ, erzählte. Die Kräfte des Ebers wuchsen, bis er schließlich den stärkeren Löwen besiegen konnte. Astyages bezog diese Fabel sofort auf sein Verhältnis zu Kyros und versuchte, ihn nun lebendig oder tot an seinen Hof zurückholen zu lassen. Da dies Vorhaben misslang, kam es zwischen Astyages und Kyros zur militärischen Auseinandersetzung um den Thron des Mederreichs. Ab hier bricht aber das Fragment des Nikolaos ab und man erfährt durch Photios’ Auszug aus Ktesias nur noch kurze Einzelheiten aus dem Ende des Krieges.Die Dokumentationen der griechischen Historiker beinhalten zudem die traditionell ideologischen Ansprüche der Perser auf Medien und auch Lydien. Die Legenden um Mandane wurden mesopotamischen Vorlagen nachgebildet, z. B. Sargon von Akkad, und belegen mit iranischer Prägung die spätere Wertschätzung des Kyros als charismatischen Gründer des altpersischen Weltreichs.
=== Das Kyrosbild von der Antike bis zum Mittelalter ===
Aischylos nannte Kyros einen friedenliebenden König, der sehr besonnen handelte. Xenophon schrieb um 360 v. Chr. über den Perserkönig zwar die achtbändige Monographie Erziehung des Kyros, doch wurde nach neuzeitlicher Überprüfung klar, dass dieses Werk einen idealen König in Romanform schildern wollte und die historischen Tatsachen phantasievoll interpretiert und angepasst wurden. Der Philosoph Aristoteles charakterisiert Kyros als Wohltäter, der den Völkern die Freiheit brachte.Negative Seiten von Kyros’ Person und Politik wurden in den Hintergrund gerückt. Die alten Perser nannten ihn laut Herodot ihren „Vater“ und verehrten ihn offenbar sehr. Wohl nicht zufällig wählte ihn Xenophon in seinem Roman als Vorbild für einen idealen König aus. Der griechische Historiker berichtet auch dementsprechend, dass noch zu seiner Zeit Gesänge und Sagen über Kyros bei den Persern kursierten.
Die positive Darstellung im überwiegenden Teil der antiken Literatur wirkte bis ins Mittelalter weiter. Die jüdisch-christliche Tradition interpretierte den Traum des medischen Königs vom Weinstock als Vorzeichen für die Geburt eines Königs, der zum Befreier des jüdischen Volkes aus dem babylonischen Exil bestimmt war. Nach Ansicht des Speculum humanae salvationis aus dem 14. Jahrhundert war Kyros’ Geburt vordeutend auf jene von Maria, die den „Messias der Menschheit“ zur Welt bringen werde.
=== Moderne wissenschaftliche Beurteilung ===
Die Vereinten Nationen veröffentlichten 1971 in allen offiziellen UNO-Sprachen die Inschrift des Kyros-Edikts, wobei dieses auf Initiative der iranischen Regierung als „erste Charta der Menschenrechte“ bezeichnet wurde. Dies geschah ohne neutrale Prüfung des historischen Hintergrunds. Bis heute hat die UNO nicht zu kritischen Fragen, die sich auf den propagandistischen Zweck des Textes beziehen, Stellung genommen. Die Konstruktion eines Zusammenhangs mit dem modernen Begriff der Menschenrechte, der zur Zeit des Kyros nicht existierte, wird von Historikern nicht akzeptiert, da eine solche Betrachtungsweise unhistorisch ist und der damaligen Wirklichkeit nicht gerecht wird. So widerspricht der Althistoriker Josef Wiesehöfer unwissenschaftlichen Darstellungen, die Kyros als König beschreiben, „der Menschenrechtsideen in den Umlauf brachte“. Die Inschrift ist als Selbstdarstellung des Herrschers einseitig. Propagandistischen Zwecken dienen auch im Internet kursierende gefälschte Übersetzungen, in denen Kyros sogar für Mindestlohn und Asylrecht eintritt.Die Veröffentlichung der Inschrift durch die UNO im Jahr 1971 stand in Zusammenhang mit den Jubiläumsfeiern „zum 2500jährigen Bestehen des Kaiserreichs Iran“, die im Iran von der damaligen Regierung des Schahs Mohammad Reza Pahlavi mit großem Aufwand begangen wurden. Der Schah legte großen Wert darauf, an die altpersische Tradition anzuknüpfen. Die deutsche Iranistik widmete diesem Anlass eine Festschrift mit Geleitworten u. a. des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers. Tatsächlich bezog sich die Angabe von 2500 Jahren aber nicht – wie von iranischer Seite und auch von deutschen Gratulanten behauptet wurde – auf ein (fiktives) Jahr der Reichsgründung, sondern darauf, dass Kyros vor zweieinhalb Jahrtausenden gestorben war. Dem Anlass entsprechend fiel die Würdigung des Kyros in der Festschrift durch den Göttinger Iranisten Walther Hinz äußerst positiv aus. Der Druck der Festschrift wurde durch Mittel der deutschen Wirtschaft, des Auswärtigen Amtes und des Instituts für Auslandsbeziehungen finanziert.Aus der Sicht der modernen Forschung erscheint Kyros als außergewöhnlich befähigter Herrscher, der seine außenpolitischen Ziele durch geschickten Einsatz von Druckmitteln und Verlockungen erreichte. Seine erfolgreiche Strategie ermöglichte es ihm, aus einem bescheidenen ererbten Territorium in nur drei Jahrzehnten das erste Großreich der Perser zu schaffen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sowohl in seinem Reich als auch in anderen Ländern bald zahlreiche Legenden und Verherrlichungen von Kyros in Umlauf gelangten. Dabei wurden Stoffe aus mesopotamischen Mythen mit Sagengut persischen Ursprungs zusammengefügt.
=== Belletristik ===
Die Erzählung von Pantheia – die laut Xenophon die Gattin eines Feindes des Kyros war, in die Hände des Perserkönigs fiel und trotz ihrer Schönheit nicht von ihm berührt wurde – fand im 16. Jahrhundert Eingang in Werke des italienischen Dichters Matteo Bandello und des englischen Autors William Painter; auch der deutsche Dramatiker Hans Sachs schuf nach diesem Motiv einige Gedichte. Die Franzosen Pierre Mainfray (Cyrus triomphant, 1628) und Antoine Danchet (Cyrus, 1706) behandelten die Jugend des Kyros dramatisch. Den umfangreichsten Roman (13 000 Seiten) über den Perserkönig schrieb die französische Schriftstellerin Madeleine de Scudéry (Artamène ou le Grand Cyrus, 1649–1653). Um eine Dienststelle beim Preußenherrscher Friedrich dem Großen zu erhalten, nannte der deutsche Dichter Christoph Martin Wieland in seinem Goldenen Spiegel (1772) den Monarchen einen Neuen Kyros.
=== Darstellende Kunst ===
Da das die religiöse Bedeutung des Königs hervorhebende Speculum humanae salvationis in kirchlichen Kreisen weit verbreitet war, wurden viele bildnerische Darstellungen des Kyros-Themas in Kirchen und Klöstern angeregt, etwa Glasmalereien des Klosters Ebstorf bei Uelzen. Auf das für den burgundischen Herzog Karl den Kühnen verfasste Werk des Grafen von Lucena (1470), dessen Grundlage Xenophons Erziehung des Kyros bildete, gehen vier Wandteppiche zurück, die sich in Notre-Dame in Beaune befinden. Der amerikanische Maler Benjamin West stützt sich bei einem Bild (1773, London) für den britischen König Georg III., auf dem Kyros einem von ihm geschlagenen armenischen König großzügig verzeiht, ebenfalls auf Xenophon. Vor dem Thron des Astyages erscheint der Perserkönig auf dem Gemälde von J. Victor (1640, Oldenburg). Das Motiv des von einer Hündin gesäugten kleinen Kyros bringt ein Porträt von Giovanni Benedetto Castiglione (um 1655, Dublin). Wie nobel sich Kyros gegenüber der schönen Pantheia verhielt, stellt ein Fresko des italienischen Malers Pietro da Cortona dar (1641/42, Florenz, Palazzo Pitti).
=== Musik ===
Seit dem 17. Jahrhundert behandelten auch musikalische Werke, vornehmlich Opern, den Kyros-Stoff. So verfasste Antonio Bertali das Divertimento Il Ciro crescente (1661). Zum Libretto von G. C. Sorentino schrieb unter anderem Francesco Cavalli die Oper Il Ciro (1654). Auf dem Text von Pietro Pariati fußen zum Beispiel Opern von Tomaso Albinoni (Ciro, 1709) und Antonio Lotti (Ciro in Babilonia, 1716). Vertonungen des Librettos Ciro riconosciuto von Pietro Metastasio schufen etwa Baldassare Galuppi (1737), Niccolò Jommelli (1744) und Johann Adolph Hasse (1751). Gioachino Rossini komponierte die Oper Ciro in Babilonia (1812) nach dem Text von Francesco Aventi.
=== Feste und Feiern ===
== Stammtafel ==
== Siehe auch ==
Mondfinsternis vom 16./17. Juli 523 v. Chr.
Stammtafel der Achämeniden
Persische Mumie
== Quellen ==
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Otto Kaiser (Hrsg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band 1. Alte Folge. Mohn, Gütersloh 1984, ISBN 3-579-00063-2.
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Adolf Leo Oppenheim: The cuneiform texts. O. O. 1970 (Übersetzungen von James B. Pritchards Ancient near Eastern texts).
Joseph Feix (Hrsg.): Herodots Historien, Griechisch-Deutsch (Sammlung Tusculum). 2 Bände, 5. Auflage, Artemis, München 1995.
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== Literatur ==
=== Standardwerke ===
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Klaas R. Veenhof: Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-51686-X.
Annemarie Ambühl: Kyros. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02468-8, Sp. 595–602.
M. Rahim Shayegan (Hrsg.): Cyrus the Great: Life and Lore. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts/ London 2018, ISBN 978-0674-98738-8.
Matt Waters: King of the World. The Life of Cyrus the Great. Oxford University Press, Oxford 2022.
=== Einzeluntersuchungen ===
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Robert Rollinger: Das Phantom des Medischen „Großreichs“ und die Behistun-Inschrift. In: Ancient Iran and its Neighbours. Studies in hounour of Prof. Józef Wolski on occasion of his 95th birthday (= Electrum. Band 10). Wydawn. Uniwersytetu Jagiellońskiego, Krakau 2005, ISBN 978-83-233-1946-7, S. 11–29.
Robert Rollinger: Medien. In: Walter Eder, Johannes Renger (Hrsg.): Herrscherchronologien der antiken Welt. Namen, Daten, Dynastien (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 1). Metzler, Stuttgart/Weimar 2004, ISBN 3-476-01912-8, S. 112–115.
Josef Wiesehöfer: Kontinuität oder Zäsur – Babylon unter den Achämeniden. In: Johannes Renger (Hrsg.): Babylon – Focus mesopotamischer Geschichte. Wiege früherer Gelehrsamkeit als Mythos der Moderne. 2. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft. Saarbrücker Druckerei und Verlag, Saarbrücken 1999, ISBN 3-930843-54-4, S. 29–48.
Josef Wiesehöfer: Daniel, Herodot und „Dareios (Kyros II.) der Meder“. Auch ein Beitrag zur Idee der Abfolge von Weltreichen. In: Von Sumer bis Homer. Festschrift für Manfred Schretter zum 60. Geburtstag (= Alter Orient und Altes Testament. Band 325). Ugarit-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-934628-66-4, S. 647–653.
Reinhard-Gregor Kratz: Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels (= Forschungen zum Alten Testament. Band 42). Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-148835-0.
Mischa Meier: Deiokes, König der Meder – Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten (= Oriens et Occidens. Band 7). Franz Steiner, Stuttgart 2004, ISBN 3-515-08585-8.
Vesta S. Curtis, Sarah Stewart: The Idea of Iran, Band 1: Birth of the Persian Empire. Tauris, London 2005, ISBN 1-84511-062-5.
Ran Zadok: Répertoire géographique des textes cunéiformes, Teil 8: Geographical names according to new- and late-Babylonian texts. Reichert, Wiesbaden 1985, ISBN 3-88226-234-6.
Albert-Kirk Grayson: Assyrian and Babylonian chronicles (= Texts from cuneiform sources. Band 5). Augustin, New York 1975.
Jack Cargill: The Nabonidus Chronicle and the Fall of Lydia. Consensus with Feet of Clay. In: American Journal of Ancient History, Band 2, 1977, S. 97–116.
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Alireza Shapour Shahbazi: Old Persian inscriptions of the Persepolis platform: plates I–XLVIII (= Corpus inscriptionum Iranicarum. Teil 1: Inscriptions of ancient Iran. Band 1, Portfolio 1). Lund Humphries, London 1985, ISBN 0-85331-489-6.
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Martin L. West: Early Greek philosophy and the Orient. Clarendon Press, Oxford 1971 (Nachdruck Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-814289-7).
== Weblinks ==
Literatur von und über Kyros II. im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Bilder des Kyros-Grabs (Memento vom 20. Januar 2015 im Webarchiv archive.today)
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Kyros_II. |
Elster | = Elster =
Die Elster (Pica pica) ist eine Vogelart aus der Familie der Rabenvögel. Sie besiedelt weite Teile Europas und Asiens sowie das nördliche Nordafrika. In Europa ist sie vor allem im Siedlungsraum häufig. Aufgrund ihres charakteristischen schwarz-weißen Gefieders mit den auffallend langen Schwanzfedern ist sie auch für den vogelkundlichen Laien unverwechselbar.
Elstern gehören zu den intelligentesten Vögeln, und es wird angenommen, dass sie eines der intelligentesten nichtmenschlichen Lebewesen überhaupt sind. Relativ zu ihrer Größe hat das Nidopallium caudolaterale der Elster ungefähr die gleiche Größe wie der funktional entsprechende präfrontale Cortex von Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Menschen. Die Elster ist einer der wenigen bekannten Vögel, die den Spiegeltest bestehen, zusammen mit sehr wenigen anderen Nicht-Vogel-Arten.
Im von der nordischen Mythologie geprägten Volksglauben galt die Elster als Bote der Todesgöttin Hel, so dass sie in Europa den Ruf des Unheilsboten bekam. Als „diebische“ Elster war sie auch im Mittelalter als Hexentier und Galgenvogel unbeliebt. Im Gegensatz dazu gilt sie in Asien traditionell als Glücksbringer und die lange Zeit als Unterart geführte nordamerikanische Hudsonelster (Pica hudsonia) ist bei den Indianern ein Geistwesen, das mit den Menschen befreundet ist.
== Beschreibung ==
Die Grundfarben von Elstern der Nominatform sind Schwarz und Weiß. Der Schwanz ist gestuft und häufig so lang wie der gesamte Rest des Körpers, auf jeden Fall aber länger als die Flügel. Bauch, Flanken und Schultern sind weiß, auch die Handschwingen sind überwiegend weiß. Das restliche Gefieder ist schwarz mit irisierendem Glanz: Die Schwanzfedern und die Außenfahnen der Schwungfedern schimmern je nach Reflexionswinkeln – meist nur aus der Nähe erkennbar – metallisch grün, blau oder purpurfarben. Im Frühling werden die Farben matter und weniger schillernd. Auf den Außenfahnen der Handschwingen gehen sie fast ganz verloren. Am schillerndsten sind mehrere Jahre alte Vögel, insbesondere die Männchen, kurz nach der Mauser. Die männlichen und weiblichen Elstern unterscheiden sich äußerlich nicht voneinander, Männchen sind mit im Mittel 233 g jedoch etwas schwerer als Weibchen (im Mittel 203 g). Elstern können eine Körperlänge von etwa 46 cm erreichen, die Flügelspannweite beträgt etwa 48–53 cm.Junge Elstern, die einen leuchtend roten Rachen haben, sind fast ebenso gefärbt wie Altvögel, die Unterschiede sind sehr gering. Der Schwanz ist glanzlos und kürzer. Die äußeren Schulterfedern sind oft nicht reinweiß, sondern etwas grau. Die weißen Bereiche auf den Innenfahnen der äußeren Handschwingen reichen nicht so weit zur Federspitze wie bei den adulten Elstern. Die Armschwingen zeigen nur im mittleren Bereich blauen Glanz. Die äußerste Armschwinge trägt fast immer einen weißen Fleck, manchmal auch die zweite oder die dritte darauf folgende Feder.
Ihre Mauser beginnen einjährige Elstern etwas früher als mehrjährige Vögel. Sie wechseln das ganze Gefieder. In Europa beginnen ein- und mehrjährige Vögel im Juni, flügge Vögel frühestens im Juli, spätestens Ende August zu mausern.
Die Fortbewegung der Elster auf dem Boden erfolgt meist hüpfend. Sie ist aber auch in der Lage zu gehen. Die Elster bewegt sich sehr geschickt im Geäst von Bäumen. Sie hat einen wellenförmigen Flatterflug.
== Stimme ==
Am häufigsten lässt die Elster das „Schackern“ oder „Schäckern“ hören. Es besteht aus mehr oder weniger schnell aufeinander folgenden Rufreihen mit leicht krächzendem „schäck-schäck-schäck“. Das Schäckern ist ein Warn- und Alarmruf und dient der Verteidigung des Reviers. Nichtbrütende Elstern gebrauchen ihn nur, wenn Gefahr droht. Die Erregung der Tiere ist besonders groß, wenn das Schäckern schnell und abgehackt ist. So stellen sie sich bei langsamem Schäckern der Gefahr, fliehen aber bei schnellem Rufen.
Zur Festigung der Partnerschaft lassen Paare einen leisen Plaudergesang hören. Dieser variiert zeitlich und individuell sehr stark. Er kann sowohl rhythmisch als auch arhythmisch sein. Oft sind weiche Trillerlaute und hohes Pfeifen darin enthalten. Einzelne Vögel imitieren andere Tiere. Meist besteht der Gesang jedoch aus einem gurgelnden, bauchrednerischen Schwätzen mit Pfeiflauten.
Zur Reviermarkierung lassen Paare einen nach „kia“, „kjää“ oder „kik“ klingenden Ruf hören. Oft zeigen sie sich dabei in der Mitte des Reviers auf den höchsten Zweigen eines Baumes.
Nestlinge betteln mit einem hohen kreischenden „twiit“. Drei bis vier Wochen alte Jungvögel melden sich bei den Altvögeln durch einen zweisilbigen Ruf. Er klingt wie „jschiejäk“, „tschjuk“ oder „tschjuk-juk“. Der Kontaktruf des Weibchens ähnelt dem Standortruf der Jungvögel.
Häufig gibt die Elster auch ein lang gezogenes „tschark“ „tschirk“ „tschirrl“ oder „tschara“ von sich. Je nach Intonation (weich, hart, lang, kurz) hat dieser Ruf verschiedene Bedeutungen. Daneben kann die Elster auch nasale und gedehnte Laute wie „gräh“ hören lassen.
Dass freilebende Elstern fremde Vogelarten mitunter imitieren, schließt Urs N. Glutz von Blotzheim nicht aus, ist jedoch weder die Regel, noch vollends gesichert; Glutz von Blotzheim formuliert vage: „Manche Individuen bauen auch Lautäußerungen ein, die wie Imitationen (z. B. Star, Singdrossel, Heuschreckenzirpen) klingen“.
== Verbreitung ==
Die Elster besiedelt weite Teile von Europa und Asien sowie Nordafrika. In Europa ist die Verbreitung flächendeckend und reicht vom Nordkap in Skandinavien bis zu den Südspitzen von Spanien und Griechenland. Sie fehlt nur auf einigen Mittelmeerinseln. Darüber hinaus sind im Norden Afrikas Teile der küstennahen Bereiche von Marokko, Algerien, Tunesien besiedelt. Die Elster ist ein Standvogel, in Skandinavien jedoch auch ein Strichvogel.
Im Osten Europas ist die Elster bis etwa 65° N verbreitet, im Nahen Osten erstreckt sich ihr Lebensraum über die Türkei und Teile des Irans bis fast an die Küste des Persischen Golfs. In Fernost weicht die Nordgrenze der Verbreitung nach Süden bis zum Japanischen Meer bis auf etwa 50° N zurück. In Asien besiedelt die Elster Gebiete bis nach Nordvietnam. Auch der Nordwesten der Mongolei wird von Elstern besiedelt. Eine isolierte Population befindet sich auf der Kamtschatka-Halbinsel. Außerdem wird auf Nordwest-Kyushu eine kleine Population als Naturdenkmal geschützt.
== Systematik ==
=== Externe Systematik ===
Im Allgemeinen gehen Ornithologen davon aus, dass die Gattung Pica ihren Ursprung in der Alten Welt hat und den nordamerikanischen Kontinent im späten Pleistozän vermutlich über die Beringstraße erreichte. Da in Texas aber ein Fossil gefunden wurde, das mehr Ähnlichkeit mit Pica pica als mit der Gelbschnabelelster (Pica nuttallii) hat, ist es auch möglich, dass P. pica im Pliozän entstanden ist.Nach neueren DNA-Untersuchungen wird die ehemals als Unterart angesehene, in Kalifornien vorkommende Gelbschnabelelster (Pica nuttallii) als eigene Art behandelt. Die früher als Unterart angesehene, in Alaska und dem mittleren Nordamerika vorkommende Hudsonelster (Pica hudsonia) hat sich wahrscheinlich im Pleistozän aus der in Asien vorkommenden Pica pica entwickelt. Andere Ornithologen vermuten jedoch, dass Pica hudsonia nicht aus Eurasien stammt. Neuere DNA-Analysen weisen darauf hin, dass Pica hudsonia ebenfalls eine eigene Art ist und mehr genetische Ähnlichkeiten mit Pica nuttallii aufweist als mit den eurasischen Unterarten.
=== Interne Systematik ===
Die Unterarten unterscheiden sich in Größe und Gewicht, in der Größe und Zeichnung der Flügelfedern und in der Färbung der Unterrückenzone. Zudem differieren einige Teile des Skeletts und auch die Pigmentierung der Schwanzfedern, die zwischen blau, violett, kupfern, messing, purpurn und grün schwanken kann. Die dunkelsten Unterarten sind im Süden verbreitet, die hellsten im Nordosten Eurasiens. Dies betrifft besonders die Färbung des unteren Rückens. In der Regel sind die südlichen Formen größer und haben kürzere Schwanzfedern als die nordöstlichen. Es wird vermutet, dass die Aufspaltung der Art in eine gelb- und eine schwarzschnabelige Variante deutlich früher erfolgte als die Ausdifferenzierung der schwarzschnäbeligen Unterarten.
Pica p. pica ist die Nominatform.
P. p. galliae hat einen dunkleren Unterrücken als P. p. germanica und die skandinavischen Elstern. Der Flügelsaum ist an den Handschwingen breiter. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in Frankreich, in Belgien und in Rheinland-Pfalz. In der Schweiz ist sie teilweise seit 1915 ausgerottet.
P. p. melanotos hat einen schwarzen Unterrücken mit gelegentlich angedeutetem Bürzelband. Der Schwanz ist gelblichgrün schillernd. Die Flügellänge bei Männchen beträgt 181–197 mm. Sie lebt auf der iberischen Halbinsel.
P. p. mauritanica ist die kleinste und dunkelste Unterart (Flügellänge bei Männchen 152–172 mm). Die Flügel schillern dunkel grün und purpurn. Der Bürzel ist immer schwarz. Hinter den Augen befindet sich ein gut sichtbarer nackter cobaltblauer Hautfleck. Sie besiedelt Nordwestafrika (Marokko, Algerien, Tunesien). Manche Forscher halten sie für eine eigene Art.
P. p. germanica ist kleiner und kurzflügeliger als die Nominatform. Sie lebt im Gebiet von Thüringen bis zur Niederlausitz. Da die meisten Ornithologen sie zur Nominatform rechnen, ist die Stellung dieser Unterart umstritten.
P. p. fennorum hat längere Flügel (Flügellänge bei Männchen 190–221 mm) als die Nominatform und einen hellgrauen Bürzel, der heller ist als bei der Nominatform. Sie besiedelt Nordost-Skandinavien, Finnland und die nördlichen europäischen Teile Russlands.
P. p. bactriana ist heller als die Nominatform. Sie hat einen schmaleren Flügelsaum und einen intensiveren grünlichen Glanz auf den inneren Armschwingen. Zudem ist sie durch große Flügeldecken und einen bronzefarbenen, nicht blau schillernden Schwanz gekennzeichnet. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in der mittleren bis östlichen ehemaligen UdSSR, in den Stromgebieten von Wolga und Don und in der Ostukraine. Zudem lebt sie am Ufer des Asowschen Meeres östlich bis Astrachan, im Nordkaukasus, in Transkaukasien und in Transkaspien sowie in Westturkestan. Sie besiedelt aber auch die mittlere Kirgisensteppe, Semei, Afghanistan und Belutschistan.
P. p. asirensis hat einen schwarzen Rücken und dunkelblaue Armschwingen. Zudem sind die Spitzen der innersten Federn grünlich gefärbt. Sie ist im Asir-Gebirge verbreitet. Ob sie auch in Südarabien lebt, ist umstritten. Manche Forscher halten sie für eine eigene Art.
P. p. hemileucoptera ist größer als P. p. bactriana und hat grünere Armschwingen. Der Schwanz schillert gelblich und grünlich. Die erste Handschwinge hat keinen schwarzen Endfleck. Sie besiedelt Mittelsibirien, Altai, das Sajangebirge, die Nordwestmongolei, Ostturkestan, Sowjetisch-Turkestan, den westlichen Tian-Schan, Talas-Alatau und das Altaigebirge.
P. p. leucoptera ist größer als P. p. hemileucoptera und hat noch mehr Weiß in den Schwingen. Ihr Unterrücken ist weiß. Ihr Verbreitungsgebiet liegt südlich des Baikalsees, in der Nordostmongolei und in der Nordwestmandschurei.
P. p. jankowskii hat einen grünen Schwanz mit bläulich irisierenden Tönen. Das Blau der Armschwingen ist reiner und weniger violettstichig als bei P. p. sericea. Ihr Verbreitungsgebiet liegt in Südussurien, in Sidemi und in der östlichen Mandschurei.
P. p. kamtschatica ist die hellste und grünschillerndste Unterart. Die Handschwingen sind auf der gesamten Innenfahne weiß. Auf der ersten Armschwinge befindet sich ein ausgedehnter weißer Fleck. Armschwingen und Schwanz sind grünschillernd. Sie besiedelt das Anadyrgebiet und Kamtschatka.
P. p. japonica ist durch Armschwingen und Flügeldecken mit violettblauem Schiller gekennzeichnet. Der Schnabel ist kurz und dick. Sie lebt in Kyushu, nördlich der Ariakibucht in Japan.
P. p. sericea hat einen kürzeren Schwanz als die Nominatform. Flügel und Schwanz haben zudem ein stärkeres violett-purpurnes Schillern. Der Unterrücken ist grau und nicht weiß. Sie besiedelt das Amurgebiet und das Ussuriland, Korea, im Osten der Volksrepublik China, Alan-schan, das nördliche Ningxia und Gansu sowie Annam, Taiwan und Hainan.
P. p. bottanensis ist die größte Elster mit dem relativ kürzesten Schwanz und hat einen schwarzen Unterrücken. Sie ist in Bhutan, Sikkim und in den benachbarten Gebiete Osttibets verbreitet.DNA-Untersuchungen haben gezeigt, dass P. p. sericea große genetische Unterschiede zu den eurasischen Formen aufweist, so dass sie eine eigene Art sein könnte. Die Unterarten P. p. mauretanica und P. p. asirensis werden von einigen Forschern ebenfalls als eigene Arten betrachtet.
== Lebensraum ==
Die Elster kommt sowohl im Flachland wie im Gebirge vor. Sie ist weltweit in Höhen bis 2500 m zu finden. Die Unterarten P. p. asirensis, P. p. bottanensis, P. p. hemileucoptera bilden Ausnahmen. So lebt P. p. bottanensis bis in 4000 Meter Höhe und sucht ihre Nahrung noch bis in über 5500 Meter Höhe.
Die Elster besiedelt vor allem gut strukturierte, teilweise offene Landschaften mit Wiesen, Hecken, Büschen und einzelnen Baumgruppen. Sie lebt auch an Waldrändern, in der Nähe von Gewässern und in Sümpfen mit Röhricht, Weidengebüschen und Gestrüpp. Selten ist sie in schmalen Waldstreifen, kleinen Waldparzellen, ausgedehnten Wäldern und in gehölzfreien Wiesen- und Ackerlandschaften zu finden. Auch Steilhänge, schmale, tief eingeschnittene Täler sowie fels- und schneereiche Regionen werden gemieden. Nur die oben genannten Ausnahmen leben im Gebirge, teilweise auch jenseits der Schneegrenze.
Mehr als die Hälfte des Bestandes in Europa brütet heute Schätzungen zufolge in und am Rand von bebauten Bereichen. Sie besiedelt insbesondere Einfamilienhausbereiche mit kurz geschnittenen Rasenflächen, daneben Parkanlagen, Alleen, Friedhöfe und große Hausgärten. Früher war sie dagegen auch in Europa ein charakteristischer Vogel der Agrarlandschaft mit Hecken und Feldgehölzen, Alleen oder alten Obstgärten.
== Nahrung und Nahrungserwerb ==
=== Grundsätzliches ===
Elstern nehmen das ganze Jahr über sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung auf. Die Nahrung besteht aus Insekten sowie deren Larven, Würmern, Spinnen und Schnecken. Darüber hinaus gehören kleine Wirbeltiere bis zu der Größe einer Feldmaus, beispielsweise Amphibien, Echsen, Kleinsäuger, Nestlinge und Eier sowie kleinere Vögel zu ihrer Speise. Außerdem fressen sie das ganze Jahr über Aas. Früchte, Sämereien und Pilze bilden insbesondere im Herbst und im Frühling Bestandteile ihrer Nahrung. Unverdauliches wird in Form von Speiballen ausgeschieden.
Die Hälfte der Nahrung europäischer Elstern ist tierischen Ursprungs. In der Brutzeit decken sie damit 95 Prozent ihres Nahrungsbedarfs. Im Frühjahr und Sommerhalbjahr leben die Vögel in Europa vorwiegend oder ausschließlich von tierischer Nahrung. Im Herbst und Winter besteht die Nahrung dort zunehmend aus pflanzlichen Bestandteilen. In Europa befinden sich in den Speiballen zu einem Anteil von fünf bis zehn Prozent auch Reste von Wirbeltieren.
Die Elster sucht ihre Nahrung meistens auf dem Boden. Bei Insekten- und Spinnenjagd in niedrigem Bewuchs läuft sie ein Stück, bleibt stehen, reckt sich hoch auf und hält Umschau. Ist eine Beute entdeckt, läuft oder hüpft sie rasch darauf zu und packt mit dem Schnabel zu. Ist die Elster in höherem Bewuchs auf Nahrungssuche, schreitet sie ohne Pausen umher und rennt auf das Beutetier zu. Kleintiere werden auf ähnliche Art erbeutet. Um Insekten einzusammeln, springt sie an hohen Grasähren oder Kräutern hoch. Weitere Techniken sind das Herumstochern im Boden und das Scharren, bei dem sie Laub oder Erde mit dem Schnabel beiseite wirft. Besonders raffiniert ist das Umdrehen kleiner Steine (bis ca. 10 cm Größe) oder Grasbüschel. Die Elster pflückt auch Beeren ab. Vor allem in Amerika pickt sie häufig Parasiten von Schafen oder Rindern. Auch Fische werden gelegentlich erbeutet.
Zumeist verschlingt die Elster Insekten als Ganzes, Wespen werden jedoch vorher gründlich mit dem Schnabel zerquetscht. Größere Tiere hält sie meist mit den Füßen am Boden fest. Die Tötung erfolgt durch Schnabelhiebe, in der Regel gegen den Rumpf oder durch das Schleudern der Beute gegen harte Gegenstände. Kleinvögel rupft die Elster vor dem Fressen säuberlich.
Elstern legen das ganze Jahr über Nahrungsdepots an, die meist innerhalb von zehn Tagen geleert werden. Um plündernden Krähen zuvorzukommen, deponieren sie die Vorräte abwechselnd an verschiedenen Orten. Vor allem im Herbst sammeln sie Sämereien oder Aas. An einem geeigneten Ort schlagen sie mit dem Schnabel ein kleines Loch in den Boden, legen die Nahrung dort hinein und decken das Loch dann wieder mit Erde und Pflanzen zu. Wenn die Nahrung im Winter knapper wird, können gefüllte Nahrungsspeicher vor allem im Gebirge überlebenswichtig sein.
=== Ernährung im urbanen Bereich ===
In besiedelten Gebieten durchsuchen Stadtelstern Kompost- und Abfallhaufen und fressen Fleischreste, Brot, Teigwaren, Käse, Eierschalen und Ähnliches. Sie bestreiten damit rund die Hälfte ihres Nahrungsbedarfs. In der Innenstadt beträgt der Anteil an Kleinvögeln in der Nahrung lediglich fünf bis acht Prozent. Häufig suchen Stadtelstern Straßen, Bahnstrecken und Stand- und Randstreifen von Autobahnen nach tierischen Unfallopfern ab, ebenfalls Ufer von Gewässern sowie alle sonstigen Orte, an denen Menschen Verwertbares für sie hinterlassen haben könnten. Stadtelstern verstecken vor allem Objekte aus dem Umfeld des Menschen (Tierfutter, Kompost und Abfälle, Hundekot, Pflanzenzwiebeln), seltener Eicheln oder Aas. Auch Lücken unter Dachziegeln können ihnen als Depots dienen.
== Lebensweise ==
Der Aktivitätsbeginn der Art liegt in der Regel etwa eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, variiert aber je nach Jahreszeit. Während der Stunde vor Sonnenuntergang nähern sich Elstern immer mehr ihrem Schlafplatz, den sie kurz darauf einnehmen.
Die Elster lebt in zwei verschiedenen Sozialformen. In der Brutzeit leben Brutpaare allein in ihren Revieren, während sich Nichtbrüter zu Gruppen zusammenschließen. Im Winter bilden Elstern Scharen von einem Dutzend bis zu einigen hundert Vögeln.
=== Fortpflanzung ===
Die Elster wird im ersten Herbst ihres Lebens geschlechtsreif. Sie wird dann Mitglied einer Gemeinschaft aus anderen Nichtbrütern. Im darauf folgenden Frühling brüten nur knapp die Hälfte der Männchen und gut die Hälfte der Weibchen.
==== Paarbildung und Nistplatzwahl ====
Die Elster lebt in lebenslanger Monogamie, stirbt einer der Partner, ersetzt ihn der andere meistens schnell durch einen einjährigen Vogel. Wiederholen sich erfolglose Bruten zu häufig, trennen sich Paare in der Regel auch. Im Herbst verbringt ein zukünftiges Paar zunehmend mehr Zeit miteinander, bis sich beide aneinander gebunden fühlen (Umpaarungen). Sie gehen aber nach wie vor allein auf Nahrungssuche. Hat ein junges Elsternpaar ein Revier erobert, finden manchmal balzartige Handlungen statt.
Die Inspektion der möglichen Nistplätze durch Herumstochern findet von Oktober bis Januar statt, in Mitteleuropa bis Februar. Männchen scheinen insbesondere durch Trockenheit und Temperaturen unter −4 °C aktiviert zu werden. Das Weibchen zeigt mögliche Nistplätze häufig durch Flügelzittern („Betteln“) an. Beide Vögel bekunden ihr Interesse an einem Nest manchmal durch Schackern oder einen speziellen Nestruf, durch Schwanzzittern, Blinken oder Flaggen.
Als Nistplätze werden zwei Bereiche bevorzugt: Einerseits werden die Nester häufig in die obersten Zweige von hohen Bäumen in einer Höhe von 12 bis 30 m gebaut, wo die Vögel schwer zu erreichen sind und sie die Umgebung gut überblicken können. Dabei wird die Nesthöhe so gewählt, dass sie im Optimum zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und der für die Jungenaufzucht aufzuwendenden Energie liegt. Mit steigender Höhe des Nestes wächst die Sicherheit, aber auch der Energieaufwand nimmt zu. Andererseits bauen Elstern auch Nester in einer Höhe von drei bis vier Metern in dichtem dornigem Gebüsch oder in dornigen Hecken. Stadtelstern nutzen selten auch Standorte wie Stahlgitterkonstruktionen oder Eisenbahn-Leitungsmasten als Brutplatz.
Der häufigste Nesträuber ist die Aaskrähe. Wird ein Paar beim Nestbau durch Aaskrähen zu stark belästigt, legt es an anderer Stelle ein neues Nest an.
==== Das Nest ====
Bereits im Januar kann mit dem eigentlichen Nestbau angefangen werden. In Mitteleuropa beginnt er aber erst im Februar oder März. Während neue Paare den Nestbau mit ausgedehntem Balzen beginnen, fangen alte Paare nach einem verkürzten Balzritual mit dem Bau des Nestes an. Das Nest ist ein kugelförmiger, recht großer Bau aus Zweigwerk. Der Außenbau ist 35 bis 75 cm breit und besteht aus sperrigen, trockenen, sich oft kreuzenden, nach außen abstehenden Zweigen. Der Unterbau der Nistmulde ist aus feiner Erde und feinen Reisern gefertigt. Die Nistmulde wird in der Regel aus feinem Wurzelwerk gebaut, welches zu einem einheitlichen Geflecht verarbeitet wird. Ihr Durchmesser beträgt circa 135 mm, und sie hat eine Tiefe von etwa 100 mm. Die meisten Nester besitzen einen haubenartigen, aus sperrigen Zweigen bestehenden Überbau mit einem, oft auch zwei seitlichen Ausgängen. Ein Fehlen der Haube geht auf Mangel an passendem Baumaterial oder auf die Unerfahrenheit des Paares zurück. Der Überbau dient dazu, das Gelege vor Krähen oder Greifvögeln zu schützen.
Beide Vögel beteiligen sich etwa in gleicher Weise am Bau des Nestes. Die Gesamtzeit für den Nestbau beträgt im Schnitt 40 Tage. Ein Paar beginnt häufig an mehreren Stellen zu bauen, gibt jedoch die Nestansätze zugunsten des zur Brut bestimmten Platzes wieder auf. Dieses Verhalten tritt besonders dann auf, wenn beim Bau eines Nestes Störungen auftreten. Solange verpaarte Vögel zusammen sind, vollenden sie oft viele Nester, selbst wenn sie zum Brüten häufig alte Nester ausbessern.
Alte Nester werden von Waldohreulen, Turm- und Baumfalken benutzt, die selbst keine Nester bauen. Das Zerstören von Elsternestern betrifft somit auch diese Vogelarten.
==== Balz und Paarung ====
Einige Paare kopulieren schon während des Nestbaus. Wenn in der zweiten Aprilhälfte (bei einer normalen Brut) die Eier gelegt werden, kommt es zu deutlich mehr Paarungen. Besonders in dieser Zeit bettelt das Weibchen laut und auffällig.
Zur Balz nähert sich das Männchen dem Weibchen mit teilweise gespreiztem Gefieder. Nach Bährmann wird dabei das Rückengefieder abgespreizt, nach Glutz jedoch das weiße Unterseitengefieder. Häufig erfolgt die Annäherung von hinten oder kreisförmig mit hochgehaltenem oder vorgestrecktem Kopf. Zudem singt das Männchen dabei manchmal leise.
Das Männchen balzt auch, indem es den Kopf senkt und die geschlossenen Flügel schräg vom Rücken abhebt, während es mit den Flügelfedern fächert. Gleichzeitig schlägt es den Schwanz ruckartig nach oben und unten oder nach links und rechts und ruft ein weiches „tscha(r)k“ aus. Soll damit gehemmte Aggression ausgedrückt werden, ist die Schwanzbewegung stärker ausgeprägt, die Flügelbewegung schwächer und das Scheitelgefieder angelegt. Zusätzlich werden Kopf und Rumpf angehoben. Auch das Weibchen kann so balzen. Beide können auch synchron einen wellenartigen Paarflug ausführen.
Das Weibchen leitet die Paarung manchmal durch Betteln ein. Dabei stellt es sich geduckt oder hoch aufgerichtet vor das Männchen, streckt die angewinkelten Flügel ab und zittert damit. Es stößt sehr hohe Bettelrufe aus und sperrt den Schnabel auf. Häufig legt das Männchen dann das Scheitelgefieder an. Wenn das Weibchen paarungsbereit ist, duckt es sich gestreckt an den Boden und bettelt mit zitternden Flügeln. Die Anzahl der Begattungen während der Brutzeit ist umstritten. Die Angaben schwanken zwischen insgesamt nur etwa dreimal in der Saison und mehrmals täglich.
==== Eiablage und Bebrütung ====
Der Legebeginn schwankt selbst innerhalb Europas beträchtlich. In Mitteleuropa liegt der durchschnittliche Legebeginn (März bis Mai) für Erstgelege am achten April. Wird ein Gelege vernichtet, kann das Paar ein Nachgelege (Ersatzgelege) erstellen. Wird dieses ebenfalls vernichtet, kann es ein weiteres Nachgelege aufbieten. In Ausnahmefällen kommt es zu einem vierten Brutversuch.
Das Weibchen bebrütet das Gelege, nachdem einige Eier gelegt wurden. Manchmal beginnt es das Brüten aber schon nach dem Legen des ersten Eies oder erst nach dem Legen aller Eier. In der Zeit davor hält sich das Weibchen noch lange außerhalb des Nests auf. Etwa jeden Tag legt es ein Ei. Die Eier sind oval, manchmal aber auch kurzoval, langoval oder spitzoval. Sie sind in der Regel blassgrünlich bis lehmfarben gefärbt und zeigen eine dichte, bräunlichgraue bis olivgrüne Fleckung. Farbe und Zeichnung können in weiten Grenzen variieren. Die Eier sind circa 33 bis 34 mm lang und circa 23 bis 24 mm breit. Das Vollgewicht eines frisch gelegten Eies beträgt acht bis zwölf Gramm. Typische Gelegegrößen sind vier bis sieben Eier, bei sehr gutem Nahrungsangebot können aber auch bis zu zwölf Eier gelegt werden. Nachgelege sind in der Regel kleiner als Erstgelege.
Es wird ausschließlich vom Weibchen gebrütet, während das Männchen das Revier verteidigt und den Großteil der Versorgung des Weibchens übernimmt. Die Fütterung erfolgt dabei unter dem Überbau des Nests, selten im Freien. Das Verhalten der Vögel während der Brutzeit unterliegt erheblichen individuellen Schwankungen. Einige Männchen bewachen den Nistbereich gründlich und melden jeden Eindringling durch sofortiges Schackern. Andere Männchen verteidigen ihn erst, wenn der Eindringling dem Horst zu nahe kommt. Insgesamt scheinen die Vögel in Horstnähe auffallend still zu sein. Krähen werden grundsätzlich attackiert. Teilweise werden kleine Vögel und Tauben im Revier geduldet.
In Europa schlüpfen die Jungen im Schnitt 17 bis 22 Tage nach Legebeginn und innerhalb von zwei bis vier Tagen. Etwa die Hälfte aller Bruten ist erfolglos, da das Nest von Krähen, Habichten, Katzen oder Mardern geplündert wird. Einige Nester werden auch vom Menschen zerstört.
==== Entwicklung der Jungen ====
Die Jungen sind bei der Geburt nackt und in den ersten vier bis acht Tagen blind. Sie werden bis zum elften oder zwölften Tag gehudert. In dieser Zeit füttert das Männchen mit aus dem Kropf gewürgter Nahrung, später beide Partner. Das Gewicht der Nestlinge steigt in den ersten knapp 20 Tagen ungefähr linear auf rund 180 g.
Nach etwa 24 bis 30 Tagen verlassen die Jungen das erste Mal das Nest. Vor dem ersten Ausfliegen klettern die Jungvögel abwechselnd ein und aus und turnen unbeholfen auf dem Dach des Nestes und in den umliegenden Zweigen herum. Sie werden jedoch von den Altvögeln immer noch im Nest gefüttert und im Revier weiterhin betreut. Noch nicht flugfähige Junge bleiben in Deckung und können vom Boden aus selbst an relativ glatten Baumstämmen flügelschlagend hochklettern.
Bei der Aufzucht von Jungen stellen Insekten auf Grund ihres hohen Eiweißgehalts eine wichtige Nahrungsquelle dar. Im Laufe der Aufzuchtphase ändert sich jedoch das Nahrungsangebot. Im ersten Drittel der Nestlingszeit wird – proportional vermehrt – kleineres und leichter verdauliches Material (Fliegen, Raupen, Spinnen) gefüttert. In der Mitte und im letzten Drittel der Nestlingszeit besteht die Nahrung zu gleichen Anteilen aus großen und kleinen Bestandteilen (Würmer, Hautflügler, Käfer, Wirbeltierstücke).
Mit etwa 45 Tagen beginnen die Jungvögel selbst am Boden Nahrung zu suchen, bleiben aber nach dem Ausfliegen noch sechs bis acht Wochen von den Altvögeln abhängig. Nach einiger Zeit beginnen sie zudem, allein Ausflüge in die nähere Umgebung zu unternehmen, kehren jedoch immer wieder in das Revier ihrer Eltern zurück. Sobald die Jungen ausreichend gut fliegen können, werden sie zum gemeinsamen Schlafplatz geführt. Manchmal ergreift auch der Nachwuchs die Initiative. Mit Beginn der Selbstständigkeit schließen sich die Jungvögel der Gemeinschaft nichtbrütender Artgenossen an. Elstern, die weit im Norden leben, fliegen als Strichvogel im Winter so weit nach Süden, wie es nötig ist.
Die Elster kann bis zu 16 Jahre alt werden, wird in der Natur jedoch aufgrund ihrer natürlichen Feinde im Durchschnitt nur circa zweieinhalb Jahre alt.
=== Territorialverhalten ===
Elstern sind standorttreue Vögel. Die Brutpaare überwachen ihr Revier ganzjährig, selbst dann wenn sie sich im Winter zum Schlafen teilweise den Nichtbrütergemeinschaften anschließen. Die Größe der Reviere kann erheblich schwanken. Im Durchschnitt liegt sie zwischen vier und sechs Hektar. Während der Zeit der Eiablage und im Spätherbst werden Eindringlinge besonders intensiv abgewehrt. Gegen Aaskrähen werden die Nester ganzjährig verteidigt.
Um das Revier zu markieren, präsentieren sich Männchen oder Weibchen, meistens beide gemeinsam, in einem gut sichtbaren Baumwipfel. Dazu sitzen die Vögel aufrecht mit hängendem Schwanz und plustern die weißen Gefiederbereiche auf. Dasselbe Verhalten zeigen sie bei Revierstreitigkeiten mit benachbarten Pärchen, aber auch gegenüber artfremden Tieren. Zur Revierverteidigung bettelt und schäckert das Weibchen demonstrativ. Männchen kämpfen sowohl gegen Artgenossen als auch Aaskrähen vehement am Boden und auch in Luftkämpfen. In Sicht- oder Hörweite des Partners vertreibt das Männchen fremde Weibchen, die es andernfalls umwirbt.
Im Spätherbst versuchen neue Vogelpaare, sich ein Revier zu erobern. Um ein Revier zu besetzen, kann ein Jungvogel entweder einen verstorbenen Brutvogel ersetzen oder sich zwischen zwei bestehenden Revieren ein eigenes sichern oder aber ein Revier durch Kämpfen erobern. Dazu verbündet sich eine kleine Gruppe von Nichtbrütern und dringt in ein bestehendes Revier ein. Normalerweise gelingt es dem revierbesitzenden Männchen, die Eindringlinge zu vertreiben. Scheitert es jedoch, so übernimmt der dominanteste Jungvogel, der meist auch Initiator des Einfalls ist, das Revier.
=== Nichtbrüter- und Schlafgemeinschaften ===
Elstern, die nicht brüten, bilden abends Schlafgemeinschaften. Im Herbst und Winter schließen sich ihnen auch die verpaarten, revierbesitzenden Vögel an. Schlafplätze sind häufig schwer zugängliche Stellen und werden über mehrere Jahre genutzt. Die Schlafplätze befinden sich beispielsweise auf Weiden in Sumpfgebieten oder auf kleinen Inseln.
Im Winter sammeln sich an den Schlafplätzen meist 20 bis 50 Elstern. Manchmal bilden sich dort auch Gemeinschaften von einigen Hundert Vögeln. Im Sommer befinden sich jedoch meist nur ein oder einige Dutzend Vögel in den Schlafgemeinschaften. Es wird vermutet, dass dies hauptsächlich einjährige Vögel sind. Tagsüber streifen die Nichtbrüter in kleinen Gruppen umher und suchen nach Nahrung. Bei gemeinsamen Ortwechseln kleiner bis größerer Gruppen, beispielsweise von ein bis drei Dutzend Elstern auf dem Flug zum gemeinsamen Schlafplatz über größere Freiflächen hinweg, fällt auf, dass die Tiere – anders als Krähen oder Kolkraben – praktisch nie nebeneinander, sondern immer mit einer Art „Sicherheitsabstand“ hintereinander her fliegen, so als würde weiterhin gelegentlich auf diese Vögel geschossen.
In den Schlafgemeinschaften gibt es eine nicht sehr ausgeprägte Hierarchie. Im Allgemeinen dominieren Brutvögel über Nichtbrüter und Männchen über Weibchen. Auch mit dem Aufenthaltsort vertraute Tiere sind meist dominanter. Konkurrieren Elstern ungefähr gleichen sozialen Ranges um Nahrung, kommt es zunächst zum Drohen. Dabei wird der Körper meist steil aufgerichtet und der Schnabel nach oben gestreckt („Aufrechtdrohen“), manchmal auch flach waagerecht gestreckt („Vorwärtsdrohen“). Weicht keiner der beiden zurück, kommt es zu einem Kampf mit Zerren des Schwanzes, Tritten, Verfolgungsflügen, Anspringen und Schnabelhieben, bei dem es auch zu Verletzungen kommen kann (Beschädigungskampf). Die Auseinandersetzungen sind jedoch weniger heftig als bei Revierkämpfen. Flügelblinken ist dabei ein Ausdruck gehemmter Aggression. Verpaarte Vögel konkurrieren nicht um Nahrung und teilen sie manchmal.
Die Schwarmbildung dient vermutlich dazu, sich beim Nahrungserwerb vor allem gegen die Aaskrähe durchzusetzen. Größere Nichtbrütergemeinschaften können Nahrungsquellen länger verteidigen. Zudem können größere Vögel wie große Möwen, Raben, Eulen, Mäusebussarde oder auch Eichhörnchen durch Schwanzzerren und Ähnliches von Schlafgemeinschaften, nicht aber von einzelnen Vögeln vertrieben werden.
== Intelligenz ==
Das Gehirn der Elster zählt zu den höchstentwickelten unter den Singvögeln. Die Fähigkeit zur Objektpermanenz, die sich relativ schnell entwickelt, ist sehr ausgeprägt, was im Zusammenhang mit der Entwicklung des Futterhortens steht. Sie können also die Ortsverlagerung eines Objekts nachvollziehen, das vorher nicht zu sehen war. Die Fähigkeit, selbstverstecktes Futter wiederzufinden, entwickelt sich bei jungen Elstern genau dann, wenn sich ihre Fähigkeit zur Objektpermanenz entwickelt. Nach etwa zehn Wochen beherrschen sie diese Aufgabe vollständig. Folglich verfügen Elstern über hohe Repräsentationsleistungen. Zudem zeigen sie ein komplexes Sozialverhalten und erkennen ihre Artgenossen individuell.
Vor dem Spiegel zeigen Elstern ein neugieriges Verhalten: Sie gehen vor dem Spiegel auf und ab, werfen vorsichtige Blicke hinter den Spiegel. Zudem zeigen sie gute Diskriminationsleistungen, indem sie sich im Versuch in der überwiegenden Zahl der Fälle nach dem Blick in den Spiegel nur auf die gespiegelte Schachtel zubewegen, wenn sie den für sie interessanten Inhalt hat (den Ring, das Futter). Markierte Elstern zeigen vor dem Spiegel selbstbezogenes Verhalten. In einigen Fällen kämpfen sie jedoch gegen das eigene Spiegelbild. Somit reagieren Elstern vor dem Spiegel ähnlich wie Schimpansen und Orang-Utans in vergleichbaren Tests, die bei diesen Menschenaffen als Hinweis auf Selbsterkenntnis interpretiert wurden.
Das Unterscheidungsvermögen von Mengen reicht bei Elstern laut Otto Koehler bis zur oberen Grenze von Sieben.
== Bestand und Gefährdung ==
=== Bestandsentwicklung ===
Die IUCN schätzt die in Deutschland lebenden Brutpaare auf 180.000 bis 500.000. Andere Quellen geben genauere Zahlen an, beispielsweise 210.000 bis 280.000 Paare. Vor 1850 wurden keine Daten erhoben. Von 1850 bis 1910 wurde ein Rückgang festgestellt, der auf die intensive und effektive Bejagung zurückgeführt wurde. Von 1920 bis 1950 nahm die Population wieder zu. Seit 1950 wird eine Abnahme der Populationen auf dem Land mit einer gleichzeitigen Zunahme in den Städten verzeichnet, welche mit der Intensivierung der Landwirtschaft begründet wird. Seit 1989 bleibt der Bestand insgesamt konstant, auch wenn weiterhin eine anhaltende Verstädterung festzustellen ist. Die Daten aus Revierkartierungen (RK) zeigen wegen der geringen Datendichte und lokal sehr verschiedenen Bestandsänderungen extrem breite Streubereiche bei insgesamt ungefähr gleich bleibendem Trend. Die Streuungen bei den Daten aus Punkt-Stopp-Zählungen (PS) sind dagegen gering. Nach 1994 ist der PS-Index in Siedlungen weiterhin positiv, in der freien Landschaft dagegen stark negativ.Die IUCN schätzt die europäischen Brutpopulationen der Elster auf mehr als 7.500.000 Brutpaare, die weniger als die Hälfte der Gesamtpopulation ausmachen. Nachdem die Populationen in Frankreich und Russland von 1970 bis 1990 zugenommen hatten, nahmen sie von 1990 bis 2000 wieder ab. Trotzdem wird der derzeitige Rückgang durch die frühere Zunahme überwogen, so dass die Elster in Europa als sicher (Secure) geführt wird. Im gesamten etwa 32.100.000 km² großen Verbreitungsgebiet wird die Elster mit einer Population von ungefähr 30.000.000 bis 100.000.000 Individuen als nicht gefährdet (LC) eingestuft.
=== Bejagung als Schädling ===
Traditionell wird die Elster in Europa bejagt, da sie Schäden an Nutztieren oder Populationen von kleinen Singvögeln und Niederwild verursachen soll. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen wurde bisher jedoch ein solcher Einfluss nicht festgestellt.In Deutschland war sie bis 1976 ohne Einschränkung jagdbar, da sie in den älteren Jagdgesetzen unter Ausnahmen geführt wird. Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) vom 20. Dezember 1976 garantierte diesem Rabenvogel erstmals gesetzlichen Mindestschutz, jedoch blieb es weiterhin Praxis, selbst brütende Elstern aus den Nestern zu schießen (das sogenannte „Ausschießen von Nestern“). Am 2. April 1979 stellte der Europarat mit der Richtlinie 79/409/EWG („EG-Vogelschutzrichtlinie“) alle europäischen Wildvogelarten unter besonderen Schutz (Vollschutz). Dabei lässt Art. 9 Ausnahmen mit Nachweispflicht zu, wenn dies „zur Abwendung erheblicher Schäden an Kulturen, Viehbeständen etc. [oder] zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt“ notwendig ist. Dies trifft laut Jagdverbänden unter anderem auf die Elster zu. Am 1. Januar 1987 wurde das BNatSchG zur Anpassung an die Vogelschutzrichtlinie novelliert, so dass es einen Mindestschutz für alle Tiere garantiert. Zudem wurde die Bundesartenschutzverordnung dahingehend geändert, dass die nicht im Gesetz genannte Elster nach § 20 Abs. 2 Bundesjagdgesetz in Beachtung der Einschränkungen aus Art. 7c unter das Landesjagdrecht gestellt wurde. Viele Bundesländer machen davon Gebrauch. Schließlich wurde die Vogelschutzrichtlinie am 8. Juni 1994 auf das Drängen vieler EG-Staaten hin dahingehend in Anhang II,2 geändert, dass bestimmte Arten in festgelegten Staaten bejagt werden dürfen, in Deutschland ist dort unter anderem die Elster aufgeführt. Laut Anhang II Teil B der aktuellen EU-Vogelschutzrichtlinie 2009/147/EG vom 30. November 2009 ist die Jagd auf Elstern nur noch in wenigen EU-Staaten verboten.
In Europa werden nach offiziellen Angaben jährlich 980.630 Elstern getötet.
== Elster und Mensch ==
=== Etymologie und Benennung ===
In der Antike verwendeten sowohl Aristoteles als auch Plinius der Ältere und Claudius Aelianus für die Elster und den Eichelhäher dieselbe Bezeichnung. So nannten sie ersteren Vogel wegen des langen Schwanzes Pica varia longa cauda (insignis) und letzteren wegen seines bunten Gefieders Pica varia (insignis). Im Jahre 1758 gab Carl von Linné der Elster den lateinischen Namen Corvus pica.
Der Name Elster ist etymologisch abgeleitet vom althochdeutschen Wort „Agalstra“ [mhd. elster, agelster, ahd. agalstra], bei welchem im Laufe der Sprachentwicklung der Anfang und das Ende weggefallen sind. So haben sich viele Synonyme entwickelt: Alster, Atzel, Hatzel, Ägerste, Algarte, Agelhetsch, Agerist, Schalaster, Schalester, Scholaster, Schulaster, Schagaster, Aglaster, Agelaster, Agerluster, Heste, Heister, Egester, Hutsche, Kekersch, Krückelelster, Hetz, Hetze, Häster. Aber auch die Namen „Gartenkrähe“ und „Diebsch“ waren in Gebrauch. Auf ihre Stimme bezogene Namen waren „Gackerhätzel“ oder „Tratschkatel“.
Im Englischen wird sie „Magpie“ genannt. Dabei ist die Vorsilbe „mag“ als die Kurzform für „Margaret“ zu verstehen, die als Spitzname für eine geschwätzige Person verwendet wird, und spielt sicher auf das Schäckern (eng.: „mag-mag-mag“) des Vogels an. Der zweite Wortteil stammt von der lateinischen Bezeichnung „pica“ ab und ist auch im französischen Namen der Elster, „pie bavarde“, zu finden.Den Beinamen „diebisch“ tragen die Vögel wegen der Vorstellung, Elstern trügen gerne glänzende Gegenstände in ihre Nester ein. Rossini hat 1817 sogar eine Oper La gazza ladra („Die diebische Elster“) zur Aufführung gebracht. Besonders interessant sollen für sie rundliche, silbrig glänzende Gegenstände sein, die sie einzeln unter ein wenig Laub oder Gras versteckt. Einer unbestätigten Hypothese zufolge wird durch dieses Verhalten die Handlungsweise des Futtersammelns und -hortens aus Neugier und Spieltrieb erhalten oder trainiert. Eine Untersuchung zu dem Thema kommt jedoch zu dem Schluss, dass Elstern keine generelle Vorliebe für glänzende Objekte haben. Den Ruf, bestimmte Objekte auch zu stehlen, verdanken sie vermutlich dem Umstand, dass sie manchmal beim Verstecken von Nahrungsvorräten beobachtet werden können, oder der Tatsache, dass sie Nesträuber sind.
=== Mythologie und Kult ===
Im von der nordischen Mythologie geprägten Volksglauben galt die Elster als Bote der Todesgöttin Hel. Man assoziierte sie mit Unheil, Leid und Not. Im europäischen Mittelalter und zur Zeit der Hexenverfolgung galt sie – wie Krähen, Raben und schwarze Katzen auch – als Hexentier oder gar als Hexe selbst. Sie war zeitweise auch als Seelenräuberin in Verbindung mit dem Satan bekannt. Zudem wurde sie als „Galgenvogel“ mit dem Tod in persona assoziiert. Seit dieser Zeit trägt sie in Europa den Ruf, „diebisch“ zu sein. In der griechischen Mythologie war sie ein Vogel des Gottes Dionysos. Auch Ovid berichtet in seinen Metamorphosen von Elstern: Sie sind die neun Töchter des Pierus (die sogenannten Pieriden), die sich auf einen musikalischen Wettstreit gegen die Musen höchstpersönlich einließen. Nach ihrer Niederlage wurden sie von ihnen in Elstern verwandelt. In Iranischen Erzählungen war die Elster der Feind der Heuschrecke, die sie zerstört hatte.
Im Allgemeinen gilt die Elster in Westeuropa und auf den Britischen Inseln als ein Vogel übler Omen. Dort gilt es als Unglück, diesen „Pechvogel“ zu sehen, besonders wenn er alleine auftritt. So bringt ein bekannter Abzählreim in bestimmter Anzahl auftretende Elstern mit verschiedenen Vorzeichen in Verbindung:
Auf den Britischen Inseln gibt es noch immer Beweise für Animalismus und Tierverehrung in Bezug auf die Elster. Sie gilt auch als orakelhafter Vogel. So stellt in Irland eine ans Fenster klopfende Elster eine Todeswarnung dar. Das Töten dieses Vogels brachte auch im Nordosten Schottlands Unglück. In Teilen von Nordengland gilt es als schlechtes Omen, wenn eine Elster den Pfad vor einem von links nach rechts überquert, jedoch als gutes Omen, wenn sie ihn von rechts nach links kreuzt. Im Nordosten Schottlands gilt das Sehen dieses Vogels in einigen Dörfern als Glückszeichen, in anderen als Unglückszeichen. Der Glaube, dass die Elster die Macht habe, sich in einen Menschen zu verwandeln, wurde in Clunie und Perthshire bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überliefert. Nach der Christianisierung entstand in England eine Erzählung, nach der die Elster als verflucht gilt, weil sie als einziger Vogel bei Jesu Kreuzigung keine Klagelieder und Trauergesänge angestimmt habe. In der schottischen Überlieferung verdächtigte man sie lange Zeit, einen Tropfen von Satans Blut unter der Zunge zu tragen.
In Frankreich und Deutschland glaubten die Menschen auch, dass es Unglück brächte, eine Elster zu töten. Man sagte ihnen nach, dass sie ihre menschlichen Nachbarn vor der Anwesenheit von Füchsen, Wölfen und bewaffneten Menschen warnten. In Poitou wurden ihr zu Ehren kleine Gestecke von Heiden- und Lorbeerzweigen in die Büsche gesteckt. In Bengalen und anderen Teilen Indiens werden auch keine Elstern getötet.
In der chinesischen Kultur (鹊 què) und Japan gilt die Elster als Glücksbotin, die insbesondere ein freudiges Ereignis, meist eine Geburt oder einen Besuch, ankündigt. Der Ursprung dieses Glaubens ist wahrscheinlich in den Legenden der Mandschurei zu finden. Dort wird erzählt, wie die Elster als heiliges Tier Fanscha, einen der Vorfahren der Mandschuren, vor den bedrohlichen Nachbarstämmen gerettet hat. Als die Nordchinesen zusammen mit den Mandschuren das Kaiserreich China eroberten, verbreitete sich der Glaube in ganz China. Zur Zeit der Qing-Dynastie (1644–1911) stellten die Mandschuren die Kaiser, so dass ihre Kultur teilweise mit der Han-Kultur verschmelzen konnte, so dass die Elster in der heutigen Form verehrt wird. Einer anderen Erklärung zufolge gelten Elstern deshalb als Freudenbringer, weil sie im Mythos Die Weberin und der Kuhhirt am siebten Tag des siebten Mondmonats eine Brücke über die Milchstraße bilden und so den getrennten Liebenden ein Zusammenkommen ermöglichen (Qixi-Fest). In Korea wird die Elster als Nationaltier und als Glücksbringer verehrt. In Erzählungen repräsentiert sie die Schwachen und Wehrlosen. Tritt sie metaphorisch als Gegenstück zum Tiger (Erde, Naturgewalten) auf, so steht sie für den Himmel und die göttliche Gewalt.
Bei den nordamerikanischen Indianern ist die Elster ein Geistwesen, das mit den Menschen befreundet ist. Dies zeigt sich in der „Buffalo Race“-Geschichte der Sioux, in der die Elster für die Menschen ein Wettrennen gegen die Büffel gewinnt, so dass sie diese fortan jagen dürfen. Auch bei den Blackfoot tritt die Elster als Verbündeter des Menschen in Konflikt mit den Büffeln auf. In der Legende vom Büffeltanz ermöglicht sie, dass eine Frau aus dem Ehegelübde mit einem Büffel befreit wird, ihr Vater ins Leben zurückgeholt werden kann und dass über einen Tanz und ein Lied die Harmonie wiederhergestellt wird. Auch bei den Hopi und den südwestlichen Stämmen ist sie ein Totemtier. Die Pueblo-Indianer verehrten diesen Vogel ebenfalls in ihren Mythen.
=== Heraldik ===
Die Elster ist eine gemeine Figur in der Heraldik und ein Wappentier mit einigen Merkmalen, die im Wappen recht sicher dargestellt werden können. So wird der Schwanz recht lang und in der Regel aufstellt gezeigt. Die Seitenpartie des Vogels ist farblich in weiß vom übrigen schwarzen Körper abgesetzt, wie es der Realität entspricht. Die Hauptblickrichtung ist nach heraldisch rechts. In Deutschland wird die Elster für einige Wappen zur redenden Wappenfigur. Beispiele sind Elsterwerda, Bad Elster, Elsterberg, Elstra, Algermissen und Aglasterhausen.
=== Kunst und Literatur ===
Ein künstlerisches Denkmal in der Musik setzte ihr 1817 Rossini mit der Oper La gazza ladra (Die diebische Elster). In der bildenden Kunst beschäftigte sich Claude Monet in La Pie damit und in Pieter Brueghels Die Elster auf dem Galgen sitzen zwei dieser Vögel auf einer Hinrichtungsstätte. Goya zeigt auf einem Porträt den Sohn des Grafen von Altamira, wie dieser eine zahme Elster an einem Band führt.
Äsop erzählt in einer Fabel davon, wie die Elster der Taube, die schon alles zu wissen glaubt, zeigt, wie man ein Nest baut. In der Einleitung von Wolfram von Eschenbachs Parzival (1200–1210), einem mittelhochdeutschen Text, erscheint das Elsterngleichnis, in dem die Farbe der Elster (agelstern varwe) als Sinnbild für den Widerstreit zwischen dem Guten und dem Bösen im Menschen, aber auch für die Vieldeutigkeit des vorliegenden Romans steht. In der Rübezahl-Sage (Wie Rübezahl zu seinem Namen kam.) verwandelt die Königstochter Emma eine Rübe in eine Elster, die als Botin ihren Geliebten Ratibor benachrichtigt. Sebastian Brant bezieht sich im Narrenschiff auf die Geschichte von den in Elstern verwandelten Piereiden aus Ovids Metamorphosen als er „Von bösen Weibern“ erzählt. Die Elster steht hier für die schlechte Rede, die vergiftete Zunge. Auf Grundlage von Äsops Fabel über den Fuchs und die Elster hat Christian Fürchtegott Gellert ein Gedicht verfasst, in dem sie als Sinnbild für den Menschen steht, der sich am liebsten selbst reden hört und meint, alles besser zu wissen und zu können, aber eigentlich keine Ahnung hat. In der Fabel Die Elster. Der Uhu lässt Johann Wilhelm Ludwig Gleim sie sich beim Uhu über die Faulheit von Lerche und Nachtigall beschweren, obwohl sie selbst besser den Mund hielte. In Heinrich Seidels Der Hexenmeister bringt ebendieser Wendelin und die Elster Schackerack in seine Gewalt, die sich durch gegenseitige Hilfe befreien. Auch Christian Morgenstern beschäftigt sich in dem Gedicht Die Elster mit dem Bach und dem Vogel. Einen Auftritt in der Popmusik hat die Elster in Patrick Wolfs Song Magpie (2007), und in der Handlung des Konzeptalbums Misplaced Childhood (1985) der britischen Band Marillion tritt sie als Symbolfigur auf.
=== Trivia ===
Die deutsche Finanzverwaltung hat die Online-Steuer-Software Elektronische Steuererklärung mit dem Namen dieses Vogels als ELSTER abgekürzt. Das dazugehörige Programm ElsterFormular trägt den Dateinamen pica entsprechend dem wissenschaftlichen Gattungsnamen der Echten Elstern.
== Literatur ==
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Gisela Deckert: Siedlungsdichte und Nahrungssuche bei Elster Pica p. pica und Nebelkrähe Corvus c. cornix (L.). In: Beiträge zur Vogelkunde. Jena 26.1980, 305–334, ISSN 0005-8211.
H. Ellenberg, F. Gast, J. Dietrich: Elster, Krähe und Habicht – ein Beziehungsgefüge aus Territorialität, Konkurrenz und Prädation. in: Verhandlungen der Gesellschaft für Ökologie. Göttingen 12.1984, 319–329, ISSN 0171-1113.
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F. A. Kipp: Zeremonielle Frühlingsversammlungen bei Eichelhäher, Elster, Tannenhäher und Rabenkrähe. In: Die Vogelwelt. Wiebelsheim 99.1978, 185–190, ISSN 0042-7993.
Gerhard Kooiker, Claudia Verena Buckow: Die Elster. Ein Rabenvogel im Visier. Aula Verlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-89104-633-2.
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=== Problematik der Regulierung ===
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T. Langgemach, E. Discherlein: Zum aktuellen Stand der Bejagung der Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) in Deutschland. In: Berichte zum Vogelschutz. Münster 41.2004, 17–44, ISSN 0944-5730.
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U. Mäck, U., M.-E. Jürgens, P. Boye, H. Haupt: Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) in Deutschland. Betrachtungen zu ihrer Rolle im Naturhaushalt sowie zur Notwendigkeit eines Bestandsmanagements. In: Natur und Landschaft. Kohlhammer, Stuttgart 74.1999, 485–493, ISSN 0028-0615.
U. Mäck, M.-E. Jürgens: Aaskrähe, Elster und Eichelhäher in Deutschland. Bericht über den Kenntnisstand und die Diskussionen zur Rolle von Aaskrähe (Corvus corone), Elster (Pica pica) und Eichelhäher (Garrulus glandarius) im Naturhaushalt sowie die Notwendigkeit eines Bestandsmanagements. BfN-Schriftenreihe. Bundesamt für Naturschutz, Münster 1999, ISBN 3-7843-3804-6.
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== Weblinks ==
Elster (Pica pica) auf eBird.org, abgerufen am 23. Juni 2023.
Die Elster bei NABU mit Klangbeispiel
Die Elster bei der Schweizerischen Vogelwarte
Steckbrief zur Elster bei BTO BirdFacts
Pica pica in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2008. Eingestellt von: BirdLife International, 2008. Abgerufen am 22. Dezember 2008.
Alters- und Geschlechtsmerkmale (PDF; 3,1 MB) von Javier Blasco-Zumeta und Gerd-Michael Heinze (englisch)
Federn der Elster
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Elster |
Go (Spiel) | = Go (Spiel) =
Go (chinesisch 圍棋 / 围棋, Pinyin wéiqí, Jyutping wai4kei4*2; japanisch 囲碁 igo; koreanisch 바둑 baduk; wörtlich „Umzingelungsspiel“) ist ein Brettspiel für zwei Spieler und gilt als das komplexeste aller weltweit bekannten Strategiespiele. Das Spiel stammt ursprünglich aus dem antiken China und hat sich im Laufe seiner Geschichte auch in Japan und Korea entfaltet. In diesen Ländern genießt das Go ein dem westlichen Schach vergleichbares Ansehen.
Erst seit dem späten 19. Jahrhundert findet Go außerhalb Ostasiens Verbreitung. Unter den westlichen Ländern zählt Deutschland die meisten aktiven Spieler. Die International Go Federation (IGF) bezifferte im Jahr 2011 die Zahl der Go-Spieler weltweit auf rund 40 Millionen. Die British Go Association (BGA) gab 2013 die Zahl der weltweiten Spieler mit 60 Millionen an.
== Charakterisierung ==
Zwei Spieler setzen abwechselnd linsenförmige Spielsteine auf die Schnittpunkte der Spielfeldlinien. Dabei versuchen sie, „Gebiet“ abzugrenzen, dieses zu sichern und dabei nach Möglichkeit Spielsteine des Gegners „gefangen“ zu nehmen. Durch das Setzen von geeigneten Formationen können nach und nach gesicherte Stellungen geschaffen werden. Nach Spielende wird die Größe der Gebiete verglichen und die Anzahl der gefangenen Spielsteine hinzugezählt. Das Ziel ist also nicht, den Gegner vollständig zu vernichten, sondern mehr Punkte als dieser zu erzielen. Go ist dank der Anzahl möglicher Spielzüge so komplex, dass ein Spieler sein Leben lang an der Verfeinerung seines Stils und seiner Spielstärke arbeiten kann. Dabei sind die vier Grundregeln so einfach, dass man nach einer kurzen Einführung sofort spielen kann. Der Reiz des Spiels liegt darin, dass die Spieler jederzeit sowohl die lokalen Situationen als auch das Gesamtbild beachten sollten. Eine lokal verlorene Situation kann später noch mit anderen Stellungen auf dem Brett wechselwirken und so eine nützliche Rolle haben. Jeder gesetzte Stein hat häufig mehrere Funktionen, von der Stärkung einer eigenen Gruppe von Steinen über die Schaffung einer Verbindungsmöglichkeit mit einer zweiten Gruppe bis hin zu einem Angriff auf gegnerisches Territorium. Deshalb können Spieler je nach Veranlagung versuchen, möglichst große Territorien anzulegen oder genau dies beim Gegner zu verhindern. Schwächere Spieler streben oft frühzeitig sichere Territorien an, während starke Spieler vielfach erst in einer späten Partiephase ihre Gebietsanlagen zu sicherem Territorium machen.
Unterschiedliche Spielstärken können durch bis zu neun Vorgabesteine ausgeglichen werden. Dadurch hat auch ein schwächerer Spieler eine Chance auf den Sieg, während für den stärkeren Spieler die Herausforderung darin besteht, trotz der Vorgabe zu gewinnen.
Die technische Beherrschung des Spiels ist zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt des Go: Das Spiel kann zur Meditation anregen und grundsätzliche Einsichten über Konfliktsituationen vermitteln. In den unterschiedlichen Arten, mit den Herausforderungen des Go umzugehen, spiegeln sich Aspekte der jeweiligen Spieler-Persönlichkeit. Eine von beiden Spielern gut geführte Partie kann als Kunstwerk empfunden werden.
== Etymologie – Die Bezeichnung Go ==
Die moderne chinesische Bezeichnung für Go ist „Weiqi“ (圍棋 / 围棋). Daneben gibt es die seltenere Bezeichnung „Yiqi“ (弈棋) oder kurz „Yi“ (弈). Diese Namen sind Zusammensetzungen mit dem Wort „Qi“ (棋), das in klassischen chinesischen Texten oft allein für das Spiel verwendet wird.
In Japan ist 棋 (jap. ki) zwar ebenfalls gebräuchlich, in erster Linie wird aber das Schriftzeichen 碁 (jap. go) bzw. dessen Kompositum 囲碁 igo verwendet. Die in der westlichen Welt etablierte Bezeichnung „Go“ ist der klassische japanische Name des Spiels.
Letztlich haben alle drei Schriftzeichen „棋, 碁 bzw. 棊“ denselben historischen Ursprung und sind grafische Varianten voneinander. Gebrauch, Bedeutung und Lesung der drei Zeichen unterscheiden sich heute jedoch in China und Japan bzw. Korea.
== Geschichte ==
=== China ===
Die genauen Ursprünge des Spiels sind ungeklärt. Nach Auffassung einiger Autoren beziehen sich bereits Stellen in den Zuozhuan-Annalen (4. Jahrh. v. Chr.) auf das in China als Weiqi bezeichnete Spiel. Sicher zugeordnete Bezüge und archäologische Funde stammen aus der Zeit kurz nach der Zeitenwende. Daher kann man Go gemeinsam mit Backgammon und Mühle zu den ältesten bekannten Strategiespielen der Welt zählen. In der Han-Zeit verbreitete sich Weiqi in der Bevölkerung und wurde auch in der Beamtenelite ein Zeitvertreib. Während der Tang-Dynastie erlebte Weiqi eine erste Blüte, sodass es auch am Kaiserhof ausgiebig gespielt wurde. Die Tang-Zeit war eine bedeutende Epoche der chinesischen Geschichte, in der die Kultur einen Höhepunkt erlebte. Die kaiserliche Bürokratie benötigte unzählige Beamte, wodurch eine gut ausgebildete Klasse zur Verfügung stand, die sich für das Weiqi-Spiel interessierte. Zu jener Zeit gehörte das Spiel zu den vier klassischen Künsten Lautenspiel, Brettspiel, Kalligrafie und Malerei (Qin Qi Shu Hua 琴棋書畫 / 琴棋书画), die eine gebildete Person beherrschen sollte.
Unter späteren Dynastien behielt das Brettspiel seine Anziehungskraft. So soll auch der Song-Kaiser Huizong ein begeisterter Weiqi-Spieler gewesen sein, ebenso wie der erste Ming-Kaiser Hongwu, der eine berühmte Partie gegen seinen General Xu Da verlor und diesem daraufhin seine Gartenvilla in Nanjing schenken musste. Noch am kaiserlichen Hof der Qing-Dynastie war das Spiel beliebt. Mit dem Untergang des Kaiserreichs 1911 versank Weiqi mit der verlorenen kultivierten Oberschicht Chinas weitestgehend. Erst in den 1980er Jahren nach der Kulturrevolution kam es zum Wiederaufleben des Weiqi.
=== Korea ===
In Korea wird Go als Baduk bezeichnet. Die Etymologie des Begriffs ist unklar und lässt sich nicht aus den chinesischen Schriftzeichen ableiten. Das Spiel war wahrscheinlich schon in der Drei-Reiche-Zeit (1.–7. Jh.) bekannt und dürfte in den obersten Schichten ähnlich beliebt wie in China gewesen sein. Ab der mittleren Joseon-Zeit (16. –20. Jh.) verbreitete sich das Sunjang Baduk, eine Variante des Spiels, in der die ersten 16 Züge fix positioniert wurden. Dies führte zu einer kampfbetonten Spielweise, in der übergeordnete Strategien der Eröffnung (fuseki) keine Rolle spielten. Erst unter japanischer Okkupation (1910–1945) wurden die alten Regeln erneut in Korea eingeführt. In die Szene der internationalen Spitzenprofis fanden zunächst nur japanische Exil-Koreaner wie Chō Chikun (kor. Jo Chi-hun) Eingang, bevor in den 1980er Jahren ein Baduk-Boom einsetzte, der internationale Meister wie Lee Sedol hervorbrachte und die japanische Profi-Szene von der Spitze verdrängte.
=== Japan ===
Die Legende besagt, dass Kibi no Makibi (695–775) das Spiel 735 nach Japan brachte. Er wurde als Gesandter in die chinesische Hauptstadt Chang’an beordert, das politische und kulturelle Zentrum der damaligen Welt. Dort sollte er am Hof des Tang-Kaisers Xuanzong Wissenschaften und Künste studieren. Von 717 bis 735 blieb er in Chinas Hauptstadt. Auf seiner Rückreise soll er dann ein Weiqi-Spiel mitgenommen haben, das er dann unter dem Namen Go in seiner Heimat bekannt machte. Womöglich ist es tatsächlich Kibi no Makibi zu verdanken, dass dieses Spiel in die japanische Aristokratie eingeführt wurde, galt doch die verfeinerte Kultur der Tang-Herrscher als vorbildlich für die Japaner. Dennoch findet sich das japanische Schriftzeichen für Go (碁) bereits im Kojiki aus dem Jahr 712, was dafür spricht, dass das Spiel schon vor Kibi in Japan bekannt war.
Mit Beginn der Edo-Periode im frühen 17. Jahrhundert änderten sich die politischen Verhältnisse in Japan grundlegend. Der neue Shōgun aus dem Hause der Tokugawa war dem Go sehr zugetan und förderte es stark: Es entstand der Posten des godokoro („Go-Minister“) und ein jährlicher Wettkampf o-shiro-go (wtl. „Go in der Burg“) in Anwesenheit des Shōgun, bei der der stärkste Go-Spieler ermittelt wurde. Zu diesem Zweck erhielten die stärksten Spieler Stipendien, sodass sie sich ausschließlich dem Go widmen konnten. Um diese Zeit entstanden so vier Schulen, die bis ins 19. Jh. bestanden: die Honinbo-Schule, die Inoue-Schule, die Yasui-Schule und die Hayashi-Schule.
Unter diesen vier Schulen herrschte große Rivalität, was dem Go-Spiel zu einem bis dato nicht erreichten Niveau verhalf. Unter anderem wurde in dieser Zeit ein Rangsystem eingeführt, welches an das der Kampfkünste angelehnt war. Der beste Spieler der Edo-Periode, Shūsaku Kuwahara, entwickelte unter anderem eine neue Eröffnung, die nach ihm benannte Shūsaku-Eröffnung, die noch bis ins 20. Jahrhundert gespielt wurde. Shūsaku blieb während der jährlichen o-shiro-go-Wettkämpfe 19 Mal in Folge ungeschlagen, bevor er im Alter von 33 Jahren der Cholera-Epidemie von 1862 bis 1863 erlag.
Mit dem Fall des Tokugawa-Shogunats 1868 endete auch die staatliche Subvention der Go-Schulen. Mit der Zeit übernahmen aber Tageszeitungen die Rolle von Go-Sponsoren, sodass das hohe Niveau des japanischen Go erhalten blieb. Zu Ehren der Honinbo-Schule, der die meisten Top-Spieler des vormodernen Japan entstammten, trägt eine der japanischen Meisterschaften den Namen Honinbo.
Die Blüte, die das japanische Go durch seine frühe Förderung erfuhr, führte dazu, dass die weltweit stärksten Spieler bis ins späte 20. Jahrhundert zumeist aus Japan kamen. Dies mag zugleich ein Grund dafür sein, warum das Spiel in westlichen Sprachen unter seiner japanischen Bezeichnung besser bekannt ist als unter seinem ursprünglichen chinesischen Namen. Seit den späten 1980er Jahren ist es jedoch in China und vor allem in Korea zu einem regelrechten Go-Boom gekommen, der dazu geführt hat, dass Japan seine ehemalige Vormachtstellung bei internationalen Turnieren verloren hat.
Go war lange Zeit eine Männerdomäne, ähnlich dem Schach. Jedoch haben die Öffnung von Turnieren und der Aufstieg starker weiblicher Spieler, vornehmlich Rui Naiwei, zunehmend die Kompetenz und Spielstärke von Spielerinnen unter Beweis gestellt.
In Japan gibt es schätzungsweise zehn Millionen Go-Spieler. Seit 1998 hat die japanische Manga- und Anime-Serie Hikaru no Go, deren Geschichte sich mit Go-Spielern befasst, die Popularität von Go unter Kindern und Jugendlichen stark erhöht. Auf der ganzen Welt ist seitdem die Anzahl von Go-Clubs, Go-AGs und jugendlichen Go-Spielern deutlich gestiegen.
=== Andere Länder ===
In Europa wurde Go in den 1880er Jahren durch eine Artikelserie von Oskar Korschelt erstmals detailliert beschrieben: Das japanisch-chinesische Spiel „Go“. Ein Concurrent des Schach. Kurz danach wurden unter anderem in Leipzig und Wien erste Spielsets zum Verkauf angeboten. Bereits 1909 erschien eine deutsche Go-Zeitung in Graz, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland von Bruno Rüger fortgeführt wurde. Dank dieser publizistischen Tätigkeiten kommt dem deutschsprachigen Raum eine Pionierrolle in der Verbreitung des europäischen Go-Spiels zu. Emigranten aus Deutschland sorgten außerdem für die Verbreitung des Go in den USA, in den meisten nicht-asiatischen Industrienationen etablierte sich das Spiel aber erst ab den 1950er Jahren. In vielen größeren Städten entstanden Clubs und die ersten regelmäßigen Turniere fanden statt.
Mit etwas Verzögerung verbreitete sich Go in Osteuropa. In den 1980er Jahren war es begabten Spielern möglich, zu Turnieren ins westliche Ausland zu fahren, was für einen Motivationsschub sorgte. Seit den 1990er Jahren wird das europäische Spitzen-Go von Spielern aus den ehemals kommunistischen Ländern dominiert.
Deutschland verfügt sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen über die größte Go-Gemeinde außerhalb Ostasiens. Der Deutsche Go-Bund hat mit Stand Mitte 2021 über 2000 Mitglieder.
== Philosophie ==
Es gibt verschiedene Legenden zur Entstehung des Spieles, die die philosophischen Ideen und kulturellen Werte hinter dem Go veranschaulichen. Einer Überlieferung nach wurde das Spiel vom mythischen Urkaiser Yao als Unterrichtswerkzeug für seinen Sohn Danzhu entworfen, um ihn Disziplin, Konzentration und geistige Balance zu lehren. Dieser Legende verdankt das Spiel auch sein oft kolportiertes (aber historisch nicht belegtes) Alter von 4000 Jahren. Eine andere vermutete Genese des Spiels gibt an, dass in alten Zeiten chinesische Kriegsherren und Generäle Stücke eines Steins benutzten, um die Positionen auf dem Schlachtfeld abzubilden. Diese Legenden spiegeln die beiden grundlegenden Ideen des Go wider: die Entwicklung des eigenen Charakters und die Veranschaulichung des Wettstreits zweier Elemente. Oft bezieht man sich auf die im Daoismus verwurzelten Elemente Yin und Yang, die als treibende Kräfte auch auf dem Go-Brett agieren.
== Regeln ==
Zusammengefasst: Die Spieler setzen abwechselnd jeweils einen eigenen Stein auf die Schnittpunkte der Linien des Brettes. Man kann gegnerische Steine und Steingruppen schlagen, indem man sie rundum einschließt. Am Ende gewinnt der Spieler, der den größeren Teil des Brettes kontrolliert.
Die Grundregeln sind seit Entstehen des Spiels unverändert geblieben. Hier wird eine japanische Version der Regeln dargestellt, die in Deutschland populär ist. Andere Regeln (die chinesischen Regeln oder die Ing-Regeln) unterscheiden sich in Details. So erfolgt beispielsweise das Auszählen am Ende des Spieles anders, was aber fast immer zum selben Gewinner führt.
Das Spielmaterial besteht traditionell aus 181 schwarzen und 180 weißen Steinen, und die Parteien werden dementsprechend „Schwarz“ und „Weiß“ genannt. Dem Prinzip des Spiels nach ist die Anzahl der Züge nicht begrenzt. Die traditionelle Anzahl der Spielsteine reicht aber praktisch immer aus.
Auf dem Spielbrett sind 19 horizontale und 19 vertikale Linien, die ein Gitter von 19×19 = 361 Schnittpunkten bilden. Auf diese Punkte werden die Steine gesetzt. Für kürzere Partien und besonders für Anfänger eignen sich kleinere Spielbretter, meistens in der Größe 13×13 oder 9×9. Die Spielregeln sind für alle Brettgrößen gleich.
=== Spielzüge ===
Das Brett ist zu Beginn leer, es sei denn, der schwächere Spieler erhält eine Vorgabe. Schwarz beginnt, die Spieler ziehen dann abwechselnd. Der Spieler, der am Zug ist, darf einen Stein aus seinem Vorrat auf einen beliebigen leeren Punkt setzen. Anders als beim Schach gibt es jedoch keine Zugpflicht, das heißt ein Spieler darf auch auf seinen Zug verzichten (passen). Wenn beide Spieler nacheinander passen, ist das Spiel zu Ende. Dies tritt dann ein, wenn beide Spieler erkennen, dass weiteres Setzen keinen Punktgewinn oder sogar einen Punktverlust bedeuten würde. Es wird allgemein also nie ein Spieler zu einem für ihn ungünstigen Zug gezwungen; das zeigt sich auch beim Thema „Seki“, siehe im Abschnitt #Leben und Tod.
Gesetzte Steine werden im weiteren Spiel nicht mehr bewegt (daher sprechen manche Spieler, besonders nach einer Tradition der DDR, nicht von „Zügen“, sondern von „Sätzen“). Steine können aber unter bestimmten Bedingungen geschlagen, d. h. vom Brett entfernt werden (siehe unten).
=== Freiheiten von Steinen und Gruppen ===
Unbesetzte Punkte, die einem Stein benachbart sind, werden Freiheiten dieses Steins genannt. Benachbart sind Punkte, wenn sie direkt nebeneinander liegen und durch eine Linie des Spielbretts verbunden sind. Benachbart sind also horizontal und vertikal angrenzende, aber nicht diagonal gegenüberliegende Punkte. Ein Punkt in der Mitte des Spielbretts besitzt vier Nachbarpunkte, einer am Rand drei und einer in der Ecke nur zwei.
Wenn ein Nachbarpunkt eines Steins mit einem gegnerischen Stein besetzt ist, hat der Stein hierdurch eine Freiheit weniger. Eigene Steine auf einem Nachbarpunkt nehmen jedoch keine Freiheiten weg, vielmehr bilden alle durch eine Linie verbundenen Steine derselben Farbe eine Gruppe, meist Kette genannt. Freiheiten werden dann immer nur für eine Kette als ganze betrachtet. Die Freiheiten einer Kette sind alle die unbesetzten Punkte, die zu irgendeinem ihrer Steine benachbart sind. Damit keine Fallunterscheidung zwischen Kette und Einzelstein nötig ist, wird ein einzeln liegender Stein ebenfalls als Kette (der Länge 1) aufgefasst.
Die Regeln bewirken, dass es keine Kette ohne Freiheit auf dem Brett geben kann. Ein gesetzter Stein bzw. eine Kette, mit der er sich verbindet, kann vorübergehend ohne Freiheit sein, aber nur, wenn in diesem Zug Steine geschlagen werden (siehe unten). Nach Wegnehmen der geschlagenen Steine hat er dann wieder eine Freiheit.
Das Bild unten links zeigt fünf einzelne schwarze Steine, von denen vier nur noch eine Freiheit haben (durch ein Quadrat gekennzeichnet). Am rechten Rand befindet sich eine Kette von drei schwarzen Steinen, darüber eine Kette von zwei weißen Steinen. Die schwarze Kette im Bild hat genau eine Freiheit (Quadrat), die weiße Zweierkette darüber hat vier. Die diagonal neben der Zweierkette liegenden weißen Steine gehören, wie oben erklärt, nicht zu dieser Kette.
=== Schlagen ===
Durch einen Zug, mit dem die letzte Freiheit einer gegnerischen Kette besetzt wird (welche auch ein Einzelstein sein kann, s. o.), wird diese Kette „geschlagen“ (auch: „gefangen“ oder „getötet“). Sie wird dann vom Brett genommen; der schlagende Spieler bewahrt diese Steine für die Punkteabrechnung bei sich auf (als „Gefangene“). Man kann eine Kette nur als Ganzes schlagen, nicht Teile davon. Ein Zug kann aber auch mehreren Ketten gleichzeitig die letzte Freiheit nehmen. Es werden in jedem Fall alle gegnerischen Ketten geschlagen, die keine Freiheit mehr haben. Im Vergleich der beiden obigen Bilder sieht man die Folgen einiger Schlag-Züge.
Für die Regel, dass jede Kette mindestens eine Freiheit haben muss, zählt der Zustand nach Abschluss des Zuges. Das Herausnehmen von Gefangenen erzeugt Freiheiten für den Ziehenden, so dass diese Regel nach einem Schlagzug in jedem Fall erfüllt ist. Einen solchen Fall sieht man in der Abbildung des nächsten Abschnitts unten (#Kō): Schwarz kann den weißen Stein schlagen, den er schon mit drei eigenen Steinen umzingelt hat. Auf dem Punkt, auf dem geschlagen wird, besteht zuvor keine Freiheit, durch das Herausnehmen des weißen Steins entsteht aber eine Freiheit für den schlagenden Stein.
Es gibt auch Regelvarianten, die „Selbstmord“ erlauben. Dann gilt: Wenn ein Zug keine gegnerischen Steine schlägt und die Kette mit dem gesetzten Stein keine Freiheit hat, dann wird diese Kette selbst geschlagen, und ihre Steine werden zu gegnerischen Gefangenen. Im praktischen Spiel ergibt sich dadurch aber kaum ein Unterschied, denn es ist nur selten sinnvoll, eigene Steine zu schlagen.
Wenn eine Kette nur noch eine einzige Freiheit besitzt, so dass der Gegner sie im nächsten Zug schlagen kann, so sagt man, dass sie im Atari steht. Um das Schlagen zu verhindern, kann es sinnvoll sein, der Kette durch Hinzufügen eines Steins zusätzliche Freiheiten zu verschaffen. Schwarz könnte also im Bild oben links auf eine der Freiheiten eines Steins setzen, um diesen (zumindest vorläufig) zu retten. Bei der Dreierkette würde dies hier jedoch nichts nützen, denn sie hätte danach wieder nur eine Freiheit (unterhalb des Quadrats) und könnte sofort geschlagen werden.
=== Kō ===
Es gibt Stellungen, die in einer Weise symmetrisch sind, dass nach einem Schlag ein Gegenschlag möglich wäre, sodass sich wieder die ursprüngliche Situation einstellt und sich ein endloser Kreislauf ergeben könnte (siehe die Abbildung rechts). Eine solche Stellung nennt man Kō (abgeleitet von japanisch kō 劫, sprich koh, zu Deutsch „Ewigkeit“). Zur Vermeidung eines endlosen Kreislaufs von Schlag und Gegenschlag gibt es die Kō-Regel: Sie verbietet das sofortige Zurückschlagen eines einzelnen Steines, der gerade einen einzelnen Stein geschlagen hat. Die Kō-Regel greift nicht, wenn mehrere Steine geschlagen werden oder ein Stein geschlagen wird, der zuvor mehrere geschlagen hat. Gleichbedeutend kann man die Regel formulieren: Man darf keinen Zug machen, durch den wieder die gleiche Anordnung der Steine wie vor dem unmittelbar vorhergehenden Zug entstehen würde.
Da die Kō-Regel das symmetrische Zurückschlagen zwar im Prinzip erlaubt, aber nur mit Verzögerung, bringt sie ein taktisches Element ins Spiel. Es ergibt sich der sogenannte Kō-Kampf: Wenn Spieler A im Kō geschlagen hat, kann Spieler B als Zwischenzug eine Drohung (Kō-Drohung) an anderer Stelle des Bretts spielen. Falls A diese Drohung abwehrt, statt das Kō für sich zu entscheiden (also z. B. den strittigen Punkt im Kō auszufüllen), kann B wieder im Kō schlagen. Das kann sich beliebig oft wiederholen. Der Kō-Kampf endet, wenn ein Spieler keine Kō-Drohung mehr hat oder eine Drohung so klein ist, dass der Gegner sie nicht beantwortet. Die Spieler müssen also den Wert der Drohung gegen den Wert des Kō-Gewinns abwägen. Zudem muss jeder Spieler vor Beginn eines Kō-Kampfes die Gesamtheit aller Drohungen abschätzen, die ihm zur Verfügung stehen, um zu entscheiden, ob er sich auf den Kampf einlassen soll. Der Wert eines Kō-Gewinns kann sehr hoch sein, wenn das Schlagen im Kō für den Angreifer direkt eine neue Schlagmöglichkeit hervorbringt; der Verteidiger muss im Kō also manchmal eine Kettenreaktion abwenden, die den Zusammenbruch einer größeren Stellung bedeuten würde (anders als im idealisierten Beispielbild).
Diese einfache Kō-Regel verhindert aber nicht alle möglichen Stellungswiederholungen. Wenn etwa drei verschiedene Kō-Situationen auf dem Brett sind, kann man immer in mindestens einer davon zurückschlagen. Wenn in einer solchen Situation kein Spieler von der Wiederholung abweichen will, endet das Spiel nach den japanischen Regeln ohne Ergebnis und wird wiederholt. Ein solcher Fall kommt aber nur äußerst selten vor.
Als Alternative verwenden manche Regelsysteme eine globale Kō-Regel, auch Superkō-Regel genannt. Dabei gibt es leicht unterschiedliche Varianten. Beispielsweise verbietet eine Superkō-Regel, einen Stein so zu setzen, dass die resultierende Anordnung der Steine auf dem Brett mit irgendeiner früheren Anordnung übereinstimmt und der gleiche Spieler am Zug ist und die Differenz der geschlagenen Steine gleich ist (das heißt mit den dazwischen erfolgten Zügen haben beide Spieler gleich viele Steine geschlagen). Ein endloser Zyklus, von dem kein Spieler im Eigeninteresse abweichen sollte, kann damit nicht mehr vorkommen.
=== Spielende und Punktezählung ===
Das Spiel ist zu Ende, wenn beide Spieler nacheinander passen. Passen liegt bei Spielende im Interesse des jeweiligen Spielers. Er würde sonst sein eigenes Gebiet verkleinern oder dem Gegner unnötig Gefangenensteine geben. Die Punktzahl eines Spielers ist die Summe der durch Steine der eigenen Farbe umschlossenen freien Punkte (Gebiet) und der gefangenen Steine (gegnerischer Farbe). Der Spieler mit der höheren Punktzahl gewinnt das Spiel. Ist die Punktzahl beider Spieler gleich, ist das Spiel unentschieden, was „Jigo“ genannt wird (aber selten vorkommt).
Für beide Spieler ist es auch eine anerkannte Möglichkeit, die Partie aufzugeben, sobald die Situation auf dem Brett ausweglos erscheint. Der Gegner hat dann „durch Aufgabe gewonnen“.
==== Bewertung von Stellungen am Spielende ====
Wenn am Ende noch Steine auf dem Brett sind, die auf jeden Fall geschlagen werden können, also „tot“ sind (siehe unten: #Leben und Tod), dann muss diese Stellung nicht ausgespielt werden, sondern die Steine gelten direkt als Gefangene. Sie werden vor der Gebietszählung vom Brett genommen und zusammen mit den geschlagenen Steinen gezählt. Über den Status dieser Steine einigt man sich mit seinem Gegner nach dem Spielstopp.
Diese Einigung ist unter erfahrenen Spielern unproblematisch, denn meistens ist es offensichtlich, welche Steine tot und somit gefangen sind. Wenn es doch einmal Uneinigkeit gibt, dann muss die Situation ausgespielt werden: Das Spiel wird in diesem Fall fortgesetzt, und wer behauptet hat, dass gegnerische Steine tot seien, muss es beweisen, indem er sie schlägt. Wenn dies bei der Gelegenheit nicht gelingt, gelten sie als lebend. Die beim Ausspielen gesetzten Steine dürfen dann aber die Zählung nicht beeinflussen. Man muss entweder die Situation vor dem Ausspielen wiederherstellen oder die beim Ausspielen in das eigene oder gegnerische Gebiet gesetzten Steine auf geeignete Weise ausgleichen.
Für Anfänger ist es manchmal schwierig zu erkennen, wann das Spiel zu Ende ist. In dem Beispiel rechts sind die Grenzen, wo sich schwarze und weiße Steine berühren, vollständig ausgespielt, sodass keine freien Schnittpunkte mehr zwischen Steinen mit unterschiedlicher Farbe liegen. Das ist ein gutes Indiz dafür, dass das Spiel zu Ende ist. Es ist von den Regeln her im Prinzip möglich, dass das Spiel sich „einseitig“ fortsetzt, nämlich wenn ein Spieler noch setzt, weil er glaubt, lohnende Züge machen zu können, während der andere Spieler diese Einschätzung nicht teilt und deswegen auf Antwortzüge verzichtet. Da man durch aussichtslose Angriffszüge letztlich dem Gegner gefangene Steine schenkt, wäre es für diesen nicht günstig, in jedem Fall zu reagieren. Er würde durch Gegenzüge auf bereits sicheres eigenes Gebiet diesen Punktgewinn wieder preisgeben.
==== Komi ====
Bei Spielbeginn besteht ein leichter Nachteil für Weiß, da Schwarz den Vorteil des ersten Zuges hat. Dieser Nachteil wird meist durch eine „Entschädigung“ in Form von Zusatzpunkten an den weißen Spieler ausgeglichen. Diese Punkte werden Komi (コミ) genannt und schwanken je nach Regeln oder Vereinbarung zwischen den Spielern. Um ein Unentschieden zu vermeiden, wird meist ein Komi mit einem halben Punkt gewählt; übliche Werte sind 5½ oder 6½. Manchmal wird auch nur ½ Punkt gegeben, wenn es einem vor allem darauf ankommt, ein Jigo zu vermeiden. Der angemessene Wert ist immer noch Gegenstand von Diskussionen, und so wird der Nachteil, Weiß zu spielen, auf manchen Turnieren mit bis zu 8½ Punkten entschädigt. Man kann das Problem durch eine Art Komi-Auktion oder durch eine Tauschregel lösen, etwa indem ein Spieler die Komi festlegt und der andere dann eine Farbe wählt. Das hat sich aber noch kaum durchgesetzt. Das Komi kann auch dazu benutzt werden, Vorgabesteine zu ersetzen oder zu ergänzen (so genanntes Rückkomi, wenn Schwarz Komi bekommt).
== Begriffe der Strategie und Taktik ==
=== Leben und Tod ===
Siegpunkte für ein umschlossenes Gebiet werden erst vergeben, wenn das Spiel zu Ende ist; solange ein Spieler im Laufe des Spiels freie Punkte mit seinen Steinen umschließt, wird dieses Gebiet von ihm zunächst nur beansprucht. Zwei Möglichkeiten sind denkbar, wie der Gegner es ihm noch streitig machen kann: erstens, wenn es dem Gegner gelingt, sich mit seinen Steinen im Inneren des beanspruchten Gebiets dauerhaft anzusiedeln, ohne geschlagen zu werden (dies ist umso leichter, je größer das beanspruchte Gebiet ist); zweitens, wenn die Gruppen, die Gebiet beanspruchen, ihrerseits durch den Gegner umzingelt und geschlagen werden können. Beide Szenarien führen zu der Erkenntnis, dass das Überdauern von beanspruchtem Gebiet davon abhängt, ob die dafür entscheidenden Gruppen von Steinen noch geschlagen werden können. Von einer Gruppe, die unter keinen Umständen mehr geschlagen werden kann, sagt man, dass sie lebt. Entsprechend ist eine Gruppe tot, wenn sie auf keinen Fall vor dem Geschlagenwerden gerettet werden kann.
==== Leben durch „Zwei Augen“ ====
Der Grund, weshalb eine Gruppe unschlagbar sein (leben) kann, ist folgender: Wenn eine Gruppe einen einzigen freien Schnittpunkt einschließt (was innere Freiheit genannt wird) und vollkommen von gegnerischen Steinen umgeben ist (also keine äußeren Freiheiten besitzt), so kann der Gegner einen Stein auf diese letzte Freiheit der Gruppe setzen und sie damit schlagen, was man Sprengen nennt. Umschließt die Gruppe aber noch einen zweiten freien Schnittpunkt, der dem ersten Schnittpunkt nicht benachbart ist, so kann der Gegner auf keinen der beiden Schnittpunkte setzen, da immer noch eine Freiheit verbleibt und nicht gleichzeitig zwei Steine gesetzt werden können. Deshalb gilt der folgende Satz: Eine Gruppe lebt dann, wenn das Gebiet, das sie umschließt, in zwei voneinander getrennte Teilgebiete unterteilt ist oder bedingungslos so unterteilt werden kann.
Diese Teilgebiete nennt man Augen. Augen können einen einzelnen Schnittpunkt, aber auch mehrere benachbarte Schnittpunkte beinhalten. Zudem dürfen sich in einem Auge auch Gefangene befinden. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass es auch „unechte Augen“ gibt. Zwar sind diese von Steinen einer Farbe umschlossen, aber nicht von einer durchgehenden Kette. Damit kann eventuell ein Teil der umschließenden Steine durch eine Folge von Zügen des Gegners separat in „Atari“ gesetzt werden. Danach könnte der andere Spieler das vermeintliche Auge zusetzen, um das Schlagen der Teilkette zu verhindern, oder das Schlagen in Kauf nehmen. In beiden Fällen ist das Auge zerstört. Allgemein gilt also: Nur eine Gruppe mit zwei „echten“ Augen lebt bedingungslos.
==== Seki ====
Eine weitere Möglichkeit zu leben, die seltener vorkommt, ist das Seki: Dies ist eine Art lokale Pattsituation, bei der keiner der beiden Spieler die Freiheiten der jeweils gegnerischen Gruppe besetzen kann, ohne seiner eigenen Gruppe dadurch lebenswichtige Freiheiten zu nehmen. In einer Stellung, in der jeweils der Spieler, der den ersten Zug hineinsetzt, seine Gruppe verliert, werden beide Spieler nicht setzen. Für die Endabrechnung werden diese Gruppen also auf dem Brett bleiben. Sie können dabei einen Gebietspunkt umschließen oder auch nicht. Es können so auch dauerhaft neutrale Punkte auf dem Spielbrett entstehen, also freie Punkte, die kein Gebiet darstellen, aber die auch kein Spieler schadlos besetzen kann. Die Abbildung rechts zeigt ein vereinfachtes Beispiel (damit dies wirklich ein Seki ist, ist es erforderlich, dass die äußeren, umschließenden weißen und schwarzen Ketten aus unabhängigen Gründen leben).
==== Konsequenzen für die Strategie ====
Bei Leben und Tod handelt es sich um das grundlegendste und wichtigste Element der Strategie beim Go-Spiel, das entscheidend für den Verlauf und den Ausgang einer Partie ist. Ist eine Gruppe tot, ist sie auch gefangen und zählt am Ende Punkte für den Gegner, auch ohne dass die Situation bis zum endgültigen Schlagen ausgespielt werden muss. Oft ist Leben und Tod einer Gruppe davon abhängig, wer den nächsten Zug macht (siehe auch weiter unten: #Vorhand und Nachhand), weil sie oftmals, je nachdem wer dran ist, mit einem Zug getötet oder zum Leben erweckt werden kann. Aufgrund der großen Bedeutung von Leben und Tod für das Go-Spiel sollten sich die Spieler zu jedem Zeitpunkt der Partie über Leben und Tod aller Gruppen im Klaren sein. Denn das Hinzufügen von Steinen zu einer ohnehin toten Gruppe ist ebenso sinnlos wie das Absichern bereits lebendiger Gruppen. Andererseits sind Züge, die eine lebende Gruppe bedrohen, oder Züge, die eine tote Gruppe zum Leben erwecken könnten, klassische Ko-Drohungen (s. o.) (für die Einstufung als lebendig oder tot hätte man hierbei zugrunde gelegt, dass jeder einzelne Angriffs- bzw. Verteidigungszug beantwortet werden kann). Daher ist das Üben von Leben-und-Tod-Problemen unverzichtbar für alle, die ihr Können verbessern möchten.
=== Eröffnung ===
Als Eröffnung einer Go-Partie bezeichnet man in etwa die ersten 30 bis 40 Züge. Da das Brett zu Beginn leer ist, gibt es theoretisch unermesslich viele spielbare Varianten für die ersten Züge. Dennoch haben sich bestimmte Züge als besonders gut erwiesen. So wird fast jede Partie mit einem Zug in der Nähe einer Ecke begonnen. Erst nachdem alle vier Ecken mit je einem oder auch zwei Steinen besetzt worden sind, werden die Seiten besetzt. Danach beginnt die Ausweitung der Positionen ins Zentrum.
Mit den ersten Steinen, die aufs Brett gesetzt werden, versucht man eine möglichst perfekte Balance herzustellen. Damit ist gemeint, dass die Steine weder zu eng beieinander noch zu weit auseinander und weder zu hoch noch zu niedrig stehen sollten, und auch, dass man mit den gesetzten Steinen flexibel auf Aktionen des Gegners reagieren kann. Dies zeigt wieder, dass Go in vielerlei Hinsicht ein Spiel der Balance ist (siehe Abschnitt Philosophie).
Das Eröffnungsspiel ist bei fortgeschrittenen Spielern durch die Anwendung von Ganzbrettmustern (Fuseki) und festgelegten Eckspielabfolgen (Jōseki) geprägt. Fuseki und Jōseki sind die variabelsten Elemente des Go-Spiels und werden ständig weiterentwickelt. Die Anzahl der verschiedenen Eröffnungen beim Go übersteigt die der Eröffnungen beim Schach um ein Vielfaches. Auch sehr experimentelle Eröffnungen werden gelegentlich gespielt.
=== Gebiet und Einfluss ===
Gebiet und Einfluss sind strategische Konzepte des Go. Eine gebietsorientierte Spielweise legt besonderes Augenmerk auf feste, sichere Positionen in den Ecken und am Rand des Brettes (dort ist es am einfachsten Gebiet zu machen, weil man es am Brettrand nicht mehr extra umzingeln muss). Das hat den Vorteil, dass man bereits in einer relativ frühen Phase der Partie sicheres Gebiet absteckt und damit sichere Punkte sammelt. Später ist es dann umso wichtiger, die Gebietsanlagen des Gegners möglichst zu verkleinern. Ein geeignetes Mittel dazu bietet die Invasion (Aufbauen einer lebenden Gruppe im Einflussbereich des Gegners). Gebietsorientiertes Spiel verlangt daher mitunter auch riskante taktische Manöver.
Andererseits ist es möglich, einflussorientiert zu spielen. Dies stellt in gewisser Weise das Gegenstück zum gebietsorientierten Spiel dar. Man versucht hierbei vor allem, starke Positionen aufzubauen, die oft wie „Wände“ aussehen und ins Zentrum gerichtet sind. Dadurch wird zunächst kein Gebiet gemacht, sondern vielmehr Einfluss auf die umgebenden Teile des Brettes ausgeübt. Einflussorientierte Spieler antizipieren Kämpfe in ihrem Einflussgebiet, also in für sie vorteilhaften Situationen. Festes Gebiet entsteht erst als Ergebnis dieser Kämpfe.
=== Angriff und Verteidigung ===
Im Mittelspiel, das nach den letzten Eröffnungszügen beginnt, entstehen oft Kämpfe. Unter anderem kommen folgende taktische und strategische Mittel zum Einsatz:
Oft ist es günstig, gegnerische Steine voneinander zu trennen. Der Grund ist, dass voneinander abgetrennte Gruppen auf sich allein gestellt sind und dann unabhängig voneinander eine lebende Stellung etablieren müssen. Statt Gebiet zu machen, muss der betroffene Spieler viele Züge auf engem Raum machen, um die zwei Augen seiner Gruppen zu sichern. Wären seine Gruppen aber verbunden, fiele es ihnen viel leichter, den nötigen Platz für Augen zu behalten. Umgekehrt ist es natürlich ebenso wichtig, seine Gruppen möglichst miteinander zu verbinden.
Das Fangen bzw. Töten einer Gruppe bedeutet, dass die angegriffene Gruppe von den gegnerischen Steinen eingeschlossen ist und nicht genug innere Freiheiten besitzt, um zwei Augen zu machen (s. o.).
Eine Gruppe, die keine Augen hat und gefangen zu werden droht, kann versuchen zu entkommen, das heißt, sich so lange in beliebige Richtungen auszubreiten, bis eine Verbindung zu einer anderen Gruppe oder zwei Augen gebildet werden können. Sehr wichtig ist hierbei eine gewisse Opferbereitschaft. Anstatt jeden einzelnen Stein retten zu wollen, sollte man Züge spielen, die die Position schnell entwickeln und flexibel sind. Unter Umständen muss der Verlust eines Teils der Gruppe in Kauf genommen werden, um wenigstens den anderen Teil zu sichern. Dies bezeichnet man als „leichte“ Spielweise.
So genannte gute Form ist notwendig für erfolgreiches Kämpfen. Viele Steinmuster haben sich als „gut“ erwiesen, weil sie im Kampf positive Eigenschaften haben wie größtmögliche Anzahl von Freiheiten, kleinstmögliche Anzahl überflüssiger Steine oder gute Entwickelbarkeit. Als „schlechte Form“ bezeichnet man auf engem Raum zusammengeklumpte Ketten, die aufgrund weniger Freiheiten leicht zu schlagen sind. „Gute Formen“ sind bewährte Standardmuster, stellen aber nicht notwendigerweise in jeder Spielsituation den besten Zug dar.
Ungewöhnliche Züge von besonderer Effizienz für bestimmte taktische Manöver (das Retten oder Fangen von Steinen, das Erringen der Vorhand, den Ausbruch aus einer Umzingelung), oder ganz einfach den besten Zug in einer taktischen Standardsituation nennt man Tesuji. Tesujis können z. B. aus dem Opfer von einzelnen Steinen bestehen, um im Austausch gegnerische Steine zu schlagen oder einen anderen Vorteil zu erringen.
=== Vorhand und Nachhand ===
Das Mittelspiel geht in das Endspiel über, in dem es hauptsächlich darum geht, die Grenzen zwischen den Gebieten genau festzulegen. In aller Regel herrscht in dieser Phase des Spiels bereits Klarheit darüber, welche Gruppen leben und welche tot sind. Ziel ist es dann, die Gebiete des Gegners so weit es geht zu verkleinern und die eigenen zu vergrößern.
Hier spielt ein weiterer strategischer Gesichtspunkt eine übergeordnete Rolle, und zwar der Gebrauch von Vorhand (sente, 先手) und Nachhand (gote, 後手). Vorhand bedeutet, dass jeder Zug, den man spielt, eine Reaktion des Gegners erfordert. Eine Vorhandsequenz kann aus beliebig vielen Zügen bestehen, solange sie nur mit einem Sicherungszug des Gegners endet. Nach jeder Sentesequenz behält der erste Spieler die Initiative und kann an einer anderen Stelle weiterspielen. Gote (Nachhand) bedeutet genau das Gegenteil, nämlich am Ende einer Zugfolge den letzten Zug machen zu müssen. Danach ergreift der Gegner die Initiative. Das Aufrechterhalten des Sente (Vorhand) bringt oft spielentscheidende Punkte im Endspiel. Auch im Mittelspiel und in der Eröffnung können bestimmte Züge als Sente bezeichnet werden, wenn sie lokal beantwortet werden müssen, um einen größeren Punktverlust zu verhindern. Aus Rücksicht auf potentielle Ko-Drohungen (s. o.) sollten solche Vorhandsequenzen jedoch nicht zu früh ausgespielt werden.
== Tradition des Go-Spiels ==
=== Traditionelles Spielmaterial ===
Obwohl man natürlich auch auf einem Stück Karton und mit einem Sack Plastiksteinen Go spielen kann, legt vor allem die japanische Go-Kultur besonderen Wert auf qualitativ hochwertige Spielsets.
In China spielt man traditionellerweise auf flachen Brettern aus Holz, die bis zu etwa 5 cm dick sind. Dabei sitzt man zumeist auf Stühlen an einem Tisch. In Japan wird Go dagegen idealerweise auf dem Boden gespielt, wobei die Spieler auf flachen Kissen (zabuton 座布団) sitzen. Das traditionelle Go-Brett (goban 碁盤), das sich vor den Spielern am Boden befindet, ist ebenfalls aus massivem Holz, aber ungefähr 15 cm bis 20 cm dick und steht auf kurzen Beinen. Die wertvollsten Bretter werden aus dem seltenen, goldgelben Holz des Kayabaums (Torreya nucifera) gefertigt, manche aus dem Holz von über 700 Jahre alten Bäumen. Die Gitterlinien, die das Spielfeld darstellen, werden auf derartigen Brettern bisweilen noch von eigenen Professionisten mit einem Schwert (katana) in die Oberfläche des Holzes geritzt und mit Lack nachgezogen.
Das japanische Go-Brett ist nicht perfekt quadratisch. Das Spielfeld misst traditionell 1 Shaku und 5 Sun in der Länge und 1 Shaku und 4 Sun in der Breite (455 mm × 424 mm), wobei an den Rändern noch etwas Raum frei bleiben muss, damit das Spielen an den Randlinien und Eckpunkten möglich wird. Diese Maße beschreiben ein Verhältnis von 15:14. Die erweiterte Länge dient dazu, die optische Verzerrung (perspektivische Verkürzung) auszugleichen, die dadurch entsteht, dass die Spieler nicht senkrecht, sondern von schräg oben auf das Brett schauen. Als weiterer Grund wird die japanische Ästhetik genannt, die perfekt symmetrische Strukturen und damit auch ein perfektes Quadrat vermeidet.
Die Spielsteine (go-ishi 碁石) sind vorzugsweise aus weißen Muscheln bzw. schwarzem Schiefer gefertigt, ellipsoid geschliffen und werden in Holzdosen (goke 碁笥) aufbewahrt. Da die entsprechenden Ressourcen beschränkt sind (Muscheln und Kayabäume benötigen geraume Zeit, bis sie die erforderliche Größe erlangt haben, und sind mittlerweile sehr selten), kann traditionell gefertigtes Spielmaterial oft nur zu exorbitanten Preisen erstanden werden.
Die Behältnisse für die Steine sind einfach geformt, wie ein Ellipsoid mit einem abgeflachten Boden. Der locker sitzende Deckel wird beim Spiel umgedreht und dient als Behälter für gefangene gegnerische Steine. Die Behälter sind normalerweise aus gedrechseltem Holz, in China sind auch kleine, geflochtene Bambuskörbe verbreitet.
In Go-Clubs und auf Meisterschaften, wo eine große Menge an Sets instand gehalten (und auch gekauft) wird, sind diese traditionellen japanischen Sets normalerweise nicht in Gebrauch. Auch wird zumeist auf westlichen Tischen und Sesseln gespielt. Für solche Situationen werden 2 cm bis 5 cm dicke Tischbretter ohne Beine verwendet. Die Steine sind zumeist aus Glas, die Dosen aus Plastik. Tischbretter und Glassteine sind auch in Europa am weitesten verbreitet. Obwohl billige Plastiksteine ebenfalls im Umlauf sind, werden diese von vielen Spielern aufgrund ihres geringen Gewichts und des dementsprechend unbefriedigenden haptischen und akustischen Erlebnisses beim Setzen des Spielsteins abgelehnt.
Erfahrene Spieler zeichnen sich in der gesamten Go-Welt durch eine besondere Art aus, Go-Steine auf dem Brett zu platzieren: Der Stein wird zwischen Mittelfinger und Zeigefinger gehalten, um dann fest auf das Brett zu treffen, wobei ein sattes „Klack“ ertönt. Im Idealfall wackelt der Stein nach dem Loslassen nicht. Die Qualität des Spielmaterials kann die Akustik des Spielzugs natürlich beeinflussen. Die pyramidenförmige Aushöhlung an der Unterseite eines traditionellen japanischen Go-Bretts wird manchmal mit der Verbesserung des Klangs erklärt. Ein Spielbrett wird darüber hinaus für edler gehalten, wenn leichte Spuren von Steinen sichtbar sind, die im Laufe der Jahrzehnte – oder Jahrhunderte – darüber geglitten sind.
=== Verhalten am Go-Brett ===
Die Etikette des Go wird von vielen Spielern als wichtig erachtet und befolgt. Demnach soll man dem Gegner immer den nötigen Respekt zollen, damit er die gespielte Partie nicht als unangenehm empfindet. Es ist zunächst grundlegend, welche Einstellung man zu dem Spiel hat. Man kann spielen, um sich zu entspannen, um sich zu vergnügen, um zu lernen, und vieles mehr. Die Einstellung seines Gegners soll man in jedem Fall respektieren. Eine einseitige Fixierung allein auf das Gewinnen der Partie widerspricht der in der ostasiatischen Kultur verankerten Philosophie des Spiels. Somit verstoßen das Prahlen über einen Sieg, das Spotten über eine Niederlage und Ähnliches deutlich gegen die guten Sitten des Go-Spiels.
Weitere UmgangsformenÜblicherweise begrüßen sich Spieler vor dem Beginn einer Partie.
Bei Spielen am Tisch gilt es als höflich, wenn der erste Zug vom Spieler aus in der rechten oberen Ecke stattfindet. Die Gründe dafür sind erstens, dass der andere bequem seinen ersten Stein setzen kann (und die Dose steht im Normalfall rechts vom Brett, also wird die Ecke vorn rechts für Weiß attraktiv gemacht), zweitens, dass es eine Einheitlichkeit in der Notation gibt, und drittens, dass man Respekt vor dem Gegner zeigt, indem man sich vor ihm „verbeugt“, um den Stein zu setzen.
Es wird als sehr störend empfunden, den Gegner durch Geräusche abzulenken (mit der Hand in der Dose rühren). Die Konzentration auf das Spiel soll möglichst nicht beeinträchtigt werden.
Sich gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen (auf andere Bretter schauen, Musik hören), vermittelt dem Gegenüber eine Langeweile, die durchaus als abwertend empfunden werden kann.Auf Go-Servern im Internet (siehe Weblinks) wird die gewöhnliche Spielsituation, bei der man sich am Tisch gegenübersitzt, auf einen Chatraum verlagert. Selbstverständlich treten hier einige der oben genannten Regeln außer Kraft. Doch auch hier gibt es Normen, zum Beispiel, dass man sich bei Spielbeginn kurz begrüßt und dass man sich nicht ohne Nachricht aus dem Spiel entfernt. Spieler, die regelmäßig auf diese Weise Partien abbrechen, wenn sie zu verlieren drohen, werden Escaper genannt. Auf den meisten Go-Servern gibt es Mechanismen, die sicherstellen, dass Escaper keinen Vorteil aus ihrem Abbruch ziehen. Das öffentliche Denunzieren von Escapern („xxx is an escaper!“) ist zwar immer wieder zu beobachten, gehört aber auch nicht zum guten Benehmen auf dem Go-Server.
== Einstufung und Rangsysteme ==
Go-Spieler, die in Klubs und auf Turnieren spielen, tragen üblicherweise einen Rang, der u. a. zur Orientierung bei der Wahl eines Spielpartners dient.
Meisterränge, die als Dan bezeichnet werden, reichen theoretisch vom 1. bis zum 9. Dan. Der 1. Dan ist der niedrigste Meisterrang, ein 7. Dan für Amateure (in Japan selten auch der 8. Dan) der höchste.
Schülerränge, Kyū genannt, werden vom 30. bis zum 1. Kyū gestaffelt, wobei der 1. Kyū der höchste Rang ist. Anfänger werden in der Regel als 20. bis 30. Kyū eingestuft.In den drei führenden Go-Nationen Korea, China und Japan gibt es jeweils eigene Rangsysteme für professionelle Spieler, die ebenfalls vom 1. Dan bis zum 9. Dan reichen. Profi-Ränge werden von den Verbänden auf der Grundlage von Turnierergebnissen oder ausnahmsweise ehrenhalber verliehen. Im Amateurbereich handelt es sich mit wenigen Ausnahmen um ein System der Selbsteinstufung. Beispielsweise wurden in der DDR hohe Schülerränge und alle Meisterränge auf der Grundlage von Turnierergebnissen nach festen Regeln verliehen. In Japan sind die Gebühren für die Ausstellung von Spielstärke-Urkunden für Amateure eine wichtige Einnahmequelle für den Nihon Kiin, die größte Organisation von professionellen Go-Spielern.
Die Rangsysteme in Amerika, Europa und Asien sind gegeneinander zwar leicht verschoben, der Spielstärkeunterschied zwischen den jeweiligen Rängen ist aber bei den Amateuren stets der gleiche. Er bemisst sich nach einem festgesetzten System von Vorgabesteinen zur Ausgleichung des Spielstärkeunterschieds. Ein 1. Profi-Dan in Japan entspricht in etwa einem 7. Dan bei den Amateuren.
Wenn zwei Go-Spieler unterschiedlichen Ranges aufeinandertreffen, wird aus dem Rangunterschied eine Vorgabe bestimmt: Ein 1. Dan erhält gegen einen 5. Dan eine Vorgabe von 4 Steinen. Das bedeutet, dass der schwächere Spieler mit den schwarzen Steinen spielt und 4 Steine auf dem Brett platzieren darf, bevor sein Gegner den ersten Zug macht. In Japan und auch in Europa werden die Vorgabesteine auf die Schnittpunkte gelegt, die auf dem Go-Brett etwas dicker gezeichnet sind. Diese neun Punkte, die achsen- und punktsymmetrisch angeordnet sind, heißen hoshi (星 „Stern“). In China hingegen ist es üblich, dass der schwächere Spieler sich aussuchen darf, wo er seine Vorgabesteine platzieren möchte.
Bei einem Unterschied von nur einem Rang beginnt der schwächere Spieler, ohne Vorgabesteine zu setzen. Bei gleich starken Spielern (Gleichaufpartie) erhält der Nachziehende (Weiß) im Voraus einige Punkte (Komi genannt), die den Vorteil, den Schwarz durch den ersten Zug hat, ausgleichen. Als Standard-Komi haben sich in Japan und Europa 6 oder 6,5 Punkte und in China 7 oder 7,5 Punkte etabliert. Nicht ganzzahliges Komi wird verwendet, wenn man ein Unentschieden (Jigo, 持碁) ausschließen will. Die Höhe des Komi ist allgemein (von Turnierveranstaltern) frei wählbar.
Bei den Profis entsprechen ungefähr drei Ränge einem Stein Vorgabe und damit dem Unterschied von einem Amateurrang.
== Zeitsysteme ==
Auf Turnieren wird in der Regel mit einem bestimmten Zeitlimit gespielt. Die Grundspielzeit wird mittels einer Schachuhr während der Bedenkzeit eines jeden Spielers gemessen. Sie kann von zehn Minuten (Blitzturnier) über eine Stunde (durchschnittliches nationales Turnier) bis zu acht Stunden (japanische Titelkämpfe) reichen. Oft steht den Spielern nach Ablauf der Grundspielzeit noch zusätzliche Zeit zur Verfügung, die Byōyomi (秒読み) genannt wird. Es gibt zwei Arten von Byōyomi:
Beim klassischen Byōyomi hat jeder Spieler eine bestimmte Anzahl von Byōyomi-Perioden mit einer jeweils bestimmten Zeit (oft 30 Sekunden). Wenn er es schafft, innerhalb dieser Zeit seinen Zug auszuführen, gilt die Periode als nicht angetastet und beginnt beim nächsten Zug wieder von vorn. Sollte er jedoch länger für den Zug brauchen, ist eine Periode verbraucht, und er hat somit für den Rest der Partie eine Periode weniger. Sind alle Perioden verbraucht, verliert er die Partie.
Beim kanadischen Byōyomi muss der Spieler in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl von Steinen setzen (15 Steine in 5 Minuten). Wenn er es schafft, beginnt die Periode von neuem und er muss erneut die vorgegebene Anzahl von Steinen in der vorgegebenen Zeit setzen. Schafft er dies nicht, verliert er die Partie.
Beim progressiven Byōyomi muss der Spieler in jeder Periode mehr Steine setzen (typisch 15 Steine in den ersten 5 Minuten, dann 20 Steine in 5 Minuten, dann 25 Steine in 5 Minuten, …).Da durch diese Zeitsysteme klassische Schachuhren überfordert sind, weil die Restzeit zu oft neu eingestellt werden muss, gibt es auch spezielle (elektronische) Go-Uhren, die mit den vergleichsweise komplizierten Zeitregeln des Go klarkommen.
Bevor es solche Uhren gab, musste die Zeitmessung manuell, das heißt durch einen Menschen, erfolgen. Beim klassischen Byōyomi hatte dazu ein Zeitnehmer eine Uhr und informierte die Spieler durch Ansage, wie viele Sekunden sie noch für den Zug haben. Gerade auf Turnieren führte das zu einem erhöhten Lärmpegel.
== Professionelles Go ==
Professionelles Go hat sich hauptsächlich in Japan, Korea, Taiwan und in China entwickelt. In Japan wurde das Spiel bereits seit dem 17. Jh. staatlich gefördert. Diese Förderung beschränkte sich zwar nur auf einige wenige Familien, legte aber den Grundstein für das moderne Profi-System, das sich in der Folge auch in den anderen ostasiatischen Ländern etablierte. Go-Profis genießen einen hohen Status und können allein durch Unterricht des Spiels ihr Auskommen finden. Spitzenprofis nehmen überdies an Turnieren teil, die zumeist von Tageszeitungen oder anderen Firmen gesponsert werden und mit Preisgeldern bis 300.000 Euro dotiert sind. Die koreanischen und taiwanischen Turniere werden allerdings immer noch etwas schwächer bezahlt.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte Japan die meisten und stärksten professionellen Spieler hervor. Jedoch hat das chinesische Profi-Go in den achtziger Jahren ein mindestens ebenso hohes Niveau erreicht, während in Korea seit den neunziger Jahren eine neue Generation von Go-(Baduk-)Spielern an die Weltspitze drängt. Die Topspieler aus diesen drei Ländern haben vergleichbare Stärke.
Es gibt keine Weltmeisterschaft für professionelle Go-Spieler. Stattdessen gibt es eine Reihe hoch angesehener Titel. Zu den wichtigsten japanischen Titeln gehören Kisei (棋聖, „Spiel-Heiliger“, genauer: Go-Großmeister / Go-Koryphäe), Meijin (名人, „Meister“), Hon’inbō (本因坊, Name einer früheren Go-Schule), Ōza (王座, „Königsthron“), Jūdan (十段, „10. Dan“), Tengen (天元, „Mitte des Himmels“) und Gosei (碁聖, „Go-Heiliger“, genauer: herausragender Go-Meister).
Anwärter auf den Profi-Status müssen ihre Spielstärke in der Regel auf einem Qualifikationsturnier beweisen. Die Profi-Organisationen in den jeweils genannten Ländern halten, in der Regel einmal pro Jahr, ein entsprechendes Turnier ab. Die bestplatzierten Spieler erhalten dann die Ernennung zum Profi. Es werden pro Jahr und Organisation nur eine Handvoll Profis ernannt.
Die Go-Profis fangen in der Regel schon in ihrer Kindheit zu spielen an. Jeder Schüler hat einen erfahrenen Spieler als Lehrer (sensei, 先生). Ein Anwärter zum Profi wird in Japan insei (院生) genannt. Nur jeder dritte Insei schafft es zum Profi. In Japan gibt es zurzeit etwa 470 Profis.
Als erste Profispielerinnen, Lehrerinnen und Expertinnen für das Go-Spielen mit Kindern kamen Shigeno Yuki (Generalsekretärin der Internationalen Go Föderation IGF 2006–2014, lebte lange in Italien) und Guo Juan (lebt in Amsterdam) von Asien nach Europa.
=== Bekannte Profi-Spieler (Auswahl) ===
==== China ====
Go Seigen (1914–2014, chin. 吴清源), geb. als Wú Qīngyuán, wurde in Japan zum Profi ausgebildet und ist einer der Kandidaten für das Prädikat „bester Go-Spieler aller Zeiten“.
Rui Naiwei (geb. 1963, chin. 芮迺伟) ist die erste Frau mit dem 9. Dan und zugleich die erste Frau, die ein männliches Profiturnier gewinnen konnte (2000 in Kuksu, Korea).
Gu Li (geb. 1982, chin. 古力) gehört zu den Top 20 der Weltrangliste. Neben zahlreichen chinesischen Titeln, wie Mingren und Tianyuan, gewann er 2006 auch den 10. LG-Cup.
Fan Tingyu (geb. 1996, chin. 范廷钰), seit 2013 jüngster 9. Dan der Geschichte.
Ke Jie (geb. 1997, chin. 柯潔), derzeit (Mai 2017) auf Platz 1 der Weltrangliste mit 3620 BayesElo.
Yu Zhiying (geb. 1997, chin. 於之莹) 5. Dan, seit 2012 stärkste Gospielerin der Welt.
==== Japan ====
Hon’inbō Shūsaku (1829–1862, japanisch 本因坊 秀策) war der wohl stärkste Spieler in der Edo-Periode. Mit den schwarzen Steinen galt er als unbesiegbar.
Kitani Minoru (1909–1975, japanisch 木谷 実) hat zusammen mit Go Seigen eine neue Eröffnungstheorie aufgestellt und war Lehrer sehr vieler Profispieler.
Sakata Eio (1920–2010, japanisch 坂田 栄男) und
Fujisawa Shukō (1925–2009) dominierten die goldene Zeit des japanischen Go in den 1960er und 1970er Jahren.
Iyama Yūta (geb. 1989, japanisch 井山 裕太): jüngster japanischer 9. Dan und derzeit stärkster Spieler Japans (Stand: 2015). In den Top 5 der Weltrangliste vertreten. Mit der Erringung des Jūdan am 30. Juni 2016 gelang es ihm als erstem Profispieler, alle sieben japanischen Go-Titel gleichzeitig zu halten.
==== Südkorea ====
Chō Chikun (auch Cho Chi-hun, geb. 1956, kor. 조치훈, Hanj. 趙治勲) in Japan von Kitani Minoru zum Profi ausgebildet, dominierte die japanische Szene in den 1980ern und 1990ern. Er konnte alle wichtigen Titel (Kisei, Honinbo, Meijin) mehrere Jahre gegen seine Herausforderer verteidigen.
Lee Chang-ho (geb. 1975, kor. 이창호, Hanj. 李昌鎬) galt von 1991 bis 2006 als der stärkste Spieler der Welt.
Sein Lehrer Cho Hun-hyeon (geb. 1953, kor. 조훈현, Hanj. 曺薰鉉) war in den 1980er und 1990er Jahren einer der stärksten Spieler der Welt.
Lee Sedol (geb. 1983, kor. 이세돌, Hanj. 李世乭) galt von 2007 bis 2011 als stärkster Spieler der Welt.
Park Junghwan (geb. 1993, kor. 박정환, Hanj. 朴廷桓) jüngster koreanischer 9. Dan, welcher seit 2012 als einer der stärksten Spieler der Welt gilt. Derzeit (November 2020) auf Platz 3 der Weltrangliste.
Shin Jin-seo (geb. 2000, kor. 신진서) ist der erste Spieler, der die Elo-Wertung 2800 erreichte und steht seit Ende 2018 auf Platz 1 der Weltrangliste.
==== Spieler von außerhalb Asiens ====
Manfred Wimmer (1944–1995, Österreich). Erhielt 1978 als erster westlicher Spieler ein japanisches Profi-Diplom.
Michael Redmond (geb. 1963, USA). Erster westlicher Spieler, der den 9. Profi-Dan erreichte. In Japan aktiv.
Hans Pietsch (1968–2003, Deutschland). Bislang einziger deutscher professioneller Go-Spieler, in Japan ausgebildet. Er wurde am 16. Januar 2003 während einer Go-Promotion-Tour in Guatemala bei einem bewaffneten Raubüberfall ermordet. Ihm wurde postum der 6. Dan verliehen.
Catalin Taranu (geb. 1973, Rumänien), 5. Profi-Dan, in Japan ausgebildet
Alexandre Dinerchtein (geb. 1980, Russland), 3. Profi-Dan, in Korea ausgebildet, mehrfacher Europameister.
Svetlana Shikshina (geb. 1980, Russland), 3. Profi-Dan, in Korea ausgebildet, erste professionelle Go-Spielerin Europas.
== Go im deutschsprachigen Raum ==
=== Geschichte ===
Bis ins späte 19. Jahrhundert war Go in Europa nur dem Namen nach bekannt.
1877 veröffentlichte der berühmte englische Sinologe Herbert Giles eine Spielbeschreibung unter dem Titel Weichi or the Chinese Game of War.
Der deutsche Chemiker Oskar Korschelt war von 1875 bis 1886 in Japan tätig.
1880 veröffentlichte er die Artikelreihe Das Japanisch-chinesische Spiel „Go“. Ein Concurrent des Schach. Durch diese Veröffentlichungen erlangten nun auch deutsch-sprachige Interessenten die Möglichkeit, dieses Spiel zu erlernen.
Offenbar wurde Korschelts Werk jedoch eine größere Öffentlichkeit zuteil als der Veröffentlichung von Giles. In seiner englischen Übersetzung The Theory and Practice of Go ist Korschelts Werk noch erhältlich. Nach seinem Japanaufenthalt zog Korschelt nach Leipzig; seitdem wird dort Go gespielt.
Im Jahr 1905 bildete sich in Berlin ein kleiner Kreis von Schachspielern, die Go unter Anleitung eines japanischen Studenten praktizierten. Zu diesem Kreis stieß 1907 auch Emanuel Lasker, der von 1894 bis 1921 amtierender Schach-Weltmeister war. Ein weiteres Mitglied dieses Go-Zirkels war Eduard (Edward) Lasker (mit dem Schachweltmeister nur indirekt verwandt), der bald in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort die American Go Association mitbegründete. Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, entstand in Berlin der erste deutsche Go-Klub.
Im Jahr 1909 gab der österreichische Physiker Leopold Pfaundler in Graz die erste deutschsprachige Go-Publikation heraus. Während des Ersten Weltkrieges entstand im österreichischen Marinestützpunkt Pula, in Istrien, der größte Go-Zirkel Europas.
Ab 1920 wurde die Deutsche Go-Zeitung vom Dresdner Bruno Rüger erneut herausgegeben und entwickelte sich rasch zu einem wichtigen Kommunikationsmedium der Go-Spieler im deutschsprachigen Raum. Zu dieser Zeit galt Felix Dueball, dessen Spielstärke damals in etwa einem 1. Dan-Grad entsprach, als bester Spieler Deutschlands. Von einem Turnier in Berlin 1930 hat sich die Notation einer Partie gegen den erwähnten Emanuel Lasker erhalten. Lasker gewann die Partie gegen Dueball. 1930 wurde Dueball zusammen mit seiner Frau vom japanischen Multimillionär Baron Okura für 12 Monate nach Japan eingeladen, wo er das Go-Spiel intensiv studierte und sich an einigen Turnieren beteiligte. In die Go-Geschichte ist eine Partie Dueballs gegen den damals prominentesten Spieler Japans Honinbō Shūsai eingegangen. 1936 spielte Dueball – zu Werbezwecken – eine Fernpartie Go gegen den ehemaligen japanischen Minister für Kultur, Ichiro Hatoyama. Die laufende Partie wurde Zug für Zug sowohl im Völkischen Beobachter als auch in der japanischen Zeitung Nichi-Nichi abgedruckt. Hatoyama, der mit dem 2. Dan eingestuft wurde, gewann die Partie. Felix Dueball wird im Übrigen auch namentlich im Roman Meijin, einem Schlüsselroman aus der damaligen Go-Szene, des japanischen Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata erwähnt.
1978 erhielt der Österreicher Manfred Wimmer als erster Nicht-Asiate einen japanischen Profi-Rang, nur wenige Monate danach wurde die gleiche Ehre auch dem US-Amerikaner James Kervin zuteil. Die führenden nicht-asiatischen Spieler kommen außer den USA vor allem aus Osteuropa, insbesondere aus Russland und Rumänien, wo sich das Spiel seit der politischen Öffnung (1989) stark verbreitet hat.
=== Gegenwart ===
In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind inzwischen rund 2500 Go-Spieler in Vereinen und Verbänden organisiert, der mit Abstand größte davon ist der Deutsche Go-Bund (DGoB). In den letzten Jahren hat die Anzahl von Seminaren, Schulungen und Simultanspielen mit starken Amateuren (7. Dan) und Profispielern aus China, Japan und Korea, den Go-Zentren der Welt, stark zugenommen. Die aus Südkorea stammende Yoon Young-Sun ist die erste Profi-Spielerin, die ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegt hat. Sie unterrichtet Go in Hamburg. In Wien haben in den letzten Jahren Profi-Spieler aus Japan ein zeitweiliges Domizil gefunden. Der amtierende deutsche Meister ist Lukas Krämer (6. Dan Amateur).
Die Arbeit der wachsenden Anzahl von Schul-Go-AGs wird durch die seit 2003 stattfindende deutsche Schul-Go-Meisterschaft (Hans Pietsch Memorial) stark gefördert. Damit ist es gelungen, den typischen Go-Einstieg aus der Universität in die Schule zu verlagern. In Deutschland entstanden seit 2002 einige Go-Verlage, etwa der Hebsacker Verlag und der Verlag Brett und Stein, über die man Go-Material auch im Internet bestellen kann.
In jeder größeren europäischen Stadt gibt es Go-Treffs und Spielabende. In Metropolen wie Hamburg, Berlin oder Wien kann man an jedem Abend in einem Spieltreff Go spielen. Regelmäßige Turniere finden in vielen Städten statt. Für über 5000 aktive europäische Turnierspieler wird eine gesamteuropäische Ratingliste (European Go Database) geführt.
In Japan finden jährlich die Amateurweltmeisterschaften statt. 2008 wurden zum ersten Mal die Weltdenksportspiele (World Mind Sports Games) in der Olympiastadt Peking ausgetragen. Zu diesen internationalen Veranstaltungen entsenden viele Länder ihre Vertreter.
== Kennzahlen und Spieltheorie ==
In der Spieltheorie wird Go den endlichen Nullsummenspielen mit perfekter Information zugeordnet. Theoretisch könnte man also je nach Komi ermitteln, ob bei beiderseits perfektem Spiel Schwarz oder Weiß gewinnt oder die Partie unentschieden ausgehen muss. Nach heutigem Wissensstand erscheint es jedoch ausgeschlossen, dass diese Frage durch vollständige Berechnung des Suchbaums geklärt werden kann, da die Komplexität des Spiels andere ungelöste Spiele wie Schach sogar noch bei Weitem übersteigt.
Die Zahl der gültigen 19×19-Positionen wurde 2016 von Tromp et al. exakt berechnet (etwa 2×10170), diese Zahl hat (im üblichen Dezimalsystem) 171 Ziffern, hier in neun Zeilen zu jeweils 19 Ziffern dargestellt:2081681993819799846
9947863334486277028
6522453884530548425
6394568209274196127
3801537852564845169
8519643907259916015
6281285460898883144
2712971531931755773
6620397247064840935
== Computer-Go ==
=== 5×5 gelöst ===
2002 hat ein von Erik van der Werf von der „Computer Games Group“ der Universität Maastricht geschriebenes Computer-Programm namens MIGOS (MIni GO Solver) alle Spielmöglichkeiten für Go auf einem 5×5-Brett durchgerechnet und das Spiel vollständig gelöst: Bei optimalem Spiel gewinnt der anfangende Spieler, Schwarz, das gesamte Spielfeld, unabhängig davon, was Weiß macht.
=== 19×19 ===
Die Entwicklung gospielender Computerprogramme erwies sich als erheblich schwieriger als im Fall des Schachspiels: Bis 2015 gab es keines, das mit einem starken Amateur auf dem 19×19-Brett konkurrieren konnte. Dabei wurde schon relativ früh damit begonnen, solche Programme zu schreiben (zum Beispiel Gobang für den Commodore VC20 1982, GO für den Commodore 64 1983 oder den Atari um 1987). Erst im August 2008 gewann ein Spezialprogramm auf dem Supercomputer Huygens gegen einen Go-Profi, allerdings nur mit einer Vorgabe von neun Steinen. Im Oktober 2015 gewann das von Google DeepMind entwickelte Programm AlphaGo ohne Vorgabe gegen den mehrfachen Europameister Fan Hui (2P) und im März 2016 vier von fünf Mal gegen Lee Sedol, der als einer der weltbesten Spieler gilt.
Starke Go-Programme sind/waren: The Many Faces of Go, MoGo, MyGoFriend, Leela, Crazy Stone und Zen. Mit Hikarunix gab es auch eine Live-CD, die verschiedene freie Go-Programme und Clients enthielt.
Vier Versionen von AlphaGo zählt DeepMind mittlerweile. Sie alle beruhen auf einer Kombination von neuronalen Netzen und der Baumsuchtechnik. Während die neuronalen Netze der ersten drei Versionen mit Millionen von Stellungen aus Partien zwischen starken menschlichen Spielern trainiert wurden, hat die 2017 veröffentlichte Version AlphaGo Zero das Spiel innerhalb von 36 Stunden von Grund auf selbst gelernt, nur aufgrund der Spielregeln und des Spielens gegen sich selbst. In internen Tests hat Alpha Go Zero die „Master“-Version von AlphaGo nochmals bei weitem übertroffen. Alpha Go Zero hat das menschliche Go Wissen von 1000 Jahren in nur 36 Stunden übertroffen. Dabei sind während des Lernprozesses viele noch unbekannte Spieltaktiken entdeckt worden. Gegen Menschen braucht sie somit gar nicht mehr anzutreten.
In der Goprogrammierung werden andere Techniken eingesetzt als in den meisten anderen Zweispielerspielen ohne Zufall und mit vollständiger Information. Im Schach kann eine mittlere Spielstärke durch Kombination einer fehlerfreien Implementation der Schachregeln, des Alpha-Beta-Algorithmus mit Ruhesuche, und einer relativ einfachen Bewertungsfunktion erreicht werden. Im Go scheint dies auf den ersten Blick an der größeren Variantenvielfalt zu scheitern (die unvorstellbar hohe Anzahl verschiedener Stellungen, die auf einem 19×19-Brett möglich sind, ist etwa 2,08 × 10170, im Schach „nur“ etwa 1043 mögliche Stellungen). Im Vergleich: Die Anzahl aller Atome im gesamten Universum beträgt ungefähr 1080. Es gibt mithin mehr Go-Stellungen als Atome in einer Anzahl von Universen, die dieser Atomanzahl gleicht. Der wirkliche Grund der Vielfalt liegt darin, dass es schwieriger als im Schach ist, eine Bewertungsfunktion für Verwendung mit einer Alpha-Beta-ähnlichen Suche zu schreiben.
Es gibt Programme, wie GoTools, die sich auf das Lösen idealisierter Teilstellungen beschränken. Bei bestimmten Stellungstypen kann dieses Programm menschliche Analyseleistungen bei weitem übertreffen. Für das Ziel des spielstarken Go-Programms ist damit jedoch fast nichts gewonnen, da diese idealisierten und in sich abgeschlossenen Stellungen in der Praxis eine relativ kleine Rolle spielen. Ähnliches gilt für die Ergebnisse, die sich für einige späte Endspiel-Positionen mit Hilfe der kombinatorischen Spieltheorie erzielen lassen.
=== Monte-Carlo Tree Search ===
Im Go wird daher ein anderer Ansatz verwendet, der als Monte-Carlo Tree Search bekannt ist. Die Zugauswahl beruht bei diesen Programmen auf der statistischen Auswertung der Ergebnisse einer großen Anzahl ausgehend von der Wurzelstellung komplett ausgespielter Partien. Da sich bei einem solchen Vorgehen die Bewertung der Endstellungen der Zufallspartien direkt aus den Goregeln ableiten lässt, benötigen diese Programme Gowissen nur für die Suche. Auf dem 9×9-Brett wurden seit Ende 2006 durch Einsatz von Monte-Carlo-Methoden für Suche und Stellungsbewertung erhebliche Fortschritte erzielt. Die Leistungen der besten 9×9-Programme waren Mitte 2007 wahrscheinlich äquivalent der Spielstärke eines europäischen 3-Dans mit durchschnittlicher Erfahrung mit den Besonderheiten des kleinen Brettes.
Feng-hsiung Hsu, der als Programmierer von Deep Blue bekannt wurde, hielt es 2007 für möglich, bis zum Jahr 2017 ein Go-Programm zu entwickeln, das die besten menschlichen Spieler besiegte. Bis dahin werde seiner Ansicht nach Hardware zur Verfügung stehen, die mehr als 100 Billionen Positionen pro Sekunde berechnen könnte.Im August 2008 gelang es dem Supercomputer Huygens auf dem in Portland in Oregon stattfindenden 24. Jahreskongress des Go-Spiels erstmals, in einem offiziellen Wettkampf gegen einen Menschen mit einer Vorgabe von neun Steinen zu gewinnen. Dabei unterlag der koreanische 8-Dan-Profi Kim Myungwan nach 255 Zügen mit 1,5 Punkten. Die gemeinsame Presseerklärung der Universität von Maastricht, NCF, NWO Physical Sciences und SARA sagt, dass dies der erste Sieg von einem Computer gegen einen Go-Profi ist. Die zusammen mit INRIA Frankreich entwickelte Anwendung MoGo Titan läuft auf Huygens, der sich bei SARA in Amsterdam befindet.Es ist schwierig, Computerprogrammen Ränge zuzuordnen, da einerseits die Spielstärke moderner Goprogramme stark abhängig ist von der Leistungsfähigkeit der zugrundeliegenden Hardware und von der verwendeten Bedenkzeit, und andererseits menschliche Spieler meistens schnell typische Fehler der Programme finden und diese ausnutzen. Oftmals wertet man deswegen nur die erste Partie eines Menschen gegen ein Computerprogramm zur Einstufung. Wertet man noch weitere Partien, so sinkt die gefühlte Spielstärke dieser Programme nach Meinung vieler Gospieler erheblich. Die stärksten Programme haben etwa auf dem KGS Go Server stabile Ränge in der Gegend von 6 Dan erreicht (Zen, Crazystone – Stand: 2015). Ein neuerer Ansatz zur Bewertung ist das Bayesian Elo-Rating.
=== Entwicklung seit 2015 ===
Im März 2015 gewann das Programm Crazy Stone den 8. UEC Cup der japanischen University of Electro-Communications in Chōfu, in dem verschiedene Go-Programme gegeneinander antraten.Im Oktober 2015 besiegte das Computerprogramm AlphaGo des Unternehmens Google DeepMind den Europameister Fan Hui (Spielstärke Oktober 2015: 2. Profi-Dan, BayesElo: 2908) in fünf aufeinanderfolgenden Spielen. Es war der erste Gleichaufsieg eines Computers über einen Menschen mit Profistärke.
Das Programm spielt in einem Netzwerk zunächst die mögliche Entwicklung des Spiels durch. Mit der Hilfe von Millionen archivierten Spielen sowie der Analyse von Partien gegen sich selbst, erreichte es in diesem Match eine korrekte Vorhersage für den nächsten menschlichen Zug, die mit 57 % deutlich über den bisherigen 44,4 % liegt. Auf diesem Vorhersagemodell baut das Programm in einem zweiten Netzwerk eine Entscheidung über den besten Zug auf, indem es den Sieger auf Grundlage jeder Position vorhersagt. Als Hardware wurden mehrere Systeme getestet: Die AlphaGo-Konfiguration besaß 48 CPUs mit 8 GPUs und erreichte mit max. 5 Sekunden Bedenkzeit eine BayesElo-Spielstärke von 2890. Die Distributed AlphaGo-Konfiguration erreichte mit 1202 CPUs und 176 GPUs 3140 BayesElo. Mit 1920 CPUs und 280 GPUs wurden 3168 BayesElo erreicht. Um die während der Lernphase benötigte massive Rechenleistung bereitzustellen, wurden die Google Cloud Platform und TensorFlow Processing Units (kurz TPUs, ASICs für die Software-Sammlung TensorFlow) eingesetzt.Im März 2016 spielte AlphaGo gegen Lee Seedol, einen der damals weltweit stärksten Go-Spieler (Spielstärke Januar 2016: 9. Profi-Dan, BayesElo: 3515) ein Match über fünf Partien. Hier gewann AlphaGo vier Durchgänge durch Aufgabe, nur eine – die vierte – Partie gewann Lee.AlphaZero, eine verallgemeinerte (d. h. auch für andere Brettspiele wie Schach und Shōgi nutzbare) Version der Weiterentwicklung AlphaGo Zero, ist inzwischen in der Lage, nur aufgrund der Spielregeln und durch häufiges Spielen gegen sich selbst eine noch größere Spielstärke als vorherige Versionen zu entwickeln.
Eine Analyse von Spielverhaltens gegen selbstlernende Go-Programme kommt zu dem Schluss, dass sich die Fähigkeiten der spielenden Menschen in Folge signifikant verbessert haben. Die Autoren der Studie sehen dies als Indiz für die generelle Plausibilität maschineller Entscheidungsunterstützung im Sinne Erweiterter Intelligenz (EI/XI).
== Varianten und Abarten ==
Abweichende, aber gängige Brettgrößen sind 13 × 13 und 9 × 9. Darüber hinaus gibt es Varianten, die Änderungen oder Ergänzungen in der Strategie oder in den Regeln des Spiels nach sich ziehen.
Beim Go auf einem kreisförmigen Spielbrett mit Kreissegmenten als Linien (Rund-Go) gibt es bei gleichen Spielregeln keine Ecken und somit keine Eck-Jōseki mehr. Überlegungen zum Go auf einem Zylindermantel führen zum gleichen Effekt. Beim Go auf einem Torus fallen zusätzlich die Ränder weg. Jeder Punkt ist somit am Anfang des Spiels gleichberechtigt.
Beim Keima-Go wird das normale Spielmaterial verwendet. Allerdings setzt jeder Spieler in seinem Zug zwei Steine im Rösselsprung-Abstand.
Poker-Go verwendet zusätzlich zum normalen Spielmaterial einen gemeinsamen oder zwei spielereigene inhaltsgleiche Stapel mit Karten, von welchen die Spieler abwechselnd Karten mit auszuführenden Anweisungen ziehen. Diese können im Setzen bestimmter Steinformationen, im Bewegen oder auch im Entfernen eigener oder gegnerischer Steine bestehen.
Atari-Go wird als Vorstufe zum eigentlichen Go-Spiel eher von Anfängern gespielt. Die Regeln bleiben dieselben. Gewonnen hat jedoch derjenige, der zuerst einen Stein gefangen hat.
Siehe auch: Govarianten, Gobang, Ninuki Renju und Fünf in eine Reihe
== Literatur ==
=== Sachbücher (Auswahl zum Einstieg) ===
Gunnar Dickfeld: Go für Einsteiger. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2016, ISBN 978-3-940563-40-8
Gunnar Dickfeld: Leben und Tod. Lehrbücher des Go. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-42-2
Gunnar Dickfeld: Schwarz am Zug. Das Go-Übungsbuch. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-31-6
Jörg Digulla u. a.: Das Go-Spiel. Eine Einführung in das asiatische Brettspiel. Hebsacker Verlag, 3., korr. Aufl., Hamburg 2008, ISBN 978-3-937499-04-8
Michael Koulen: Go. Die Mitte des Himmels. Geschichte, Spielregeln, Meisterpartien. Hebsacker Verlag, 5. Aufl., Hamburg 2006, ISBN 978-3-937499-02-4
William S. Cobb: Das leere Brett. Betrachtungen über das Go-Spiel. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2012, ISBN 978-3-940563-01-9
Richard Bozulich: Taktiken und Strategien des Go-Spiels. Was man Wissen muss, nachdem man die Regeln gelernt hat. Hebsacker Verlag, Hamburg 2009. ISBN 978-3-937499-05-5
Isamu Haruyama: Basic techniques of Go. Ishi Press, Tokio 1984.
Thomas Hillebrand: Lehrbücher des Go. Elementare Techniken. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-940563-41-5
Toshirō Kageyama: Lehrstunden in den Grundlagen des Go. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2009, ISBN 978-3-940563-05-7
Karl-Friedrich Lenz: Elementare Grundlagen des Go-Spiels. Tokio 2004. (pdf; 857 kB)
Siegmar Steffens: Go. Das älteste Brettspiel der Welt spielend lernen. Rittel Verlag, Hamburg 2005, ISBN 3-936443-03-3
=== Go-Geschichte, Legenden und Hintergründe ===
Richard Bozulich (Hrsg.): The Go Player’s Almanac 2001. Kiseido Publishing, Tokio 2001, ISBN 4-906574-40-8
Günter Cießow (Hrsg.): Das Brettspiel aus Japan. Ausstellungskatalog. Ethnologisches Museum, Berlin 2000.
Noriyuki Nakayama: Die Schatztruhe. Nakayamas Go-Geschichten und Rätsel, Brett und Stein Verlag, 2008, ISBN 978-3-940563-02-6
John Power (Hrsg.): Invincible. The Games of Shusaku. Kiseido Publishing, Tokyo 1982, ISBN 4-87187-101-0
Franco Pratesi: Eurogo (3 Bde.), Shaak en Go Winkel, Amsterdam 2004–2006:
Volume 1: Go in Europe until 1920. 2004, ISBN 88-7999-689-4
Volume 2: Go in Europe 1949–1968. 2004, ISBN 88-7999-997-4
Volume 3: Go in Europe 1968–1988. 2006, ISBN 88-7999-997-4
Ti-lun Luo: Weigi. Vom Getöne der schwarzen und weißen Steine; Geschichte und Philosophie des chinesischen Brettspiels. Lang, Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-631-36504-7
Zhang Ni: Der Klassiker des Go in dreizehn Kapiteln. Übersetzt von Dr. Martin Bödicker. CreateSpace Independent Publishing Platform 2014, ISBN 978-1-5027-0459-7
=== Belletristik ===
Shan Sa: Die Go-Spielerin. Roman. Piper, München 2004, ISBN 3-492-04661-4.
Kawabata Yasunari: The Master of Go. Vintage Books, New York 1996, ISBN 0-679-76106-3.
Kawabata Yasunari: Meijin, Brett und Stein Verlag, Frankfurt, 2015, ISBN 978-3-940563-22-4.
Hajin Lee: Jenseits des Bretts. Der ungewöhnliche Weg einer professionellen Go-Spielerin, Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2017, ISBN 978-3-940563-24-8.
Takeshi Obata, Yumi Hotta: Hikaru no Go. 23 Bände, Carlsen, Hamburg 2004–2010.
Sung-Hwa Hong: First Kyu. Good Move Press, New York 1999, ISBN 0-9644796-9-9.
Günter Karau: Go oder Doppelspiel im Untergrund. Roman. Militärverlag der DDR, Berlin 1983, ISBN 3-327-00589-3.
Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels. Roman. dtv, München 2008, ISBN 978-3-423-24658-3.
Trevanian: Shibumi oder der leise Tod. Heyne, München 2011, ISBN 978-3-453-40809-8.
=== Manga (Popkultur) ===
Hikaru no Go, ein Manga/Anime mit Go-Spiel als Thema
== Weblinks ==
=== Spielregeln für Anfänger ===
Der interaktive Weg zu Go – ausführlicher Go-Kurs für Anfänger
Einführung des Deutschen Go Bundes
Spielregeln eines Verlages zum Herunterladen (1), PDF-Datei (16 Seiten, 61 kB)
Spielregeln eines Verlages zum Herunterladen (2), PDF-Datei (2 Doppelseiten Querformat, 265 kB)
=== Go für Kinder und Jugendliche ===
Euro Go Kids – Informationen und Links für Kinder, Jugendliche, Eltern und Lehrer zum Thema Go
=== Go-Server ===
KGS Go Server (KGS) – gut besuchter Go-Server mit Spielmöglichkeit auch ohne Programm-Download
IGS Pandanet – der allererste Go-Server im Internet (englisch); spielbar über den GoPanda2-Client für Windows, Linux & OSX mit deutscher Sprachoption und der PANDANET(Go)-App für Android & iOS.
Dragon Go Server – rundenbasierter Go-Server
Online Go Server (OGS) – Browser-basierender Go-Server mit deutscher Sprachoption, bietet viele Features wie Tsumegos (Übungsaufgaben), unterschiedliche Brettgrößen etc.
Tygem Go Server – koreanischer Go-Server mit hauptsächlich asiatischem Publikum, spielbar über den Tygem-Client (englisch, verfügbar als Windows oder iOS App)
=== Go-Unterricht auf YouTube ===
Nick Sibicky auf YouTube – Go-Unterricht für Anfänger (Live-Go, Reviews, mitgefilmte Unterrichtsstunden des Seattle Go Centers) von Nick Sibicky, US-amerikanischer 4D-Spieler (englisch)
Haylee’s World of Go/Baduk auf YouTube – Go-Unterricht für Fortgeschrittene (meist Live-Go) von Lee Hajin, koreanische 4P-Spielerin (englisch)
Dwyrin – Go-Unterricht (englisch) für fortgeschrittene Anfänger und bessere Spieler. Der Channel verfügt über mehrere hundert Videos zu den verschiedensten Go-Themen (Reviews, Taktik, Übungen etc.)
Sunday Go Lessons – Channel von Jonathan Hop (4D-Spieler aus den USA). Es finden sich zahlreiche Lehrvideos, die sich an Neulinge richten, ebenso wie Reviews von Profispielen und originale Go-Wettkämpfe aus Japan mit englischen Untertiteln. (englisch)
=== Turniere, Partien, Probleme und Sonstiges ===
Sensei’s Library – Wiki, das sich ausschließlich mit Go befasst (englisch)
gobase.org – umfangreiche Go-Datenbank (englisch)
goproblems.com – Seite mit vielen Go-Problemen (größtenteils deutsch, englisch)
EidoGo – Joseki-Datenbank (englisch)
Waltheri's go pattern search – Datenbank für Joseki und Fuseki (englisch)
AlphaGo Teach. In: alphagoteach.deepmind.com. Abgerufen am 12. November 2018 (englisch, AlphaGo-Datenbank).
Goama – Freie Go-Zeitschrift (englisch)
MacMahon – Computerprogramm für die Durchführung von Go-Turnieren (englisch)
=== Nationale Go-Verbände ===
Deutscher Go-Bund – Nachrichten, Forum und vieles mehr
Go-Verband Österreich
Schweizer Go-Verband
=== Internationale Go-Verbände ===
Korea Baduk Association (koreanisch)
The Nihon Ki-in – Japan Go Association (englisch, japanisch)
European Go Federation – EGF (englisch)
American Go Association – AGA (englisch)
International Go Federation – IGF (englisch)
=== Go-Geschichte ===
Go History – Sammlung von Essays zur asiat. Go-Geschichte auf gobase.org (englisch)
Pok’s Go Space – Essays zur Geschichte des Go in Österreich, Europa und Asien (deutsch, englisch)
=== Siehe auch ===
Internationales Schach
Janggi – Koreanisches Schach
Shatar – Mongolisches Schach
Shogi – Japanisches Schach
Xiangqi – Chinesisches Schach
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel) |
Buch der Psalmen | = Buch der Psalmen =
Das Buch der Psalmen, auch der Psalter genannt (hebräisch סֵפֶר תְּהִלִּים sefær təhillîm), ist eine Zusammenstellung von 150 poetischen, im Original hebräischen Texten innerhalb der Bibel. Als Gesamtkomposition vollzieht der Psalter eine Bewegung von der Klage (ab Psalm 3) zum Lob (gipfelnd in Psalm 150) und von einem Individuum, das die Tora meditierend „murmelt“ (Psalm 1), zu einem großen Gottesdienst mit Musik, in die zuletzt alles Lebendige einstimmt (Ps 150,6).
Im Hintergrund vieler Psalmen steht der Jerusalemer Tempel. Die ältere Forschung versuchte, anhand von Psalmen den frühen Jerusalemer Kult zu rekonstruieren. Die neuere Exegese ist hier viel zurückhaltender und sieht die Psalmen mehr als Literatur aus dem Umkreis des Tempels.
Viele Psalmen werden durch ihre Überschrift König David zugeschrieben, einige mit Situationen aus seinem Leben verbunden. Dieses Phänomen ist in der griechischen Übersetzung (Septuaginta-Psalter) ausgeprägter als im hebräischen Buch der Psalmen. In einem nächsten Schritt wurde der ganze Psalter in hellenistisch-frührömischer Zeit unter die Verfasserschaft Davids gestellt und als sein „geistliches Tagebuch“ gelesen. Die weitere Rezeptionsgeschichte der biblischen Davidsfigur in Judentum und Christentum kombiniert den Kämpfer und Politiker David, wie er in den Samuelbüchern dargestellt ist, mit dem schwachen und verfolgten Beter-Ich der Psalmen.
Im Judentum wie auch im Christentum war der Psalter zunächst ein privater Meditationstext, bevor Psalmen in die Liturgien von Synagogen und Kirchen integriert wurden.
== Name und Stellung im Kanon ==
Die Bezeichnung hebräisch סֵפֶר תְּהִלִּים sefær təhillîm war bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. bekannt; der früheste Beleg ist das Qumran-Manuskript 4Q491. Gemeint war damit eine Schriftrolle (sefær) mit einigen Psalmen, nicht unbedingt die Zusammenstellung von 150 poetischen Texten, wie sie der Masoretische Text bietet. Der unregelmäßige männliche Plural hebräisch תְּהִלִּים təhillîm geht auf die weibliche Singularform hebräisch תְּהִלָּה təhillāh zurück, mit der jedoch allein Psalm 145 überschrieben ist. Zur Wahl der Bezeichnung təhillîm für die gesamte Textsammlung hat möglicherweise der vom selben Wortstamm hebräisch הלל hll „preisen“ abgeleitete populäre liturgische Kehrvers Halleluja (hebräisch הַלְּלוּיָהּ halləlûjāh) beigetragen. Die Charakterisierung der Einzeltexte als hebräisch תְּהִלָּה təhillāh „Rühmung, Lobpreis, Lobgesang“ ist nicht unmittelbar plausibel, da der vordere Teil des Buchs viele Klagepsalmen enthält. Er erschließt sich durch die Gesamtkomposition, die nach Bernd Janowski einen „Erfahrungsweg“ von der Klage zum Lob abschreitet.Die in der christlichen Tradition übliche Bezeichnung Buch der Psalmen geht zurück auf altgriechisch ψαλμός psalmós „Saitenlied“ vom Verb ψάλλειν psállein, „ein Saiteninstrument spielen“. Als die Hebräische Bibel in hellenistischer Zeit ins Griechische übersetzt wurde (Septuaginta), wählte man dieses Wort zur Wiedergabe von hebräisch מִזְמוֹר mizmôr „kantilierender Sprechgesang mit Saitenspielbegleitung“, mit dem 57 der 150 Psalmen überschrieben sind. Unter den großen spätantiken Septuaginta-Handschriften hat der Codex Vaticanus den Buchtitel altgriechisch ψαλμοί psalmoí „Saitenlieder“, der Codex Alexandrinus dagegen altgriechisch ψαλτήριον psaltḗrion, was hier wohl „Sammlung von Saitenliedern“ bedeutet. Hinter diesen Benennungen steht das Bild des ein Saiteninstrument spielenden David (vgl. 1 Sam 16,23 ). Er galt als Psalmdichter schlechthin.In jüdischen Bibelausgaben befindet sich das Psalmenbuch im dritten Hauptteil, den „Schriften“ (Ketuvim), und dort meist am Anfang – die Abfolge der einzelnen biblischen Bücher ist aber nicht ganz festgelegt. Im christlichen Alten Testament gehört das Psalmenbuch zur Weisheitsliteratur und steht dort nach dem Buch Hiob/Ijob an zweiter Stelle.
== Entstehungszeit und -ort ==
Die Datierung der Einzelpsalmen ist mit großen Unsicherheiten behaftet. In ihrer jetzigen Textgestalt stammen die meisten Psalmen wahrscheinlich aus der Zeit des Zweiten Tempels (Perserzeit bis hellenistische Zeit bzw. 6.–2. Jahrhundert v. Chr.). Für eine Reihe von Psalmen wird aber eine ältere Vorform vermutet. Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld machen hierzu folgende Vorschläge: Die Königspsalmen (Psalm 2, 18, 21, 45, 72 und 110) könnten aus den Feierlichkeiten bei der Einsetzung eines neuen Königs in Jerusalem stammen. Psalmen, die den Tempel als königliche Residenz JHWHs feiern (Psalm 24, 29, 93) können ebenso aus dem vorexilischen Jerusalemer Kult stammen wie die Zionshymnen (Psalm 46, 47, 48, 76). Die älteste Fassung von Psalm 80 könnte sich auf den Untergang des Nordreichs Israel 722 v. Chr. beziehen, Psalm 74 die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 586 v. Chr. beklagen. Bei anderen Psalmen gibt es Indizien, die für eine späte Entstehung sprechen. So setzen die Psalmen 105 und 106 möglicherweise den Pentateuch in seiner Endgestalt voraus und wären dann erst nach 400 v. Chr. verfasst worden. Einige Psalmen sind Neubearbeitungen von ebenfalls im Psalter vorhandenen Psalmen und entsprechend jünger. Beispielsweise ist Psalm 144 eine Relecture von Psalm 18 unter Benutzung der Psalmen 8 und 139.
== Psalmen als Poesie ==
Psalmen tragen die Kennzeichen hebräischer Poesie. Diese hat Ähnlichkeit mit ugaritischer, akkadischer und sumerischer Poesie und unterscheidet sich von Lyrik in europäischen Sprachen.Neben lautlichen Phänomenen (Assonanzen, Reime) ist der Parallelismus membrorum (lateinisch: „Parallelität der Versglieder“) ein Strukturmerkmal des Verses. Als „Vers“ gilt dabei eine zwei-, seltener dreigliedrige Einheit. Diese Glieder werden als Kolon (Plural: Kola) bezeichnet (Bikolon: zweigliedrig, Trikolon: dreigliedrig). In der Literatur zu Psalmen begegnet auch der Begriff Stichos, der uneinheitlich für einen Vers oder Halbvers gebraucht wird.
=== Parallelismus membrorum ===
Einen Parallelismus membrorum erkennt man daran, dass einzelne Elemente der Kola einander formal und inhaltlich so entsprechen, dass daraus eine Sinneinheit – der Vers – entsteht. Die Art der Entsprechung kann unterschiedlich sein; diese Beobachtung nutzte Robert Lowth 1778 zu einer Typologie der hebräischen Poesie. Der Parallelismus membrorum ist eine Konvention (nicht nur) der hebräischen Versdichtung, wird aber gern auch anthropologisch gedeutet: Dahinter stehe die Erfahrung, dass sich die Realität nicht direkt erfassen lasse, sondern aus zwei verschiedenen Perspektiven oder durch Hinzunahme des Gegenteils betrachtet werden sollte.Heute unterscheidet man fünf Typen von Parallelismen, die im Psalter vorkommen:
synonymer Parallelismus;
synthetischer Parallelismus;
antithetischer Parallelismus;
parabolischer Parallelismus;
klimaktischer (auch: repertierender oder tautologischer) Parallelismus.Synonymer Parallelismus
Beispiel:
„Mensch“ und „Adamskind“ entsprechen sich ebenso wie „gedenken“ und „sich kümmern.“ Anstelle der Form A B // A’ B’, die hier gewählt wurde, kann der synonyme Parallelismus auch chiastisch gebaut sein: A B // B’ A’. Der poetische Reiz besteht darin, die feinen Unterschiede zwischen beiden Versteilen wahrzunehmen.Synthetischer Parallelismus
Beispiel:
Der zweite Versteil führt den ersten ergänzend fort, ohne dass parallele Elemente festgestellt werden können. Es ist also eigentlich kein „Parallelismus“. Trotzdem hat sich die von Lowth begründete Klassifizierung derartiger sequenziell gebauter Verse als Parallelismus bewährt.Antithetischer Parallelismus
Beispiel:
„Aufhelfen“ und „erniedrigen“ sind Gegensätze, ebenso wie „Arme“ und „Frevler“. Wer dieses letztere Gegensatzpaar erkennt, hat damit auch eine inhaltliche Botschaft verstanden: Arme Menschen sind moralisch positiv qualifiziert.Parabolischer Parallelismus
Beispiel:
Im ersten Kolon findet sich die Bildhälfte, im zweiten die Sachhälfte eines Vergleichs.Klimakterischer Parallelismus
Beispiel:
Dieser Parallelismus, meist ein Trikolon, entwickelt einen Gedanken stufenartig weiter und wiederholt dabei das Schlüsselwort (hier: „Wasserströme“). Er ist im Psalter relativ selten, aber in poetischen Texten aus Mesopotamien häufig anzutreffen.
=== Hebräische Metrik ===
Dass der Parallelismus membrorum so hervortritt, liegt auch daran, dass die Lautgestalt der Psalmen und damit Alliteration, Rhythmus und Reim nicht sicher rekonstruierbar sind, da der hebräische Konsonantentext erst im Frühmittelalter mit Vokal- und Akzentzeichen versehen wurde. Man weiß also nicht, wie die Psalmen zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben.
Nach Klaus Seybold lassen sich mit Hilfe des akzentuierenden Systems (Hauptakzent auf jedem Wort) in den Psalmen mehrere Rhythmen „leidlich“ wahrnehmen:
Metrum des Weisheitsspruchs (Maschal), sehr häufig: 3+3;
Staccato-Vers, als Zweier oder Vierer: 2+2/4+4;
Metrum der Totenklage (Qina): 3+2. Hier ein Beispiel des „hinkenden“ Qina-Metrums: „Gefallen ist, nicht steht wieder auf / die Jungfrau Israel.“ Am 5,1 Klangliche Beobachtungen am Text eines Psalms erhalten dann besonderes Gewicht, wenn sie mit formalen und inhaltlichen Beobachtungen übereinstimmen. So steht Ps 90,11-12 inhaltlich und formal im Zentrum von Psalm 90, und ausgerechnet hier begegnen Sprachrhythmus und Endreim:
=== Struktursignale ===
Innerhalb des Psalms gruppieren sich die Verse (Bi-, seltener Trikola) auf verschiedene Weise. Ein Vers kann mehrmals wiederholt und so zum Refrain werden, der Strophen markiert. Psalm 119 teilt sich in Strophen zu je acht Versen, die jeweils mit dem gleichen Buchstaben beginnen. So geht dieser lange Psalm von Alef bis Taw das gesamte hebräische Alphabet durch. Weitere Beispiele für alphabetische Akrosticha sind die Psalmen 9/10, 25, 111, 112. Den Beginn einer neuen Strophe können Tempuswechsel, Wechsel der Sprechrichtung oder Signalwörter (zum Beispiel: hebräisch אך ’akh „fürwahr“, hebräisch ועתה wə‘attāh „und nun“, hebräisch ואני wa’ǎnî „ich aber“) andeuten; oft kommen mehrere dieser Struktursignale zusammen.
== Musikalische Aufführung ==
Eine Instrumentalbegleitung des Psalmgesangs wird in den Psalmen selbst häufig erwähnt, in erster Linie mit gezupften oder geschlagenen Saiteninstrumenten. Auch Handpauke (mehr für Umzüge und Tänze) und Langflöte kommen vor. Man kann aber nicht direkt von der Nennung der Instrumente auf die Kultmusik im Tempel rückschließen, wie Psalm 150 illustriert. Eröffnet vom Signalton des Schofar, vereinen sich im großen Finale des Psalters kultische und profane Musikinstrumente zu einem imaginären Orchester als Begleitung für das vielstimmige, gesungene Gotteslob.Die Psalmenüberschriften enthalten Angaben zur Aufführungspraxis, diese sind allerdings dunkel. Ansatzpunkt für die Interpretation ist, dass einige der Fachbegriffe im 1. Buch der Chronik in einer Liste des Kultpersonals ebenfalls vorkommen: 1 Chr 15,19–21 nennt die Obersänger Heman, Asaf und Etan, die mit bronzenen Zimbeln musizieren, „um zu Gehör zu bringen“ (hebräisch להשׁמיע ləhašmîa‘), und zwei Gruppen von Musikern zweiten Ranges:
eine Gruppe mit Harfen „nach Alamot“ (hebräisch על־עלמות ‘al-‘alāmôt, ebenfalls in der Überschrift von Psalm 46) und
eine Gruppe mit Leiern „auf dem achtsaitigen Instrument“ (hebräisch על־השׁמינית ‘al-haššəmînît, ebenfalls in der Überschrift von Psalm 6 und Psalm 12), „zum Leiten“ (hebräisch לנצח lənaṣṣeaḥ).Das zuletzt genannte „Leiten“ des Gesangs begegnet als Partizip in der Überschrift von 55 Psalmen. Der „Leitende“ wird üblicherweise übersetzt als „Musikmeister, Dirigent, Chormeister.“In 39 Psalmen begegnet, teilweise mehrfach, das Struktursignal Sela (hebräisch סלה sælāh). Es ist wahrscheinlich erst von der Psalterredaktion in den Text eingesetzt worden. Für die Interpretation geht man von dem zugrunde liegenden Verb s-l-h aus, das „aufschütten, erheben“ bedeutet. Versteht man sælāh als musikalischen Fachbegriff, führt dies zu Interpretationen wie: Erheben der Stimme, Pausen- oder Wiederholungszeichen. Der Septuaginta-Übersetzer verstand sælāh als musikalisches Zwischenspiel (altgriechisch διάψαλμα diápsalma). Es ist aber auch möglich, dass es sich um einen Hinweis an den Kopisten handelt, hier einen Zwischenraum zu lassen.
== Form- und Gattungskritik ==
Die Grundidee der Form- und Gattungskritik ist, dass es kulturtypische Textsorten gibt, die man an ihrem Inhalt und an bestimmten äußeren Merkmalen erkennen kann. Um diese Textsorten verstehen zu können, muss man sie von ihrem Anlass her interpretieren. Dieser „Sitz im Leben“ wurde von der Formkritik bei vielen Psalmen im Tempelkult vermutet. Die neuere Forschung ist zurückhaltender darin, den Gottesdienst im Tempel rekonstruieren und Psalmen darin ihren Platz zuweisen zu können. „Vielmehr dient die Gattungsbestimmung der Erschließung sprachlicher und textlicher Phänomene auf der literarischen Ebene.“
=== Forschungsgeschichte ===
Johann Gottfried Herder forderte, die Psalmen in ihrer Eigenart und aus ihrer orientalischen Kultur heraus zu verstehen (Vom Geist der ebräischen Poesie, 1782/83). Wilhelm Martin Leberecht de Wette übernahm in seiner Weimarer Zeit Anregungen Herders: Das Buch der Psalmen definierte de Wette als „lyrische Anthologie“, die einzelnen Psalmen zeigten die menschlichen Emotionen als Reaktion auf das Göttliche (Kommentar über die Psalmen, 1811). De Wette las die Psalmen als Einzeltexte mit ästhetischer Fragestellung und vor dem Hintergrund der Romantik.Im späten 19. Jahrhundert wurden poetische Texte aus Mesopotamien und Ägypten neu erschlossen. Dieses reiche Vergleichsmaterial nutzte Hermann Gunkel, der mit seinem Kommentar zum Psalter und mit seiner postum veröffentlichten Einleitung in die Psalmen (1933, abgeschlossen von Joachim Begrich) eine neue Epoche der Psalmenforschung begründete. Gunkels Typenlehre klassifizierte jeden einzelnen Psalm nach drei Kriterien:
Welche Formensprache wird verwendet?
Von welchen Motiven macht der Verfasser Gebrauch?
Für welchen gottesdienstlichen Anlass wurde der Psalm verfasst?Wenn mehrere Psalmen in diesen drei Kriterien übereinstimmen, sind sie im Sinne Gunkels eine Gattung. So wurde für Gunkel hinter der Vielfalt der Psalmen eine relativ begrenzte Anzahl an Gattungen erkennbar:
Hymnen
Klagelieder des Volkes
Königspsalmen
Klagelieder des Einzelnen
Danklieder des Einzelnen
Kleinere Gattungen: Segens- und Fluchworte, Wallfahrtslied, Siegeslied, Danklied Israels, Legende, Tora
Prophetische Gattungen
Weisheitsdichtung in den Psalmen
Mischungen, Wechselgedichte und Liturgien.Gunkel sah im Psalter ein „Andachts- oder Hausbuch für den frommen Laien“, in die ein Grundbestand bekannter und beliebter Lieder aus dem Gottesdienst aufgenommen worden sei. Fast alle Psalmen seien „für den Privatgebrauch geeignet“, und dies sei im Blick auf das Buch der Psalmen insgesamt „der Annahme eines kultischen Zweckes nicht günstig.“
Sigmund Mowinckel, ein akademischer Schüler Gunkels, interpretierte in seinen Psalmenstudien (1921–1924) die Psalmen dagegen größtenteils als Kultlyrik. Er postulierte ein israelitisches Neujahrsfest, das als Kultdrama (Thronbesteigungsfest JHWHs) begangen worden sei. Im deutschsprachigen Raum wurde die kultgeschichtliche Interpretation stark modifiziert vertreten, unter anderem von Artur Weiser und Hans-Joachim Kraus in ihren jeweiligen Kommentarwerken zum Psalter. Im angelsächsischen und skandinavischen Raum dominierte in der Nachfolge Mowinckels die Kultgeschichtliche Schule: Ein Kreis um Jane Ellen Harrison in Cambridge machte anthropologische (James George Frazer) und soziologische (Émile Durkheim) Ansätze für das Verständnis der griechischen Religion fruchtbar. Die Thesen dieser Cambridge Ritualists wurden in der klassischen Philologie wenig rezipiert, sehr stark dagegen in der alttestamentlichen Wissenschaft (Samuel Henry Hooke: Myth and Ritual, 1933). Im gesamten Vorderen Orient und deshalb auch in der israelitischen Religion gebe es ein gemeinsames mythisch-rituelles Muster, dem die Vorstellung des sakralen Königtums zugrunde liege. Im skandinavischen Raum wurden Mowinckels Impulse von der Uppsala-Schule weiterentwickelt (Geo Widengren u. a.). Obwohl die Form- und Gattungskritik in der Art Gunkels stets ihre Vertreter hatte, war die stärker kultische Deutung der Einzelpsalmen und des Psalters im Verlauf des 20. Jahrhunderts einflussreicher. „Das Psalmenbuch wurde so für weite Teile der Forschung und in der theologischen und kirchlichen Wahrnehmung zum Gesangbuch des Tempels in nachexilischer Zeit.“ Ein klassisches Thema der formgeschichtlichen Psalmendeutung ist die Annahme von Toreinzugsliturgien: Man nahm an, dass Priester den Tempelbesuchern Fragen zu ihrem ethischen und religiösen Verhalten stellten und je nachdem wie die Antworten ausfielen, Zugang zum Tempel gewährten oder verweigerten. Heute wird der Jerusalemer Tempel eher als Hintergrund vieler Psalmen gesehen, ohne diese Texte direkt in hypothetischen Tempelliturgien zu verorten.
Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger rechnen damit, dass Jerusalemer Tempelmusiker Psalmen schufen, die dann im Tempel aufgeführt wurden. Sie erwägen, dass die in Psalmenüberschriften genannten Asaf und Korach bekannte Psalmkomponisten gewesen seien, nach denen sich Schulen von Tempelmusikern benannten. Ob einige der im Psalter enthaltenen Dichtungen nach dem Vorbild der Jerusalemer Tempelmusik verfasst wurden, ohne aber in ihrer jetzigen Form im Tempel aufgeführt worden zu sein (Hossfeld und Zenger), oder ob sie aus dem Tempelkult stammten, aber im Zug der Überlieferung davon gelöst und mit anderen Psalmen kombiniert wurden (Klaus Seybold), ist umstritten. Viele Exegeten stimmen aber darin überein, dass der Psalter nicht das „Kultliederbuch“ des Zweiten Tempels gewesen sei. Beat Weber bezeichnet dieses literarische, nachkultische Verständnis des Psalters als in Kontinentaleuropa vorherrschend. Es werde aber von Autoren herausgefordert, die die kommunikativ-dialogische Struktur der Psalmen stärker betonen und deshalb für ein liturgisches Verständnis dieser Texte plädieren.Viele Psalmen stammen indes aus dem privaten und familiären Kult. Hier schlagen Hossfeld und Zenger vor, dass „Ritualspezialisten“ für Privatpersonen passende Psalmen schufen, die sie ihnen zur Verfügung stellten, eventuell auch für sie vortrugen und anschließend sammelten. Seybold betont, dass die meisten persönlichen Texte nicht als Formulare verfasst worden seien, sondern von Individuen in konkreten Situationen niedergeschrieben und dann als Votivgabe zum Tempel gebracht worden seien. Dort seien sie gesammelt, bearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
=== Psalmengattungen ===
Einige von Gunkel beschriebene Gattungen werden weiterhin zur Interpretation von Psalmen verwendet; interessant sind hierbei die gattungstypischen Elemente: Hymnus, Klage des Einzelnen (abgekürzt: KE), Dank des Einzelnen (DE) und Klage des Volkes (KV). Davon zu unterscheiden ist die Zusammenstellung formgeschichtlich verschiedener Psalmen mit gemeinsamer Thematik (Königspsalmen, JHWH-Königs-Psalmen, Zionspsalmen, Schöpfungspsalmen usw.)
==== Hymnus ====
Beispiel:
In diesem kürzesten Psalm des Psalters ist alles beisammen, was einen imperativischen Hymnus ausmacht: dem Lobaufruf folgt der Hauptteil (Corpus hymni), eingeleitet mit „denn“ (hebräisch כי kî). Im Corpus hymni wird das Gotteslob begründet, indem Gottes Wesen beschrieben wird: die Schlüsselbegriffe sind hebräisch חסד ḥæsæd „Güte, Liebe, Freundlichkeit, Wohlwollen, Barmherzigkeit, Gunst“ (Einheitsübersetzung: „Huld“) und hebräisch אמת ’æmæt „Festigkeit, Beständigkeit; Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Treue“. Ob das abschließende Halleluja als Abgesang zu verstehen ist, kann dabei offen bleiben; einen Abgesang haben nicht alle Hymnen. In den Handschriften wurde dieser kurze Text manchmal Psalm 116 oder Psalm 119 zugeschlagen. Die Gattungsbestimmung liefert dagegen Argumente, den Text als eigenständiges, abgeschlossenes Gedicht zu verstehen.Der „Sitz im Leben“ eines Hymnus ist für die Klassiker der Formkritik der Tempelkult. Man versucht also, einen Anlass zu rekonstruieren, bei dem die Tempelmusiker den kurzen Psalm aufführten. Für die Redaktionskritik (siehe unten) hat Psalm 117 dagegen eine wichtige Funktion in der Psalmkomposition 113–118. Vielleicht wurde er sogar für diesen Zusammenhang geschrieben. Als Hymnus ruft er beim Leser das Bild eines Tempelgottesdienstes auf; dies ist sozusagen sein „literarischer Sitz im Leben“ bzw. „Sitz in der Literatur.“
==== Klagelied des Einzelnen (Individualklage) ====
Mit rund 40 Psalmen ist die Individualklage im Psalter sehr häufig vertreten. Psalm 13 gilt als Musterbeispiel und zeigt die typischen Elemente:
Anrufung Gottes und Klage („Bis wann …?“)
Bitte („Schau her, antworte mir!“), oft mit einer Begründung („denn“, „damit nicht“)Stimmungsumschwung
Vertrauensbekenntnis und LobgelübdeDer Stimmungsumschwung, typisch für die Individualpsalmen, ist ein abrupter Wechsel von der Klage zum Lob und Dank. An dieser Stelle könnte dem Beter die Erhörung seiner Bitte zugesprochen worden sein (vgl. Klgl 3,57 ); wie man sich das vorstellt, hängt von Hypothesen über den institutionellen Rahmen ab, in dem die Individualklagen gebetet wurden. Uwe Rechberger plädiert dafür, den traditionellen Begriff „Stimmungsumschwung“ durch den offeneren Begriff „Wende“ zu ersetzen: zum einen, weil es nicht um ein punktuelles Ereignis gehe, sondern um einen Weg von der Klage zum Lob, den der Beter des Textes geführt werde (und wozu er den Psalm möglicherweise wiederholt durchbete), zweitens, weil die subjektive Gestimmtheit ein neuzeitliches Phänomen sei.
==== Danklied des Einzelnen ====
Dieser Gattung lassen sich rund 20 Psalmen zuweisen. Im Hintergrund steht, dass mit den Ritualen des Tempels unter anderem eine Reintegration des Einzelnen in die Gemeinschaft ermöglicht wurde: hebräisch תודה tôdāh bedeutet sowohl „Danklied“ als auch „Dankopfer.“ Dankbare Einlösung eines Gelübdes, Darbringung eines Opfertiers und anschließendes Festmahl mit dem Fleisch des geschlachteten Tieres bilden eine „kommunikative Situation“, die in einigen Psalmen dieser Gattung anklingt. Gattungstypische Elemente sind: Auf die Anrede Gottes als „Du“ folgt die Erzählung, wie Gott („er“) geholfen hat. Quasi als Zitat aus einem Klagepsalm, kann dabei die frühere Notsituation in Erinnerung gerufen werden.
==== Kollektiver Klage- und Bittpsalm ====
Eine kollektive Größe („Volk“) tritt bei dieser Gattung an die Stelle des Einzelnen und beklagt politische Katastrophen, wie die Zerstörung Jerusalems und des Tempels (Beispiel: Psalm 79). Die Gliederung ist mit der Individualklage vergleichbar:
Anrufung Gottes und Klage;
Bitte, oft mit einer Begründung;
Vertrauensbekenntnis und Lobgelübde.In kollektive Klage- und Bittpsalmen werden verschiedene Strategien verfolgt, um JHWH zum Eingreifen zu bewegen:
Die Beter erinnern sich an Gottes machtvolle Taten in der Vergangenheit und kontrastieren sie mit der Gegenwart, schöpfen daraus aber auch Hoffnung auf eine zukünftige Rettung. JHWH handelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Heilsgeschichte).
JHWH wird an seinen Namen und seine Ehre erinnert. Wenn die Feinde über Israel spotten, trifft das auch Israels Gott.
Die Gemeinde legt ein Sündenbekenntnis ab oder, alternativ, beteuert ihre Unschuld.Ein Text aus der prophetischen Überlieferung, Joel 1–2, zeigt in wenn auch stilisierter Form, wie eine Klagefeier ablief. In Bezug auf die kollektiven Klagepsalmen wird diskutiert, ob sie auch in eine derartige Liturgie eingebettet waren und ein Prophet nach dem Psalm ein Orakel verkündete. Sumerische, babylonische und hethitische Texte enthalten vergleichbare Liturgien.
== Themen ==
Gerhard von Rad charakterisierte die Psalmen als „Antwort Israels“ auf seinen Gott. Die Psalmen sprechen im Rahmen dieser „Antwort“ Grundfragen der Anthropologie an sowie die Themenfelder Tempel und Kult, Kosmos und Chaos, Schöpfung und Geschichte.
=== Menschenbild ===
Das Menschenbild der Psalmen ist dadurch gekennzeichnet, dass die großen inneren Organe des Menschen zwar bekannt waren, ihre anatomische Funktion aber nicht. Sie wurden daher als Sitz verschiedener Emotionen verstanden. Das Herz hat eine Sonderstellung. Denn es steht zwar auch für vegetative Prozesse und freudige oder ängstliche Erregung (was durch Wahrnehmung des Herzschlags ja naheliegt), vor allem aber wurden hier Denkprozesse verortet: Erinnern und Erkennen einerseits, Planen und Wollen andererseits. Die Nieren bilden unter den Organen eine Art Gegenpol zum Herzen; sie stehen für die verborgensten Impulse des Menschen.Die Nefesch (hebräisch נֶפֶשׁ næfæš) ist ein für die Anthropologie der Psalmen zentraler Begriff, der oft mit Seele übersetzt wird, zutreffender aber (nach einem Vorschlag von Horst Seebass) als „die Vitalität, die Lebensenergie, die Lebenskraft“ zu verstehen ist. Besonders deutlich wird dies in Psalm 42, wo die leidende Nefesch metaphorisch mit einer dürstenden Hirschkuh verglichen wird.
Es ist beim Lesen der Psalmen oft schwer zu entscheiden, ob da ein kranker Mensch spricht, der deswegen von seinen Mitmenschen missachtet wird, oder ein sozial angefeindeter Mensch, der darauf mit körperlichen Symptomen reagiert. „Leibsphäre und Sozialsphäre, Körperbild und Sozialstruktur entsprechen sich.“ Die Individualklagen thematisieren immer wieder den sozialen Tod: Anfeindung, Missachtung, Einsamkeit. Diese Erfahrung von Desintegration wird in den Klagepsalmen als Todesnähe bezeichnet, und wenn keine Wende zum Besseren eintritt, ist letztlich auch der biologische Tod zu erwarten.Eine individuelle Biografie der klagenden Person wird nicht erkennbar, die Sprache bleibt generalisierend und typisierend. Das unterstützt ihre „Nachsprechbarkeit“.
=== Feinde des Beters ===
Ein Sonderproblem, das vor allem die individuellen Klagepsalmen betrifft, ist die Art, wie in diesen Texten von den Feinden des Beters die Rede ist. Der oder die Feinde wollen nicht irgendetwas vom Beter, was auch teilweise berechtigt sein könnte; sie wollen ihm ans Leben. Das wirkt auf moderne Leser möglicherweise übertrieben. In Zusammenstellungen von Psalmen für den christlichen Gottesdienst (Gesangbücher, Antiphonale) werden Verse mit Feindklagen auch deshalb gern ausgelassen. Exegeten vermuten, dass die antiken Verfasser dieser Texte eine Erlebnisweise hatten, bei der Innen- und Außenwelt ineinanderflossen. Othmar Keel spricht von einem „projektiv-partizipativen Ich“: die äußere Wirklichkeit werde vom Beter nicht objektiv wahrgenommen, sondern auf das hin interpretiert, was sie bei ihm auslöst. Er hat Angst und fürchtet, von etwas Unheimlichen überwältigt zu werden. Hier begegnen mehrere Metapherngruppen: wilde Tiere (Beispiel: Löwen, Wildstiere, streunende Hunde in Psalm 22), verborgene Fallen (Grube, Netz) und Worte, die wie Waffen sind. Der Mensch, der so denkt, ist ganz in die umgebende Natur und in die Gemeinschaft, der er angehört, eingebunden. Das macht ihn besonders verletzlich. Die an Gott gerichtete Klage ist eine Möglichkeit, mit dieser Bedrohtheit umzugehen.Die Interpretation Keels tendiert dahin, die Aggressivität der Feinde als fiktiv zu betrachten; zwar hat das Ich Feinde, aber was die Psalmen ihnen an Absichten zuschreiben, ist Produkt der eigenen Imagination. Dagegen betont Dorothea Erbele-Küster: „Die Feindzitate geben den realen Ängsten und Gewalterfahrungen des Beters Ausdruck.“ Indem er seine Klage JHWH vorträgt, vertraut der Psalmbeter sich der Gerechtigkeit Gottes an und überlässt Gott, auf welche Weise die Feinde unschädlich gemacht werden. Das wird meist nicht ausgemalt und impliziert einen Verzicht auf eigene Vergeltung; insofern ist die Bezeichnung als „Rachepsalmen“ unzutreffend.
=== Rettung vom Tod ===
Da JHWH ein Gott des Lebens ist, müsste es in seinem Interesse sein, den Beter aus dem Bereich des Todes herauszureißen, denn mit ihm verlöre er ja einen Zeugen seiner Güte und Treue. Die Rettung vom Tod, die in den Psalmen teils erhofft, teils erzählt wird, meint die Rückkehr zur Fülle des Lebens und die Reintegration in die Gesellschaft. Auferstehung ist kein Thema der Psalmen, wohl aber ihrer Wirkungsgeschichte.
=== Kosmos und Chaos ===
Das den Menschen bedrohende Chaos hat viele Formen: „Gräber, Zisternen, … Schluchten mit plötzlich hereinbrechenden Wassern, vom Sturm aufgewühlte Meere und weglose, ausgeglühte Wüsten sind Bereiche, aus denen Jahwe den Menschen … zwar herausholen kann, in denen er aber nur beschränkt gegenwärtig ist und die deshalb das Elend abbilden können, das dem Menschen aus irgendeiner Art der Gottverlassenheit erwächst.“Der Tempel war der Ort der Lebensfülle, wo JHWH als Schöpfer und König erfahrbar wurde. Die Rituale des Tempels wiederholten den urzeitlichen Sieg der Gottheit über das Chaos und festigten so den Kosmos. Wie insbesondere Psalm 72 zeigt, war das Königtum mit einer Aura des Heils umgeben. Als Repräsentant der Gottheit schrieb man dem König zu, soziale Gerechtigkeit zu schaffen und die Natur fruchtbar zu machen.
=== Weisheit und Weisung (Tora) ===
Die Form- und Gattungskritik versuchte seit Gunkel, Weisheitspsalmen als eigene Gattung zu identifizieren, doch wurde hierbei kein Konsens erreicht. Eine weisheitliche Prägung zeigen akrostichische (nach dem Alphabet geordnete) Psalmen, Tora-Psalmen und anthologische Psalmen; letztere stellen Zitate aus der Tora und den Prophetenbüchern zusammen. In persischer und hellenistischer Zeit wurde der Tun-Ergehen-Zusammenhang neu reflektiert und begründet, da er nicht mehr evident war („Krise der Weisheit“); in dieser Zeit wurden auch viele Psalmen verfasst und fanden die Redaktionsprozesse statt, an deren Ende der Psalter stand. Im Psalter finden sich daher auch die Themen der späten Weisheitsliteratur. Ein Trend ist die Konvergenz von Weisheit und Tora. Die mit der Tora identifizierte oder sich in der Tora inkarnierende kosmische Weisheit war für Ben Sira die Brücke zwischen Mensch und Gott. Das Buch der Psalmen ist sozusagen auf dem Weg dorthin.
Psalm 1 und Psalm 119 bieten eine „weisheitliche Lesehilfe“ für das Buch der Psalmen als Ganzes. „So wird Weisheit in ihrer späten Form vor allem zur Frömmigkeit: Leben in Weisheit ist Gotteslob (vgl. Ps 119,1–8; Prov 1,1–7; Sir 51,13ff.) und bewährt sich in jeder Lebenssituation.“ Psalm 1 fällt durch seine Position am Buchanfang auf, Psalm 119 durch seine beispiellose Länge (176 Verse). „Im strengen Sinne stellt allein Ps 119 das Torameditiationsbuch dar, das von Ps 1 eingeleitet wird.“ Dabei bleibt dieser überlange Psalm gegenüber seinen Nachbarpsalmen eigentümlich isoliert. Der Beter steht ebenfalls allein da, in beiden Psalmen: von Frevlern und Feinden bedrängt, wendet er sich an seinen Gott, den er häufig als „du“ anredet. Ein Kollektiv, das ihn tragen könnte (Gemeinde, Israel), ist nicht erkennbar. Umso mehr vertieft er sich in die Tora, das Wort Gottes.Das Problem, dass es den Frevlern häufig gut geht und den Gerechten schlecht, lösen viele Psalmen ebenso wie das biblische Buch der Sprichwörter durch „zeitliche Zerdehnung“ des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, so zum Beispiel Psalm 37: Am Ende werde man sehen, dass der Frevler scheitert und der Gerechte Bestand hat. Einige späte Psalmen gelangen zu einer existenziellen Lösung – die Nähe Gottes wiege alles andere auf (Psalm 73). In der späten Weisheit finden sich Reflexionen über den Tod, der auch für den Weisen unausweichlich ist. Einige Spitzensätze in den Psalmen formulieren eine Hoffnung über die Todesgrenze hinaus, weil „weises Leben von JHWH auch über den Tod hinaus anerkannt wird“ (vgl. Ps 49,14–16 , Ps 37,38–39 , Ps 73,23–24 ).
== Der Psalter als Buch ==
=== Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Psalters ===
Die Entstehungsgeschichte des Psalters ist komplex. Im Folgenden wird das von Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld vertretene Modell referiert.
Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurden erste kleine Sammlungen von individuellen Klage-, Bitt- und Dankliedern angelegt. Sie teilen die Vorstellung, dass JHWH als Beschützer der Armen in seinem Tempel gegenwärtig sei und der Beter dort wie zu einer Audienz erscheine und ihm seine Notlage vortrage. Diese Sammlungen wurden im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert von einer Redaktion im Sinne der „Armenfrömmigkeit“ überarbeitet; „Armut“ bezeichnete nicht mehr (nur) wirtschaftliche Not, sondern vor allem eine religiöse Haltung. Der Aspekt „Vertrauen auf JHWH“ wurde stärker herausgearbeitet. Am Ende dieser Entwicklung steht der Davidspsalter I (Psalm 3–41).
Ebenfalls im 6. Jahrhundert entstand eine Psalmensammlung, die durch Kriegsmetaphorik gekennzeichnet ist. Die Bedrohung des Ich durch anstürmende Feinde nimmt dramatisch zu, ebenso das Vertrauen des Ich auf Gott als feste Burg und Retter. Dieser Grundbestand wurde im 5. Jahrhundert in den Asafitischen Psalter (Psalm 50–83) integriert. Ein bereits vorhandener Korachpsalter (Psalm 42–49) wurde davor gesetzt, und dadurch entstand der Elohistische Psalter (Psalm 42–83), benannt nach der Gottesbezeichnung Elohim. Im Vergleich zu Psalmen, die den Gottesnamen JHWH verwenden, kennzeichnet den Elohistischen Psalter ein mehr distanziert-transzendentes, aber auch universalistisches Gottesbild.
Im 5. Jahrhundert wurde dann der Davidspsalter I und der Elohistische Psalter vereinigt, am Ende ergänzt um einige weitere Korachpsalmen. Diese Komposition wurde durch Psalm 2 (nur Verse 1–9) und Psalm 89 gerahmt; nach dem Stichwort „Gesalbter“ (hebräisch משיח māšiaḥ), das in beiden Rahmenpsalmen erscheint, bezeichnen Hossfeld und Zenger diese Psalmkomposition als Messianischen Psalter (Psalm 2–89). Doxologien wurden am Ende der Psalmen 41, 72 und 89 hinzugefügt; sie gliedern die Komposition in drei Teile. Zwischen den Psalmen 89 und 90 (im heutigen Psalmbuch) besteht eine tiefe Zäsur.
Psalm 89 beklagte das Scheitern der davidischen Dynastie, und mit diesem Schlusspunkt sollte der Psalter nicht enden. So wurden die Psalmen 90–92 sowie 93–100 dagegen gesetzt, die anstelle der gescheiterten Davididen das Königtum JHWHs proklamieren. Psalm 100 ist das Ziel dieser Komposition: zusammen mit Israel ist die ganze Menschheit aufgefordert, JHWH im Jerusalemer Tempel zu huldigen. Diese Komposition (Psalm 2–100) wächst im späten 5. / frühen 4. Jahrhundert weiter durch Anfügung von relativ jungen Psalmgruppen, darunter der Davidspsalter IV (Psalm 108–110), die Zwillingspsalmen 111/112 und 135/136, das Pessach-Hallel (Psalm 113–118), den Wallfahrtspsalter (Psalm 120–134).
Um 300 v. Chr. wurde eine Redaktion tätig, die den Psalter ganz auf die ideale Gestalt König Davids ausrichtete. Sie setzte Psalm 1 neu an die Spitze (der seliggepriesene „Mann“ in dieser programmatischen Eröffnung war David) und erweiterte Psalm 2 so, dass der König auf dem Zion zum Toralehrer für alle Völker wurde. Die gesamte Psalmkomposition umfasst nun Psalm 1 bis 145 und wurde in fünf Teile geteilt, analog zur Tora des Mose.
Im 2. Jahrhundert v. Chr. fügte die Schlussredaktion das große Finale (Psalmen 146–150) mit seinen wiederkehrenden Halleluja-Rufen hinzu. Die abschließende Form des Psalmbuchs wurde nach Hossfeld und Zenger etwa zur Zeit des Ben Sira (175 v. Chr.) erreicht.Während Hossfeld und Zenger den Psalter als planvolle Komposition verstehen, wird dies von anderen Autoren in Frage gestellt. Beispielsweise urteilt Eva Mroczek, dass die Textvielfalt der Schriftrollen vom Toten Meer das übliche Bild eines strukturierten, stabilen Buchs der Psalmen erschüttere. Viel eher sei der Psalter „eine literarische Landschaft überlappender Textcluster und wachsender Archive.“
=== „Davidisierung“ des Psalters ===
Zwar könnte eine Autorschaft Davids dadurch historisch plausibel erscheinen, da im Tanach auch außerhalb des Psalters von David als „Leierspieler“ (1 Sam 16,17–23 ) und „Dichter“ (2 Sam 17,17–23 ) gesprochen wird; in der Exegese werden diese Überschriften aber meist nicht als historisch auswertbare Hinweise auf Davids Verfasserschaft verstanden.
Im Endtext des hebräischen Psalters tragen 73 Psalmen die Überschrift hebräisch לדוד lədawid „von/für David“. In der antiken Übersetzung ins Griechische, der Septuaginta, sind 83 Psalmen David zugeschrieben, was einen Trend anzeigt. Bei 13 Psalmen des hebräischen Textes liefert die Überschrift zusätzliche Angaben zur Verbindung des Psalms mit Situationen aus Davids Leben, wie es im Buch Samuel erzählt ist; diese Angaben waren nach Hossfeld und Zenger zunächst Identifikationsangebote für den Leser: David war oft in großer Not und hat gebetet; der (antike) Leser kann es ihm gleichtun und dazu Davids Gebete nutzen. Später wurden sie als Autorenangaben verstanden. In einem nächsten Schritt wurde der ganze Psalter unter die Autorschaft Davids gestellt und als sein „geistliches Tagebuch“ gelesen. Die Psalmen 69 bis 71 am Ende des zweiten Davidspsalters beispielsweise bilden eine kleine Gruppe, die David als leidenden, alten König zeigen, der mit Psalm 72 als eine Art Vermächtnis seinem Sohn Salomo übergibt, was durch das Kolophon Ps 72,20 unterstrichen wird.
=== Zählung der Psalmen und Verse ===
In der Abschlussphase des Psalters legten die Redaktoren offensichtlich Wert darauf, die Zahl von 150 Psalmen zu erreichen. Die griechische Version (Septuaginta) teilt die Einzelpsalmen mehrfach anders ab als der Masoretische Text, kommt aber am Ende trotzdem auf 150 Psalmen. Sie hat einen Psalm 151 und kennzeichnet diesen explizit als „außerhalb der Zählung“ stehend.
Die in der Westkirche im Mittelalter maßgebliche lateinische Vulgata folgt der Septuaginta-Zählung der Psalmen. Die Psalmnummerierung der Vulgata wurde von älteren katholischen Bibelübersetzungen übernommen. Evangelische Bibeln zählen wie der Masoretische Text, den Martin Luther seiner Übersetzung zugrunde legte. Dem schlossen sich die katholische kirchenamtliche Einheitsübersetzung 1980 sowie die 1979 herausgegebene Nova Vulgata an. In offiziellen Büchern der römisch-katholischen Liturgie werden die Psalmnummern meist in der Form Ps 51(50) oder Ps 50(51) angegeben. Die höhere Nummer bezieht sich immer auf die vorlaufende hebräische Zählung.Bei der Nummerierung der Verse eines Psalms unterscheiden sich englischsprachige Bibeln von heutigen deutschen Übersetzungen dadurch, dass sie den Überschriften im Urtext keine Versnummer zuteilen. Ist die Überschrift mindestens einen ganzen Vers lang, bleibt so die Versnummer in der englischen Bibel um 1 oder 2 hinter der anderen Nummerierung zurück. Betroffen sind 62 Psalmen, drei davon (51, 52, 60) mit einer Differenz von 2. Siehe dazu: Bibelvers#Nicht eindeutige Versangaben.
== Antike Übersetzungen des Psalters ==
=== Griechisch ===
Wahrscheinlich in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde das Buch der Psalmen ins Griechische übersetzt. Aktualisierungen im Text sprechen dafür, dass dies im Reich der Hasmonäer geschah und in Kreisen, die ihnen nahestanden. Als Entstehungsort ist daher Jerusalem anzunehmen. Die Unterschiede zum Masoretischen Text sind wohl nicht durch eine abweichende hebräische Vorlage zu erklären. Ob der Septuaginta-Psalter von einem Übersetzer oder eine Gruppe angefertigt wurde, ist nicht entscheidbar. Das Werk wirkt jedenfalls einheitlich. Sprachlich war die bereits vorliegende griechische Übersetzung des Pentateuch vorbildhaft. Der Septuaginta-Psalter gebraucht ein Vorzugsvokabular, indem mehrere hebräische Worte durch das gleiche griechische Wort übersetzt werden. Das ist auch eine Folge davon, dass Bedeutungsnuancen des Hebräischen nicht erkannt wurden. Manchmal scheint dem Übersetzer der Sinn nicht klar gewesen zu sein („Verlegenheitsübersetzung“). Wenn Metaphern wie Fels, Schild, Burg durch Gott, Stärke, Helfer übersetzt werden, zeigt sich darin wohl ein stärker transzendentes Gottesbild.
=== Lateinisch ===
Im westlichen Mittelmeerraum fertigten Christen schon früh lateinische Übersetzungen griechischer Evangelien- und Psalmentexte an. Wie Augustinus von Hippo kritisierte, versuchten sich viele daran, die beide Sprachen mehr schlecht als recht beherrschten. Die Besonderheit des Psalters besteht darin, dass sich die Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen in diesem Fall nicht gegen ältere lateinische Übersetzungen aus dem Griechischen (Vetus Latina) durchsetzen konnte, sondern über das ganze lateinische Mittelalter drei Hauptversionen des Psalters koexistierten:
Psalterium Romanum: die stadtrömische Version der Vetus Latina;
Psalterium Gallicanum: Hieronymus’ Revision des lateinischen Psalters auf Grundlage des griechischen Textes,
Psalterium iuxta Hebraeos (auch: Psalterium Hebraicum): Hieronymus’ Neuübersetzung der Psalmen aus dem Hebräischen.Hieronymus fertigte 384 in Rom eine nach eigenen Angaben „flüchtige“ Korrektur des lateinischen Psalters an, indem er ihn mit einem Septuaginta-Psalter abglich. Beim Psalterium Romanum, dem damals an St. Peter in Rom verwendeten Psaltertext, handelt es sich möglicherweise um den Text, der Hieronymus vorlag, aber nicht um das Ergebnis seiner Bearbeitung. Dieses ist vielmehr bis auf einige Zitate in seinem Psalmenkommentar verloren. Hieronymus zog später nach Bethlehem und machte sich hier zwischen 389 und 392 noch einmal an die Korrektur des lateinischen Psalters. Er benutzte jetzt die Hexapla des Origenes als griechische Vorlage. Das Ergebnis dieser Revision ist das später so benannte Psalterium Gallicanum (eigentlich Liber Psalmorum iuxta LXX emendatus). Hieronymus wurde zunehmend auf die Unterschiede zwischen hebräischem und griechischem Bibeltext aufmerksam, die nicht nur mit Irrtümern der Kopisten erklärt werden konnten. Aus Hieronymus’ Sicht war der hebräische Text inspiriert, ein abweichender griechischer Text daher fehlerhaft (Prinzip der Hebraica Veritas), und er begann um 390 damit, die gesamte Hebräische Bibel neu ins Lateinische zu übersetzen. Gegen Kritik an seinem Übersetzungsprojekt betonte Hieronymus, seine um 392 entstandene Neuübersetzung der Psalmen iuxta Hebraeos (auch bezeichnet als Psalterium Hebraicum) sei eher für Gelehrte gedacht als für die Verwendung in der Liturgie. Insbesondere sei dieser Text für die Missionierung von Juden nützlich, die mit dem griechischen Bibeltext nicht von der christlichen Lehre überzeugt werden könnten.Das Psalterium Romanum war in Europa bis in die Karolingerzeit weit verbreitet, mit Ausnahme von Spanien, wo der sogenannte Mozarabische Psalter gebraucht wurde (der dem römischen Psalter sehr nahe steht), und der Gegend von Mailand (Ambrosianischer Psalter). Als Alkuin dann aber im 8. Jahrhundert eine Kollationierung und Korrektur des lateinischen Bibeltextes in Auftrag gab, war es das im gallikanischen Ritus verwendete (und deshalb so benannte) Psalterium Gallicanum, das in die maßgeblichen Vulgata-Codices aufgenommen wurde. Vorbildlich waren insbesondere die in Tours geschriebene Alkuin-Bibeln. Hieronymus’ Psalmenübersetzung aus dem Hebräischen wurde in der Liturgie nicht verwendet, aber in mittelalterlichen Vollbibeln (Pandekten) überliefert. Es gab außerdem Psalterausgaben wie den Eadwine-Psalter (Foto), die die verschiedenen lateinischen Psalmübersetzungen in zwei oder drei Spalten nebeneinander boten. Während sich in Irland das Psalterium Gallicanum wie auf dem Kontinent allgemein durchsetzte, brachte Augustinus von Canterbury († um 604) das Psalterium Romanum nach England, und es blieb dort bis zum 10. Jahrhundert der liturgische Standardtext. Da das Psalterium Romanum in vor-karolingischer Zeit in den Klöstern intensiv gebraucht worden war, blieben davon Spuren, auch nachdem das Psalterium Gallicanum an seine Stelle trat: die älteren Formulierungen hielt sich in Antiphonen und Kollektengebeten, wo die Melodie dazu beitrug, den vertrauten Wortlaut zu bewahren.Die hebräischen Psalmenüberschriften, an sich schon schwer verständlich, waren durch die Übersetzungen ins Griechische und dann ins Lateinische noch kryptischer geworden. Sie galten in einigen christlichen Traditionen nicht als Bibeltext im eigentlichen Sinn, so wurden sie in der syrischen Kirche komplett durch neue Überschriften auf Grundlage des Kommentars von Theodor von Mopsuestia ersetzt. Etwas Ähnliches geschah in der lateinischen Westkirche. In den lateinischen Psaltermanuskripten erhielten die Einzelpsalmen Überschriften (tituli psalmorum), die den Gebrauch der Texte als Gebete erleichtern sollten, indem sie den Sprecher oder das Thema des Psalms benannten.In der Reformationszeit entstanden zwar Psalterübersetzungen in die Volkssprachen, die den hebräischen Text zugrunde legten, doch der Einfluss des lateinischen Psalterium Gallicanum ist sowohl bei Martin Luthers deutschem Psalter von 1524 als auch beim englischen Psalter von Miles Coverdale 1535 (der im ersten Book of Common Prayer verwendet wurde) offensichtlich. In der Römisch-katholischen Kirche blieb das Psalterium Gallicanum bis 1945 der autoritative Psalmentext und wurde dann durch eine Neuübersetzung aus dem Hebräischen ins Lateinische abgelöst.
== Wirkungsgeschichte ==
Der Psalter ist das gemeinsame Gebetbuch von Juden und Christen. Im Islam wird das Buch der Psalmen Zabur (arabisch زبور, DMG Zabūr) genannt, zu den heiligen Büchern gezählt und im Koran in den Suren 4,163, 17,55 und 21,105 erwähnt.
=== Im Judentum ===
==== Synagogale Liturgie ====
„Die Lieder und Gebete des Buches Tehillim stellen bis heute einen unverzichtbaren Bestandteil der traditionellen jüdischen Liturgie dar. Dabei kommt den Psalmen 113 bis 118, dem sogenannten Hallel, eine besondere Bedeutung zu. Er wird an den Feiertagen und an Rosch Chodesch jeweils nach Abschluss des Schacharit, d. h. vor dem Ausheben des Sefer Tora, gesungen.“Günter Stemberger weist darauf hin, dass die Psalmen (mit Ausnahme des Hallel) erst relativ spät in die Liturgie der Synagoge aufgenommen wurden; das gilt auch für die Psalmen, bei denen eine Verwendung im Gottesdienst des Zweiten Tempels bezeugt ist. Beispielsweise überliefert die Mischna (Tamid 7,4), dass die Leviten beim täglichen Opfer im Tempel einen dem Wochentag entsprechenden Psalm vortrugen: am Sonntag Psalm 24, am Montag Psalm 48, am Dienstag Psalm 82, am Mittwoch Psalm 94, am Donnerstag Psalm 81, am Freitag Psalm 93 und am Sabbat Psalm 92. Die Psalmüberschriften der Septuaginta bezeugen die gleichen Wochentagspsalmen und damit das hohe Alter dieser Tradition.Etwa die Hälfte der 150 Psalmen wird heute im jüdischen Gottesdienst verwendet. Die Integration von Psalmen in die synagogale Liturgie war ein langer Weg, bei dem nach Daniel Krochmalnik folgende Motive wirksam wurden:
Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. sah man den synagogalen Gebetsgottesdienst auch als symbolische Imitation des Tempelgottesdienstes an.
Nachdem liturgische Dichtungen (Pijjutim) sich reich entfaltet hatten, gab es Bestrebungen, ihren Umfang wieder einzuschränken.
Die strikte Orientierung der Karäer an den Texten der Hebräischen Bibel beeinflusste auch das rabbinische Judentum; mit den Psalmen wurde die synagogale Liturgie biblischer.
Kabbalisten begründeten neue Rituale und erschlossen neue Sinndimensionen von Psalmen.Der letzte Punkt lässt sich am Synagogengottesdienst am Freitagabend illustrieren. Er beginnt mit einem Empfangszeremoniell für die Königin Sabbat (Kabbalat Schabbat). Dies ist zwar schon als Brauch einzelner Rabbinen im Talmud bezeugt, aber das Kabbalat-Schabbat-Ritual wurde im 16. Jahrhundert von Kabbalisten aus Safed gestaltet. Mit weißen Gewändern bekleidet, zogen sie am Freitagabend in die Felder der Umgebung hinaus, um der Königin Sabbat entgegenzugehen und sie nach Safed zu begleiten. Dabei rezitierten sie mit geschlossenen Augen die Psalmen 95 bis 99 und 29. Freudige Erregung und Jubel über den Beginn der Gottesherrschaft kennzeichnet diese Texte inhaltlich. Geblieben ist bis heute die Rezitation dieser Psalmengruppe im Freitagabend-Gottesdienst und der Gesang des Lecha Dodi, wobei sich die Gemeinde zur Tür der Synagoge hin umwendet. Darauf folgt Psalm 92, der schon im biblischen Text als Schabbat-Psalm bezeichnet wird; er „markiert – liturgisch gesehen – den eigentlichen Beginn des Schabbat.“ Mit dem anschließenden kurzen Psalm 93 endet Kabbalat Schabbat, und mit Barchu beginnt daraufhin der Abendgottesdienst.
Abgesehen vom Hallel und den Sabbateingangspsalmen ist es im aschkenasischen Ritus üblich, dass nur der Kantor die Psalmen rezitiert, und zwar in hohem Tempo und bis auf die Eingangs- und Schlussverse still. Bei den Sephardim und Mizrachim ist dagegen die gemeinsame, teils responsorische Psalmrezitation üblich, was nach Krochmalnik eine größere Vertrautheit mit den Psalmen in jüdischen Gemeinden dieser Riten zur Folge hat.Die synagogale Psalmodie besteht typischerweise aus einer Eingangsphrase, dem Mittelteil im Rezitationston und der Schlussphrase. Die Ähnlichkeit mit der frühen Kirchenmusik wurde oft bemerkt und veranlasste Eric Werner (The Sacred Bridge, 1959) zu Hypothesen, dass die frühe Kirchenmusik jüdischen Vorbildern folgte. Dies wird von Musikhistorikern aber als spekulativ angesehen. Mangels Quellen lassen sich die Ursprünge des jüdischen und des christlichen Psalmengesangs nicht mehr klären.
==== Privates Gebetbuch ====
Die rabbinische Literatur erwähnt das Psalmenlesen häufig als Element persönlicher Frömmigkeit. Wahrscheinlich gelangten die Psalmen schließlich über die Volksfrömmigkeit und trotz Bedenken der Rabbinen in die synagogale Liturgie. „Es geht wohl kaum auf gegenseitigen Einfluß zurück, sondern ist als analoge Entwicklung aus ähnlichen Voraussetzungen zu betrachten, wenn im Christentum seit den frühen Mönchen und … später auch im Judentum die Psalmen Basistexte einer Volks- und Laienfrömmigkeit wurden,“ so Günter Stemberger.In modernen jüdischen Ausgaben des Psalters findet man eine Einteilung in 30 Abschnitte, die den Tagen eines Monats gemäß dem jüdischen Kalender zugeordnet sind. Außerdem gibt es eine Siebenteilung entsprechend den Wochentagen. Damit besteht die Möglichkeit, das ganze Buch im Lauf eines Monats oder einer Woche durchzubeten. Die Psalmen werden, anders als in der christlichen Tradition, mit ihren Überschriften, aber ohne rahmende Verse (Antiphonen) rezitiert.
Dem Psalmbeten werden vielfache positive Effekte zugeschrieben: für die Beter selbst, für die Heilung Kranker, für den Staat Israel usw. Dass Frauen gemeinsam Tehillim beten, hat eine lange Tradition. Üblicherweise werden die 150 Psalmen unter den Mitgliedern einer Gebetsgruppe verteilt. Moderne Technologien ermöglichen es, weltweit Tehillim-Gruppen zu organisieren. Diese Netzwerke erreichen auch Frauen, die in ihrer religiösen Praxis nicht orthodox sind; ein Effekt ist, dass die Verbundenheit mit dem Staat Israel in der Diaspora gestärkt wird.Das Rezitieren von Psalmen ist in besonderer Weise mit dem Jerusalemer Tempelberg verbunden. Menschen, die das Psalmbeten als persönliche Frömmigkeit pflegen, sind an der Klagemauer stets zu finden. In der dortigen Synagoge werden alle 150 Psalmen im Lauf eines Tages gebetet, und vor dem Gedenktag der Tempelzerstörung (Tischa beAv) werden dort drei Tage hindurch fortlaufend Psalmen rezitiert. Hierbei handelt es sich um relativ neue Entwicklungen.Es gibt in der Volksfrömmigkeit auch die Tradition, Psalmen für magische Zwecke einzusetzen. Handbücher wie zum Beispiel das mittelalterliche Werk Sefer Schimmusch Tehillim definieren, welcher Psalm in welcher Situation rezitiert werden sollte oder wie man Amulette mit Psalmzitaten beschriften sollte. Ein kleines hebräisches Psalmbuch, das am Körper getragen oder unter das Kopfkissen gelegt wird, soll zum Beispiel Babys oder Soldaten vor Gefahren schützen.
=== Im Christentum ===
==== Neues Testament ====
Der Psalter ist das am meisten zitierte alttestamentliche Buch im Neuen Testament, und zwar in der Fassung des Septuaginta-Psalters. Besonders ausgeprägt ist der Bezug auf den Psalter in der Passionsgeschichte der synoptischen Evangelien, dem Johannesevangelium als ganzes, bei Paulus von Tarsus (Römerbrief, beide Korintherbriefe) und im Hebräerbrief. König David ist für neutestamentliche Autoren ein Prophet, der das Leben Jesu, besonders Passion und Auferstehung, in den von ihm verfassten Psalmen ankündigte. Nach den synoptischen Evangelien zeigt Jesus anhand von Psalm 109LXX auf, dass der Messias von David prophetisch als Herr bezeichnet werde.
==== Alte Kirche ====
In der Alten Kirche wurde der Psalter, den man in der Übersetzung der Septuaginta (griechisch) oder in der davon abhängigen Übersetzung der Vetus Latina (lateinisch) las, vielfach als Kompendium der gesamten Bibel verstanden. Athanasius schrieb: „Wie ein Garten trägt er in sich die Früchte auch aller übrigen Bücher der Heiligen Schrift und macht sie zu Liedern.“ Er zeigte beispielhaft, wie das gemeint war:
Schöpfung: Psalm 18LXX, Psalm 23LXX
Auszug aus Ägypten, Israel in der Wüste: Psalm 77LXX, Psalm 104LXX, Psalm 113LXX
Zeltheiligtum: Psalm 28LXX
Josua und die Richter: Psalm 106LXX
Königreiche Israel und Juda: Psalm 19LXX
Esra: Psalm 125LXX.Das ganze Leben Christi fand Athanasius im Psalter prophetisch vorhergesagt:
Verkündigung an Maria: Psalm 44LXX (wegen Vers 11f.: „Höre, Tochter, und sieh, und neige dein Ohr, und vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters, denn der König begehrte deine Schönheit, denn er ist dein Herr.“)
Passion: Psalm 21LXX („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…“), Psalm 68LXX, Psalm 87LXX (wegen Vers 8: „Auf mich legte sich schwer dein Grimm, und all deine Wogen ließest du auf mich niedergehen.“)
Auferstehung: Psalm 15LXX
Himmelfahrt: Psalm 23LXX (wegen Vers 9: „Erhebt die Tore, ihr Herrscher über euch, und lasst euch hinaufheben, ihr ewigen Tore, und einziehen wird der König der Herrlichkeit“), Psalm 46LXX
Christus sitzend zur Rechten Gottes: Psalm 109LXX (wegen Vers 1: „Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten.“)
Berufung der Heiden: Psalm 46LXX (wegen Vers 2: „Ihr Völkerschaften alle, klatscht in die Hände, jauchzt Gott zu mit Jubelschall!“), Psalm 71LXX (wegen Vers 9–11: „… alle Völkerschaften werden ihm dienen.“)Die bei den Kirchenvätern allgemein übliche christologische Interpretation der Psalmen konnte unterschiedlich eingesetzt werden. Viele Aussagen in den Klageliedern des Einzelnen ließen sich ohne weiteres auf das irdische Leben des Jesus von Nazareth deuten; erwähnten die Psalmen einen Richter und König, so war dies der Auferstandene, der im Himmel thront. Sprach der Psalmbeter dagegen von seiner eigenen Schuld und bat um Vergebung, so war das nur scheinbar für Christus unpassend, führte Augustinus aus. Denn die Kirche wurde als Leib Christi verstanden, und so spreche Christus in diesen Psalmsworten mit und für die Christen.Zwei Metaphern für das Buch der Psalmen wurden in der Alten Kirche geprägt und in der weiteren christlichen Rezeptionsgeschichte wiederholt aufgegriffen:
Der Psalter als Seelenspiegel. Alle menschlichen Seelenregungen seien im Psalter enthalten, schrieb Athanasius im Brief an Marcellinus. Entsprechend formulierte Martin Luther in der Zweiten Vorrede auf den Psalter (1529), dass „ein jeglicher … Psalmen und Wort drinnen findet, die sich auf seine Sache reimen und ihm so eben sind, als wären sie allein um seinetwillen also gesetzt“; die Seelenspiegel-Metapher nutzte auch Johannes Calvin im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar (1557).
Der Psalter als großes Haus oder Tempel aus Worten. Diese Architekturmetaphorik geht auf den Psalmenkommentar des Hieronymus zurück. Sie ist eng verbunden mit der Vorstellung, dass Psalm 1 ein Portal zum Psalter sei, die übrigen Psalmen innere Räume des großen Gebäudes, die vom Psalmleser abgeschritten werden sollten; hier kommt eine Wegmetaphorik hinzu. Hieronymus unterschied einen Hauptschlüssel, mit dem der Leser durch Psalm 1 in den Psalter eintritt, und weitere Schlüssel, die für jeden Psalm nötig seien, ohne Bild gesprochen: Psalterexegese und Einzelpsalmexegese.In der Alten Kirche bildete sich ein zweifacher Umgang mit dem Buch der Psalmen heraus:
Fortlaufende Lesung des ganzen Psalters;
Auswahl von Psalmen, die als Prophezeiungen christlich interpretiert werden konnten.Der Brauch, Psalmen ebenso wie Cantica und andere Gesänge mit dem Lob des dreieinigen Gottes (Gloria Patri) zu beenden, geht wahrscheinlich auf die arianischen Streitigkeiten in der Spätantike zurück. Er ist seit dem frühen 6. Jahrhundert bezeugt.
==== Frühes Mönchtum und koptische Tradition ====
Für die frühchristlichen Eremiten machte die Psalmenmeditiation einen wesentlichen Teil ihres Tages aus, und zwar bereits bei den einzeln lebenden Eremiten und den später entstehenden koinobitischen, klösterlichen Gemeinschaften. Bei seiner meditativen Übung (altgriechisch μελέτη melétē) sprach der Mönch den Psalter nacheinander – beginnend bei Psalm 1 und endend bei Psalm 150 – halblaut und unabhängig von der persönlichen Stimmungslage. Das begleitete ihn bei der täglichen Arbeit oder bei Wanderungen. Die melétē selbst galt nicht als Gebet. Sie führte zu frei gesprochenen Gebeten oder festen Lobpreis-Formeln hin (später beendete man Psalmen mit dem Gloria Patri). Dieses meditierende Murmeln wurde in der Tradition des Wüstenmönchtums und bei altkirchlichen Autoren wie Augustinus als „Ruminatio“ (von lat. ruminare ‚wiederkäuen‘) bezeichnet.In den ersten Klosterregeln des christlichen Mönchtums, den Anfang des 4. Jhs. in koptischer Sprache geschriebenen Regeln des Pachom, wird von den Neulingen im Klosterverband erwartet, dass sie bei der Aufnahme 20 Psalmen auswendig lernen (Regel 139) und es dann niemanden im Kloster geben soll, der nicht zumindest das Neue Testament und den Psalter auswendig kennt (Regel 140). Im 4. Jahrhundert sah das Stundengebet der ägyptischen Koinobiten folgendermaßen aus: Ein Lektor trug stehend einen Psalm vor, während die übrigen Mönche auf dem Boden kauerten. Dann erhoben sich alle zum stillen, persönlichen Gebet. Anschließend warfen sich alle zu Boden. Der Lektor sprach laut ein Kollektengebet. Diese Sequenz wiederholte sich zwölfmal in jeder Hore; dann folgten Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament. „Der Psalm ist hier nicht Gebet, sondern Schriftlesung, die zum Gebet anregt.“Die alttestamentlichen Psalmen nahmen nicht nur in der Liturgie einen herausragenden Platz ein, sondern wurden von Mönchen bei allen anfallenden Arbeiten gesungen. Rege Verwendung fanden sie auch auf übelabwehrenden Amuletten und im Bereich der Magie. Mit dem in einem Grab gefundenen Psalter von al-Mudil (5. Jahrhundert) ist der gesamte Psalter im mittelägyptischen Dialekt des Koptischen überliefert (Foto). Der Mudil-Psalter zeigt einen selbstbewussten Umgang des koptischen Übersetzers mit seiner griechischen Vorlage. Einen „Wildwuchs“ an christlichen Zusätzen, die er als nicht authentisch beurteilte, hat er gestrichen. Andererseits erweiterte er den Text vielfach, um den Sinn klarer herauszuarbeiten. Außerdem gibt es Korrekturen aus theologischen Gründen.Bis heute ist das koptische Stundengebet sehr stark von der klösterlichen Tradition geprägt. Es verläuft Tag für Tag in gleicher Form; über sechs Horen verteilt werden dabei rund 110 Psalmen rezitiert – mehr als in allen anderen Riten.
==== Orthodoxe Tradition (Byzantinischer Ritus) ====
Die responsoriale Psalmodie war in Konstantinopel bis ins 13. Jahrhundert, in Thessalonike bis ins 15. Jahrhundert üblich: Ausgewählte Psalmen wurden ebenso wie Cantica und das Gebet des Manasse vom Solisten oder vom Chor vorgetragen (mittelgriechisch ᾁσματική asmatikí, „gesungen“); die Gemeinde respondierte nach jedem Vers mit Rufen wie „Ehre sei dir, Herr!“, „Erhöre mich, Herr!“ Im byzantinischen Ritus löste die aus dem palästinischen Mönchtum stammende, schlichte Psalmenrezitation allmählich die responsoriale Psalmodie ab. Dieser Psalter ist in 20 Kathismata (καθίσματα) zu je drei Staseis (στάσεις) unterteilt und wird pro Woche einmal, in der Fastenzeit zweimal rezitiert. Dabei sind Kürzungen sowie Einschübe zum Kirchenjahr passender poetischer Texte üblich.Die Kathismata-Psalmodie ist in der griechisch-orthodoxen Kirche heute auf die Klöster beschränkt und in Pfarrkirchen nicht üblich. Darüber hinaus kommen aber rund 60 Psalmen an verschiedenen Stellen der Liturgie vor; hier einige Beispiele aus dem Stundengebet: Als Bußpsalm begegnet immer wieder Psalm 50LXX. Mit dem Schöpfungspsalm 103LXX beginnt die Vesper, mit einer Gruppe von sechs Psalmen (ἑξάψαλμος) der frühmorgendliche Orthros, nämlich Psalm 3, Psalm 37LXX, Psalm 62LXX, Psalm 87LXX, Psalm 102LXX und Psalm 142LXX. Durch die Anordnung der sechs Psalmen in dieser Reihenfolge wird der Leser von der Verzweiflung zum Ausblick auf die erhoffte Rettung geführt.
==== Westkirchliche Tradition ====
===== Vorreformatorisch =====
In der römischen Liturgie der Spätantike war das Buch der Psalmen das „Textbuch der kirchlichen Gesänge“. In der Messe waren das der Gesang während der Einzugsprozession (Introitus), die Begleitgesänge zur Gabenprozession bei der Gabenbereitung (Offertorium) und Kommunion (Communio) und insbesondere auch der Psalm zwischen den einzelnen Lesungen. Alle diese Gesänge wurden schon früh antiphonal, im Wechsel zweier Chöre oder im Wechsel zwischen dem psalmista ‚Psalmensänger‘ und der Gemeinde, ausgeführt, die Auswahl der Psalmen wechselte mit der Festzeit, dem Tag oder dem Anlass.Während zunächst das Hauptgewicht des Introitus auf dem Psalm gelegen hatte, setzte etwa ab dem 8. Jahrhundert allmählich eine Verkürzung des Introitus auf die Antiphon und einen oder zwei Psalmverse sowie die Doxologie Gloria Patri ein; die Antiphon wurde ab dem 10. Jahrhundert zu Lasten des Psalms durch das Hinzufügen von Tropen melodisch sehr viel reichhaltiger und länger; die Tropen entfielen allerdings bei der Liturgiereform durch Papst Pius V. im 16. Jahrhundert wieder. Ähnlich war die Entwicklung beim Psalm zwischen den Lesungen und den Begleitgesängen zur Gabenprozession und zur Kommunion, wo im 4./5. Jahrhundert in Nordafrika und in Rom Psalmen gesungen wurden, was Augustinus von Hippo gegen Kritiker verteidigte. Die Singweise des Offertoriums verkürzte sich jedoch schon bis zum frühen Mittelalter auf wenige Verse in responsorischer Singweise, aus dem Psalm nach der Lesung wurden die „Zwischengesänge“ (Graduale und Alleluiavers mit einzelnen Psalm- oder Bibelversen); beim Kommuniongesang wurde bis zum 10. Jahrhundert der ganze Psalm – häufig Psalm 34 oder Psalm 145 – gesungen, ab dann verfiel der Psalm, bis nur die Antiphon übrig blieb. Der Text der Antiphonen besteht aus einem Vers des folgenden Psalms oder aber einem Bibelvers aus einer der liturgischen Lesungen des Tages.
Insbesondere in asketischen und klösterlichen Kreisen war der Text des gesamten Psalter durch die ständige Beschäftigung damit sehr vertraut. Im Frühmittelalter nahm die Kenntnis des Psalters ab. Er blieb aber als täglicher Lese- und Gebetstext im Stundengebet bis heute verpflichtend für Ordensgemeinschaften und Kleriker. Psalmen wurden immer auch bei der Meditation der Passionsgeschichte genutzt, wodurch der Literalsinn der Psalmtexte in den Hintergrund trat.
In den Klosterschulen des Frühmittelalters lernten die Kinder, sobald sie das Alphabet beherrschten, im Alter von etwa sieben Jahren mit dem lateinischen Psalter das Lesen. Für Mönche war es obligatorisch, den Psalter auswendig zu beherrschen, um das Stundengebet vollziehen zu können. Etwa zwei bis drei Jahre wurden veranschlagt, um dieses Ziel zu erreichen. Aus dem Schulbetrieb stammen sechs Wachstafeln mit Psalmzitaten, die 1914 im Springmount-Moor (County Antrim, Nordirland) aufgefunden wurden. Sie wurden etwa 600 n. Chr. beschrieben und befinden sich heute im Irischen Nationalmuseum. Die Benediktsregel machte das Ideal, alle 150 Psalmen im Laufe einer Woche im Stundengebet zu rezitieren, zum „Goldstandard“ mittelalterlicher Klosterpraxis. Dem Mönch oder Kleriker wurde aber nahegelegt, über dieses Pensum hinaus fleißig Psalmen zu beten, die oft in Gruppen für die private Andacht zusammengestellt wurden. Beispielsweise war es üblich, morgens vor der Matutin die sieben Bußpsalmen zu beten, und Benedikt von Aniane empfahl ebenfalls vor der Matutin das Gebet der fünfzehn Wallfahrtspsalmen.Als einziges biblisches Buch wurden Psalter im Mittelalter in größerer Zahl auch für Laien hergestellt. Wie gut diese den lateinischen Text verstanden, ist unbekannt (was für Mönche und Kleriker ebenfalls gilt), aber es gibt Hinweise darauf, dass man sich intensiv um das Verständnis des Textes bemühte: Lateinische Psalter wurden häufig mit Glossen in den Volkssprachen versehen. Der Vespasian-Psalter beispielsweise enthält eine altenglische Interlinearübersetzung (Foto).
Im Hochmittelalter wurde kein biblisches Buch an den Universitäten so intensiv auf seinen Wortsinn wie auf seine theologische Bedeutung hin untersucht wie der Psalter. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit wurde der Psalter schließlich zum „Bildungsbuch in der Hand der Laien.“
===== Illustration mittelalterlicher Psalterhandschriften =====
Die lateinischen Psalter des Mittelalters waren meist für den liturgischen Gebrauch eingerichtete Bücher, die außer dem Text der Psalmen auch Vorreden, Cantica, Litaneien und Kalendarien enthielten. Für die künstlerische Gestaltung der Handschriften wurde die Unterteilung des Textes in Psalmgruppen wichtig, denn die ersten Psalmen dieser Gruppen wurden oft auch optisch hervorgehoben. Verschiedene Gliederungssysteme waren nebeneinander in Gebrauch und konnten auch in einer Psalterhandschrift kombiniert werden. Die Zählung ist im Folgenden die der Vulgata, welche vom hebräischen Text und auch von modernen Übersetzungen abweicht:
die schon in der Alten Kirche übliche, trinitarisch gedeutete Dreiteilung; sie hebt Psalm 1, Psalm 51VUL und Psalm 101VUL hervor;
die Achtteilung des Psalterium Romanum: hier sind Psalm 1, Psalm 26VUL, Psalm 38VUL, Psalm 52VUL, Psalm 68VUL, Psalm 80VUL, Psalm 97VUL und Psalm 109VUL besonders betont;
die Einteilung des Psalters in Zehnergruppen (Dekaden).Die Entwicklung der Illustration geht von Initialen hin zu Bildseiten. Diese waren zunächst nicht direkt mit dem Psalmtext verbunden. So wurde als Autorenporträt oft der musizierende David dargestellt. Dies konnte zu Leben-David-Zyklen erweitert werden. Häufiger sind ab dem 11. Jahrhundert die Leben-Christi-Zyklen. Assoziativ oder typologisch konnten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament Psalmversen zugeordnet werden. Ein anderer Typ von Psalterillustration setzte die Metaphern des Psalmtextes in Bilder um.
===== Lutherische und reformierte Tradition =====
Martin Luther ließ für seine Psalmenvorlesung 1513/1515 den Wolfenbütteler Psalter drucken. Darin deutete er die Psalmen christozentrisch.
Für Johannes Calvin ist bezeugt, dass er sich selbst mit David identifizierte (seine Anfeindungen durch Gegner, seine göttliche Erwählung) und das zeitgenössische Genf mit Israel. Das geht so weit, dass ein Großteil der autobiografischen Informationen Calvins aus dessen Psalmenkommentar erhoben werden. Nach Herman Selderhuis ist es besonders das Asyl-Motiv, das David mit Calvin verbindet. David musste zweimal fliehen, erst vor Saul und dann vor seinem Sohn Absalom. Calvin sah sich selbst als Flüchtling und hatte unter den aus Frankreich geflohenen Hugenotten seine treueste Anhängerschaft. Ihnen bot er mit dem Psalter David als Identifikationsfigur an.
In Genf war im späten 16. Jahrhundert ein großer Teil der Bevölkerung lesekundig. Die Anschaffung privater Liedpsalter wurde gefördert; diese waren wegen des geringeren Umfangs erschwinglicher als Bibeln. Den Quellen zufolge hielten Psalmbücher tatsächlich breiten Einzug in die Haushalte. Unterricht im Psalmsingen erteilten Kantoren, vielfach ehemalige Priester, die damit einen neuen Beruf fanden. Auf diese Kreise gehen auch die Melodien des Genfer Psalters zurück.
Im deutschsprachigen Raum war der Genfer Psalter in der Übersetzung von Ambrosius Lobwasser weit verbreitet.
Lutherische Autoren, Cornelius Becker (1602) und Johannes Wüstholz (1617), schufen eigene Liedpsalter. Ihr Hauptkritikpunkt am Lobwasser-Psalter war, er bleibe zu eng am alttestamentlichen Text und sei zu wenig auf Christus bezogen. Das betraf besonders die Summarien (Inhaltsangaben), die jedem Psalm vorangestellt waren. Becker und Wüstholz lieferten neue Summarien, ersetzten die „calvinistischen“ Melodien teilweise durch diejenigen von Luther-Chorälen und fügten Doxologien als Schlussstrophen an.
==== Heutige Praxis in den christlichen Konfessionen ====
Die muttersprachliche Psalmodie hat seit dem späten 20. Jahrhundert in mehreren Konfessionen an Bedeutung gewonnen; dabei zeigt sich nach Godehard Joppich, Christa Reich und Johannes Sell folgende Grundproblematik:
Das chorische Lesen ermögliche nur ein intellektuelles Erfassen des Textes; seine poetische Qualität gehe „im Bemühen, mit der eigenen Stimme im gemeindlichen Gleichschritt zu bleiben“ verloren.
Das antiphonale Psalmodieren erfordere ein Aufeinander-Hören, das kontinuierliches gemeinsames Üben voraussetze, wie es für eine Schola oder eine Kommunität möglich sei.Als weitere Optionen bleiben der Psalmlied-Gesang und die responsoriale Psalmodie, bei dem eine Einzelstimme den Psalm vorträgt und die Gemeinde mit einem gleichbleibenden Ruf nach jedem Vers respondiert.
===== Stundengebet =====
Das Stundengebet der römisch-katholischen, orthodoxen, lutherischen, altkatholischen und anglikanischen Kirche besteht vorwiegend aus Psalmen. Die in der Westkirche traditionelle gregorianische Singweise der Psalmen (antiphonales Psallieren) wird bis heute in Latein oder der Landessprache beim Stundengebet in vielen monastischen Orden, Bruder- und Schwesternschaften praktiziert.
Unter liturgischem Psalter versteht man in der Liturgiewissenschaft das Verteilungssystem der Psalmen bzw. der Psalmantiphonen auf die Tagzeiten (Horen) im Stundengebet. Historisch können zwei Typen unterschieden werden:
Monastisches Offizium, bei dem die Psalmen der Reihe nach als lectio continua angeordnet sind, und
Kathedraloffizium, bei dem die Psalmen anlassbezogen oder der Tageszeit entsprechend ausgewählt werden.Das Kathedraloffizium ist gegenüber der schlichten monastischen Psalmodie durch besondere ästhetische Gestaltung ausgezeichnet, so gibt es abends einen Lichtritus und einen Weihrauchritus (vgl. Psalm 141). Unter den westkirchlichen Liturgien im deutschsprachigen Raum entspricht das Stundengebet der Christkatholischen Kirche der Schweiz am klarsten dem Typ des Kathedraloffiziums, so Liborius Olaf Lumma.Als Verteilungssystem stellt der liturgische Psalter zugleich ein „Psalmpensum“ dar, das heißt, das vorgeschriebene Gebet eines Quantums an Psalmen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes.
In der anglikanischen Kirche gelang es, die über den Tag verteilten Horen zu einer Morgen- bzw. Abendhore (morning praise, evensong) zusammenzufassen und als Gemeindegottesdienste zu gestalten. Dabei folgte Thomas Cranmer Reformvorschlägen, die Francisco de Quiñones für das Breviergebet der Kleriker gemacht hatte. Der ganze Psalter wurde in diesen beiden Gebetszeiten im Lauf eines Monats fortlaufend durchgebetet, ohne eine Eignung bestimmter Psalmen für Morgen oder Abend oder für bestimmte Wochentage zu berücksichtigen. Antiphonen, Responsorien und Invitationen entfielen.In der römisch-katholischen Kirche waren seit dem Konzil von Trient die 150 Psalmen auf die Horen einer Woche verteilt. Seit 1970 trat an Stelle des einwöchigen Schemas ein Vierwochenpsalter, bei dem in einzelnen Horen neben den Psalmen auch alt- oder neutestamentliche Cantica berücksichtigt werden. Eine wichtige Neuerung des Vierwochenpsalters ist, dass er die Lectio-continua-Psalmodie in der Vesper weitgehend aufgibt, die diese Gebetszeit seit dem Frühmittelalter (Benediktsregel) in der Westkirche geprägt hatte. An ihre Stelle treten inhaltlich ausgewählte Psalmen.Das Schema der Psalmenverteilung im Monastischen Stundenbuch und im Benediktinischen Antiphonale geht auf Notker Füglister zurück, der stark von der Form- und Gattungskritik geprägt ist. Er regte an, dem Charakter des Wochentags entsprechend, Hymnen und Königspsalmen dem Sonntag, Individualklagen dem Freitag zuzuweisen. Die Haupthoren Laudes und Vesper sollten lyrische Hymnen und dramatische Dankpsalmen kennzeichnen, die Komplet lyrische Vertrauenspsalmen und die Vigilien sowohl epische Geschichts- und Weisheitspsalmen als auch dramatische Klagelieder.Bei der Neuordnung des katholischen Stundengebets nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde auch die zugrunde liegende Psalmenhermeneutik in einem „offiziellen Metatext“ (Harald Buchinger), der Allgemeinen Einführung in das Stundengebet (AES), erläutert. Unter der Überschrift Die Psalmen und ihr Verhältnis zum christlichen Gebet heißt es zunächst: „Die Kirche betet mit jenen großartigen Liedern, die heilige Verfasser im Alten Bund auf Eingebung des Geistes Gottes gedichtet haben.“ (AES 100) Dabei gelte es, als christlicher Beter dem Wortsinn getreu zu folgen, dann aber auch auf den Vollsinn zu achten, vor allem jenen messianischen Sinn, „um dessentwillen die Kirche das ganze Psalmenbuch übernommen hat.“ (AES 109) „Die Tradition der lateinischen Kirche kennt drei Hilfsmittel, um die Psalmen zu verstehen und sie zu christlichen Gebeten zu machen: die Überschriften, die Psalmorationen [im Anhang der Liturgia Horarum] und vor allem die Antiphonen.“ (AES 110) Die neuere liturgiewissenschaftliche Diskussion stellt in diesen Ausführungen ein hermeneutisches Stufenmodell fest (erst die Würdigung des Wortsinns, dann Aufstieg zum Vollsinn) sowie ein offenbarungstheologisches Entwicklungsdenken: von Israel zur Kirche.
===== Heilige Messe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil =====
Als eine der Hauptquellen der Proprien sind Psalmen im Katholizismus Bestandteil der heiligen Messe. Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat für die heilige Messe im Grundsatz den wichtigen Platz der Psalmen als Begleitgesang zum Einzug, zur Gabenbereitung und zur Kommunion wieder hergestellt, wie er seit der Zeit des Frühchristentums üblich gewesen war, bis diese Praxis ab dem Mittelalter verfiel. In der Agenda der Grundordnung des Römischen Messbuchs (GRM) von 2002 sind Psalmen vorgesehen beim Einzug (Nr. 47f), als Antwortpsalm nach der ersten Lesung (Nr. 61), als Gesang zur Darbringung der Gaben während der Gabenprozession (Nr. 74) und als Gesang zur Kommunion (Nr. 86f). Der Antwortpsalm ist „wesentlicher Bestandteil der Liturgie des Wortes“ und von „großer pastoraler und liturgischer Bedeutung“, weil er die Betrachtung des Wortes Gottes fördert; er vertieft die erste Lesung, wird aber zugleich selbst als biblische Lesung verstanden. Das Lektionar sieht für jede Messfeier einen eigens ausgewählten Psalm nach der ersten Lesung vor. In manchen Gemeinden ist jedoch noch die früher in der Betsingmesse geläufige Praxis üblich, den Antwortpsalm durch eine zum Inhalt der Lesung passende Liedstrophe zu ersetzen; dies ist im Messbuch nur als Ersatz „im Notfall“ vorgesehen, wird jedoch oft praktiziert; auch zum Einzug, zur Gabenbereitung und zur Kommunion hat sich der Psalmengesang im deutschsprachigen Bereich nicht durchsetzen können.
Psalmen können außerdem bei der Spendung von Sakramenten und Sakramentalien, bei Prozessionen und Wallfahrten gesungen und gebetet werden. Beim kirchlichen Begräbnis sieht das Graduale Romanum Psalmen im Sterbehaus, während des Ganges vom Sterbehaus zur Kirche, beim Gang zum Friedhof und am Grab vor.
===== Reformierter Liedpsalter =====
In den Reformierten Kirchen ist der Psalmengesang (Genfer Psalter) seit dem 16. Jahrhundert ein Hauptelement des Gemeindegottesdienstes. Traditionell gab es unter anderem in Genf zweimal jährlich einen besonderen Gottesdienst, in dem alle 150 Psalmen, das Zehngebotelied und das Nunc dimittis gesungen wurden. Im Gottesdienst der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz ist heute ein Gebet mit Psalmworten üblich, das auch als Psalm im Wechsel gestaltet sein kann. Die Schweizer reformierten Kirchen entschieden sich für eine Auswahl wichtiger Psalmen, sowohl klassisch-reformierte Liedpsalmen als auch neue Psalmlieder und Lesepsalmen. Vollständige Liedpsalter, teilweise mit Neubereimungen, gibt es beispielsweise in den reformierten Kirchen Ungarns (1948), der Niederlande (1973), Kanadas (1984), Frankreichs (1995), Deutschlands (1996) und Italiens (1999).
===== Evangelisches Gottesdienstbuch =====
Die liturgische Erneuerung in der evangelisch-lutherischen Kirche führte im 20. Jahrhundert zunächst zu einer Rückgewinnung des gesungenen Introituspsalms, der im Mittelalter zu einem Vers verkürzt worden war: nun eine von der Antiphon gerahmte Einheit von 6 bis 8 Psalmversen. In der Regel folgte deren kirchenjahreszeitliche Auswahl der mittelalterlichen Tradition. Die christliche Aneignung des Psalters war für Herbert Goltzen 1963 noch völlig unproblematisch: „Die luth. Kirche jedenfalls hat in ihren Psalmliedern nicht nur biblizistische, alttestamentliche ‚Bereimungen‘ geschaffen, wie sie in den reformierten ‚Psalmen‘ vorliegen, sondern sie hat den in dem at. [= alttestamentlichen] Psalm verborgenen ‚Namen‘ Jesu Christi unbefangen im Psalmlied ausgesprochen.“ Das begründete aus seiner Sicht auch die Auswahl einzelner Psalmverse und deren Neuzusammenstellung für den Introituspsalm.
Seit den 1970er Jahren wuchs im Raum der EKD das Interesse an Psalmen im Gottesdienst. Zusammenhängende längere Passagen aus Psalmen traten damit an die Stelle der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten, durch die Preußische Agende geförderten „(Bibel)Spruch-Liturgik.“ Im Eingangsteil des Gottesdienstes einen Psalm im Wechsel zu sprechen, ist seitdem allgemein üblich. Die Psalmen im Evangelischen Gesangbuch waren allerdings für das private Gebet gedacht und wurden dann anders als intendiert vielerorts für die Beteiligung der Gemeinde beim Eingangspsalm genutzt. Somit ist das chorische Sprechen üblicher als der von den liturgischen Kommissionen eigentlich bevorzugte gregorianische Gesang.
Der Ausschuss Juden und Christen in der Erneuerten Agende war an den Vorarbeiten zum Evangelischen Gottesdienstbuch von 1999 beteiligt; er problematisierte unter anderem das Gloria Patri nach dem Eingangspsalm und schlug biblische Doxologien als Alternative zu diesem trinitarischen Lobspruch vor. Das Gottesdienstbuch hält aber am Gloria Patri nach dem Psalm fest, da Differenzen im jüdisch-christlichen Dialog (wie die Trinitätslehre) nicht verschleiert werden sollten.
===== Religionspädagogik und Seelsorge =====
Ingo Baldermann regte die Verwendung von Psalmen als „Gebrauchstexten“ in der Religionspädagogik an. Die Bedeutung von Psalmen in der Seelsorge, obwohl wenig untersucht, ist nach Einschätzung von Henning Schröer erheblich, besonders in der Krankenhausseelsorge. Klagepsalmen werden auch in der Trauerbegleitung eingesetzt.
=== Psalmvertonungen ===
Alle Psalmen sind als Psalmodien, Kirchenlieder und liturgische Gesänge vertont. Später wurden die Psalmtexte häufig in eine Reim- und Strophenform überführt. In der reformierten Tradition wird auch das Psalmlied als „Psalm“ bezeichnet; im Luthertum dagegen ist „Psalm“ stets ein biblischer Text.Bis zum Barock war das Publikum von Psalmvertonungen in der Regel die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde. Ihr galten die Kompositionen von Josquin Desprez, Heinrich Schütz, Salamone Rossi. Strenge Vorgaben für die Kultmusik führten besonders in der Orthodoxie dazu, dass Psalmvertonungen als persönliche Bekenntnismusik außerhalb des Gottesdienstes geschaffen wurden (Wassili Polikarpowitsch Titow). Im Konzertsaal der Klassik und Romantik wurden Psalmen auch in einem konfessions- oder religionsübergreifenden Kontext aufgeführt. Beispielsweise legte Louis Spohr seinen Psalmvertonungen die deutsche Übersetzung Moses Mendelssohns zugrunde. Komponisten des 19. Jahrhunderts nutzten Psalmen für unterschiedliche musikalische Formen: von der Orgelsonate (Julius Reubke: Der 94. Psalm) bis zur Sinfonie (Anton Bruckner: 150. Psalm). Im 20. Jahrhundert entstanden, so Gustav A. Krieg, stilistisch eher konservative Werke für das Gemeindepublikum, wobei aber die kompositorischen Möglichkeiten beispielsweise durch Stilmittel des Jazz erweitert wurden (Heinz Werner Zimmermann). Igor Strawinskys Psalmensymphonie oder die Chichester Psalms von Leonard Bernstein sind als Kirchen- oder Synagogenkonzert aufführbar. Größere Experimentierfreiheit biete der Konzertsaal, etwa bei Henri Pousseur, Sept Versets de la Pénitence. Steve Reich bereitete sein Werk Tehillim (1981) durch das Studium nicht-aschkenasischer Kantillationen vor, die er für authentischer hielt.
== Literatur ==
=== Textausgaben ===
Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9.
Alfred Rahlfs, Robert Hanhart: Septuaginta: Id Est Vetus Testamentum Graece Iuxta LXX Interpretes. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2006. ISBN 978-3-438-05119-6.
=== Deutsche Psalter-Übersetzungen (Auswahl) ===
Martin Buber: Das Buch der Preisungen. Verdeutscht von Martin Buber. Hegner, Köln 1966.
Romano Guardini: Deutscher Psalter. Nach der lateinischen Ausgabe Papst Pius’ XII. übersetzt. Kösel, 3. Auflage München 1954.
Moses Mendelssohn (Übers.): Die Psalmen. Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-23020-6.
Münsterschwarzacher Psalter. Vier Türme, Münsterschwarzach 2003, ISBN 978-3-87868-236-3.
=== Fachlexika ===
Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski, Angelus A. Häußling, Alexander Völker, Hans-Jürg Stefan, Ingo Baldermann, Konrad Klek: Psalmen/Psalter. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 6, Mohr-Siebeck, Tübingen 2003, Sp. 1761–1785.
Klaus Seybold, Siegfried Raeder, Henning Schröer: Psalmen/Psalmenbuch. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Band 27, de Gruyter, Berlin/New York 1997, ISBN 3-11-015435-8, S. 610–637.
=== Einführungen, Überblicksdarstellungen ===
Erich Zenger, Frank-Lothar Hossfeld: Das Buch der Psalmen. In: Christian Frevel (Hrsg.): Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-030351-5, S. 431–455.
Markus Witte: Der Psalter. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 414–432.
Hanna Liss: Das Buch Tehillim (Psalmen). In: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien. Band 8). Universitätsverlag C. Winter, 4., völlig neu überarbeitete Auflage Heidelberg 2019, ISBN 978-3-8253-6850-0, S. 417–428.
Johannes Schnocks: Psalmen, Grundwissen Theologie (UTB 3473), Paderborn 2014, ISBN 978-3-8252-3473-7.
Klaus Seybold: Die Psalmen. Eine Einführung. 2. Auflage Stuttgart 1991, ISBN 3-17-011122-1
Beat Weber: Werkbuch Psalmen III. Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-018676-7
William P. Brown (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Psalms. Oxford University Press, New York 2014. ISBN 978-0-19-978333-5.
=== Kommentare ===
Walter Brueggemann, William H. Bellinger Jr.: Psalms (= New Cambridge Bible Commentary). Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2014. ISBN 978-0-521-84092-7.
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Band 2: A Reception History Commentary on Psalms 1 - 72. Wiley, Chichester 2020. ISBN 978-1-119-48018-1.
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Frank-Lothar Hossfeld, Erich Zenger: Psalmen. Psalm 101–150. (= Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). Herder, Freiburg 2008, ISBN 978-3-451-26827-4.
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Beat Weber: Werkbuch Psalmen I. Die Psalmen 1 bis 72. Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 978-3-17-016312-6 (unveränderte Neuauflage: 2008 [als Book on Demand]).
Beat Weber: Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150. Kohlhammer, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-17-016313-3.
=== Sammelbände ===
Erich Zenger (Hrsg.): Der Psalter in Judentum und Christentum (= Herders Biblische Studien. Band 18). Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 1998. ISBN 3-451-26664-4.
Erich Zenger (Hrsg.): The Composition of the Book of Psalms (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensum. Band 238). Peeters, Leuven 2010. ISBN 978-90-429-2329-4.
=== Monographien und Artikel ===
Egbert Ballhorn: Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150) (= Bonner Biblische Beiträge. Band 138). Philosophische Verlagsgesellschaft, Berlin/Wien 2004, ISBN 3-8257-0290-1.
Ulrich Dahmen: Psalmen- und Psalterrezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand, Struktur und Pragmatik der Psalmengruppe 11QPs aus Qumran. Brill, Leiden 2003, ISBN 90-04-13226-0.
Dorothea Erbele-Küster: Lesen als Akt des Betens: Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen (= Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament. Band 87). Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2001, ISBN 978-3-7887-1812-1.
Hartmut Gese: Die Entstehung der Büchereinteilung des Psalters. In: Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie. München 1974, S. 159–167.
Bernd Janowski: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. 6., durchgesehene und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, ISBN 978-3-7887-2698-0 (1. Auflage: Neukirchen-Vluyn 2003).
Bernd Janowski: Die „Kleine Biblia“. Der Psalter als Gebetbuch Israels und der Kirche. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 32 (2017), S. 3–25. (online)
Reinhard Gregor Kratz: Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 93 (1996), Heft 1, S. 1–34.
Kathrin Liess: Der Weg des Lebens: Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen. Mohr Siebeck, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148306-5.
Matthias Millard: Die Komposition des Psalters. Ein formgeschichtlicher Ansatz (= FAT 9). Mohr Siebeck, Tübingen 1994, ISBN 3-16-146214-9.
Eckart Otto, Erich Zenger: Mein Sohn bist du (Psalm 2,7). Studien zu den Königspsalmen (= Stuttgarter Bibelstudien. Band 192). Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2001, ISBN 3-460-04921-9.
Markus Saur: Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie. de Gruyter, Berlin 2004, ISBN 3-11-018015-4 (zugleich Diss., Universität Erlangen-Nürnberg 2003).
Augustinus Friedbert Weber: Der Heilige Geist als Bildhauer. Zur Auslegung des Psalters bei Gregor von Nyssa. In: Erbe und Auftrag, Jg. 80 (2004), S. 308–318.
Erich Zenger: Der Psalter als Heiligtum. In: Beate Ego (Hrsg.): Gemeinde ohne Tempel: Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Band 118). Mohr Siebeck, Tübingen 1999, S. 115–130, ISBN 3-16-147050-8.
== Weblinks ==
Matthias Millard: Psalter. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.
Reinhard Müller: Psalmen (AT). In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Buch_der_Psalmen |
Urin | = Urin =
Der Urin (lateinisch urina, altgriechisch οὖρον oúron), auch Harn genannt, ist ein flüssiges bis pastöses Ausscheidungsprodukt der Wirbeltiere. Er entsteht in den Nieren und wird über die ableitenden Harnwege nach außen geleitet. Die Ausscheidung des Urins dient der Regulation des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts sowie der Beseitigung von Stoffwechselabbauprodukten (Metaboliten), insbesondere der beim Abbau von Proteinen und Nukleotiden entstehenden Stickstoffverbindungen. Die Gesamtheit der im Urin nachweisbaren Metaboliten wird als Urin-Metabolom bezeichnet.Menschlicher Urin ist eine zumeist gelbe Flüssigkeit. Zahlreiche Krankheiten wirken sich auf seine genaue Zusammensetzung aus, über die eine Urinuntersuchung Aufschluss gibt.
Die natürliche Harnentleerung wird in der Medizin Miktion genannt. In der Allgemeinsprache existieren neben „Urinieren“ und „Wasserlassen“ viele weitere Synonyme.
== Etymologie ==
Das Wort Urin geht auf lateinisch urina zurück. Mit der Bedeutung ‚Harn‘ ging das lateinische Wort, nachdem die Medizinschule von Salerno im Hochmittelalter die Harnuntersuchung als diagnostische Methode entwickelt hatte, aus der Sprache der Ärzte in viele europäische Sprachen über. Altfranzösisch urine ist bereits im 12. Jahrhundert belegt, urine im Englischen erst um 1325 (urinal in der Bedeutung ‚Gefäß für Harnuntersuchungen‘ hier jedoch schon um 1275). Im Deutschen fand der Begriff erstmals im 15. Jahrhundert, also im Frühneuhochdeutschen, Verwendung. Seither hat das Wort die älteren deutschen Bezeichnungen zunehmend verdrängt.
Das ältere deutsche Wort Harn ist seit dem Althochdeutschen bezeugt und unverändert in Gebrauch, allerdings nur im Hochdeutschen. Andere regionale Bezeichnungen sind häufig tabuisiert oder gelten gemeinsprachlich oft als anstößig. Dazu zählen die oberdeutschen Ausdrücke Brunz (vgl. auch Brunnen als Euphemismus im 16. Jahrhundert für Harn) und Seich, das ursprünglich niederdeutsche Wort Pisse oder kindersprachlich Pipi, ebenso Schiffe und österreichisch kindersprachlich Lulu (auf der zweiten Silbe betont).
== Geschichte ==
=== Theorien der Harnbereitung ===
Die Theorien der Harnbereitung („Erklärung der Harnabsonderung“ und damit die Erklärungsversuche für Anurie, Oligurie und Polyurie) haben eine lange Geschichte. Schon Galenos von Pergamon beschrieb laut der Isagoge ad tegni Galeni die Niere richtig als Filter (lateinisch: urina ergo est colamentum sanguinis = „Urin ist also ein Filtrat des Blutes“). Auch Leonhart Fuchs (1501–1566) erkannte die paarige Niere als Sieb oder Filter. Andreas Vesalius (1514–1564) veröffentlichte 1543 in Basel in seinen sieben Büchern De humani corporis fabrica libri septem auf Seite 515 im fünften Buch eine offenbar symbolische Abbildung des Filters in der Niere („membrana cribri modo“ = „Membran wie ein Durchschlag“, horizontal über die gesamte Nierenbreite mit etwa 50 Löchern). John Blackall (1771–1860) hielt die Nieren für Drüsen mit einer elektiven Kraft, „die in der Lage ist, was immer dem Blute schädlich ist, davon abzutrennen.“ Der österreichische Anatom Josef Hyrtl (1810–1894) bezeichnete eine Niere analog als Seihe („seyhe“, Seiher) oder Sieb.
William Bowman (1816–1892) behauptete noch 1842 irrtümlich, die glomerulären Kapillargefäße scheiden Wasser aus, welches die von den Tubuli sezernierten festen Stoffe wegspüle. August Pütter stellte 1926 seine „Dreidrüsentheorie der Harnbereitung“ vor; er postulierte die Existenz von Stickstoffdrüsen, Salzdrüsen und Wasserdrüsen ohne Übereinstimmung mit der glomerulären Filtration, der tubulären Sekretion und der tubulären Rückresorption. Vielmehr findet nach August Pütter der Stoffaustausch in der Niere durch Invasion, Resorption, Evasion und Exkretion oder Sekretion statt. Nach der Lehre des Moskauer Mediziners K. Buinewitsch werden Wasser und Kochsalz durch die Tubuli und die übrigen Harnbestandteile durch die Glomeruli ausgeschieden.
=== Alte Bezeichnungen ===
Früher unterschied man: Recrementa vesicae = Retrimenta vesicae = Blasenurin, Urina diabetica = der Harnruhrharn, Urina pericardii = Liquor pericardii = Aqua pericardii = das Herzbeutelwasser, Urina jumentosa = Urina jumentaria = gelblicher Lasttierharn und Urina spastica = Polyurie zum Beispiel bei Migräne, Epilepsie, Gemütserregungen, Angina pectoris, Nierenkolik, Gallenkolik, paroxysmaler Tachykardie, beim Phäochromozytom, bei hysterischen Anfällen sowie nach Commotio cerebri und Infektionskrankheiten. Die Bezeichnung „Urina jumentosa (zu lateinisch iumentum = Zugtier, Lasttier) für einen trüben pferdeharnähnlichen Urin bei verschiedenen Krankheiten“ findet sich noch im aktuellen Medizin-Duden. Statt von einer Urina spastica sprach man früher auch vom Nierenasthma und meinte damit eine „funktionelle Neurose bei vegetativer Stigmatisation mit anfallsweisen spastischen Kontraktionen der Nierengefäße beziehungsweise mit einer Adynamie des Nierenbeckens und des Harnleiters, die zuerst zu einer schmerzhaften Oligurie und danach zu einer starken reaktiven Diurese“ führe.
=== Harnzeitvolumen ===
Für jede einzelne Niere ist der Urinfluss gleich der Differenz der Blutflüsse in Nierenarterie (Arteria renalis als Vas afferens) und Nierenvene (Vena renalis als Vas efferens). Die Urinproduktion von Mensch und Säugetier ist also die Summe beider Differenzen aus renalem Blutzufluss und renalem Blutabfluss. Außerdem ist die Urinproduktion gleich der Differenz zwischen glomerulärer Filtration und tubulärer Rückresorption. Diese beiden Erklärungen sind seit mehr als einhundert Jahren bekannt, werden aber kaum publiziert. Allgemein wurde dieses Urinzeitvolumen (auch Harnzeitvolumen genannt) als die Menge an Urin definiert, die in einem bestimmten Zeitintervall – in der Regel in 24 Stunden oder pro Minute – produziert oder ausgeschieden wird.Carl Ludwig (1816–1895) schrieb 1856: „Die Grenzen, innerhalb der bei gesunden Erwachsenen das tägliche Harnwasser variirt, liegen zwischen 500 und 25.000 Gramm. Nach Becquerel [1814–1862] und Vogel [1814–1880] liegt bei jungen Männern das Tagesmittel zwischen 1200 bis 1600 Gramm.“ „Ein erwachsener, gutgenährter, nicht mehr als nöthig trinkender Mann entleert täglich 2–3 Liter.“ Das schrieb der Brockhaus noch 1866. Normalerweise scheidet heutzutage ein gesunder erwachsener Mensch zirka 1,5 bis zwei Liter Urin am Tag aus, etwa 200 bis 400 Milliliter (ml) pro Blasenentleerung. „Allgemeine Richtlinien zur Steinverhütung“ der Urologen empfehlen Erwachsenen eine „Harnverdünnung [mit] Steigerung der täglichen Flüssigkeitszufuhr, so dass eine Urinausscheidung von mindestens anderthalb Litern in 24 Stunden erreicht wird.“Eine andere Definition des Harnzeitvolumens bezieht sich auf den maximalen Harnfluss in der Mitte der Miktion bei der Uroflowmetrie ebenfalls mit der Dimension Volumen pro Zeitintervall. Bei der Uroflowmetrie werden heutzutage bei jedem Miktionsvorgang unterschieden das Miktionsvolumen mit der Einheit ml als Integral der Harnflussrate (Fläche unter der Kurve), die Harnflussrate als erste Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit mit der Einheit ml/s und die Miktionsbeschleunigung als zweite Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit (beziehungsweise als erste Ableitung der Harnflussrate nach der Zeit) mit der Einheit ml/s². Das Harnzeitvolumen nach neuer Definition ist das Maximum der Harnflussrate am Ende der Flussanstiegszeit mit der Einheit ml/s; es entspricht dem Nullpunkt der Miktionsbeschleunigungskurve mit der Einheit ml/s².
=== Glomerulum und Tubulus ===
Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist eine lineare Funktion des Herzzeitvolumens (HZV) ohne direkten Einfluss auf den Volumenhaushalt. Die tubuläre Rückresorptionsrate (TRR) reguliert den Salz- und Wasserhaushalt im Rahmen eines vielschichtigen kybernetischen Regelkreises. Diese Regulation oder Modulation erfolgt im RAAS-System (RAS) mittels des antidiuretischen Hormons (ADH, Vasopressin als Gegenspieler von „Vasodilatin“) und des juxtaglomerulären Apparats. Ebenso beeinflussen die Hormone ANP und BNP die Tubulusfunktion im Sinne einer Vergrößerung des Harnzeitvolumens. Der BNP-Plasmaspiegel gilt darüber hinaus als ein objektives Maß für die Schwere einer Herzinsuffizienz. Auch andere Hormone besonders der Nebenniere (Nebennierenrindenhormone) beeinflussen die Urinproduktion über Veränderungen der tubulären Rückresorption.
Glomeruli und Tubuli arbeiten unabhängig voneinander. Trotzdem hatten schon Homer William Smith (1895–1962) und andere Nephrologen im 20. Jahrhundert die Existenz eines tubuloglomerulären Feedbacks postuliert.
=== Filtrations-Rückresorptions-Theorie ===
Schon Galen setzte sich (im 2. oder 3. Jahrhundert) ausführlich mit der Frage auseinander, auf welche Weise der Harn durch die Nieren ausgeschieden wird. Er diskutierte die verschiedenen zeitgenössischen Lehrmeinungen, zu denen auch die Filtrationstheorie gehört, und verwirft alle, weil sie nicht zu seiner Vier-Säfte-Lehre (Humoralpathologie nach Hippokrates von Kos) passten. Von allen damals bekannten Trennverfahren hätte er (auch wegen einer von ihm postulierten „Kochung“ der vier Säfte) eine thermische statt einer mechanischen Trennung bevorzugen müssen. Denn die „beispielsweise von Klemperer und Walter Federn und von Schadewaldt vertretene Auffassung, daß Galens Lehre eine Filtrationstheorie gewesen sei, steht in eindeutigem Widerspruch zu der in De usu partium gegebenen Darstellung.“Denn durch bloße Beobachtung konnte man auch damals erkennen, dass der Harnfluss die Differenz aus renalarteriellem Zufluss und renalvenösem Abfluss ist. So auch der Nierenphysiologe Lorenzo Bellini (1643–1704), wenn er eine Aufspaltung des renalarteriellen Blutes in „zwei Klassen von Gefäßen, die der Nierenvenen und die der Nierenkanäle“ postuliert.Aufbauend auf diesem Wissen beschrieb Carl Ludwig 1842 in seiner Habilitationsschrift, dass Harn primär über die treibende Kraft des Blutdrucks als Filtrat der Glomeruli entstehe und seine endgültige Zusammensetzung durch Resorptionsvorgänge entlang der Nierentubuli erhalte. Arthur Robertson Cushny bekräftigte 1917 ausführlich diesen „filtration-reabsorption view“ der Harnproduktion. Analog unterschied Ludwig Aschoff 1923 die vier funktionell verschiedenen Abschnitte Nierenfilter, Sekretion, Resorption und Exkretion.Diese Filtrations-Rückresorptions-Theorie von Ludwig und Cushny war im 20. Jahrhundert allgemein bekannt. So schrieb Hans Julius Wolf einhundert Jahre nach Carl Ludwigs Habilitation 1942 in seinem Lehrbuch, „daß in den Glomerulis ein eiweißfreies Ultrafiltrat des Blutplasmas abgepreßt wird, aus dem in den Tubuli Wasser und gelöste Stoffe selektiv zurückresorbiert werden. Wahrscheinlich findet in den Tubuli auch eine Exkretion bestimmter Stoffe in den Urin statt.“ Derselbe Autor Hans Julius Wolf wurde 15 Jahre später noch deutlicher: „Bei der Zubereitung des endgültig auszuscheidenden Harnes wirken also zusammen: Glomeruläre Filtration, tubuläre Rückresorption und tubuläre Exkretion.“Auch der Heidelberger Physiologe August Pütter (1879–1929) hatte die „Filtrations-Rückresorptionshypothese“ 1929 erklärt, aber abgelehnt, weil sie einige seiner Befunde nicht erklären konnte. Die Nephrologen Wilhelm Nonnenbruch und Franz Volhard als dessen Vorgänger und Nachfolger an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main haben die „Filtrations-Rückresorptions-Theorie von Ludwig und Cushny“ ebenfalls ausführlich beschrieben und mehrfach abgelehnt.Trotzdem beschrieb Volhard Nonnenbruchs „extrarenale Nierensyndrome“ zutreffend als „extrarenale Ursachen“ der Niereninsuffizienz (eine „Herzinsuffizienz mit Ödembereitschaft“ führt zur „Nephritis ohne Nierenerscheinungen“ oder analog zur „Kriegsnephritis ohne Nephritis“ und zur „Feldnephritis unter rein extrarenalen Verlaufsformen“).
Wilhelm Nonnenbruch hat das Hepatorenalsyndrom als eines der Extrarenalsyndrome (neben dem Kardiorenalsyndrom und dem Pulmorenalsyndrom) schon 1937 beschrieben. Leberfunktionsstörungen können „zur sekundären Schädigung der Nierenfunktion führen, ohne daß sich dabei spezifische anatomische Nierenveränderungen nachweisen lassen (sogenanntes extrarenales Nierensyndrom).“ Das Kardiorenalsyndrom beschrieb er schon vor dem Ersten Weltkrieg mit den Worten: „Das Verhalten der Stauungsniere in bezug auf die Wasserausscheidung kann daher dem einer Niere mit schwerer Glomerulusschädigung bei erhaltener Funktion der Kanälchenepithelien ähnlich sein.“Wer die Filtrations-Rückresorptions-Theorie ablehnt, kann nicht erkennen, dass der Harnfluss (bei Vernachlässigung der tubulären Sekretion) gleich der Differenz aus glomerulärer Filtrationsrate GFR und tubulärer Rückresorptionsrate TRR ist. Jede Messung der GFR erlaubt bei Kenntnis des Harnflusses durch Subtraktion das Errechnen der Tubulusfunktion.
=== Tubuläre Rückresorption ===
Die „Wasserrückresorption und die Harnkonzentrierung“ erfolgen in den Nierentubuli. Diesbezüglich formulierten 1942 Werner Kuhn das Haarnadelgegenstromprinzip und Frank Henry Netter 1976 eine Kombination aus Gegenstrommultiplikationssystem und Gegenstromaustauschsystem mit Gegenstromdiffusionen als Erklärung. „Die Hypothese erwies sich als richtig. Entscheidend war der mikrokryoskopisch erbrachte Nachweis der Hypertonizität der Nierenpapille.“ Die Glomeruli filtrieren passiv, die Tubuli resorbieren aktiv. Die Tubuli entscheiden damit über die Harnpflicht der im Primärharn vorhandenen Stoffe und bilden so den eigentlichen Sekundärharn. Die Anurie ist also im Zweifel ein Zeichen einer guten Tubulusfunktion und kein Zeichen einer schlechten Glomerulusfunktion. Insofern ist die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) bei der Oligoanurie kein Maß für die filtrative Nierenleistung. Darüber hinaus kann die GFR bei jeder kompensatorisch gesteigerten tubulären Rückresorption valide nur mittels der Serumkonzentration von Cystatin C bestimmt werden. Dafür gibt es zahlreiche GFR-Schätzformeln; die einfachste lautet GFR = 80/Cys.
=== Blutgefäße im Nierenparenchym ===
Sowohl die Resorption vom Tubulus in die Nierenvene als auch die Sekretion von der Nierenvene in den Tubulus können nur bei parallelen Verläufen von Tubuli und Nierenvenen erfolgen. Je geringer der Abstand dieser beiden Leitungsbahnen ist, desto leichter kann der wechselseitige Austausch von Wasser und Elektrolyten erfolgen. Eine entsprechende schematische Zeichnung stammt von Frank Henry Netter. Beiderseits der Henleschen Schleifen finden sich Arteriolae rectae verae und Venulae rectae. Den entstehenden Gefäßkomplex nennt man Rete mirabile. Die kleinsten parallel zum Tubulus verlaufenden arteriellen und venösen Gefäße heißen Vasa recta. Das Gegenstück zum arteriellen Vas afferens ist das venöse Vas efferens. Netter kommt jedoch zu folgendem Ergebnis: „Der juxtamedulläre Kreislauf der Niere ist von funktionellem Interesse, wenn auch seine Bedeutung beim Menschen ungenügend geklärt ist.“ Andeutungsweise kommt die Parallelität von Vene und Tubulus auch in der nachfolgenden schematischen Darstellung zum Ausdruck.
== Mensch und andere Säugetiere ==
=== Entstehung ===
Urin entsteht in den Nieren zunächst als Ultrafiltrat des Blutplasmas. Blut fließt dabei durch die Nierenkörperchen (Corpuscula renalia). Wasser und gelöste Stoffe mit einem Durchmesser von weniger als 4,4 Nanometern (unter anderem Ionen und kleine ungeladene Proteine) werden dabei wie in einem Sieb filtriert und gelangen in das sich anschließende Röhrchensystem (Nierentubuli) des Nephrons, der funktionellen Untereinheit der Nieren. Die größeren Teilchen verbleiben im Blutkreislauf. Die so entstandene Flüssigkeit wird als Primärharn bezeichnet und enthält neben den zur Ausscheidung bestimmten Stoffen auch solche, die für den Körper wichtig sind, wie Glucose (Traubenzucker), Aminosäuren und Elektrolyte. Ein Erwachsener produziert täglich zwischen 180 und 200 Liter Primärharn.
In den darauffolgenden Tubuli und Sammelrohren werden aus dem Primärharn die wieder verwendbaren Inhaltsstoffe sowie etwa 99 Prozent des Wassers zurückgewonnen. Der übriggebliebene Endharn (=Urin), von dem ein gesunder Mensch täglich etwa 0,8 bis 2 Liter produziert oder 0,5 bis 1,5 ml pro kg Körpergewicht pro Stunde, fließt schließlich über das Nierenbecken und durch die Harnleiter in die Harnblase. Dort wird der Endharn gesammelt und anschließend durch die Harnröhre ausgeschieden.
Der Prozess der Harnproduktion und -ausscheidung durch die Nieren wird als Diurese bezeichnet. Mit verschiedenen medizinischen Maßnahmen kann darauf Einfluss genommen werden. Diuretika werden eingesetzt, um bei Nieren- und Herzerkrankungen das Harnvolumen zu erhöhen und damit sekundär das Blutvolumen zu senken, da dies wiederum eine verminderte Herzbelastung (Blutkreislauf, Vorlast der Herzkammern) zur Folge hat. Eine forcierte Diurese wird z. B. eingesetzt, um giftige wasserlösliche Stoffe aus dem Organismus durch eine vermehrte Ausscheidung zu entfernen. Einige Stoffe, wie Koffein oder Ethanol (Trinkalkohol), haben ebenfalls eine harntreibende Wirkung, da sie die Bildung des antidiuretischen Hormons (ADH) hemmen, das sonst in den Nierentubuli die Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn bewirkt.
=== Ausscheidung ===
Beim Menschen wird eine Urinproduktion von > 2,5 l/Tag als Polyurie bezeichnet, eine geringe (< 100 ml/Tag) oder ganz fehlende Urinausscheidung als Anurie. Bei einer Menge von < 400–500 ml/Tag spricht man von einer Oligurie.
Der Terminus Pollakisurie meint die überdurchschnittlich häufige Blasenentleerung mit jeweils nur geringen Harnmengen.
Als Diabetes werden verschiedene Krankheiten unterschiedlicher Ursache bezeichnet, die wiederum einen erhöhten Harnfluss zur Folge haben.Bezüglich der Harngewinnung für eine medizinische Untersuchung werden verschiedene Begriffe voneinander abgegrenzt. Neben dem durch eine Katheterisierung oder suprapubische Blasenpunktion gewonnenen Urin sind dies verschiedene Formen eines mittels einfacher Blasenentleerung gewonnenen Harns. Zeitlich festgelegt werden dabei:
erster Morgenurin,
zweiter Morgenurin,
postprandialer Urin (meist zwei Stunden nach einer Mahlzeit),
Sammelurin (meist als 24-Stunden-Harn).Eine tageszeitlich nicht festgelegte Blasenentleerung wird als Spontanharn bezeichnet.
=== Eigenschaften ===
Urin dient zur Regelung des Flüssigkeitshaushalts sowie zur Entsorgung von Harnstoff, Harnsäure und anderen Stoffwechsel-Endprodukten. Ein gesunder erwachsener Mensch scheidet täglich etwa 20 Gramm Harnstoff aus. Urin enthält ferner geringe Mengen an Zucker (Traubenzucker, Glucose). Ein erhöhter Glucosegehalt im Urin deutet auf Diabetes mellitus hin. Die Konzentration von Proteinen beträgt im Normalfall weniger als 2 bis 8 mg je 100 ml, die maximale Ausscheidung täglich 100 bis 150 mg, im Durchschnitt jedoch 40 bis 80 mg. Eine erhöhte Proteinausscheidung wird Proteinurie genannt. Die Proteine sind auch für die Bildung von Schaum auf dem Urin verantwortlich. Eine ungewöhnlich starke Schaumbildung ist somit auch ein Indiz für eine Nephropathie.
Viele weitere Substanzen wie Hormone oder Duftstoffe kommen in geringen Mengen im Urin vor. Die Geruchskomponenten lassen sich zuverlässig durch die GC-MS-Kopplung nachweisen.Der pH-Wert des Urins liegt bei normaler Ernährung zwischen 4,6 und 7,5, also eher im sauren Bereich. Eine einzelne pH-Wert-Messung des Urins hat aber nur eine bedingte Aussagekraft, da der pH-Wert täglichen starken Schwankungen unterworfen ist. Eiweißreiche Ernährung verschiebt den pH-Wert in Richtung sauer, während Gemüse eine Verschiebung ins basische Milieu verursacht.
Die Dichte beträgt zwischen 1015 und 1025 g/l. Unter extremen Bedingungen (wie beispielsweise extrem hoher Flüssigkeitszufuhr oder andererseits Dehydration) kann sie zwischen 1001 und 1040 g/l schwanken. Gelöste Proteine oder Glucose können die Dichte des Urins erhöhen.
Die Osmolarität von Urin liegt typischerweise zwischen 600 und 900 mosmol/l. Urin ist dann hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma (290–300 mosmol/l), das heißt, die Konzentration der gelösten Stoffe ist höher als im Blutplasma. Die Osmolarität kann aber in Abhängigkeit vor allem von Flüssigkeitszufuhr und Flüssigkeitsverlusten zwischen 50 und 1200 mosmol/l variieren (d. h., Urin kann hypo-, iso- oder hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma sein).
Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass Urin beim gesunden Menschen in der Blase keimfrei sei, enthält er schon dort eine Vielzahl verschiedener Bakterien. Da die untere Harnröhre nicht keimfrei ist, enthält Urin beim Austritt bis zu 10.000 Keime pro Milliliter.
Frischer Urin riecht nach Brühe, während abgestandener Urin aufgrund bakterieller Umwandlungsprozesse den stechenden Geruch von Ammoniak annimmt. Dabei wird der Harnstoff enzymatisch (Urease) in Ammoniak und Kohlendioxid umgewandelt und der ursprünglich eher neutral bis saure Urin wird basisch (pH-Wert ca. 9–9,2). Bei einer schweren Stoffwechselentgleisung im Rahmen eines Diabetes mellitus kann der Urin nach Aceton riechen, dies wird durch Ketoazidose (Ketokörper im Blut) verursacht. Auch bei akuten Krankheiten (Infektionen, Fieber) und nach dem Genuss bestimmter Nahrungsmittel kann der Urin einen atypischen Geruch aufweisen.
So tritt bei knapp der Hälfte der Menschen nach dem Verzehr von Spargel ein charakteristischer Geruch des Urins auf. Er ist auf den Abbau bestimmter Inhaltsstoffe des Spargels wie Asparagusinsäure zu S-Methyl-thioacrylat, zu dessen Methanthiol-Additionsprodukt S-Methyl-3-(methylthio)thiopropionat und anderem zurückzuführen. Die Fähigkeit zu diesem Abbau wird dominant vererbt.
Der Urin von Schwangeren enthält humanes Choriongonadotropin (hCG), ein in der Plazenta gebildetes Hormon, das für die Erhaltung der Schwangerschaft verantwortlich ist. Diesen Umstand macht man sich beim Schwangerschaftstest zu Nutze, der bei vorhandenem hCG eine Farbänderung zeigt.
=== Färbung ===
Die gelbe Farbe des Urins entsteht durch sogenannte Urochrome wie die Bilirubin-Abbauprodukte Sterkobilin und Urobilin, die aus dem Abbau des Hämoglobins oder Blutfarbstoffs entstehen. Die Farbintensität hängt von der Konzentration der Urochrome im Urin ab. Hypertonischer (erhöhte Konzentration der gelösten Stoffe) Urin ist gelb oder – bei höherer Konzentration, beispielsweise als Folge von Dehydratation – gelb-orange, während geringer konzentrierter (hypotonischer Urin) hellgelb bis farblos ist.
Blutbeimengungen im Urin werden als Hämaturie bezeichnet und können den Urin rot färben. Ebenso tritt bei Porphyrie eine Rotfärbung auf.
Außerdem kann es bei manchen Menschen zu einer kurzzeitigen Rotfärbung des Urins kommen, ohne dass durch eine Wunde oder Entzündung Blut in den Harn gelangt, wenn die Person vermehrt Carotine oder Betanin (in Roter Bete) aufgenommen hat. Ob dies genetisch vererbt wird, ist unbekannt.
Zu einer rötlichen Urinverfärbung kann es zudem durch Anthracycline, Rifampicin, hochdosiertes Methotrexat und viele andere Medikamente kommen.Ist der Harn gesättigt, so kommt es bei Abkühlung zu einer Ausfällung von Uraten und damit zu ziegelroter oder dunkel gelber Färbung. Bei Erwärmung verschwindet sie wieder.
Dunkel orange oder braun gefärbter Urin kann ein Hinweis auf eine Bilirubinurie und damit auf eine Gelbsucht (Ikterus) oder einen Morbus Meulengracht sein. Als Melanurie wird eine schwarze Färbung des Harns bezeichnet. Dieser enthält Melanogen, das an der Luft zu Melanin oxidiert. Melanurie kann beim Vorhandensein von Melanomen auftreten. Ebenfalls schwarzer oder dunkler Urin findet sich bei Alkaptonurie. Hier wird Homogentisat aufgrund eines Defekts oder Mangels des Enzyms Homogentisat-Dioxygenase mit dem Urin ausgeschieden. Dieser verdunkelt sich nach Kontakt mit der Luft. Auch einige Medikamente können eine Verfärbung des Urins bewirken.
Bräunlicher Urin tritt bei Myoglobinurie auf, zum Beispiel verursacht durch Rhabdomyolyse, oder auch bei Porphyrie.
Eine Grünfärbung des Urin kann durch Propofol ausgelöst werden. Propofol wird primär in der Leber abgebaut. Man nimmt an, dass phenolische Metaboliten den Urin grün färben können. Diese Metaboliten sind nicht nephrotoxisch. Auch Indomethacin, Amitriptylin, Cimetidin und Methylenblau können eine Grünfärbung des Urins auslösen. Ferner ein Verschlussikterus oder eine Pseudomonas-Infektion.
== Übrige Tiere ==
Einfache, den Nieren entsprechende Ausscheidungsorgane finden sich bereits bei den Wirbellosen. Die Ausscheidungsprodukte der Proto- und Metanephridien sowie der Malpighischen Gefäße werden zumeist ebenfalls als Harn bezeichnet.
=== Amphibien ===
Auch Amphibien besitzen eine Opisthonephros ohne Henle-Schleifen und können daher keinen hyperosmolaren Harn produzieren. Die Stickstoffausscheidung erfolgt bei Kaulquappen über Ammoniak. Nach der Metamorphose erfolgt sie über Harnstoff, bei wüstenbewohnenden Amphibien und Makifröschen über Harnsäure (Uricotelie). Die Abgabe des Urins erfolgt in die Kloake, die über einen kurzen Verbindungsgang mit der Harnblase in Verbindung steht. Der dort gespeicherte Urin dient bei Amphibien vor allem als Wasserreservoir. Der ständige Wasserverlust über die Haut kann durch Rückresorption von Wasser aus dem Urin in gewissen Grenzen ausgeglichen werden.
=== Fische ===
Das Ausscheidungsorgan der Fische ist eine modifizierte Urniere, Opisthonephros genannt. Die Urniere tritt bei Säugetieren nur vorübergehend beim Embryo auf. Das Nephron der Fische besitzt keine Henle-Schleife, die zur Konzentration des Urins benötigt wird. Deshalb können sie keinen hyperosmolaren Harn (größere Konzentration an gelösten Stoffen als im Blutplasma) produzieren. Bei einigen Fischarten (beispielsweise Seenadeln, Seeteufel, Antarktisdorsche) sind nicht einmal Nierenkörperchen ausgebildet (aglomeruläre Niere), bei ihnen entsteht der Harn nicht durch Ultrafiltration, sondern durch Sekretions- und Diffusionsvorgänge in den Nierenkanälchen.
Die Funktion und Zusammensetzung des Urins ist abhängig vom Lebensraum. Bei Süßwasserfischen wird viel Urin gebildet und dient vor allem der Eliminierung von überschüssigem Wasser. Elektrolyte kommen bei Süßwasserfischen nie im Überschuss vor, im Gegenteil, hier erfolgt eine aktive Aufnahme von einwertigen Ionen über das Epithel der Kiemen. Bei Meeresfischen sind dagegen die Verhältnisse umgekehrt. Bei ihnen wird nur wenig und im Vergleich zum Blut isoosmotischer Urin gebildet. Durch das Leben im Salzwasser sind Elektrolyte bei ihnen stets im Überschuss vorhanden, ihre Eliminierung erfolgt aber nicht über den Urin, sondern über die Rektaldrüsen (Knorpelfische) oder das Epithel der Kiemen (Knochenfische). Der Harn dient bei Meeresfischen also nicht der Osmoregulation, sondern nur der Ausscheidung zweiwertiger Ionen (wie Mg2+) und von überschüssigem Stickstoff. Interessant sind die Verhältnisse bei Wanderfischen (anadrome und katadrome Fische), die einen Teil des Lebens in Süß-, den anderen in Salzwasser verbringen. Hier kann über Hormone die Richtung des Elektrolytaustauschs in den Kiemen umgeschaltet werden: Durch Kortisol wird zur Anpassung an Salzwasser die Abgabe einwertiger Ionen, über Prolaktin deren Aufnahme zur Anpassung an Süßwasser ausgelöst.
Die Stickstoffverbindungen werden bei Knochenfischen zumeist als Ammoniak (Ammoniotelie) direkt über die Kiemen, bei einigen anderen Fischen, insbesondere bei den Knorpelfischen, auch als Harnstoff (Ureotelie) ausgeschieden. Zum Teil wird Stickstoff auch als Guanin in die Schuppen eingelagert, welches ihnen den metallischen Glanz verleiht.
Eine Harnblase und Harnröhre fehlt bei manchen Fischen, die Harnleiter münden in den Enddarm, die Harnröhre mit eigenem Porus, oder (selten) in eine Kloake usw.
=== Reptilien ===
Reptilien besitzen wie alle Amnioten eine Nachniere (Metanephros). Im Gegensatz zu Vögeln und Säugetieren besitzen die Nephrone keine Henle-Schleife und können daher in der Niere keinen konzentrierten Harn produzieren. Die produzierte Harnmenge ist bei Reptilien gering (0,2 bis 5,7 ml pro kg Körpermasse und Stunde). Die Harnleiter münden wie bei Amphibien in die Kloake. Von der Kloake führt bei Echsen und Schildkröten ein kurzer Gang in die Harnblase (Harnbeutel), in der der Harn gespeichert werden kann. Schlangen besitzen keine Harnblase.
Der Urin ist bei Schildkröten flüssig. Bei den übrigen Reptilien wird er im Enddarm durch Wasserrückresorption eingedickt und ist daher breiartig bis pastös. Überschüssiger Stickstoff wird in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Für die Ausscheidung überschüssiger Elektrolyte ist der Urin der Reptilien von untergeordneter Bedeutung, ein Salzüberschuss wird über verschiedene Kopfdrüsen ausgeglichen: Orbitaldrüse (Meeresschildkröten, am Auge), Sublingual- oder Prämaxillardrüse (Schlangen), Zungendrüsen (Krokodile), Nasendrüse (Echsen).
=== Vögel ===
Die Nachniere der Vögel steht zwischen der von Reptilien und Säugetieren, da neben Nephronen vom Reptilientyp (ohne Henle-Schleife) auch Nephrone vom Säugetiertyp auftreten, so dass Vögel zur Bildung eines hyperosmolaren Harns befähigt sind. Der Urin wird über den linken und rechten Harnleiter in den Mittelabschnitt (Urodeum) der Kloake abgegeben, eine Harnblase fehlt allen Vögeln.
Überflüssiger Stickstoff wird wie bei Reptilien in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Über eine negative Peristaltik gelangt der Urin in den Enddarm, wo ihm Wasser entzogen wird. Der Urin ist daher bei Vögeln pastös (hell) und es kommt zur Ausfällung von Harnsäurekristallen, die zusammen mit dem Kot (dunkler) ausgeschieden werden. Der stickstoffreiche Kot von Vögeln (Guano) wird auch als Düngemittel genutzt. Bei Vögeln mit entwickelten Blinddärmen (beispielsweise Hühnervögel) kann der konzentrierte Urin auch bis in die Blinddärme zurücktransportiert werden und dient der dort angesiedelten Darmflora als Stickstoffquelle. Überschüssige Elektrolyte (Kochsalz) werden bei Vögeln nicht nur über den Urin, sondern (wie bei Echsen) auch über die Nasendrüse ausgeschieden, ein Mechanismus, der für die Aufrechterhaltung der Osmolarität vor allem bei Meeresvögeln von Bedeutung ist.
== Urinuntersuchung ==
Die Urinuntersuchung, auch Uroskopie oder Harnschau (mittels Harnglas), ist eine der ältesten medizinischen Untersuchungen. Sie erlaubt Rückschlüsse auf den Zustand und die Funktionsfähigkeit von Niere und Blase, beispielsweise bei Niereninsuffizienz und Blaseninfektion. Während früher die Untersuchung mittels Beschreibung der Beobachtungen (Farbe, Trübungen, Ablagerungen durch den Blasenablass usw.), des Geruches und des Geschmackes (daher stammt auch die Diagnose Diabetes mellitus, da mellitus im Lateinischen „honigsüß“ bedeutet) erfolgte, so wird heutzutage die Erstuntersuchung in erster Linie mit Hilfe von Urin-Teststreifen durchgeführt. Damit kann man gleichzeitig und innerhalb von wenigen Minuten mehrere wichtige Befunde erheben. Durch einen Farbumschlag können näherungsweise der Gehalt an Proteinen, Glucose, Ketonen, Bilirubin, Urobilinogen, Urobilin sowie der pH-Wert bestimmt werden, auch wird der Urin auf Vorhandensein von Blut und Entzündungszellen getestet. Die Zusammenstellung dieser Ergebnisse wird als Urinstatus bezeichnet.
Mit Hilfe des Urinstatus können Frühsymptome dreier großer Krankheitsgruppen erkannt werden:
Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege (Nierensteine, Nierentumoren, Entzündungen, …)
Kohlenhydratstoffwechselstörungen (Diabetes mellitus)
Leber- und hämolytische Erkrankungen.Eine qualitative Harnuntersuchung weist nach, ob eine Substanz im Harn vorhanden ist oder nicht, während eine quantitative Untersuchung die genaue Menge des untersuchten Stoffes angibt. Eine semiquantitative Untersuchung gibt in etwa an, wie viel von einer Substanz im Harn vorhanden ist.
Der Urin eines gesunden Menschen sollte weder Proteine, Nitrit, Ketone noch Blutbestandteile wie Hämoglobin enthalten. Werden dort Substanzen, die normalerweise nicht im Urin vorkommen, nachgewiesen oder finden sich veränderte Konzentrationen, kann dies auf Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes hinweisen.
Wird frischer Morgenurin zentrifugiert und dann unter dem Mikroskop betrachtet (Untersuchung des Urinsediments), sind verschiedene feste Bestandteile sichtbar. Dazu gehören beispielsweise Kristalle aus Harnsäure, Calciumsulfat und Calciumoxalat. Kristallisiertes Tyrosin oder Bilirubin sind hingegen Zeichen für Erkrankungen. Unter dem Mikroskop können neben den kristallisierten Substanzen auch zelluläre Bestandteile gefunden werden. Diese können Hinweise auf Tumoren von Nieren und ableitenden Harnwegen darstellen.
Durch spezielle Nachweistests kann die Einnahme von Medikamenten, Giften, Drogen oder Dopingsubstanzen im Urin nachgewiesen werden. Jedoch können diese Untersuchungen, die beispielsweise in der Suchttherapie eingesetzt werden, durch diverse Zusätze – wie Bleichmittel, Seife oder Kochsalz – verfälscht werden. Beim Schwangerschaftstest wird humanes Choriongonadotropin (hCG) nachgewiesen.
Bei Verdacht auf verschiedene Erkrankungen können hierfür spezifische Substanzen im Urin bestimmt werden. Hierfür wird meistens der 24-Stunden-Sammelharn verwendet. Beim Phäochromozytom weist man Katecholamine und deren Abbauprodukte nach. Der früher durchgeführte Test auf Vanillinmandelsäure ist aufgrund zu geringer Spezifität veraltet.
Die Menge des ausgeschiedenen Urins ist ein entscheidender Wert bei der Flüssigkeitsbilanzierung, bei der die Aufnahme von Flüssigkeiten mit der Ausscheidung (Urin, Schweiß, Perspiratio invisibilis) verglichen werden.
=== Mittelstrahlurin ===
Für Untersuchungen wird bevorzugt der Mittelstrahlharn des Morgenurins benutzt, da dieser die enthaltenen Stoffe in größerer Konzentration enthält als tagsüber gewonnener. Nach einer anfänglichen Säuberung und eventuellen Desinfektion der Eichel beim Mann oder des Genitalbereichs bei der Frau wird der erste Strahl des Harns verworfen. Erst die folgenden Anteile werden aufgefangen und für die Untersuchung verwendet. Damit werden Beimengungen aus Verunreinigungen der äußeren Abschnitte der Harnröhre vermindert, die das Ergebnis verfälschen können. Bei weiblichen Probanden wird das Gewinnen von unverfälschtem Mittelstrahlurin durch die Anatomie der Vulva und die Sekrete des Genitals deutlich erschwert.
=== Dreigläserprobe ===
Eine ähnliche Methode ist die Dreigläserprobe. Dabei werden der erste Strahl sowie der Mittelstrahl in separaten Gefäßen aufgefangen. Das dritte Glas wird nach leichter Prostata-Massage mit Urin – vermengt mit Prostata-Sekret – gefüllt. So lässt sich eine grobe Lokalisation beispielsweise von Blutungsquellen vornehmen. Der Inhalt des ersten Glases repräsentiert die Harnröhre, das zweite Glas die Harnblase und das dritte die Prostata.
=== Weitere Sammelarten ===
Für spezielle Fragestellungen kann der Urin auch über einen Katheter oder durch direkte Punktion der Blase durch die Bauchdecke (suprapubische Blasenpunktion) gewonnen werden. Dieser ist normalerweise frei von Keimen der Umgebung oder der Harnröhre. Für einige Untersuchungen ist das Sammeln des Urins über 24 Stunden notwendig. Dies ist in der Regel der Fall bei der Analytik von Hormonen und deren Abbauprodukten, wie z. B. der Vanillinmandelsäure, Homovanillinsäure oder 5-Hydroxyindolessigsäure zur Diagnostik des Phäochromozytoms, Neuroblastoms oder Karzinoidsyndroms.
== Harnsteine ==
Wenn im Urin gelöste Mineralsalze (beispielsweise Calciumcarbonat, Calciumphosphat oder Calciumoxalat) ausgefällt werden, können sich zunächst kleine Kristalle bilden, die sich allmählich zu größeren Gebilden zusammenfügen. Diese als Harn- oder Nierensteine bezeichneten Gebilde können sich entweder in den Nieren, im Harnleiter oder in der Harnblase ansammeln und starke Schmerzen (Kolik) verursachen. In den meisten Fällen (etwa 80 %) gehen sie nach Gabe von entkrampfenden oder schmerzstillenden Mitteln mit Hilfe von erhöhter Trinkmenge und körperlicher Bewegung von selbst ab. Seltener ist ein (manchmal auch nur endoskopischer) Eingriff notwendig und nur in extremen Fällen ist eine Behandlung durch Stoßwellen-Zertrümmerung (Extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie) nötig.
== Verwendung von Urin ==
=== Als Reinigungsmittel ===
Urin, insbesondere „gefaulter“, wurde über Jahrtausende als Reinigungsmittel eingesetzt. So wurden in Rom an belebten Straßen amphorenartige Urinale aufgestellt, um den von den Wäschern benötigten Urin einzusammeln. Kaiser Vespasian erhob darauf eine spezielle Urinsteuer. Als sein Sohn Titus ihm daraufhin Vorwürfe machte, aus derartig stinkender Angelegenheit monetären Nutzen zu ziehen, soll er diesem eine Münze vor die Nase gehalten und „Pecunia non olet“ („Geld stinkt nicht“) geantwortet haben.
Gefaulter Urin wurde noch bis ins 20. Jahrhundert zum Entfernen des Wollfetts (Entschweißen) frisch geschorener Schafwolle und zum Walken von Wolltuchen eingesetzt, des Weiteren im Gerberhandwerk sowie für das Beizen von kupfergedeckten Dächern (Patina).
=== Als Färbungsmittel ===
Große Bedeutung hat und hatte Urin auch für das Färberhandwerk. Aus dem Urin indischer Kühe, die ausschließlich mit Mangoblättern gefüttert wurden, wurde durch Verdampfen das Indischgelb (Magnesiumeuxanthat, ein Magnesiumsalz der Euxanthinsäure, Summenformel C19H16O11Mg · 5 H2O) gewonnen. Seine Herstellung ist in Indien bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Im 18. Jahrhundert gelangte der Farbstoff dann auch nach Europa. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat diese Herstellungsmethode jedoch aufgrund von Tierschutzbedenken an Bedeutung verloren. Außerdem diente menschlicher Urin zur Gewinnung von Indigoblau. Dazu wurden die Blätter des Färberwaids in Kübeln mit Urin vergoren. Die Färbung von Textilien mit Urin und Indigo nennt man Küpenfärbung. Dabei macht man sich die reduzierende Wirkung des Urins zu Nutze, um Indigo löslich zu machen und den Farbstoff so in die Faser zu bringen.
=== Als Pflanzennährstoff ===
Durch den Gehalt an Stickstoffverbindungen (bei Säugetieren einschließlich der Menschen vor allem Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin), Phosphaten sowie Kalium- und Calciumsalzen u. a. m. kann Urin als Lieferant von Pflanzennährstoffen dienen. Dieser Gehalt ist i. d. R. so hoch, dass Pflanzen durch Begießen mit unverdünntem Urin geschädigt oder sogar zum Absterben gebracht werden können, sie „verbrennen“. Verdünnt, z. B. mit der acht- bis zehnfachen Menge Wasser, stellt Urin hingegen einen stark wachstumsfördernden Dünger dar. In Gebieten mit sehr geringen Niederschlägen kann der – je nach Ernährung unterschiedlich hohe – Kochsalzgehalt des Urins allerdings zu einer Versalzung des Bodens führen. Da Urin aufgrund des hohen Pflanzennährstoffanteils auch zur Überdüngung von Gewässern beiträgt, gibt es inzwischen weltweit Projekte, diesen Nährstoffgehalt durch entsprechende technische Maßnahmen nutzbar zu machen.
=== Trinkwassergewinnung ===
Urin kann durch Destillation zu Trinkwasser verarbeitet werden, um einer Dehydratation entgegenzuwirken. Das wird zum Beispiel auf der Internationalen Raumstation (ISS) getan, um die Astronauten im Weltraum mit genügend Trinkwasser versorgen zu können und zusätzliche Versorgungsflüge zu sparen.Auch kann das Destillieren von Urin in wasserarmen Regionen eine wichtige Überlebensstrategie im Sinne des Bushcrafting sein, sofern es keine andere Wasserquellen gibt. Nicht oder falsch destillierter Urin eignet sich nicht als Trinkwasserersatz, schadet den Nieren und steigert den Durst. Zum Destillieren eignen sich auch Solardestillen. Aktivkohlefilter können den Harnstoff nur wenig adsorbieren.
Urin wie auch andere Flüssigkeiten in einer Abwasserleitung können durch eine Kläranlage gereinigt und als Uferfiltrat teilweise wieder zu Trinkwasser werden.
=== Medizinische Verwendung ===
In der Medizin wurden Urin und aus Urin gewonnene Substanzen vielfältig eingesetzt. So wurde in Kriegs- und Katastrophenfällen Urin als wirkungsvolles Wunddesinfektionsmittel verwendet. Um 1500 empfahl der ostschwäbische Wundarzt Jörg zu Pforzen ein aus Salz und dem Sediment von Knabenurin hergestelltes Pulver zur Behandlung des Pannus (Überwachsung der Augenhornhaut). Heute können aus dem Urin von postmenopausalen Frauen Gonadotropine gewonnen werden, die zur Therapie von Fruchtbarkeitsstörungen eingesetzt werden können.
Im alternativmedizinischen Bereich wird die „Eigenurintherapie“ angewandt. Hierbei werden dem eigenen (Morgen-)Urin Fähigkeiten zur Heilung verschiedener Krankheiten zugeschrieben. Durch Trinken, äußerliche Anwendung oder Injektion sollen Krankheiten wie Asthma, Neurodermitis oder Cellulite und andere geheilt oder zumindest gelindert werden. In Deutschland hat unter anderem Carmen Thomas in ihrem Buch Ein ganz besonderer Saft – Urin dafür plädiert, Eigenurin zu trinken. Nachweise für einen positiven Effekt der Eigenurintherapie gibt es nicht.Die arabische Tradition kennt die Verwendung von Kamelurin als Heilmittel. Das geht auf eine Hadith des Propheten Mohammed zurück. In jüngerer Zeit wurde von Forschern in Arabien eine krebsmindernde Wirkung von Kamelurin behauptet. Im Juli 2015 warnte die WHO vor dem Trinken von Kamelurin, weil dadurch die Gefahr einer Ansteckung mit MERS besteht.Da pathogene Prionen – falsch gefaltete Eiweiße, welche Krankheiten wie BSE oder Scrapie auslösen können – im Urin gefunden wurden, unterliegt die Gewinnung von Arzneien aus menschlichem Urin strengen Vorschriften. Menotropin aus humanem Urin muss wegen möglicher CJK-Ansteckungsgefahr mit einem Warnhinweis versehen werden; es sind aber noch keine Ansteckungen via menschlichem Urin bekannt. Nach Ergebnissen des Schweizer Prionenforschers Adriano Aguzzi sind im Urin enthaltene Prionen die derzeit aktuelle Erklärung dafür, weshalb Prionenkrankheiten bei Schafen, Elchen und Hirschen relativ hohe Ansteckungsraten besitzen – schließlich ernähren sich diese Wildtiere nicht von Tiermehl. Allerdings fand man die Prionen im Urin nur, wenn eine Nierenentzündung vorlag.
=== Kommunikation und Markierung im Tierreich ===
Tiere verwenden Urin auch zur Kommunikation (Chemokommunikation). Am bekanntesten dürfte dabei der Hund sein, der, wie viele andere Tiere, sein Revier durch die Abgabe einer kleinen Urinmenge an markanten Stellen abgrenzt. Bei einigen Katzen wie Leopard oder Gepard und den meisten Huftieren erkennt das Männchen am Geruch des Urins, ob das Weibchen paarungsbereit ist. Beim Abbau des enthaltenen Harnstoffs in der Umwelt entsteht durch Hydrolyse das stechend riechende Gas Ammoniak.
=== Sexuelle Vorliebe ===
Die sexuelle Vorliebe zu Urin wird auch als Urophilie oder Undinismus bezeichnet. Dabei wird der Prozess des Urinierens oder der Urin selbst als erotisch und sexuell stimulierend erlebt. Auch Urophagie, der Lustgewinn durch orale Aufnahme von Urin (sogenanntem „Natursekt“), kann damit verbunden sein. In der entsprechenden Szene sind auch die Bezeichnungen Natursekt (oftmals auch mit „ns“ abgekürzt), Watersports, Pissing, Peeing, Golden Shower, Golden-Waterfalls und Wet-Games verbreitet. Da diese sexuelle Vorliebe deutlich von der empirischen Norm abweicht, wird auch von einer Paraphilie gesprochen.
=== Psychische und soziale Aspekte des Urinierens ===
Zu psychischen und sozialen Aspekten des Urinierens siehe Harnlassen.
== Siehe auch ==
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
Harninkontinenz
Paruresis
== Literatur ==
Uwe Gille: Harn- und Geschlechtssystem, Apparatus urogenitalis. In: Franz-Viktor Salomon, Hans Geyer, Uwe Gille (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. Enke-Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-8304-1007-7.
Huldrych M. Koelbing: Der Urin im medizinischen Denken. Geigy, 1967.
Robert Franz Schmidt, Florian Lang, Gerhard Thews: Physiologie des Menschen. 29. Auflage. Springer-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-540-21882-3.
Max Maurer: Aufbereitung von Urin – Flexibilität pur. In: Eawag News. 63d, März 2007, S. 14–16 (PDF 1,6 MB).
== Weblinks ==
G. Eknoyan: Looking at the Urine: The Renaissance of an Unbroken Tradition. In: American Journal of Kidney Diseases. 2007 06 (Vol. 49, Issue 6). Historische Übersicht (englisch).
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Urin |
Ytterbium | = Ytterbium =
Ytterbium [ʏˈtɛrbiʊm, ] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Yb und der Ordnungszahl 70. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Wie die anderen Lanthanoide ist Ytterbium ein silberglänzendes Schwermetall. Die Eigenschaften des Ytterbiums folgen nicht der Lanthanoidenkontraktion, und auf Grund seiner Elektronenkonfiguration besitzt das Element eine deutlich geringere Dichte sowie einen niedrigeren Schmelz- und Siedepunkt als die benachbarten Elemente.
Ytterbium wurde 1878 von Jean Charles Galissard de Marignac bei der Untersuchung von Gadolinit entdeckt. 1907 trennten Georges Urbain, Carl Auer von Welsbach und Charles James unabhängig voneinander ein weiteres Element, das Lutetium, von Marignacs Ytterbium ab. Der bisherige Name wurde dabei nach längerer Diskussion entgegen den Wünschen Welsbachs, der Aldebaranium vorgeschlagen hatte, beibehalten.
Technisch werden das Element und seine Verbindungen auf Grund der komplizierten Abtrennung von den anderen Lanthanoiden nur in geringen Mengen, unter anderem als Dotierungsmittel für Yttrium-Aluminium-Granat-Laser genutzt. Ytterbium(III)-chlorid und Ytterbium(II)-iodid sind Reagenzien in verschiedenen organischen Synthesereaktionen.
== Geschichte ==
Ytterbium wurde 1878 vom Schweizer Chemiker Jean Charles Galissard de Marignac entdeckt. Er untersuchte Gadolinit genauer und versuchte durch Zersetzung von Nitraten in heißem Wasser das unlösliche Erbium von den anderen Mineralbestandteilen abzutrennen. Dabei entdeckte er, dass die erhaltenen Kristalle nicht einheitlich aus rotem Erbiumnitrat bestanden, sondern weitere farblose Kristalle zurückblieben. Das gemessene Absorptionsspektrum zeigte, dass es sich um Kristalle eines bislang unbekannten Elements handeln muss. Dieses nannte er nach dem Fundort des Gadolinites in Ytterby (Schweden) sowie wegen der Ähnlichkeit zum Yttrium Ytterbium. Eine Trennung der beiden Elemente gelang in einem anderen Experiment durch die Zugabe von hyposchwefliger Säure zu einer Lösung der Chloride.1907 erkannten unabhängig voneinander der Franzose Georges Urbain, der Österreicher Carl Auer von Welsbach und der Amerikaner Charles James, dass das von Marignac gefundene Ytterbium kein Reinelement ist, sondern ein Gemisch zweier Elemente darstellt. Sie konnten dieses Gemisch in das nun reine Ytterbium und in Lutetium trennen. Dabei nannte Carl Auer von Welsbach die Elemente Aldebaranium (nach dem Stern Aldebaran) und Cassiopeium, während Urbain Neoytterbium und Lutetium als Namen festlegte. 1909 wurde vom internationalen Atomgewichts-Ausschuss, bestehend aus Frank Wigglesworth Clarke, Wilhelm Ostwald, Thomas Edward Thorpe und Georges Urbain, bestimmt, dass Urbain die Entdeckung des Lutetiums zusteht und damit auch die von ihm bestimmten Namen Bestand haben. Es wurde jedoch für das Ytterbium der alte Name Marignacs beibehalten.
Elementares Ytterbium wurde erstmals 1936 von Wilhelm Klemm und Heinrich Bommer erhalten. Sie gewannen das Metall durch Reduktion von Ytterbium(III)-chlorid mit Kalium bei 250 °C. Weiterhin bestimmten sie die Kristallstruktur und die magnetischen Eigenschaften des Metalls.
== Vorkommen ==
Ytterbium ist auf der Erde ein seltenes Element, seine Häufigkeit in der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 3,2 ppm.Ytterbium kommt als Bestandteil von Seltenerd-Mineralen, vor allem denjenigen des Yttriums und der schwereren Lanthanoide wie Xenotim und Gadolinit vor. So enthält Xenotim aus Malaysia bis zu 6,2 % Ytterbium. Ceriterden wie Monazit und Bastnäsit enthalten dagegen geringere Anteile an Ytterbium, so enthält Monazit je nach Lagerstätte zwischen 0,12 und 0,5 % des Elements.Es sind mehrere seltene Minerale bekannt, in denen Ytterbium das häufigste Seltenerdmetall ist. Dazu zählen Xenotim-(Yb) mit einem Anteil von 32 Gewichtsprozent Ytterbium am Mineral und der Verhältnisformel (Yb0,40Y0,27Lu0,12Er0,12Dy0,05Tm0,04Ho0,01)PO4 und Keiviit-(Yb) mit der Verhältnisformel (Yb1,43Lu0,23Er0,17Tm0,08Y0,05Dy0,03Ho0,02)2Si2O7. Diese Minerale sind jeweils Teile einer Mischkristallreihe, aus der auch andere natürlich vorkommende Zusammensetzungen, vor allem mit Yttrium als Hauptbestandteil, bekannt sind.
Wichtigste Quellen für Ytterbium sind die Monazit- und Xenotimvorkommen in China und Malaysia (dort als Begleitmineral von Kassiterit). Auf Grund der geringen Nachfrage wird die Situation der Versorgung mit Ytterbium nicht als kritisch angesehen.Die chemische Evolution von Ytterbium, die auf der Fähigkeit zum Einfangen schneller Neutronen basiert, wird mit der Verwandlung von Sternen in Rote Riesen, mit Supernovae und der Kollision von Neutronensternen in Verbindung gebracht.
== Gewinnung und Darstellung ==
Die Gewinnung von Ytterbium ist vor allem durch die schwierige Trennung der Lanthanoide kompliziert und langwierig. Die Ausgangsminerale wie Monazit oder Xenotim werden zunächst mit Säuren oder Laugen aufgeschlossen und in Lösung gebracht. Die Trennung des Ytterbiums von den anderen Lanthanoiden ist dann durch verschiedene Methoden möglich, wobei die Trennung durch Ionenaustausch die technisch wichtigste Methode für Ytterbium, wie auch für andere seltene Lanthanoide, darstellt. Dabei wird die Lösung mit den seltenen Erden auf ein geeignetes Harz aufgetragen, an das die einzelnen Lanthanoid-Ionen unterschiedlich stark binden. Anschließend werden sie in einer Trennsäule mit Hilfe von Komplexbildnern wie EDTA, DTPA oder HEDTA vom Harz gelöst, und durch die unterschiedlich starke Bindung am Harz erzielt man somit die Trennung der einzelnen Lanthanoide.Eine chemische Trennung ist über unterschiedliche Reaktionen von Ytterbium-, Lutetium- und Thuliumacetat mit Natriumamalgam möglich. Dabei bildet Ytterbium ein Amalgam, während die Lutetium- und Thuliumverbindungen nicht reagieren.Die Gewinnung metallischen Ytterbiums kann durch Elektrolyse einer Schmelze aus Ytterbium(III)-fluorid und Ytterbium(III)-chlorid erfolgen, mit Alkali- oder Erdalkalimetallhalogeniden zur Schmelzpunktreduktion, sowie flüssigem Cadmium oder Zink als Kathode. Daneben lässt es sich auch durch metallothermische Reduktion von Ytterbium(III)-fluorid mit Calcium, oder Ytterbium(III)-oxid mit Lanthan oder Cer herstellen. Wird die letzte Reaktion im Vakuum ausgeführt, destilliert Ytterbium ab und kann so von anderen Lanthanoiden getrennt werden.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Ytterbium ist wie die anderen Lanthanoide ein silberglänzendes, weiches Schwermetall. Es besitzt mit 6,973 g/cm3 eine ungewöhnlich niedrige Dichte, die deutlich niedriger ist als diejenige der benachbarten Lanthanoide wie Thulium bzw. Lutetium und vergleichbar mit der von Neodym oder Praseodym ist. Vergleichbares gilt auch für den verhältnismäßig niedrigen Schmelzpunkt von 824 °C und den Siedepunkt von 1430 °C (Lutetium: Schmelzpunkt 1652 °C, Siedepunkt 3330 °C). Diese Werte stehen der sonst geltenden Lanthanoidenkontraktion entgegen und werden durch die Elektronenkonfiguration [Xe] 4f14 6s2 des Ytterbiums verursacht. Durch die vollständig gefüllte f-Schale stehen nur zwei Valenzelektronen für metallische Bindungen zur Verfügung und es kommt daher zu geringeren Bindungskräften und zu einem deutlich größeren Metallatomradius.Es sind drei verschiedene Kristallstrukturen bei Atmosphärendruck sowie drei weitere Hochdruckmodifikationen des Ytterbiums bekannt. Bei Raumtemperatur kristallisiert das Metall in einer kubisch-dichtesten Kugelpackung mit dem Gitterparameter a = 548,1 pm. Bei höheren Temperaturen und Drücken geht diese Struktur in eine kubisch-innenzentrierte Kugelpackung über, wobei bei Atmosphärendruck die Übergangstemperatur bei etwa 770 °C, und bei Raumtemperatur der Übergangsdruck bei 4 GPa liegt. Bei tiefen Temperaturen ist eine hexagonal-dichteste Struktur stabil, wobei der strukturelle Phasenübergang, welcher zwischen 0 und 45 °C liegt, stark abhängig ist von Reinheit, Druck und Spannungen im Metall. Diese Phasen besitzen unterschiedlichen Magnetismus. Während die hexagonale Phase (wie durch die vollständig besetzten Orbitale zu erwarten) diamagnetisch ist, zeigt die kubisch-flächenzentrierte Struktur Paramagnetismus (wahrscheinlich durch geringe Mengen Yb3+ im Metall).Die Reihenfolge der Hochdruckmodifikationen entspricht nicht der bei anderen Lanthanoiden häufig zu findenden Reihenfolge. So sind keine Modifikationen des Ytterbiums mit einer doppelt-hexagonal-dichtesten Struktur oder einer Samarium-Struktur bekannt. Auf die ab 4 GPa stabile kubisch-innenzentrierte Struktur folgt bei 26 GPa eine hexagonal-dichteste Phase. Der nächste Phasenübergang erfolgt bei weiterer Druckerhöhung bei 53 GPa und oberhalb dieses Druckes bildet sich wiederum eine kubisch-dichteste Struktur aus. Ein weiterer bekannter Phasenübergang erfolgt bei 98 GPa. Ab diesem Druck ist bis mindestens 202 GPa eine hexagonale Struktur am stabilsten, mit der Raumgruppe P3121 (Raumgruppen-Nr. 152)Vorlage:Raumgruppe/152, was auch hP3-Struktur genannt wird. Mit der Druckerhöhung erfolgt auch eine Änderung der Elektronenstruktur des Ytterbiums, wobei ein Elektron vom f-Orbital in ein d-Orbital übergeht, und die Elektronenkonfiguration ist dann wie bei anderen Lanthanoiden dreiwertig (trivalent).
=== Chemische Eigenschaften ===
Ytterbium ist ein typisches unedles Metall, das vor allem bei höheren Temperaturen mit den meisten Nichtmetallen reagiert. Mit Sauerstoff reagiert es bei Standardbedingungen an trockener Luft langsam, schneller bei Anwesenheit von Feuchtigkeit. Feinverteiltes metallisches Ytterbium ist, wie andere unedle Metalle, an Luft und unter Sauerstoff entzündlich. Mischungen von feinverteiltem Ytterbium und Organohalogenverbindungen wie Hexachlorethan oder Polytetrafluoroethylen brennen mit smaragdgrüner Flamme. Die Reaktion von Ytterbium mit Wasserstoff ist keine vollständige, denn der Wasserstoff tritt in die Oktaederlücken der Metallstruktur ein und es bilden sich nicht-stöchiometrische Hydrid-Phasen aus, wobei die Zusammensetzung von der Temperatur und dem Wasserstoffdruck abhängt.In Wasser löst sich Ytterbium nur langsam, in Säuren schneller unter Wasserstoffbildung. In Lösung liegen meist dreiwertige, farblose Ytterbiumionen in Form des Hydrates [Yb(H2O)9]3+vor. Das gelbgrüne zweiwertige Ytterbiumion ist in wässriger Lösung nicht stabil, es oxidiert unter Wasserstoffbildung mit einer Halbwertszeit von etwa 2,8 Stunden zum dreiwertigen Ion. Wird Ytterbium in flüssigem Ammoniak gelöst, bildet sich wie bei Natrium durch solvatisierte Elektronen eine blaue Lösung.
== Isotope ==
Es sind insgesamt 33 Isotope zwischen 148Yb und 181Yb sowie weitere 12 Kernisomere des Ytterbiums bekannt. Von diesen kommen sieben mit unterschiedlicher Häufigkeit in der Natur vor. Das Isotop mit dem größten Anteil an der natürlichen Isotopenzusammensetzung ist 174Yb mit einem Anteil von 31,8 %, gefolgt von 172Yb mit 21,9 %, 173Yb mit 16,12 %, 171Yb mit 14,3 % und 176Yb mit 12,7 %. 170Yb und 168Yb sind mit Anteilen von 3,05 bzw. 0,13 % deutlich seltener.Das radioaktive Isotop 169Yb mit einer Halbwertszeit von 32 Tagen entsteht zusammen mit dem kurzlebigen 175Yb (Halbwertszeit 4,2 Tage) durch Neutronenaktivierung bei der Bestrahlung von Ytterbium in Kernreaktoren. Es kann als Gammastrahlenquelle, etwa in der Nuklearmedizin und Radiographie, genutzt werden.
== Verwendung ==
Ytterbium und seine Verbindungen werden nur in sehr geringem Umfang kommerziell eingesetzt. Als Legierungsbestandteil verbessert es die Kornfeinung, Festigkeit und mechanischen Eigenschaften rostfreien Stahls. Es wurde untersucht, Ytterbiumlegierungen in der Zahnmedizin zu nutzen.Ytterbium wird wie andere Lanthanoide als Dotierungsmittel für Yttrium-Aluminium-Granat-Laser (Yb:YAG-Laser) genutzt. Vorteile gegenüber Nd:YAG-Lasern liegen in der höheren möglichen maximalen Dotierung, einer längeren Lebensdauer des höheren Energieniveaus sowie einer größeren Absorptions-Bandbreite. Auch in Faserlasern ist Ytterbium ein wichtiges Dotierungsmittel, das auf Grund ähnlicher Vorteile wie beim YAG-Laser besonders für Hochleistungsfaserlaser genutzt werden kann. Dazu zählen die hohe Dotierung, ein großer Absorptionsbereich zwischen 850 und 1070 nm und ebenso der große Emissionsbereich zwischen 970 und 1200 nm.Experimentell wurde Ytterbium als Alternative zu Caesium für den Betrieb von Atomuhren untersucht. Dabei konnte eine viermal so hohe Präzision wie bei einer Caesium-Atomuhr gemessen werden.Ytterbium wird zurzeit als Ersatz für Magnesium in schweren Wirkladungen für kinematische Infrarottäuschkörper untersucht. Dabei zeigt Ytterbium aufgrund einer deutlich höheren Emissivität von Ytterbium(III)-oxid im Infrarotbereich im Vergleich zu Magnesiumoxid eine höhere Strahlungsleistung als herkömmliche Wirkmassen auf der Basis von Magnesium/Teflon/Viton (MTV).
== Biologische Bedeutung und Toxizität ==
Ytterbium kommt nur in minimalen Mengen im Körper vor und besitzt keine biologische Bedeutung. Nur wenige Lebewesen wie Flechten sind in der Lage, Ytterbium aufzunehmen, und besitzen Ytterbiumgehalte von über 900 ppb. Bei Braunalgen (Sargassum polycystum) wurde eine Biosorption von 0,7 bis 0,9 mmol·g−1 gemessen.Ytterbium und seine löslichen Verbindungen sind leicht toxisch, für Ytterbium(III)-chlorid wurde bei Mäusen ein LD50-Wert von 395 mg/kg für intraperitoneale und 6700 mg/kg für perorale Gabe bestimmt. Im Tierversuch an Kaninchen reizt Ytterbiumchlorid die Augen nur leicht und Haut nur bei Verletzungen. Ytterbium gilt als teratogen; in einer Studie mit Goldhamster-Embryos wurden nach Gabe von Ytterbiumchlorid Skelettänderungen wie zusammengewachsene oder zusätzliche Rippen oder Veränderungen an der Wirbelsäule festgestellt.
== Verbindungen ==
Es sind Verbindungen des Ytterbiums in der Oxidationsstufe +2 und +3 bekannt, wobei wie bei allen Lanthanoiden +3 die häufigere und stabilere Stufe ist.
=== Halogenide ===
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Ytterbium zwei Reihen von Salzen mit den Formeln YbX2 und YbX3. Die Dihalogenide oxidieren dabei leicht zu den Trihalogeniden, bei höheren Temperaturen disproportionieren sie zu Ytterbiumtrihalogeniden und Ytterbium.
3
Y
b
C
l
2
⟶
2
Y
b
C
l
3
+
Y
b
{\displaystyle \mathrm {3\ YbCl_{2}\longrightarrow 2\ YbCl_{3}+Yb} }
Mehrere Ytterbiumhalogenide werden als Reagenz in organischen Synthesen verwendet. So ist Ytterbium(III)-chlorid eine Lewis-Säure und kann als Katalysator etwa in Aldol-Reaktionen, Diels-Alder-Reaktionen oder Allylierungen genutzt werden. Ytterbium(II)-iodid kann wie Samarium(II)-iodid als Reduktionsmittel oder für Kupplungsreaktionen eingesetzt werden.Ytterbium(III)-fluorid wird als inerter und nicht giftiger Füllstoff in der Zahnmedizin verwendet. Es setzt kontinuierlich das für die Zahngesundheit wichtige Fluorid frei und ist zudem ein gutes Röntgenkontrastmittel.
=== Metallorganische Verbindungen ===
Es sind eine Reihe von metallorganischen Verbindungen bekannt. Verbindungen mit einer Sigma-Bindung zwischen Ytterbium und Kohlenstoff sind nur in geringem Umfang bekannt, da es bei diesen wie bei vielen Übergangsmetallen leicht zu Folgereaktionen wie β-Hydrideliminierungen kommt. Sie sind daher mit sterisch anspruchsvollen Resten wie der tert-Butylgruppe oder einer größeren Zahl kleiner Reste wie in einem Hexamethylytterbat-Komplex [Yb(CH3)6]3+ stabil. Die wichtigsten Liganden des Ytterbiums sind Cyclopentadienyl und dessen Derivate. Sandwichkomplexe des Ytterbiums sind nicht mit Cyclopentadienyl, sondern nur mit größeren Liganden wie Pentaphenylcyclopentadienyl bekannt. Weiterhin kennt man Komplexe mit η5 koordinierten Cyclopentadienyl-Liganden: CpYbX2, Cp2YbX und Cp3Yb (X kann dabei ein Halogenid, Hydrid, Alkoxid oder weiteres sein).
=== Weitere Verbindungen ===
Mit Sauerstoff reagiert Ytterbium zu Ytterbium(III)-oxid, Yb2O3, das wie die anderen dreiwertigen Oxide der schwereren Lanthanoide in der kubischen Lanthanoid-C-Struktur kristallisiert. Dieses lässt sich durch Reaktion mit elementarem Ytterbium zu Ytterbium(II)-oxid reduzieren, das in einer Natriumchlorid-Struktur kristallisiert.Eine Übersicht über Ytterbiumverbindungen bietet die Kategorie:Ytterbiumverbindung.
== In der Popkultur ==
In der Serie Warehouse 13 befindet sich die Büchse der Pandora in einer Kammer aus Ytterbium im Warehouse, bis dieses zerstört wird und die Hoffnung die Büchse verlässt.
== Literatur ==
Ian McGill: Rare Earth Elements. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2005, doi:10.1002/14356007.a22_607.
== Weblinks ==
Eintrag zu Ytterbium. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 20. Februar 2012.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Ytterbium |
Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung | = Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung =
Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung umfasst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) (engl. offiziell International Committee of the Red Cross (ICRC)), die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (engl. offiziell International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC)) sowie die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Alle diese Organisationen sind voneinander rechtlich unabhängig und innerhalb der Bewegung durch gemeinsame Grundsätze, Ziele, Symbole, Statuten und Organe miteinander verbunden. Die weltweit gleichermaßen geltende Mission der Bewegung – unabhängig von staatlichen Institutionen und auf der Basis freiwilliger Hilfe – sind der Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Würde sowie die Verminderung des Leids von Menschen in Not ohne Ansehen von Nationalität und Abstammung oder religiösen, weltanschaulichen oder politischen Ansichten der Betroffenen und Hilfeleistenden.
Das auf Anregung von Henry Dunant 1863 gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) besteht aus bis zu 25 Schweizer Staatsbürgern, ist die älteste internationale medizinische Hilfsorganisation und die einzige Organisation, die im humanitären Völkerrecht erfasst und als dessen Kontrollorgan genannt ist. Es ist die älteste Organisation der Bewegung und neben dem Heiligen Stuhl sowie dem Souveränen Malteser-Ritterorden eines der wenigen originären nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekte. Seine ausschließlich humanitäre Mission ist, basierend auf den Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, der Schutz des Lebens und der Würde der Opfer von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten.
Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, Nachfolgeorganisation der 1919 entstandenen Liga der Rotkreuz-Gesellschaften, koordiniert innerhalb der Bewegung die Kooperation zwischen den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften und leistet Unterstützung beim Aufbau neuer nationaler Gesellschaften. Auf internationaler Ebene leitet und organisiert sie, in Zusammenarbeit mit den nationalen Gesellschaften, Hilfsmissionen nach nicht kriegsbedingten Notsituationen wie zum Beispiel Naturkatastrophen und Epidemien.
Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften sind Organisationen in fast allen Ländern der Welt, die jeweils in ihrem Heimatland im Sinne des humanitären Völkerrechts sowie der Statuten der Internationalen Bewegung tätig sind und die Arbeit des IKRK sowie der Föderation unterstützen. Ihre wichtigsten Aufgaben in ihren Heimatländern sind die Katastrophenhilfe und die Verbreitung der Genfer Konventionen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten können sie darüber hinaus weitere soziale und humanitäre Aufgaben wahrnehmen, die nicht unmittelbar durch völkerrechtliche Bestimmungen oder die Prinzipien der Bewegung vorgegeben sind. Hierzu zählen in vielen Ländern beispielsweise das Blutspendewesen und der Rettungsdienst sowie die Altenpflege und andere Bereiche der Sozialarbeit.
Von der Gründung im Jahr 1928 als Dachorganisation des IKRK und der Föderation bis zur Umbenennung 1986 lautete der offizielle Name der Bewegung Internationales Rotes Kreuz. Diese bis in die Gegenwart weit verbreitete Bezeichnung und die daraus resultierende Abkürzung IRK sollten jedoch nach Möglichkeit nicht mehr verwendet werden, da sie zu Problemen bei der Unterscheidung zwischen dem IKRK und der Föderation in der öffentlichen Wahrnehmung führen können.
== Geschichte ==
=== Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ===
==== Solferino, Henry Dunant und die Gründung des IKRK ====
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keine auch nur annähernd systematische Kriegskrankenpflege, keine gesicherten Einrichtungen zur Unterbringung und Behandlung von Verwundeten, geschweige denn eine Vorsorge durch Bereitstellung von Hilfskräften in ausreichender Zahl und mit angemessener Ausrüstung und Ausbildung. Im Jahre 1859 reiste der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant nach Italien, um dort mit dem französischen Kaiser Napoléon III. über seine Probleme beim Erhalt von Landkonzessionen im französisch besetzten Algerien zu sprechen. Dabei wurde er am 24. Juni 1859 in der Nähe des kleinen Ortes Solferino Zeuge der Schlacht von Solferino und San Martino, in deren Verlauf an einem einzigen Tag rund 6.000 Soldaten getötet und etwa 25.000 verwundet wurden. Die völlig unzureichende medizinische Versorgung und Betreuung sowie das Leid der verwundeten Soldaten entsetzten ihn so sehr, dass er den ursprünglichen Zweck seiner Reise völlig vergaß und sich mehrere Tage lang der Versorgung der Verwundeten sowie der Organisation von Hilfsmaßnahmen widmete. Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse schrieb er ein Buch, das er 1862 unter dem Titel Eine Erinnerung an Solferino auf eigene Kosten veröffentlichte und an führende politische und militärische Persönlichkeiten in ganz Europa verschickte. Neben einer sehr eindringlichen Schilderung dessen, was er 1859 erlebt hatte, regte er in diesem Buch die Bildung von freiwilligen Hilfsorganisationen an, die sich in Friedenszeiten auf Hilfe für Verwundete im Krieg vorbereiten sollten. Des Weiteren forderte er den Abschluss von Verträgen, in denen die Neutralität und der Schutz der Kriegsverwundeten und der sie versorgenden Personen sowie aller für sie getroffenen Einrichtungen gesichert werden sollte.
In seiner Heimatstadt Genf gründete Henry Dunant am 9. Februar 1863 mit vier weiteren Bürgern – dem Juristen Gustave Moynier, den Ärzten Louis Appia und Théodore Maunoir sowie dem Armeegeneral Guillaume-Henri Dufour – als Kommission der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft ein Komitee der Fünf zur Vorbereitung einer internationalen Konferenz zur Umsetzung seiner Ideen. Bereits acht Tage später beschlossen die fünf Gründungsmitglieder die Umbenennung der Kommission in Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege. Vom 26. bis zum 29. Oktober des gleichen Jahres fand auf Anregung des Komitees eine Internationale Konferenz in Genf statt, „die über die Mittel beraten soll, mit denen man der Unzulänglichkeit der Sanitätsdienste im Felde abhelfen könnte“. Insgesamt 36 Personen nahmen an dieser Konferenz teil, und zwar 18 offizielle Delegierte von Regierungen ihrer jeweiligen Länder, sechs Delegierte verschiedener Vereine und Verbände, sieben nicht offizielle ausländische Teilnehmer und die fünf Mitglieder des Internationalen Komitees. Die auf dieser Konferenz durch offizielle Delegierte vertretenen Länder waren Baden, Bayern, Frankreich, Großbritannien, Hannover, Hessen-Darmstadt, Italien, Niederlande, Österreich, Preußen, Russland, Sachsen, Schweden und Spanien. Zu den Beschlüssen und Forderungen dieser Konferenz, die am 29. Oktober 1863 in Form von Resolutionen angenommen wurden, zählten unter anderem:
die Gründung nationaler Hilfsgesellschaften für Kriegsverwundete
die Neutralität der Verwundeten
die Entsendung freiwilliger Pflegekräfte für Hilfeleistungen auf das Schlachtfeld
die Organisation und Durchführung weiterer internationaler Konferenzen
die Einführung eines Kenn- und Schutzzeichens in Form einer weißen Armbinde mit rotem KreuzBereits ein Jahr später kam es auf Einladung der Schweizer Regierung an alle europäischen Länder sowie an die Vereinigten Staaten von Amerika, Brasilien und Mexiko zu einer diplomatischen Konferenz, an der 26 Delegierte aus 16 Staaten teilnahmen. Am 22. August 1864 wurde während dieser Konferenz die erste Genfer Konvention „betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen“ durch Vertreter von zwölf Staaten unterzeichnet. In dieser Konvention wurden in zehn Artikeln die Vorschläge zum Schutz und zur Neutralisierung der Verwundeten, des Hilfspersonals und der entsprechenden Einrichtungen verbindlich festgelegt. Artikel 1 dieser Konvention legte grundlegend fest, dass „alle Militärpersonen und andere den Heeren dienstlich beigegebene Personen, die verwundet oder krank sind, ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit von der Kriegspartei, in deren Händen sie sich befinden, geachtet und versorgt werden sollen“.
Zum Ende des Jahres 1863 wurde mit dem Württembergischen Sanitätsverein in Stuttgart die erste nationale Gesellschaft gegründet, kurz danach gefolgt vom Verein zur Pflege verwundeter Krieger im Großherzogtum Oldenburg und weiteren 1864 gegründeten Gesellschaften in Belgien, Preußen, Dänemark, Frankreich und Spanien.
==== 1864 bis 1914 ====
Ihre erste Bewährungsprobe erlebte die Organisation im Deutsch-Dänischen Krieg: Am 16. April 1864 nahmen an den Düppeler Schanzen erstmals Hilfskräfte und, mit Louis Appia und dem holländischen Hauptmann Charles van de Velde, auch offizielle Delegierte unter dem Zeichen des Roten Kreuzes an einem Krieg teil. Bereits gut zwei Monate zuvor war nach der Schlacht von Oeversee das erste Feldlazarett unter dem Banner des Roten Kreuzes aufgeschlagen worden. 1866 ist das Rote Kreuz auf dem Schlachtfeld bei Langensalza aktiv geworden.Im Jahr 1867 fand unter Beteiligung von Vertretern von neun Regierungen, 16 nationalen Rotkreuzgesellschaften und des Internationalen Komitees die erste Internationale Rotkreuzkonferenz statt. Im gleichen Jahr musste Henry Dunant aufgrund des desolaten Verlaufs seiner Geschäfte in Algerien seinen Bankrott erklären und Genf verlassen. Nachdem Gustave Moynier bereits 1864 den Vorsitz des Internationalen Komitees übernommen hatte, wurde Henry Dunant nun auch vollständig aus dem Komitee ausgeschlossen. In den folgenden Jahren kam es in nahezu allen Ländern Europas zur Gründung von nationalen Rotkreuz-Gesellschaften.
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 demonstrierte eindrücklich deren Notwendigkeit. Preußen verfügte über eine gut mit Personal und Material ausgestattete Rotkreuz-Gesellschaft, die organisatorisch eng mit dem preußischen Heer zusammenarbeitete. Aufgrund dessen lag die Zahl der preußischen Soldaten, die an Krankheit oder Verwundung starben, unter der Zahl der im Feld Gefallenen. Auf der anderen Seite verfügte Frankreich nur über eine unzureichend vorbereitete Rotkreuz-Gesellschaft, was zur Folge hatte, dass auf französischer Seite die Zahl der durch Krankheit oder Verwundung verstorbenen Soldaten dreimal höher war als die Zahl der gefallenen Soldaten.
Die im Februar 1871 abgedrängte französische Ostarmee wurde von der Schweiz interniert. Die Internierung, Verpflegung und medizinische Betreuung der 87.000 Soldaten der «Bourbaki-Armee» trug zum Selbstbewusstsein und zur Identitätsfindung des jungen Schweizer Bundesstaates bei. Der Krieg war auch eine Bewährungsprobe für das 1864 gegründete Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, das über wenige finanzielle Mittel verfügte, aber auf viele Freiwillige zählen konnte.
In diesem Krieg beteiligten sich auch erstmals andere Rotkreuz-Gesellschaften wie die Russlands, der Schweiz, Irlands und Luxemburgs durch die Entsendung von Ärzten und Sanitätern in größerem Umfang an der sanitätsdienstlichen Versorgung. Clara Barton, die spätere Gründerin des Amerikanischen Roten Kreuzes, erhielt für ihren Einsatz in diesem Krieg von Kaiser Wilhelm I. das Eiserne Kreuz verliehen. In der Folge des Krieges fand die für 1873 in Wien geplante Internationale Rotkreuzkonferenz nicht statt, und erst 1888 kam es in Genf wieder zu einer solchen Konferenz.
1876 bekam das Internationale Komitee den noch heute gültigen Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (franz. Comité international de la Croix-Rouge, CICR – engl. International Committee of the Red Cross, ICRC). Zwei Jahre später kam es erstmals zu Hilfsaktionen des IKRK und einiger nationaler Rotkreuz-Gesellschaften zugunsten von Zivilisten, als die erst kurz zuvor gegründete Türkische Rothalbmond-Gesellschaft zum Ende der Balkankrise im Jahr 1878 einen Aufruf zur Unterstützung bei der Versorgung von Flüchtlingen an das Komitee richtete. Drei Jahre später wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika auf Initiative von Clara Barton das Amerikanische Rote Kreuz gegründet. Während des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 wurden mit den drei Schiffen Moynier, Red Cross und State of Texas erstmals Hospitalschiffe unter der Flagge des Roten Kreuzes in einem bewaffneten Konflikt zur See eingesetzt.
Bis zur Jahrhundertwende unterzeichneten immer mehr Staaten die Genfer Konvention und respektierten diese auch weitestgehend in kriegerischen Auseinandersetzungen. Im Jahr 1901 erhielt Henry Dunant, zusammen mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy, den erstmals verliehenen Friedensnobelpreis. Die Glückwünsche, die das Komitee anlässlich der Preisverleihung übermittelte, bedeuteten für ihn nach 34 Jahren die späte Rehabilitierung und ausdrückliche Anerkennung seiner Verdienste für die Entstehung des Roten Kreuzes. Neun Jahre später starb Henry Dunant, zwei Monate nach Gustave Moynier.
1906 wurde die Erste Genfer Konvention von 1864 erstmals überarbeitet. Unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914, fünfzig Jahre nach der Annahme der Ersten Genfer Konvention, gab es 45 nationale Gesellschaften. Neben Gesellschaften in fast allen europäischen Ländern und den USA existierten weitere Gesellschaften unter anderem auch in Mittel- und Südamerika (Argentinien, Brasilien, Chile, Kuba, Mexiko, Peru, El Salvador, Uruguay, Venezuela), Asien (China, Japan, Korea, Siam) und Afrika (Republik Südafrika).
==== Das IKRK während des Ersten Weltkrieges ====
Der Erste Weltkrieg stellte das IKRK vor große Herausforderungen, die es nur in Zusammenarbeit mit den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften bewältigen konnte. Selbst aus den USA und Japan waren Rotkreuzschwestern zur Unterstützung der Sanitätsdienste der betroffenen europäischen Länder im Einsatz. Am 15. Oktober 1914, unmittelbar nach Kriegsbeginn, richtete das IKRK seine Internationale Zentralstelle für Kriegsgefangene ein, die Ende 1914 bereits rund 1.200 vorwiegend freiwillige Mitarbeiter beschäftigte, darunter als einer der ersten der französische Schriftsteller und Pazifist Romain Rolland. Als er den Nobelpreis für Literatur für 1915 erhielt, spendete er die Hälfte des Preisgeldes an die Zentralstelle. Ungefähr zwei Drittel der Freiwilligen waren indessen junge Frauen. Manche von ihnen – etwa Marguerite van Berchem, Marguerite Cramer und Suzanne Ferrière – stiegen dabei in leitende Positionen auf und trugen so dazu bei, der Gleichberechtigung von Frauen in einer Organisation den Weg zu ebnen, deren Führungsgremien bis dahin ausschließlich von Männern besetzt waren.
Von 1916 bis 1919 war die Zentralstelle im Musée Rath untergebracht. Im Verlauf des gesamten Krieges übermittelte die Zentralstelle ca. 20 Millionen Briefe und Mitteilungen, fast 1,9 Millionen Pakete und Geldspenden in Höhe von ca. 18 Millionen Schweizer Franken an Kriegsgefangene aller beteiligten Staaten. Ferner kam es durch Vermittlung der Zentralstelle zum Austausch von ca. 200.000 Gefangenen. Die Kartei der Zentralstelle, die in den Jahren von 1914 bis 1923 entstand, enthält rund sieben Millionen Karteikarten. Sie führte in ca. zwei Millionen Fällen zur Identifizierung von Gefangenen und damit zu einem Kontakt zwischen den Gefangenen und ihren Angehörigen. Die gesamte Kartei kann heutzutage als Dauerleihgabe des IKRK im Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum in Genf besichtigt werden, wobei eine Einsichtnahme weiterhin dem IKRK vorbehalten bleibt.
Das IKRK überwachte während des gesamten Krieges die Einhaltung der Genfer Konvention in der Fassung von 1906 und leitete Beschwerden über Verstöße an die beteiligten Staaten weiter. Des Weiteren protestierte das IKRK gegen die Verwendung von chemischen Kampfstoffen, die im Ersten Weltkrieg erstmals zum Einsatz kamen. Ohne Mandat durch die Genfer Konvention setzte sich das IKRK auch für die vom Krieg betroffene Zivilbevölkerung ein, insbesondere in besetzten Territorien, wo das IKRK auf die Haager Landkriegsordnung als rechtsverbindliche Vereinbarung zurückgreifen konnte. Ebenfalls basierend auf der Haager Landkriegsordnung waren die Aktivitäten des IKRK in Bezug auf Kriegsgefangene, wozu neben dem bereits beschriebenen Suchdienst und Informationsaustausch vor allem der Besuch von Kriegsgefangenenlagern gehörte. Insgesamt wurden im Kriegsverlauf 524 Lager in ganz Europa durch 41 Delegierte des IKRK besichtigt.
Zwischen 1916 und 1918 veröffentlichte das IKRK mehrere Ansichtskarten mit Motiven der von seinen Delegierten besuchten Lager. Dafür wurden Bilder ausgewählt, welche die Gefangenen bei alltäglichen Tätigkeiten wie zum Beispiel der Postverteilung zeigten. Ziel der Veröffentlichung dieser Karten war es, den Angehörigen der Gefangenen Hoffnung zu vermitteln und sie zu beruhigen. Nach Kriegsende organisierte das IKRK die Rückführung von ca. 420.000 Kriegsgefangenen in ihre Heimatländer. Für seine Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs erhielt das IKRK 1917 den Friedensnobelpreis, den einzigen, der in den Kriegsjahren von 1914 bis 1918 vergeben wurde.
Die weitere Repatriierung der Gefangenen wurde ab 1920 vom neu gegründeten Völkerbund unter der Verantwortung seines Hochkommissars für die Heimschaffung der Kriegsgefangenen Fridtjof Nansen übernommen. Sein Mandat wurde später ausgeweitet auf die Unterstützung und Versorgung von Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen. Zu seiner Unterstützung für diese Tätigkeiten wählte er zwei Delegierte des IKRK als seine Stellvertreter.
1923 entschied sich das Komitee, das seit der Gründung nur Genfer Bürgern die Mitgliedschaft gestattete, diese Festlegung zugunsten einer Einschränkung auf Schweizer Staatsangehörige aufzuheben.
Als direkte Folge des Ersten Weltkrieges im Hinblick auf das humanitäre Völkerrecht kam es durch das Genfer Protokoll von 1925 zum Verbot des Einsatzes von erstickenden und giftigen Gasen sowie bakteriellen Kampfstoffen zur Kriegsführung. Des Weiteren wurde 1929 die Erste Genfer Konvention erneut überarbeitet und ein neues Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen angenommen. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges und die entsprechenden Aktivitäten des IKRK hatten für das Komitee eine deutliche Aufwertung seines Ansehens und seiner Autorität gegenüber der Staatengemeinschaft und eine Ausweitung seiner Kompetenzen zur Folge.
Bereits auf der Internationalen Rotkreuzkonferenz 1934 wurde erstmals ein Entwurf für eine Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung während eines Krieges angenommen. Die meisten Regierungen zeigten nicht genug Interesse an einer Umsetzung, so dass es vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht zu einer entsprechenden diplomatischen Konferenz zur Annahme dieser Konvention kam.
==== Das IKRK und der Zweite Weltkrieg ====
Basis der Tätigkeit des IKRK während des Zweiten Weltkrieges waren die Genfer Konventionen in der Fassung von 1929. Die Aktivitäten des IKRK im Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich wie im Ersten Weltkrieg auf die Überwachung der Kriegsgefangenenlager, die Hilfe für die Zivilbevölkerung und den Informationsaustausch über Gefangene und vermisste Personen. Im gesamten Kriegsverlauf kam es zu 12.750 Besuchen von Kriegsgefangenenlagern in 41 Ländern durch 179 Delegierte. In der Zentralauskunftsstelle für Kriegsgefangene waren während dieses Krieges ca. 3.000 Menschen beschäftigt. Ihre Kartei umfasste ca. 45 Millionen Karten, ca. 120 Millionen Nachrichten wurden vermittelt. Ein großes Problem für die Arbeit des IKRK war die Gleichschaltung des Deutschen Roten Kreuzes in der Zeit des Nationalsozialismus und die damit verbundenen massiven Einschränkungen in der Zusammenarbeit mit dem DRK in Bezug auf die Deportation der Juden aus Deutschland und den Massenmord in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern. Erschwerend kam auch die Tatsache hinzu, dass mit der Sowjetunion und Japan zwei Hauptmächte des Krieges nicht der Genfer Konvention „über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ von 1929 beigetreten waren.
Es gelang dem IKRK während des gesamten Krieges nicht, bei den nationalsozialistischen Machthabern die Gleichstellung der in den Konzentrationslagern internierten Menschen mit Kriegsgefangenen zu erreichen. Aufgrund der Befürchtung, durch ein weiteres Beharren auf entsprechenden Forderungen seine Aktivitäten für Kriegsgefangene und damit seine völkerrechtlich legitimierte Mission zu gefährden, unterließ das IKRK weiterführende Bemühungen in dieser Hinsicht. Aus dem gleichen Grund, und wegen einer möglichen Gefährdung seiner Neutralität, unternahm das IKRK nur zögerliche und unzureichende Schritte bei den Alliierten im Hinblick auf seine Kenntnisse über die Existenz der Vernichtungslager und die Deportation der jüdischen Bevölkerung. Ein weiterer Grund war der damals bestehende Einfluss der Schweizer Regierung auf das Komitee und die daraus resultierende Unterordnung des IKRK unter Vorgaben der Regierung, die den Sicherheitsinteressen der Schweiz entsprachen. So war Philipp Etter, Schweizer Bundesrat im Departement des Innern von 1934 bis 1959 und Bundespräsident in den Jahren 1939, 1942, 1947 und 1953, zur damaligen Zeit auch Mitglied im IKRK. Ein wichtiges Ziel der Schweizer Politik während des Krieges war es, unter allen Umständen die Neutralität und Souveränität der Schweiz zu wahren, die zeitweise vollständig von den Achsenmächten umschlossen war. Die daraus resultierende Vermeidung aller Handlungen, die Deutschland oder seine Verbündeten hätte brüskieren können, wirkte sich auch auf die Aktivitäten des IKRK aus und wurde nach dem Ende des Krieges von den Siegermächten als illegitime Kooperation mit den Nazis angesehen.
Erst ab November 1943 war es dem IKRK erlaubt, Pakete an diejenigen KZ-Insassen zu schicken, deren Namen und Aufenthaltsort dem Komitee bekannt waren und die keinen verschärften Haftbedingungen unterlagen. Durch die Empfangsbestätigungen, die neben den Empfängern oft auch von mehreren anderen Insassen unterzeichnet waren, gelang es dem IKRK, ca. 105.000 Menschen in den Lagern zu registrieren und insgesamt 1,1 Millionen Pakete zu verschicken, vorwiegend in die Lager Dachau, Buchenwald, Ravensbrück und Oranienburg-Sachsenhausen.
Am 12. März 1945 erhielt der damalige IKRK-Präsident Carl Burckhardt von SS-General Ernst Kaltenbrunner die Zusage, dass IKRK-Delegierten Zugang zu den Konzentrationslagern gewährt werden würde. Dies galt allerdings unter der Voraussetzung, dass diese Delegierten bis zum Ende des Krieges in den Lagern verblieben. Zehn Delegierte, unter ihnen Louis Häfliger (Mauthausen), Paul Dunant (Theresienstadt) und Victor Maurer (Dachau) erklärten sich zu einer solchen Mission bereit. Louis Häfliger verhinderte durch seinen persönlichen Einsatz die Sprengung des Lagers Mauthausen und rettete damit tausenden Gefangenen das Leben. Er wurde vom IKRK für sein eigenmächtiges Handeln verurteilt und erst 1990 durch den damaligen Präsidenten Cornelio Sommaruga rehabilitiert. Herausragend aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges sind darüber hinaus die Aktivitäten des IKRK-Delegierten Friedrich Born für die jüdische Bevölkerung in Ungarn. Er rettete durch seinen Einsatz ca. 11.000 bis 15.000 Menschen das Leben und wurde am 5. Juni 1987 posthum als Gerechter unter den Völkern in die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem aufgenommen. Ein weiterer bekannter Delegierter des IKRK im Zweiten Weltkrieg war der Genfer Arzt Marcel Junod, dessen Erlebnisse in seinem Buch Kämpfer beidseits der Front nachzulesen sind.
Im Jahr 1944 erhielt das IKRK erneut den Friedensnobelpreis, der seit Beginn des Krieges nicht vergeben worden war. Nach Ende des Krieges organisierte das IKRK, in Zusammenarbeit mit verschiedenen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften, Hilfsmaßnahmen in den vom Krieg betroffenen Ländern. In Deutschland wurde dies vor allem vom Schwedischen Roten Kreuz unter Leitung von Folke Bernadotte übernommen. Weitere umfangreiche Hilfsaktionen nationaler Gesellschaften waren die Operation Shamrock des Irischen Roten Kreuzes sowie die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Auch die jüdische Fluchthilfe Beriha wurde bei der Rettung von etwa 5000 Juden aus Polen nach Rumänien im Januar 1945 vom IKRK unterstützt. 1948 veröffentlichte das IKRK einen „Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz über sein Wirken während des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939 – 30. Juni 1947)“. Seit dem 17. Januar 1996 ist das Archiv des IKRK für die Öffentlichkeit zugänglich.
==== Das IKRK nach dem Zweiten Weltkrieg ====
Am 12. August 1949 wurden grundlegende Neufassungen der bestehenden zwei Konventionen angenommen, die seitdem als Genfer Abkommen I und III bezeichnet werden. Zwei neue Abkommen, das Genfer Abkommen II „zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See“ und als wichtigste Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg das Genfer Abkommen IV „über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“, erweiterten darüber hinaus den Schutz des humanitären Völkerrechts auf weitere Personengruppen.
Weitere wesentliche Ergänzungen in mehreren Bereichen brachten die zwei Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977. Zum einen integrierten beide Protokolle erstmals auch Regeln für zulässige Mittel und Methoden der Kriegführung und damit Vorschriften für den Umgang mit den an den Kampfhandlungen beteiligten Personen, den sogenannten Kombattanten, in den Kontext der Genfer Konventionen. Zum zweiten verwirklichte das Protokoll II eines der am längsten verfolgten Ziele des IKRK: die Ausdehnung der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auch auf Situationen in nichtinternationalen, bewaffneten Konflikten wie beispielsweise Bürgerkriegen. Heute umfassen die vier Genfer Konventionen und ihre zwei Zusatzprotokolle über 600 Artikel.
Zum hundertjährigen Jubiläum seiner Gründung erhielt das IKRK, diesmal gemeinsam mit der Liga, im Jahr 1963 zum dritten Mal den Friedensnobelpreis. Trotz dieser Anerkennung und der Erfolge des Internationalen Komitees bei der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts war seine Tätigkeit während der Konflikte des Kalten Krieges stark eingeschränkt durch eine weitestgehend ablehnende Haltung der kommunistischen Staaten, die auf grundsätzlichen Zweifeln an der Neutralität des Komitees beruhte. So konnte das IKRK weder im Indochinakrieg noch im Vietnamkrieg aktiv werden, da dies von den Regierungen der jeweiligen Länder strikt abgelehnt wurde. Erst die gemeinsame Hilfsmission mit UNICEF in Kambodscha nach dem Einmarsch Vietnams 1978/1979 verbesserte die Beziehungen zwischen dem IKRK und der kommunistischen Staatengemeinschaft. In den Konflikten zwischen den arabischen Staaten und Israel sowie zwischen Indien und Pakistan war die Tätigkeit des Komitees hingegen nicht von solchen Problemen betroffen. Im Biafra-Krieg von 1967 bis 1970 um die Unabhängigkeit des Gebietes Biafra von Nigeria offenbarten sich Schwierigkeiten innerhalb der Führungsebene des Komitees hinsichtlich der Einsatztätigkeit und der Zusammenarbeit mit den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften vor Ort. Französische Ärzte um Bernard Kouchner, die unzufrieden waren mit den Beschränkungen, die sich aus dem Prinzip der Neutralität für die Arbeit des Komitees und des Französischen Roten Kreuzes ergeben hatten, gründeten darüber hinaus 1971 die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen). Innerhalb des IKRK führten die Ereignisse während des Konfliktes in Biafra zu einer grundlegenden Neuordnung der Rollenverteilung zwischen den Mitgliedern des Komitees und dem Präsidenten auf der einen und den Angestellten auf der anderen Seite. Insbesondere im Bereich der praktischen Einsatztätigkeit erhielten die Mitarbeiter des Komitees deutlich mehr Kompetenzen und Einfluss.
Der Falklandkrieg zwischen Argentinien und Großbritannien im Jahr 1982 war von Seiten beider Konfliktparteien durch eine beispielhafte Kooperation mit dem IKRK sowie eine nahezu vollumfängliche Einhaltung der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts gekennzeichnet. Dem Komitee war es dadurch möglich, die rund 11.700 Kriegsgefangenen in diesem Konflikt den Genfer Konventionen entsprechend zu registrieren und angemessen zu betreuen. Hinsichtlich der Versorgung der Verwundeten stellte der Falklandkrieg aufgrund der Seekriegsführung die bei weitem umfangreichste Anwendung des entsprechenden Genfer Abkommens seit dem Abschluss im Jahr 1949 dar. Darüber hinaus gelang es dem Komitee, eine schriftliche Vereinbarung beider Konfliktparteien zur Einrichtung einer neutralen Sanitäts- und Sicherheitszone für Zivilpersonen im Bereich um die Kirche der Falkland-Hauptstadt Stanley zu erreichen. Neun Jahre nach dem Ende des Konflikts kam es durch Vermittlungen des IKRK zu einem vom Komitee organisierten Besuch von Gräbern gefallener argentinischer Soldaten auf den Falklandinseln durch rund 300 Angehörige.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) beschloss am 16. Oktober 1990, das IKRK als Beobachter (engl. observer) zu ihren Tagungen und den Sitzungen ihrer Komitees einzuladen. Die entsprechende Resolution (A/RES/45/6) wurde von 138 Mitgliedsländern eingebracht und auf der 31. Plenarsitzung ohne Abstimmung angenommen. Aus historischen Gründen – mit Bezug auf die Schlacht von Solferino – wurde die Resolution von Vieri Traxler, dem damaligen UN-Botschafter der Republik Italien, vorgestellt. Mit dieser Entscheidung wurde der Beobachter-Status in der UN-Generalversammlung erstmals einer privaten Organisation zuerkannt. Ein am 19. März 1993 mit dem Schweizerischen Bundesrat geschlossenes Abkommen garantiert dem IKRK bei seinen Aktivitäten in der Schweiz volle Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit; die Unverletzlichkeit seiner Räumlichkeiten, Archive und sonstigen Unterlagen; weitgehende rechtliche Immunität für das Komitee und seine Mitglieder, Delegierten und sonstigen Mitarbeiter; die Befreiung von allen direkten und indirekten Steuern sowie sonstigen Gebühren auf Bundes-, Kantons- oder lokaler Ebene; freien Zoll- und Zahlungsverkehr; Begünstigungen hinsichtlich seiner Kommunikation, die mit denen für in der Schweiz ansässigen internationalen Organisationen und ausländischen diplomatischen Vertretungen vergleichbar sind; sowie weitgehende Erleichterungen für seine Mitglieder, Delegierten und Mitarbeiter bei der Ein- und Ausreise. Von 1963 bis 2011 betrieb das IKRK in der Schweiz einen eigenen Kurzwellensender, zunächst in Genf, dann ab 1974 in Versoix.Seit 1993 können auch Personen anderer Nationalität als der Schweizerischen für das IKRK tätig sein, sowohl vor Ort im Hauptquartier in Genf als auch als Delegierte bei Auslandseinsätzen. Der Anteil von Mitarbeitern ohne Schweizer Staatsangehörigkeit ist seitdem kontinuierlich angestiegen und liegt derzeit bei etwa 35 Prozent. Die Zeit seit 1990 war für das IKRK aber auch durch eine Reihe von tragischen Ereignissen gekennzeichnet. So viele Delegierte wie nie zuvor in der Geschichte des Komitees verloren bei ihren Einsätzen ihr Leben. Dieser Trend ist vor allem auf den Anstieg der Zahl lokaler und oft innerstaatlicher Konflikte sowie mangelnden Respekt der beteiligten Konfliktparteien vor den Bestimmungen der Genfer Konventionen und ihrer Schutzzeichen zurückzuführen.
Im Januar 2022 wurde das IKRK Opfer einer Cyberattacke, durch die Hacker auf Daten von über 500.000 Menschen zugegriffen haben. Darunter sind insbesondere Angaben zu vermissten Personen und deren Angehörigen sowie Geflüchteten.
==== Präsidenten des IKRK ====
Derzeitige Präsidentin des IKRK ist seit Oktober 2022 Mirjana Spoljaric Egger, die das Amt von Peter Maurer übernahm. Vizepräsidentin ist seit Januar 2008 Christine Beerli. Bisherige Präsidenten des IKRK waren:
von 1863 bis 1864: Guillaume-Henri Dufour
von 1864 bis 1910: Gustave Moynier
von 1910 bis 1928: Gustave Ador
von 1928 bis 1944: Max Huber
von 1945 bis 1948: Carl Jacob Burckhardt
von 1948 bis 1955: Paul Ruegger
von 1955 bis 1964: Léopold Boissier
von 1964 bis 1969: Samuel Gonard
von 1969 bis 1973: Marcel Naville
von 1973 bis 1976: Eric Martin
von 1976 bis 1987: Alexandre Hay
von 1987 bis 1999: Cornelio Sommaruga
von 2000 bis 2012: Jakob Kellenberger
von 2012 bis 2022: Peter Maurer
seit 2022: Mirjana Spoljaric EggerEine ausführliche Gesamtübersicht mit Lebensdaten, biographischen Informationen und wichtigen Ereignissen während der jeweiligen Amtszeit ist in der Liste der Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu finden.
=== Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften ===
==== Von der Gründung bis 1945 ====
Am 5. Mai 1919 gründeten die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans und der USA auf Anregung des damaligen Präsidenten des Amerikanischen Roten Kreuzes, Henry P. Davison, in Paris die Liga der Rotkreuz-Gesellschaften. Die Ausdehnung der Rotkreuz-Aktivitäten über die strikte Mission des IKRK hinaus auch auf die Hilfe für Opfer von nicht kriegsbedingten Notsituationen (wie nach technischen Unglücken und Naturkatastrophen), die auf internationaler Ebene Aufgabe der Liga werden sollte, geschah ebenfalls auf Initiative des Amerikanischen Roten Kreuzes. Dieses war bereits seit seiner Gründung auch in Friedenszeiten mit Hilfsaktionen aktiv, eine Idee, die auf seine Gründerin Clara Barton zurückging.
Die Gründung der Liga, als weitere international tätige Rotkreuz-Organisation neben dem IKRK, war aus mehreren Gründen zunächst umstritten. Zum einen gab es von Seiten des IKRK zum Teil berechtigte Befürchtungen hinsichtlich einer Konkurrenz zwischen beiden Organisationen. Die Gründung der Liga wurde als Versuch angesehen, den Führungsanspruch des Komitees in Frage zu stellen und die meisten seiner Aufgaben und Befugnisse einer multilateralen Institution zu übertragen. Das IKRK war nach Meinung der Führung des Amerikanischen Roten Kreuzes zu zurückhaltend in seinem Vorgehen und nicht einflussreich genug hinsichtlich seiner internationalen Bedeutung. Zum anderen waren an der Gründung der Liga ausschließlich nationale Gesellschaften aus Staaten der Entente beziehungsweise mit ihren alliierten oder assoziierten Ländern beteiligt. Die im Mai 1919 ursprünglich beschlossenen Statuten der Liga gewährten darüber hinaus den fünf an der Gründung beteiligten Gesellschaften einen Sonderstatus sowie, auf Betreiben von Henry P. Davison, das Recht, die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften der Mittelmächte Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei sowie das Russische Rote Kreuz dauerhaft auszuschließen. Dieser Passus widersprach jedoch den Rotkreuz-Prinzipien der Universalität und der Gleichberechtigung zwischen allen nationalen Gesellschaften. Auch der Aufbau des Völkerbundes spielte eine Rolle bei der Gründung der Liga. So finden sich z. B. in Art. 25 der Völkerbundsatzung von 1919 als eine Verpflichtung der Staaten, die Errichtung und Zusammenarbeit anerkannter freiwilliger nationaler Organisationen des Roten Kreuzes zur Hebung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und Milderung der Leiden in der Welt zu fördern und zu begünstigen.Die erste durch die Liga organisierte Hilfsaktion unmittelbar nach ihrer Gründung war die Versorgung der Betroffenen einer Typhus-Epidemie und Hungersnot in Polen. Bereits in den ersten fünf Jahren nach ihrer Gründung erließ die Liga 47 Spendenappelle für Hilfsaktionen in 34 Ländern. Auf diesem Wege gelangten Hilfsgüter im Wert von ca. 685 Millionen Schweizer Franken unter anderem an die Opfer von Hungersnöten in Russland, Deutschland und Albanien, Erdbeben in Chile, Persien, Japan, Kolumbien, Ecuador, Costa Rica und der Türkei und an Flüchtlinge in Griechenland und der Türkei. Ein weiteres wichtiges Anliegen der Liga war die Unterstützung der nationalen Gesellschaften bei der Schaffung von Jugendsektionen. Der erste große Katastropheneinsatz der Liga war das Erdbeben in Japan im Jahr 1923, bei dem ca. 200.000 Menschen ums Leben kamen. Durch Vermittlung der Liga erhielt das Japanische Rote Kreuz Hilfeleistungen von anderen nationalen Gesellschaften im Gesamtwert von ca. 100 Millionen Dollar.
Mit dem Einsatz der Liga zusammen mit dem IKRK im Russischen Bürgerkrieg (1917–1922) wurde die Bewegung erstmals in einem innerstaatlichen Konflikt aktiv. Während die Liga mit Unterstützung von mehr als 25 nationalen Gesellschaften vor allem die Verteilung von Hilfsgütern und die Versorgung der hungernden und von Seuchen betroffenen Zivilbevölkerung übernahm, unterstützte das IKRK durch seine Neutralität das Russische und später das Sowjetische Rote Kreuz bei seinen Aktivitäten gegenüber den Konfliktparteien. Zur Koordinierung der Aktivitäten zwischen dem IKRK und der Liga und zur Beilegung der zwischen beiden Organisationen bestehenden Rivalitäten wurde 1928 das Internationale Rote Kreuz als Dachverband beider Organisationen gegründet. Ein International Council fungierte dabei als Leitorgan des IRK. Die Aufgaben des Councils wurden später von der Ständigen Kommission (engl. Standing Commission) übernommen. Im gleichen Jahr wurden erstmals gemeinsame Statuten der Rotkreuz-Bewegung beschlossen, welche die jeweiligen Aufgaben des IKRK und der Liga beschrieben. Dabei setzte sich das IKRK hinsichtlich seines Führungsanspruches innerhalb der Bewegung gegen entsprechende Bestrebungen der Liga durch. Ein Jahr später wurden mit dem Roten Halbmond und dem Roten Löwen mit roter Sonne zwei weitere, mit dem Roten Kreuz gleichberechtigte, Schutzzeichen in die Genfer Konventionen aufgenommen. Während der Iran das einzige Land war, das (bis 1980) den Roten Löwen mit roter Sonne verwendete, entwickelte sich der Rote Halbmond zum Symbol nahezu aller nationalen Gesellschaften in islamischen Ländern.
Während des Krieges zwischen Äthiopien und Italien (1935/1936) erbrachte die Liga Hilfeleistungen im Umfang von ca. 1,7 Millionen Schweizer Franken, die aufgrund der Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz durch Italien ausschließlich der äthiopischen Seite zukamen. Vorwiegend durch Angriffe der Italienischen Armee verloren in diesem Konflikt 29 Menschen, die unter dem Schutz des Roten Kreuzes tätig waren, ihr Leben. Während des Spanischen Bürgerkrieges von 1936 bis 1939 war die Liga erneut zusammen mit dem IKRK aktiv und wurde dabei von 41 nationalen Gesellschaften unterstützt. In den Jahren 1937 und 1939 wurde die Liga vom damaligen IKRK-Präsidenten Max Huber in seiner Funktion als Mitglied des Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht) für den Friedensnobelpreis nominiert. 1939 verlegte die Liga aufgrund des Beginns des Zweiten Weltkrieges ihren Hauptsitz von Paris nach Genf, um für ihre Aktivitäten den sich aus der Schweizer Neutralität ergebenden Schutz in Anspruch nehmen zu können.
==== Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ====
Bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges forderten sowohl einige Regierungen als auch einzelne Rotkreuz-Gesellschaften die Auflösung des IKRK und die Übertragung seiner Befugnisse an die Liga der Rotkreuz-Gesellschaften. Alternativ dazu schlug der damalige Präsident des Schwedischen Roten Kreuzes Folke Bernadotte vor, die Aufgaben des Komitees und der Liga dadurch zusammenzuführen, dass jede nationale Gesellschaft ein Mitglied des Internationalen Komitees stellen sollte. Das IKRK begegnete diesen Vorschlägen zum einen durch verstärkte Hilfsaktivitäten. Zum anderen bezog es im Rahmen von zwei Konferenzen 1946 die nationalen Gesellschaften und 1947 die Regierungen der Staatengemeinschaft in eine Überarbeitung der Genfer Konventionen ein und betonte auf diese Weise seine besondere Stellung im Bereich des humanitären Völkerrechts.
Die Verabschiedung der Neufassungen der Genfer Konventionen im Jahr 1949 stärkte somit die Position des Komitees gegenüber der Liga und den nationalen Gesellschaften. Drei Jahre später wurden die 1928 beschlossenen Statuten der Bewegung erstmals überarbeitet. Von 1960 bis 1970 verzeichnete die Liga einen starken Anstieg in der Zahl der anerkannten nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, von denen es zum Ende des Jahrzehnts mehr als 100 gab. Dieser Trend war zum Teil auf die Unabhängigkeit von früheren Kolonien in Afrika und Asien zurückzuführen. Am 10. Dezember 1963 erhielt die Liga, zusammen mit dem IKRK, den Friedensnobelpreis.
Am 11. Oktober 1983 wurde die Liga umbenannt in Liga der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. 1986 fanden die 1965 beschlossenen sieben Grundsätze der Bewegung Eingang in die Statuten, die im selben Jahr erneut überarbeitet wurden. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Überarbeitung der Statuten die Bezeichnung Internationales Rotes Kreuz aufgegeben zugunsten des neuen offiziellen Namens Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Am 27. November 1991 erhielt die Liga den heute gültigen Namen Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (engl. International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies, IFRC).
Am 19. Oktober 1994 wurde während der 38. Plenartagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen auch die Föderation als Beobachter zu den Tagungen der UN und den Sitzungen ihrer Komitees eingeladen (Resolution A/RES/49/2). Das 1997 zwischen der Föderation und dem IKRK geschlossene Abkommen von Sevilla definiert die Zuständigkeiten beider Organisationen bei internationalen Einsätzen. Das IKRK gab dabei einige Zuständigkeiten an die Föderation ab, beispielsweise bei der Betreuung von Flüchtlingen in Ländern ohne bewaffnete Konflikte.
1996 wurde das IKRK mit dem Balzan-Preis für Humanität, Frieden und Brüderlichkeit unter den Völkern ausgezeichnet.Die bisher umfangreichste Hilfsaktion unter Leitung der Föderation ist mit Beteiligung von rund 22.000 Helfern von mehr als 40 nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften der Einsatz nach der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004.
==== Präsidenten der Föderation ====
Präsident der Föderation ist seit November 2017 der Italiener Francesco Rocca. Vizepräsidenten sind Brigitta Gadient kraft ihres Amtes als Vertreterin des Schweizerischen Roten Kreuzes sowie als Vertreter der verschiedenen Weltregionen Kerem Kinik (Türkei), Miguel Villarroel (Venezuela), Abdoul Azize Diallo (Senegal) und Chen Zhu (Volksrepublik China). Bisherige Präsidenten, die bis 1977 als „Chairman“ bezeichnet wurden, waren:
1919–1922: Henry P. Davison (Vereinigte Staaten)
1922–1935: John Barton Payne (Vereinigte Staaten)
1935–1938: Cary Travers Grayson (Vereinigte Staaten)
1938–1944: Norman Davis (Vereinigte Staaten)
1944–1945: Johannes von Muralt (Schweiz)
1945–1950: Basil O’Connor (Vereinigte Staaten)
1950–1959: Emil Sandström (Schweden)
1959–1965: John A. MacAulay (Kanada)
1965–1977: José Barroso Chávez (Mexiko)
1977–1981: Joseph Adetunji Adefarasin (Nigeria)
1981–1987: Enrique de la Mata (Spanien)
1987–1997: Mario Villarroel Lander (Venezuela)
1997–2001: Astrid N. Heiberg (Norwegen)
2001–2009: Juan Manuel Suárez Del Toro Rivero (Spanien)
2009–2017: Tadateru Konoé (Japan)
== Aktivitäten ==
=== Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ===
==== Struktur und Organisation ====
Mitglieder der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung sind das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften sowie die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Diese Organisationen sind innerhalb der Bewegung durch die Internationale Konferenz des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes, den Delegiertenrat der Bewegung sowie die ständige Kommission des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes als gemeinsame Organe miteinander verbunden.
Die Internationale Konferenz ist das oberste Organ der Bewegung. Hier kommen die Vertreter der nationalen Gesellschaften, des IKRK und der Föderation sowie die Vertreter der Vertragsstaaten der Genfer Abkommen etwa alle vier Jahre zusammen. Sie „trägt zur Einheit der Bewegung sowie zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts und anderer internationaler Abkommen von besonderem Interesse für die Bewegung bei“ und verabschiedet ihre Beschlüsse, Empfehlungen und Deklarationen in Form von Resolutionen. Die Teilnehmer der Konferenz wählen darüber hinaus die Mitglieder der Ständigen Kommission und können dem IKRK oder der Föderation im Rahmen der Statuten Mandate übertragen. Die Teilnehmer müssen die Grundsätze der Bewegung achten und sich als Redner jeglicher kontroverser politischer, rassistischer, religiöser oder ideologischer Stellungnahmen enthalten.Die Vertreter der Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, des IKRK und der Föderation bilden den Delegiertenrat. Im Rahmen der Statuten „äußert sich der Rat zu jeder die Bewegung betreffende Frage und fasst, sofern nötig, entsprechende Beschlüsse“ im Konsensverfahren. Der Rat tritt in der Regel vor einer Internationalen Konferenz zusammen. Vertreter neuer nationaler Gesellschaften im Anerkennungsverfahren haben die Möglichkeit, den Sitzungen beizuwohnen.Zwischen den Internationalen Konferenzen ist die Ständige Kommission Sachverwalter der Konferenz. Sie setzt sich dafür ein, dass die Organisationen der Bewegung harmonisch zusammenarbeiten, bemüht sich um die Umsetzung der Resolutionen der Konferenz und behandelt Angelegenheiten, welche die Bewegung in ihrer Gesamtheit betreffen. Ihr gehören neun Mitglieder an, davon fünf Mitglieder der nationalen Gesellschaften, zwei Vertreter des IKRK sowie zwei Vertreter der Föderation. Die Kommission ist zuständig für die Festlegung des Konferenzortes, des Datums, des Programms sowie der vorläufigen Tagesordnung. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe, Meinungsverschiedenheiten, die durch Auslegung oder Anwendung der Statuten der Bewegung entstehen, zu entscheiden.Zusammengefasst unter der Bezeichnung „Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung“ sind für das IKRK, die Föderation und die nationalen Gesellschaften weltweit gegenwärtig etwa 97 Millionen Mitglieder aktiv, davon ca. 300.000 Menschen hauptberuflich.
==== Grundsätze ====
Die am 8. Oktober 1965 auf der XX. Internationalen Konferenz vom 2. bis 9. Oktober 1965 verkündeten sieben Grundsätze der Bewegung wurden durch die XXV. Internationale Konferenz vom 23. bis 31. Oktober 1986 angepasst und lauten:
Menschlichkeit (engl. Humanity)
Unparteilichkeit (engl. Impartiality)
Neutralität (engl. Neutrality)
Unabhängigkeit (engl. Independence)
Freiwilligkeit (engl. Voluntary Service)
Einheit (engl. Unity)
Universalität (engl. Universality).Diesen Grundsätzen sind alle Mitglieder und Organisationen des Roten Kreuzes oder Roten Halbmondes verpflichtet.
==== Motto, Gedenktag und Sehenswürdigkeiten ====
Der erste Wahlspruch des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz lautete “Inter Arma Caritas” (deutsch: „Inmitten der Waffen Menschlichkeit“). Es wurde erstmals 1888 durch Gustave Moynier anlässlich der Feierlichkeiten zum 25‑jährigen Bestehen der Rotkreuz-Bewegung verwendet. Er beschrieb dabei ein Bild, das einen Rotkreuz-Helfer inmitten des Kriegsgeschehens darstellte und in der Jubiläumsschrift des IKRK abgebildet war. Das Motto wurde ab 1889 auf den jeweiligen Ausgaben des Bulletin International verbreitet. Es wurde 1961 für die gesamte Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ergänzt um die Losung “Per Humanitatem ad Pacem” (deutsch: „Durch Menschlichkeit zum Frieden“). In diesen Losungen kommt somit auch die historisch bedingte Ausrichtung beider Organisationen auf ihre vorrangigen Aufgaben zum Ausdruck.
Das aus den Erfahrungen der neunziger Jahre hervorgegangene Mission Statement der von der Föderation beschlossenen „Strategie 2010“ lautet:
Von 1999 bis 2004 standen deshalb alle Aktivitäten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung unter dem Slogan “The power of Humanity” (deutsch: „Die Kraft der Menschlichkeit“). Während der 28. Internationalen Konferenz in Genf im Dezember 2003 wurde das Konferenzmotto “Protecting human Dignity” (deutsch: „Schutz der Menschenwürde“) zur neuen Losung für die Aktivitäten der Bewegung gewählt.
Auf der 16. Internationalen Rotkreuz-Konferenz in London im Jahr 1938 wurde beschlossen, den Geburtstag von Henry Dunant am 8. Mai alljährlich als Gedenk- und Feiertag der Internationalen Bewegung zu begehen. Seit 1984 trägt dieser Tag den Namen „Weltrotkreuz- und Rothalbmondtag“.
In Solferino befindet sich neben einem kleinen Museum, das sich hauptsächlich der Schlacht von Solferino und der Geschichte der Italienischen Befreiungskriege widmet, die Knochenkapelle Ossario di Solferino, in der die Schädel von 1.413 Gefallenen der Schlacht und Knochen von ca. 7.000 weiteren Opfern aufbewahrt sind, sowie das 1959 eingeweihte Denkmal des Roten Kreuzes. Im benachbarten Castiglione delle Stiviere wurde im gleichen Jahr das Internationale Museum des Roten Kreuzes eröffnet. Direkt neben dem Hauptsitz des IKRK in Genf ist das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum zu finden. Das Henry-Dunant-Museum in Heiden am Bodensee, das sich mit dem Leben und Wirken von Henry Dunant beschäftigt, wurde in dem Spital eingerichtet, in dem er die letzten 18 Jahre seines Lebens verbrachte.
=== Aktivitäten und Organisation des IKRK ===
==== Mission und Aufgaben ====
Die Mission des IKRK als unparteiische, neutrale und unabhängige Organisation ist der Schutz des Lebens und der Würde von Opfern von Kriegen und innerstaatlichen Konflikten sowie ihre Unterstützung. Es leitet und koordiniert die internationalen Hilfsaktivitäten der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung bei bewaffneten Konflikten und ist damit nach dem Abkommen von Sevilla das verantwortliche Organ (engl. Lead Agency) der Bewegung für entsprechende Situationen. Zu den durch die Genfer Konventionen sowie das Statut des Komitees definierten originären Aufgaben des IKRK gehören die Organisation und die Durchführung folgender Maßnahmen in Kriegs- und Krisensituationen:
Überwachung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts, insbesondere der Genfer Konventionen
Pflege und Versorgung von Verwundeten
Überwachung der Behandlung von Kriegsgefangenen sowie ihre Versorgung
Familienzusammenführung sowie die Suche nach vermissten Personen (Suchdienst)
Schutz und Versorgung der Zivilbevölkerung
Vermittlung zwischen den KonfliktparteienIm Jahr 2006 besuchten Delegierte des IKRK rund 478.000 Gefangene an etwa 2.600 Orten in 71 Ländern, davon wurden fast 25.400 Gefangene erstmals besucht und registriert. Etwa 300.000 Rotkreuz-Mitteilungen zwischen voneinander getrennten Familienmitgliedern wurden ausgetauscht. Für etwa 11.600 Menschen konnte erstmals der Verbleib ermittelt werden, für fast 1.100 Kinder gelang die Zusammenführung mit ihren Familien. Rund 2,6 Millionen Menschen erhielten durch das IKRK Hilfe in Form von Lebensmitteln, rund vier Millionen in Form von Zelten, Decken, Hygieneartikeln und ähnlichem Material, 15,9 Millionen in Form von Wasser und sanitären Anlagen und rund 2,4 Millionen in Form von Gesundheitsstationen und ähnlichen Einrichtungen. Rund 18.000 Angehörige von Militär-, Sicherheits- und Polizeieinheiten in mehr als 100 Ländern erhielten durch das IKRK in mehr als 300 Kursen Unterweisungen zum humanitären Völkerrecht.
==== Struktur und Organisation ====
Das IKRK hat seinen Hauptsitz in Genf und Niederlassungen in ca. 80 weiteren Ländern. Für die internationalen Aktivitäten des Komitees waren 2006 rund 12.500 Menschen weltweit im Einsatz, davon ca. 800 im Hauptquartier in Genf, ca. 1.500 sogenannte Expatriates, je zur Hälfte Delegierte zur Leitung internationaler Missionen sowie Spezialisten wie Ärzte, Ingenieure, Logistiker, Übersetzer und andere, und etwa 10.200 Mitglieder nationaler Gesellschaften vor Ort. Entgegen weit verbreiteten Annahmen ist das IKRK in Bezug auf seine Struktur und Organisationsform weder eine nichtstaatliche Organisation, noch, wie der Name vermuten ließe, eine internationale Organisation. Das Wort „international“ im Namen bezieht sich auf sein durch die weltweite Staatengemeinschaft in den Genfer Abkommen erteiltes Mandat und rührt aus der Begrifflichkeit „inter nationes“ (zwischen den Staaten) her. Die Genfer Abkommen sind damit die völkerrechtliche Grundlage und zusammen mit den Statuten des Komitees die rechtliche Basis für seine Aktivitäten. Es besitzt darüber hinaus durch Verträge mit einzelnen Staaten und internationalen Organisationen sowie durch nationale Gesetze in einzelnen Ländern weitergehende Rechte, Privilegien und Immunitätsschutz zur Durchführung seiner Aufgaben. Hinsichtlich der Rechtsgrundlagen für seine Existenz und Organisation ist das IKRK eine private Vereinigung nach Schweizer Vereinsrecht. Laut seinen Statuten setzt es sich aus 15 bis 25 Schweizer Staatsbürgern zusammen, die durch das Komitee selbst für die Dauer von jeweils vier Jahren kooptiert werden. Eine mehrfache Wiederwahl ist möglich, nach Ablauf von drei Perioden ist für jede zukünftige Wiederwahl eine Dreiviertelmehrheit aller Komitee-Mitglieder notwendig.
Die beiden wesentlichen Organe des IKRK sind das Direktorat (engl. Directorate) und die Versammlung (engl. Assembly). Das Direktorat ist das ausführende Organ des Komitees und besteht aus einem Generaldirektor und fünf Direktoren für die Bereiche „Operationen“, „Personal“, „Ressourcen und operative Unterstützung“, „Kommunikation“ sowie „Internationales Recht und Kooperation innerhalb der Bewegung“. Die Mitglieder des Direktorats werden von der Versammlung für vier Jahre ernannt. Die Versammlung, bestehend aus allen Mitgliedern des Komitees, tritt regelmäßig zusammen und ist für die Festlegung von Zielen, Richtlinien und Strategien, die Überwachung der Aktivitäten des Komitees und die Kontrolle des Haushalts zuständig. Ihr Präsident ist der für jeweils vier Jahre gewählte Präsident des Komitees. Ihm zur Seite stehen zwei Vizepräsidenten. Während einer der beiden Vizepräsidenten ebenfalls vier Jahre lang amtiert, ist die Amtszeit des zweiten nicht befristet, sondern endet mit dem Rücktritt vom Amt oder dem Ausscheiden aus dem Komitee. Die Versammlung wählt darüber hinaus einen aus fünf Mitgliedern bestehenden Versammlungsrat (engl. Assembly Council). Diesem werden von der Versammlung Entscheidungsbefugnisse in bestimmten Angelegenheiten übertragen. Darüber hinaus bereitet der Versammlungsrat die Zusammenkünfte der Versammlung vor und dient als Verbindungsorgan zwischen der Versammlung und dem Direktorat.
Bedingt durch die Lage Genfs im französischsprachigen Teil der Schweiz agiert das IKRK im Regelfall unter seinem französischen Namen Comité international de la Croix-Rouge bzw. dem sich daraus ergebenden Kürzel CICR. Als Symbol verwendet das IKRK das Rote Kreuz auf weißem Grund mit der im Kreis umlaufenden Beschriftung „COMITE INTERNATIONAL GENEVE“.
==== Finanzierung ====
Das Budget des IKRK wird zum größten Teil durch die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Abkommen und deren Vertragsstaaten sowie die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, und in kleinerem Umfang durch internationale Organisationen wie die Europäische Union und durch Spenden von Firmen, Vereinen und Privatpersonen aufgebracht. Alle diese Zahlungen erfolgen freiwillig auf der Grundlage von Spendenaufrufen getrennt für die Bereiche interne Betriebskosten und Hilfseinsätze (engl. Headquarters Appeal und Emergency Appeals). Diese Aufrufe werden vom IKRK jährlich an Repräsentanten möglicher Unterstützer übergeben. Die Finanzplanungen des IKRK gelten in diplomatischen Kreisen aufgrund ihrer Gründlichkeit als Frühwarnsystem für humanitäre Krisen.
Das geplante Gesamtbudget für das Jahr 2011 beläuft sich auf etwa 1,23 Milliarden Schweizer Franken, der höchste Stand in der Geschichte des Komitees. Es verteilt sich auf 1,05 Milliarden Schweizer Franken (85,1 Prozent) für Hilfseinsätze und 183,5 Millionen Schweizer Franken (14,9 Prozent) für interne Kosten. Der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr beträgt ca. 11,6 Prozent bei den geplanten Ausgaben für Hilfseinsätze und 6,1 Prozent bei den voraussichtlichen internen Kosten. Mit einem prognostizierten Gesamtbedarf von 385,5 Millionen Schweizer Franken, rund 37 Prozent der geplanten Ausgaben für Hilfseinsätze, liegt der Schwerpunkt der Einsatztätigkeit wie in den Jahren zuvor in Afrika. Der Einsatz des IKRK in Afghanistan ist mit voraussichtlichen Kosten von 89,4 Millionen Schweizer Franken dessen umfangreichste Mission, gefolgt von den Einsätzen im Irak (85,8 Millionen Schweizer Franken) und im Sudan (82,8 Millionen Schweizer Franken).
=== Aktivitäten und Organisation der Föderation ===
==== Mission und Aufgaben ====
Die Föderation koordiniert innerhalb der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gesellschaften und unterstützt die Gründung und den Aufbau neuer nationaler Gesellschaften in Ländern, in denen noch keine entsprechende Gesellschaft existiert. Auf internationaler Ebene organisiert und leitet die Föderation insbesondere Hilfseinsätze in nichtkriegerischen Notsituationen, wie zum Beispiel nach Naturkatastrophen, technischen Unglücken, Epidemien, bei Massenfluchten und nach dem Ende eines bewaffneten Konflikts. Nach dem Abkommen von Sevilla ist die Föderation damit das verantwortliche Organ der Bewegung (engl. Lead Agency) für entsprechende Einsätze. Sie arbeitet dabei sowohl mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften der betroffenen Länder (engl. Operating National Societies, ONS) als auch nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften anderer Länder (engl. Participating National Societies, PNS) zusammen. Von den derzeit 192 nationalen Gesellschaften, die entweder als Mitglieder oder als Beobachter (engl. Observer) der Generalversammlung der Föderation angehören, sind etwa 25 bis 30 regelmäßig als PNS in anderen Ländern im Einsatz. Zu den aktivsten nationalen Gesellschaften auf internationaler Ebene gehören unter anderem das Amerikanische Rote Kreuz, das Britische Rote Kreuz, das Deutsche Rote Kreuz und die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften Schwedens und Norwegens. Die Föderation unterstützt außerdem das IKRK bei dessen Missionen. Ein aktueller Schwerpunkt der Arbeit der Föderation ist der Einsatz für ein Verbot von Landminen und die medizinische, psychologische und soziale Betreuung von Minenopfern.
Die Aufgaben der Föderation lassen sich demzufolge zu den folgenden Schwerpunkten zusammenfassen:
Verbreitung humanitärer Prinzipien und Werte
Reaktion auf Katastrophen und andere Notsituationen durch Hilfsmaßnahmen
Katastrophenvorsorge durch Aus- und Weiterbildung von Hilfskräften sowie Bereitstellung und Verteilung von Hilfsgütern
Gesundheitsvorsorge und sozialmedizinische Betreuung auf lokaler Ebene
==== Struktur und Organisation ====
Die Föderation hat ihren Hauptsitz ebenfalls in Genf und darüber hinaus 14 Regionalbüros in verschiedenen Regionen sowie etwa 350 Delegierte in mehr als 60 Ländern. Die verbindliche Rechtsgrundlage der Föderation hinsichtlich ihrer Ziele, ihrer Struktur, ihrer Finanzierung und ihrer Kooperation mit anderen Organisationen inklusive des IKRK ist ihre Verfassung. Ausführendes Organ der Föderation ist das Sekretariat unter Leitung des Generalsekretärs (engl. Secretary General). Dem Sekretariat sind vier Abteilungen (engl. divisions) für „Unterstützende Dienste“ (engl. Support Services), „Unterstützung der nationalen Gesellschaften und der Arbeit vor Ort“, (engl. National Society and Field Support), „Strategie und Kontakte“ (engl. Policy and Relations) und „Kooperation innerhalb der Bewegung“ (engl. Movement Cooperation) unterstellt. Der letztgenannten Abteilung obliegt dabei die Zusammenarbeit mit dem IKRK.
Das höchste Organ der Föderation ist die Generalversammlung (engl. General Assembly), die alle zwei Jahre zusammentritt und aus Delegierten aller nationalen Gesellschaften besteht. Darüber hinaus ernennt sie den Generalsekretär. Zwischen den Zusammenkünften der Generalversammlung ist der Verwaltungsrat (engl. Governing Board) das leitende Organ und verfügt als solches auch über Entscheidungsbefugnisse in bestimmten Angelegenheiten. Der Verwaltungsrat besteht aus dem Präsidenten und den Vizepräsidenten der Föderation, dem Vorsitzenden der Finanzkommission und gewählten Repräsentanten nationaler Gesellschaften. Ihm unterstellt sind vier weitere Kommissionen für „Gesundheits- und Gemeinschaftsdienste“, „Jugendarbeit“, „Katastrophenhilfe“ und „Entwicklung“.
Die Föderation verwendet für ihre Aktivitäten die Kombination aus rotem Kreuz (links) und rotem „Halbmond“ (rechts) auf weißem Grund (in der Regel umgeben von einem roten Rand) und ohne weitere Beschriftung als Kennzeichen.
==== Finanzierung ====
Die Föderation finanziert die regulären Kosten ihrer Tätigkeit durch Beitragszahlungen der ihr als Mitglieder angehörenden nationalen Gesellschaften sowie durch Erträge aus Investitionen und Finanzgeschäften. Die Höhe der Beitragszahlungen wird durch die Finanzkommission festgelegt und durch die Generalversammlung bestätigt. Weitere Einnahmen, insbesondere für unvorhergesehene Sonderausgaben, ergeben sich vor allem aus freiwilligen Zahlungen durch nationale Gesellschaften, Regierungen, andere Organisationen, Firmen der freien Wirtschaft und Einzelpersonen. Von der Föderation werden dazu je nach konkretem Bedarf, vor allem für sich kurzfristig ergebende Hilfseinsätze, Spendenaufrufe veröffentlicht.
Im Jahr 2009 erzielte die Föderation Einnahmen in Höhe von 36,0 Millionen Schweizer Franken aus Beitragszahlungen, 4,6 Millionen Schweizer Franken aus nicht zweckgebundenen Spenden, 14,2 Millionen Schweizer Franken aus Investitionen und Finanzgeschäften sowie rund 17,6 Millionen Schweizer Franken aus anderen Zahlungen. Hinzu kamen zweckgebundene Spenden aufgrund von Aufrufen in Höhe von 282,6 Millionen Schweizer Franken sowie 33,0 Millionen Schweizer Franken in Form von anderen zweckgebundenen Leistungen. Demgegenüber standen Ausgaben von insgesamt 475,6 Millionen Schweizer Franken. Der sich daraus ergebende Fehlbetrag wurde vollständig aus Rücklagen finanziert, deren Höhe im Jahr 2009 bei 442,6 Millionen Schweizer Franken lag, darunter 249,4 Millionen Schweizer Franken in Form von Barmitteln.
=== Aktivitäten und Organisation der nationalen Gesellschaften ===
==== Mission und Aufgaben ====
Zu den originären, sich aus den Genfer Konventionen und den Statuten der Bewegung ergebenden Aufgaben einer nationalen Gesellschaft gehört die humanitäre Hilfeleistung im Fall von bewaffneten Konflikten und anderen Notsituationen von großem Ausmaß wie Naturkatastrophen, sowie die Verbreitung der Kenntnisse des humanitären Völkerrechts. Sowohl das IKRK als auch die Föderation kooperieren bei ihren jeweiligen Aktivitäten mit den nationalen Gesellschaften, insbesondere im Hinblick auf die personelle, materielle und finanzielle Ausstattung von Hilfseinsätzen.
Im Rahmen ihrer jeweiligen personellen, finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten nehmen die meisten nationalen Gesellschaften darüber hinaus weitere humanitäre Aufgaben in ihrem Heimatland wahr. Viele Gesellschaften spielen beispielsweise in ihrem Heimatland eine wichtige Rolle im Blutspendewesen, im zivilen Rettungsdienst oder in den sozialen Diensten wie der Alten- und Krankenpflege. In diesen Ländern wirken die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften somit auch als Dienstleister im Gesundheitswesen und als Wohlfahrtsverbände.
==== Struktur und Organisation ====
Nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften existieren in fast allen Ländern der Welt. Sie nehmen dabei grundsätzlich in ihrem Heimatland die sich aus den Genfer Konventionen ergebenden Aufgaben, Rechte und Pflichten einer nationalen Gesellschaft wahr. Die Anerkennung einer Hilfsorganisation als nationale Gesellschaft im Sinne der Konventionen erfolgt durch das IKRK auf der Basis der Statuten der Bewegung und durch die Regierung des Heimatlandes. Artikel 4 dieser Statuten enthält dafür zehn Voraussetzungen für die Anerkennung durch das IKRK:
Die Organisation ist auf dem Territorium eines unabhängigen Staates, der die Genfer Konventionen unterzeichnet haben muss, tätig.
Die Organisation wird durch ein zentrales Organ geführt, das als alleiniges Entscheidungsgremium der Organisation und als Ansprechpartner für die Bewegung fungiert, und ist die einzige nationale Rotkreuz- oder Rothalbmond-Gesellschaft in ihrem Heimatland.
Die jeweilige Regierung hat die Organisation als freiwillige Hilfsgesellschaft im Sinne der Genfer Konventionen anerkannt.
Die Organisation ist rechtlich unabhängig und in der Lage, jederzeit in voller Übereinstimmung mit den Prinzipien der Bewegung zu handeln.
Die Organisation verwendet einen Namen und ein Symbol in Übereinstimmung mit den Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen.
Die Organisation ist so organisiert, dass sie jederzeit die in ihren eigenen Statuten festgelegten Aufgaben erfüllen kann, inklusive der sich aus den Genfer Konventionen ergebenden Verpflichtung zur Vorbereitung in Friedenszeiten auf humanitäre Hilfeleistung im Fall eines bewaffneten Konflikts.
Die Organisation ist auf dem gesamten Staatsgebiet ihres Heimatlandes aktiv.
Die Aufnahme ihrer freiwilligen Mitglieder erfolgt ohne jede Berücksichtigung von Rasse, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Religion oder politischen Ansichten.
Die Organisation folgt den Statuten der Bewegung und ist bereit, mit allen Mitgliedern der Bewegung zu kooperieren.
Die Organisation respektiert die fundamentalen Grundsätze der Bewegung und arbeitet nach den Prinzipien des Internationalen Völkerrechts.Nach der Anerkennung durch das IKRK erfolgt die Aufnahme in die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Mit Stand vom November 2016 sind 190 nationale Gesellschaften als Vollmitglieder der Bewegung anerkannt. Die nationale Gesellschaften Eritreas hat derzeit Beobachter-Status in der Generalversammlung der Föderation. Als bisher letzte nationale Gesellschaften wurden die Rotkreuz-Gesellschaften von Tuvalu in die Föderation aufgenommen.Trotz ihrer formalen Unabhängigkeit ist jede nationale Gesellschaft hinsichtlich ihrer Organisation und Tätigkeit an die Rechtslage in ihrem Heimatland gebunden. In vielen Ländern genießen die nationalen Gesellschaften aufgrund von Abkommen mit ihren Regierungen oder entsprechenden Gesetzen Sonderstatus in bestimmten Punkten, um die von der Bewegung geforderte volle Unabhängigkeit zu gewährleisten. Es hat jedoch im Laufe der Geschichte immer wieder Beispiele gegeben von nationalen Gesellschaften, die von staatlicher Seite institutionalisiert und insbesondere für militärische Zwecke instrumentalisiert wurden. Eine solche Einbindung in staatliche Strukturen und Aktivitäten steht jedoch im Widerspruch zu den Prinzipien der Unabhängigkeit und Neutralität.
==== Finanzierung ====
Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften finanzieren ihre Tätigkeit vorwiegend durch staatliche Zuschüsse der Regierungen und Behörden ihrer jeweiligen Heimatländer, durch Spenden von Privatpersonen, Firmen und anderen Institutionen sowie durch Einnahmen aus wirtschaftlicher Betätigung, insbesondere der Erbringung von Dienstleistungen im Gesundheitssektor und im sozialen Bereich. Je nach Rechtslage sind sie in der Regel als gemeinnützig tätige Organisation anerkannt.
== Symbole ==
=== Unterscheidung zwischen Schutzzeichen und Kennzeichen ===
Die im Folgenden beschriebenen Symbole besitzen eine doppelte Funktion. Zum einen dienen sie in bestimmten Situationen als Schutzzeichen im Sinne der Genfer Abkommen (Rotes Kreuz, Roter Halbmond, Roter Löwe mit roter Sonne, Roter Kristall), zum anderen als Kennzeichen von Organisationen, die zur Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung gehören.
Als Schutzzeichen dienen sie der Markierung von Personen und Objekten (Gebäuden, Fahrzeugen etc.), die im Fall eines bewaffneten Konflikts zur Umsetzung der in den Genfer Abkommen vereinbarten Schutzregelungen und Hilfsmaßnahmen im Einsatz sind. Diese Verwendung wird als „protektiv“ (engl. protective use) bezeichnet. Als Schutzzeichen dürfen diese Symbole insbesondere auch von entsprechenden Organisationen und Einrichtungen, die nicht Teil der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung sind, genutzt werden, wie zum Beispiel den militärischen Sanitätsdiensten oder zivilen Krankenhäusern. Sie sind bei protektiver Verwendung möglichst weithin sichtbar, beispielsweise durch Fahnen, und ohne Zusätze zu verwenden.
Bei einer Verwendung als Kennzeichen zeigen diese Symbole an, dass die betreffenden Personen oder Einrichtungen Teil einer bestimmten Rotkreuz- oder Rothalbmond-Organisation wie des IKRK, der Föderation oder einer nationalen Gesellschaft sind. Eine solche Nutzung wird als „indikativ“ (engl. indicative use) bezeichnet. Die Symbole sollen in diesem Fall kleiner und mit einem entsprechenden Zusatz wie zum Beispiel „Deutsches Rotes Kreuz“ verwendet werden.
Die missbräuchliche Verwendung der Zeichen des Roten Kreuzes ist in vielen Ländern durch nationale Regelungen verboten, so etwa in Deutschland durch § 125 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und durch das DRK-Gesetz, in der Schweiz durch das Bundesgesetz betreffend den Schutz des Zeichens und des Namens des Roten Kreuzes (SR 232.22) oder in Österreich durch das Rotkreuzgesetz.
=== Rotes Kreuz auf weißem Grund ===
Als ursprüngliches Schutz- und Kennzeichen wurde das Rote Kreuz auf weißem Grund bestimmt. Es handelt sich dabei um die farbliche Umkehrung der Schweizer Flagge, eine Festlegung, die zu Ehren des Rotkreuz-Gründers Henry Dunant und seines Heimatlandes angenommen wurde. Die Idee für ein einheitliches Schutzzeichen sowie für seine Gestaltung geht zurück auf die Gründungsmitglieder des Internationalen Komitees Louis Appia und General Guillaume-Henri Dufour. Für die weiße Grundfarbe griff Dufour auf die militärische Tradition zurück, nach der das Tragen oder Hissen einer weißen Fahne anzeigte, dass die Träger sich nicht der kämpfenden Truppe zurechneten. Manchmal wird angenommen, Henry Dunant selbst könnte bei der Schlacht von Solferino oder anderswo in Italien den Einsatz von Mitgliedern des Krankenpflegeordens der Kamillianer beobachtet und ihr auffälliges Ordensemblem (ein aufgenähtes rotes Stoffkreuz auf der schwarzen Priestersoutane) könnte die Wahl des Schutzsymbols der internationalen Rot-Kreuz-Bewegung beeinflusst haben. Der Ordensgründer Kamillus von Lellis hatte dieses Emblem im 16. Jahrhundert bewusst ausgewählt, um durch ein auffallendes Zeichen als Helfer für die Pestkranken erkannt zu werden.Als Schutzzeichen wird das Rote Kreuz in Artikel 7 der Genfer Konvention von 1864 bzw. Artikel 38 des I. Genfer Abkommens (vom 12. August 1949) „zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde“ beschrieben. Bei der Gestaltung des Kreuzes als Kennzeichen wird in der Regel aus praktischen Gründen ein aus fünf Quadraten zusammengesetztes Kreuz verwendet. Dies ist jedoch nur eine Rotkreuz-interne Vereinbarung, offiziell ist – für die Verwendung als Schutzzeichen – jedes rote Kreuz auf weißem Grund anzuerkennen, unabhängig von Formvorschriften. Von den 190 anerkannten nationalen Gesellschaften verwenden derzeit 152 das rote Kreuz als Kennzeichen, darüber hinaus die nationale Gesellschaft von Tuvalu, die ihre Anerkennung beantragt hat.
=== Roter Halbmond ===
Im Russisch-Osmanischen Krieg (1876–1878) benutzte das Osmanische Reich anstelle des Roten Kreuzes den Roten Halbmond, da die osmanische Regierung der Meinung war, dass das Rote Kreuz das religiöse Empfinden ihrer Soldaten verletzen würde. 1877 verpflichtete sich Russland auf Anfrage des IKRK, die Unantastbarkeit aller mit dem Roten Halbmond versehenen Personen und Einrichtungen anzuerkennen, woraufhin die osmanische Regierung im gleichen Jahr die volle Anerkennung des Roten Kreuzes bekannt gab. Nach dieser De-facto-Gleichstellung des Roten Halbmondes mit dem Roten Kreuz erklärte das Internationale Komitee im Jahr 1878, dass prinzipiell die Möglichkeit bestände, für nichtchristliche Staaten ein weiteres Schutzzeichen in die Bestimmungen der Genfer Konvention aufzunehmen, da Grundsätze der Menschlichkeit Vorrang haben müssten vor religiösen Überzeugungen. Formal wurde der Rote Halbmond im Jahr 1929 durch eine diplomatische Konferenz der Unterzeichnerstaaten der Genfer Konventionen als gleichberechtigtes Schutzzeichen anerkannt (Artikel 19 der I. Genfer Konvention in der Fassung von 1929) und damals durch Ägypten sowie die neu gegründete Republik Türkei als solches genutzt. Seit der offiziellen Anerkennung nutzen die nationalen Gesellschaften fast aller islamisch geprägten Länder seit ihrer jeweiligen Gründung den Roten Halbmond als Schutz- und Kennzeichen. Die nationalen Gesellschaften einiger Länder, wie zum Beispiel Pakistan (1974), Malaysia (1975) und Bangladesch (1989), wechselten hinsichtlich ihres Namens und des Zeichens vom Roten Kreuz zum Roten Halbmond. Der Rote Halbmond wird derzeit von 33 der 186 anerkannten nationalen Gesellschaften als Kennzeichen verwendet.
=== Roter Löwe mit roter Sonne ===
Der Iran und seine entsprechende Hilfsgesellschaft, die iranische Gesellschaft vom Roten Löwen mit Roter Sonne, verwendete von 1924 bis 1980 einen roten Löwen mit roter Sonne in Anlehnung an die alte Flagge und das alte Wappen Irans. Die formale Anerkennung als Schutzzeichen erfolgte 1929 gemeinsam mit dem roten Halbmond durch die Überarbeitung der Genfer Konventionen. Trotz des Wechsels zum roten Halbmond im Jahr 1980 behält sich Iran weiterhin ausdrücklich das Recht zur Verwendung des Roten Löwen mit roter Sonne vor, der deshalb weiterhin den Status eines offiziell anerkannten Schutzzeichens besitzt.
=== Roter Kristall: das Zeichen des dritten Zusatzprotokolls ===
Bereits im Jahr 2000 gab es nach einer über mehrere Jahre geführten Diskussion erstmals einen Versuch, ein weiteres Zeichen neben dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond einzuführen. Hintergrund war die Debatte um die Anerkennung der israelischen Gesellschaft Magen David Adom (MDA) mit ihrem Roten Davidstern, die zahlreiche islamische Staaten seit Jahrzehnten blockierten. Weitere Versuche zur Einführung neuer Schutzzeichen bzw. gesonderter Regelungen waren beispielsweise Anträge der nationalen Gesellschaften Thailands (1899 und 1906) für eine Kombination aus Rotem Kreuz und einer Roten Flamme (in Anlehnung an buddhistische Symbolik), Afghanistans (1935) nach Anerkennung eines Roten Torbogens (Mehrab-e-Ahmar) in Anlehnung an seine damalige Landesflagge, sowie Sri Lankas (1957) und Indiens (1977) nach Verwendung einer roten Swastika. Die nationalen Gesellschaften Kasachstans (derzeit Roter Halbmond) und Eritreas (derzeit Rotes Kreuz) streben darüber hinaus an, eine Kombination aus Rotem Kreuz und Rotem Halbmond verwenden zu dürfen, ähnlich der Kombination aus beiden Symbolen, die von der Allianz der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften der Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung verwendet wurde. Die nationale Gesellschaft Eritreas hat zurzeit nur Beobachter-Status in der Generalversammlung der Föderation.
Für Änderungen und Ergänzungen bezüglich der Schutzzeichen und damit der Genfer Konventionen ist eine diplomatische Konferenz unter Teilnahme aller 192 Unterzeichnerstaaten notwendig. Die für das Jahr 2000 geplante Konferenz wurde jedoch aufgrund des Beginns der Zweiten Intifada in den palästinensischen Gebieten abgesagt. Fünf Jahre später lud die Regierung der Schweiz erneut zu einer solchen Konferenz ein. Diese sollte ursprünglich am 5. und 6. Dezember 2005 stattfinden, wurde dann jedoch bis zum 7. Dezember verlängert. Nachdem Magen David Adom im Vorfeld der Konferenz ein Abkommen mit dem Palästinensischen Roten Halbmond geschlossen hatte, das die Zuständigkeiten und die Zusammenarbeit bei Einsätzen in den palästinensischen Gebieten regelte, forderte Syrien ein ähnliches Abkommen für den Zugang seiner Rothalbmond-Gesellschaft zu den Golanhöhen. Entsprechende Verhandlungen mit MDA führten jedoch trotz Kompromissangeboten des IKRK an Syrien zu keinem einvernehmlichen Ergebnis. In der Folge wurde das dritte Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen, das die Einführung des neuen Schutzzeichens regelt, nicht wie bisher üblich im Konsens beschlossen. In einer Abstimmung stimmten von den anwesenden Staaten 98 dem Protokoll zu, 27 lehnten es ab und zehn enthielten sich ihrer Stimme. Da die notwendige Zweidrittelmehrheit damit erreicht wurde, ist das Protokoll angenommen.
Das damit neu eingeführte Symbol ist ein auf einer Spitze stehendes rotes Quadrat, in das bei einer Verwendung als Kennzeichen einer nationalen Gesellschaft zusätzlich eines der anderen Embleme oder eine Kombination aus diesen eingefügt werden kann. Die offizielle Bezeichnung ist „Zeichen des dritten Zusatzprotokolls“. Für den umgangssprachlichen Gebrauch wird vom IKRK und der Föderation im Gegensatz zu früheren Vorschlägen wie „Rote Raute“ (engl. Red Lozenge) oder „Roter Diamant“ (engl. Red Diamond) die Bezeichnung „Roter Kristall“ favorisiert, da die Abkürzung „RC“ für dessen englische Übersetzung Red Crystal identisch ist mit den Abkürzungen für Red Cross (Rotes Kreuz) und Red Crescent (Roter Halbmond). Gleiches gilt für die Abkürzung „CR“ der französischen Begriffe Croix Rouge (Rotes Kreuz), Croissant Rouge (Roter Halbmond) und Cristal Rouge (Roter Kristall).
Während der 29. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz in Genf stimmten am 21. Juni 2006 von den anwesenden 178 Delegationen nationaler Gesellschaften und 148 Delegationen von Vertragsparteien der Genfer Konventionen insgesamt 237 einer Änderung der Statuten der Bewegung zur Aufnahme des Roten Kristalls zu. 54 Delegationen votierten dagegen, 18 enthielten sich der Stimme. Die für die Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit wurde damit klar erreicht. Das IKRK beschloss auf der Grundlage dieser Entscheidung, Magen David Adom und den Palästinensischen Roten Halbmond als nationale Gesellschaften anzuerkennen. Infolgedessen wurden beide Gesellschaften als Vollmitglieder in die Föderation aufgenommen.
=== Roter Davidstern ===
Die nationale Gesellschaft Israels, Magen David Adom (MDA), verwendete seit ihrer Gründung 1930 den Roten Davidstern als Emblem. Nach der Gründung des MDA wurden entsprechende Bemühungen von Seiten der Organisation, das Symbol den anerkannten Schutzzeichen der Genfer Konventionen gleichzustellen, vom IKRK aufgrund von Befürchtungen einer unpraktikablen Verbreitung neuer Kennzeichen abgelehnt. Ein Antrag Israels, den Roten Davidstern als zusätzliches Schutzzeichen in die Genfer Konventionen aufnehmen zu lassen, wurde bei der Neufassung der Abkommen im Jahr 1949 mit 21 Gegenstimmen, 10 Ja-Stimmen und 8 Stimmenthaltungen abgelehnt. Konsequenterweise unterzeichnete Israel die vier Genfer Konventionen von 1949 unter gleichzeitiger Anerkennung der bisherigen Schutzzeichen nur unter dem Vorbehalt, dass es selbst den roten Davidstern als Schutzzeichen gebrauche.Da die Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung jedoch die Verwendung eines anerkannten Schutzzeichens als eine Bedingung für die Anerkennung einer nationalen Gesellschaft enthalten, war Magen David Adom bis zur Verabschiedung des dritten Zusatzprotokolls die Vollmitgliedschaft in der Bewegung verwehrt. Die Organisation hat sich bereit erklärt, bei Auslandseinsätzen den Roten Kristall zu verwenden, je nach Situation mit oder ohne Davidstern innerhalb des Kristalls. Die Regeln des dritten Zusatzprotokolls ermöglichen es Magen David Adom, innerhalb der Grenzen Israels weiterhin den Roten Davidstern zu nutzen.
=== Nicht anerkannte Kennzeichen nationaler Gesellschaften ===
Neben den bereits erwähnten Symbolen wurde im Laufe der Rotkreuzgeschichte eine Vielzahl von Zeichen für Nationale Gesellschaften vorgeschlagen:
Afghanistan: Hilfsgesellschaft Mahrab-e-Ahmar (Roter Torbogen)
Zypern: Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaft
Indien: rotes Wagenrad; analog zum Rad in der Nationalflagge Indiens
Japan: Hilfsgesellschaft Hakuaisha, roter Punkt und Strich übereinander
Libanon: rote Zeder; analog zur heutigen Libanon-Zeder in der Nationalflagge des Libanon
Sudan: rotes Nashorn
Sri Lanka: Gesellschaft des Shramadana: Rote Swastika (Vorschlag 1957); roter Löwe, der ein Schwert trägt (1965 vorgeschlagen)
Syrien: rotes Palmblatt
Thailand: Sabha Unalome Deng; Gesellschaft der roten Flamme (1899 und 1906) beantragt
Sowjetunion: Allianz der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften
Zaire: Gesellschaft vom roten Lamm von Zentralkongo.Alle angegebenen Gesellschaften haben sich später den Anerkennungsbedingungen des Roten Kreuzes unterworfen und eines der völkerrechtlich anerkannten Schutzzeichen als Kennzeichen gewählt.
=== Einheitliches Symbol für die gesamte Bewegung ===
Im April 2016 teilte das IKRK mit, dass ein einheitliches Logo für die gesamte Rotkreuz-Bewegung entwickelt wurde. Es handelt sich dabei um die beiden Schutzzeichen Rotes Kreuz und Roter Halbmond umgeben von einem Dreiviertelkreis mit der Beschriftung „INTERNATIONALE BEWEGUNG“ (engl. INTERNATIONAL MOVEMENT). Weitere Beschriftungen in den Sprachen der Bewegung (arabisch, chinesisch, französisch, russisch und spanisch) wurden ebenfalls verabschiedet. Dieses einheitliche Logo soll bei gemeinsamen Aufrufen o. ä. von IKRK, Föderation und Nationalen Gesellschaften, zum Beispiel bei Spendenaufrufen für humanitäre Krisen, Kampagnen oder globalem Interesse verwendet werden.
== Literatur ==
=== Deutschsprachige Bücher ===
Jean-Claude Favez: Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich: War der Holocaust aufzuhalten? Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1989, ISBN 3-85823-196-7 (und Bertelsmann, München 1989, ISBN 3-570-09324-7).
Jean Pictet: Die Grundsätze des Roten Kreuzes. Ein Kommentar. Institut Henry-Dunant, Genf/Bonn 1990.
Hans Haug, Hans-Peter Gasser, Francoise Perret, Jean-Pierre Robert-Tissot: Menschlichkeit für alle. Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. 3. Auflage. Haupt Verlag, Bern 1995, ISBN 3-258-05038-4.
Henry Dunant: Eine Erinnerung an Solferino. Eigenverlag des Österreichischen Roten Kreuzes, Wien 1997, ISBN 3-9500801-0-4.
Roger Mayou (Hrsg.): Cornelia Kerkhoff (deutsche Übersetzung): Internationales Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum. Eigenverlag des Museums, Genf 2000, ISBN 2-88336-009-X.
Hans Magnus Enzensberger: Krieger ohne Waffen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001, Reihe Die Andere Bibliothek, ISBN 3-8218-4500-7.
Dieter Riesenberger: Für Humanität in Krieg und Frieden. Das Internationale Rote Kreuz 1863–1977. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-01348-5.
Gerald Steinacher: Hakenkreuz und Rotes Kreuz. Eine humanitäre Organisation zwischen Holocaust und Flüchtlingsproblematik. StudienVerlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2013, ISBN 978-3-7065-4762-8.
Robert Dempfer: Das Rote Kreuz: Von Helden im Rampenlicht und diskreten Helfern. Deuticke, Wien 2009, ISBN 978-3-552-06092-0.
Daniel-Erasmus Khan: Das Rote Kreuz: Geschichte einer humanitären Weltbewegung. Verlag Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-64712-3.
Thomas Brückner: Hilfe schenken. Die Beziehungen zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2017, ISBN 978-3-03810-194-9.
=== Englischsprachige Bücher ===
David P. Forsythe: Humanitarian Politics: The International Committee of the Red Cross. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1978, ISBN 0-8018-1983-0.
Georges Willemin, Roger Heacock: International Organization and the Evolution of World Society. Volume 2: The International Committee of the Red Cross. Martinus Nijhoff Publishers, Boston 1984, ISBN 90-247-3064-3.
Pierre Boissier: History of the International Committee of the Red Cross. Volume I: From Solferino to Tsushima. Henry-Dunant-Institut, Genf 1985, ISBN 2-88044-012-2.
André Durand: History of the International Committee of the Red Cross. Volume II: From Sarajevo to Hiroshima. Henry-Dunant-Institut, Genf 1984, ISBN 2-88044-009-2.
International Committee of the Red Cross: Handbook of the International Red Cross and Red Crescent Movement. 13. Auflage. IKRK, Genf 1994, ISBN 2-88145-074-1.
John F. Hutchinson: Champions of Charity: War and the Rise of the Red Cross. Westview Press, Boulder 1997, ISBN 0-8133-3367-9.
Caroline Moorehead: Dunant’s dream: War, Switzerland and the history of the Red Cross. HarperCollins, London 1998, ISBN 0-00-255141-1 (gebundene Ausgabe); HarperCollins, London 1999, ISBN 0-00-638883-3 (Taschenbuch-Ausgabe).
François Bugnion: The International Committee of the Red Cross and the protection of war victims. IKRK & Macmillan (Ref. 0503), Genf 2003, ISBN 0-333-74771-2.
Angela Bennett: The Geneva Convention: The Hidden Origins of the Red Cross. Sutton Publishing, Gloucestershire 2005, ISBN 0-7509-4147-2.
David P. Forsythe: The Humanitarians. The International Committee of the Red Cross. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-61281-0.
International Committee of the Red Cross: Study on the use of the emblems – Operational and commercial and other non-operational issues. ICRC (Ref. 4057), Genf 2011, ISBN 978-2-940396-21-4, icrc.org (PDF; 3,3 MB).
=== Französischsprachige Bücher ===
Catherine Rey-Schyrr: Histoire du Comité International de la Croix-Rouge 1945–1955. De Yalta à Dien Bien Phu. Georg Editeur S.A./ IKRK, Genf 2007, ISBN 978-2-8257-0933-7.
=== Artikel ===
François Bugnion: The emblem of the Red Cross: a brief history. ICRC (Ref. 0316), Genf 1977.
François Bugnion: From the end of the Second World War to the dawn of the third millennium: the activities of the International Committee of the Red Cross during the Cold War and its aftermath: 1945–1995. In: International Review of the Red Cross. 305/1995. ICRC, S. 207–224, ISSN 1560-7755
Wolfgang U. Eckart: Rotes Kreuz. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1266–1270.
Jean-Philippe Lavoyer, Louis Maresca: The Role of the ICRC in the Development of International Humanitarian Law. In: International Negotiation. 4(3)/1999. Brill Academic Publishers, S. 503–527, ISSN 1382-340X
Neville Wylie: The Sound of Silence: The History of the International Committee of the Red Cross as Past and Present. In: Diplomacy and Statecraft. 13(4)/2002. Routledge/ Taylor & Francis, S. 186–204, ISSN 0959-2296
David P. Forsythe: The International Committee of the Red Cross and International Humanitarian Law. In: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften. 2/2003, DRK-Generalsekretariat und Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, S. 64–77, ISSN 0937-5414
Jakob Kellenberger: Reden und Schweigen in der humanitären Tätigkeit. In: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften. 1/2005, DRK-Generalsekretariat und Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, S. 42–49, ISSN 0937-5414
François Bugnion: Towards a comprehensive Solution to the Question of the Emblem. Revised fourth edition. ICRC (Ref. 0778), Genf 2006.
Sven Peterke: The special status of the International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) in public international law. In: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften. 19/2006. DRK-Generalsekretariat und Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, S. 268–274, ISSN 0937-5414
== Weblinks ==
International Red Cross and Red Crescent Movement (englisch, französisch, spanisch, arabisch)
International Committee of the Red Cross (ICRC) (deutsch, englisch, französisch, spanisch, arabisch u. a.)
International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) (englisch, französisch, spanisch, arabisch)
Informationen der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1917 an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (englisch)
Informationen der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1944 an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (englisch)
Informationen der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1963 an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sowie die Liga der Rotkreuz-Gesellschaften (englisch)
Abkommen zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz
International Review of the Red Cross. Vom IKRK herausgegebene Zeitschrift (englisch, französisch)
Yves Sandoz / ANS: Rotes Kreuz. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung in der Datenbank Dodis der Diplomatischen Dokumente der Schweiz
Das rote Kreuz. Gedicht von Josef Viktor Widmann (erschienen in: Das Rote Kreuz, Heft 6/1937, S. 137) auf dem e-periodica-Portal der ETH Zürich; auch als PDF (302 kB)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Rotkreuz-_und_Rothalbmond-Bewegung |
Relativitätstheorie | = Relativitätstheorie =
Die Relativitätstheorie befasst sich mit der Struktur von Raum und Zeit sowie mit dem Wesen der Gravitation. Sie besteht aus zwei maßgeblich von Albert Einstein entwickelten physikalischen Theorien: der 1905 veröffentlichten speziellen Relativitätstheorie und der 1916 abgeschlossenen allgemeinen Relativitätstheorie. Die spezielle Relativitätstheorie beschreibt das Verhalten von Raum und Zeit aus der Sicht von Beobachtern, die sich relativ zueinander bewegen, und die damit verbundenen Phänomene. Darauf aufbauend führt die allgemeine Relativitätstheorie die Gravitation auf eine Krümmung von Raum und Zeit zurück, die unter anderem durch die beteiligten Massen verursacht wird.
Der in der physikalischen Fachsprache häufige Ausdruck relativistisch bedeutet üblicherweise, dass eine Geschwindigkeit nicht vernachlässigbar klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit ist; die Grenze wird oft bei 10 Prozent gezogen. Bei relativistischen Geschwindigkeiten gewinnen die von der speziellen Relativitätstheorie beschriebenen Effekte zunehmende Bedeutung, die Abweichungen von der klassischen Mechanik können dann nicht mehr vernachlässigt werden.
In diesem Artikel werden die grundlegenden Strukturen und Phänomene lediglich zusammenfassend aufgeführt. Für Erläuterungen und Details siehe die Artikel spezielle Relativitätstheorie und allgemeine Relativitätstheorie sowie die Verweise im Text. Zum Begriff der Relativität als solcher siehe Relativität.
== Bedeutung ==
Die Relativitätstheorie hat das Verständnis von Raum und Zeit revolutioniert und Zusammenhänge aufgedeckt, die sich der anschaulichen Vorstellung entziehen. Diese lassen sich jedoch mathematisch präzise in Formeln fassen und durch Experimente bestätigen. Die Relativitätstheorie enthält die newtonsche Physik als Grenzfall. Sie erfüllt damit das Korrespondenzprinzip.
Das Standardmodell der Teilchenphysik beruht auf der Vereinigung der speziellen Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu einer relativistischen Quantenfeldtheorie.
Die allgemeine Relativitätstheorie ist neben der Quantenphysik eine der beiden Säulen des Theoriengebäudes Physik. Es wird allgemein angenommen, dass eine Vereinigung dieser beiden Säulen zu einer Theory of Everything (Theorie von allem) im Prinzip möglich ist. Trotz großer Anstrengungen ist solch eine Vereinigung jedoch noch nicht vollständig gelungen. Sie zählt zu den großen Herausforderungen der physikalischen Grundlagenforschung.
== Die spezielle Relativitätstheorie ==
=== Das Relativitätsprinzip ===
Die beiden folgenden Feststellungen lassen sich als Axiome der Relativitätstheorie interpretieren, aus denen alles Weitere hergeleitet werden kann:
Messen verschiedene Beobachter die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls relativ zu ihrem Standort, so kommen sie unabhängig von ihrem eigenen Bewegungszustand zum selben Ergebnis. Dies ist das sogenannte Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.
Die physikalischen Gesetze haben für alle Beobachter, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, also keiner Beschleunigung unterliegen, dieselbe Gestalt. Diesen Umstand nennt man Relativitätsprinzip.Das Relativitätsprinzip an sich ist wenig spektakulär, denn es gilt auch für die newtonsche Mechanik. Aus ihm folgt unmittelbar, dass es keine Möglichkeit gibt, eine absolute Geschwindigkeit eines Beobachters im Raum zu ermitteln und damit ein absolut ruhendes Bezugssystem zu definieren. Ein solches Ruhesystem müsste sich in irgendeiner Form von allen anderen unterscheiden – es würde damit aber im Widerspruch zum Relativitätsprinzip stehen, wonach die Gesetze der Physik in allen Bezugssystemen dieselbe Gestalt haben. Nun beruhte vor der Entwicklung der Relativitätstheorie die Elektrodynamik auf der Annahme des Äthers als Träger elektromagnetischer Wellen. Würde ein solcher Äther als starres Gebilde den Raum füllen, dann würde er ein Bezugssystem definieren, in dem im Widerspruch zum Relativitätsprinzip die physikalischen Gesetze eine besonders einfache Form hätten und welches überdies das einzige System wäre, in dem die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Jedoch scheiterten alle Versuche, die Existenz des Äthers nachzuweisen, wie beispielsweise das berühmte Michelson-Morley-Experiment von 1887.
Durch die Aufgabe der konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit und die Verwerfung der Ätherhypothese gelang es Einstein, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Relativitätsprinzip und der aus der Elektrodynamik folgenden Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aufzulösen. Nicht zufällig waren es Experimente und Überlegungen zur Elektrodynamik, die zur Entdeckung der Relativitätstheorie führten. So lautete der unscheinbare Titel der einsteinschen Publikation von 1905, die die spezielle Relativitätstheorie begründete, Zur Elektrodynamik bewegter Körper.
=== Relativität von Raum und Zeit ===
Raum- und Zeitangaben sind in der Relativitätstheorie keine universell gültigen Ordnungsstrukturen. Vielmehr werden der räumliche und zeitliche Abstand zweier Ereignisse oder auch deren Gleichzeitigkeit von Beobachtern mit verschiedenen Bewegungszuständen unterschiedlich beurteilt. Bewegte Objekte erweisen sich im Vergleich zum Ruhezustand in Bewegungsrichtung als verkürzt und bewegte Uhren als verlangsamt. Da jedoch alle relativ zueinander gleichförmig bewegten Beobachter gleichermaßen den Standpunkt vertreten können, sich in Ruhe zu befinden, beruhen diese Beobachtungen auf Gegenseitigkeit, das heißt, zwei relativ zueinander bewegte Beobachter sehen die Uhren des jeweils anderen langsamer gehen. Außerdem sind aus ihrer Sicht die Meterstäbe des jeweils anderen kürzer als ein Meter, wenn sie längs der Bewegungsrichtung ausgerichtet sind. Die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, ist hierbei prinzipiell nicht zu beantworten und daher sinnlos.
Diese Längenkontraktion und Zeitdilatation lassen sich vergleichsweise anschaulich anhand von Minkowski-Diagrammen nachvollziehen. In der mathematischen Formulierung ergeben sie sich aus der Lorentz-Transformation, die den Zusammenhang zwischen den Raum- und Zeitkoordinaten der verschiedenen Beobachter beschreibt. Diese Transformation lässt sich direkt aus den beiden obigen Axiomen und der Annahme, dass sie linear ist, herleiten.
Die meisten dieser relativistisch erklärbaren Phänomene machen sich erst bei Geschwindigkeiten bemerkbar, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit nennenswert groß sind. Solche Geschwindigkeiten werden von massebehafteten Körpern im Alltag nicht annähernd erreicht.
=== Lichtgeschwindigkeit als Grenze ===
Kein Objekt und keine Information kann sich schneller bewegen als das Licht im Vakuum. Nähert sich die Geschwindigkeit eines materiellen Objektes der Lichtgeschwindigkeit, so strebt der Energieaufwand für eine weitere Beschleunigung über alle Grenzen, weil die kinetische Energie mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit immer steiler ansteigt. Zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit müsste unendlich viel Energie aufgebracht werden.
Dieser Umstand ist eine Folge der Struktur von Raum und Zeit und keine Eigenschaft des Objekts, wie beispielsweise eines lediglich unvollkommenen Raumschiffes. Würde sich ein Objekt mit Überlichtgeschwindigkeit von A nach B bewegen, so gäbe es immer einen relativ zu ihm bewegten Beobachter, der eine Bewegung von B nach A wahrnehmen würde, wiederum ohne dass die Frage, wer die Situation korrekter beschreibt, einen Sinn gäbe. Das Kausalitätsprinzip wäre dann verletzt, da die Reihenfolge von Ursache und Wirkung nicht mehr definiert wäre. Ein solches Objekt würde sich übrigens für jeden Beobachter mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen.
=== Vereinigung von Raum und Zeit zur Raumzeit ===
Raum und Zeit erscheinen in den Grundgleichungen der Relativitätstheorie formal fast gleichwertig nebeneinander und lassen sich daher zu einer vierdimensionalen Raumzeit vereinigen. Dass Raum und Zeit auf verschiedene Weise in Erscheinung treten, ist eine Eigenheit der menschlichen Wahrnehmung. Mathematisch lässt der Unterschied sich auf ein einziges Vorzeichen zurückführen, durch das sich die Definition eines Abstandes im euklidischen Raum von der Definition des Abstands in der vierdimensionalen Raumzeit unterscheidet. Aus gewöhnlichen Vektoren im dreidimensionalen Raum werden dabei sogenannte Vierervektoren.
In der Raumzeit gibt es aufgrund der Relativität von Längen und Zeitspannen drei klar unterscheidbare Bereiche für jeden Beobachter:
Im Zukunftslichtkegel liegen alle Punkte, die der Beobachter mittels eines Signals mit maximal Lichtgeschwindigkeit erreichen kann.
Der Vergangenheitslichtkegel umfasst alle Punkte, von denen aus ein Signal mit maximal Lichtgeschwindigkeit den Beobachter erreichen kann.
Alle restlichen Punkte heißen „vom Beobachter raumartig getrennt“. In diesem Bereich kann der gewählte Beobachter Zukunft und Vergangenheit nicht definieren.Praktische Anwendung finden die Raumzeit-Vierervektoren beispielsweise in Berechnungen der Kinematik schneller Teilchen.
=== Äquivalenz von Masse und Energie ===
Einem System mit der Masse m lässt sich auch im unbewegten Zustand eine Energie E zuordnen, und zwar nach
E
=
m
⋅
c
2
{\displaystyle E=m\cdot c^{2}}
,wobei c die Geschwindigkeit des Lichtes ist. Diese Formel ist eine der berühmtesten in der Physik. Oft wird irreführend behauptet, sie habe die Entwicklung der Atombombe ermöglicht. Die Wirkungsweise der Atombombe kann jedoch mit ihr nicht erklärt werden. Allerdings konnte schon 1939 kurz nach der Entdeckung der Kernspaltung mit dieser Formel und den schon bekannten Massen der Atome durch Lise Meitner die enorme Freisetzung von Energie abgeschätzt werden. Diese Massenabnahme tritt auch schon bei chemischen Reaktionen auf, war jedoch dort wegen ihrer Kleinheit mit den damaligen Messmethoden nicht bestimmbar, anders als im Fall von Kernreaktionen.
=== Magnetfelder in der Relativitätstheorie ===
Die Existenz magnetischer Kräfte ist untrennbar mit der Relativitätstheorie verknüpft. Eine isolierte Existenz des coulombschen Gesetzes für elektrische Kräfte wäre nicht mit der Struktur von Raum und Zeit verträglich. So sieht ein Beobachter, der relativ zu einem System statischer elektrischer Ladungen ruht, kein Magnetfeld, anders als ein Beobachter, der sich relativ zu ihm bewegt. Übersetzt man die Beobachtungen des ruhenden Beobachters über eine Lorentz-Transformation in die des Bewegten, so stellt sich heraus, dass dieser neben der elektrischen Kraft eine weitere, magnetische Kraft wahrnimmt. Die Existenz des Magnetfeldes in diesem Beispiel lässt sich daher auf die Struktur von Raum und Zeit zurückführen. Unter diesem Gesichtspunkt wirkt auch die im Vergleich zum Coulombgesetz komplizierte und auf den ersten Blick wenig plausible Struktur des vergleichbaren biot-savartschen Gesetzes für Magnetfelder weniger verwunderlich. Im mathematischen Formalismus der Relativitätstheorie werden das elektrische und das magnetische Feld zu einer Einheit, dem vierdimensionalen elektromagnetischen Feldstärketensor, zusammengefasst, ganz analog zur Vereinigung von Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit.
== Die allgemeine Relativitätstheorie ==
=== Gravitation und die Krümmung der Raumzeit ===
Die allgemeine Relativitätstheorie führt die Gravitation auf das geometrische Phänomen der gekrümmten Raumzeit zurück, indem sie feststellt:
Energie krümmt die Raumzeit in ihrer Umgebung.Ein Gegenstand, auf den nur gravitative Kräfte wirken, bewegt sich zwischen zwei Punkten in der Raumzeit stets auf einer sogenannten Geodäte.Entzieht sich bereits die vierdimensionale Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie einer anschaulichen Vorstellbarkeit, so gilt das für eine zusätzlich gekrümmte Raumzeit erst recht. Zur Veranschaulichung kann man jedoch Situationen mit reduzierter Anzahl von Dimensionen betrachten. So entspricht im Fall einer 2-dimensionalen gekrümmten Landschaft eine Geodäte dem Weg, den ein Fahrzeug mit geradeaus fixierter Lenkung nehmen würde. Würden zwei solche Fahrzeuge am Äquator einer Kugel nebeneinander exakt parallel Richtung Norden starten, dann würden sie sich am Nordpol treffen. Ein Beobachter, dem die Kugelgestalt der Erde verborgen bliebe, würde daraus auf eine Anziehungskraft zwischen den beiden Fahrzeugen schließen. Es handelt sich aber um ein rein geometrisches Phänomen. Gravitationskräfte werden daher in der allgemeinen Relativitätstheorie gelegentlich auch als Scheinkräfte bezeichnet.
Da der geodätische Weg durch die Raumzeit von ihrer Geometrie und nicht von der Masse oder sonstigen Eigenschaften des fallenden Körpers abhängt, fallen alle Körper im Gravitationsfeld gleich schnell, wie bereits Galilei feststellte. Dieser Umstand wird in der newtonschen Mechanik durch die Äquivalenz von träger und schwerer Masse beschrieben, die auch der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt.
=== Die mathematische Struktur der allgemeinen Relativitätstheorie ===
Während viele Aspekte der speziellen Relativitätstheorie in ihrer einfachsten Formulierung auch mit geringen mathematischen Kenntnissen nachvollziehbar sind, ist die Mathematik der allgemeinen Relativitätstheorie deutlich anspruchsvoller. Die Beschreibung einer gekrümmten Raumzeit erfolgt mit den Methoden der Differentialgeometrie, die die euklidische Geometrie des uns vertrauten flachen Raumes beinhaltet und erweitert.
Zur Beschreibung von Krümmung wird zur Anschauung meist ein gekrümmtes Objekt in einen höherdimensionalen Raum eingebettet. Zum Beispiel stellt man sich eine zweidimensionale Kugeloberfläche üblicherweise in einem dreidimensionalen Raum vor. Krümmung kann jedoch ohne die Annahme eines solchen Einbettungsraumes beschrieben werden, was in der allgemeinen Relativitätstheorie auch geschieht. Es ist beispielsweise möglich, Krümmung dadurch zu beschreiben, dass die Winkelsumme von Dreiecken nicht 180° entspricht.
Die Entstehung der Krümmung wird durch die einsteinschen Feldgleichungen beschrieben. Dabei handelt es sich um Differentialgleichungen eines Tensorfeldes mit zehn Komponenten, die nur in speziellen Fällen analytisch, das heißt in Form einer mathematischen Gleichung, lösbar sind. Für komplexe Systeme wird daher üblicherweise mit Näherungsmechanismen gearbeitet.
=== Uhren im Gravitationsfeld ===
In der allgemeinen Relativitätstheorie hängt der Gang von Uhren nicht nur von ihrer relativen Geschwindigkeit ab, sondern auch von ihrem Ort im Gravitationsfeld. Eine Uhr auf einem Berg geht schneller als eine im Tal. Dieser Effekt ist zwar im irdischen Gravitationsfeld nur gering, er wird jedoch beim GPS-Navigationssystem zur Vermeidung von Fehlern bei der Positionsbestimmung über eine entsprechende Frequenzkorrektur der Funksignale berücksichtigt.
=== Kosmologie ===
Während die spezielle Relativitätstheorie bei Anwesenheit von Massen nur in Gebieten der Raumzeit gilt, die so klein sind, dass die Krümmung vernachlässigt werden kann, kommt die allgemeine Relativitätstheorie ohne diese Einschränkung aus. Sie kann somit auch auf das Universum als Ganzes angewandt werden und spielt daher in der Kosmologie eine zentrale Rolle. So wird die Expansion des Weltalls, die die Astronomen beobachten, durch die friedmannschen Lösungen der einsteinschen Feldgleichungen in Kombination mit einer sogenannten kosmologischen Konstanten angemessen beschrieben. Danach begann diese Expansion mit dem Urknall, der nach den jüngsten Untersuchungen vor 13,7 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Er kann auch als der Beginn von Raum und Zeit angesehen werden, bei dem das gesamte Universum auf einem Raumgebiet vom Durchmesser der Planck-Länge konzentriert war.
=== Schwarze Löcher ===
Eine weitere Vorhersage der allgemeinen Relativitätstheorie sind Schwarze Löcher. Diese Objekte haben eine so starke Gravitation, dass sie sogar Licht „einfangen“ können, so dass es nicht wieder aus dem schwarzen Loch herauskommen kann. Einstein konnte sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden und meinte, es müsse einen Mechanismus geben, der die Entstehung solcher Objekte verhindert. Heutige Beobachtungen aber belegen, dass es solche Schwarzen Löcher im Universum tatsächlich gibt, und zwar als Endstadium der Sternentwicklung bei sehr massereichen Sternen und in den Zentren von Galaxien.
=== Gravitationswellen ===
Die allgemeine Relativitätstheorie erlaubt die Existenz von Gravitationswellen, lokalen Deformationen der Raumzeit, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Sie entstehen bei der Beschleunigung von Massen, allerdings sind sie nur sehr klein. Daher konnten Gravitationswellen lange Zeit nur indirekt bestätigt werden, etwa durch Beobachtungen an Doppelsternsystemen mit Pulsaren. Russell Hulse und Joseph Taylor erhielten dafür 1993 den Nobelpreis für Physik. Erst beim LIGO-Experiment, am 14. September 2015 um 11:51 MESZ, gelang der direkte Nachweis, was im Jahr 2017 ebenfalls durch einen Nobelpreis für Physik gewürdigt wurde.
== Entstehungsgeschichte ==
=== Spezielle Relativitätstheorie ===
Ausgehend von den Problemen der verschiedenen Äthertheorien des 19. Jahrhunderts und der maxwellschen Gleichungen setzte eine kontinuierliche Entwicklung mit folgenden Hauptstationen ein:
dem Michelson-Morley-Experiment (1887), welches keine Relativbewegung zwischen Erde und Äther (Ätherdrift) aufzeigen konnte;
der Kontraktionshypothese von George FitzGerald (1889) und Hendrik Antoon Lorentz (1892), mit welcher das Michelson-Morley-Experiment erklärt werden sollte;
der Lorentz-Transformation von Lorentz (1892, 1899) und Joseph Larmor (1897), welche eine Veränderung der Zeitvariablen beinhaltete, und mit der generell die negativen Ätherdriftexperimente erklärt werden sollten;
dem Relativitätsprinzip (1900, 1904), der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (1898, 1904), und der Relativität der Gleichzeitigkeit (1898, 1900) durch Henri Poincaré, welcher jedoch am Äthergedanken festhielt;
sowie dem Erreichen der vollen Kovarianz der elektrodynamischen Grundgleichungen durch Lorentz (1904) und Poincaré (1905) in der lorentzschen Äthertheorie.Dies kulminierte in der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins (1905) durch eine durchsichtige Ableitung der gesamten Theorie aus den Postulaten des Relativitätsprinzips und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, und der endgültigen Überwindung des Ätherbegriffs durch Reformulierung der Begriffe von Raum und Zeit. Die dynamische Betrachtungsweise von Lorentz und Poincaré wurde durch die kinematische Einsteins ersetzt. Schließlich folgte die mathematische Reformulierung der Theorie durch Einbeziehung der Zeit als vierte Dimension durch Hermann Minkowski (1907).
=== Allgemeine Relativitätstheorie ===
Während an der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie eine Reihe von Wissenschaftlern beteiligt war – wobei Einsteins Arbeit von 1905 sowohl ein Ende als auch einen Neuanfang darstellte –, war die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, was ihre grundlegenden physikalischen Aussagen betraf, praktisch die alleinige Errungenschaft Einsteins.
Diese Entwicklung begann 1907 mit dem Äquivalenzprinzip, wonach träge und schwere Masse äquivalent sind. Daraus leitete er die gravitative Rotverschiebung ab und stellte fest, dass Licht im Gravitationsfeld abgelenkt wird, wobei er die dabei entstehende Verzögerung, die so genannte Shapiro-Verzögerung, bedachte. 1911 führte er mit verfeinerten Methoden diese Grundgedanken weiter. Diesmal vermutete er auch, dass die Lichtablenkung im Gravitationsfeld messbar ist. Der von ihm zu dieser Zeit vorhergesagte Wert war jedoch noch um einen Faktor 2 zu klein.
Im weiteren Verlauf erkannte Einstein, dass Minkowskis vierdimensionaler Raumzeitformalismus, welchem Einstein bislang skeptisch gegenüberstand, eine sehr wichtige Bedeutung bei der neuen Theorie zukam. Auch wurde ihm nun klar, dass die Mittel der euklidischen Geometrie nicht ausreichten, um seine Arbeit fortsetzen zu können. 1913 konnte er mit der mathematischen Unterstützung Marcel Grossmanns die im 19. Jahrhundert entwickelte nichteuklidische Geometrie in seine Theorie integrieren, ohne jedoch die vollständige Kovarianz, d. h. die Übereinstimmung aller Naturgesetze in den Bezugssystemen, zu erreichen. 1915 waren diese Probleme nach einigen Fehlschlägen überwunden, und Einstein konnte schließlich die korrekten Feldgleichungen der Gravitation ableiten. Nahezu gleichzeitig gelang dies auch David Hilbert. Einstein errechnete den korrekten Wert für die Periheldrehung des Merkurs, und für die Lichtablenkung das Doppelte des 1911 erhaltenen Wertes. 1919 wurde dieser Wert erstmals bestätigt, was den Siegeszug der Theorie in Physikerkreisen und auch in der Öffentlichkeit einleitete.
Danach versuchten sich viele Physiker an exakten Lösungen der Feldgleichungen, was in der Aufstellung diverser kosmologischer Modelle und in Theorien wie die der Schwarzen Löcher mündete.
=== Weitere geometrische Theorien ===
Nach der Erklärung der Gravitation als geometrisches Phänomen lag es nahe, auch die anderen damals bekannten Grundkräfte, die elektrische und die magnetische, auf geometrische Effekte zurückzuführen. Theodor Kaluza (1921) und Oskar Klein (1926) nahmen dazu eine zusätzliche in sich geschlossene Dimension des Raumes mit so kleiner, nämlich subatomarer Länge an, dass diese Dimension uns verborgen bleibt. Sie blieben jedoch mit ihrer Theorie erfolglos. Auch Einstein arbeitete lange vergeblich daran, eine solche einheitliche Feldtheorie zu schaffen.
Nach der Entdeckung weiterer Grundkräfte der Natur erlebten diese sogenannten Kaluza-Klein-Theorien eine Renaissance – allerdings auf der Basis der Quantentheorie. Die heute aussichtsreichste Theorie zur Vereinigung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie dieser Art, die Stringtheorie, geht von sechs oder sieben verborgenen Dimensionen von der Größe der Planck-Länge und damit von einer zehn- beziehungsweise elfdimensionalen Raumzeit aus.
== Experimentelle Bestätigungen ==
Der erste Erfolg der speziellen Relativitätstheorie war die Auflösung des Widerspruches, der als Anlass für ihre Entdeckung angesehen werden kann: der Widerspruch zwischen dem Ergebnis des Michelson-Morley-Experiments und der Theorie der Elektrodynamik. Seither hat sich die spezielle Relativitätstheorie in der Interpretation unzähliger Experimente bewährt. Ein überzeugendes Beispiel ist der Nachweis von Myonen in der Höhenstrahlung, die auf Grund ihrer kurzen Lebensdauer nicht die Erdoberfläche erreichen könnten, wenn nicht auf Grund ihrer hohen Geschwindigkeit die Zeit für sie langsamer ginge, beziehungsweise sie die Flugstrecke längenkontrahiert erführen. Dieser Nachweis gelang zum Teil bei den Ballonflügen in die Stratosphäre des Schweizer Physikers Auguste Piccard in den Jahren 1931 und 1932, die unter Mitwirkung von Einstein vorbereitet wurden.
Hingegen gab es zur Zeit der Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie nur einen einzigen Hinweis für ihre Richtigkeit, die Periheldrehung des Merkurs. 1919 stellte Arthur Stanley Eddington bei einer Sonnenfinsternis eine Verschiebung der scheinbaren Position der Sterne nahe der Sonne fest und lieferte mit diesem sehr direkten Hinweis auf eine Krümmung des Raums eine weitere Bestätigung der Theorie.
Weitere experimentelle Tests sind im Artikel zur allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben.
Die Relativitätstheorie hat sich bis heute in der von Einstein vorgegebenen Form gegen alle Alternativen, die insbesondere zu seiner Theorie der Gravitation vorgeschlagen wurden, behaupten können. Die bedeutendste war die Jordan-Brans-Dicke-Theorie, die jedoch aufwändiger war. Ihre Gültigkeit ist bisher nicht widerlegt worden. Der Bereich, den der entscheidende Parameter nach heutigem experimentellem Stand einnehmen kann, ist jedoch stark eingeschränkt.
== Rezeption und Interpretation ==
=== Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ===
Die neue Sichtweise der Relativitätstheorie bezüglich Raum und Zeit erregte nach ihrer Entdeckung auch in der Allgemeinheit Aufsehen. Einstein wurde zur Berühmtheit und die Relativitätstheorie erfuhr ein erhebliches Medienecho. Verkürzt auf das geflügelte Wort Alles ist relativ wurde sie zuweilen in die Nähe eines philosophischen Relativismus gerückt.
Im April 1922 wurde ein Film mit dem Titel Die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie uraufgeführt, in dem Einsteins spezielle Relativitätstheorie mit vielen Animationen dem Publikum verständlich gemacht werden sollte.
Kritik an der Relativitätstheorie speiste sich aus verschiedenen Quellen, wie Unverständnis, Ablehnung der fortschreitenden Mathematisierung der Physik und teilweise auch Ressentiments gegen Einsteins jüdische Abstammung. Ab den 1920er Jahren versuchten in Deutschland einige wenige offen antisemitische Physiker, namentlich die Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark, der Relativitätstheorie eine deutsche Physik entgegenzusetzen. Wenige Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ging Stark mit einem Artikel in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps vom 15. Juli 1937 gegen die im Land verbliebenen Anhänger der Relativitäts- und Quantentheorie in die Offensive. Unter anderem denunzierte er Werner Heisenberg und Max Planck als weiße Juden. Heisenberg wandte sich direkt an Himmler und erreichte seine volle Rehabilitierung; nicht zuletzt mit Blick auf die Bedürfnisse der Rüstungsentwicklung blieb die Relativitätstheorie erlaubt.
Auch viele führende Vertreter der hergebrachten klassischen Physik lehnten Einsteins Relativitätstheorie ab, darunter Lorentz und Poincaré selbst und auch Experimentalphysiker wie Michelson.
=== Wissenschaftliche Anerkennung ===
Die Bedeutung der Relativitätstheorien war anfänglich umstritten. Der Nobelpreis für Physik 1921 wurde Einstein im Jahr 1922 für seine Deutung des photoelektrischen Effekts zugesprochen. Allerdings sprach er in seiner Preisrede dann über die Relativitätstheorien.
== Literatur und Film ==
=== Physikalische Einführungen und Diskussion ===
Max Born: Die Relativitätstheorie Einsteins. Bearbeitet von Jürgen Ehlers und Markus Pössel. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-67904-9.
Albert Einstein: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Springer Verlag 2009, 24. Auflage (1. Auflage 1916).
Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik. Zsolnay, Hamburg 1950, Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-18342-0.
Albert Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie. Vieweg 1963; Neuausgabe: Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-43512-3 (Originaltitel Meaning of relativity).
Jürgen Freund: Relativitätstheorie für Studienanfänger – ein Lehrbuch. vdf Hochschulverlag, Zürich 2004, ISBN 3-7281-2993-3.
Hubert Goenner: Spezielle Relativitätstheorie und die klassische Feldtheorie. Elsevier – Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-1434-2.
Holger Müller, Achim Peters: Einsteins Theorie auf dem optischen Prüfstand – Spezielle Relativitätstheorie. In: Physik in unserer Zeit 35, Nr. 2, 2004, ISSN 0031-9252, S. 70–75.
Wolfgang Nolting: Grundkurs Theoretische Physik. Band 4. Spezielle Relativitätstheorie, Thermodynamik. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-42116-5.
Hans Stephani: Allgemeine Relativitätstheorie. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, ISBN 3-326-00083-9.
Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-8274-1685-X.
=== Populäre Literatur ===
Peter von der Osten-Sacken: Gedankenexperimente zur Relativität der Zeit. In: Ernst von Khuon (Hrsg.): Waren die Götter Astronauten? Wissenschaftler diskutieren die Thesen Erich von Dänikens. Taschenbuchausgabe: Droemer, München/Zürich 1972, ISBN 3-426-00284-1, S. 113–124.
Julian Schwinger: Einsteins Erbe. Die Einheit von Raum und Zeit. Spektrum, Heidelberg 2000, ISBN 3-8274-1045-2.
David Bodanis: Bis Einstein kam. Die abenteuerliche Suche nach dem Geheimnis der Welt. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-15399-9.
Gerald Kahan: Einsteins Relativitätstheorie – zum leichten Verständnis für jedermann. Dumont, Köln 1987, 2005, ISBN 3-7701-1852-9.
Rüdiger Vaas: Jenseits von Einsteins Universum – Von der Relativitätstheorie zur Quantengravitation. Kosmos, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-440-14883-9.
=== Philosophische Einführungen und Diskussion ===
Julian Barbour: The End of Time. Weidenfeld & Nicolson, London 1999, ISBN 0-297-81985-2.
Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Meiner, Hamburg 2001, ISBN 3-7873-1410-5.
John Earman: World Enough and Space-Time. Absolute versus relational theories of space and time. MIT, Cambridge, Mass. 1989, ISBN 0-262-05040-4.
John Earman (Hrsg.): Foundations of space-time theories. University of Minnesota Press, Minneapolis, Minn. 1977, ISBN 0-8166-0807-5.
Lawrence Sklar: Space, Time, and Spacetime. University of California Press, 1977, ISBN 0-520-03174-1.
R. Torretti: Relativity and Geometry. Pergamon, Oxford 1983, ISBN 0-08-026773-4.
M. Friedman: Foundations of Space-Time Theories. Relativistic physics and philosophy of science. Princeton University Press, Princeton, NJ 1983, ISBN 0-691-07239-6.
John Earman: Bangs, Crunches, Whimpers and Shrieks. Singularities and acausalities in relativistic spacetimes. Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-509591-X.
H. Brown: Physical Relativity. Space-time structure from a dynamical perspective. Clarendon, Oxford 2005, ISBN 978-0-19-927583-0.
Graham Nerlich: What spacetime explains. Metaphysical essays on space and time. Cambridge University Press, Cambridge 1994, ISBN 0-521-45261-9.
T. Ryckman: The Reign of Relativity. Philosophy in physics 1915–1925. Oxford University Press, New York 2005, ISBN 0-19-517717-7.
R. DiSalle: Understanding space-time. The philosophical development of physics from Newton to Einstein. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-85790-1.
Werner Bernhard Sendker: Die so unterschiedlichen Theorien von Raum und Zeit. Der transzendentale Idealismus Kants im Verhältnis zur Relativitätstheorie Einsteins. Osnabrück 2000, ISBN 3-934366-33-3.sowie Überblicksdarstellungen in den meisten Handbüchern zur Naturphilosophie, Philosophie der Physik und oft auch Wissenschaftstheorie.
=== Film ===
Einsteins große Idee. Frankreich, Großbritannien 2005, ARTE Frankreich, Regie: Gary Johnstone. (Das Drehbuch basiert auf dem Bestseller Bis Einstein kam von David Bodanis.)
== Weblinks ==
Tempolimit Lichtgeschwindigkeit – Visualisierung der Phänomene der Relativitätstheorie
Einstein Online (deutsche Version)
E. F. Taylor and J. A. Wheeler: Spacetime Physics 2nd Edition, New York, W. H. Freeman and Co., 1992. ISBN 0-7167-2327-1. Standardwerk zur Speziellen Relativitätstheorie (englisch) [1]
Zur technischen Anwendung der Relativitätstheorie in GPS-Systemen
Online-Kurs „Spezielle Relativitätstheorie“ (mit GeoGebra, ausgezeichnet mit dem österreichischen Bildungssoftware-Preis L@rnie 2005)
J. R. Lucas: Homepage mit zahlreichen Publikationen zur Philosophie der Zeit, Raumzeit und Relativität, darunter der Volltext von Reason and Reality, 2006
Thomas A. Ryckman: Early Philosophical Interpretations of General Relativity. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Steven Savitt: Being and Becoming in Modern Physics. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Nick Huggett / Carl Hoefer: Absolute and Relational Theories of Space and Motion. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Robert DiSalle: Space and Time: Inertial Frames. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Andrew Hamilton: Special Relativity (Memento vom 2. Juli 2017 im Internet Archive)
Yuri Balashov: From Space and Time to Space-Time: Understanding Relativity (Memento vom 19. April 2010 im Internet Archive), Rice University, Houston, Texas 1999
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Relativit%C3%A4tstheorie |
Paul Cézanne | = Paul Cézanne =
Paul Cézanne (* 19. Januar 1839 in Aix-en-Provence; † 22. Oktober 1906 ebenda) war ein französischer Maler. Cézannes Werk wird unterschiedlichen Stilrichtungen zugeordnet: Während seine frühen Arbeiten noch von Romantik – wie die Wandbilder im Landhaus Jas de Bouffan – und Realismus geprägt sind, gelangte er durch intensive Auseinandersetzung mit impressionistischen Ausdrucksformen zu einer neuen Bildsprache, die den zerfließenden Bildeindruck impressionistischer Werke zu festigen versucht. Er gab die illusionistische Fernwirkung auf, brach die von den Vertretern der Akademischen Kunst aufgestellten Regeln und strebte eine Erneuerung traditioneller Gestaltungsmethoden auf der Grundlage des impressionistischen Farbraumes und farbmodulatorischer Prinzipien an.
Seine Malerei rief in der zeitgenössischen Kunstkritik Unverständnis und Spott hervor. Bis in die späten 1890er Jahre waren es hauptsächlich Künstlerkollegen wie Pissarro, Monet und Renoir sowie Kunstsammler und der Galerist Ambroise Vollard, denen sich Cézannes Schaffen erschloss und die zu den ersten Käufern seiner Gemälde zählten. Vollard eröffnete im Jahr 1895 in seiner Pariser Galerie die erste Einzelausstellung, die zu einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Werk des Künstlers führte.Aus der Vielzahl der Künstler, die sich nach Cézannes Tod an dessen Werk orientierten, sind im Besonderen Pablo Picasso, Henri Matisse, Georges Braque und André Derain zu nennen. Die gegensätzliche Ausrichtung der malerischen Werke der genannten Künstler lässt die Komplexität des Cézanne’schen Werks erkennen. Cézanne zählt mit seinen Werken aus kunsthistorischer Sicht zu den Wegbereitern der Klassischen Moderne.
Cézannes Bildthemen waren oft Badende, die Landschaft um das Gebirge Montagne Sainte-Victoire, Stillleben und Porträts seines Modells, seiner Geliebten und späteren Frau, Hortense Fiquet.
== Leben ==
=== Kindheit und Ausbildung ===
Paul Cézanne wurde als Sohn des Huthändlers und späteren Bankiers Louis-Auguste Cézanne und der Anne-Elisabeth-Honorine Aubert in der Rue de l’Opera 28 in Aix-en-Provence geboren. Seine Eltern heirateten erst nach der Geburt Pauls und seiner Schwester Marie (* 1841) am 29. Januar 1844. Seine jüngste Schwester Rose kam im Juni 1854 zur Welt. In den Jahren von 1844 bis 1849 besuchte er die Grundschule; es schloss sich die Ausbildung an der École de Saint-Joseph an. Mitschüler waren der spätere Bildhauer Philippe Solari und Henri Gasquet, Vater des Schriftstellers Joachim Gasquet, der 1921 sein Buch Cézanne herausbringen sollte.
Ab 1852 besuchte Cézanne das Collège Bourbon (heute Lycée Mignet), wo er Freundschaft mit dem späteren Romancier Émile Zola und dem späteren Ingenieur Jean-Baptistin Baille schloss. Sie wurden im Collège als die „Unzertrennlichen“ bezeichnet. Es war die wohl unbeschwerteste Zeit seines Lebens, als die Freunde an den Ufern des Arc schwammen und fischten. Sie debattierten über Kunst, lasen Homer und Vergil und übten sich im Verfassen eigener Gedichte. Cézanne verfasste seine Verse oft in lateinischer Sprache. Zola forderte ihn auf, die Dichtung mit größerem Ernst zu betreiben, doch Cézanne sah darin nur einen Zeitvertreib. Am 12. November 1858 bestand Cézanne die Prüfung zum Baccalauréat.
Auf Wunsch des autoritären Vaters, der in seinem Sohn traditionell den Erben seiner 1848 gegründeten Bank Cézanne & Cabassol sah, die ihm den Aufstieg vom Händler zum erfolgreichen Bankier gebracht hatte, immatrikulierte sich Paul Cézanne 1859 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Aix-en-Provence und belegte Vorlesungen für das Studium der Jurisprudenz. Er verbrachte zwei Jahre mit dem ungeliebten Studium, vernachlässigte es jedoch zunehmend und widmete sich lieber zeichnerischen Übungen und dem Verfassen von Gedichten. In Abendkursen nahm Cézanne ab 1859 Unterricht an der École de dessin d’Aix-en-Provence, die im Kunstmuseum von Aix, dem Musée Granet, untergebracht war. Sein Lehrer war der akademische Maler Joseph Gibert (1806–1884). Im August 1859 gewann er dort den zweiten Preis im Kurs für Figurenstudien.
Sein Vater kaufte im selben Jahr das Anwesen Jas de Bouffan (Haus des Windes). Diese zum Teil verfallene barocke Residenz des ehemaligen Provinzgouverneurs wurde später für lange Zeit Wohnhaus und Arbeitsplatz des Malers. Das Gebäude und die alten Bäume im Park des Anwesens gehörten zu den Lieblingsmotiven des Künstlers. Im Jahr 1860 erhielt Cézanne die Erlaubnis, die Wände des Salons auszumalen; es entstanden die großformatigen Wandgemälde der vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter (heute im Petit Palais in Paris), die Cézanne ironisch mit Ingres signierte, dessen Werke er nicht schätzte. Das Winterbild enthält zusätzlich die Datierung 1811, sie bildet eine Anspielung auf Ingres’ Gemälde Jupiter und Thetis, das zu dieser Zeit gemalt wurde und im Musée Granet ausgestellt ist. Vermutlich entstanden zuerst die Bilder Sommer und Winter, in denen sich noch eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang mit der Maltechnik zeigt. Frühling und Herbst erscheinen besser durchgearbeitet. Gemeinsam ist der Jahreszeitenfolge eine romantisierende Ausstrahlung, wie sie später in Cézannes Werken nicht mehr anzutreffen ist.
=== Studium in Paris ===
Zola, der im Februar 1858 mit seiner Mutter nach Paris gezogen war, legte Cézanne in Briefwechseln eindringlich nahe, seine zögerliche Haltung aufzugeben und ihm dorthin zu folgen. Unter der Bedingung, ein ordentliches Studium anzutreten, gab Louis-Auguste Cézanne dem Wunsch des Sohnes endlich nach, da er die Hoffnung aufgegeben hatte, in Paul den Nachfolger für das Bankgeschäft zu finden.
Cézanne zog im April 1861 nach Paris. Die großen Hoffnungen, die er in Paris gesetzt hatte, erfüllten sich nicht, da er sich an der École des Beaux-Arts beworben hatte, dort jedoch abgewiesen wurde. Er besuchte die freie Académie Suisse, wo er sich dem Aktzeichnen widmen konnte. Dort traf er den zehn Jahre älteren Camille Pissarro und Achille Emperaire aus seiner Heimatstadt Aix. Er kopierte oft im Louvre nach Werken alter Meister wie Michelangelo, Rubens und Tizian. Doch die Stadt blieb ihm fremd, und er dachte bald an eine Rückkehr nach Aix-en-Provence.
Zolas Glaube an Cézannes Zukunft war erschüttert, so schrieb er schon im Juni an den gemeinsamen Jugendfreund Baille: „Paul ist immer noch der vortreffliche und seltsame Bursche, wie ich ihn in der Schule gekannt habe. Zum Beweis dafür, daß er nichts von seiner Originalität eingebüßt hat, brauche ich dir nur zu sagen, daß er, kaum hier eingetroffen, davon sprach, zurückzukehren.“ Cézanne malte ein Porträt Zolas, das dieser von ihm erbeten hatte, um dem Freund Mut zu machen; doch Cézanne war mit dem Ergebnis nicht zufrieden und zerstörte das Bild. Im September 1861 kehrte Cézanne, enttäuscht durch die Ablehnung an der École, nach Aix-en-Provence zurück und arbeitete erneut in der Bank seines Vaters.
Doch schon im Spätherbst 1862 zog er erneut nach Paris. Sein Vater sicherte sein Existenzminimum mit einem monatlichen Wechsel von über 150 Franc ab. Die traditionsbehaftete École des Beaux-Arts lehnte ihn erneut ab. Er besuchte daher wieder die Académie Suisse, die den Realismus förderte. In dieser Zeit lernte er viele junge Künstler kennen, nach Pissarro auch Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Alfred Sisley.
Cézanne stand im Gegensatz zum offiziellen Kunstleben Frankreichs unter dem Einfluss Gustave Courbets und Eugène Delacroix’, die nach einer Erneuerung der Kunst strebten und die Darstellung ungeschönter Wirklichkeit forderten. Courbets Anhänger nannten sich „Realisten“ und folgten seinem bereits 1849 formulierten Grundsatz Il faut encanailler l’art („Man muss die Kunst in die Gosse werfen“), was bedeutet, die Kunst müsse von ihrer idealen Höhe heruntergeholt und zu einer Sache des Alltags gemacht werden. Den endgültigen Bruch mit der historischen Malerei vollzog Édouard Manet, dem es nicht auf die analytische Betrachtung, sondern auf die Wiedergabe seiner subjektiven Wahrnehmung ankam und auf die Befreiung des Bildgegenstands von symbolischer Befrachtung.
Der Ausschluss der Werke Manets, Pissarros und Monets vom offiziellen Salon, dem Salon de Paris, im Jahr 1863 rief eine solche Empörung unter den Künstlern hervor, dass Napoleon III. neben dem offiziellen Salon einen „Salon des Refusés“ (Salon der Abgelehnten) einrichten ließ. Dort wurden auch Cézannes Werke ausgestellt, denn wie in den folgenden Jahren wurde er nicht zum offiziellen Salon zugelassen, der weiterhin die klassische Malweise nach Ingres forderte. Diese Sichtweise entsprach dem Geschmack des bürgerlichen Publikums, das die Ausstellung im „Salon des Refusés“ ablehnte.Im Sommer 1865 kehrte Cézanne nach Aix zurück. Zolas Erstlingsroman La Confession de Claude wurde veröffentlicht. Er ist den Jugendfreunden Cézanne und Baille gewidmet. Im Herbst 1866 führte Cézanne eine ganze Serie von Bildern in Spachteltechnik aus, vor allem Stillleben und Porträts. Das Jahr 1867 verbrachte er überwiegend in Paris, die zweite Hälfte des Jahres 1868 in Aix. Anfang 1869 kehrte er nach Paris zurück und lernte an der Académie Suisse die elf Jahre jüngere Buchbindergehilfin Hortense Fiquet kennen, die als Malermodell arbeitete, um sich einen kleinen Nebenverdienst zu erwerben.
=== L’Estaque – Auvers-sur-Oise – Pontoise 1870–1874 ===
Am 31. Mai 1870 war Cézanne Trauzeuge auf Zolas Hochzeit in Paris. Cézanne und Hortense Fiquet lebten während des Deutsch-Französischen Krieges im Fischerdorf L’Estaque bei Marseille, das Cézanne später häufig aufsuchen und malen sollte, da ihn die mediterrane Atmosphäre des Ortes faszinierte. Der Einberufung zum Wehrdienst hatte er sich entzogen. Obgleich Cézanne im Januar 1871 als Fahnenflüchtiger denunziert worden war, gelang es ihm sich zu verstecken. Näheres ist nicht bekannt, da Dokumente aus dieser Zeit fehlen.Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune kehrte das Paar im Mai 1871 nach Paris zurück. Paul fils, der Sohn von Paul Cézanne und Hortense Fiquet, wurde am 4. Januar 1872 geboren. Cézanne verbarg seine nicht standesgemäße Familie vor dem Vater, um die finanziellen Zuwendungen nicht zu verlieren, die dieser ihm zum Leben als Künstler zukommen ließ.
Als Cézannes Freund, der verkrüppelte Maler Achille Emperaire, aus finanzieller Not heraus im Jahr 1872 in Paris Unterschlupf bei der Familie suchte, verließ er das Quartier in der Rue Jussieu bald wieder: „[…] es war notwendig, denn sonst wäre ich nicht dem Schicksal der andern entgangen. Ich fand ihn hier von allen verlassen. […] Von Zola, Solari und all den anderen ist nicht mehr die Rede. Er ist der seltsamste Kerl, den man sich vorstellen kann.“
Von Ende 1872 bis 1874 lebte Cézanne mit Frau und Kind in Auvers-sur-Oise, wo er den Arzt und Kunstfreund Paul Gachet kennenlernte, den späteren Arzt des Malers Vincent van Gogh. Gachet war außerdem ein ambitionierter Freizeitmaler und stellte Cézanne sein Atelier zur Verfügung.
Cézanne folgte 1872 einer Einladung des Freundes Pissarro zur Zusammenarbeit nach Pontoise im Tal der Oise. Pissarro als einfühlsamer Künstler wurde für den menschenscheuen, reizbaren Cézanne zum Mentor; er konnte ihn zur Abkehr von den dunklen Farben auf seiner Farbpalette bewegen und gab ihm den Rat: „Malen Sie immer nur mit den drei Grundfarben (Rot, Gelb, Blau) und ihren unmittelbaren Abweichungen.“ Außerdem solle er auf lineare Konturierung verzichten, die Gestalt der Dinge ergebe sich durch die Abstufung der farblichen Tonwerte. Cézanne spürte, dass ihn die impressionistische Technik seinem Ziel näher brachte, und folgte dem Rat des Freundes. Sie malten oft gemeinsam vor dem Motiv. Später berichtete Pissarro: „Wir waren ständig zusammen, aber trotzdem bewahrte sich jeder von uns das, was allein zählt: die eigene Empfindung.“Ein deutliches Beispiel ist in zwei der hier gezeigten Gemälde zu sehen: Im Gegensatz zu den dunklen Farben und den starken Konturen der Schneeschmelze in L’Estaque zeigt das spätere Werk Blick auf Auvers die von Pissarro erlernte Technik, verbunden mit Cézannes genauer Beobachtung der Landschaft.
=== Erste impressionistische Gruppenausstellungen ab 1874 ===
Die jungen Maler in Paris sahen im Salon de Paris keine Förderung ihrer Werke und griffen daher Claude Monets bereits im Jahr 1867 gefassten Plan einer eigenen Ausstellung auf. Vom 15. April bis zum 15. Mai 1874 fand die Gruppenausstellung der Société anonyme des artistes, peintres, sculpteurs, graveurs statt, der später so genannten Impressionisten. Dieser Name geht auf den Titel des ausgestellten Gemäldes Impression soleil levant von Monet zurück. Der Kritiker Louis Leroy bezeichnete in der satirischen Zeitschrift Le Charivari die Gruppe als „Impressionisten“ und schuf damit den Begriff dieser neuen Kunstrichtung. Ausstellungsort war das Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines.
Pissarro setzte Cézannes Teilnahme gegen die Bedenken einiger Mitglieder durch, die befürchteten, Cézannes kühne Bilder könnten der Ausstellung schaden. Neben Cézanne stellten unter anderem Renoir, Monet, Alfred Sisley, Berthe Morisot, Edgar Degas und Pissarro aus. Manet lehnte eine Beteiligung ab, für ihn war Cézanne „ein Maurer, der mit der Kelle malt“. Besonders Cézanne erregte mit seinen Gemälden wie der Landschaft bei Auvers und der Modernen Olympia großes Aufsehen, Entrüstung und Hohngelächter bei den Kritikern. In Eine moderne Olympia, geschaffen als Bildzitat von Manets 1863 entstandenem, vielfach geschmähtem Gemälde Olympia, suchte Cézanne eine noch drastischere Darstellung und zeigte neben Prostituierter und Dienerin auch den Freier, in dessen Gestalt Cézanne persönlich vermutet wird.Die Ausstellung erwies sich als finanzieller Misserfolg; bei der Schlussabrechnung ergab sich ein Defizit von über 180 Francs für jeden der teilnehmenden Künstler. Cézannes Werk Das Haus des Gehängten gehörte zu den Bildern, die trotz der Verrisse verkauft werden konnten. Der Sammler Graf Doria erwarb es für 300 Francs.Im Jahr 1875 traf Cézanne den Zollinspektor und Kunstsammler Victor Chocquet, der, vermittelt durch Renoir, drei seiner Arbeiten kaufte und sein treuester Sammler wurde. An der zweiten Ausstellung der Gruppe nahm Cézanne nicht teil, präsentierte dafür im Jahr 1877, in der dritten Ausstellung, gleich 16 seiner Werke, die sich wiederum erhebliche Kritik zuzogen. Es war das letzte Mal, dass er gemeinsam mit den Impressionisten ausstellte. Ein weiterer Förderer war der Farbenhändler Julien „Père“ Tanguy, der die jungen Maler unterstützte, indem er ihnen Farben und Leinwand lieferte und dafür Gemälde erhielt.
Im März 1878 erfuhr Cézannes Vater durch eine unbedachte briefliche Äußerung Victor Chocquets von der lange verborgen gehaltenen Beziehung zu Hortense und dem gemeinsamen unehelichen Sohn Paul. Er kürzte darauf den monatlichen Wechsel um die Hälfte, und für Cézanne begann eine finanziell angespannte Zeit, in der er Zola um Hilfe bitten musste.
1881 arbeitete Cézanne in Pontoise mit Paul Gauguin und Pissarro zusammen; Cézanne kehrte am Ende des Jahres nach Aix zurück. Er warf Gauguin später vor, dass er ihm seine „kleine Empfindung“ gestohlen habe und dieser andererseits jedoch nur Chinoiserien male. Mit Antoine Guillemet wurde 1882 ein Freund Cézannes Mitglied der Jury des Salons. Da jedes Jurymitglied das Privileg hatte, ein Bild eines seiner Schüler zu zeigen, gab er Cézanne als seinen Schüler aus und erreichte dessen erste Teilnahme beim Salon. Das Werk, es war ein Porträt seines Vaters aus den sechziger Jahren, wurde an eine schlecht belichtete Stelle eines abgelegenen Saals in die oberste Reihe gehängt und erfuhr keinerlei Beachtung.
Cézanne arbeitete im Frühjahr 1882 mit Renoir in Aix und – erstmals – in L’Estaque zusammen, einem kleinen Fischerort bei Marseille, den er auch 1883 und 1888 aufsuchte. Bei einem der ersten beiden Aufenthalte entstand Die Bucht von Marseille, von L’Estaque aus gesehen. Im Herbst 1885 und in den folgenden Monaten hielt sich Cézanne in Gardanne auf, einer kleinen, auf einem Hügel gelegenen Stadt in der Nähe von Aix-en-Provence, wo er mehrere Gemälde schuf, deren facettierte Formen bereits den Malstil des Kubismus antizipieren.
=== Bruch mit Zola, Heirat 1886 ===
Die lange freundschaftliche Beziehung zu Émile Zola war distanzierter geworden. Der weltgewandte, erfolgreiche Schriftsteller hatte sich 1878 ein luxuriöses Sommerhaus in Médan in der Nähe von Auvers eingerichtet, wo ihn Cézanne in den Jahren 1879 bis 1882 sowie 1885 wiederholt besucht hatte; doch der aufwändige Lebensstil des Freundes hatte ihm, der ein anspruchsloses Leben führte, seine eigene Unzulänglichkeit vor Augen geführt und veranlasste ihn zum Selbstzweifel.Zola, der den Jugendfreund inzwischen als einen Gescheiterten betrachtete, veröffentlichte im März 1886 seinen Schlüsselroman L’Œuvre aus dem Romanzyklus der Rougon-Macquart, dessen Protagonist, der Maler Claude Lantier, die Verwirklichung seiner Ziele nicht erreicht und Selbstmord begeht. Um die Parallelen zwischen Fiktion und Biografie noch zu steigern, stellte Zola in seinem Werk dem Maler Lantier den erfolgreichen Schriftsteller Sandoz zur Seite. Monet und Edmond de Goncourt sahen in der Romanfigur des Malers eher Édouard Manet beschrieben, doch Cézanne fand sich als Person in vielen Einzelheiten widergespiegelt. Er bedankte sich förmlich für die Zusendung des vermeintlich auf ihn bezogenen Werks. Der Kontakt der beiden Jugendfreunde brach daraufhin für immer ab.Am 28. April 1886 heirateten Paul Cézanne und Hortense Fiquet in Anwesenheit seiner Eltern in Aix. Die Verbindung zu Hortense wurde nicht aus Liebe legalisiert, da ihre Beziehung schon seit längerem zerrüttet war. Cézanne hatte eine Scheu vor Frauen und eine panische Angst vor Berührungen, ein Trauma, das aus seiner Kindheit stammte, als ihm nach eigener Aussage auf der Treppe ein Mitschüler hinterrücks einen Fußtritt von hinten versetzt hatte. Durch die Heirat sollte vielmehr der inzwischen vierzehnjährige Sohn Paul, den Cézanne sehr liebte, als ehelicher Sohn in seinen Rechten gesichert werden.
Trotz der belasteten Beziehung war Hortense die Person, die Cézanne am häufigsten porträtierte. Vom Beginn der siebziger bis zu den frühen neunziger Jahren sind 26 Gemälde von Hortense bekannt. Sie ließ die anstrengenden Sitzungen bewegungslos und geduldig über sich ergehen. Das gezeigte Bild entstand um 1890 in der Wohnung auf der Île Saint-Louis in Paris am Quai d’Anjou 15.Im Oktober 1886, nach dem Tod des Vaters, erbten Cézanne, seine Mutter und Schwestern dessen Vermögen, zu dem auch das Landgut Jas de Bouffan gehörte, sodass Cézannes finanzielle Lage wesentlich entspannter wurde. „Mein Vater war ein genialer Mann“, sagte er rückblickend, „er hinterließ mir ein Einkommen von 25.000 Francs.“
=== Ausstellung bei Les Vingt 1890 ===
Cézanne lebte in Paris und zunehmend in Aix ohne seine Familie. Renoir besuchte ihn dort im Januar 1888, und sie arbeiteten gemeinsam im Atelier des Jas de Bouffan. Im Jahr 1890 erkrankte Cézanne an Diabetes; durch die Krankheit wurde er noch schwieriger im Umgang mit seinen Mitmenschen.
In der Hoffnung, die gestörte Beziehung zu Hortense könne sich stabilisieren, verbrachte Cézanne mit ihr und seinem Sohn Paul einige Monate in der Schweiz. Der Versuch missglückte, daher kehrte er in die Provence zurück, Hortense und Paul nach Paris.
Im selben Jahr stellte er drei seiner Werke bei der Gruppe Les Vingt in Brüssel aus. Die Société des Vingt, kurz Les XX oder Les Vingt, deutsch Die XX oder Die Zwanzig, war eine um 1883 gegründete Vereinigung von belgischen oder in Belgien lebenden Künstlern, darunter Fernand Khnopff, Théo van Rysselberghe, James Ensor und das Geschwisterpaar Anna und Eugène Boch.
=== Cézannes erste Einzelausstellung in Paris 1895 ===
Im Mai 1895 besuchte er zusammen mit Pissarro die Ausstellung Monets in der Galerie Durand-Ruel. Er war begeistert, nannte aber später bezeichnenderweise das Jahr 1868 als Monets stärkste Zeit, als dieser noch mehr unter dem Einfluss Courbets stand.
Mit seinem Studienkameraden aus der Académie Suisse, Achille Emperaire, begab sich Cézanne in das Gebiet um den Ort Le Tholonet, wo er im „Château Noir“ wohnte, das am Sainte-Victoire-Gebirge liegt. Besonders das Gebirge nahm er in seinen Gemälden oft zum Thema. Er mietete sich am nah gelegenen Steinbruch Bibémus eine Hütte; Bibémus wurde ein weiteres Motiv für seine Gemälde.
Ambroise Vollard, ein aufstrebender Galerist, eröffnete im November 1895 Cézannes erste Einzelausstellung. Er zeigte in seiner Galerie eine Auswahl von 50 aus etwa 150 Werken, die ihm Cézanne als Paket zugeschickt hatte. Über die Ausstellung eines Manet-Konvoluts in seinem kleinen Laden hatte Vollard 1894 Degas und Renoir kennengelernt, die bei ihm Manet-Arbeiten gegen eigene Werke eintauschten. Vollard knüpfte ebenfalls Beziehungen zu Pierre Bonnard und Édouard Vuillard, und als im selben Jahr der bekannte Farbenhändler Père Tanguy starb, konnte Vollard aus dessen Nachlass sehr günstig Arbeiten von drei damals noch Unbekannten kaufen: Cézanne, Gauguin und van Gogh. Der erste Käufer eines Cézanne-Gemäldes war Monet, es folgten Kollegen wie Degas, Renoir, Pissarro und später dann Kunstsammler. Die Preise für Werke Cézannes stiegen um das Hundertfache, und Vollard profitierte wie stets von seinen Lagerbeständen.Im Jahr 1897 wurde zum ersten Mal ein Cézanne-Gemälde von einem Museum angekauft. Hugo von Tschudi erwarb Cézannes Landschaftsmalerei Die Mühle an der Couleuvre bei Pontoise in der Galerie Durand-Ruel für die Berliner Nationalgalerie.
Cézannes Mutter starb am 25. Oktober 1897. Im November 1899 verkaufte er auf Drängen seiner Schwester das nun praktisch verwaiste Anwesen „Jas de Bouffan“ und bezog eine kleine Stadtwohnung in der 23, Rue Boulegon in Aix-en-Provence; der geplante Kauf des Anwesens „Château Noir“ hatte sich nicht realisieren lassen. Er stellte eine Haushälterin ein, Mme Bremond, die ihn bis zu seinem Tod betreuen sollte.
=== Hommage à Cézanne ===
Der Kunstmarkt reagierte inzwischen weiterhin positiv auf Cézannes Werke; so schrieb Pissarro im Juni 1899 aus Paris von der Versteigerung der Sammlung Chocquets aus dessen Nachlass: „Dazu gehören zweiunddreißig Cézannes ersten Ranges […]. Die Cézannes werden sehr hohe Preise bringen und sind bereits mit vier- bis fünftausend Francs angesetzt.“ In dieser Auktion wurden erstmals marktgerechte Preise für Bilder Cézannes erzielt, sie lagen jedoch noch „weit unter denen für Gemälde Manets, Monets oder Renoirs.“Im Jahr 1901 stellte Maurice Denis sein 1900 entstandenes großes Gemälde Hommage à Cézanne in Paris und Brüssel aus. Das Bildthema ist die Galerie von Ambroise Vollard, in der ein Bild – Cézannes Gemälde Stillleben mit Obstschale – präsentiert wird, das früher im Besitz von Paul Gauguin war. Der Schriftsteller André Gide erwarb Hommage à Cézanne und gab es 1928 an das Musée du Luxembourg. Gegenwärtig ist es im Bestand des Musée d’Orsay, Paris. Zu den porträtierten Personen: Odilon Redon steht links im Vordergrund, er hört Paul Sérusier zu, der sich ihm gegenüber befindet. Von links nach rechts sind weiterhin Edouard Vuillard, der Kritiker André Mellerio mit Zylinder, Vollard hinter der Staffelei, Maurice Denis, Paul Ranson, Ker-Xavier Roussel, Pierre Bonnard mit Pfeife, und ganz rechts Marthe Denis, die Ehefrau des Malers, abgebildet.
=== Die letzten Jahre ===
1901 erwarb Cézanne ein Grundstück nördlich der Stadt Aix-en-Provence, wo er nach seinen Bedürfnissen 1902 das Atelier am Chemin des Lauves bauen ließ. Für großformatige Gemälde wie Die Großen Badenden, die im Atelier Les Lauves entstanden, ließ er an der Außenwand einen langen schmalen Mauerspalt errichten, durch den natürliches Licht fließen konnte. In diesem Jahr starb Zola, was Cézanne trotz der Entfremdung in Trauer versetzte.
Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich mit zunehmendem Alter; zu seiner Zuckerkrankheit kamen Altersdepressionen hinzu, die sich in wachsendem Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen bis hin zum Verfolgungswahn äußerten. Allerdings machten es ihm die Aixer Mitbürger und Teile der Presse nicht leicht. Trotz der zunehmenden Anerkennung des Künstlers erschienen gehässige Pressetexte, und er erhielt zahlreiche Drohbriefe. „Ich verstehe die Welt nicht, und die Welt versteht mich nicht, darum habe ich mich von der Welt zurückgezogen“, so äußerte sich der alte Cézanne gegenüber seinem Kutscher.
Als Cézanne im September 1902 sein Testament bei einem Notar hinterlegte, schloss er seine Frau Hortense vom Erbe aus und erklärte darin seinen Sohn Paul zum Alleinerben.Im Jahr 1903 stellte er zum ersten Mal im neu gegründeten Salon d’Automne (Pariser Herbstsalon) aus. Der Maler und Kunsttheoretiker Émile Bernard besuchte ihn erstmals im Februar 1904 für einen Monat und veröffentlichte im Juli einen Artikel über den Maler in der Zeitschrift L’Occident. Cézanne arbeitete damals an einem Vanitas-Stillleben mit drei Schädeln auf einem orientalischen Teppich. Bernard berichtete, dass während seines Aufenthalts dieses Gemälde jeden Tag seine Farbe und Form wechselte, obgleich es vom ersten Tag an als vollendet erschien. Er sah dieses Werk später als Cézannes Vermächtnis an und resümierte: „Wahrlich, seine Art zu arbeiten war ein Nachdenken mit dem Pinsel in der Hand.“ In den mehrfach geschaffenen Memento-mori-Stillleben zeigte sich Cézannes zunehmende Altersdepression, die in seinen Briefen seit 1896 mit Bemerkungen wie „das Leben beginnt für mich von einer tödlichen Monotonie zu sein“ anklang. Mit Bernard entspann sich ein Briefwechsel bis zu Cézannes Tod; er veröffentlichte seine Erinnerungen Souvenirs sur Paul Cézanne erstmals 1907 im Mercure de France, und 1912 erschienen sie in Buchform.
Vom 15. Oktober bis zum 15. November 1904 war ein ganzer Raum des Salon d’Automne mit den Werken Cézannes ausgestattet. 1905 fand eine Ausstellung in London statt, in der auch seine Arbeiten gezeigt wurden; die Galerie Vollard stellte im Juni seine Werke aus, und der Salon d’Automne schloss sich wiederum vom 19. Oktober bis zum 25. November mit 10 Gemälden an.
Der Kunsthistoriker und Mäzen Karl Ernst Osthaus, der 1902 das Museum Folkwang gegründet hatte, besuchte Cézanne am 13. April des Jahres 1906, in der Hoffnung, ein Gemälde des Künstlers erwerben zu können. Seine Frau Gertrud machte die vermutlich letzte fotografische Aufnahme Cézannes. Osthaus schilderte seinen Besuch in seiner im selben Jahr veröffentlichten Schrift Ein Besuch bei Cézanne.
Trotz der späten Erfolge konnte Cézanne sich seinen Zielvorstellungen immer nur annähern. Am 5. September 1906 schrieb er an seinen Sohn Paul: „Schließlich will ich Dir sagen, daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch daß bei mir die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr mühselig ist. Ich kann nicht die Intensität erreichen, die sich vor meinen Sinnen entwickelt, ich besitze nicht jenen wundervollen Farbenreichtum, der die Natur belebt.“Am 15. Oktober geriet Cézanne beim Malen vor dem Motiv in ein Unwetter; er verlor die Besinnung, wurde von den Kutschern eines Wäschekarrens aufgelesen und nach Hause gebracht. Aufgrund der Unterkühlung zog er sich eine schwere Lungenentzündung zu. Am nächsten Tag ging Cézanne noch in den Garten, um an seinem letzten Gemälde, dem Bildnis des Gärtners Vallier, zu arbeiten, und schrieb einen ungehaltenen Brief an seinen Farbenhändler, in dem er die Verzögerung der Farbenlieferung beklagte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch zusehends. Seine Frau Hortense und Sohn Paul wurden telegrafisch von der Haushälterin informiert, doch sie kamen zu spät. Am 22. Oktober 1906 starb Cézanne in Aix-en-Provence.
== Cézannes Werk ==
=== Chronologie ===
==== Paris 1861–1871 ====
Cézannes frühe „dunkle“ Periode war beeinflusst von den Werken der französischen Romantik und des beginnenden Realismus; Vorbilder waren Eugène Delacroix und Gustave Courbet. Seine Gemälde sind gekennzeichnet durch einen dicken Farbauftrag, kontrastreiche, dunkle Töne mit ausgeprägten Schatten, die Verwendung von reinem Schwarz und anderen mit Schwarz vermischten Farbtönen, braun, grau sowie preußisch-blau; gelegentlich kommen einige weiße Tupfen oder grüne und rote Pinselstriche zum Aufhellen hinzu, welche die monochrome Eintönigkeit beleben. Themen seiner Bilder aus dieser Zeit sind Porträts der Familienmitglieder oder dämonisch-erotischen Inhalts, in denen eigene traumatische Erlebnisse anklingen. Beispiele sind Die Entführung und Der Mord.
==== Paris/Provence 1872–1882 ====
In seiner zweiten – der impressionistischen – Periode orientierte er sich an Werken von Camille Pissarro und Édouard Manet, gab seine dunkle Malweise auf und benutzte nun eine rein auf den Grundtönen, Gelb, Rot und Blau, basierende Farbpalette. Dadurch löste er sich von seiner Technik des schweren, oft überladen wirkenden Farbauftrags und übernahm die lockere, aus nebeneinander gesetzten Pinselstrichen bestehende Maltechnik seiner Vorbilder. Porträts und figürliche Kompositionen traten in diesen Jahren zurück. Cézanne schuf in Folge Landschaftsgemälde, in denen der illusionistische Tiefenraum immer deutlicher aufgehoben wurde. Die „Gegenstände“ werden weiterhin als Volumina aufgefasst und auf ihre geometrischen Grundformen zurückgeführt. Diese Gestaltungsmethode wird auf die gesamte Bildfläche übertragen. Der malerische Gestus behandelt die „Ferne“ nun in ähnlicher Weise wie die „Gegenstände“ selbst, sodass sich der Eindruck einer Fernwirkung einstellt. Auf diese Weise verließ Cézanne einerseits den traditionellen Bildraum, arbeitete andererseits jedoch dem zerfließenden Eindruck impressionistischer Bildwerke entgegen. Unter anderem entstanden Gemälde mit Motiven vom Jas de Bouffan und von L’Estaque.
==== Provence 1883–1895 ====
Es folgte die „Periode der Synthese“, in der sich Cézanne nun gänzlich von der impressionistischen Malweise löste. Er verfestigte die Formen durch flächig-diagonalen Farbauftrag, hob die perspektische Darstellung zur Erzeugung der Bildtiefe auf und richtete sein Augenmerk auf die Ausgewogenheit der Komposition. In dieser Periode schuf er vermehrt Landschafts- und Figurenbilder. In einem Brief an seinen Freund Joachim Gasquet schrieb er: „Die farbigen Flächen, immer die Flächen! Der farbige Ort, wo die Seele der Flächen bebt, die prismatische Wärme, die Begegnung der Flächen im Sonnenlicht. Ich entwerfe meine Flächen mit meinen Farbabstufungen auf der Palette, verstehen Sie mich! […] Die Flächen müssen deutlich in Erscheinung treten. Deutlich […] aber sie müssen richtig verteilt sein, ineinander übergehen. Alles muss zusammenspielen und doch wieder Kontraste bilden. Auf die Volumen allein kommt es an!“
Die Stillleben, die Cézanne schon ab den späten 1880er Jahren malte, sind ein weiterer Schwerpunkt seines Werks. Er verzichtete auf die linearperspektivische Wiedergabe der Motive und stellte sie stattdessen in den für ihn kompositorisch sinnvollen Dimensionen dar; so kann beispielsweise eine Birne überdimensional groß sein, um das innerbildliche Gleichgewicht und eine spannungsreiche Komposition zu erreichen. Er baute seine Arrangements im Atelier auf. Neben den Früchten sind es Krüge, Töpfe und Teller, gelegentlich ein Putto, oft umgeben von einem weißen, gebauschten Tischtuch, das dem Sujet barocke Fülle verleiht. Nicht die Gegenstände sollen Aufmerksamkeit erregen, sondern die Anordnung der Formen und Farben auf der Fläche. Cézanne entwickelte die Komposition aus einzelnen, über die Leinwand verteilten Farbtupfen, aus denen sich allmählich Form und Volumen des Gegenstands aufbauen. Die Erreichung des Gleichgewichts dieser Farbflecken auf der Leinwand erfordert eine langsame Arbeitsweise, sodass Cézanne an einem Gemälde oft lange Zeit arbeitete.Nachdem Cézanne zunächst nur Familienmitglieder oder Freunde porträtiert hatte, gestattete es ihm seine bessere Finanzlage, für das 1888–1890 geschaffene Porträt Der Knabe mit der roten Weste, das zu seinen bekanntesten Gemälden gehört, ein Berufsmodell zu verpflichten, einen jungen Italiener namens Michelangelo di Rosa. Er wurde insgesamt auf vier Gemälden und zwei Aquarellen dargestellt.Ein weiteres berühmtes Bild aus dieser Zeit ist Der Raucher mit aufgestütztem Arm (Le fumeur accoudé) von 1890. Fritz Wichert erwarb das Bild 1912 von Paul Cassirer in Berlin gegen den entschiedenen Widerstand der damaligen städtischen Ankauf-Kommission für den von ihm geschaffenen „Franzosensaal“ der Kunsthalle Mannheim.Cézanne malte in den Jahren 1890 und 1895 fünf Versionen des Bildes Die Kartenspieler (Les Joueurs de cartes), in denen die gleiche Person in verschiedenen Varianten dargestellt ist. Für Die Kartenspieler standen ihm Bauern und Tagelöhner Modell, die auf den Feldern beim Jas de Bouffan arbeiteten. Es sind keine Genrebilder, auch wenn sie Szenen aus dem Alltagsleben zeigen; das Motiv ist nach strengen Farb- und Formgesetzen aufgebaut.
==== Provence 1896–1906 ====
Eine Hinwendung zu frei erfundenen Figuren in der Landschaft bestimmt viele Werke des Spätwerks, der sogenannten „lyrischen Periode“, wie etwa der Zyklus der Badenden; Cézanne schuf etwa 140 Gemälde und Skizzen zum Thema der Badeszenen. Hier findet sich seine Verehrung für die klassische Malerei wieder, die in arkadischen Idyllen Mensch und Natur in Harmonie zu vereinigen sucht. In den letzten sieben Jahren schuf er drei großformatige Fassungen von Die Großen Badenden (Les Grandes Baigneuses), wobei das in Philadelphia ausgestellte Werk im Format 208 × 249 cm das größte ist. Cézanne ging es um die Komposition und das Zusammenspiel von Formen und Farben, von Natur und Figuren. Für seine Gemälde in dieser Zeit benutzte er als Vorlage Skizzen und Fotografien, da ihm die Gegenwart nackter Modelle nicht behagte.
Die Gegend um das Gebirge Montagne Sainte-Victoire war einer der wichtigsten Themenkreise der späten Jahre. Von einem Aussichtspunkt oberhalb seines Ateliers aus, später Terrain des Paintres genannt, malte er mehrere Ansichten des Berges. Eine genaue Naturbeobachtung war Voraussetzung für Cézannes Malerei: „Um eine Landschaft richtig zu malen, muß ich auch zuerst die geologische Schichtung erkennen.“ Insgesamt malte er mehr als 30 Ölbilder sowie 45 Aquarelle des Gebirges, und er war stets darauf bedacht, „Konstruktionen und Harmonien parallel zur Natur“ zu finden.
Cézanne befasste sich vor allem in seinem Spätwerk mit der Aquarellmalerei, da ihm klar geworden war, dass die spezifische Anwendung seiner Mittel in diesem Medium besonders offenkundig dargelegt werden konnte. Die späten Aquarelle wirkten auch auf seine Ölmalerei zurück, beispielsweise bei der Studie mit Badenden (1902–1906), in der eine Darstellung voller farbig flankierter „Leerstellen“ als vollendet erscheint. So betonte auch der Maler und Kunstkritiker Roger Fry in seiner grundlegenden Cézanne-Publikation Cézanne: A Study of His Development aus dem Jahr 1927, dass nach 1885 die Technik des Aquarells stark auf seine Malerei mit Ölfarben eingewirkt habe. Einem größeren Interessentenkreis sind die Aquarelle in Vollards Cézanne-Monographie 1914 und in Julius Meier-Graefes 1918 edierter Bildmappe mit zehn Faksimiles nach den Aquarellen bekannt geworden. Nur leicht mit Farbe versehene Bleistiftstudien, die vereinzelt in Skizzenalben vorkamen, stehen neben sorgfältig ausgemalten Werken. Viele Aquarelle sind den Realisationen auf der Leinwand ebenbürtig und bilden eine autonome Werkgruppe. In der Themenstellung dominieren die Landschaftsaquarelle, gefolgt von Figurenbildern und Stillleben, während Porträts im Gegensatz zu den Gemälden und Zeichnungen seltener sind.
=== Methode ===
Wie für die Antike und die alten Meister ist für Cézanne die Grundlage der Malerei das Zeichnen, die Voraussetzung aller Arbeit aber die Unterordnung unter den Gegenstand, beziehungsweise das Auge oder das reine Schauen: „Das ganze Wollen des Malers muss schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit. Vergessen! Vergessen! Stille schaffen! Ein vollkommenes Echo sein. […] Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. […] Ich steige mit ihr zu den Wurzeln der Welt. Wir keimen. Eine zärtliche Erregung ergreift mich und aus den Wurzeln dieser Erregung steigt dann der Saft, die Farbe. Ich bin der wirklichen Welt geboren. Ich sehe! […] Um das zu malen muss dann das Handwerk einsetzen, aber ein demütiges Handwerk, das gehorcht und bereit ist, unbewusst zu übertragen.“Cézanne als Methodiker der Farbe hat neben Ölbildern und Aquarellen ein umfangreiches Werk von mehr als 1200 Zeichnungen hinterlassen, das, zu Lebzeiten in den Schränken und Mappen des Ateliers verborgen, erst in den 1930er Jahren die Sammler zu interessieren begann. Sie bilden das Arbeitsmaterial für seine Werke und zeigen Detailskizzen, Beobachtungsnotizen und Nachzeichnungen auf Cézannes teilweise nur schwer entzifferbaren Stationen auf dem Weg zur Bildrealisation. Ihre an den Entstehungsprozess des jeweiligen Werkes gebundene Aufgabe bestand darin, die Gesamtstruktur und die Objektbezeichnungen innerhalb des Bildorganismus zu geben. Noch im hohen Alter entstanden Porträt- und Figurenzeichnungen nach Vorbildern antiker Bildwerke und Barockgemälde aus dem Louvre, die ihm über die Vereinzelung plastischer Erscheinungen Klarheit verschafften. Daher bildete das Schwarzweiß der Zeichnungen eine wesentliche Voraussetzung für Cézannes Gestaltungen aus der Farbe.Paul Cézanne war der erste Künstler, der damit begann, Objekte in einfache geometrische Formen zu zerlegen. Er schrieb in seinem häufig zitierten Brief vom 15. April 1904 an den Maler und Kunsttheoretiker Émile Bernard, der Cézanne in dessen letzten Jahren kennengelernt hatte: „Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so daß jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt […]“ In den Werkgruppen Montagne Sainte-Victoire und den Stillleben verwirklichte Cézanne seine Ideen der Malerei. So wird in seiner Bildauffassung selbst ein Berg als eine Übereinanderschichtung von Formen, Räumen und Strukturen aufgefasst, die sich über dem Boden erheben.Émile Bernard schrieb über Cézannes ungewöhnliche Arbeitsweise: „Er begann mit den Schattenteilen und mit einem Fleck, auf den er einen zweiten, größeren setzte, dann einen dritten, bis alle diese Farbtöne, einander deckend, mit ihrem Kolorit den Gegenstand modellierten. Da begriff ich, dass ein Harmoniegesetz seine Arbeit leitete und dass diese Modulationen eine im voraus in seinem Verstand festgesetzte Richtung hatten.“ In dieser vorherbestimmten Richtung liegt für Cézanne das eigentliche Geheimnis der Malerei im Zusammenhang von Harmonie und der Illusion der Tiefe. Gegenüber dem Sammler Karl Ernst Osthaus betonte Cézanne am 13. April 1906 bei dessen Besuch in Aix, dass die Hauptsache in einem Bild das Treffen der Distanz sei. Die Farbe müsse jeden Sprung ins Tiefe ausdrücken. Daran ist das Können des Malers zu erkennen.
=== Aller sur le motif, sensation und réalisation ===
Cézanne verwendete vorzugsweise diese Begriffe, wenn er sein malerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das „Motiv“, mit dem er nicht nur den gegenständlichen Begriff des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. Aller sur le motif, wie er seinen Gang zur Arbeit nannte, bedeutete demnach, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das den Künstler innerlich bewegt und das es bildnerisch umzusetzen gilt.
Sensation (Empfindung) ist ein weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular. Zunächst meinte er die visuelle Wahrnehmung im Sinne der „Impression“, also einen vom Objekt ausgehenden optischen Sinnesreiz. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die sensation in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen: „Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen zu realisieren.“ Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelte, war die Farbe, wobei Cézanne offenließ, wieweit sie den Dingen entspringt oder aber eine Abstraktion seines Sehens ist.
Mit dem dritten Begriff réalisation bezeichnete Cézanne die eigentliche malerische Aktivität, vor dessen Scheitern er sich bis zuletzt fürchtete. Zu „realisieren“ galt es Mehreres zugleich: zunächst das Motiv in seiner Vielfalt, des Weiteren die Empfindungen, die das Motiv in ihm auslöste, und schließlich das Gemälde selbst, dessen Verwirklichung die anderen „Realisierungen“ ans Licht bringen konnte. „Malen“ hieß demnach, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der „Impression“ und der „Expression“ in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Die „Realisierung in der Kunst“ wurde zu einem Schlüsselbegriff in Cézannes Denken und Handeln.
=== Poussin nach der Natur ===
„Stellen Sie sich Poussin ganz und gar aus der Natur wiedergewonnen vor“, hatte sich Cézanne gegenüber Joachim Gasquet geäußert, „das ist die Klassik, die ich anstrebe.“ Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich deutet dieses Zitat anlässlich Cézannes 100. Todestages im Jahr 2006: „Er sah seine Aufgabe darin, nach der Natur zu malen, das heißt sich der Entdeckungen der Impressionisten zu bedienen und dennoch gleichzeitig die innere Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit wiederzugewinnen, die die Kunst Poussins ausgezeichnet hatte.“
=== Datierung ===
Die teils längeren Zeitangaben zur Entstehung in den Œuvrekatalogen deuten nicht immer darauf hin, dass die Datierung nicht genau zu klären ist, auch wenn Cézanne seine Bilder kaum datierte, zumal er an manchen Bildern monate- wenn nicht jahrelang arbeitete, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Der Künstler selbst hat viele seiner Bilder als unvollendet betrachtet, denn Malen war für ihn ein unaufhörlicher Prozess.
Die Katalogisierung von Cézannes Werken gestaltete sich zu einer schwierigen Aufgabe. Lionello Venturi gab 1936 den ersten Katalog heraus. Cézannes Werke wurden mit seinem Namen katalogisiert, so ist beispielsweise das letzte von Cézanne bearbeitete Gemälde des Gärtners Vallier mit „Venturi 718“ versehen. John Rewald setzte nach Venturis Tod dessen Arbeit fort. Rewald bildete eine Arbeitsgemeinschaft, in der beschlossen wurde, den von Venturi geschaffenen Werkkatalog zu trennen; Rewald übernahm die Kataloge für Ölgemälde und Aquarelle, der Historiker Adrien Chappuis widmete sich Cézannes Zeichnungen. Dessen Katalog The Drawings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné erschien 1973 bei Thames and Hudson in London. Rewalds Paul Cézanne – The Watercolours: A Catalog Raisonné wurde bei Thames and Hudson, London mit 645 Abbildungen im Jahr 1983 veröffentlicht.
Die fehlende Datierung der Gemälde (Rewald fand insgesamt nur eine) und unpräzise Formulierungen des Bildmotivs wie Paysage oder Quelques pommes stifteten Verwirrung. In seiner frühen Bearbeitung des Venturi fertigte Rewald eine Liste an, auf der alle Werke aufgenommen wurden, deren Datierung ohne stilistische Analyse vorgenommen werden konnte, denn eine solche Analyse lehnte Rewald als unwissenschaftlich ab. Er setzte seine Liste fort, indem er den verschiedenen Aufenthaltsorten Cézannes folgte, die durch Dokumente nachgewiesen werden konnten. Ein anderes Schema seiner Vorgehensweise war es, auf die Erinnerungen porträtierter Personen zu vertrauen, besonders, wenn diese Cézannes Zeitgenossen waren. Aufgrund eigener Interviews nahm er zeitliche Zuordnungen vor. Unter den Werken, die mit Sicherheit datiert werden konnten, waren Cézannes Gemälde Porträt des Kritikers Gustave Geffroy, das der Porträtierte mit dem Jahr 1895 bestätigte, und Der See von Annecy, den der Künstler nur einmal, nämlich im Jahr 1896, besucht hatte.
Rewald starb 1994, sein Werk konnte er nicht vollständig abschließen. Gab es irgendwelche Zweifel, war es Rewalds Tendenz, eher ein- als auszuschließen. Diese Methode wurde von seinen engsten Mitarbeitern Walter Feilchenfeldt jr., Sohn des Kunsthändlers Walter Feilchenfeldt, und Jayne Warman übernommen, die den Katalog vollendeten und ihn mit Einleitungen versahen. Der Katalog erschien im Jahr 1996 unter dem Titel The Paintings of Paul Cézanne: A Catalogue Raisonne – Review. Er umfasst die 954 Werke, die Rewald aufnehmen wollte.
== Rezeption ==
=== Wirkung zu Lebzeiten ===
==== Cézannes erste Gemälde in einem deutschen Museum ====
Im Jahr 1897 erfolgte der erste Ankauf eines Cézanne-Gemäldes für ein Museum durch die Berliner Nationalgalerie unter dessen Direktor Hugo von Tschudi, der die französischen Impressionisten in deutschen Museen bekannt machen wollte. Er erwarb Cézannes Landschaftsmalerei Die Mühle an der Couleuvre bei Pontoise in der Galerie Durand-Ruel. 1904 und 1906 folgten zwei weitere Ankäufe von Cézannes Stillleben. Zurückzuführen war Tschudis Interesse für die aktuelle französische Kunstströmung auf den Maler Max Liebermann, der Tschudi 1896 auf dessen erster Dienstreise nach Paris begleitet hatte, um die neue französische Kunstrichtung zu begutachten. Die französischen Museumsdirektoren dagegen verhielten sich weiterhin zurückhaltend, was zur Folge hatte, dass ihre Bestände später durch Schenkungen und Legate aufgefüllt werden mussten, um ihren Landsmann angemessen vertreten zu können.
==== Zeugnisse zeitgenössischer Freunde und Maler ====
Cézannes Jugendfreund, der Schriftsteller Émile Zola, zeigte sich früh skeptisch über Cézannes menschliche und künstlerische Eigenschaften und äußerte bereits im Jahr 1861, dass „Paul das Genie eines großen Malers haben mag, aber nie das Genie besitzen wird, tatsächlich einer zu werden. Das kleinste Hindernis bringt ihn zur Verzweiflung.“ Tatsächlich waren es Cézannes Selbstzweifel und die Weigerung, künstlerische Kompromisse einzugehen, sowie seine Absage an gesellschaftliche Zugeständnisse, die seine Zeitgenossen dazu bewogen, ihn als Sonderling zu betrachten.Im Kreis der Impressionisten zollte man Cézannes Arbeiten jedoch in besonderem Maße Anerkennung; so sprachen Camille Pissarro, Auguste Renoir, Claude Monet und Edgar Degas begeistert über sein Werk, und Pissarro äußerte: „Ich glaube, es werden noch Jahrhunderte vergehen, bis man sich davon Rechenschaft gibt.“Ein Porträt von Cézanne malte sein Freund und Mentor Pissarro im Jahr 1874, und 1901 schuf der Mitbegründer der Künstlergruppe Nabis, Maurice Denis, Hommage à Cézanne, das Cézannes Gemälde Stillleben mit Früchten
auf der Staffelei inmitten von Künstlerfreunden in der Galerie Vollard zeigt. Hommage à Cézanne gehörte ursprünglich Paul Gauguin und wurde später von dem französischen Schriftsteller und Freund Denis’, André Gide, erworben, der es bis zum Jahr 1928 in seinem Besitz hatte. Heute ist es im Musée d’Orsay ausgestellt.
==== Zeitgenössische Kunstkritik ====
Die erste gemeinsame Impressionistenausstellung in Paris im April/Mai 1874 zog extensive Kritik auf sich. Publikum und Kunstkritiker, für die „das Ideal“ der École de Beaux Arts der Beweis für das Vorliegen von Kunst war, brachen in Gelächter aus. Von Monet behauptete ein Kritiker, er male, indem er seine Farben in ein Gewehr lade und auf die Leinwand schieße. Vor einem Bild Cézannes führte ein Kollege einen Indianertanz auf und rief: „Hugh! […] Ich bin die wandelnde Impression, das rächende Palettenmesser, der ‚Boulevard des Capucines‘ von Monet, ‚Das Haus des Gehängten‘ und ‚Die moderne Olympia‘ von Herrn Cézanne. Hugh! Hugh! Hugh!“Der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans antwortete 1883 Pissarro brieflich auf dessen Vorwurf, Cézanne sei in Huysmans Buch L’Art moderne nur kurz erwähnt, indem er die Vermutung äußerte, Cézannes Blick auf die Motive sei durch Astigmatismus verfälscht: „[…] aber es ist bestimmt ein Augenfehler im Spiele, dessen er sich, wie mir versichert wird, auch bewusst ist.“ Fünf Jahre später wurde sein Urteil in der Zeitschrift La Cravache positiver, als er Cézannes Werke als „fremdartig und doch real“ und als „Offenbarung“ bezeichnete.Der Kunsthändler Ambroise Vollard kam erstmals 1892 durch den Farbenhändler Tanguy mit Werken Cézannes in Berührung, die dieser gegen Lieferung von Malutensilien in seinem Laden in der Rue Clauzel auf dem Montmartre ausgestellt hatte. Vollard erinnerte sich an die mangelnde Resonanz: Der Laden sei selten aufgesucht worden, „da es damals noch nicht Mode war, die ‚Greuelwerke‘ teuer, ja nicht einmal billig zu kaufen.“ Tanguy führte sogar Interessenten in des Malers Atelier, zu dem er einen Schlüssel hatte, wo es zum festen Preis von 40 Francs kleine und 100 Francs große Bilder zu erwerben gab. Das Journal des Artistes gab den allgemeinen Ton von damals wieder, indem es besorgt fragte, ob seine empfindsamen Leserinnen beim Anblick „dieser bedrückenden Abscheulichkeiten, die das Maß des gesetzlich erlaubten Übels übersteigen, nicht von Übelkeit befallen werden“.
Der Kunstkritiker Gustave Geffroy gehörte zu den wenigen Kritikern, die Cézannes Werk zu Lebzeiten gerecht und vorbehaltlos beurteilten. Bereits am 25. März 1894 schrieb er im Journal über das damals aktuelle Verhältnis der Malerei Cézannes zu den Bestrebungen der jüngeren Künstler, dass Cézanne eine Art Vorläufer geworden sei, auf den sich die Symbolisten beriefen, und dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Malerei Cézannes und der Gauguins, Bernards und sogar Vincent van Goghs bestehe. Ein Jahr später, nach der erfolgreichen Ausstellung in der Galerie Vollard im Jahr 1895, führte Geffroy wiederum im Journal aus: „Er ist ein großer Wahrheitsfanatiker, feurig und naiv, herb und nuanciert. Er wird in den Louvre kommen.“ Zwischen diesen beiden Chroniken war das von Cézanne gemalte Porträt Geffroys entstanden, das Cézanne jedoch in unvollendetem Zustand beließ, weil er mit ihm nicht zufrieden war.
=== Postume Wirkung ===
==== Retrospektiven nach Cézannes Tod in Paris 1907 ====
Zwei Retrospektiven würdigten postum im Jahr 1907 den Künstler. Vom 17. bis zum 29. Juni zeigte die Pariser Galerie Bernheim-Jeune 79 Aquarelle von Cézanne. Der V. Salon d’Automne widmete ihm anschließend vom 5. Oktober bis zum 15. November eine Hommage und stellte im Grand Palais 49 Gemälde und sieben Aquarelle in zwei Räumen aus. Zu den deutschen Besuchern zählten der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, der im Jahr 1910 die erste Cézanne-Biografie schreiben sollte, Harry Graf Kessler und Rainer Maria Rilke. Die beiden Ausstellungen motivierten viele Künstler, wie beispielsweise Georges Braque, André Derain, Wassily Kandinsky, Henri Matisse und Pablo Picasso, zu ihren für die Kunst des 20. Jahrhunderts entscheidenden Einsichten.
==== Ausstellungen in London und in den Vereinigten Staaten ====
Im Jahr 1910 wurden einige von Cézannes Gemälden in der Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in London gezeigt (eine weitere folgte 1912). Die Ausstellung war vom Maler und Kunstkritiker Roger Fry in den Grafton Galleries initiiert worden, die englische Kunstinteressierte mit dem Werk von Édouard Manet, Georges Seurat, Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Cézanne bekannt machen wollte. Fry schuf mit dem Namen die Bezeichnung für den Stil des Post-Impressionismus. Obwohl die Ausstellung von Kritikern und Publikum negativ beurteilt wurde, sollte sie doch bedeutsam für die Geschichte der modernen Kunst werden. Fry erkannte den außergewöhnlichen Wert des Weges, den Künstler wie van Gogh und Cézanne eingeschlagen hatten, indem sie ihre persönlichen Gefühle und ihre Weltsicht durch ihre Gemälde ausdrückten, auch wenn die damaligen Besucher dies noch nicht nachvollziehen konnten. Die erste Ausstellung Cézannes in den Vereinigten Staaten fand 1910/11 in der Galerie 291 in New York statt.
Im Jahr 1913 wurden seine Werke in der Armory Show in New York ausgestellt; sie war eine bahnbrechende Ausstellung von Kunstwerken und Skulpturen der Moderne, obgleich auch hier die Exponate Kritik und Spott ernteten.
Heutzutage werden diese Künstler, die selbst von ihren eigenen Kunstakademien zu Lebzeiten kritisiert und lächerlich gemacht wurden, als die Väter der modernen Kunst angesehen.
==== Einfluss auf die Moderne und Missdeutungen ====
In der Rezeption der Werke und der vermeintlichen Absichten Cézannes liegen viele „produktive“ Missverständnisse verborgen, die auf den weiteren Verlauf und die Entwicklung der modernen Kunst erheblichen Einfluss genommen hatten. So zeigt die Liste jener Künstler, die sich mehr oder weniger berechtigt auf ihn beriefen und einzelne Elemente aus der Fülle seiner gestalterischen Ansätze für eigene Bildfindungen ummünzten, eine nahezu lückenlose Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Schon Apollinaire stellte 1910 fest, dass „die meisten der neuen Maler behaupten, Nachfolger dieses ernsten, nur an der Kunst interessierten Malers zu sein“.Unmittelbar nach Cézannes Tod im Jahr 1906 begann, angeregt durch eine umfassende Ausstellung seiner Aquarelle im Frühjahr 1907 in der Galerie Bernheim-Jeune sowie eine Retrospektive im Oktober 1907 auf dem Salon d’Automne in Paris, eine lebhafte Auseinandersetzung mit seinem Werk. Unter den jungen französischen Künstlern wurden zuerst Matisse und Derain von der Leidenschaft für Cézanne ergriffen, es folgten Picasso, Fernand Léger, Georges Braque, Marcel Duchamp und Piet Mondrian. Diese Begeisterung war dauerhaft, so äußerte noch der achtzigjährige Matisse im Jahre 1949, dass er der Kunst Cézannes am meisten verdanke. Ferner bezeichnete Braque den Einfluss Cézannes auf seine Kunst als „Initiation“ und äußerte 1961: „Cézanne war der erste, der sich von der gelehrten mechanisierten Perspektive abwandte.“ Picasso gestand, „er war für mich der einzige Meister …, er war eine Vaterfigur für uns: er war es, der uns Schutz bot.“Der Cézanne-Experte Götz Adriani merkt jedoch an, dass etwa die kubistische Rezeption Cézannes – im Besonderen der Salonkubisten Albert Gleizes und Jean Metzinger, die in ihrer Abhandlung Du cubisme aus dem Jahre 1912 Cézanne an den Anfang ihrer Art zu malen stellten – insgesamt recht willkürlich war. So ließen sie die aus der Naturbeobachtung gewonnene Motivation weitgehend außer Acht. Er weist in diesem Zusammenhang auf die formalistischen Missdeutungen hin, die sich auf die von Bernard veröffentlichte Schrift des Jahres 1907 beziehen. Hier heißt es unter anderem, „man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel“. Weitere Missdeutungen dieser Art finden sich in dem von Malewitsch 1919 veröffentlichten Text „Von den neuen Systemen in der Kunst“. So bezweckte Cézanne etwa in seinem Zitat keine Umdeutung der Naturerfahrung im Sinne der Orientierung an kubischen Formelementen, ihm ging es vielmehr darum, den Gegenstandsformen und ihrer Farbigkeit unter den verschiedenen Aspekten im Bilde zu entsprechen.
Als eines unter vielen Beispielen der Einflüsse Cézannes auf die Moderne sei das Gemälde Mardi Gras, das Sohn Paul mit seinem Freund Louis Guillaume zeigt und ein Sujet aus der Commedia dell’arte umfasst, genannt. Picasso inspirierte es zu einem Harlekin-Thema in seiner rosa Periode. Matisse wiederum griff das Thema des klassischsten Gemäldes aus der Badenden-Folge, Die Großen Badenden aus dem Philadelphia Museum of Art, zu seinem Gemälde Die Badende aus dem Jahr 1909 auf.
Die eben genannten Künstler bilden erst den Anfang einer Reihe von Inspirierten. Die früh verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker hatte bereits 1900 bei Vollard Cézannes Gemälde gesehen, die sie tief beeindruckt hatten. Sie schrieb kurz vor ihrem Tod in einem Brief vom 21. Oktober 1907 aus Worpswede an Clara Westhoff: „Ich denke und dachte diese Tage stark an Cézanne und wie das einer von den drei oder vier Malerkräften ist, der auf mich gewirkt hat wie ein Gewitter oder ein großes Ereignis.“ Paul Klee notierte 1909 in seinem Tagebuch: „Cézanne ist mir ein Lehrmeister par excellence“, nachdem er in der Münchner Secession mehr als ein Dutzend Gemälde von Cézanne gesehen hatte. Die Künstlergruppe Der Blaue Reiter bezog sich 1912 in ihrem Almanach auf ihn, indem Franz Marc von der Geistesverwandtschaft zwischen El Greco und Cézanne berichtete, deren Werke er jeweils als Eingangspforten einer neuen Epoche der Malerei verstand. Wiederum bezieht sich Kandinsky, der Cézannes Gemälde auf der Retrospektive 1907 im Salon d’Automne gesehen hatte, in seiner 1912 veröffentlichten Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ auf Cézanne, in dessen Werk er ein „starkes Mitklingen des Abstrakten“ erkannte und den spirituellen Anteil seiner Überzeugungen bei ihm vorgegeben fand. Max Beckmann sah in seiner 1912 erschienenen Schrift Gedanken über zeitgemäße und unzeitgemäße Kunst in Cézanne ein Genie ebenso wie Franz Marc. El Lissitzky betonte um 1923 seine Bedeutung für die Russische Avantgarde, und Lenin regte 1918 an, für die Heroen der Weltrevolution Denkmäler zu errichten; auf der Ehrenliste standen Courbet und Cézanne.Neben Matisse beschäftigte sich Alberto Giacometti am eingehendsten mit Cézannes Darstellungsweise. Aristide Maillol arbeitete 1909 an einem Cézanne-Denkmal, das jedoch an der Ablehnung durch die Stadtverwaltung von Aix-en-Provence scheiterte. Auch für Künstler der neueren Generation war Cézanne eine wichtige Instanz. So bezeichnete Jasper Johns ihn neben Duchamp und Leonardo da Vinci als wichtigstes Vorbild. A. R. Penck wiederum wies auf die konzeptionellen Errungenschaften Cézannes hin und betonte: „Mit Cézanne fängt auch das an, was wir heute Untergrund nennen. Die Behauptung eines eigenen Raumes und einer eigenen Zielvorstellung gegen die herrschende Tendenz der Zeit.“ Der Däne Per Kirkeby äußerte 1989 in der Beschäftigung mit Cézannes Werken, dass hier einer sein „Künstlerleben als Pfand gegeben hat für etwas, das das meiste, womit wir uns üblicherweise beschäftigen, als ängstliche Originalitätssucht und Oberflächlichkeit erscheinen läßt“.Der deutsche Künstler Willi Baumeister, der ursprünglich vom Impressionismus beeinflusste figurative Werke geschaffen hatte, wandte sein Interesse schon um 1910 dem Kubismus und Paul Cézanne zu, dessen Werk er sein Leben lang verbunden blieb. In der Einführung zu einer 1947 erschienenen Bildmappe über Cézanne führte er aus: „Es gibt zwei Beugungswinkel in der Geschichte der neueren Kunst. Der eine Beugungswinkel liegt zwischen Cimabue und Giotto. […] Der zweite Beugungswinkel in der Geschichte der Kunst liegt bei Cézanne. Es beginnt die Abwendung vom ‚naturgetreuen Abbild‘ und die Hinwendung zur unabhängigen Formschöpfung und Farbschöpfung. […] Vergrößert man gewisse Bildteile bei Cézanne, […] so bemerkt man ein rhythmisches Gefüge, das kubistisch zu nennen ist und das der Kubismus übernahm.“
==== Cézannes Einfluss auf Rainer Maria Rilke ====
„Wenn ich mich erinnere, wie befremdet und unsicher man die ersten Sachen sah“, schrieb Rainer Maria Rilke an seine Frau nach der Besichtigung der großen Cézanne-Retrospektive im Pariser Salon d’Automne von 1907, auf die ihn Paula Modersohn-Becker aufmerksam gemacht hatte: „[…] lange nichts und plötzlich hat man die richtigen Augen.“ Rilke machte mit dieser Aussage sein großes Interesse an der Malerei deutlich, von der er sich Lösungen für seine schriftstellerischen Probleme erhoffte: „Es ist gar nicht die Malerei, die ich studiere […]. Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte.“ Bei Cézanne sah er, wie die „Stimmungsmalerei“ überwunden werden konnte. Dies entsprach seiner Auffassung vom Dichten, die in den Neuen Gedichten schon umgesetzt wurde. Nach der Ausstellung setzte er Der Neuen Gedichte anderer Teil fort, an der die Anwendung des Prinzips vom „sachlichen Sagen“ in dem Gedicht Die Flamingos deutlich wird. Dass Rilke nicht der einzige modernistische Autor war, für den die Frage nach den unterschiedlichen Formen und Funktionen von Bildern und Bildlichkeit in der Literatur zentrale Bedeutung erlangte, wird unter anderem auch in der Auswirkung auf die Literatur um 1900 beispielsweise in den Werken Hugo von Hofmannsthals mit dem „Eindringen der Farbe in die Sprache“ deutlich.
==== Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire ====
Peter Handke resümiert in seinem im Jahr 1980 erschienenen Buch Die Lehre der Sainte-Victoire: „Ja, dem Maler Paul Cézanne verdanke ich es, dass ich an jener freien Stelle zwischen Aix-en-Provence und dem Dorf Le Tholonet in den Farben stand und sogar die asphaltierte Straße mir als Farbsubstanz erschien […]“ Und er fährt fort: „[…] so habe ich [Bilder] wohl von Anfang an als bloßes Zubehör gesehen und mir von ihnen lange nichts Entscheidendes erwartet.“ Handke gelingt in seinem Buch die Annäherung eines Autors an die bildende Kunst durch die in den Text eingebetteten kunsttheoretischen Hinweise der Sicht Cézannes auf die Wirklichkeit.
==== Cézanne und die Philosophie ====
Der französische Philosoph Jean-François Lyotard führt in seinem Werk Das Elend der Philosophie aus, Cézanne habe sozusagen den Sechsten Sinn: Er empfinde die im Entstehen befindliche Realität, bevor sie sich in der normalen Wahrnehmung vervollständigt. Der Maler rührt also ans Erhabene, wenn er das Überwältigende der Gebirgslandschaft erblickt, die man weder mit der normalen Sprache noch mit der gewohnten Maltechnik darstellen könne. Lyotard resümiert: „Man kann auch sagen, daß das Unheimliche der dem Gebirge und den Früchten gewidmeten Ölgemälde und Aquarelle sowohl von einem tiefen Sinn des Verschwindens der Erscheinungen herrührt, als auch von dem Untergang der sichtbaren Welt.“
=== Filme über Cézanne ===
Une visite au Louvre, 2004. Film und Regie von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet über Cézanne, basierend auf den postum veröffentlichten Konversationen mit dem Maler, die dessen Bewunderer Joachim Gasquet überliefert hat. Der Film beschreibt einen Spaziergang Cézannes im Louvre entlang der Bilder seiner Künstlerkollegen.Zum 100. Todestag Cézannes im Jahr 2006 sind zwei Dokumentarfilme aus den Jahren 1995 und 2000 über Paul Cézanne beziehungsweise über sein Motiv La Montagne Sainte-Victoire neu veröffentlicht worden. Der Triumph Cézannes wurde für das Jubiläumsjahr 2006 neu gedreht.Die Gewalt des Motivs, 1995. Ein Film von Alain Jaubert. Ein Berg in der Nähe seiner Heimatstadt Aix-en-Provence wird zu Cézannes Hauptmotiv. Über 80-mal zeigt er La Montagne Sainte-Victoire aus verschiedenen Perspektiven, zu verschiedenen Jahreszeiten. Das Motiv wird zu einer Obsession, der Jaubert mit seinem Film auf den Grund geht.
Cézanne – der Maler, 2000. Ein Film von Elisabeth Kapnist. Die Geschichte einer Passion und einer lebenslangen künstlerischen Suche: Der Maler Cézanne, seine Kindheit, die Freundschaft mit Zola und seine Begegnung mit dem Impressionismus werden geschildert.
Der Triumph Cézannes, 2006. Ein Film von Jacques Deschamps. Deschamps nimmt den 100. Todestag Cézannes im Oktober 2006 zum Anlass, dem Entstehen einer Legende nachzuspüren. Cézanne stieß auf Ablehnung und Unverständnis, bevor er in den Olymp der Kunstgeschichte und des internationalen Kunstmarkts aufsteigen durfte.
Meine Zeit mit Cézanne, 2016. Ein Film von Danièle Thompson über Cézannes Freundschaft mit Émile Zola.
=== Auf Cézannes Spuren in der Provence ===
Besucher von Aix-en-Province können vom Stadtzentrum aus die Landschaftsmotive Cézannes auf fünf gekennzeichneten Wegen entdecken. Sie führen nach Le Tholonet, zum Jas de Bouffan, zum Steinbruch von Bibémus, zu den Ufern des Flusses Arc und zum Atelier von Les Lauves.Das Atelier Les Lauves ist bereits seit dem Jahr 1954 der Öffentlichkeit zugänglich. Eine amerikanische Stiftung, initiiert von James Lord und John Rewald, hatte dies durch von 114 Spendern bereitgestellte Gelder möglich gemacht. Sie kaufte es dem Vorbesitzer Marcel Provence ab und übertrug es an die Universität von Aix. Im Jahr 1969 wurde das Atelier der Stadt Aix übereignet. Der Besucher findet hier Cézannes Möbel, Staffelei und Palette, die Gegenstände, die auf seinen Stillleben erscheinen sowie einige Originalzeichnungen und Aquarelle.
Zu Lebzeiten hatte ein Großteil der Aixer Einwohner ihren Mitbürger Cézanne verspottet. In neuerer Zeit benannten sie nach ihrem weltberühmt gewordenen Künstler sogar eine Universität: Im Jahr 1973 wurde sie in Aix-en-Provence gegründet, die Universität Paul Cézanne Aix-Marseille III mit den Fachbereichen Recht und Politikwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre sowie Naturwissenschaft und Technik. Im Jahr 2011 wurde sie aufgelöst und mit den anderen beiden Universitäten in Aix und Marseille zur Universität Aix-Marseille zusammengefasst.
Als Folge der Ablehnung seiner Werke in der Vergangenheit musste das Musée Granet in Aix mit einer Leihgabe von Gemälden aus dem Louvre vorliebnehmen, um den Besuchern Cézanne, den Sohn ihrer Stadt, präsentieren zu können. Das Museum erhielt im Jahr 1984 acht Gemälde und einige Aquarelle, darunter ein Motiv aus der Reihe der Badenden und ein Porträt der Mme Cézanne. Dank einer weiteren Stiftung im Jahr 2000 werden dort jetzt neun Gemälde Cézannes ausgestellt.
=== Cézannes Werke auf dem Kunstmarkt ===
Welche Wertsteigerung Cézannes Gemälde auf dem Kunstmarkt erreicht haben, ist aus dem Ergebnis einer Versteigerung am 10. Mai 1999 in New York ersichtlich: Das Stillleben mit Vorhang, Krug und Obstschale wurde für 60,5 Millionen US-Dollar versteigert. Es war damals die höchste Summe, die für ein Bild Cézannes je gezahlt wurde. Das Auktionshaus Sotheby’s hatte den Wert des Gemäldes nur auf 25 bis 35 Millionen Dollar geschätzt.Für eine ähnliche Entwicklung steht die Versteigerung seines Aquarells Nature morte au melon vert; es hat bei Sotheby’s im Mai 2007 für einen Preis von 25,5 Millionen Dollar den Besitzer gewechselt. Das Stillleben aus der späten Schaffensphase des Künstlers zwischen 1902 und 1906 zeigt eine grüne Melone. Ursprünglich war der Verkaufspreis auf 14 bis 18 Millionen Dollar geschätzt worden.Im Frühjahr 2011 soll sein Werk Die Kartenspieler – eines von fünf Versionen – für 275 Millionen Dollar verkauft worden sein. Die genaue Summe und der neue Besitzer sind bislang nicht bekannt. Das wäre der höchste Preis, den ein Gemälde zu diesem Zeitpunkt je erzielte.Ein fast 60 Jahre verschollen geglaubtes Aquarell aus der Kartenspieler-Serie wurde am 1. Mai 2012 an einen ebenfalls anonymen Bieter in New York zum Preis von 19 Millionen Dollar versteigert.Im Mai 2019 wurde sein Gemälde Bouilloire et fruits (1888–1890) für über 59 Millionen US-Dollar bei Christie’s versteigert.Am 9. November 2022 kam eine Version von Cézannes Bild La Montagne Sainte-Victoire (1888–1890) aus der Sammlung des Microsoft-Mitgründers Paul Allen bei Christie’s in New York zur Versteigerung. Zuvor war der Wert des Bildes auf etwa 100 Millionen US-Dollar geschätzt worden. Ein anonymer Bieter erwarb das Bild bei dem Auktionator und Europa-Präsidenten von Christie’s, Jussi Pylkannen, für 138 Millionen US-Dollar (mit Steuern). Dieses Ergebnis überbot den bisherigen (gesicherten) Cézanne-Rekord, der im Mai 1999 erreicht worden war.
== Postume Ausstellungen (Auswahl) ==
1907: Galerie Bernheim-Jeune, Paris, Salon d’Automne, Paris, Retrospektiven
1910/1911: Erste Ausstellung in den USA in der Galerie 291, New York
1913: Armory Show, New York. Cézanne war vertreten mit den Bildern Mont Sainte-Victoire und Alte Frau mit Rosenkranz
1936: Jeu de Paume, Paris
1964: documenta III, Kassel
1977: John Rewald zusammen mit William Rubin: Cézanne: The Late Work exhibition im Museum of Modern Art, New York
1995/1996: Grand Palais, Paris
1996: Tate Gallery, London
1996: Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
2004: Cézanne – Aufbruch in die Moderne. Museum Folkwang, Essen
2006: Cézanne en Provence. Musée Granet, Aix-en-Provence
2006: Cézanne et Pissarro 1865–1885. Musée d’Orsay, Paris
2008/2009: Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
2011/2012: Cézanne Renoir Picasso & Co: 40 Jahre Kunsthalle Tübingen, Kunsthalle Tübingen.
2012/2013: Paul Cézanne and the Past, Szépművészeti Múzeum, Budapest.
2014: Cézanne Site/Non-Site, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, 4. Februar bis 18. Mai 2014
2017/18: Portraits de Cézanne, Musée d’Orsay, Paris, 13. Juni bis 24. September 2017; anschließend National Portrait Gallery, London, 26. Oktober 2017 bis 11. Februar 2018
2017/2018 Cézanne. Metamorphosen. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 28. Oktober 2017 bis 11. Februar 2018
2020: Van Gogh, Cézanne, Matisse, Hodler. Die Sammlung Hahnloser. Albertina, Wien, 27. August bis 15. November 2020
2021: Cézanne Drawing. Museum of Modern Art, New York, 6. Juni bis 25. September 2021
2022: Paul Cézanne. Art Institute of Chicago, Chicago, 15. Mai bis 5. September 2022
2022/23: Cezanne. Tate Modern, London, 5. Oktober 2022 bis 12. März 2023
== Literatur und neue Medien ==
=== Cézanne in Selbstzeugnissen ===
Paul Cézanne: Über die Kunst, Gespräche mit Gasquet. Herausgegeben von Walter Hess, in: Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, hrsg. von Ernesto Grassi, Rowohlt Verlag Hamburg 1957; Mäander Kunstverlag, Mittenwald 1980, ISBN 3-88219-058-2 (Joachim Gasquet: Cézanne. 1921)
Paul Cézanne: Briefe. Herausgegeben von John Rewald, Diogenes Verlag, Zürich, 1962; Taschenbuchausgabe 3. Aufl. 2002, ISBN 3-257-21655-6
Gespräche mit Cézanne. Herausgegeben von Michael Doran, übersetzt von Jürg Bischoff, Diogenes Verlag, Zürich, Neuausgabe 1998, ISBN 3-257-21974-1
Dino Heicker (Hrsg.): Cézanne – Zola. Porträt einer Männerfreundschaft. Vollständiger Briefwechsel und in neuer deutscher Übersetzung von Dino Heicker und Alexandre Pateau. Parthas, Berlin 2015, ISBN 978-3-86964-054-9
=== Sekundärliteratur ===
Götz Adriani: Paul Cézanne. Leben und Werk (C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe), C. H. Beck Verlag, München 2006, ISBN 978-3-406-54690-7.
Götz Adriani: Cézanne. Gemälde, DuMont Buchverlag, Köln 1993, ISBN 3-7701-3088-X
Götz Adriani: Cézanne. Aquarelle, DuMont Buchverlag, Köln 1982, ISBN 3-7701-1346-2
Kurt Badt: Die Kunst Cézannes, Prestel Verlag, München 1956
Felix A. Baumann, Walter Feilchenfeldt, Hubertus Gaßner: Cézanne. Aufbruch in die Moderne. Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-7757-1487-1
Ulrike Becks-Malorny: Cézanne, 1839–1906. Wegbereiter der Moderne. Taschen Verlag, Köln 2007, ISBN 978-3-8228-5583-6
Kai Buchholz: Die Kunsttheorie Paul Cézannes und ihr Entstehungshintergrund. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 44 (1999), S. 85–102
Paul Cézanne, Felix A. Baumann, Evelyn Benesch, Walter Feilchenfeldt: Cézanne – Vollendet – Unvollendet, Hatje Cantz Verlag, Zürich 2000, ISBN 3-7757-0878-2
Lorenz Dittmann: Die Kunst Cézannes. Farbe – Rhythmus – Symbolik. Böhlau, Köln 2005. ISBN 3-412-11605-X
Hajo Düchting: Cézanne. (Prestel Art Guide). Prestel Verlag, München 2004, ISBN 3-7913-3201-5
Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-37570-9
Heinz-Georg Held: DuMont Schnellkurs. Cézanne. Die Entstehung der modernen Kunstbetrachtung. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, ISBN 978-3-8321-7677-8
Peter Kropmanns: Cézanne. Eine Biographie. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-15-010610-5
Kurt Leonhard: Cézanne. Rowohlt Verlag, Reinbek, 13. Aufl. 2003, ISBN 3-499-50114-7
Michael Lüthy: Relationale Ästhetik: Über den ‘Fleck’ bei Cézanne und Lacan, in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265–288, ISBN 3-935300-80-8
Jean-François Lyotard: Das Elend der Philosophie. Passagen-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-85165-551-6
Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne, Insel Verlag, Frankfurt/Main, 7. Aufl. 2005, ISBN 978-3-458-32372-3 Die Auswahl wurde von Rilkes Frau Clara erstmals 1952 zusammengestellt.
Meyer Schapiro: Paul Cézanne (9. Auflage). DuMont, Köln 2003, ISBN 3-8321-7338-2
Ambroise Vollard: Paul Cézanne. Gespräche und Erinnerungen, übersetzt von Margaretha Reischach-Scheffel. Diogenes Verlag, Zürich, 5. Aufl. 2002, ISBN 3-257-21749-8
Angela Wenzel: Paul Cézanne – Ein Leben für die Malerei. Prestel Verlag, München 2005, ISBN 3-7913-3295-3
Christoph Wetzel: Paul Cézanne. Leben und Werk, Belser-Verlag, Stuttgart/Zürich 1989, ISBN 978-3-7630-1933-5Werkverzeichnisse:
Adrien Chappuis: The Drawings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné. Zwei Bände, Thames and Hudson, London 1973, ISBN 0-500-09088-2
John Rewald: Paul Cézanne – The Watercolours: A Catalog Raisonné. Thames and Hudson, London 1983, ISBN 0-500-09164-1
John Rewald: Paintings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné. Zwei Bände. New York 1996, ISBN 978-0-8109-4044-4. Die Werkverzeichnisse sind eine Erweiterung der Version Lionello Venturis von 1936, dessen Archiv nach seinem Tod John Rewald übergeben wurde.Cézanne im Kriminalroman:
Peter Mayle: Cézanne gesucht!. Goldmann Verlag, München 2000, ISBN 978-3-442-44568-4
Barbara Pope: Im hellen Licht des Todes. List Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-548-60832-7
=== Film ===
Straub-Huillet: Paul Cézanne, 1989, nach Joachim Gasquet, 35 mm, Farbe, zwei Sprachfassungen, 51/63 min
Janice Sutherland: Three Colours Cézanne, Dokumentation auf CD, 55 Min., Arthaus Musik GmbH 2008 (BBC 1996), ISBN 978-3-939873-05-1
Meine Zeit mit Cézanne (Originaltitel Cézanne et moi), Filmbiografie 2016, 117 Min., Drehbuch und Regie Danièle Thompson
== Weblinks ==
Literatur von und über Paul Cézanne im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Paul Cézanne in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Werke von Paul Cézanne bei Zeno.org.
Materialien von und über Paul Cézanne im documenta-Archiv
Paul Cézanne auf Kunstaspekte
Webseite der National Gallery of Art, Washington mit Biografie und Gemälden
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_C%C3%A9zanne |
Lichtgeschwindigkeit | = Lichtgeschwindigkeit =
Die Lichtgeschwindigkeit
c
{\displaystyle c}
(
c
{\displaystyle c}
nach lat. celeritas: Schnelligkeit) ist eine fundamentale Naturkonstante. Sie ist eine der Konstanten, über die der Meter und andere Maßeinheiten definiert sind.
Die Lichtgeschwindigkeit spielt eine zentrale Rolle in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie und stellt einen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit her. Sie ist die absolute Grenzgeschwindigkeit im Universum; kausale Zusammenhänge (Ursache-Wirkung-Beziehungen) können sich nicht schneller ausbreiten. Licht und andere elektromagnetischen Wellen breiten sich im Vakuum mit dieser Geschwindigkeit aus, ebenso Gravitationswellen. Die Geschwindigkeit materieller Körper (z. B. Elementarteilchen mit Masse) kann sich bei hoher Energiezufuhr der Lichtgeschwindigkeit nähern, sie aber nicht erreichen.
In einem materiellen Medium wie Luft oder Glas ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts kleiner. Wenn es sich nicht aus dem Zusammenhang ergibt, wird durch Wortzusätze deutlich gemacht, ob die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum oder im Material gemeint ist. In beiden Fällen verwendet man das Formelzeichen
c
{\displaystyle c}
; zur Unterscheidung wird für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum auch
c
0
{\displaystyle c_{0}}
geschrieben.
== Wert ==
Der Wert der Lichtgeschwindigkeit beträgt
c
=
299
792
458
m/s
≈
300
000
k
m
/
s
=
1
,
08
Mrd km/h ,
{\displaystyle {\begin{aligned}c&=299\,792\,458\ {\text{m/s}}\\&\approx 300\,000\ \mathrm {km/s} =1{,}08\;{\text{ Mrd km/h ,}}\end{aligned}}}
Der Wert von 299792458 m/s gilt exakt, weil die Maßeinheit „Meter“ seit 1983 implizit dadurch definiert ist, dass der Lichtgeschwindigkeit dieser Wert zugewiesen wurde. Sie ist eine der sieben Konstanten, die seit der Reform vom 2019 das Internationale Einheitensystem (SI) definieren.Zuvor war der Meter als Vielfaches der Wellenlänge eines bestimmten atomaren Übergangs definiert gewesen, und die Lichtgeschwindigkeit war eine experimentell zu bestimmende Größe. Mit dem messtechnischen Fortschritt konnte aber die Lichtgeschwindigkeit präziser bestimmt werden als diese Wellenlänge und damit der Meter selbst. Deshalb beschloss man 1983 diese neue Definition des Meters.
== Physikalischer Hintergrund ==
Dass es eine universelle Grenzgeschwindigkeit geben muss, ergibt sich aus einem fundamentalen Grundprinzip der Physik, dem Relativitätsprinzip: Die physikalischen Gesetze sind unabhängig vom Bewegungszustand bei gleichförmiger Bewegung. Die ursprüngliche mathematische Beschreibung dieses Prinzips (Galilei-Transformation: Addition von Relativgeschwindigkeiten) führt in der Elektrodynamik zu unauflöslichen Widersprüchen und muss durch die Lorentz-Transformation ersetzt werden. Diese weicht bei hohen Geschwindigkeiten von der einfacheren Galilei-Transformation ab und erfordert, dass es eine Grenzgeschwindigkeit c gibt, die niemals überschritten werden kann. Albert Einstein erkannte, dass durch diese Grenzgeschwindigkeit Raum und Zeit untrennbar zur Raumzeit verknüpft sind und dass dadurch c die maximale Geschwindigkeit für kausale Zusammenhänge (Ursache-Wirkung-Beziehungen) ist. Kein Signal, keine Information kann schneller übertragen werden. Dies ist die Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie.
Das Relativitätsprinzip erzwingt, dass die maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik genau dieses c als Parameter enthalten, und als Konsequenz pflanzen sich elektromagnetische Wellen mit genau dieser Geschwindigkeit fort. Ihre Geschwindigkeit hängt dabei nicht von der Geschwindigkeit der Lichtquelle ab, und unabhängig vom Bewegungszustand des zu ihrer Messung verwendeten Empfängers wird stets derselbe Wert der Lichtgeschwindigkeit gemessen. Massebehaftete Teilchen können sich nur mit geringerer Geschwindigkeit v < c bewegen; für masselose Teilchen hingegen ist c die einzig mögliche Geschwindigkeit.
Aus der Relativitätstheorie ergibt sich weiterhin, dass Energie und Masse über die Beziehung E0 = mc2 verknüpft sind. Wenn es keine Grenzgeschwindigkeit gäbe („c = ∞“), könnte es demnach keine Masse geben, weil hierfür unendlich viel Energie vonnöten wäre.
In Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie spielt c ebenfalls eine zentrale Rolle. Die Wirkung der Gravitation breitet sich mit dieser Geschwindigkeit aus.
Die Bezeichnung „Lichtgeschwindigkeit“ ist insofern unglücklich gewählt, als sie von der fundamentalen Bedeutung dieser Naturkonstante für Raum, Zeit und Kausalität ablenkt. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts ist letztlich nur eine der Konsequenzen daraus. Überdies wird als „Lichtgeschwindigkeit“ auch die Geschwindigkeit des Lichts in materiellen Medien bezeichnet, die geringer ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen bezeichnet man die Naturkonstante daher auch als „Vakuumlichtgeschwindigkeit“, mit dem Symbol c0.
== Technische Bedeutung ==
Informationen in Telekommunikationsanlagen breiten sich mit 70 Prozent (Glasfasern) bis 100 Prozent (Vakuum, Weltraum, praktisch auch Luft) der Lichtgeschwindigkeit aus. Dadurch entstehen Verzögerungszeiten, die sich nicht vermeiden lassen. Entlang der Erdoberfläche beträgt der maximale Abstand zweier Orte etwa 20.000 km. Dies entspräche bei Vakuum-Lichtgeschwindigkeit 67 ms Laufzeit. Die tatsächliche Übertragungszeit ist stets länger. Bei atmosphärischer Übertragung wird die Welle in den verschiedenen Schichten der Atmosphäre und am Erdboden reflektiert und hat so einen längeren Weg zurückzulegen.
Mikroprozessoren arbeiten heute mit Taktfrequenzen in der Größenordnung von 1 bis 5 GHz. Während eines Taktes legen elektrische Signale in Schaltkreisen mit Low-k-Dielektrikum zwischen 5 und 20 cm zurück. Beim Entwerfen von Schaltkreisen sind diese Laufzeiten nicht vernachlässigbar.
Geostationäre Satelliten befinden sich 35.786 km über dem Äquator. Um auf Telefon- oder Fernsehsignale auf diesem Weg eine Antwort zu erhalten, muss das Signal mindestens 144.000 km zurückgelegt haben: vom Sender zum Satelliten, dann zum Empfänger, anschließend den gleichen Weg zurück. Diese Laufzeit beträgt etwa 480 ms und bedeutet damit eine spürbare Verzögerung.
Raumsonden befinden sich an ihren Zielorten oft viele Millionen oder sogar Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Selbst mit Lichtgeschwindigkeit sind die Funksignale mehrere Minuten bis Stunden zu ihnen unterwegs. Die Antwort zurück zur Erde braucht noch einmal die gleiche Zeit. Extraterrestrische Fahrzeuge wie zum Beispiel der Mars-Rover Opportunity müssen daher selbsttätig steuern und Gefahren erkennen können, denn die Bodenstation kann erst Minuten später auf Zwischenfälle reagieren.
== Lichtgeschwindigkeit und Elektrodynamik ==
Aus den Maxwell-Gleichungen folgt, dass elektrische und magnetische Felder schwingen können und dabei Energie durch den leeren Raum transportieren. Dabei gehorchen die Felder einer Wellengleichung, ähnlich der für mechanische Wellen und für Wasserwellen. Die elektromagnetischen Wellen übertragen Energie und Information, was in technischen Anwendungen beispielsweise für Beleuchtung, Lichtsignale, Radio, Radar oder Laser genutzt wird.
=== Ebene Welle oder Kugelwelle im Vakuum ===
Die Geschwindigkeit von ebenen oder kugelförmigen elektromagnetischen Wellen im Vakuum ist den Maxwell-Gleichungen zufolge der Kehrwert der Wurzel des Produkts der elektrischen Feldkonstanten
ε
0
{\displaystyle \varepsilon _{0}}
und der magnetischen Feldkonstanten
μ
0
:
{\displaystyle \mu _{0}\colon }
c
=
1
ε
0
μ
0
{\displaystyle c={\frac {1}{\sqrt {\varepsilon _{0}\,\mu _{0}}}}}
Aus dieser Formel berechnete Maxwell 1865 mit den damals bekannten Werten für
ε
0
{\displaystyle \varepsilon _{0}}
und
μ
0
{\displaystyle \mu _{0}}
den Wert von
310
740
km/s
{\displaystyle 310\,740\;{\text{km/s}}}
und folgerte: Maxwells Annahme ist in allen Beobachtungen an elektromagnetischer Strahlung bestätigt worden.
=== Ebene Welle oder Kugelwelle in einem Medium ===
In einem Medium werden die beiden Feldkonstanten durch das Material geändert, was durch die Faktoren relative Permittivität
ε
r
{\displaystyle \varepsilon _{\mathrm {r} }}
und relative Permeabilität
μ
r
{\displaystyle \mu _{\mathrm {r} }}
berücksichtigt wird. Beide hängen von der Frequenz
ω
{\displaystyle \omega }
ab. Die Lichtgeschwindigkeit im Medium ist dementsprechend
c
medium
(
ω
)
=
1
ε
(
ω
)
μ
(
ω
)
=
1
ε
0
ε
r
(
ω
)
μ
0
μ
r
(
ω
)
=
c
ε
r
(
ω
)
μ
r
(
ω
)
{\displaystyle c_{\text{medium}}(\omega )={\frac {1}{\sqrt {\varepsilon (\omega )\,\mu (\omega )}}}={\frac {1}{\sqrt {\varepsilon _{0}\,\varepsilon _{\mathrm {r} }(\omega )\,\mu _{0}\,\mu _{\mathrm {r} }(\omega )}}}={\frac {c}{\sqrt {\varepsilon _{\mathrm {r} }(\omega )\,\mu _{\mathrm {r} }(\omega )}}}}
.Das Verhältnis der Lichtgeschwindigkeit in Vakuum zu der in einem Medium ist der (frequenzabhängige) Brechungsindex
n
{\displaystyle n}
des Mediums. Der Zusammenhang des Brechungsindex mit der relativen Permittivität und der relativen Permeabilität heißt auch maxwellsche Relation:
n
(
ω
)
=
c
c
medium
(
ω
)
=
ε
r
(
ω
)
μ
r
(
ω
)
{\displaystyle n(\omega )={\frac {c}{c_{\text{medium}}(\omega )}}={\sqrt {\varepsilon _{\mathrm {r} }(\omega )\,\mu _{\mathrm {r} }(\omega )}}}
Wegen der im Allgemeinen gegebenen Abhängigkeit von
ε
r
{\displaystyle \varepsilon _{\mathrm {r} }}
und
μ
r
{\displaystyle \mu _{\mathrm {r} }}
von der Frequenz der Welle ist zu beachten, dass
c
m
e
d
i
u
m
{\displaystyle c_{\mathrm {medium} }}
die Phasengeschwindigkeit im Medium bezeichnet, mit der Punkte gleicher Phase (z. B. Minima oder Maxima) einer ebenen Welle mit konstanter Amplitude fortschreiten. Die Hüllkurve eines räumlich begrenzten Wellenpakets pflanzt sich hingegen mit der Gruppengeschwindigkeit fort. In Medien weichen diese beiden Geschwindigkeiten mehr oder weniger voneinander ab. Insbesondere bedeutet ein Brechungsindex
n
<
1
{\displaystyle n<1}
lediglich, dass sich die Wellenberge schneller als
c
{\displaystyle c}
ausbreiten. Wellenpakete, mit denen Information und Energie transportiert werden, sind weiterhin langsamer als
c
{\displaystyle c}
.
=== Transversal modulierte Welle im Vakuum ===
Nach den Maxwell-Gleichungen ergibt sich die von der Wellenlänge unabhängige Lichtgeschwindigkeit
c
=
1
/
ε
0
μ
0
{\displaystyle c=1/{\sqrt {\varepsilon _{0}\,\mu _{0}}}}
u. a. für den Fall einer im Vakuum unendlich ausgedehnten ebenen Welle mit einer wohldefinierten Fortpflanzungsrichtung. Demgegenüber hat jede praktisch realisierbare Lichtwelle immer ein gewisses Strahlprofil. Wird dies als Überlagerung von ebenen Wellen mit leicht veränderten Fortpflanzungsrichtungen dargestellt, haben die einzelnen ebenen Wellen zwar alle die Vakuumlichtgeschwindigkeit
c
{\displaystyle c}
, jedoch gilt dies nicht notwendig für die durch die Überlagerung entstehende Welle. Es resultiert eine leicht verlangsamte Welle. Das konnte an speziell geformten Bessel-Strahlen von Mikrowellen und sichtbarem Licht auch nachgewiesen werden, sogar für die Geschwindigkeit einzelner Photonen. Bei allen praktisch realisierbaren Lichtwellen, auch bei scharf gebündelten Laserstrahlen, ist dieser Effekt aber vernachlässigbar klein.
== Lichtgeschwindigkeit in Materie ==
In Materie ist Licht langsamer als im Vakuum, und zwar gilt dort, wie oben hergeleitet wurde,
c
M
e
d
i
u
m
=
c
/
n
{\displaystyle c_{\,\mathrm {Medium} }={c}/{n}}
mit einem Brechungsindex
n
{\displaystyle n}
, der größer als 1 ist.In bodennaher Luft ist die Lichtgeschwindigkeit etwa 0,28 ‰ geringer als im Vakuum (also ca. 299.710 km/s), in Wasser beträgt sie etwa 225.000 km/s (− 25 %) und in Gläsern mit hohem Brechungsindex bis hinab zu 160.000 km/s (− 47 %).
In manchen Medien wie Bose-Einstein-Kondensaten oder photonischen Kristallen herrscht für bestimmte Wellenlängen eine sehr große Dispersion. Licht breitet sich in ihnen deutlich verlangsamt aus. So konnte die Forschungsgruppe der dänischen Physikerin Lene Hau im Jahr 1999 Licht auf eine Gruppengeschwindigkeit von ungefähr 17 m/s bringen.Grenzen zwei durchsichtige Medien aneinander, so bewirkt die unterschiedliche Lichtgeschwindigkeit in beiden Medien die Brechung des Lichts an der Grenzfläche. Da die Lichtgeschwindigkeit im Medium auch von der Wellenlänge des Lichtes abhängt, wird Licht unterschiedlicher Farbe unterschiedlich gebrochen, und weißes Licht spaltet sich in seine unterschiedlichen Farbanteile auf. Dieser Effekt lässt sich z. B. mit Hilfe eines Prismas direkt beobachten.
In einem Medium können Teilchen schneller sein als das Licht im gleichen Medium. Wenn sie elektrisch geladen sind, wie etwa Elektronen oder Protonen, tritt dabei der Tscherenkow-Effekt auf: Die Teilchen strahlen Licht ab, so wie ein überschallschnelles Flugzeug den Überschallknall hinter sich her schleppt. Dies ist beispielsweise in Schwimmbadreaktoren beobachtbar. In ihnen befindet sich Wasser zwischen den Brennelementen. Die Betastrahlung der Spaltprodukte besteht aus Elektronen, die schneller sind als die Lichtgeschwindigkeit im Wasser. Das von ihnen abgegebene Tscherenkow-Licht lässt das Wasser blau leuchten.
Der Tscherenkow-Effekt wird in Teilchendetektoren zum Nachweis schneller geladener Teilchen verwendet.
== Lichtgeschwindigkeit und Teilchenphysik ==
Teilchen ohne Masse bewegen sich immer und in jedem Inertialsystem mit Lichtgeschwindigkeit. Das bekannteste masselose Teilchen, das diese Eigenschaft zeigt, ist das Photon. Es vermittelt die elektromagnetische Wechselwirkung, die einen großen Teil der Physik des Alltags bestimmt. Weitere masselose Teilchen sind im Standardmodell der Teilchenphysik die Gluonen, die Vermittlerteilchen der starken Wechselwirkung. Teilchen mit einer von Null abweichenden Masse sind stets langsamer als das Licht. Wenn man sie beschleunigt, wächst ihre Energie
E
(
v
)
{\displaystyle E(v)}
wegen der relativistischen Energie-Impuls-Beziehung gemäß
E
(
v
)
=
m
c
2
1
−
v
2
/
c
2
.
{\displaystyle E(v)={\frac {m\,c^{2}}{\sqrt {1-{v}^{2}/c^{2}}}}.}
Dabei ist
v
{\displaystyle v}
die Geschwindigkeit des Teilchens in Bezug auf das Inertialsystem, das für die Beschreibung des Vorgangs gewählt wird. Je näher der Betrag der Teilchengeschwindigkeit
v
{\displaystyle v}
an der Lichtgeschwindigkeit
c
{\displaystyle c}
ist, desto mehr nähert sich der Quotient
v
2
/
c
2
{\displaystyle v^{2}/c^{2}}
dem Wert 1 an, und desto kleiner wird die Wurzel im Nenner. Je mehr sich die Teilchengeschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto größer wird die dafür benötigte Energie. Mit endlich hoher Energie kann man also ein Teilchen zwar beliebig nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, man kann diese jedoch nicht erreichen.
Der von der Relativitätstheorie vorhergesagte Zusammenhang von Energie und Geschwindigkeit wurde in verschiedenen Experimenten belegt.
Er hat u. a. Auswirkungen auf die Technik von Teilchenbeschleunigern. Die Umlaufzeit eines z. B. in einem Synchrotron kreisenden Pakets von Elektronen ändert sich bei weiterer Beschleunigung kaum noch; die Synchronisation der einzelnen beschleunigenden Wechselfelder kann daher konstant sein. Dagegen muss sie bei schwereren Teilchen, die mit geringerer Geschwindigkeit zugeführt werden, laufend der zunehmenden Geschwindigkeit angepasst werden.
== Überlichtgeschwindigkeit ==
In Physik und Astronomie treten in einigen Fällen Geschwindigkeiten > c auf. Dabei handelt es sich aber nicht um echte Überlichtgeschwindigkeit im Sinne von Informationsübertragung:
Extrem weit entfernte astronomische Objekte entfernen sich mit Überlichtgeschwindigkeit von unserer Galaxis. Der Grund hierfür ist aber keine überlichtschnelle Bewegung im Raum, sondern die Expansion des Raums.
Manche kosmische Jets scheinen Geschwindigkeiten > c zu haben. Dies ist aber ein geometrischer Effekt der Beobachtung aufgrund unterschiedlich langer Lichtlaufzeit.
Die Phasen- oder Gruppengeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen kann in manchen Fällen > c sein; entscheidend für Informationsübertragung und Kausalität ist aber die Signalgeschwindigkeit. Ähnliches gilt für superluminares Tunneln.Die Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie könnten auch von Teilchen erfüllt werden, die sich stets schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so genannten Tachyonen. Diese sind aber rein hypothetisch; es gibt keine experimentellen Hinweise auf ihre Existenz.
== Historische Hintergründe ==
=== Spekulationen über Endlichkeit ===
Die Frage, ob das Licht sich unendlich schnell oder mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet, war bereits in der Philosophie der Antike von Interesse. Licht legt einen Kilometer in nur drei Mikrosekunden zurück. Mit den Beobachtungsmöglichkeiten der Antike ist somit unweigerlich ein Lichtstrahl in dem Moment seines Entstehens scheinbar gleichzeitig bereits an seinem Ziel.
Trotzdem glaubte bereits Empedokles (um 450 v. Chr.), Licht sei etwas, das sich in Bewegung befinde und daher Zeit brauche, um Entfernungen zurückzulegen. Aristoteles meinte dagegen, Licht komme von der bloßen Anwesenheit von Objekten her, sei aber nicht in Bewegung. Er führte an, dass die Geschwindigkeit andernfalls so enorm groß sein müsse, dass sie jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liege. Aufgrund seines Ansehens und Einflusses fand diese Theorie allgemeine Akzeptanz.
Eine altertümliche Vorstellung vom Sehen ging davon aus, dass „Sehstrahlen“ vom Auge emittiert werden. Ein Objekt sollte demnach dann zu sehen sein, wenn diese Lichtstrahlen aus dem Auge darauf träfen. Aufbauend auf dieser Vorstellung, befürwortete auch Heron von Alexandria die aristotelische Theorie. Er führte an, dass die Lichtgeschwindigkeit unendlich groß sein müsse, da man selbst die weit entfernten Sterne sofort sehen kann, sobald man die Augen öffnet.
In der orientalischen Welt war dagegen auch die Idee einer endlichen Lichtgeschwindigkeit verbreitet. Insbesondere folgten die persischen Philosophen und Wissenschaftler Avicenna und Alhazen (beide um das Jahr 1000) dieser Idee, blieben damit aber gegenüber der Anhängerschaft der aristotelischen Theorie in der Minderheit.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts glaubte der Astronom Johannes Kepler, dass die Lichtgeschwindigkeit zumindest im Vakuum unendlich sei, da der leere Raum für Licht kein Hindernis darstelle. Hier scheint schon die Idee auf, dass die Geschwindigkeit eines Lichtstrahls vom durchquerten Medium abhängig sein könnte.
Francis Bacon argumentierte, dass das Licht nicht notwendigerweise unendlich schnell sein müsse, sondern vielleicht nur schneller als wahrnehmbar.
René Descartes ging von einer unendlich großen Lichtgeschwindigkeit aus. Sonne, Mond und Erde liegen während einer Sonnenfinsternis in einer Linie. Descartes argumentierte, dass diese Himmelskörper für einen Beobachter zu diesem Zeitpunkt scheinbar nicht in Reihe stünden, wenn die Lichtgeschwindigkeit endlich sei. Da ein solcher Effekt nie beobachtet wurde, sah er sich in seiner Annahme bestätigt. Descartes glaubte derart stark an eine unendlich große Lichtgeschwindigkeit, dass er überzeugt war, sein Weltbild würde zusammenbrechen, wenn sie endlich wäre.
Dem standen um das Jahr 1700 die Theorien von Isaac Newton und Christiaan Huygens mit endlicher Lichtgeschwindigkeit gegenüber. Newton sah Licht als einen Strom von Teilchen an, während Huygens Licht als eine Welle deutete. Beide konnten das Brechungsgesetz erklären, indem sie die Lichtgeschwindigkeit proportional (Newton) bzw. umgekehrt proportional (Huygens) zum Brechungsindex ansetzten. Newtons Vorstellung galt als widerlegt, seitdem im 19. Jahrhundert Interferenz und Beugung beobachtet und die Geschwindigkeit in Medien gemessen werden konnten.
Da es zu Huygens’ Zeit die erste Messung der Lichtgeschwindigkeit gab, die seiner Meinung nach viel zu hoch war, als dass Körper mit Masse diese erreichen könnten, schlug er mit dem Äther ein elastisches (weder sicht- noch messbares) Hintergrundmedium vor, das die Ausbreitung von Wellen gestatte, ähnlich dem Schall in der Luft.
=== Messung der Lichtgeschwindigkeit ===
Galileo Galilei versuchte um 1600 als Erster, die Geschwindigkeit des Lichts mit wissenschaftlichen Methoden zu messen, indem er sich und einen Gehilfen mit je einer Signallaterne auf zwei Hügel mit bekannter Entfernung postierte. Der Gehilfe sollte Galileis Signal unverzüglich zurückgeben. Mit einer vergleichbaren Methode hatte er bereits erfolgreich die Schallgeschwindigkeit bestimmt. Zu seinem Erstaunen verblieb nach Abzug der Reaktionszeit des Gehilfen keine wiederholbar messbare Zeit. Dies änderte sich auch nicht, als die Distanz bis auf maximal mögliche Sichtweite der Laternen erhöht wurde. Isaac Beeckman schlug 1629 eine abgewandelte Version des Versuchs vor, bei der das Licht von einem Spiegel reflektiert werden sollte. Descartes kritisierte solche Experimente als überflüssig, da bereits exaktere Beobachtungen mit Hilfe von Sonnenfinsternissen durchgeführt worden seien und ein negatives Ergebnis geliefert hätten. Dennoch wiederholte die Accademia del Cimento das Experiment. Dabei standen die Lampen etwa eine Meile voneinander entfernt. Wieder konnte keine Verzögerung beobachtet werden. Das schien Descartes’ Annahme einer unendlich schnellen Ausbreitung des Lichts zu bestätigen. Galilei und Robert Hooke deuteten das Ergebnis dagegen so, dass die Lichtgeschwindigkeit so hoch sei, dass sie mit diesem Experiment nicht bestimmt werden konnte.
Der erste Nachweis, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich ist, gelang dem dänischen Astronomen Ole Rømer im Jahr 1676. Er fand jahreszeitlich schwankende Laufzeiten für Taktsignale vom Jupiter (Eintritt des Jupitermonds Io in Jupiters Schatten), während diesseitig die Erdrotation als stabile Zeitreferenz diente. Er gab für den Erdbahndurchmesser eine Laufzeit des Lichtes von 22 min an. Der richtige Wert ist kürzer (16 min 38 s). Da Rømer den Durchmesser der Erdbahn nicht kannte, hat er für die Geschwindigkeit des Lichtes keinen Wert angegeben. Dies tat zwei Jahre später Christiaan Huygens. Er bezog die Laufzeitangabe von Rømer auf den von Cassini 1673 zufällig fast richtig angegebenen Durchmesser der Bahn der Erde um die Sonne (siehe Sonnenparallaxe für die schrittweise Verbesserung dieses Wertes) und kam auf eine Lichtgeschwindigkeit von 213.000 km/s.
James Bradley fand 1728 eine andere astronomische Methode, indem er die Schwankungen der Sternpositionen um einen Winkel von 20″ während des Umlaufs der Erde um die Sonne (Aberration) bestimmte. Seine Messungen waren der Versuch, die Parallaxe von Fixsternen zu beobachten, um damit deren Entfernungen zu bestimmen. Daraus berechnete Bradley, dass das Licht
10
210
{\displaystyle 10\,210}
-mal schneller als die Erde bei ihrem Umlauf ist (Messfehler 2 %). Seine Messung (veröffentlicht im Jahr 1729) wurde damals als weiterer Beweis für eine endliche Lichtgeschwindigkeit und – gleichzeitig – für das kopernikanische Weltsystem angesehen. Für die Berechnung der Lichtgeschwindigkeit benötigte er jedoch ebenfalls den Erdbahnradius.
Die erste irdische Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit gelang Armand Fizeau mit der Zahnradmethode. Er sandte 1849 Licht durch ein rotierendes Zahnrad auf einen mehrere Kilometer entfernten Spiegel, der es wieder zurück durch das Zahnrad reflektierte. Je nachdem, wie schnell sich das Zahnrad dreht, fällt das reflektierte Licht, das auf dem Hinweg eine Lücke des Zahnrads passiert hat, entweder auf einen Zahn, oder es gelangt wieder durch eine Lücke, und nur dann sieht man es. Fizeau kam damals auf einen um 5 % zu großen Wert.
Léon Foucault verbesserte 1850 die Methode weiter, indem er mit der Drehspiegelmethode die Messstrecken deutlich verkürzte. Damit konnte er erstmals die Materialabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit nachweisen: Licht breitet sich in anderen Medien langsamer aus als in Luft. Im Experiment fällt Licht auf einen rotierenden Spiegel. Von diesem wird es auf einen festen Spiegel abgelenkt, wo es zurück auf den rotierenden Spiegel reflektiert wird. Da sich der Drehspiegel aber inzwischen weiter gedreht hat, wird der Lichtstrahl nun nicht mehr auf den Ausgangspunkt reflektiert. Durch Messung der Verschiebung des Punktes ist es bei bekannter Drehfrequenz und bekannten Abständen möglich, die Lichtgeschwindigkeit zu bestimmen. Foucault veröffentlichte sein Ergebnis 1862 und gab
c
{\displaystyle c}
zu
298
000
{\displaystyle 298\,000}
Kilometer pro Sekunde an.
Simon Newcomb und Albert A. Michelson bauten wiederum auf Foucaults Apparatur auf und verbesserten das Prinzip nochmals. 1926 benutzte Michelson in Kalifornien ebenfalls rotierende Prismenspiegel, um einen Lichtstrahl vom Mount Wilson zum Mount San Antonio und zurückzuschicken. Er erhielt
299
796
km/s
{\displaystyle 299\,796\;{\text{km/s}}}
, nur 12 ppm über dem heutigen Wert.
=== Zur Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ===
==== Erste Überlegungen ====
James Bradley konnte mit seinen Untersuchungen zur Aberration von 1728 nicht nur die Lichtgeschwindigkeit selbst bestimmen, sondern auch erstmals Aussagen über ihre Konstanz treffen. Er beobachtete, dass die Aberration für alle Sterne in der gleichen Blickrichtung während eines Jahres in identischer Weise variiert. Daraus schloss er, dass die Geschwindigkeit, mit der Sternenlicht auf der Erde eintrifft, im Rahmen seiner Messgenauigkeit von etwa einem Prozent für alle Sterne gleich ist.
Um zu klären, ob diese Eintreffgeschwindigkeit davon abhängt, ob sich die Erde auf ihrem Weg um die Sonne auf einen Stern zu oder von ihm weg bewegt, reichte diese Messgenauigkeit allerdings nicht aus. Diese Frage untersuchte zuerst François Arago 1810 anhand der Messung des Ablenkwinkels von Sternenlicht in einem Glasprisma. Nach der damals akzeptierten Korpuskulartheorie des Lichtes erwartete er eine Veränderung dieses Winkels in einer messbaren Größenordnung, da sich die Geschwindigkeit des einfallenden Sternenlichts zu der Geschwindigkeit der Erde auf ihrem Weg um die Sonne addieren sollte. Es zeigten sich jedoch im Jahresverlauf keine messbaren Schwankungen des Ablenkwinkels. Arago erklärte dieses Ergebnis mit der These, dass Sternenlicht ein Gemisch aus verschiedenen Geschwindigkeiten sei, während das menschliche Auge daraus nur eine einzige wahrnehmen könne. Aus heutiger Sicht kann seine Messung jedoch als erster experimenteller Nachweis der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit betrachtet werden.
Mit dem Aufkommen der Vorstellung von Licht als Wellenphänomen formulierte Augustin Fresnel 1818 eine andere Interpretation des Arago-Experiments. Danach schloss die Analogie zwischen mechanischen Wellen und Lichtwellen die Vorstellung ein, dass sich Lichtwellen in einem gewissen Medium ausbreiten müssen, dem sogenannten Äther, so wie sich auch Wasserwellen im Wasser ausbreiten. Der Äther sollte dabei den Bezugspunkt für ein bevorzugtes Inertialsystem darstellen. Fresnel erklärte das Ergebnis von Arago durch die Annahme, dass dieser Äther im Inneren von Materie teilweise mitgeführt werde, in diesem Fall im verwendeten Prisma. Dabei würde der Grad der Mitführung in geeigneter Weise vom Brechungsindex abhängen.
==== Michelson-Morley-Experiment ====
1887 führten Albert A. Michelson und Edward W. Morley ein bedeutsames Experiment zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Erde relativ zu diesem angenommenen Äther durch. Dazu wurde die Abhängigkeit der Lichtlaufzeiten vom Bewegungszustand des Äthers untersucht. Das Experiment ergab wider Erwarten stets die gleichen Laufzeiten. Auch Wiederholungen des Experiments zu verschiedenen Phasen des Erdumlaufs um die Sonne führten stets zu dem gleichen Ergebnis. Eine Erklärung anhand einer weiträumigen Äthermitführung durch die Erde als Ganzes scheiterte daran, dass es in diesem Fall keine Aberration bei Sternen senkrecht zur Bewegungsrichtung der Erde gäbe.
Eine mit der maxwellschen Elektrodynamik verträgliche Lösung wurde mit der von George FitzGerald und Hendrik Lorentz vorgeschlagenen Längenkontraktion erreicht. Lorentz und Henri Poincaré entwickelten diese Hypothese durch Einführung der Zeitdilatation weiter, wobei sie dies jedoch mit der Annahme eines hypothetischen Äthers kombinierten, dessen Bewegungszustand prinzipiell nicht ermittelbar gewesen wäre. Das bedeutet, dass in dieser Theorie die Lichtgeschwindigkeit „real“ nur im Äthersystem konstant ist, unabhängig von der Bewegung der Quelle und des Beobachters. Das heißt unter anderem, dass die maxwellschen Gleichungen nur im Äthersystem die gewohnte Form annehmen sollten. Dies wurde von Lorentz und Poincaré jedoch durch die Einführung der Lorentz-Transformation so berücksichtigt, dass die „scheinbare“ Lichtgeschwindigkeit auch in allen anderen Bezugssystemen konstant ist und somit jeder von sich behaupten kann, im Äther zu ruhen. (Die Lorentz-Transformation wurde also nur als mathematische Konstruktion interpretiert, während Einstein (1905) auf ihrer Grundlage alle bisherigen Vorstellungen über die Struktur der Raumzeit revolutionieren sollte, siehe unten). Poincaré stellte noch 1904 fest, das Hauptmerkmal der lorentzschen Theorie sei die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter, unabhängig von ihrem Bewegungszustand relativ zum Äther (siehe lorentzsche Äthertheorie). Das bedeutet, auch für Poincaré existierte der Äther.
Jedoch war eine Theorie, in der das Äthersystem zwar als existent angenommen wurde, aber unentdeckbar blieb, sehr unbefriedigend. Eine Lösung des Dilemmas fand Einstein (1905) mit der Speziellen Relativitätstheorie, indem er die konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit aufgab und durch das Relativitätsprinzip und die Lichtkonstanz als Ausgangspunkte bzw. Postulate seiner Theorie ersetzte. Diese Lösung war formal identisch mit der Theorie von H. A. Lorentz, jedoch kam sie wie bei einer Emissionstheorie ganz ohne „Äther“ aus. Die Lichtkonstanz entnahm er dem lorentzschen Äther, wie er 1910 ausführte, wobei er im Gegensatz zu Poincaré und Lorentz erklärte, dass gerade wegen der Gleichberechtigung der Bezugssysteme und damit der Unentdeckbarkeit des Äthers der Ätherbegriff überhaupt sinnlos sei. 1912 fasste er dies so zusammen:
Die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Geschwindigkeit des gleichförmig bewegten Beobachters ist also Grundlage der Relativitätstheorie. Diese Theorie ist seit Jahrzehnten aufgrund vieler sehr genauer Experimente allgemein akzeptiert.
==== Unabhängigkeit von der Quelle ====
Mit dem Michelson-Morley-Experiment wurde zwar die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit für einen mit der Lichtquelle mitbewegten Beobachter bestätigt, jedoch keineswegs für einen nicht mit der Quelle mitbewegten Beobachter. Denn das Experiment kann auch mit einer Emissionstheorie erklärt werden, wonach die Lichtgeschwindigkeit in allen Bezugssystemen lediglich konstant relativ zur Emissionsquelle ist (das heißt, in Systemen, wo sich die Quelle mit ±v bewegt, würde sich das Licht folglich mit c ± v ausbreiten). Auch Albert Einstein zog vor 1905 eine solche Hypothese kurz in Betracht, was auch der Grund war, dass er in seinen Schriften das MM-Experiment zwar immer als Bestätigung des Relativitätsprinzips, aber nicht als Bestätigung der Lichtkonstanz verwendete.Jedoch würde eine Emissionstheorie eine völlige Reformulierung der Elektrodynamik erfordern, wogegen der große Erfolg von Maxwells Theorie sprach. Die Emissionstheorie wurde auch experimentell widerlegt. Beispielsweise müssten die von der Erde aus beobachteten Bahnen von Doppelsternen bei unterschiedlichen Lichtgeschwindigkeiten verzerrt ausfallen, was jedoch nicht beobachtet wurde. Beim Zerfall von sich mit annähernd
c
{\displaystyle c}
bewegenden π0-Mesonen hätten die dabei entstehenden Photonen die Geschwindigkeit der Mesonen übernehmen und sich annähernd mit doppelter Lichtgeschwindigkeit bewegen sollen, was jedoch nicht der Fall war. Auch der Sagnac-Effekt demonstriert die Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung der Quelle. Alle diese Experimente finden ihre Erklärung in der Speziellen Relativitätstheorie, die u. a. aussagt: Licht überholt nicht Licht.
==== Variable Lichtgeschwindigkeit und Konstanz im beobachtbaren Universum ====
Obwohl die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit experimentell nachgewiesen wurde, gibt es bis jetzt keine ausreichend überzeugende Erklärung für ihre Konstanz und ihren speziellen Wert. Die Schleifenquantengravitation beispielsweise diktiert, dass die Geschwindigkeit eines Photons nicht als Konstante definiert werden kann, sondern dass ihr Wert von der Photonfrequenz abhängt. Tatsächlich gibt es Theorien, dass die Lichtgeschwindigkeit sich mit dem Alter des Universums ändert und dass sie im frühen Universum nicht konstant war. Albrecht und Magueijo zeigen, dass die kosmologischen Evolutionsgleichungen zusammen mit einer variablen Lichtgeschwindigkeit die Probleme des Horizonts, der Flachheit und der kosmologischen Konstante lösen können. Die Annahme einer Raumzeit mit drei Raum- und zwei Zeitdimensionen gibt eine natürliche Erklärung für die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im beobachtbaren Universum und auch dafür, dass die Lichtgeschwindigkeit im frühen Universum variierte.
=== Bedeutung für Raum und Zeit ===
Mit der Entwicklung der Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass
c
{\displaystyle c}
von fundamentaler Bedeutung für die Struktur von Raum und Zeit ist – weit über elektrodynamische Phänomene hinausgehend. Auch die Gravitation sollte sich mit dieser Geschwindigkeit ausbreiten. Nach dem direkten Nachweis von Gravitationswellen konnte dies 2017 mit hoher Präzision bestätigt werden. Eine Analyse des Ereignisses GW170817 zeigte, dass die relative Abweichung höchstens zwischen -3e-15 und +7e-16 liegen kann.
== Siehe auch ==
Einweg-Lichtgeschwindigkeit
Scharnhorst-Effekt
== Literatur ==
Originalarbeiten:
Ole Rømer: Démonstration touchant le mouvement de la lumière. In: Journal des Sçavans. de Boccard, Paris 1676 (PDF – Engl. Version (Memento vom 21. Dezember 2008 im Internet Archive)).
Edmund Halley: Monsieur Cassini, his New and Exact Tables for the Eclipses of the First Satellite of Jupiter, reduced to the Julian Stile and Meridian of London. In: Philosophical Transactions. Band 18. London 1694, S. 237–256 (archive.org).
H. L. Fizeau: Sur une expérience relative à la vitesse de propagation de la lumière. In: Comptes rendus de l’Académie des sciences. Band 29. Gauthier-Villars, Paris 1849 (academie-sciences.fr [PDF]).
J. L. Foucault: Détermination expérimentale de la vitesse de la lumière, parallaxe du Soleil. In: Comptes Rendus. Band 55. Gauthier-Villars, 1862, ISSN 0001-4036.
A. A. Michelson: Experimental Determination of the Velocity of Light. In: Proceedings of the American Association for the Advancement of Science. Philadelphia 1878 (Projekt Gutenberg).
Simon Newcomb: The Velocity of Light. In: Nature. London 13. Mai 1886.
Joseph Perrotin: Sur la vitesse de la lumière. In: Comptes Rendus. Nr. 131. Gauthier-Villars, 1900, ISSN 0001-4036.
A. A. Michelson, F. G. Pease, F. Pearson: Measurement of the Velocity of Light In a Partial Vacuum. In: Astrophysical Journal. Band 81. Univ. Press, 1935, ISSN 0004-637X, S. 100–101. Sonst:
J. H. Sanders (Hrsg. und Einleitung): Die Lichtgeschwindigkeit. Einführung und Originaltexte. Reihe WTB Wissenschaftliche Taschenbücher, Band 57, Akademie Verlag/Vieweg 1970.
Subhash Kak: The Speed of Light and Puranic Cosmology. Annals Bhandarkar Oriental Research Institute 80, 1999, S. 113–123, arxiv:physics/9804020.S. Débarbat, C. Wilson: The galilean satellites of Jupiter from Galileo to Cassini, Römer and Bradley. In: René Taton (Hrsg.): Planetary astronomy from the Renaissance to the rise of astrophysics. Part A: Tycho Brahe to Newton. Univ. Press, Cambridge 1989, ISBN 0-521-24254-1, S. 144–157.
G. Sarton: Discovery of the aberration of light (with facsimile of Bradley’s letter to Halley 1729). In: Isis. Band 16, Nr. 2. Univ. Press, November 1931, ISSN 0021-1753, S. 233–248.
George F.R. Ellis, Jean-Philippe Uzan: ‘c’ is the speed of light, isn’t it? In: Am J Phys. 73, 2005, S. 240–247, doi:10.1119/1.1819929, arxiv:gr-qc/0305099.
Jürgen Bortfeldt: Units and fundamental constants in physics and chemistry, Subvolume B. In: B. Kramer, Werner Martienssen (Hrsg.): Numerical data and functional relationships in science and technology. Band 1. Springer, Berlin 1992, ISBN 3-540-54258-2.
John H. Spence: Lightspeed: The Ghostly Aether and the Race to Measure the Speed of Light. Oxford UP 2019.
== Weblinks ==
Literatur von und über Lichtgeschwindigkeit im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Simulation eines Flugs mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch das Stonehenge.
Fast lichtschnell durch die Stadt. Eine Spritztour durch die Tübinger Altstadt bei simulierter Beinahe-Lichtgeschwindigkeit.
Gibt es Überlichtgeschwindigkeit? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 7. Juli 2004.
Kann man mit Lichtgeschwindigkeit reisen? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri (ca. 15 Minuten). Erstmals ausgestrahlt am 5. Jan. 2005.
Visualisierung der Lichtgeschwindigkeit mittels Femtosekundenlaserpulsen in extremer Zeitlupe
== Einzelnachweise und Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Lichtgeschwindigkeit |
Anna Andrejewna Achmatowa | = Anna Andrejewna Achmatowa =
Anna Andrejewna Achmatowa (gebürtige Gorenko; russisch Анна Андреевна Ахматова bzw. Горенко, wiss. Transliteration Anna Andreevna Achmatova / Gorenko; * 11.jul. / 23. Juni 1889greg. in Bolschoi Fontan bei Odessa, Russisches Kaiserreich; † 5. März 1966 in Domodedowo bei Moskau, Russische SFSR) war eine russische Dichterin und Schriftstellerin. Sie gilt als die Seele des Silbernen Zeitalters in der russischen Literatur und als bedeutende russische Dichterin. Ihr späteres Schaffen ist vor allem von den Schrecken der stalinistischen Herrschaft geprägt, während der sie selbst Schreibverbot hatte, ihr Sohn und ihr Mann inhaftiert waren und viele ihrer Freunde ums Leben kamen.
== Leben ==
=== Kindheit und Jugend ===
Anna Gorenko wurde am 23. Juni 1889 in dem Dorf Bolschoi Fontan bei Odessa als drittes von sechs Kindern in die Familie eines Marine-Ingenieurs geboren; die Familie übersiedelte aber bereits 1890 nach Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg, wo Anna bis zu ihrem 16. Lebensjahr in sozial privilegierter Umgebung aufwuchs. Sie beschrieb später ihre Kindheitserinnerungen an die Parks, die Pferderennbahn und den alten Bahnhof des Ortes. Die Sommermonate verbrachte die Familie meist bei Sewastopol am Schwarzen Meer. Früh lernte sie in der Schule auch Französisch. Ihre ersten Gedichte schrieb sie im Alter von elf Jahren nicht unter dem Namen Gorenko, da ihr Vater um seinen guten Ruf fürchtete – sie wählte den Namen ihres bulgarischen Urgroßvaters Chan Achmat als Pseudonym.
Wie Puschkin 90 Jahre vor ihr erhielt Achmatowa ihre Schulausbildung im exklusiven Lyzeum von Zarskoje Selo. Ihr Verhältnis zu dem wichtigsten russischen Dichter zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten: Im September 1911, zum 100-jährigen Jubiläum des Lyzeums, verfasste sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel Der dunkelhäutige Knabe schlenderte durch die Alleen, in dem es Anspielungen auf den jungen Puschkin gibt. Bereits in diesem Gedicht wird die typische Metonymietechnik der Achmatowa deutlich: Ohne Lyzeum und Puschkin beim Namen zu nennen, wird durch typische Eigenschaften und Gegenstände (hier: dunkelhäutig, der Lyzeums-Dreispitz usw.) klar, wer und was gemeint ist.
Nachdem ihre Eltern sich 1905 getrennt hatten, lebte sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern ein Jahr lang in Jewpatorija auf der Krim. Das letzte Schuljahr verbrachte sie schließlich am Kiewer Funduklejew-Gymnasium. Von 1907 bis 1910 studierte Achmatowa in Kiew in „Höheren Frauenkursen“ Jura, wobei sie sich vor allem für die Grundkurse in Rechtsgeschichte und Latein interessierte und den rein juristischen Fachthemen gleichgültig gegenüberstand.
Im Jahr 1910 heiratete sie den Dichter Nikolai Gumiljow, den sie schon seit ihrer Schulzeit kannte und der ihr lange und verzweifelt den Hof gemacht hatte. Es folgten gemeinsame Reisen nach Paris und Italien, wo sie u. a. den Künstler Modigliani traf – seine Zeichnungen der Achmatowa sind später berühmt geworden – und Zeugin der ersten triumphalen Erfolge der russischen Balletttänzer in Westeuropa wurde. Malerei und Architektur Italiens beeindruckten sie tief.
=== Vor der Revolution ===
Achmatowa, Gumiljow und Ossip Mandelstam wurden zu den zentralen Vertretern der Literaturbewegung des Akmeismus (von griech. akme, Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit). Die so genannte „Zeche“ um diese Dichter bildete eine Gegenströmung zum Symbolismus, dessen Metaphorik des Jenseitigen, Metaphysischen die Akmeisten eine eigene Poesie jedes „irdischen Dings“ und eine entschiedene Diesseitigkeit entgegensetzten. Achmatowas Gedichte zeichnen sich daher durch eine einfache und prägnante Sprache aus. Anders als bei den „esoterisch“ angehauchten Treffen der Symbolisten waren die Zusammenkünfte der Akmeisten eher „Workshops“, in denen u. a. neue Schreibtechniken erarbeitet wurden.
Neben Puschkin fand Achmatowa ihre dichterischen Wurzeln bei Innokenti Annenski (1856–1909), einem Vorläufer der Akmeisten, außerdem bei dem französischen Symbolisten Verlaine und dem jungen Majakowski.
Nach ihrer Rückkehr nach Sankt Petersburg studierte Achmatowa Literaturgeschichte und schrieb die Gedichte, die in ihren ersten Gedichtband Abend (Вечер, 1912) eingingen. Es waren vor allem Liebesgedichte, in denen sie Trennung, Kummer und Liebesleid beschrieb wie beispielsweise in der letzten Strophe ihres Gedichtes „Lied von der letzten Begegnung“:
Sie verwendete in ihren lakonischen, knappen Gedichten Alltagssprache, in denen Gefühle gestisch angedeutet werden. Ein linker Handschuh, der aus Versehen auf die rechte Hand gestreift wird, wird zum Ausdruck der Verzweiflung und Verwirrtheit der Beschriebenen, die äußerlich ruhig bleibt:
Im Oktober 1912 wurde Achmatowas einziger Sohn Lew geboren. Schon 1914 erschien ihr zweites Buch, Rosenkranz (Четки), das trotz der Ereignisse des beginnenden Weltkrieges, wie schon der erste Band, ein großer Erfolg wurde. Diese Sammlung enthielt auch das im Januar 1914 entstandene Gedicht Für Alexander Blok (Александру Блоку), ein Indiz für ihre enge Beziehung zu dem Dichter des Symbolismus, die sie immer wieder als platonisch, „ausschließlich poetisch“ bezeichnete. Auch von Alexander Blok gibt es eine Reihe von Gedichten, die der Achmatowa gewidmet sind (z. B. An Anna Achmatowa, Анне Ахматовой). Ihre erste Begegnung hatte 1913 stattgefunden. Während der Symbolist in seinen Gedichten über Weiblichkeit und Schönheit sinnierte, wählte Achmatowa ihren gewohnt sparsamen, nüchternen Stil: „Ich habe den Dichter besucht. Gerade Mittag. Sonntag. Das Zimmer geräumig. Vor den Fenstern Frost.“ Allerdings schildert das unmittelbar vor diesem im Rosenkranz gedruckte Gedicht (Der Gast, Гость, Januar 1914) eine zärtliche Begegnung mit einem Mann, dessen Schilderung auf Blok zutraf. Diese Übereinstimmungen führten gelegentlich zu der Vermutung, dass die Beziehung der beiden Dichter intimer war als offiziell bekannt.
Auch der nächste Gedichtband, Die weiße Schar (Белая стая), fiel bei seinem Erscheinen 1917 in eine historisch unruhige Zeit. Die chaotischen Zustände zu Beginn der Revolution schmälerten den Verkaufserfolg des Buches.
=== Repressionen in der jungen Sowjetunion ===
Nach der Oktoberrevolution arbeitete Achmatowa als Bibliothekarin im Landwirtschaftlichen Institut. Von 1922 an bis 1940 wurden ihre Gedichte nicht mehr gedruckt, da sie den kommunistischen Machthabern zu wenig gesellschaftlich relevant, zu privat waren. In der Sowjetenzyklopädie hieß es, ihre Gedichte seien mit religiös-mystischen und erotischen Motiven überladen, mit denen sie die Jugend vergifte. Ihre älteren Werke fanden nur unter der Hand im Samisdat Verbreitung. Lew Kopelew schrieb über sie: Ihre Verse blieben im Gedächtnis haften, wurden je nach Stimmung wieder hervorgeholt … Damals war man noch bereit zuzugestehen, daß auch Klassenfeinde und unversöhnliche weltanschauliche Gegner selbstlos, edelmütig und tapfer sein konnten. Ein derartiger „liberaler Objektivismus“ war noch keine Todsünde, noch keine Straftat.
Ihr Ehemann Gumiljow, von dem sie sich 1918 hatte scheiden lassen, wurde 1921 wegen angeblicher konterrevolutionärer Aktivitäten erschossen.
Dem Mosaizist Boris Anrep, dem sie sehr nahestand, wollte sie nicht ins westliche Ausland folgen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, ihre Heimat und ihr Volk zu verlassen. Ihre nächste Liebe, der Literaturkritiker Nedobrowo, starb 1919 an Schwindsucht. Nach einer zweiten, von 1918 bis 1922 dauernden und unglücklich verlaufenden Ehe mit dem Assyriologen und Übersetzer Wladimir Schileiko (1891–1930), der ihre Gedichte zum Teil verbrannt haben soll, lebte sie ab 1926 bis 1938 mit dem Kunsthistoriker Nikolai Nikolajewitsch Punin (1888–1953) zusammen, wobei das Paar zum Teil in einer angespannten Situation in einer Wohnung mit Punins Noch-Ehefrau und deren Tochter wohnte. Oftmals lebte Achmatowa in dieser Zeit buchstäblich von Brot und Tee, wobei sie ihr Selbstbewusstsein und ihren eigenen Stil nie aufgab.
=== 1930 bis zum Ausbruch des Krieges ===
Sowohl ihr Sohn Lew als auch ihr Ehemann Nikolai Punin wurden in den 1930er Jahren mehrfach verhaftet. Ihr Sohn wurde nach dem anfänglichen Todesurteil in die Verbannung geschickt und erst im April 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, endgültig nach Hause entlassen. Insgesamt verbrachte er anderthalb Jahrzehnte in Lagerhaft. Ihr Ehemann Nikolai Punin starb 1953 im Arbeitslager Workuta.
In der Zeit der Inhaftierung ihres Sohnes verbrachte Achmatowa viel Zeit in den Warteschlangen der Angehörigen vor dem Gefängnis. In Requiem, das sie in dieser Zeit zu schreiben begann und das ein einziges Klagelied gegen den Stalin-Terror ist, schrieb sie anstelle eines Vorworts folgenden kurzen Prosatext:
Für Achmatowa waren diese Jahre ein nicht endender Albtraum. Sie rechnete stets damit, dass an ihrem Sohn das Todesurteil vollstreckt wurde. Die neben Achmatowa andere bedeutende russische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Marina Zwetajewa, die Achmatowa mit dem Zitat „Anna von ganz Russland“ ehrte, erhängte sich 1941 völlig verarmt. Freunde verschwanden, darunter ihr jahrelanger Wegbegleiter Ossip Mandelstam, der während seiner Verhöre in der Lubjanka im Jahre 1934 seine Gedichte über Stalin sogar für seine Folterknechte niederschrieb. Trotzdem wurde er nicht wie damals üblich in den Gulag geschickt, sondern von Stalin, dem der Dichter zur damaligen Zeit tot gefährlicher gewesen wäre als lebendig, versucht ihn zu isolieren, aber am Leben zu erhalten. Die Mandelstams wurden daraufhin ins Exil nach Woronesch, 400 km südlich von Moskau, verbannt und durften 1937 wieder ins Moskauer Gebiet – wenn auch nicht in die Hauptstadt selbst – zurückkehren. Im Herbst desselben Jahres besuchten die Mandelstams Achmatowa im Fontänenhaus in Leningrad, wo sie auf dem Sofa ihres Zimmers schlafen mussten, da sie keine eigene Unterkunft hatten. Achmatowa schrieb während dieses letzten Besuches der beiden ein Gedicht für Ossip Mandelstam, den sie wie einen Zwillingsbruder ansah. Das Gedicht handelte von der Stadt – Leningrad –, welche sie beide liebten.
Mandelstam wurde jedoch sechs Monate später erneut verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit im ostsibirischen Kolyma verurteilt. Auf der Fahrt nach Kolyma kam er, wie im Gedicht beschrieben, am Jenissei sowie an den Städten Tschita und Swobodny vorbei und wurde schließlich in einem Lager bei Wladiwostok am Japanischen Meer inhaftiert, wo er am 26. Dezember 1938 einem Herzinfarkt erlag. Als ihr Sohn in ein weiter nördliches Lager verlegt wird und sie sich bei Bekannten für ihn Mütze, Schal und Stiefel zusammenbettelt, um ihm dort ein Überleben zu ermöglichen, wünscht sie sich selbst in einem Gedicht den Tod:
In Russland wird Anna Achmatowa auch deswegen verehrt, weil sie eine Sprache fand, die den Terror dieser Jahre in Worte fasste. Im Epilog zu Requiem schrieb sie:
Und wenige Gedichtstrophen später bittet sie darum, wenn man ihr einstmals ein Denkmal baue, dann solle dies nicht in einem Park geschehen, sondern in jenem Gefängnishof, in dem sie hunderte von Stunden gewartet habe, um Nachrichten über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren. Auch ihr Denkmal solle den schwarzen Gefängnis-LKW sehen, der die Häftlinge abtransportiert und Zeuge des Leids der Angehörigen sein.
=== Kriegs- und Nachkriegszeit ===
Obwohl ihre Bücher seit Jahren nicht mehr erschienen, war Achmatowa in der russischen Bevölkerung noch so populär, dass es um den Gedichtband „Aus sechs Büchern“ (Из шести книг), der im Jahr 1940 erscheinen durfte, in den Läden zu Prügeleien kommen konnte. Die unerwartete Drucklegung ihrer Werke geschah auf persönlichen Befehl von Stalin, nachdem sich offenbar namhafte Künstlerkollegen – angeblich hatte auch Swetlana Allilujewa bei ihrem Vater interveniert – für sie eingesetzt hatten. Der Band enthielt Arbeiten aus den Jahren 1924 bis 1940 sowie den neuen Zyklus Die Weide (Ива).
Bei Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges lebte die Dichterin noch in Leningrad (wie Sankt Petersburg inzwischen hieß), wurde jedoch nach Beginn der deutschen Blockade 1941 mit anderen Schriftstellern noch über Moskau nach Taschkent ausgeflogen, wo sie Kriegsverletzten in den Krankenhäusern Gedichte vortrug. Vereinzelte Gedichte wurden als „patriotische Beiträge zum vaterländischen Krieg“ offiziell noch akzeptiert; 1942 erschien ihr patriotisches Gedicht Tapferkeit (im Februar 1942 von der Sowjetpresse veröffentlicht) sogar in der Prawda:
Lew Kopelew beschreibt den Eindruck, den Achmatowas Gedicht bei ihm hinterließ, folgendermaßen: Das schlichte, klare Gedicht klang vernehmlicher als all die kriegerischen, trommelnden, trompetenden, donnernden Verse … Damals schien mir Achmatowas Gedicht vor allem als eine Äußerung der großen einigenden Kraft unseres Krieges. Auch sie, die feine, schöne Dame, war mit uns, so wie die alten Georgsordenkavaliere …, die aufgerufen hatten, der Roten Armee zu helfen.
Im Juni 1944 konnte sie in ihr geliebtes, jedoch in der Zwischenzeit völlig verändertes Leningrad zurückkehren. Der Krieg und die Repressionspolitik des kommunistischen Gouverneurs Andrei Schdanow hatten der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Achmatowas Bedrückung und Niedergeschlagenheit fanden Einzug in ihre Prosaskizzen aus dieser Zeit, Drei Fliederbäume (Три сирени) und Zu Gast beim Tod (В гостях у смерти), die in dieser Zeit entstanden.
Schon bald jedoch spürte auch sie die Auswirkungen der kulturpolitischen Hetzkampagnen der Schdanowschtschina – 1946 schloss man sie als Vertreterin des „ideenlosen reaktionären Sumpfes“ aus dem sowjetischen Schriftstellerverband aus und vernichtete zwei ihrer neuen Gedichtbände. Der Kultursekretär des Zentralkomitees (ZK), Andrei Schdanow, brandmarkte sie öffentlich in einer Rede als „halb Nonne, halb Dirne oder besser eine Dirnen-Nonne, deren Sünde mit Gebeten durchtränkt sei“. Für dieses Verdikt war aus Anna Achmatowas Sicht ihre kurze Beziehung zu Isaiah Berlin verantwortlich, den sie 1945/46 in Moskau kennenlernte, als der englische Philosoph und Historiker Mitarbeiter der britischen Botschaft in Moskau war. Für sie wurde der jüngere Mann zum „Gast aus der Zukunft“ und sie widmete ihm die Liebesgedichte, die sie in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hatte. Sie selbst traf ihn nach der kurzen Begegnung 1946 erst im Jahre 1965 wieder, als ihr in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.
Anna Achmatowa arbeitete seitdem überwiegend an literarischen Übersetzungen und Übertragungen; zu den von ihr übersetzten Dichtern gehörten Victor Hugo, Rabindranath Tagore und Giacomo Leopardi. Das Schreibverbot bestand bis 1950, als zunächst in der Zeitschrift Ogonjok eine Gedichtreihe unter dem Thema Ruhm dem Frieden (Слава миру) erschienen; diese Gedichte – darunter zwei Lobgedichte auf Stalin – gelten allerdings als erpresste und eher peinliche Arbeiten. Erst mit Beginn der Tauwetter-Periode erschienen wieder bedeutsamere Gedichte.
=== Rehabilitation ===
Nach Stalins Tod erfolgte die schrittweise Rehabilitation der Dichterin; sie durfte wieder arbeiten und wurde 1958 wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen. Als der amerikanische Dichter Robert Frost im September 1962 als Abgesandter des Präsidenten Kennedy das erste Mal nach Russland kommt, wünscht er, dass man ihn mit Anna Achmatowa bekannt macht. Dieser Wunsch wird ihm gewährt. Anna Achmatowa erlebte diese Begegnung in ironischer Distanz:
Ihr Versepos „Poem ohne Held“ (Поэма без героя), an dem sie 22 Jahre gearbeitet hatte und das als ihr wichtigstes Werk gilt, erschien bereits 1960/61 in einem New Yorker Literaturalmanach, 1963 in Russland. Es kann in der literarischen Tradition der russischen Versepen gesehen werden, die Puschkin mit Eugen Onegin 1833 begründete und die auch Alexander Blok aufgriff.
Mehr noch als sonst arbeitete sie hier mit komplexen strukturellen und zeitlichen Verschlüsselungen, die einerseits ihren persönlichen Stil ausmachten, andererseits in einer Zeit der Zensur und Unterdrückung schlicht dem Selbstschutz dienten. Und so wurde der Gedichtband zwar veröffentlicht, jedoch gab der zuständige Redakteur Schwierigkeiten beim Verstehen des Textes offen zu.
1964 durfte Anna Achmatowa in Taormina auf Sizilien den Ätna-Taormina-Preis annehmen. Auf dieser Reise traf sie in Rom mit Ingeborg Bachmann zusammen, die ihr anschließend das Gedicht Wahrlich widmete.
1965 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford und im selben Jahr war sie für den Literaturnobelpreis nominiert. Zwei Jahre vor ihrem Tod wurde sie Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, aus dem man sie 1946 ausgeschlossen hatte. Ihr Gedichtzyklus Requiem, der den Terror unter Stalins Herrschaft anklagt, konnte in der Sowjetunion jedoch erst im Jahre 1987 erscheinen. Die Veröffentlichung wurde als Ergebnis der Perestroika gefeiert. Personen, denen sie vertraute, hatte sie seit den 1930er Jahren immer wieder daraus Gedichte zitiert. Ihr Schriftstellerkollege Lew Kopelew schildert, wie sie ihm im Mai 1962 nach der Bitte an ihn, sich ihre Gedichte nicht aufzuschreiben, Gedichte aus Requiem rezitierte:
Am 5. März 1966, dem 13. Jahrestag von Stalins Tod, starb Anna Achmatowa in einem Erholungsheim in Domodedowo bei Moskau. Die Moskauer Zeitungen nannten sie in ihren Nachrufen eine überragende Schriftstellerin und Lyrikerin. Ihr dichterischer Einfluss auf jüngere Kollegen zeigte sich insbesondere bei Joseph Brodsky.
Anna Achmatowas Grab liegt in der Siedlung Komarowo an der Ostsee, unweit ihrer Wahl-Heimatstadt, die heute wieder Sankt Petersburg heißt.
Die Astronominnen Ljudmila Georgijewna Karatschkina und Ljudmila Schurawljowa verliehen ihr zu Ehren 1982 dem Kleinplaneten 3067 den Namen Akhmatova.
== Werke ==
Abend (Вечер). 1912.
Der Rosenkranz (Четки). 1914.
Die weiße Schar (Белая стая). 1917.
Wegerich (Подорожник). 1921.
Anno Domini MCMXXI. 1922.
Aus sechs Büchern (Из шести книг). 1940.
Gedichte 1909 bis 1945. Moskau/Leningrad 1946 (nach der Schdanow-Rede wurde diese Gedichtausgabe vernichtet).
Poem ohne Held (Поэма без героя). 1963.
Requiem. München 1963 (russ.), in der UdSSR erstmals 1987 erschienen.
Lauf der Zeit. 1909–1965. Moskau/Leningrad 1965.
Gesammelte Werke in 2 Bänden. Inter-Language Literary Associates, New York 1965/1967, München 1967/68.
Auswahl. Hrsg. von N. Bannikow. Moskau 1974.
Gedichte und Poeme. Hrsg. von Viktor Shirmunski. Leningrad/Moskau 1976.
Gedichte und Prosa. Hrsg. von B. Drujan. Leningrad 1976. (Die Ausgabe wurde eigentlich von Lydia Tschukowskaja zusammengestellt, aber 1976 durfte ihr Name in der UdSSR nicht mehr öffentlich erscheinen.)
Gedichte. Hrsg. von N. Bannikow. Moskau 1977.
Über Puschkin. Artikel und Notizen. Hrsg. von Emma Gerstein. Leningrad 1977.
== Übersetzungen ==
The Complete Poems of Anna Akhmatova. Übersetzung ins Englische Judith Hemschemeyer. Zephyr Press, Somerville, Mass. 1990, ISBN 0-939010-13-5, 19922, ISBN 0-939010-27-5; Canongate, Edinburgh 1998, ISBN 0-86241-716-3.
Das Echo tönt. Übersetzung Xaver Schaffgotsch. Limes Verlag, Wiesbaden 1964, DNB 571666035.
Requiem. Übersetzung Mary von Holbeck. Possev Verlag, Frankfurt am Main 1964 DNB 571666078 (Paralleldr.); 19682 DNB 740144081 (russ.-dt.).
Gedichte. Übersetzung Hans Baumann. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen b. München 1967, DNB 571666043.
Im Spiegelland – Ausgewählte Gedichte (= Serie Piper. Bd. 833). Hrsg. von Efim Etkind. Piper Verlag, München 1982, ISBN 3-492-02593-5, 19882, ISBN 3-492-10833-4. (Die oberhalb zitierten Gedichtsstrophen sind, bis auf die Strophen zum Tod ihres ersten Mannes, dieser Gedichtssammlung entnommen.)
Requiem. Übersetzung Rosemarie Düring. Oberbaum Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-926409-08-8 (russ.-dt.).
Poem ohne Held. Übersetzung von Bettina Eberspächer. Erinnerungen an Anna Achmatowa. Übersetzung von Kay Borowsky. Hrsg. von Siegfried Heinrichs. Oberbaum Verlag, Berlin 1997, zugl. Lucas Presse, Enger/Ostwestfalen 1997, ISBN 3-926409-40-1 (deutsch/russisch).Poem ohne Held (= Chamäleon. Bd. 9; Akmeismus. Bd. 3). Aus dem Russ. neu übertr. von Alexander Nitzberg. Grupello Verlag, Düsseldorf 2001, ISBN 3-933749-38-7 (deutsch/russisch). [Mit „‚Anmerkungen des Redakteurs‘ (d. h. der Achmatowa)“].
Poem ohne Held. Poeme und Gedichte, russisch und deutsch (= Reclams Universal-Bibliothek. Bd. 795). Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Rainer Kirsch und Sarah Kirsch. Interlinearübersetzungen von Oskar Törne. Übersetzung der Prosatexte von Fritz Mierau, Werner Rode und Eckhard Thiele. Hrsg. von Fritz Mierau. Philipp Reclam jun., Leipzig 19822, OCLC 174708310; Leipzig 1979, OCLC 312173931.
Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe. Übersetzung Alexander Nitzberg. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Olaf Irlenkäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-41082-2; Insel-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-458-20003-1.
Der Abend. 1912. Hrsg. und Übersetzung Kay Borowsky. Staudacher, Horb-Rexingen 2003, ISBN 3-928213-12-1.
Enuma Elisch. Übersetzung Alexander Nitzberg. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2005, ISBN 3-905591-94-4.
Liebesgedichte. Übersetzung Kay Borowsky. Hrsg. von Ulla Hahn. Reclam-Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-010845-1.
== Rezeption ==
Anna Achmatowa lernte Ende 1964 Ingeborg Bachmann kennen, als sie zur Verleihung des Premio Etna-Taormina in Sizilien war. Bachmann, die sie sehr bewunderte, widmete ihr das Gedicht Wahrlich und trug es bei der Preisverleihung am 12. Dezember 1964 im antiken Theater in Taormina zur Begeisterung der Dichterin und der sie begleitenden russischen Delegation vor. Achmatowas Bedeutung für Bachmann wird auch an anderer Stelle deutlich: Bachmanns Entscheidung, sich 1967 vom Piper Verlag zu trennen, war ein Protest dagegen, dass der Verlag Achmatowas Gedichte von dem ehemaligen HJ-Führer Hans Baumann hatte übersetzen lassen.A. Achmatowa und ihr Beitrag zur Kultur wird im Frauen-Bildungskanon von Berg, Meier u. a. 2018 als Beispiel genannt.
== Siehe auch ==
(3067) Akhmatova
== Literatur ==
Joseph Brodsky: Flucht aus Byzanz. Essays. Hanser, München 1988, ISBN 3-446-15279-2 (u. a. ein Essay über Anna Achmatova).
György Dalos: Der Gast aus der Zukunft – Anna Achmatowa und Isaiah Berlin. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, ISBN 3-434-50083-9.
Elaine Feinstein: Anna of all the Russias: A Life of Anna Akhmatova. Weidenfeld & Nicolson, London 2005.
Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Biographie. Rowohlt, Berlin 1993, ISBN 3-87134-058-8.
Wolfgang Hässner: Anna Achmatowa. (Monografie). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-50563-0.
Daniel Henseler: Texte in Bewegung. Anna Achmatovas Spätwerk (= Slawische Literaturen. Band 33). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2004, ISBN 3-631-52300-9 (Dissertation Universität Breisgau 2003).
Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik. Erweiterte Neuauflage. Matthes & Seitz, Berlin 2013, ISBN 978-3-88221-039-2 (zu „Anna Achmatowas Erinnerung“); Beck, München 2000, ISBN 3-406-45859-9.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Pawel Nerler. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-22465-6.
Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Zeitgenossen – Meister – Freunde. Albrecht Knaus, München 1989, ISBN 3-8135-0739-4. (Hier S. 18 f., S. 20, S. 23, ebenfalls die Erzählung über die Begegnung mit Robert Frost.)
Elke Schmitter: Anna Achmatowa. Herzschlag der Erinnerung. In: Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. Bertelsmann, München 2009, ISBN 978-3-570-01048-8.
Lydia Tschukowskaja: Aufzeichnungen über Anna Achmatowa (= Edition Orient – Occident. Band 7). Narr, Tübingen 1987, ISBN 3-87808-269-X.
Solomon Volkov: St. Petersburg. A Cultural History. Free Press, New York 1995, ISBN 0-684-83296-8 (Die beschriebene Zeit von Sankt Petersburg während der Oktoberrevolution fokussiert auf Anna Achmatowa (englisch)).
Birgit Veit: Vertauschte Handschuhe. Eine schlechte Übersetzung versetzt die Lyrikerin Anna Achmatowa stilistisch ins 19. Jahrhundert. In: Berliner Zeitung. Berliner Verlag, Berlin 7. Oktober 2000, ISSN 0947-174X (Zu: Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Olaf Irlenkäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 978-3-518-41082-0 – hieraus die Strophen zum Tod ihres ersten Mannes).
== Weblinks ==
Literatur von und über Anna Andrejewna Achmatowa im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und über Anna Andrejewna Achmatowa in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Anna Andrejewna Achmatowa. In: FemBio. Frauen-Biographieforschung (mit Literaturangaben und Zitaten).
Анна Ахматова »Ты выдумал меня…« (Memento vom 29. Februar 2016 im Internet Archive). Anna Achmatowa »Du hast mich erfunden…« (umfangreichste Ressource [russisch] – Texte von und über Achmatowa, Autografen, Fotos, Museen und Wohnhäuser, Denkmale, Personen).
Original-Gedichte als mp3. (russisch)
Bibliographie der deutschen Übersetzungen (Memento vom 11. September 2017 im Internet Archive)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Andrejewna_Achmatowa |
Käfer | = Käfer =
Die Käfer (Coleoptera) sind mit über 380.000 beschriebenen Arten in 179 Familien die weltweit größte Ordnung aus der Klasse der Insekten – noch immer werden jährlich hunderte neue Arten beschrieben. Sie sind auf allen Kontinenten außer in der Antarktis verbreitet; in Mitteleuropa kommen rund 8000 Arten vor, davon etwa 7000 auch in Deutschland. Die bislang ältesten Funde fossiler Käfer stammen aus dem Perm und sind etwa 265 Millionen Jahre alt.
Der Körperbau der Käfer unterscheidet sich von dem anderer Insekten, da die augenscheinliche dreiteilige Gliederung nicht dem Kopf, der Brust und dem Hinterleib entspricht, sondern der zweite Abschnitt nur aus dem Prothorax besteht, von dem auf der Körperoberseite nur der Halsschild sichtbar ist. Die übrigen beiden Abschnitte der Brust bilden mit dem Hinterleib eine Einheit und werden vom sklerotisierten ersten Flügelpaar, den Deckflügeln, überdeckt.
Mit etwa 170 Millimetern Länge ist der Riesenbockkäfer (Titanus giganteus) aus Brasilien die größte Käferart; die Goliathkäfer zählen mit etwa 100 Gramm Gewicht zu den schwersten Insekten überhaupt. In Europa schwankt die Größe der Käfer zwischen ungefähr 0,5 und 75 Millimetern, der größte mitteleuropäische Käfer ist der Hirschkäfer (Lucanus cervus).
== Etymologie ==
Das Wort Käfer hat germanische Sprachwurzeln. Bereits im 9. Jahrhundert findet sich das Wort cheuur, im 10. Jahrhundert chefuar, ein Jahrhundert später finden sich die Ausdrücke cheuove, cheuer und keuir. Sie bezeichneten jedoch nicht Käfer, sondern Heuschrecken. Aus dem 13. Jahrhundert ist das Wort kever belegt, wortverwandt mit Kiefer. Beide Wörter sind von einer Wortwurzel mit der Bedeutung „kauen, nagen“ abgeleitet. Erst in den folgenden Jahrhunderten vollzog sich der Bedeutungswandel des Wortes kefer von „Heuschreckenlarve“ zu „Käfer“. Für die Käfer wurde von den Germanen auch das Wort webila benutzt. Im 11. Jahrhundert taucht das Wort wibil, im darauffolgenden Jahrhundert wibel auf, was im Englischen in der Form weevil als Bezeichnung für die Rüsselkäfer sowie in mundartlichen Benennungen wie Perdswievel für Rosskäfer weiterlebt. Schon früh findet man Unterscheidungen wie scaernwifel und tordwifel für Mistkäfer, und im 15. Jahrhundert werden bereits verschiedene Käferfamilien sprachlich unterschieden.Die wissenschaftliche Bezeichnung Coleoptera kommt aus dem Altgriechischen. Mit κολεός (koleos) wurde die lederne Hülle bezeichnet, in die das Schwert gesteckt wurde, und mit πτερόν (pteron) der Flügel. Die ledrig anmutenden Deckflügel der Käfer, welche die Hinterflügel teilweise umhüllen, führten zu der Namensgebung.
== Merkmale der Käfer ==
Die Körperform der Imagines ist sehr vielfältig und variiert von sehr langen und schlanken bis zu gedrungenen, kurzen Arten. Es gibt dabei sehr flache bis stark kugelig geformte Körper. Die Körperform stellt eine Anpassung an die Lebensweise der jeweiligen Art dar. So sind Käfer, die unter loser Rinde leben, immer flach; im Wasser lebende Arten, insbesondere schnelle Schwimmer, haben eine Stromlinienform; kletternde Käfer, deren Fluchtverhalten darin besteht, sich bei Gefahr fallen zu lassen, sind kugelig. Die Strukturierung der Körperoberflächen ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von glatten und glänzenden bis hin zu stark strukturierten Oberflächen mit Runzeln, Gruben, Rillen und Höckern. Ein entscheidender Evolutionsfaktor für die Ausbildung der Körperform ist, insbesondere bei bizarr geformten Arten, die Funktion der Tarnung vor Fressfeinden.
Der Körperbau der Käfer folgt dem grundsätzlichen Bau der Insekten. Der Körper besteht aus drei Abschnitten: Kopf (Caput), Brust (Thorax) und Hinterleib (Abdomen). Die sichtbare Gliederung entspricht bei den Käfern aber nicht Kopf, Brust und Hinterleib. Der zweite sichtbare Abschnitt besteht nur aus dem ersten Segment der Brust, das zweite und dritte Segment bilden mit dem Hinterleib eine Einheit, die von den Deckflügeln (Elytren) überdeckt ist. Die Elytren sind das erste, stark sklerotisierte Flügelpaar, das das zweite Flügelpaar schützt. Bauchseits ragen die hinteren Teile der Brust über die ersten Hinterleibssegmente hinaus, so dass auch hier das zweite und dritte Brustsegment zusammen mit dem Hinterleib eine optische Einheit bildet. Käfer haben, bis auf wenige Ausnahmen, ein stark sklerotisiertes Außenskelett unter Beteiligung von Chitin. Als Extremitäten besitzen sie wie alle Insekten sechs Beine und zwei, bei den einzelnen Arten allerdings sehr unterschiedlich gestaltete, Fühler. Käfer gehören zu den Insekten mit kauenden Mundwerkzeugen. Wie alle Insekten haben sie ein Strickleiternervensystem, das jedoch dahingehend abgewandelt ist, dass sich im Hinterleib keine Ganglien mehr befinden. Das Blutgefäßsystem ist offen und besitzt ein Röhrenherz. Der einfache Verdauungstrakt mit den Malpighischen Gefäßen und das Tracheensystem für die Atmung entsprechen ebenfalls dem allgemeinen Bauplan der Insekten. Es gibt aber wegen der durch die lange Evolutionszeit bedingten Vielfalt der Käfer in fast allen Bereichen der Käferanatomie Abweichungen von diesem Grundbauplan.
=== Körpergröße ===
Die Körpergröße der Käfer ist durch die Tatsache nach oben begrenzt, dass die Luft durch das Tracheensystem zu den Organen transportiert werden muss. Die größten Käfer sind deswegen träge. Nach unten ist die Körpergröße lediglich dadurch beschränkt, dass der komplexe Körperbau noch verwirklicht werden kann. Die Arten der Zwergkäfer (Ptiliidae) und Punktkäfer (Clambidae) zählen zu den kleinsten Käfern und zu den kleinsten Insekten überhaupt; es gibt Arten, die weniger als 0,5 Millimeter lang werden. Feuerkäfer (Pyrochroidae) und Ölkäfer (Meloidae) sind Familien mit durchschnittlich sehr großen Arten. Die größten Arten weltweit zählen aber zu den Bockkäfern (Cerambycidae) und Rosenkäfern (Cetoniinae). Innerhalb dieser Familien kommt es aber zu großen Längenunterschieden; der kleinste Bockkäfer wird nur etwa drei Millimeter lang, mit etwa 170 Millimetern Länge ist dagegen der Riesenbockkäfer (Titanus giganteus) die größte bekannte Käferart überhaupt. Auch die Körpergröße bei Vertretern einer Art kann beträchtlich schwanken, so variiert die Körperlänge des Moschusbocks zwischen 13 und 34 Millimetern. Da die Imagines nicht mehr wachsen können, sind solche Größenunterschiede allein auf unterschiedlich günstige Lebensbedingungen während der Larvenstadien zurückzuführen. Auch zwischen den Geschlechtern derselben Art bestehen manchmal, aber eher selten erhebliche Größenunterschiede. Auffallend größere Männchen gibt es zum Beispiel bei den Hirschkäfern, bei denen die Männchen Revierkämpfe durchführen. Meistens ist allerdings das Weibchen das größere Geschlecht.
=== Färbung ===
Die Färbung der Käfer ist ebenso vielfältig wie ihre Körperform. Die meisten Käfer sind zwar dunkel oder in Brauntönen gefärbt; es gibt aber zahlreiche Arten mit gemusterten, kräftig leuchtenden oder metallisch glänzenden Körpern. Die Färbung wird durch Pigmentierung oder durch Strukturfarben verursacht.
Die in der Regel metallisch glänzende Farbe wird durch physikalische Phänomene wie beispielsweise Interferenz oder Streuung hervorgerufen. Dies tritt häufig bei dünnschichtigen Strukturen wie beispielsweise Haaren (Setae) oder Schuppen auf oder auch bei spezieller Schichtung der Lagen aus parallelen Chitinfasern. Dabei überdeckt die Färbung der Haare und Schuppen oft die Grundfarbe. Muster können zustande kommen, indem in unbehaarten oder unbeschuppten Bereichen die Grundfarbe hervortritt. Oft sehen deswegen auch ältere Tiere, bei denen die Behaarung verschwunden ist, anders aus als frisch aus der Puppe geschlüpfte Tiere. Gleichzeitig sind frisch geschlüpfte Käfer aber in der Regel in den ersten Stunden noch nicht voll ausgefärbt. Bei vielen Arten sind Männchen und Weibchen unterschiedlich gefärbt (Sexualdichromatismus).
Bei manchen Käferarten ist eine auffallende Konstanz der Zeichnung erkennbar, bei anderen dagegen eine starke Variabilität. Bei den Marienkäfern (Coccinellidae) gibt es beispielsweise Arten, die hunderte verschiedene Muster- und Farbvarianten hervorbringen. Diese Tiere wurden früher, wenn sie nicht sogar als eigene Arten behandelt wurden, mit eigenen Aberrationsnamen belegt und so in den Stand von systematischen Gruppierungen versetzt. Diese Annahmen sind aber mittlerweile wissenschaftlich überholt; die meisten derartigen Bezeichnungen sind heute nicht mehr in Verwendung. Als anderes Extrem sind beispielsweise bei der Gattung Trichodes aus der Familie der Buntkäfer oder bei der Gattung Clytus aus der Familie der Bockkäfer die Muster bei den verschiedenen Arten nahezu gleich. Die Färbung der Tiere ist oft auch ein wichtiges Merkmal für ihre Tarnung und Verteidigung (siehe Tarnung und Verteidigung weiter unten).
=== Kopf ===
Der Kopf ist das Zentrum des Nervensystems der Tiere. Er enthält die beiden wichtigsten Konzentrationen an Nervenzellen, das Oberschlundganglion und das Unterschlundganglion, die zusammen als Gehirn bezeichnet werden. Außerdem liegen auch viele Sinnesorgane im Kopf, wenn auch nicht alle. Die wichtigsten Teile sind Facettenaugen, Fühler und Mundwerkzeuge. Die Kopfkapsel, die schützend das Gehirn umschließt, besteht aus einem Acron (Kopflappen) und sechs miteinander verwachsenen Segmenten. Der Kopf kann je nach Art sehr unterschiedlich geformt sein. Es gibt runde bis eckige und kurze bis extrem langgestreckte Kopfformen. Bei manchen Arten kann der Kopf durch einen großen Kopfschild nach vorne verlängert sein. Der Kopf wird in mehrere Bereiche unterteilt:
==== Mundwerkzeuge ====
Die Käfer besitzen beißend-kauende Mundwerkzeuge. Diese stellen die ursprünglichste Form der Mundwerkzeuge dar, bei der noch die Verwandtschaft zu den Kopfbeinen der Krebstiere erkennbar ist. Trotzdem zeigen sie eine hohe Spezialisierung auf die jeweilige Ernährungsweise. Sie bestehen aus paarigen Mandibeln (Oberkiefer) und paarigen Maxillen (Unterkiefer) sowie einem unpaaren Labium (Unterlippe). Das Labium besteht aus einem unpaaren Basalstück, das die Funktion der Unterlippe hat. Dann folgt nach oben die unpaare Zunge (Glossa) mit den beiden Nebenzungen (Paraglossae). Nach oben hin werden die Mundwerkzeuge durch das Labrum (Oberlippe), eine unpaare Platte, abgeschlossen. Die Mandibeln sind die wichtigsten Werkzeuge zum Nahrungserwerb. Sie dienen den Pflanzenfressern dazu, Pflanzenteile abzuschneiden und zu zerkleinern; die Räuber können mit ihren spitzen und scharfen Mandibeln ihre Beute packen, festhalten und in fressbare Portionen zerteilen. Einige wenige Arten können ihre Mandibeln nicht zum Nahrungserwerb benutzen. Bei den Männchen der Hirschkäfer zum Beispiel sind sie so stark vergrößert, dass sie als Fresswerkzeuge unbrauchbar sind. Stattdessen sind sie zu Waffen umgebildet, mit denen die um Weibchen rivalisierenden Männchen Kämpfe austragen und mit denen imponiert wird. Sowohl auf den Maxillen als auch auf der Unterlippe sind Taster angeordnet, sogenannte Palpi, auf denen der Geschmackssinn sitzt.
==== Fühler ====
Die Fühler der Käfer entspringen am Kopf. Die Lage ihrer Einlenkungsstelle (zwischen oder vor den Augen, innerhalb oder hinter der Wurzel der Oberkiefer und ähnliches) spielt in den Bestimmungsschlüsseln häufig eine Rolle. Die Fühler sind, wie bei allen Insekten, als Geißelantennen ausgebildet, die nur ein Basal- oder auch Schaftglied mit Muskulatur besitzen, den Scapus. Das darauf folgende Wendeglied, der Pedicellus, ist gemeinsam mit der Geißel gegenüber dem Scapus beweglich. Insgesamt bestehen die Fühler je nach Familie aus fünf bis zwölf Gliedern, überwiegend haben sie aber zehn oder elf Glieder. Sie sind äußerst unterschiedlich geformt. In manchen Familien haben die Männchen anders geformte Fühler (in der Regel größere und längere) als die Weibchen. Als Grundtypen unterscheidet man fadenförmige (etwa bei den Laufkäfern), am Ende gekeulte (Rüsselkäfer) oder gefächerte (Maikäfer) und gekämmte (Hirschkäfer) Fühler. Unabhängig davon heißt ein Fühler „gekniet“, wenn er abgewinkelt ist. Es kommen aber zahlreiche Abstufungen zwischen diesen Grundformen vor. Die Einlenkungsstelle und der Bau der Fühler sind häufig für eine Familie oder eine andere systematische Einheit charakteristisch. Auf den Fühlern sitzen Organe, mit denen die Tiere riechen können, sie sind jedoch auch Tastorgane, mit denen sie sich orientieren. Bei manchen Familien werden sie zudem zum Festhalten des Geschlechtspartners bei der Paarungsstellung benutzt.
==== Augen ====
Die Augen sind als Facettenaugen ausgebildet. Sie setzen sich aus Einzelaugen (Ommatidien) zusammen. Neben dem Grundtyp des Appositionsauges, dem einfachsten Komplexauge, bei dem jedes Einzelauge für sich separat und optisch von seinen Nachbarn isoliert ist, gibt es, besonders bei dämmerungs- und nachtaktiven Käfern, auch sogenannte Superpositionsaugen. Bei diesen sind die Einzelaugen nicht optisch isoliert, sondern die Lichtstrahlen können auch in benachbarte Ommatidien gelangen und die Sehpigmente der dortigen Rhabdome anregen, die Informationen der Lichtreizung an den Sehnerv weiterzuleiten. Dies ermöglicht Sehen auch noch bei geringerer Lichtintensität und erhöht die wahrgenommene Helligkeit auf ein Vielfaches, allerdings auf Kosten der Sehschärfe. Bei höherer Lichtintensität können sich die Pigmentzellen verschieben, wodurch funktionell wieder ein Appositionsauge entsteht. Die Augen der Käfer sind nicht immer kreisrund. Meistens liegen sie nierenförmig um den Ansatz der Fühler herum. Im Extremfall, wie etwa bei vielen Bockkäfern, sind diese „Nierenhälften“ getrennt.
Ein Sonderfall liegt bei den Taumelkäfern (Gyrinidae) vor, die im Wasser leben. Bei diesen Käfern sind die Augenhälften auseinandergerückt, die oberen Hälften bilden ein Paar Augen, das über dem Wasserspiegel liegt, die unteren Augenhälften bilden ein Augenpaar unter dem Wasserspiegel. So können sie gleichzeitig über und unter Wasser sehen, wobei die jeweiligen Augenpaare an die unterschiedlichen Lichtintensitäten, Wellenlängen und Brechungsindizes von Luft und Wasser angepasst sind. Einige wenige Käferfamilien, wie etwa die Speckkäfer (Dermestidae), haben nur einfache Punktaugen, wie sie auch die Käferlarven haben, andere, in Höhlen lebende Arten haben die Augen völlig zurückgebildet. Zu ihnen gehören unter anderem mehrere Vertreter der Laufkäfer (Carabidae), die endemisch jeweils in nur einer Höhle vorkommen, oder beispielsweise der Segeberger Höhlenkäfer aus der Familie der Schwammkugelkäfer.
=== Brust (Thorax) ===
Der Thorax der Käfer besteht aus drei Teilen: Prothorax, Mesothorax und Metathorax. Von oben kann man nur den ersten Abschnitt, den Prothorax, erkennen. Dieser wird vom Halsschild (Scutum) bedeckt. Die anderen beiden Thoraxsegmente liegen unter den Deckflügeln (Elytren) verborgen, mit Ausnahme eines kleinen Teils des Mesothorax. Dieses Schildchen (Scutellum) ist, falls überhaupt, zwischen den Deckflügeln an deren Basis als kleines Dreieck erkennbar. Von unten sind die drei Thoraxsegmente sichtbar, aber nicht leicht als solche erkennbar. Sie bestehen nämlich aus mehreren sklerotisierten Chitinplatten, die gegeneinander verschoben sein können, so dass zur Vorderbrust gehörige Platten zwischen solchen der Mittelbrust zu liegen kommen. Insbesondere ragen die Platten der Hinterbrust mindestens über den Ansatz des Hinterleibes, so dass auch die Abgrenzung zum Hinterleib nicht leicht erkennbar ist und Mittel- und Hinterbrust als zum Hinterleib zugehörend wirken. An jedem der drei Brustsegmente entspringt ein Beinpaar, an den hinteren beiden Segmenten entspringen zusätzlich die beiden Flügelpaare.
==== Beine ====
Die Beine haben die gleiche Grundgliederung wie bei den anderen Insekten. Jedes Bein ist in mehrere Abschnitte – Hüfte (Coxa), Schenkelring (Trochanter), Schenkel (Femur) und Schiene (Tibia) – gegliedert und hat am Ende zwei- bis fünfgliedrige Füße (Tarsen), wobei das letzte Tarsenglied mit Krallen versehen ist. Die Anzahl der Tarsenglieder wird zur Grundeinteilung der Käferfamilien verwendet. 5–5–4 bedeutet beispielsweise, dass die Hinterbeine vier Tarsenglieder haben, die übrigen Beine fünf. Die Tarsenglieder und auch die anderen Beinsegmente können sehr unterschiedlich lang und geformt sein. Einzelne Segmente können so klein gebaut sein, dass sie im vorhergehenden Glied verborgen sind, so wie das vierte Tarsenglied der Bockkäfer (Cerambycidae). Oft sind die Schenkel auch verbreitert. Beim Grünen Scheinbockkäfer (Oedemera nobils) ist dies so stark der Fall, dass die Schenkel fast kugelig wirken. Die Beine sind je nach Käferart und Verwendung spezialisiert und können als Laufbeine, Sprungbeine, Schwimmbeine oder Grabbeine ausgebildet sein. Der australische Sandlaufkäfer Cicindela hudsoni erreicht mit einer Laufgeschwindigkeit von bis zu 2,5 Meter pro Sekunde eine Spitzenleistung in der Klasse der Insekten. Gelbrandkäfer (Dytiscus marginalis) können mit ihren kräftigen Schwimmbeinen bis zu 0,5 Meter pro Sekunde schwimmen.
Die Gelenke liegen wie bei allen Insekten offen, sodass sie Umwelteinflüssen ausgesetzt sind und nicht auf einem leicht verdunstenden Flüssigkeitsfilm (Synovia) gegeneinander gleiten können. Exemplarisch am Großen Schwarzkäfer (Zophobas morio) wurden Aufbau und Funktionsweise der unverkapselten Gelenke untersucht. Rasterelektronenmikroskopisch zeigen die Berührungsoberflächen, dass sie dicht von Poren überzogen sind, die nur einen μm (ein tausendstel Millimeter) tief sind. Diese wasserabweisende Oberflächenarchitektur mit Selbstreinigungsfähigkeit ist bekannt als Lotoseffekt. Außerdem produziert die Oberfläche wachsartige proteinhaltige Substanzen als Schmiermittel, welche die Reibungskräfte ähnlich wie durch eine PTFE- Beschichtung minimiert.
==== Flügel ====
Der definierende Unterschied der Käfer zu den übrigen Insekten ist der Flügelbau. Bei den Käfern unterscheidet sich das erste Flügelpaar deutlich vom zweiten. Die am mittleren Thoraxsegment entspringenden Vorderflügel (Elytren) sind stark sklerotisiert und dienen im Wesentlichen nur dazu, die kunstvoll zusammengefalteten Hinterflügel und den Hinterleib zu bedecken und zu schützen. Sie werden bis auf wenige Ausnahmen beim Flug schräg nach vorn geklappt, sodass das hintere, flugfähige Flügelpaar entfaltet werden kann. Im geschlossenen Zustand bilden die Deckflügel an ihren Innenrändern die Flügeldeckennaht. Nach hinten klaffen sie jedoch häufig auseinander. Sie sind bei den meisten Käfern fest, bei manchen, wie zum Beispiel bei den Rüsselkäfern, sind sie sogar sehr hart ausgebildet. Die Weichkäfer haben hingegen sehr weiche Deckflügel. Das zweite Flügelpaar (Alae) entspringt am hinteren Thoraxsegment und ist wie bei den meisten flugfähigen Insekten als Hautflügel ausgebildet. Die Hinterflügel sind an den stabilisierenden Flügeladern verstärkt und sonst häutig. Sie entfalten sich erst kurz vor dem Start und sind in der Regel wesentlich größer als die Elytren. Nach dem Flug werden sie meist unter Zuhilfenahme der Hinterbeine wieder gefaltet und unter die Deckflügel geschoben.
Der Bau der Flügel variiert stark. Die Deckflügel können unterschiedlich lang sein und entweder den Hinterleib ganz oder zum überwiegenden Teil bedecken oder sie lassen, wie beispielsweise bei den Kurzflüglern, den Hinterleib ganz unbedeckt. Die beiden Deckflügel können auch zusammengewachsen sein, wie etwa bei vielen Laufkäfern (Carabidae). Die Hinterflügel dieser Arten sind dann meist verkümmert oder fehlen ganz. Die Oberfläche der Deckflügel ist mitunter sehr unterschiedlich ausgeführt. Es gibt glatte, beschuppte, behaarte und strukturierte Deckflügel.
=== Hinterleib (Abdomen) ===
Der Hinterleib besteht aus mehreren, meist acht oder neun sichtbaren Segmenten. Die hintersten Hinterleibssegmente liegen im Körper verborgen. Die sichtbaren Segmente bestehen aus zwei halbschalenförmigen Teilen, dem Tergit am Rücken und dem Sternit am Bauch. Die beiden Teile sind seitlich, parallel zur Körperlängsachse durch die Pleurite verbunden. Die einzelnen Segmente sind durch Segmenthäute miteinander verbunden. Dadurch ist der Hinterleib, im Gegensatz zu den starren vorderen Körperabschnitten, beweglich. Die Beweglichkeit ist aber im Vergleich zu den meisten übrigen Insekten eher beschränkt. Bei manchen Arten, wie beispielsweise bei der Gattung Dytiscus aus der Familie der Schwimmkäfer (Dytiscidae), ist das Abdomen unbeweglich. Die Kurzflügler können den Hinterleib dagegen besonders gut bewegen. Bei der Drohstellung erheben sie das Hinterleibsende steil nach oben und wirken dadurch wesentlich größer. In den letzten Hinterleibssegmenten sind die Geschlechtsorgane enthalten.
=== Innerer Aufbau ===
Die beiden Hauptaufgaben des Blutes bei den Wirbeltieren, Transport der Atmungsgase und der beim Nahrungsstoffwechsel wichtigen Stoffe, werden bei Käfern, wie bei den Insekten allgemein, von zwei verschiedenen Systemen wahrgenommen. Die Körperflüssigkeit, die die Aufgaben des Nahrungsstofftransportes übernimmt, nennt man Hämolymphe. Sie fließt nicht in Adern, sondern in Zwischenräumen und Körperhöhlen und umspült dabei die Organe der Käfer. Die Hämolymphe enthält kein Hämoglobin und kann farblos oder gelb, manchmal aber auch rot oder grün gefärbt sein. Die einzigen Blutgefäße sind eine kurze Aorta und ein Röhrenherz, das im oberen Teil des Hinterleibs sitzt. Das Herz hat acht paarige seitliche Öffnungen (Ostien), entsprechend der Anzahl der Hinterleibsringe, durch die das Blut in das Herz eingesaugt wird. Das Herz geht in die Aorta über, und die Hämolymphe wird aus dem Herz über diese in den Kopf transportiert. Der Transport erfolgt mit einem System aus Segelklappen. Es wird aber kein Sauerstoff beziehungsweise Kohlenstoffdioxid transportiert, der Gasaustausch erfolgt über Tracheen, die mit ihrem stark verästelten Röhrensystem alle Organe mit Sauerstoff versorgen. Dieser wird durch seitliche Öffnungen (Stigmen) in den Körper gepumpt, was zum Beispiel deutlich beim Feldmaikäfer (Melolontha melolontha) zu erkennen ist, wenn dessen Hinterleib vor dem Abflug deutliche Pumpbewegungen vollführt. Der maximale Transportweg ist bei diesem Atmungssystem begrenzt, was auch der Grund ist, warum Käfer und Insekten allgemein in ihrem Größenwachstum beschränkt sind. Das Herz schlägt dabei langsam, beispielsweise beim Hirschkäfer (Lucanus cervus) etwa 16-mal in der Minute.
Das Nervensystem findet sich auf der Bauchseite der Käfer, weswegen es auch Bauchmark genannt wird. Es weicht von dem für Insekten typischen Bau mehr oder weniger stark ab und ist innerhalb der Ordnung von ungewöhnlicher Vielfalt. Die insgesamt acht Hinterleibsganglien sind manchmal in den Thoraxbereich verschoben. Je nach Art können (wie im Grundbauplan der Pterygota) alle acht Hinterleibsganglien separat bleiben (bei Lycidae) oder alle, unter Einschluss der drei Thoracalganglien, zu einer kompakten Masse verschmelzen (bei einigen Rüsselkäfern). Die Anzahl der separaten Ganglien variiert zum Beispiel von zwei bis zehn bei den Laufkäfern, von eins bis fünf bei den Rüsselkäfern und von zwei bis sieben bei den Blattkäfern. Das Gehirn besteht aus einem Unterschlund-, einem Oberschlundganglion und einem weiteren Ganglion. Es ist insgesamt deutlich kleiner als das Thoraxganglion und liegt unterhalb beziehungsweise oberhalb der Speiseröhre (Ösophagus). Gehirn und Thoraxganglion sind voneinander unabhängig, der Körper kann deswegen nach dem Verlust des Gehirns noch für einige Zeit weitgehend funktionsfähig bleiben.
Das Verdauungssystem besteht aus einem Darmtrakt, der bei den verschiedenen Familien verschieden unterteilt sein kann. Bei Fleischfressern ist er kurz, bei Pflanzenfressern kann er die zehnfache Körperlänge erreichen. Vom Rachen (Pharynx) gelangt die Nahrung über die Speiseröhre in den Magen. Der anschließende Mitteldarm besitzt im Vorderabschnitt eine langzottige, im Hinterabschnitt eine kurzzottige innere Oberfläche. Der Enddarm ist in Dünndarm (Ileus) und Dickdarm (Rektum) gegliedert. In ihm werden Nährstoffe in das Blut aufgenommen. Dort sowie in den zwei röhrenförmigen Nieren (Malpighische Gefäße) werden Stoffwechselprodukte aus den Organen aufgenommen und über den After ausgeschieden. Bei manchen Käfern, wie etwa den Bombardierkäfern (Brachininae), gibt es im Dickdarm Drüsen, deren Sekret zu Verteidigungszwecken (Wehrsekret) eingesetzt werden kann.
Die Geschlechtsorgane bestehen beim Männchen aus paarigen Hoden, verschiedenen Drüsen, die in den jeweiligen Familien sehr verschieden gebaut sein können, und den abführenden Kanälen. Anhangsdrüsen und Samenblase variieren ebenfalls. Ein gemeinsamer Ausführungsgang mündet in den Kopulationswerkzeugen. Die Weibchen haben Eierstöcke, Anhangsdrüsen und abführende Gefäße in verschiedenen Formen. An die Vagina kann eine Samentasche angebunden sein, in der der männliche Samen bis zur Eiablage aufbewahrt wird. Begattung und Besamung können dadurch mehrere Monate auseinanderliegen. Zur Eiablage werden gelegentlich Klebstoffe verwendet, für deren Produktion entsprechende Drüsen existieren. Die äußeren Geschlechtsorgane sind vor allem beim Männchen stark sklerotisiert. Ihre komplexe und artspezifische Form, die nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip sehr stark spezialisiert ist, ermöglicht es, viele Käfer, die äußerlich nicht zu unterscheiden sind, durch Genitaluntersuchungen einer wohldefinierten Art zuzuordnen.
== Lebensweise und Verhalten ==
=== Ernährung ===
Käfer besiedeln die meisten Lebensräume auf der Erde, und es gibt praktisch keine organische Nahrungsquelle, die nicht durch bestimmte Käferarten ausgeschöpft wird. Dabei ernähren sich Larven oft ganz anders als ausgewachsene Käfer. Auch das Nahrungsspektrum einzelner Arten variiert stark. Bei den pflanzenfressenden Käfern reicht es von polyphag lebenden Arten, die sich von einer Vielzahl verschiedener Nahrungsquellen ernähren, bis hin zu monophag lebenden Arten, die nur eine bestimmte Pflanzenart fressen. Es treten zahlreiche Spezialisierungen auf. So gibt es Holzfresser (Xylophage), Fäulnisfresser, die sich von verwesenden Pflanzenteilen ernähren (Saprophage), und bei diesen wiederum solche, die sich auf Totholz spezialisiert haben (Saproxylophage). Die meisten Pflanzenfresser ernähren sich aber von Blättern, Blüten, Samen, Wurzeln oder Stängeln der Pflanzen.
Die räuberischen Familien, wie beispielsweise die Laufkäfer (Carabidae), haben ein großes Nahrungsspektrum. Neben Insekten, anderen Gliederfüßern, Würmern, Schnecken und Raupen fressen diese Käfer auch Wirbeltiere wie Kaulquappen oder kleine Fische, wenn diese zur Verfügung stehen. Nur wenige Käfer zerkleinern vor dem Fressen ihre Beute. Die meisten injizieren Verdauungssäfte, um dann die verflüssigte Nahrung aufzunehmen (extraintestinale Verdauung). Manche Räuber fressen zusätzlich auch pflanzliche Nahrung wie Samen oder Pollen.
Neben diesen zwei Gruppen von Ernährungstypen gibt es zwei besonders für die Ökologie wichtige, nämlich die der Koprophagen und die der Nekrophagen. Erstere ernähren sich von Kot, wie etwa die Mistkäfer (Geotrupidae), letztere fressen Aas, wie etwa die Aaskäfer (Silphidae). Diese Arten führen Ausscheidungen beziehungsweise Kadaver durch deren Abbau wieder dem Nahrungskreislauf zu. Außerdem gibt es Pilzfresser (Mykophagen), wie zum Beispiel die Baumschwammkäfer (Mycetophagidae), aber auch solche, die sich von Leder, Federn, Sehnen, Haaren und trockener Haut ernähren, wie beispielsweise die Speckkäfer (Dermestidae). Auch anorganische Stoffe, wie Mineralstoffe, werden zum Teil direkt aufgenommen.
=== Wasser ===
Neben Nährstoffen sind Käfer, wie alle Lebewesen, auf Wasser angewiesen. Unter Wasser lebende Käfer können zum Teil sehr gut fliegen, um neue Lebensräume besiedeln zu können, falls ihr Lebensraum austrocknet. Sie tun dies aber auch, unabhängig von der Gefährdung ihres Gewässers, um neue Lebensräume zu erschließen. Neben den Käfern, die im Wasser leben, wie etwa Schwimmkäfer (Dytiscidae), gibt es Arten, die hohe Feuchtigkeit benötigen und deswegen meist um Gewässer anzutreffen sind (Hygrophile). Wiederum andere Arten sind auf Feuchtigkeit angewiesen, leben aber an trockenen und heißen Plätzen. Besonders in Wüstengebieten lebende Arten, wie einige Schwarzkäfer (Tenebrionidae), sind an extreme Trockenheit angepasst. Sie sind nachtaktiv und ernähren sich allesfressend (omnivor), da sie bei mangelndem Nahrungsangebot nicht wählerisch sein können. Auch können sie das Wasser zur Deckung ihres Feuchtigkeitsbedarfs sowohl aus ihrer Nahrung entnehmen als auch sammeln, indem sie Kondenswasser an den Füßen auffangen, die sie weit nach oben richten.
Einige Käferlarven können sogar ganz ohne direkte Wasseraufnahme leben. In sehr trockenem Holz lebende Arten, wie zum Beispiel der Gemeine Nagekäfer (Anobium punctatum), verdauen das gefressene Holz mit Hilfe von Bakterien. Die dadurch gewonnene Energie speichern sie in Form von Fett. Aus diesem können sie dann chemisch Wasser abspalten.
=== Atmung ===
Alle Käfer atmen über Tracheen und nehmen so Sauerstoff auf. Für im Wasser lebende Käfer ergibt sich deswegen ein zusätzliches Problem, das Käfer an Land nicht haben. Sie müssen an Sauerstoff zur Atmung gelangen, da sie ihn nicht direkt aus dem Wasser aufnehmen können. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, wie beispielsweise die Larven der Taumelkäfer (Gyrinidae), die den Sauerstoff direkt aus dem Wasser mit Hilfe von speziellen Organen, den Tracheenkiemen, aufnehmen. Tracheenkiemen kommen bei Imagines niemals vor.
Die Imagines der im Wasser lebenden Käferarten und die Larven der meisten Familien haben zur Sauerstoffaufnahme sehr verschiedene Möglichkeiten entwickelt. Die meisten Arten kommen dazu an die Wasseroberfläche und können eine Luftblase mit auf ihre Tauchgänge nehmen. Die einen speichern die Luft zwischen Deckflügeln und Hinterleib, wie etwa der Gelbrandkäfer (Dytiscus marginalis). Andere pumpen Luft durch eine von speziell geformten Fühlern gebildete Rinne auf die Körperunterseite, wie beispielsweise Wasserkäfer (Hydrophilidae), wobei die Luft dort zwischen Haaren festgehalten wird. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass sie ihre Luftreserve als Blase am Ende des Hinterleibes mit sich führen, wobei dies allerdings nur bei kleinen Käfern möglich ist, wie etwa bei denen der Gattung Hyphydrus aus der Familie der Schwimmkäfer (Dytiscidae). Voraussetzung für den Transport der Luftblase ist die Unbenetzbarkeit des Körpers, die entweder durch feine Behaarung oder durch eine Fettschicht gewährleistet wird. Die Hakenkäfer (Elmidae und Dryopidae) sind Plastronatmer, müssen also zur Atmung nicht an die Oberfläche kommen.
Die meisten Schwimmkäfer haben wegen ihrer Atemtechnik einen zum Teil stark modifizierten und daran angepassten Körperbau. Aus dem Sauerstofftransport ergibt sich das Problem, dass die mitgeführte Luft einen hohen Auftrieb erzeugt und die Käfer sehr viel Energie für das Schwimmen aufwenden müssen. Deswegen leben besonders die großen Käfer unter ihnen gerne in stark bewachsenen Gewässern und klammern sich häufig an Wasserpflanzen. Einige unter Wasser lebende Arten der Blattkäfer (Chrysomelidae), wie beispielsweise die der Gattung Macroples, brauchen nicht gegen den Auftrieb zu kämpfen. Sie gewinnen ihren Sauerstoff direkt aus Bläschen, die von Wasserpflanzen abgegeben werden. Auch ihre Larven brauchen zum Atmen nicht an die Oberfläche zu steigen. Die Eier werden in Stängel von Wasserpflanzen gelegt. Die daraus schlüpfenden Larven leben entweder direkt in der Pflanze und entnehmen den Sauerstoff aus deren Leitungsbahnen, oder sie leben im Wasser und haken sich mit dem Hinterleibsende von außen in diese Bahnen ein. Gleiches machen die Puppen der Gattung Donacia. Die Verpuppung der meisten im Wasser lebenden Käfer findet aber an Land statt.
=== Flugverhalten und Wanderungen ===
Entsprechend dem Grundbauplan der Insekten haben die Käfer zwei Paar Flügel, von denen aber nur das hintere Paar, die Alae, zum Fliegen geeignet ist. Das vordere ist sklerotisiert und bildet die schützenden Elytren. Die meisten Käfer können mehr oder weniger gut fliegen, wobei Arten wie etwa die Sandlaufkäfer (Cicindelinae) sehr wendig sind, hervorragend fliegen können und eine Maximalgeschwindigkeit von bis zu 8 m/s erreichen. Ähnlich verhält es sich mit einigen Schwimm- oder Wasserkäferarten, wie etwa dem Großen Kolbenwasserkäfer (Hydrophilus piceus). Diese können über weite Strecken fliegen, um neue Gewässer zu besiedeln, wirken aber auf kurzer Distanz sehr ungeschickt und nur wenig wendig. Ebenso zu den guten Fliegern zählen die Marienkäfer, die etwa 75 bis 91 Flügelschläge pro Sekunde erreichen. Nicht bei allen Käfern sind die Hinterflügel ausgebildet. Den meisten Großlaufkäfern der Gattung Carabus fehlen beispielsweise ausgebildete Hinterflügel, ihre Deckflügel sind an der Flügeldeckennaht verwachsen.
Beim Starten werden zuerst die Deckflügel, die während des Fluges keine Funktion haben, aufgeklappt und die häutigen Hinterflügel entfaltet, die bis dahin zusammengefaltet an den Hinterleib gelegt waren. Einzige Ausnahme bilden die Rosenkäfer (Cetoniinae), bei denen die Elytren beim Fliegen geschlossen bleiben und die Flügel über eine seitliche Aussparung an den Elytren aus- und eingefaltet werden können. Nach dem Flug werden die Hinterflügel, meist unter Zuhilfenahme der Hinterbeine, wieder gefaltet und unter die Deckflügel geschoben. Dieser Vorgang kann mehrere Sekunden dauern.
Neben dem Kurzstreckenflug, der meist zur Nahrungs- oder Partnersuche unternommen wird, gibt es auch zahlreiche Käfer, die sehr lange Distanzen überwinden können. Dabei nehmen sie nicht selten den Wind zu Hilfe oder sind von diesem so abhängig, dass sie nur geringe Kurskorrekturen vornehmen können. Käfer unternehmen solche Flüge entweder, um geeignete Überwinterungsplätze aufzusuchen, wie es beispielsweise einige Marienkäfer tun, oder sie fliegen, da in dem bisher bewohnten Gebiet die Nahrung knapp ist, oder um in neue Lebensräume zu expandieren. In den ersten beiden Fällen kommt es vor, dass sich die Tiere zu riesigen Schwärmen versammeln. Es wurden schon Marienkäferschwärme aus vielen Millionen Tieren beobachtet. Sie orientieren sich einerseits optisch und andererseits auch an klimatischen Faktoren, um ihr Ziel zu erreichen. Ein klassisches Beispiel für eine Art, die oft auf der Suche nach neuen Lebensräumen ist, ist der Gelbrandkäfer (Dytiscus marginalis). Diese Art verlässt ihre Feuchtbiotope nicht nur, wenn das Wasser knapp wird, sondern auch unter guten Bedingungen. Sie fliegen dabei nachts und orientieren sich optisch. Durch Glas reflektiertes Mondlicht, wie beispielsweise an Gewächshäusern, kann die Tiere täuschen und zu einer Landung im vermeintlichen Nass verleiten.
=== Besondere Eigenschaften ===
Manche Käferarten können durch das Aneinanderreiben von Körperteilen Geräusche erzeugen. Neben zahlreichen Bockkäfern (Cerambycidae) können die verschiedenen Hähnchen der Blattkäfer (Chrysomelidae), wie etwa das Lilienhähnchen (Lilioceris lilii), durch das Aneinanderreiben des Hinterrandes der Flügeldecken (Elytren) mit dem Hinterleib zirpende Geräusche erzeugen. Mistkäfer der Gattung Geotrupes erzeugen Geräusche, indem sie den Hinterleib gegen die Deckflügel reiben. Es gibt aber noch zahlreiche weitere Möglichkeiten, Geräusche zu erzeugen, wie etwa Reibung zwischen Scheitel und Halsschild, zwischen Kehle und Prothorax, zwischen Prothorax und Mesothorax und zwischen den Beinen und dem Hinterleib beziehungsweise den Deckflügeln. Neben der Geräuscherzeugung durch Aneinanderreiben, die in erster Linie verwendet wird, um Fressfeinde abzuschrecken, können Gescheckte Nagekäfer (Xestobium rufovillosum) ihre Geschlechtspartner in Gangsystemen im Holz durch bestimmte Lockrufe orten. Dazu schlagen die Käfer mit Kopf und Halsschild sehr schnell auf das Holz. Einige Käferarten aus zwei Unterfamilien (Sandlaufkäfer und Riesenkäfer) haben trommelfellartige Tympanalorgane entwickelt, um die Ultraschall-Ortungslaute von Fledermäusen, die sie jagen, zu hören.
Manche Käfer besitzen die Fähigkeit der Lichterzeugung (Biolumineszenz), darunter die Leuchtkäfer (Lampyridae). Jede Art erzeugt spezifische Lichtsignale, wobei meist die Männchen leuchtend umherfliegen oder aber die flugunfähigen Weibchen leuchtend auf sich aufmerksam machen. Auf der Unterseite des Hinterleibes der Tiere sind dazu Leuchtorgane ausgebildet, die sich ursprünglich aus Fettkörpern entwickelten. Sie bestehen aus einer Schicht heller, Licht erzeugender Zellen und aus einer dunklen, weiter innen liegenden Schicht, die als Reflektor dient. Das Leuchten entsteht durch das Umsetzen von Luciferin mit ATP und Sauerstoff durch das Enzym Luciferase. Die dabei freiwerdende Energie wird mit einem Wirkungsgrad von bis zu 95 Prozent in Form von Licht und nur zu dem geringen verbleibenden Teil als Wärme abgegeben. Schon die Larven oder sogar die Eier mancher Arten können auf diese Art leuchten.
== Fortpflanzung und Entwicklung ==
Die Käfer werden zu den holometabolen Insekten gezählt, da sie sich während ihrer Entwicklung vollständig verändern. In der Metamorphose verwandelt sich die Larve, die aus dem Ei geschlüpft ist, nach der Verpuppung zur Imago, dem ausgewachsenen Käfer, der im Erscheinungsbild und im anatomischen Aufbau ganz anders als die Larve ist. Die Larven durchleben in ihrem Wachstum verschiedene Larvenstadien, in denen sie sich häuten, da sie an Körpermasse zunehmen. Sie verändern sich aber nur in ihrer Größe, nicht in ihrer Gestalt. Sind sie ausgewachsen, verpuppen sie sich in einer freien Puppe (Pupa libera), bei der sämtliche Extremitäten, wie Fühler, Beine oder Flügel abstehen und auch als solche an der Puppe erkennbar sind. Nur sehr wenige Käferarten, wie beispielsweise die Marienkäfer, verpuppen sich in einer bedeckten Puppe (Pupa obtecta). Im Puppenstadium werden sämtliche Organe und der gesamte Körper der Larve zum Käfer umgebaut. Die Puppe ist meist praktisch unbeweglich, nur manche können sich etwas bewegen. Nach der Puppenruhe kann der fertige Käfer schlüpfen und der Kreislauf des Käferlebens von neuem beginnen.
Die Anzahl der Generationen pro Jahr ist sehr unterschiedlich. In Europa benötigen die meisten Käferarten ein Jahr, um den gesamten Lebenszyklus zu durchleben. Es gibt aber sowohl Arten, die in einem Jahr mehrere Generationen hervorbringen, als auch solche, bei denen eine Generation mehrere Jahre für ihre Entwicklung benötigt.
=== Partnerwahl, Balzverhalten und Kämpfe ===
Der Geruchssinn ist, wie bei vielen anderen Insekten, nicht nur sehr wichtig, sondern je nach Art zum Teil auch sehr gut ausgeprägt. Auffallend ist dies bei den Männchen einiger Arten durch besonders große und gekämmte Fühler zum Auffinden der von den Weibchen ausgesendeten Pheromone. Dennoch gibt es zahlreiche Arten, die das Auffinden eines Partners dem Zufall überlassen. Deswegen suchen solche Arten Plätze auf, an denen das Antreffen von Artgenossen wahrscheinlich ist, so etwa gelbe Blüten bei bestimmten Prachtkäfern (Buprestidae).
Im Allgemeinen können Käfer nicht gut sehen und auch aus nächster Nähe funktioniert das Erkennen des Partners nicht gut. Deswegen kommt es bei den Arten, die nicht nach Geruch suchen, oft zu Fehlpaarungen, da andere, ebenfalls etwa auf gelben Blüten sitzende Käfer mit der eigenen Art verwechselt werden. Männchen kämpfen meist nicht direkt um Weibchen, sondern um Balzplätze. Dies sind entweder geeignete Eiablageplätze, wie Kiefernstümpfe beim Zimmermannsbock (Acanthocinus aedilis), oder aber Plätze, an denen die Käfer sich häufig treffen, wie etwa auf gelben Blüten, wie oben beschrieben. Das wohl bekannteste Beispiel für Rivalenkämpfe liefern in Europa die Hirschkäfer (Lucanus cervus): Die Männchen werden durch Pheromone der Weibchen angelockt. Treffen zwei Männchen gleichzeitig auf ein Weibchen, versuchen sie den Gegner mit ihren stark vergrößerten Mandibeln, die ausschließlich dem Kampf dienen, umzuwerfen oder vom Ast zu stoßen. Nach dem Kampf kann sich der Sieger mit dem Weibchen paaren.
=== Paarung ===
Die Paarung (Kopula) der Käfer dauert unterschiedlich lange: von wenigen Sekunden, wie bei Hoplia coerulea, bis hin zu mehreren Stunden (bis zu 18), wie bei Marienkäfern (Coccinellidae). Dabei sind die Paare entweder nur sehr locker verbunden und trennen sich leicht bei einer Störung, oder sie krallen sich sehr fest aneinander und können ohne das Verletzen der Tiere nicht getrennt werden. Beim Geschlechtsakt drückt das Männchen mit dem Penis die Sternite am Hinterleib des Weibchens auseinander, unter denen sich die Geschlechtsöffnung befindet. Danach dringt das Männchen ein und es werden die Samen durch Spermatophoren übertragen. Nach der Paarung löst sich das Männchen entweder mit den Hinterbeinen oder durch seitliches Abrollen vom Weibchen. Zwar genügt eine Paarung, um das Weibchen dauerhaft zu befruchten, doch werden bei manchen Arten, wie etwa vielen Marienkäfern, bis zu 20 weitere Paarungen vollzogen (Promiskuität). Dadurch, dass diese Käfer dann viele verschiedene Geschlechtspartner haben, ist die Gefahr der Übertragung von Geschlechtskrankheiten, die zur Unfruchtbarkeit führen, groß. Bei den meisten Arten werden die Spermien vom Weibchen in einer Spermatheca (Receptaculum seminis) aufbewahrt. Die Eier müssen nicht gleich mit dem Sperma befruchtet werden. Dieses kann, wie auch bei einigen anderen Insekten, lange Zeit im Samenbehälter aufgehoben werden, bevor es eingesetzt wird. Sind die Eier einmal befruchtet, legt sie das Weibchen ab. Bei den Schwarzen Kugelmarienkäfern (Stethorus punctillum) beispielsweise fehlt die Spermatheca allerdings, weswegen über die gesamte fruchtbare Zeit neue Partner zur weiteren Befruchtung notwendig sind.
Nur eine Art der Käfer, Micromalthus debilis aus der Familie der Micromalthidae, kann sich auch ungeschlechtlich (pädogen) fortpflanzen.
=== Ei, Eiablage und Brutfürsorge ===
Die Eier der Käfer sind im Vergleich zur Größe der ausgewachsenen Tiere eher klein. Einzeln sind sie sehr schwer zu entdecken; da sie aber meistens in Gruppen beziehungsweise in Spiegeln nebeneinanderliegend abgelegt werden und zum Teil auffallend gefärbt sind, fallen solche Gelege schon eher auf. Die Gestalt der Eier ist sehr vielseitig, es gibt runde, ovale, walzen-, wurst-, spindel- und kegelförmige Eier. Sie sind meist weiß oder hell gefärbt, es gibt aber auch zahlreiche andere Farben; so sind die Eier der meisten Marienkäferarten (Coccinellidae) gelb bis orange gefärbt. Gelegt werden je nach Art einige wenige bis zu weit über tausend Eier, wobei diese einzeln oder in unterschiedlich großen Gelegen gelegt werden.
Die Brutfürsorge ist bei den verschiedenen Käferfamilien äußerst unterschiedlich. Meistens endet die Brutfürsorge damit, dass die Eier dort platziert werden, wo die daraus schlüpfenden Larven Futter vorfinden. Entweder werden sie auf den entsprechenden Futterpflanzen abgelegt oder in der Nähe zur Larvennahrung platziert, etwa Marienkäfereier an Blattlauskolonien. Im einfachsten Fall ernähren sich Käfer und Larven ohnehin gleich und die Weibchen müssen nicht nach geeigneten Futterquellen für ihre Larven suchen. In der nächst schwierigeren Ebene, in der sich die beiden Stadien unterschiedlich ernähren, müssen die Weibchen gezielt zum Beispiel Holz bestimmter Futterbäume aussuchen, obwohl sie sich selber vielleicht von Pollen ernähren. Zusätzlich gibt es noch die Möglichkeit, dass die Weibchen ihre Eier verstecken, den Ablageplatz bearbeiten oder die Eier direkt mit Legebohrern in Pflanzen einstechen. Es kann etwa die Rinde angenagt werden, damit dann die Pflanze eine Galle bildet, von der sich die Larve ernährt, wie beim Kleinen Pappelbock (Saperda populnea). Andere Käfer, wie beispielsweise viele Blattroller (Attelabidae), schneiden Blätter zuerst an, um sie dann so zu falten, dass sich ihre Larven in diesen verwelkten Blattwickeln gut geschützt entwickeln können. Ähnlich gehen zahlreiche Arten der nahe verwandten Rüsselkäfer (Curculionidae) vor, die ihre Eier in Pflanzenteile und Früchte einstechen, in denen sich dann ihre Larven entwickeln. Es gibt auch Käfer, die andere Arten die Brutfürsorge erledigen lassen: Der Kuckucksrüssler (Lasiorhynchites sericeus) wartet, bis ein Eichenblattroller (Attelabus nitens) sein Blatt fertig gerollt hat und sticht dann sein Ei zusätzlich in die Blattrolle. Wasserkäfer (Hydrophilidae) bauen für ihre Eier kleine Schiffchen, die auf der Wasseroberfläche treiben, wobei diese sogar einen nach oben verlängerten „Schornstein“ haben, damit die Sauerstoffzufuhr auch dann gewährleistet ist, wenn die Kapsel unter Wasser gerät.
Die Eiablage wird komplexer, wenn dazu Bauten angelegt werden. Zahlreiche Käfer, besonders Mistkäfer (Geotrupidae), bauen entweder direkt unter ihrer Nahrung (Kothaufen) im Erdreich ein unterschiedlich komplexes Gangsystem, in das sie dann Nahrung einbringen, wobei in jede Kammer ein Ei neben das Futter gelegt wird. Andere, wie etwa der Heilige Pillendreher (Scarabaeus sacer), rollen eine Kotkugel meterweit, bevor sie sie an geeigneter Stelle vergraben. Es gibt auch Käfer, die pflanzliches Material oder Algen in ihre Brutkammern schaffen. Besonders spektakulär gehen die Totengräber (Nicrophorus spec.) vor. Sie graben ganze Kadaver von kleinen Vögeln oder Mäusen ein. Zusätzlich erbricht das Weibchen Darmsekret auf den Kadaver, damit sich dieser beginnt aufzulösen, und sie füttert ihre Larven sogar unmittelbar nach dem Schlupf. Bis zur Verpuppung wacht das Weibchen in der Brutkammer, verteidigt die Brut gegen Feinde und bessert Beschädigungen aus. Dieses Verhalten wird nicht mehr Brutfürsorge, sondern Brutpflege genannt, da die Käfer aktiv auch nach der Eiablage für ihre Larven sorgen.
Die einfachste Form der Brutpflege ist das Umhertragen der Eier. Die Weibchen der Art Helochares lividus, ein Vertreter der Wasserkäfer, tragen ihre Eier in einer Gespinsttasche unter dem Hinterleib, bis die Larven schlüpfen. Andere Käfer, wie die Linierten Holzbohrkäfer (Xyloterus lineatus), pflegen nicht ihre Brut, sondern indirekt deren Nahrung. Sie bohren ein Gangsystem in Holz, in das sie die Eier legen und züchten in diesen einen Ambrosiapilz, dessen Sporen sie in ihrem Magen umhertragen. Von diesen Pilzen ernähren sich die Larven. Die Eltern sorgen für die richtige Luftfeuchtigkeit und sortieren auch Bakterienherde und andere Schimmelpilze aus. Bemerkenswert ist der Aufwand an Pflege, den die Zuckerkäfer (Passalidae) betreiben. Diese Käfer leben staatenbildend und betreiben gemeinsame Brutpflege. Neben dem Füttern helfen sie ihren Larven auch beim Bau ihrer Puppenhüllen. Interessant leben auch die myrmekophilen Käferarten, deren Larven in Ameisenbauten aufwachsen. Unter ihnen gibt es solche, die nur durch einen von den Weibchen gebauten Kotpanzer überleben können, der sie vor den Ameisen schützt, andere, wie etwa der Große Büschelkäfer (Lomechusa strumosa), können aus Borstenbüscheln (Trichomen) ein spezielles Sekret (Exsudat) absondern, das die Ameisen fressen. Dieses Sekret ist aber keine Nahrung, sondern so etwas wie ein Genussmittel. Als Gegenleistung werden die Larven von den Ameisen gefüttert, wobei sie aber auch Ameisenbrut fressen.
=== Merkmale und Lebensweise der Larve ===
Die meisten Käferarten verbringen den Hauptteil ihres Lebens im Larvenstadium. Die Larven benötigen für ihre Entwicklung oft mehrere Jahre, die Imagines leben aber nur kurz und sterben schon bald nach der Paarung und Eiablage. Das Larvenstadium ist das einzige, in welchem der Käfer wächst, deswegen entscheiden die von den Larven vorgefundenen Bedingungen über die spätere Größe der adulten Käfer.
Die Larven unterscheiden sich in Bau und Lebensweise erheblich von den adulten Tieren. Genauso wie es auch die Imagines tun, leben die Larven in den unterschiedlichsten Lebensräumen und haben ein dementsprechend vielseitiges Aussehen und Verhalten, das jeweils als Anpassung an die Lebensart verstanden werden kann. Die meisten Larven haben einen langgestreckten und schlanken Körper und sind hell gefärbt. Sie haben wenig gegliederte Fühler und nur einfache Punktaugen (Ocelli). Sie haben entweder drei Beinpaare oder zu Stummeln verkümmerte oder überhaupt keine Beine. Ihr Körper ist nackt bis stark behaart. Das Nervensystem der Larven ist, anders als bei den Imagines, ein typisches Strickleiternervensystem.
Die Lebensweise der Larven ist oft ähnlich der der ausgewachsenen Tiere, so sind etwa bei den räuberisch lebenden Laufkäfern (Carabidae) die Larven ebenfalls räuberisch und haben dementsprechend gut ausgebildete Beine und Augen. Bei Pflanzenfressern wie etwa den Blattkäfern (Chrysomelidae) leben die Larven ebenfalls vegetarisch an Blättern und sind in der Gestalt Schmetterlingsraupen ähnlich. Es gibt aber auch Käfer, bei denen die Larven gefräßige Räuber, die Imagines hingegen harmlose Pflanzenfresser sind, zum Beispiel die Wasserkäfer (Hydrophilidae): Die Larven dieser Käfer leben unter Wasser und ernähren sich räuberisch, die erwachsenen Käfer sind nur teilweise Wassertiere. Larven, die sich von Holz ernähren und immer in ihren Fraßgängen leben, wie etwa die der Bockkäfer (Cerambycidae) oder der Prachtkäfer (Buprestidae), haben die Beine zurückgebildet, denn ihre Körperwülste sind für die Fortbewegung in den Gängen besser geeignet. Die Sklerotisierung des Körpers ist reduziert, da sie ja in ihren Fraßgängen geschützt sind, nur die Kiefer sind stark sklerotisiert, damit sie hartes Holz zerkleinern können. Einige Käfer, wie beispielsweise Ölkäfer (Meloidae) oder Werftkäfer (Lymexylidae), haben verschiedene Larventypen, die sich in Aussehen und Lebensweise voneinander unterscheiden (Hypermetamorphose).
Die Dauer der Larvalentwicklung ist stark von der Lebensweise abhängig. Stark von Feinden bedrohte Arten und solche, die auf Futter angewiesen sind, das nur kurzzeitig vorhanden ist, wie beispielsweise Aas, müssen sich rasch entwickeln. Larven, die beispielsweise geschützt in Holz leben und ausreichend Nahrung zur Verfügung haben, können sich mitunter sehr langsam entwickeln. Auch hängt die Dauer von der Qualität des Futters und von den Umweltbedingungen, wie etwa Temperaturen, ab. Der Hausbock (Hylotrupes bajulus) benötigt beispielsweise bei sehr altem und nährstoffarmem Holz bis zu 15 Jahre für seine Entwicklung.
Da die Außenhaut der Larven nicht wächst, müssen sie sich von Zeit zu Zeit häuten, um wachsen zu können. Die alte Haut platzt dann auf und die Larve kann mit ihrer neuen, dehnungsfähigen und größeren Haut, die sich bereits unter der alten gebildet hat, herauskriechen.
In nebenstehendem Bild sind die Larven der wichtigsten Käferfamilien abgebildet.
Obere Reihe: (4) Kurzflügler, (1) Sandlaufkäfer, (6) Glanzkäfer
2. Reihe: (5) Aaskäfer, (2) Laufkäfer, (7) Speckkäfer
3. Reihe: (8) Blatthornkäfer, der Engerling, (3) Schwimmkäfer, (9) Prachtkäfer
4. Reihe: (10) Schnellkäfer, (Drahtwurm), (11) Weichkäfer, (12) Buntkäfer
5. Reihe: (14) Schwarzkäfer (Mehlwurm), (13) Diebskäfer, (15) Rüsselkäfer, (16) Bohrkäfer
Letzte Reihe: (17) Bockkäfer, (18) Blattkäfer, (20) Schildkäfer, (21) Marienkäfer, (19) ebenfalls Blattkäfer
=== Puppe und Schlupf ===
Um die Metamorphose von der Larve zur Imago zu vollführen, verpuppen sich die Tiere. Die Verpuppung erfolgt entweder im Larvallebensraum, beispielsweise bei den Bockkäfern im Holz, oder die Larven suchen geeignete Plätze zur Verpuppung außerhalb ihrer gewohnten Umgebung auf. Nahezu alle im Wasser lebenden Käferlarven verlassen beispielsweise die Gewässer, um sich an Land zu verpuppen. Am geeigneten Ort wird eine Puppenhülle aus Sand-, Erd-, Holz- oder Pflanzenteilen hergestellt. Innerhalb dieser Hülle verwandelt sich die Puppe durch die komplette Auflösung (Histolyse) ihres Körperinneren und den darauffolgenden Neuaufbau des fertigen Käfers. Überwiegend handelt es sich bei den Käfern um freie Puppen (Pupa libera), das heißt, dass die Körperanhänge wie Fühler-, Bein- und Flügelscheiden zu erkennen und nicht mit dem Körper verklebt sind, wie bei der Pupa obtecta. Beim Schlupf platzt die Puppenhülle auf, und der ausgewachsene Käfer kommt zum Vorschein. Nach dem Schlüpfen sind die Käfer noch weich und haben eine helle Körperfarbe. Erst nach einiger Zeit härtet der Panzer aus, und die Tiere erhalten ihre endgültige Färbung.
=== Überwinterung ===
Die Käfer, die mit Jahreszeiten zu leben haben, überwintern in der Regel im Puppenstadium und schlüpfen erst im Frühling. Es gibt aber auch Arten, die als Imagines überwintern. Zahlreiche Marienkäfer gehören beispielsweise zu diesen und bilden dafür meist Aggregationen, die nicht selten Millionen von Individuen umfassen können. Wasserkäfer haben eine Art Frostschutzmittel in der Körperflüssigkeit, die dem Ethylenglycol ähnelt. Dadurch können manche Arten bis zu neun Monate im Eis eingefroren überleben. Vor ihrem Schlaf sammeln sie Fett, Lipoide und Glykogen in ihrem Körper an, um davon während des Ruhens zu zehren.
== Natürliche Feinde ==
Man kann die Feinde der Käfer in drei Gruppen einteilen. Als Erreger von Krankheiten sind bei Käfern Viren, Bakterien, Einzeller und Pilze bekannt. Die Krankheitsbilder können sehr verschieden sein und sind nur wenig erforscht. Teilweise werden die Krankheitserreger bereits zur biologischen Bekämpfung gewisser Arten eingesetzt. Zweitens werden alle Entwicklungsstadien, also Ei, Larve, Puppe und Imago, von zahlreichen Parasiten oder Parasitoiden befallen. Diese gehören hauptsächlich zu den Hautflüglern und unter diesen wiederum vor allem zu den Schlupfwespen. Häufig sind ebenfalls Raupenfliegen und Milben.
Zur dritten Gruppe gehören die Fressfeinde, zu denen insbesondere die Vögel gehören. Fast alle europäischen Vogelarten fressen zumindest gelegentlich Käfer. Weiterhin sind insektenfressende Säugetiere wie Maulwürfe, Igel, Spitzmäuse und für nachts fliegende Käfer auch die Fledermäuse zu nennen. Aber auch viele Reptilien, Amphibien und Fische fressen adulte Käfer oder Larven. Unter den Gliedertieren sind vor allem die Spinnen als Fressfeinde zu nennen, daneben auch zahlreiche räuberische Insekten, nicht zuletzt viele Käferarten selbst.
=== Tarnung und Verteidigung ===
Da Käfer und insbesondere ihre Larven in der Nahrungskette sehr weit unten stehen, haben sie im Laufe ihrer Entwicklung Methoden erfinden müssen, sich vor Angriffen ihrer Fressfeinde zu schützen. Je effektiver diese Methoden sind und je mehr Nachkommen überleben und ihrerseits wieder Nachkommen zeugen, desto geringer ist der Bedarf an vielen Nachkommen. Arten, die von Fressfeinden gemieden werden oder nur schwer entdeckt werden, legen deswegen in der Regel auch weniger Eier als solche, die einzig und allein auf ihre große Anzahl bauen können.
Der einfachste Schutz beginnt bei den passiven Fähigkeiten. Dazu gehört die Färbung. Viele Blattkäfer (Chrysomelidae) zum Beispiel haben eine grüne Färbung und sind in ihrem Lebensraum, dem Blattwerk, nur schwer zu entdecken. Andere Käfer sind sehr auffällig gefärbt und warnen potentielle Feinde durch Warnfarben vor ihrer Giftigkeit, wie etwa Marienkäfer (Coccinellidae), die giftige Alkaloide enthalten, oder aber sie imitieren giftige oder gefährliche Tiere (Mimikry), wie es etwa die Wespenböcke (Plagionotus) aus der Familie der Bockkäfer (Cerambycidae) machen, obwohl sie eigentlich harmlos sind. Neben diesen einfachen passiven Methoden haben manche Käferarten auch solche entwickelt, die einen darüber hinausgehenden Schutz gewährleisten. Manche Arten, insbesondere deren Larven, schützen sich, indem sie ihren Körper mit Kot, Staub und Erde bedecken, wie beispielsweise die Larven der Schildkäfer (Cassidinae), was so weit geht, dass zum Beispiel die Larven des Großen Büschelkäfers (Lomechusa strumosa), die in Ameisenbauten leben, ihre gesamte Entwicklung in einem Kotpanzer verbringen, in den sie sich zurückziehen können und aus dem sonst nur der Kopf hinaussieht. Die aktive Verteidigung beginnt mit dem Totstellen (Thanatose), wobei oft gleichzeitig durch das Reflexbluten ein Tropfen Hämolymphe ausgeschieden wird, der toxisch ist oder unangenehm riecht. Dadurch können beispielsweise Marienkäfer denjenigen Feinden entgehen, die sich von vermeintlich verwesenden Käfern abschrecken lassen. Schnellkäfer (Elateridae) besitzen einen Schnellmechanismus, der es ihnen ermöglicht, wie eine gespannte Feder loszuschnellen, womit sie Angreifer erschrecken können. Dieser Mechanismus hilft ihnen aber auch dabei, wieder auf die Beine zu kommen, sollten sie auf dem Rücken gelandet sein. Eine weitere Methode der Abwehr ist es, neben Zwicken und Beißen mit den Mandibeln, Verdauungssäfte zu spritzen. Viele Laufkäfer (Carabidae) bedienen sich dieser Methode. Zusätzlich können sie auch übel riechende Substanzen aussondern.
Die aggressivste Methode der Selbstverteidigung haben die Bombardierkäfer (Brachininae) entwickelt. Sie können reizende und übel riechende Gase mit enormem Druck aus zwei Röhren in ihrem Hinterleib Angreifern gezielt ins Gesicht stoßen. Die Käfer stellen den Sprengstoff durch das Mischen zweier sehr reaktiver Chemikalien (Hydrochinon und Wasserstoffperoxid) her. Bei einem Angriff fügen sie dem Gemenge in einer Explosionskammer die Enzyme Katalase und Peroxidase hinzu, um die Reaktion zu beschleunigen. Diese Katalysatoren setzen das Hydrochinon zu Chinon und das Wasserstoffperoxid zu Wasser und Sauerstoff um. Dabei kommt es zu einer heftigen chemischen Reaktion, bei der sowohl Wärme wie auch ein hoher Druck entsteht und ein ätzendes, etwa 100 °C heißes Gasgemisch mit einem Knall aus dem Hinterteil der Insekten auf den Angreifer schießt.
== Verbreitung und Lebensräume ==
Dass Käfer in einer ungeheuren Vielfalt auftreten, ist bereits ein Indiz dafür, dass sie sich an praktisch alle Lebensräume der Erde angepasst haben. Es gibt, abgesehen vom ewigen Eis der Antarktis, kein Gebiet, das sie nicht besiedelt haben, und mit Ausnahme der Ozeane keinen Lebensraum, der nicht von Käfern bewohnt wird. Zwar ist sämtliches Süßwasser von einer Vielzahl von Käferarten bewohnt, aber abgesehen von salzliebenden (halobionten) Käferarten, die Brackwasser, salzige Gegenden im Binnenland und die Meeresküsten besiedeln, gibt es im reinen Salzwasser keine Käfer. Nach ihrer Standortvorliebe werden Bodenkäfer charakterisiert.
Manche Käfer bewohnen auch die Nester und Bauten anderer Tiere. Neben den Arten, die in Nestern Überreste fressen, wie zum Beispiel einige Arten der Speckkäfer (Dermestidae), gibt es Käfer, die sich speziell an das Leben mit anderen Tieren angepasst haben. Dazu zählen insbesondere die myrmekophilen Arten wie die der Gattung Clytra aus der Familie Blattkäfer (Chrysomelidae), deren Larven in Ameisennestern leben. Einige wenige Arten leben ektoparasitisch, zum Beispiel Leptinus testaceus auf Mäusen und der „Biberfloh“ Platypsyllus castoris auf Bibern. Die Larven einiger Arten sind Parasitoide. Bei der Gattung Aleochara (Staphylinidae) entwickeln sie sich zum Beispiel in Puparien von Zweiflüglern der Gattung Cyclorrapha als Ektoparasitoide (innerhalb der Puparienhülle, aber außerhalb der Dipterenlarve).
== Systematik ==
=== Externe Systematik ===
Innerhalb der Unterklasse Fluginsekten (Pterygota) sind die Käfer Bestandteil der Überordnung der Neuflügler (Neoptera). Von diesen spalten sich über die Eumetabola die holometabolen Insekten ab. Die holometabolen Insekten, auch Endopterygota genannt, teilen sich in der folgenden Ebene in die Gruppe der Netzflüglerartigen (Neuropterida) und Coleopteroida einerseits und in die Hautflügler (Hymenoptera) und Mecopteroida andererseits auf. Die Coleopteroida teilen sich weiter in Käfer (Coleoptera) und in Fächerflügler (Strepsiptera) auf, die mit den Käfern somit am nächsten verwandt sind. Ihre nächsten Verwandten sind die Kamelhalsfliegen (Raphidioptera), Großflügler (Megaloptera) und Netzflügler (Neuroptera) in der Gruppe der Netzflüglerartigen. Die Stellung der Strepsiptera im System ist sehr umstritten, für ein Schwesterngruppenverhältnis zu den Coleoptera gibt es sowohl Gegner als auch Befürworter unter den Taxonomen.
Daraus leitet sich folgendes Kladogramm ab:
=== Interne Systematik ===
Die Anzahl der Familien schwankt je nach Autor beträchtlich und die klassische Systematik der Käfer wird deshalb sehr uneinheitlich dargestellt.
Mit über 350.000 Arten in 179 Familien stellen sie die größte Ordnung aus der Klasse der Insekten dar und werden in vier Unterordnungen eingeteilt. Untersuchungen auf Basis von DNA-Sequenzierungen haben die Abgrenzung der Unterordnungen bestätigt. Im Folgenden sind nur die Unterordnungen aufgeführt, eine ausführlichere Darstellung bis zur Familienebene findet sich im Artikel Systematik der Käfer.
Unterordnung Archostemata
Unterordnung Myxophaga
Unterordnung Adephaga
Unterordnung PolyphagaZur Gruppe der Archostemata werden fünf Familien gerechnet, die etwa 50 vorwiegend in tropischen und subtropischen Regionen vorkommende Arten enthalten. Sie stehen in einem Schwestergruppenverhältnis zu den anderen drei Unterordnungen und stellen eine sehr alte Linie der Käfer mit primitiven Besonderheiten dar, die in ihrer Morphologie den ersten Käfern, die vor ca. 250 Millionen Jahren erstmals auftraten, sehr ähnelt. Sie haben nur fünf Hinterleibssternite und ihnen fehlen auch die cervicalen Sklerite zwischen Kopf und Prothorax und die äußeren Pleuren (seitliche Chitinplatten) des Prothorax. Die Hüften (Coxa) ihrer Hinterbeine sind beweglich und die Schenkelringe (Trochanter) sind normalerweise gut sichtbar. Ihre Flügel falten sie aber ebenso wie die Arten der Myxophaga und Adephaga. Sie unterscheiden sich von den Myxophaga auch dadurch, dass die Tarsen mit den Prätarsen nicht verwachsen sind.Die Käfer der Unterordnung Myxophaga (94 Arten) leben unter Wasser und haben alle gemeinsam, dass ihre Tarsen und Prätarsen miteinander verwachsen sind. Die dreigliedrigen Fühler der Larven, deren fünfsegmentige Beine, an deren letzten Tarsengliedern sich nur eine Kralle befindet, und das Zusammenwachsen von Trochantin, Pleuren und den abdominalen Ventriten der Imagines würden auf ein Schwestergruppenverhältnis zwischen den Myxophaga und den Polyphaga deuten. Die Flügeladerung und die Faltung der Flügel sprechen andererseits aber für ein Schwestergruppenverhältnis zwischen Myxophaga und Adephaga.Die Adephaga beinhalten als zweitgrößte Unterordnung mit 14 Familien bereits eine große Vielfalt von Arten (ca. 37.000). Diese Gruppe ist ebenfalls sehr alt und kann bis in die frühe Trias vor ungefähr 240 Millionen Jahren zurückdatiert werden. Dabei handelt es sich um zum Teil stark spezialisierte Arten. Von ihnen gibt es fossile Funde sowohl von an Land als auch von im Wasser lebenden Arten. Die Larven der Adephaga sind auf die Aufnahme von flüssiger Nahrung angepasst, sie haben ein verwachsenes Labrum und keine Schneideflächen (Molae) auf den Mandibeln. Bei den Imagines sind die Pleuren (seitlichen Chitinplatten) des Thorax mit der oberen Seite des Pronotums nicht verwachsen und bilden deswegen eine Naht. Die Tiere haben auch sechs Sterna am Hinterleib, von denen die ersten drei miteinander verwachsen sind und durch die Coxae der Hinterbeine geteilt werden. Viele Arten weisen Verteidigungsdrüsen am Hinterleib auf. Man nahm an, dass die Adephaga im Schwestergruppenverhältnis zu den Myxophaga und Polyphaga stehen, neueste Erkenntnisse lassen aber darauf schließen, dass die Adephaga näher mit den Polyphaga verwandt sind.Zur Unterordnung der Polyphaga gehören über 90 Prozent der Käferarten (mehr als 300.000 Arten). Bei den Imagines ist die Trennung der Pleura des Prothorax und der oberen Seite des Pronotums nicht zu erkennen, die Pleura ist aber mit dem Trochantin verwachsen. Daraus ergibt sich, dass eine Naht zwischen Notum und Sternum am Prothorax erkennbar ist; die anderen Unterordnungen haben zwei sichtbare Nähte zwischen Sternum und Pleurum bzw. zwischen Notum und Pleurum. Die cervicalen Sklerite zwischen Kopf und Prothorax sind vorhanden, die Coxae der Hinterbeine sind beweglich und teilen nicht das erste Ventrit, und die Flügelfaltung unterscheidet sich von der der anderen drei Unterordnungen. Bei den drei anderen Unterordnungen bilden sich durch Queradern Zellen zwischen Radialader und Cubitalader, zwischen denen die Medianader verläuft und sich aufspaltet. Bei den Polyphaga gibt es keine Zellbildung und maximal eine Querader zwischen Radius und der Mediane.Die Verwandtschaftsverhältnisse der vier Unterordnungen lassen sich in folgendem Kladogramm veranschaulichen:
== Artenzahlen ==
Käfer sind die artenreichste Ordnung der Insekten, der (mit möglicher Ausnahme der Prokaryoten) artenreichsten Organismengruppe überhaupt. Die Zahl der beschriebenen Käferarten wird (je nach Quelle) recht übereinstimmend mit 350.000 bis 400.000 angegeben. Damit sind 20 % bis 25 % aller überhaupt bekannten biologischen Arten Käfer. Das vielleicht häufigste Zitat zur Artenvielfalt wird dem britischen Biologen J. B. S. Haldane zugeschrieben (wobei das Zitat heute wahrscheinlich berühmter ist als er):
„Es gibt eine Geschichte, möglicherweise apokryph, des ausgezeichneten britischen Biologen J. B. S. Haldane, der sich in Gesellschaft einer Gruppe Theologen wiederfand. Auf die Frage, was man wohl über die Natur des Schöpfers aus der Untersuchung seiner Schöpfung schließen könne, soll er geantwortet haben: Eine unangemessene Vorliebe für Käfer.“Die artenreichsten Käferfamilien sind: Rüsselkäfer (Curculionidae): 51.000 Arten (Überfamilie Curculionidea 62.000 Arten), Kurzflügelkäfer (Staphylinidae): 48.000 Arten, Laufkäfer (Carabidae): 40.000 Arten, Blattkäfer (Chrysomelidae): 40.000 Arten, Bockkäfer (Cerambycidae): 20.000 Arten, Prachtkäfer (Buprestidae): 14.000 Arten. Artenreichste aquatische Gruppe sind die Schwimmkäfer (Dytiscidae) mit gut 4000 Arten. Aus Deutschland sind, nach der Roten Liste von 1997, 6.537 Käferarten bekannt.
Die tatsächliche Artenzahl der Käfer ist unbekannt und Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Kontroversen. Sicher ist, dass die weitaus meisten Käferarten in den Tropen leben, wobei die Neotropis (Südamerika) offensichtlich besonders artenreich ist. Viele Wissenschaftler halten Artenzahlen von bis zu 5 Millionen für durchaus realistisch, andere schätzen die Gesamtzahl nicht höher als 850.000. In einer berühmten Arbeit des amerikanischen Biologen Terry L. Erwin hat dieser durch Hochrechnung der Artenzahl, die er auf einer tropischen Baumart in Panama genauer untersucht hat, auf 7,5 Millionen Käferarten (und 30 Millionen baumlebender tropischer Arthropoden überhaupt) geschlossen. Viele Fachkollegen halten diese Schätzung für überhöht, auch wenn Erwin sie nach Untersuchungen im amazonischen Regenwald verteidigt. Eine aktuelle Schätzung im Jahr 2015, die mehrere Methoden miteinander verbindet, kommt auf eine globale Artenzahl von ca. 1,5 Millionen Käferarten.
Jährlich werden ca. 2.300 Käferarten tatsächlich neu beschrieben, weit überwiegend aus tropischen Regenwäldern.
Für die besonders hohe Artenzahl der Käfer gibt es keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Erklärung. Eine populäre Theorie erklärt sie als Ergebnis einer Koevolution mit den Blütenpflanzen, weil phytophage Gruppen in besonderer Weise zur Artenvielfalt beitragen. Der Zusammenhang wird aber vielfach bestritten. Sowohl den Fossilfunden nach als auch nach den Ergebnissen der DNA-Squenzierungen scheint die Aufspaltung (Radiation) der wesentlichen Käfergruppen vor derjenigen der Blütenpflanzen zu liegen.
Untersuchungen zur Artenzahl sind bereits bei den beschriebenen Arten mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Eine unbekannte Anzahl beschriebener Arten (abgeschätzt vielleicht 20 %) sind in Wirklichkeit Synonyme, d. h. die Art wurde unter einem anderen Namen nochmals beschrieben. In einer abschätzenden Übersicht (nach taxonomischen Revisionen in Zoological Records) kommen Stork und Hine zu dem Ergebnis, dass 45 % der dort behandelten Arten nur von einer einzigen Stelle bekannt sind. Von 13 % ist überhaupt nur ein einziges Exemplar (in der Regel das Typusexemplar) bekannt.
== Mensch und Käfer ==
Innerhalb der Entomologie (Insektenkunde) wird die Lehre von den Käfern als Koleopterologie bezeichnet. Der weit überwiegende Teil der Käfer bleibt von Menschen mit Ausnahme der Koleopterologen unbeachtet. Nur wenige, durch ihre Größe oder Färbung auffällige Arten, wie zum Beispiel Maikäfer oder Marienkäfer, sind einer größeren Allgemeinheit bekannt. Die unauffälligeren Arten treten nur dann in das Licht der Öffentlichkeit, wenn sie im Leben der Menschen eine besondere Rolle spielen. Am häufigsten ist dies der Fall, wenn sie als Schädlinge, Lästlinge oder aber auch als Nützlinge auftreten.
Im Gegensatz zu anderen Insektengruppen spielen die Käfer als Parasiten des Menschen keine Rolle.
=== Schädlinge ===
In der Landwirtschaft bieten die Lagerung bestimmter Nahrungsmittel oder in Monokulturen angebaute Nutzpflanzen gelegentlich gute Bedingungen für die Massenvermehrungen bestimmter Käferarten, so dass diese als Schädlinge betrachtet werden.
Insbesondere in Lagern finden einige Käferarten ausreichend Nahrung auf engstem Raum. Beispiele für Vorratsschädlinge vornehmlich in betrieblichen Vorratslagern sind Korn- und Reiskäfer, während die Larven des Mehlkäfers häufig auch in privaten Haushalten zu finden sind.
Als Agrarschädlinge sind unter anderem der Kartoffelkäfer, der Rapsglanzkäfer oder der Westliche Maiswurzelbohrer bekannt. Bei der Bekämpfung des Maiswurzelbohrers wurde in den letzten Jahren der Einsatz von transgenem Mais in den Medien kontrovers diskutiert.
Die aus Amerika stammenden Kartoffelkäfer und Maiswurzelbohrer sind gute Beispiele für Käferarten als Neozoen. Ihre biologische Invasion wurde durch die Einfuhr und den Anbau ihrer Futterpflanzen in Europa vorbereitet. Nachdem die Tiere folgten, fanden sie einen Lebensraum mit guten Nahrungsmöglichkeiten und ohne natürliche Feinde vor, was ihre Massenverbreitung erleichterte.
Ein Käfer, dessen Einwanderung noch verhindert werden soll, ist der Asiatische Laubholzbockkäfer (Anoplophora glabripennis). Der Käfer befällt zahlreiche Baumarten und bringt sie zum Absterben. Die ursprünglich aus Asien stammende Art hat sich in Teilen der Vereinigten Staaten bereits ausgebreitet und dort Schäden von etwa 150 Millionen US-Dollar angerichtet. Ähnliche Schäden werden auch in Europa befürchtet; deshalb wird der Käfer als Quarantäneschaderreger eingestuft. Sein Auftreten ist beim zuständigen Pflanzenschutzdienst meldepflichtig. Bei bisherigen Funden wurden in der Hoffnung, die Ausgangspopulationen ausrotten zu können, intensive Bekämpfungsmaßnahmen durchgeführt.
Der einheimische Hausbock (Hylotrupes bajulus) war früher ebenfalls in ganz Deutschland nach Bauordnungen meldepflichtig. Heute ist er dies nur noch in Sachsen und Thüringen. Die Larven des Käfers leben in verbautem Nadelholz, zum Beispiel in Dachstühlen. Wird der Befall zu spät erkannt, kann es zu Totalschäden kommen. Ebenfalls in totem Holz lebt der als Holzwurm bekannte Gemeine Nagekäfer (Anobium punctatum). Er kann als typischer Bewohner antiker Möbel betrachtet werden.
Zu den bedeutenden Schädlingen in lebendem Holz gehören die Borkenkäfer. In Deutschland am bekanntesten ist der Buchdrucker (Ips typographus), der insbesondere in forstlich angelegten Fichtenwäldern hohe Schäden anrichten kann. Aber auch in natürlichen Wäldern sind Borkenkäfer gefährlich. So hat der ebenfalls nur fünf Millimeter große Bergkiefernkäfer (Dendroctonus ponderosae) im Westen Kanadas in den letzten Jahren über 13 Millionen Hektar Wald zerstört (zum Vergleich: die Waldfläche der Bundesrepublik Deutschland beträgt etwa 11 Millionen Hektar). Neben dem hohen materiellen Schaden wird bei Waldzerstörungen dieses Ausmaßes sogar eine Auswirkung auf die Klimaerwärmung befürchtet.Einige Käferarten, wie etwa der Große Eichenbock (Cerambyx cerdo), traten früher regional als Forstschädlinge auf, sind heute aber vom Aussterben bedroht.
=== Nützlinge ===
Abgesehen davon, dass viele Käfer eine wichtige Rolle im Naturhaushalt haben, profitiert auch der Mensch von manchen Arten. Zu den wichtigsten dieser Arten zählen räuberisch lebende Käfer, wie beispielsweise Laufkäfer, Kurzflügler und insbesondere Marienkäfer, weil sie für den Menschen in der Land- und Forstwirtschaft schädliche Insekten, Milben und Schnecken vertilgen. Bestimmte Marienkäferarten werden gegen einige der bedeutendsten landwirtschaftlichen Schädlinge in Massen gezüchtet. Aber auch in Gärten sind diese blatt- und schildlausfressenden Käfer nützlich. Manche Käferarten spielen zudem bei der Bestäubung von Pflanzen eine Rolle (Cantharophilie).
Im südlichen Afrika benutzen die San die Hämolymphe der Larven von Pfeilgiftkäfern, um ein Pfeilgift herzustellen. Die Giftpfeile werden sowohl zur Jagd als auch bei Stammeskriegen eingesetzt.
=== Nahrung ===
Käfer, meist im Stadium der Engerlinge, stellen bei einigen Völkern Afrikas, Asiens, Süd- und Mittelamerikas eine teilweise wichtige Nahrungsquelle dar. In der Antike wurden einige Engerlinge (zum Beispiel des Hirschkäfers) auch in Europa als Delikatesse verzehrt.Bis Mitte des 20. Jahrhunderts kannte man in Deutschland und Frankreich eine Maikäfersuppe. Im Magazin für Staatsarzneikunde von 1844 empfahl der Medizinalrat Johann Schneider dieses geschmacklich an Krebssuppe erinnernde Gericht als „vortreffliches und kräftiges Nahrungsmittel“, für das 30 Käfer pro Person gefangen, gewaschen und im Mörser zerstoßen, dann in Butter gebraten und mit Brühe aufgekocht werden. Und er fügte hinzu, dass unter Studenten kandierte Maikäfer eine beliebte Nachspeise gewesen seien.
=== Geschichte und Kunst ===
Den wohl ältesten Beleg einer Käferdarstellung, eventuell als Glückssymbol, bietet ein rund 20.000 Jahre alter, 1,5 Zentimeter großer, aus Mammutelfenbein geschnitzter Marienkäfer, der durch eine Bohrung wahrscheinlich mit einer Schnur um den Hals getragen wurde. Er wurde in Laugerie-Basse im Département Dordogne (Frankreich) gefunden.In der Antike beschäftigten sich manche Naturforscher auch mit Käfern, obgleich ihre Betrachtung in weiten Teilen noch oberflächlich war. Aristoteles klassifizierte Käfer danach, ob sie ihre Flügel unter einer Decke verbergen können. Heute kann man etwa 112 Käferarten aus der antiken Überlieferung einigermaßen genau identifizieren. Auch die Entwicklung der Käfer in mehreren Stadien war zumindest für mehrere Arten bekannt. Wichtigste Gewährsmänner für die Beschreibung der Käfer waren neben Aristoteles Hesychios von Alexandria und der Römer Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte. Sie berichten unter anderem von Unterarten der Lauf-Käfer, Schwimm-Käfer, Kurzflügler, Leucht-Käfer, Bohr-Käfer, Pflaster-Käfer, Bock-Käfer, Rüssel-Käfer und Blatthorn-Käfer. Bei der letzten Gattung ist vor allem der Pillendreher zu nennen.
Der Pillendreher galt im Alten Ägypten als heilig und wurde dort Skarabäus genannt. Für die Ägypter war er ein Sinnbild des Chepre, eines aus sich selbst entstandenen Urwesens. Er war damit auch eine Versinnbildlichung des Sonnengottes Re; sein Verhalten, große Dungkugeln zu rollen, war ein Symbol für den Lauf der Sonne. Er ist bis heute in großer Zahl als zumeist steinerne Abbildung überliefert. Der Skarabäus war auch kunsthandwerklich ein häufiges Motiv. Er wurde als Teil von Amuletten, anderem Schmuck oder als Siegel verbildlicht. Besonders wichtig wurde er ab der 18. Dynastie, in der ein Anstieg in Produktion und Bedeutung vor allem der Siegel- und Amulettformen zu beobachten ist. Häufig wurden Skarabäen Mumien beigegeben. Wie diese wurden auch die Käfer dem Ritual der Mundöffnung unterzogen.
Auch in Aristophanes’ Komödie Der Frieden hat ein überdimensionaler Mistkäfer als Reittier des Helden Trygaios eine wahrhaft tragende Rolle.
Bis zum Aufkommen naturkundlicher Enzyklopädien im 13. Jahrhundert verringerte sich die Anzahl bekannter Käferarten auf etwa sieben, darunter Speckkäfer, Holzbohrkäfer, Mistkäfer (Skarabäen), Hirschkäfer, Leuchtkäfer. Die Mistkäfer wurden zu den für Weidevieh gefährlichen Cantharides gezählt. Dem Leuchtkäfer schrieb man eine antiaphrodisierende Wirkung zu.In der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts wählte Franz Kafka in der Erzählung Die Verwandlung für den Protagonisten Gregor Samsa die Gestalt eines Käfers (= Ungeziefer), um Samsas Scheitern in seiner Familie und in der Gesellschaft zu versinnbildlichen.
Manche Käfer haben auch heute noch besondere Bedeutung. Beispielsweise wird der Marienkäfer wegen seiner Nützlichkeit geschätzt und gilt als Glückssymbol. Deshalb ist er ein beliebtes Motiv auf Briefmarken, Glückwunschkarten und ähnlichem. Auch der Name Marienkäfer weist auf seine Bedeutung hin: Wegen ihrer Nützlichkeit in der biologischen Schädlingsbekämpfung glaubten die Bauern, dass die Käfer ein Geschenk der Maria (Mutter Jesu) seien und benannten sie nach dieser.
=== Medizin ===
Bekannt ist die medizinische Nutzung von Käfern oder deren Inhaltsstoffen, beispielsweise die Benutzung von Cantharidin für blasenziehende Pflaster, unter der Bezeichnung „Cantharis vesicatoria“ auch in Homöopathie und Tierhomöopathie. Eine Steigerung des sexuellen Verlangens durch Einnahme zermahlener Spanischer Fliegen (Lytta vesicatoria) ist nicht möglich.
Novid Beheshti und Andy Mcintosh von der Universität Leeds haben die gasdruckabhängigen Eingangs- und Ausgangsventile der Explosionskammer von Bombardierkäfern untersucht und den Vorgang dieser Flash-Verdampfung analysiert. Dabei konnten sowohl die Sprühdistanz als auch die Tröpfchengröße kontrolliert eingestellt werden, beides Faktoren, die bei der Verabreichung von Medikamenten durch Aerosolbildung eine wichtige Rolle spielen. Dadurch wird ein biologisch selektionierter Mechanismus für medizinische Applikationen interessant.
=== Vivaristik ===
Käfer werden auch als Terrarientiere gehalten und gezüchtet. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um exotische Vertreter der Rosen-, Riesen- und Hirschkäfer. In Ostasien (vor allem Japan, Korea und Taiwan) ist die Käferzucht deutlich weiter entwickelt als in Mitteleuropa.
== Literatur ==
Bernard Durin: Käfer und andere Kerbtiere. 4., erweiterte Auflage. Schirmer/Mosel, München 2013, ISBN 978-3-8296-0631-8.
Heinz Freude (Begr.), Bernhard Klausnitzer (Hrsg.): Die Käfer Mitteleuropas. Elsevier, München, ISBN 3-334-61035-7.
Severa Harde: Der Kosmos Käferführer. Die mitteleuropäischen Käfer. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2000, ISBN 3-440-06959-1.
Bernhard Klausnitzer: Wunderwelt der Käfer. Herder, Freiburg 1981, ISBN 3-451-19630-1.
Sigmund Schenkling: Erklärung der wissenschaftlichen Käfernamen aus Reitterʼs Fauna Germanica, Stuttgart: K.G. Lutz, 1917, S. 5–35 (online einsehbar)
Edmund Reitter: Fauna Germanica – Die Käfer des deutschen Reiches. (= Digitale Bibliothek. Band 134). Neusatz und Faksimile der 5-bändigen Ausgabe. Stuttgart 1908–1916, Directmedia, Berlin 2006, ISBN 3-89853-534-7.
Jiři Zahradnik, Irmgard Jung, Dieter Jung u. a.: Käfer Mittel- und Nordwesteuropas. Parey, Berlin 1985, ISBN 3-490-27118-1.
== Weblinks ==
Edmund Reitters „Fauna Germanica“, alle fünf Bände
Bestimmungstabellen
www.koleopterologie.de – Fotosammlung europäischer und vor allem mitteleuropäischer Käfer
www.kaefer-der-welt.de – Fotosammlung von Käfern der ganzen Welt
Verzeichnis der Käfer Deutschlands Datenstand als Tabelle, Verbreitung in Deutschlandkarte
Tree of Life Webproject (englisch)
Die Käferfauna Deutschlands
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4fer |
Karate | = Karate =
Karate [kaɺate] (japanisch 空手, dt. „leere Hand“) ist eine Kampfkunst, deren Geschichte sich sicher bis ins Okinawa des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, wo einheimische okinawanische Traditionen (okinawa Ti, 手) mit chinesischen Einflüssen (jap. Shorin Kempō / Kenpō; chin. Shàolín Quánfǎ) zum historischen Tōde (okin. Tōdi, 唐手) verschmolzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand dieses seinen Weg nach Japan und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von dort als Karate über die ganze Welt verbreitet.
Inhaltlich wird Karate vor allem durch Schlag-, Stoß-, Tritt- und Blocktechniken sowie Fußfegetechniken als Kern des Trainings charakterisiert. Einige wenige Hebel und Würfe werden (nach ausreichender Beherrschung der Grundtechniken) ebenfalls gelehrt, im fortgeschrittenen Training werden auch Würgegriffe und Nervenpunkttechniken geübt. Manchmal wird die Anwendung von Techniken unter Zuhilfenahme von Kobudōwaffen geübt, wobei das Waffentraining kein integraler Bestandteil des Karate ist.
Recht hoher Wert wird meistens auf die körperliche Kondition gelegt, die heutzutage insbesondere Beweglichkeit, Schnellkraft und anaerobe Belastbarkeit zum Ziel hat. Die Abhärtung der Gliedmaßen u. a. mit dem Ziel des Bruchtests (jap. Tameshiwari, 試し割り), also des Zerschlagens von Brettern oder Ziegeln, ist heute weniger populär, wird aber von einzelnen Stilen (Beispielsweise: Okinawan Goju Ryu) immer noch betrieben.
Das moderne Karate-Training ist häufig eher sportlich orientiert. Das heißt, dass dem Wettkampf eine große Bedeutung zukommt. Diese Orientierung wird häufig kritisiert, da man glaubt, dass dadurch die Vermittlung effektiver Selbstverteidigungstechniken, die durchaus zum Karate gehören, eingeschränkt und das Karate verwässert wird.
== Geschichte ==
=== Name ===
Karate-„dō“ (japanisch 空手道 ‚Weg der leeren Hand‘) wurde früher meist nur als Karate bezeichnet und ist unter dieser Bezeichnung noch heute am häufigsten geführt. Der Zusatz „dō“ wird verwendet, um den philosophischen Hintergrund der Kunst und ihre Bedeutung als Lebensweg zu unterstreichen.
Bis in die 1930er-Jahre hinein war die Schreibweise „唐手“ gebräuchlich, was wörtlich „chinesische Hand“ oder „fremdländische Hand“ bedeutet. Das Schriftzeichen „唐“ mit der sino-japanischen Lesung tō und der japanischen Lesung kara bezog sich auf das China der Tang-Dynastie (618 bis 907 n. Chr.). Damit waren die chinesischen Ursprünge bereits im Namen der Kampfkunst manifestiert. Vermutlich aus politischen Gründen – Japanischer Nationalismus – ging man zu Beginn des 20. Jahrhunderts, initialisiert von Funakoshi Gichin, in Japan dazu über, die homophone Schreibung kara „空“, mit der Bedeutung für „leer, Leere“ zu verwenden. Aus dem historischen „chinesische Hand“ oder „fremdländische Hand“ (karate, 唐手) wurde das heutige „Karate“ (空手) mit der Bedeutung für „leere Hand“. Das neue Zeichen wurde wie das alte kara gelesen und war auch von der Bedeutung her insofern passend, als im Karate meist mit leeren Händen, also ohne Waffen, gekämpft wird (vgl. Tang Soo Do).
Im Deutschen ist bei der Aussprache des Wortes „Karate“ eine Betonung der zweiten Silbe verbreitet. Oft wird sogar wie in mehreren romanischen Sprachen, zum Beispiel im Französischen oder Portugiesischen, auf „te“ betont; im Spanischen hingegen auf der ersten Silbe „Ká“.
Nach der japanischen Aussprache des Wortes dagegen ist eine gleichwertige Akzentuierung jeder Silbe üblich.
=== Ursprünge ===
Die Legende erzählt, dass der buddhistische Mönch Daruma Taishi (japanisch 達磨大師(ダルマ・たいし), dt. Meister Bodhidharma, in chinesischen Chroniken als „blauäugiger Mönch“ bekannt) aus Persien oder Kanchipuram (Südindien) im 6. Jahrhundert das Kloster Shaolin (jap. Shōrinji, 少林寺) erreicht und dort nicht nur den Chán (Zen-Buddhismus) begründet, sondern die Mönche auch in körperlichen Übungen unterwiesen habe, damit sie das lange Meditieren aushalten konnten. So sei das Shaolin Kung Fu (korrekt Shaolin-Quánfǎ, jap. Shōrin Kempō / Kenpō) entstanden, aus dem sich dann viele andere chinesische Kampfkunststile (Wushu) entwickelt hätten.
Da Karate um seine chinesischen Wurzeln weiß, betrachtet es sich ebenfalls gerne als Nachfahre jener Tradition (Chan, Bodhidharma, Shaolin), deren Historizität im Dunkeln liegt und unter Historikern umstritten ist. Trotzdem ziert das Bildnis von Daruma so manches Dōjō.
=== Okinawa ===
Karate in seiner heutigen Form entwickelte sich auf der pazifischen Kette der Ryūkyū-Inseln, insbesondere auf der Hauptinsel Okinawa. Diese liegt ca. 500 Kilometer südlich der japanischen Hauptinsel Kyūshū zwischen Südchinesischem Meer und Pazifischem Ozean. Heute ist die Insel Okinawa ein Teil der gleichnamigen Präfektur Japans. Bereits im 14. Jahrhundert unterhielt Okinawa, damals Zentrum des unabhängigen Inselkönigreichs Ryūkyū, rege Handelskontakte zu Japan, China, Korea und Südostasien.
Die urbanen Zentren der Insel, Naha, Shuri und Tomari, waren damals wichtige Umschlagplätze für Waren und boten damit ein Forum für den kulturellen Austausch mit dem chinesischen Festland. Dadurch gelangten erste Eindrücke chinesischer Kampftechniken des Kempō / Kenpō (chinesisch 拳法, Pinyin Quánfǎ, veraltet nach W.G. Ch'üan-Fa, wörtlich „Methode der Faust“, korrekt „Kampftechnik, Technik der Kampfkunst, Technik des Faustkampfs“) nach Okinawa, wo sie sich mit dem einheimischen Kampfsystem des Te / De (okin. Tī, 手) vermischten und sich so zum Tōde (okin. Tōdī, 唐手) oder Okinawa-Te (okin. Uchinādī – „Hand aus Okinawa“, 沖縄手) weiterentwickelten. Te bedeutet wörtlich „Hand“, im übertragenen Sinne auch „Technik“ bzw. „Handtechnik“. Der ursprüngliche Begriff für Tōde oder Karate (japanisch 唐手) kann daher frei als „Handtechnik aus dem Land der Tang“ (China) übersetzt werden (meint aber natürlich die verschiedenen Techniken als Ganzes).
Die unterschiedliche wirtschaftliche Bedeutung der Inseln führte dazu, dass sie ständig von Unruhen und Aufständen heimgesucht wurden. Im Jahre 1422 gelang es schließlich König Sho Hashi, die Inseln zu einen. Zur Erhaltung des Friedens in der aufständischen Bevölkerung verbot er daraufhin das Tragen jeglicher Waffen. Seit 1477 regierte sein Nachfolger Shō Shin und bekräftigte die Politik des Waffenverbotes seines Vorgängers. Um die einzelnen Regionen zu kontrollieren, verpflichtete er sämtliche Fürsten zum dauerhaften Aufenthalt an seinem Hof in Shuri – eine Kontrollmöglichkeit, die später von den Tokugawa-Shōgunen kopiert wurde. Durch das Waffenverbot erfreute sich die waffenlose Kampfkunst des Okinawa-Te erstmals wachsender Beliebtheit, und viele ihrer Meister reisten nach China, um sich dort durch das Training des chinesischen Quánfǎ fortzubilden.
1609 besetzten die Shimazu aus Satsuma die Inselkette und verschärften das Waffenverbot dahingehend, dass sogar der Besitz jeglicher Waffen, selbst Zeremonienwaffen, unter schwere Strafe gestellt wurde. Dieses Waffenverbot wurde als Katanagari („Jagd nach Schwertern“, 刀狩) bezeichnet. Schwerter, Dolche, Messer und jegliche Klingenwerkzeuge wurden systematisch eingesammelt. Dies ging sogar so weit, dass einem Dorf nur ein Küchenmesser zugestanden wurde, das mit einem Seil an den Dorfbrunnen (oder an einer anderen zentralen Stelle) befestigt und streng bewacht wurde.
Das verschärfte Waffenverbot sollte Unruhen und bewaffnete Widerstände gegen die neuen Machthaber unterbinden. Jedoch hatten japanische Samurai das Recht der sogenannten „Schwertprobe“, dem zufolge sie die Schärfe ihrer Schwertklinge an Leichen, Verwundeten oder auch willkürlich an einem Bauern erproben konnten, was auch vorkam. Die Annexion führte somit zu einer gesteigerten Notwendigkeit zur Selbstverteidigung, zumal damals auf dem feudalen Okinawa Polizeiwesen und Rechtsschutz fehlten, die den Einzelnen vor solchen Eingriffen schützen konnten. Der Mangel an staatlichen Rechtsschutzinstitutionen und die gesteigerte Wehrnotwendigkeit vor Willkürakten der neuen Machthaber begründeten also einen Intensivierungs- und Subtilisierungsprozess des Kampfsystems Te zur Kampfkunst Karate.
Ungefähr zwanzig Jahre dauerte es, bis sich die großen Meister des Okinawa-Te zu einem geheimen oppositionellen Bund zusammenschlossen und festlegten, dass Okinawa-Te nur noch im Geheimen an ausgesuchte Personen weitergegeben werden sollte.
Währenddessen entwickelte sich in der bäuerlich geprägten Bevölkerung das Kobudō, das Werkzeuge und Alltagsgegenstände mit seinen speziellen Techniken zu Waffen verwandelte. Dabei gingen spirituelle, mentale und gesundheitliche Aspekte, wie sie im Quánfǎ gelehrt wurden, verloren. Auf Effizienz ausgelegt, wurden Techniken, die unnötiges Risiko bargen, wie beispielsweise Fußtritte im Kopfbereich, nicht trainiert. So lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Auslese der Techniken sprechen. Kobudō und seine aus Alltagsgegenständen und Werkzeugen hergestellten Waffen konnten schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht verboten werden, da sie für die Versorgung der Bevölkerung sowie der Besatzer schlicht notwendig waren.
Allerdings war es sehr schwer, mit diesen Waffen einem ausgebildeten und gut bewaffneten Krieger im Kampf gegenüberzutreten. Deshalb entwickelte sich in Okinawa-Te und Kobudō, die damals noch eng miteinander verknüpft gelehrt wurden, die Maxime, möglichst nicht getroffen zu werden und gleichzeitig die wenigen Gelegenheiten, die sich boten, zu nutzen, den Gegner mit einem einzigen Schlag zu töten. Dieses für das Karate spezifische Prinzip heißt Ikken hissatsu. Die Auslese von möglichst effizienten Kampftechniken und das Ikken-Hissatsu-Prinzip brachten dem Karate den ungerechtfertigten Ruf ein, ein aggressives Kampfsystem, ja sogar die „Härteste aller Kampfsportarten“ zu sein (siehe dazu weiter unten Film und Medien).
Die tödliche Wirkung dieser Kampfkunst führte dazu, dass die japanischen Besatzer erneut das Verbot ausdehnten, und das Lehren von Okinawa-Te ebenfalls unter drakonische Strafe stellten. Allerdings wurde es weiterhin im Geheimen unterrichtet. Damit wurde die Kenntnis des Te für lange Zeit auf kleine elitäre Schulen oder einzelne Familien beschränkt, da die Möglichkeit zum Studium der Kampfkünste auf dem chinesischen Festland nur wenigen begüterten Bürgern zur Verfügung stand.
Weil die Kunst des Schreibens in der Bevölkerung damals kaum verbreitet war, und man aus Geheimhaltungsgründen dazu gezwungen war, wurden keinerlei schriftliche Aufzeichnungen angefertigt, wie das in chinesischen Kung-Fu-Stilen manchmal der Fall war (siehe Bubishi). Man verließ sich auf die mündliche Überlieferung und die direkte Weitergabe. Zu diesem Zweck bündelten die Meister die zu lehrenden Kampftechniken in didaktischen zusammenhängenden Einheiten zu festgelegten Abläufen oder Formen. Diese genau vorgegebenen Abläufe werden als Kata bezeichnet. Um dem Geheimhaltungszweck der Okinawa-Te Rechnung zu tragen, mussten diese Abläufe vor Nicht-Eingeweihten der Kampfschule (also vor potenziellen Ausspähern) chiffriert werden. Dabei bediente man sich als Chiffrierungscode der traditionellen Stammestänze (odori), die den systematischen Aufbau der Kata beeinflussten. So besitzt jede Kata noch bis heute ein strenges Schrittdiagramm (Embusen). Die Effizienz der Chiffrierung der Techniken in Form einer Kata zeigt sich bei der Kata-Demonstration vor Laien: Für den Laien und in den ungeübten Augen des Karate-Anfängers muten die Bewegungen befremdlich oder nichtssagend an. Die eigentliche Bedeutung der Kampfhandlungen erschließt sich einem erst durch intensives Kata-Studium und der „Dechiffrierung“ des Kata. Dies erfolgt im Bunkai-Training. Eine Kata ist also ein traditionelles, systematisches Kampfhandlungsprogramm und das hauptsächliche Medium der Tradition des Karate.
Der erste noch namentlich bekannte Meister des Tōde war vermutlich Chatan Yara, der etliche Jahre in China lebte und dort die Kampfkunst seines Meisters erlernte. Der Legende nach unterrichtete er wohl „Tōde“ Sakugawa, einen Schüler von Peichin Takahara. Auf Sakugawa geht eine Variante der Kata Kushanku, benannt nach einem chinesischen Diplomaten, zurück. Der bekannteste Schüler Sakugawas war „Bushi“ Matsumura Sōkon, der später sogar den Herrscher von Okinawa unterrichtete.
=== 20. Jahrhundert ===
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Karate stets im Geheimen geübt und ausschließlich von Meister zu Schüler weitergegeben. Während der Meiji-Restauration wurde Okinawa im Jahre 1875 offiziell zu einer japanischen Präfektur erklärt. In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, in der sich die okinawanische Bevölkerung den japanischen Lebensgewohnheiten anpasste und Japan sich nach jahrhundertelanger Isolierung wieder der Welt öffnete, begann Karate wieder stärker in die Öffentlichkeit zu drängen.
Der Kommissar für Erziehung in der Präfektur Okinawa, Ogawa Shintaro, wurde 1890 während der Musterung junger Männer für den Wehrdienst auf die besonders gute körperliche Verfassung einer Gruppe junger Männer aufmerksam. Diese gaben an, auf der Jinjo Koto Shogakko (Jinjo-Koto-Grundschule) im Karate unterrichtet zu werden. Daraufhin beauftragte die Lokalregierung den Meister Yasutsune Itosu damit, einen Lehrplan zu erstellen, der unter anderem einfache und grundlegende Kata (Pinan oder Heian) enthielt, aus denen er Taktik und Methodik des Kämpfens weitgehend entfernte und den gesundheitlichen Aspekt wie Haltung, Beweglichkeit, Gelenkigkeit, Atmung, Spannung und Entspannung in den Vordergrund stellte. Karate wurde dann 1902 offiziell Schulsport auf Okinawa. Dieses einschneidende Ereignis in der Entwicklung des Karate markiert den Punkt, an dem das Erlernen und Üben der Kampftechnik nicht mehr länger nur der Selbstverteidigung diente, sondern auch als eine Art Leibesertüchtigung angesehen wurde.
Nach Beginn des Jahres 1900 begann von Okinawa aus eine Auswanderungswelle nach Hawaii. Dadurch kam Karate erstmals in die USA, die Hawaii 1898 annektiert hatten.
Funakoshi Gichin, ein Schüler der Meister Yasutsune Itosu und Ankō Asato, tat sich bei der Reform des Karate besonders hervor: Auf der Grundlage des Shōrin-Ryū (auch Shuri-Te nach der Ursprungsstadt) und des Shōrei-Ryū (Naha-Te) begann er, Karate zu systematisieren. Er verstand es neben der reinen körperlichen Ertüchtigung auch als Mittel zur Charakterbildung.
Neben den genannten drei Meistern war Kanryo Higashionna ein weiterer einflussreicher Reformer. Sein Stil integrierte weiche, ausweichende Defensivtechniken und harte, direkte Kontertechniken. Seine Schüler Chōjun Miyagi und Kenwa Mabuni entwickelten auf dieser Basis die eigenen Stilrichtungen Gōjū-Ryū bzw. Shitō-Ryū, die später große Verbreitung finden sollten.
In den Jahren von 1906 bis 1915 bereiste Funakoshi mit einer Auswahl seiner besten Schüler ganz Okinawa und hielt öffentliche Karate-Vorführungen ab. In den darauffolgenden Jahren wurde der damalige Kronprinz und spätere Kaiser Hirohito Zeuge einer solchen Aufführung und lud Funakoshi, der bereits Präsident des Ryukyu-Ryu Budokan – einer okinawanischen Kampfkunstvereinigung – war, ein, bei einer nationalen Budō-Veranstaltung 1922 in Tōkyō sein Karate in einem Vortrag zu präsentieren. Dieser Vortrag erfuhr großes Interesse, und Funakoshi wurde eingeladen, seine Kunst im Kōdōkan praktisch vorzuführen. Die begeisterten Zuschauer, allen voran der Begründer des Judo, Kanō Jigorō, überredeten Funakoshi, am Kōdōkan zu bleiben und zu lehren. Zwei Jahre später, 1924, gründete Funakoshi sein erstes Dōjō.
Über die Schulen kam Karate auch bald zur sportlichen Ertüchtigung an die Universitäten, wo damals zum Zwecke der militärischen Ausbildung bereits Judo und Kendō gelehrt wurden. Diese Entwicklung, die die okinawanischen Meister zur Verbreitung des Karate billigend in Kauf nehmen mussten, führte zur Anerkennung von Karate als „nationale Kampfkunst“; Karate war damit endgültig japanisiert.
Nach dem Vorbild des bereits im Judo etablierten Systems wurde im Laufe der dreißiger Jahre dann der Karate-Gi sowie die hierarchische Einteilung in Schüler- und Meistergrade, erkennbar an Gürtelfarben, im Karate eingeführt; mit der auch politisch motivierten Absicht eine stärkere Gruppenidentität und hierarchische Struktur zu etablieren.
Aufgrund seiner Bemühungen wurde daraufhin Karate an der Shoka-Universität, der Takushoku-Universität, der Waseda-Universität und an der Japanischen Medizinischen Hochschule eingeführt. Das erste offizielle Buch über Karate wurde von Gichin Funakoshi unter dem Namen Ryu Kyu Kempo Karate im Jahre 1922 veröffentlicht. Es folgte 1925 die überarbeitete Version Rentan Goshin Karate Jutsu. Sein Hauptwerk erschien unter dem Titel Karate Do Kyohan 1935 (diese Version wurde 1958 noch einmal um die karatespezifischen Entwicklungen der letzten 25 Jahre erweitert). Seine Biographie erschien unter dem Namen Karate-dō Ichi-ro (Karate-dō – mein Weg), in dem er sein Leben mit Karate schildert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Karate durch Funakoshis Beziehungen zum Ausbildungsministerium als Leibeserziehung und nicht als kriegerische Kunst eingestuft, was es ermöglichte, Karate auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zeit der Besatzung in Japan zu lehren.
Über Hawaii sowie die amerikanische Besatzung Japans und insbesondere Okinawas fand Karate im Laufe der 1950er und 1960er Jahre als Sportart zunächst in den USA und dann auch in Europa eine immer stärkere Verbreitung.
Aus der nach Funakoshi beziehungsweise dessen schriftstellerischen Pseudonym Shōtō benannten Schule Shōtōkan („Haus des Shōtō“) ging die erste international agierende Karate-Organisation, die JKA hervor, die noch heute einer der einflussreichsten Karateverbände der Welt ist. Funakoshi und die übrigen alten Meister lehnten die Institutionalisierung und Versportlichung sowie die damit einhergehende Aufspaltung in verschiedene Stilrichtungen gänzlich ab.
== Karate in Deutschland ==
1954 gründete Henry Plée in Paris das erste europäische Budō-Dōjō. Der deutsche Judoka Jürgen Seydel kam auf einem Judo-Lehrgang in Frankreich erstmals bei Meister Murakami mit Karate in Kontakt, den er begeistert einlud, auch in Deutschland zu lehren. Aus den Teilnehmern dieser Lehrgänge entwickelte sich zunächst innerhalb der Judo-Verbände eine Unterorganisation, die Karate lehrte und aus der schließlich im Jahre 1961 der erste deutsche Dachverband der Karateka, der Deutsche Karate Bund, hervorging.
Den ersten Karateverein in Deutschland gründete schließlich Jürgen Seydel im Jahr 1957 unter dem Namen „Budokan Bad Homburg“ in Bad Homburg vor der Höhe, in dem Elvis Presley während seiner Armeezeit in Deutschland trainierte.
Die größte Ausbreitung des Karate in Deutschland gab es in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren unter Hideo Ochi (bis dieser 1993 den DJKB, den deutschen Ableger der JKA gründete) als Bundestrainer des DKB und der Nachfolgeorganisation DKV als Zusammenschluss verschiedener Stilrichtungen. Ochi hat somit das Karate in Deutschland Ende des 20. Jahrhunderts maßgeblich verbreitet und aufgebaut.
In der DDR spielte Karate offiziell nur innerhalb der Sicherheitsorgane eine Rolle: Als junger Sportstudent beschäftigte sich Karl-Heinz Ruffert Mitte der 1970er Jahre in seiner Diplomarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit Karate – dadurch wurde das Ministerium für Staatssicherheit auf ihn aufmerksam. Als Offizier des MfS schließlich führte Ruffert Karate in die Ausbildung des Inlandsgeheimdienstes ein. Unter der Führung des Rektors der DHfK, Gerhard Lehmann, wurde Karate in der DDR ab 1989 offiziell als Kampfsport anerkannt und in den Deutschen Judo-Verband aufgenommen.
Shōtōkan ist heute der mit Abstand am weitesten verbreitete Karatestil in Deutschland, gefolgt von Gōjū-Ryū. Seit der Jahrtausendwende gibt es auch zunehmend einzelne Dōjō in Deutschland, bei denen verschiedene Okinawa-Stile trainiert werden, beispielsweise Matsubayashi-Ryū.
== Die vier großen Stilrichtungen ==
Das japanische Karate teilt sich heute in vier große Stilrichtungen, nämlich Gōjū-Ryū, Shōtōkan, Shitō-Ryū und Wadō-Ryū auf, die ihrerseits auf zwei ebenfalls recht verbreitete okinawanische Stile, Shōrei-Ryū und Shōrin-Ryū, zurückgehen. Viele kleinere neuere Stilrichtungen begründen sich aus einer oder mehreren dieser sechs Schulen.Aber auch ursprüngliche Stile wie z. B. Uechi-ryū werden heute noch betrieben.
== Etikette ==
Es gibt im Karatetraining eine hierarchische Unterscheidung: Neben dem Sensei, dem Lehrer, gibt es die Senpai und Kōhai.
Jedes Karatetraining beginnt und endet traditionell mit einer kurzen Meditation (Mokuso). Dies soll auch den friedfertigen Zweck der Übungen zum Ausdruck bringen. Die kurze Meditation lässt auf die Tradition des Karate als Weglehre schließen, auch wenn das heutige Training nach modernen sportlichen Gesichtspunkten (so z. B. als Fitness- oder Wettkampftraining), und nicht als Übung des Weges (im Sinne des klassischen Karatedō) ausgerichtet ist.
Auch beginnt und endet jedes Karatetraining, jede Übung und jede Kata mit einem Gruß. Dadurch wird das erste Prinzip der 20 Regeln von Gichin Funakoshi zum Ausdruck gebracht: „karate wa rei ni hajimari rei ni owaru koto“ – „Karate beginnt und endet mit Respekt!“
Die herausragende Respekterweisung gegenüber dem Meister äußert sich mitunter in kurios anmutenden Regeln. So wird es etwa als unhöflich angesehen, hinter dem Rücken des Meisters zu gehen. Dies wurzelt keineswegs in der Vorstellung, hinterrücks angegriffen zu werden, sondern im Gedanken, dass ein „Vorbei-Schleichen“ auf eine mangelhafte Lehrer-Schüler-Beziehung (wegen mangelnder Würdigung) schließen lässt.
In vielen Dōjōs ist es üblich, vor Betreten und Verlassen der Halle die darin Versammelten mit einer kurzen Verbeugung zu begrüßen, eventuell wird auch der Shōmen des Dōjō mit einer weiteren kurzen Verbeugung beim Betreten und Verlassen gegrüßt.
Danach wird gemeinsam ein Grußritus (Rei) zelebriert, in der sich Schüler und Meister voreinander und vor den alten Meistern und Vorfahren (im Geiste, repräsentiert an der Stirnseite, dem Shōmen des Dōjō) verneigen.
Während der Begrüßungszeremonie gelten ungeschriebene Regeln:
=== Die rituelle Begrüßungszeremonie ===
Die im Folgenden beschriebene Zeremonie ist als Beispiel zu verstehen, denn sie variiert zwischen Stilrichtungen oder auch Dōjōs. Sie macht aber das Prinzip deutlich.
Sobald der Meister oder ein von ihm autorisierter Senpai den Beginn des Trainings zu erkennen gibt, stellen sich Meister und Schüler frontal zueinander auf und nehmen den Stand Musubi-Dachi ein (Bereitschaftsstellung mit geschlossenen Fersen, die Füße werden fünfundvierzig Grad nach außen gerichtet). Die Schüler bilden eine nach Gürtelfarben aufsteigend geordnete Reihe, von den Weißgürteln zur Linken bis zu den Schwarzgürteln zur Rechten. Die Reihe richtet sich nach rechts nach den höchstgraduierten Senpai aus. Dabei achten die Schüler darauf, dass ihre Zehen nicht die gedankliche Linie überschreiten, die der Senpai vorgegeben hat; denn dies käme einer Herausforderung des Senpai gleich.
Als Nächstes geht der Senpai einen Schritt vor, dreht sich neunzig Grad nach links, sodass er die ganze Reihe gut im Blickfeld hat. Dies ist der Platz des Senpai, der von hier aus guten Blickkontakt zu Sensei und Kohai hat.
Erst wenn sich der Meister zur Begrüßung hinkniet, machen es Senpai und Kohai nach. Auch hier gilt eine genau vorgeschriebene Vorgehensweise: Man hockt sich hin, sodass die Schenkel ein V bilden. Gleichzeitig gleiten die Hände am Oberschenkel entlang bis zu den Knien. Der Rücken ist gerade, der Blick auf den Sensei gerichtet.
Nun berührt zuerst das linke Knie den Boden, dann folgt das rechte. Die Hände gleiten nun von den Knien zurück zu den Oberschenkeln. Die nun aufgestellten Füße werden hinabgestellt, sodass der Fußspann den Boden berührt und man bequem auf seinen Unterschenkeln Platz nehmen kann. Bei richtiger Ausführung kann man so Stunden verharren. Der Rücken ist gerade, der Blick und die Aufmerksamkeit haften noch immer am Sensei. Die Knie sind zwei Faustbreiten voneinander entfernt.
Der Senpai führt nun weiter die Begrüßungsetikette durch. Nach einem Augenblick, in dem er sich der korrekten Haltung der Kohai vergewissert, gibt er das Kommando: „Mokusō!“. Daraufhin schließen alle die Augen. Die Meditation beginnt. Höhergraduierte, meditativ erfahrene Senpai nehmen während dieser Meditation manchmal eine Meditationsmudra mit ihren Händen ein.
Während der Meditation atmet man tief und fest ein. Man stellt sich den Ki-Fluss im eigenen Körper vor und stellt sich gedanklich auf das Training ein. Hier löst sich der Karateka gedanklich von der Alltagsroutine und bereitet sich auf das Karatetraining vor.
Hält der Senpai die Zeit der Meditation für angemessen, setzt er die Begrüßung fort. Es gibt keine verbindliche Zeitangabe für die Dauer der Begrüßungsmeditation. Der Senpai spürt, wann er und die Kohai bereit sind, das Training zu beginnen. Der Senpai beendet die Meditation mit dem Kommando „Mokusō yame!“, woraufhin alle die Augen öffnen. Gleich darauf folgt das jeweilige Begrüßungskommando. In der Regel, wenn nur der Sensei anwesend ist, heißt es: „Sensei ni rei!“ Wohnen spezielle Ehrengäste oder Großmeister dem Training bei, wird ihnen zuerst, entsprechend der Rangordnung, Respekt gezollt.
Auf das Kommando „Sensei ni rei!“ erfolgt die Begrüßung. Sie sieht folgendermaßen aus: Die linke Hand wird zuerst auf den Boden abgesetzt, sodass die Handinnenfläche den Boden berührt. Nun folgt die rechte Hand; sie wird entweder daneben abgesetzt oder leicht über der linken Hand, sodass nur die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger/Mittelfinger der rechten die Fingerspitzen von Daumen und Zeigefinger/Mittelfinger der linken Hand bedecken. Jetzt wird der Oberkörper gebeugt, dass die Stirn die Finger leicht berührt. Während dieser Verbeugung im Knien sprechen Schüler und Meister den gegenseitigen Gruß „Ossu!“ (押っ忍(おっす)) aus. Es gibt noch die Variante, dass man beim Verbeugen, kurz bevor der Kopf die Hände erreicht, auf halben Wege innehält, den Kopf zum Meister hebt und einander für einen Augenblick ansieht. Nach dem kurzen Blickkontakt wird der Kopf zu den Händen gesenkt und gegrüßt. Diese Variante kommt direkt aus der Tradition des Bushidō.
Nach der mündlichen Begrüßung („Ossu!“) richtet der Karateka den Oberkörper wieder auf, nimmt also die Haltung während der Meditation wieder ein.
Nun steht der Meister als erstes auf, dann der Senpai. Der Senpai gibt nun entweder ein Zeichen oder das Kommando, dass sich auch die Kōhai erheben mögen. Das Aufstehen erfolgt in umgekehrter Reihenfolge zum Abknien. Das heißt, das rechte Bein löst sich zuerst vom Boden und wird aufgestellt und im Stehen zum linken Fuß herangezogen, so dass man wieder im Musubi-Dachi steht. Die Handflächen liegen auf der Oberschenkelaußenseite.
Nun, wo sich alle im Musubi-Dachi gegenüberstehen, verbeugt man sich im Stehen und grüßt einander mit „Ossu“. Der Oberkörper wird dabei in einem Winkel von ungefähr dreißig Grad gebeugt.
Nach dieser Verbeugung ist die traditionelle Begrüßung abgeschlossen. Der Meister setzt nun mit dem Training fort.Die vorigen Punkte beschreiben den Ablauf einer Begrüßung, wie sie im Shōtōkan Ryū üblich (erkennbar durch den dort stark verbreiteten Ausdruck Ossu!) ist. Neben der anderen Art und Weise, wie man Seiza einnimmt und wie die Hände geführt werden, erfolgt bei Begrüßungen im Wadō-Ryū beispielsweise zuerst je nach den vor Ort herrschenden Bedingungen eine Begrüßung zur Stirnseite des Dōjō entweder mit „shōmen ni!“ oder bei Vorhandensein eines Altars mit „shinzen ni rei!“, bei der alle, auch der Sensei, gerade nach vorn ausgerichtet sind. Darauf wendet sich der Sensei seinen Schülern zu, und es folgt die Begrüßung des Sensei. Hierfür richten sich alle Schüler für gewöhnlich zu diesem aus und verbeugen sich stumm. Schließlich richten sich die Schüler beim Kommando „otagai ni rei!“ wieder frontal aus und begrüßen sich untereinander mit den Worten „Onegai shimasu!“.
In manch traditionellen Schulen und Vereinen ist es auch üblich, an der Stelle nach der Begrüßung im Knien und vor dem Aufstehen die Dōjōkun oder die 20 Paragraphen des Karate von den gelehrigsten Schülern (stellvertretend für alle) rezitieren zu lassen.
Die traditionelle Verabschiedung im Training erfolgt nach dem gleichen Muster wie die Begrüßung.
Wie in allen anderen Dō-Künsten üblich werden im Umgang der strenge Kodex des Reishiki und die Dōjōkun beachtet.
=== Kleidung ===
Jeder Karateka trägt einen Karate-Gi, bestehend aus einer einfachen an der Hüfte geschnürten weißen Hose, Zubon, früher bestehend aus Leinen, heute aus Baumwolle und einer Jacke, Uwagi genannt, aus dem gleichen Material. Gehalten wird die Jacke (meist neben einer leichten Schnürung) durch einen gefärbten Gürtel, dem Obi. Es wird grundsätzlich barfuß trainiert.
Dass Karateka überhaupt uniforme Trainingskleidung trugen, war nicht selbstverständlich. Das Okinawa-Te wurde von jeher in robuster Alltagskleidung trainiert. Ebenso existierte in der Zeit, da Karate noch eine insulane Kampfkunst war, kein Graduierungssystem. Der Meister wusste über den jeweiligen Fortschritt seines Schülers ohnehin Bescheid. Die Einführung einheitlicher Trainingskleidung und eines Graduierungssystems erfolgte erst nach Funakoshi Gichins Begegnung mit dem Kōdōkan-Gründer Kanō Jigorō, der eben jenes im Judo veranlasste.
Die Einführung einheitlicher Kleidung und eines Graduierungssystems ist nur im sozio-historischen Kontext zu verstehen.
Nach der Meiji-Restauration, der Auflösung des Samurai-Standes und der Einführung von Faustfeuerwaffen war die Bedeutung der traditionellen Kriegskünste zurückgegangen. Mit dem aufkeimenden Nationalismus in Japan gewannen die klassischen Kampfkünste wieder an Bedeutung, die am Verlauf der japanischen Geschichte einen entscheidenden Anteil hatten. Man sah die Kampfkünste als Bestandteil der kulturellen und nationalen Identität an. Die Kampfkünste – so auch das Karate – erhielten den Stempel der nationalistischen Politik jener Zeit.
Die Kampfkünste durchliefen eine Militarisierung westlicher Prägung. Aus diesem Blickwinkel sind die einheitliche Kleidung als Uniform, und das Graduierungssystem nach Gürtelfarben als Hierarchie nach militärischen Dienstgraden zu verstehen. Die Aufstellung in einer Reihe gleicht der militärischen Formation. Auch gewisse Stände ähneln militärischen Ständen: So sieht der Stand Musubi-Dachi aus wie die Grundstellung beim Kommando „Stillgestanden!“ bzw. „Achtung!“, und der Shizen-Tai wie der erleichterte Stand bei „Rührt Euch!“.
=== Graduierung ===
Die Graduierung durch farbige Gürtel wurde wahrscheinlich aus dem Judo übernommen. Kanō Jigorō, Gründer des Kōdōkan Judo, hat dieses System im 19. Jahrhundert erstmals verwendet. Vorher gab es kein Graduierungssystem nach Gürtelfarben in den Kampfkünsten aus Okinawa und Japan.
In Graduierungen wird zwischen den Schülergraden, den sogenannten Kyū, und den Meisterschülern bzw. Meistergraden, den sogenannten Dan, unterschieden. Jeder dieser Stufen wird eine Gürtelfarbe zugeordnet. In dem in Deutschland gebräuchlichsten Graduierungssystem existieren 9 Kyū- und 10 Dan-Grade. Der 9. Kyū ist hierbei die unterste Stufe, der 10. Dan die höchste.
Die Gürtelfarben sind eine Erfindung des modernen Budō. Viele Verbände verfolgen damit neben der beabsichtigten Motivation der Mitglieder auch finanzielle Interessen, denn für jede abzulegende Prüfung wird eine Gebühr erhoben.
Bis zum Jahre 1981 existierte im Deutschen Karate Verband eine Abstufung über fünf Schülergrade (5. bis 1. Kyū), wobei für jeden Kyū-Grad eine Farbe in der vorgenannten Reihenfolge stand. Diese Abstufung wurde zugunsten einer feineren Differenzierung durch vorstehende Graduierungen ersetzt.
=== Prüfungen ===
Zum Erlangen des nächsthöheren Schüler- bzw. Meistergrades werden Prüfungen nach einem festen Programm und einer Wartezeit, je nach Kyū- und Dan-Graden verschieden, abgelegt. Die Programme der Prüfungen unterscheiden sich von Verband zu Verband, gelegentlich gibt es sogar Unterschiede in einzelnen Dōjō.
Das Ablegen der Prüfungen dient als Ansporn und Bestätigung des Erreichten, ähnlich wie in unserem Schulsystem.
In den Prüfungen wird auf Technikausführung, Haltung, Aufmerksamkeit, Kampfgeist, Konzentration und Willen geachtet. Der Gesamteindruck entscheidet.
Bei höheren Meistergraden (meist ab dem 5. Dan) erhöht sich der theoretische Prüfungsanteil erheblich. In einigen wenigen Organisationen werden diese Dangrade gar nur aufgrund besonderer Leistungen und Verdienste verliehen. Im Shōtōkai ist der 5. Dan (Godan) die höchste Auszeichnung.
== Philosophie ==
Karate hat als Budōdisziplin, zu denen zum Beispiel auch Kendō und Judo gehören, einen spirituellen Kern aus weltanschaulichen Elementen des Zen und des Taoismus. Diese Weltanschauungen dienen dazu, die Systeme des Budō zu erklären und bilden nicht die Basis dieser Kampfkünste.
Einen guten Einblick in die Grundsätze der Karate-Philosophie bieten die 20 Paragraphen des Karate von Gichin Funakoshi.
=== Die 20 Regeln ===
In Japan werden die von Gichin Funakoshi aufgestellten 20 Regeln des für Karateka angemessenen Verhaltens als Shōtō Nijū Kun (japanisch 松濤二十訓, wörtlich die 20 Regeln von Shōtō, wobei Shōtō der Künstlername Funakoshis war) oder als Karate Nijū Kajō (japanisch 空手二十箇条, wörtlich die 20 Paragraphen des Karate) bezeichnet. Im deutschen Karate vermischt sich der Begriff häufig mit dem der Dōjōkun, die eigentlich nur fünf zentrale Regeln umfassen und lange vor Funakoshi und mit Bezug auf alle Kampfkünste vermutlich von buddhistischen Mönchen in Indien aufgestellt wurden.
=== Meditation ===
Zum besseren Verständnis des spirituellen Wesens des Karate kann u. a. auch das Studium des Zen geeignet sein.
Die Wiederholung der Bewegungen, in Kihon (jap. „Grundschule“) und Kata (jap. „Form“) wird von manchen Meistern als Meditation betrachtet. Das Ki, also die Energie des Körpers, das Bewusstsein, das sich beispielsweise in Koordinations- und Reaktionsvermögen äußert, sollen durch körperlich anstrengende, konzentrierte und dynamische Bewegungen gestärkt werden. Da während einer Kata Konzentration gefordert ist, und gleichzeitig die Lebensenergie (Ki) unbeeinflusst vom Bewusstsein im Körper fließt, gilt Kata als „aktive Meditation“. Kata als Meditationsform ist sozusagen das Gegenteil von Zazen: Letzterer ist Versenkung im Verharren, erstere Versenkung in der Bewegung. Bloßes Üben von Techniken in einer Kata allein heißt noch lange nicht, dass die Kata als Meditationsform praktiziert wird. Erst die richtige Geisteshaltung, mit welcher der Karateka die Kata füllt, macht aus einem traditionellen Kampfhandlungsprogramm einen Weg zur spirituellen Selbstfindung und meditativen Übung.
=== Dō ===
Das Prinzip des Dō (道) findet sich in allen japanischen Kampfkünsten wieder und ist unmöglich umfassend zu beschreiben. Dō ist die japanische Lesart des chinesischen Tao (Dao), das mit dem gleichen Zeichen geschrieben wird. Es bedeutet wörtlich „Weg“ und steht dabei nicht nur für „Weg“ oder „Straße“ im engeren Sinn, sondern auch für „Mittel“ oder „Methode“ im Verständnis eines „Lebensweges“, einer „Lebenseinstellung“.
Dahinter stehen einerseits das taoistisch-schicksalhafte Prinzip, dass das Tao, der Weg, vorgezeichnet ist und die Dinge in ihrer Richtigkeit vorbestimmt; sowie die Einstellung des Nichtanhaftens und der Nichtabhängigkeit von allen Dingen, Gegebenheiten und Bedürfnissen, die im Zen-Buddhismus gelehrt wird.
Der Kodex des Bushidō geht noch weiter: Der bushi (jap. „Krieger“), der Bushidō verinnerlicht hat, befreit sich damit nicht nur von allen materiellen Bedürfnissen, sondern von dem Begehren um jeden Preis zu leben. Das Ende des eigenen Lebens wird damit nicht unbedingt erstrebenswert, aber auf jeden Fall eine zu akzeptierende Tatsache, und der Tod birgt keinen Schrecken mehr.
Diese Haltung war im alten Japan eine hochangesehene geistige Einstellung, die sich in vielen martialischen Verhaltensweisen wie dem Seppuku manifestierte.
Dies darf jedoch auf keinen Fall als Geringschätzung gegenüber dem eigenen Leben oder dem eines anderen aufgefasst werden. Im Gegenteil: Die Aufopferung des eigenen wertvollen Lebens wog vielmehr jede Schmach auf, die ein Krieger zu Lebzeiten auf sich geladen hatte. Das Seppuku, also der rituelle Selbstmord, befreit den Krieger von Schuld und Schande und stellte seine Ehre wieder her.
Das Dō-Prinzip impliziert nun viele verschiedene Konzepte und Verhaltensweisen, die nicht abschließend aufgezählt werden könnten. Deshalb hier nur einige wenige Aspekte: siehe auch Dōjōkun, Die 20 Regeln des Karate
„den Weg gehen“: lebenslanges Lernen und Arbeiten an sich selbst; ständige Verbesserung
Friedfertigkeit, Friedenswille, aber auch
Geradlinigkeit; absolute Entschlossenheit im Kampf(„Tue alles, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Kommt es aber trotzdem zum Kampf, so soll Dein erster Schlag töten.“)Respekt und damit Höflichkeit gegenüber jedem Individuum und Ding, auch dem Feind
„Weg“-Gemeinschaft mit Meister und Mitschülern, Brüderlichkeit, verantwortungsvolles Handeln
Selbstbeherrschung, universelle Aufmerksamkeit (Achtsamkeit), Konzentration (Zanshin, 残心)
Offenheit, Bemühen um Verständnis, Akzeptanz
Nicht-Streben
== Training ==
Das Training des Geistes, des Charakters und der inneren Einstellung sind Hauptziele im Karate. Dies wird auch durch den Leitspruch der Japan Karate Association (JKA) dargelegt:
„Oberstes Ziel in der Kunst des Karate ist weder Sieg noch Niederlage, sondern liegt in der Vervollkommnung des Charakters des Ausübenden.“Eine weitere Grundregel im Karate lautet
「空手に先手なし。」 (Karate ni sente nashi), zu deutsch: „Im Karate gibt es kein Zuvorkommen.“ (Diese wichtige Grundregel, die auch auf Gichin Funakoshis Grabstein in Kamakura zu lesen ist, wird häufig mit „Es gibt keinen ersten Angriff im Karate“ wiedergegeben.)Damit ist nicht das Training oder der Wettkampf gemeint, da ernsthafte Angriffs-Simulationen zu allen Budō-Künsten gehören. Der Satz verdeutlicht vielmehr den Kodex des Karatedō im täglichen Leben. Gemeint ist, dass sich der Karateka zu einer friedlichen Person entwickeln und nicht auf Streit aus sein soll. Ein Karateka führt also, bildlich gesprochen, niemals den ersten Schlag, was ebenso jegliche Provokation anderer ausschließt.
Das Karatetraining baut auf drei großen Säulen auf, dem Kihon, dem Kumite und der Kata.
=== Kihon ===
Kihon (japanisch 基本) heißt „Grundlage“, „Basis“, „Fundament“ (des Könnens) und wird häufig auch als Grundschule des Karate bezeichnet.
Es umfasst die grundlegenden Techniken, die das Fundament des Karate bilden. Die einzelnen Techniken werden immer wiederholt, entweder langsam oder schnell, kraftvoll oder leicht/locker. Der Bewegungsablauf der einzelnen Technik wird in alle Bestandteile zerlegt und es wird versucht die Ideallinie der Bewegung zu finden, wobei es immer etwas zu optimieren gibt. Der Bewegungsablauf muss optimal verinnerlicht werden – reflexartig abrufbar, da für Denken, Planen und Handeln in einem realen Kampf zu wenig Zeit ist.
Einatmung, Ausatmung, maximale Anspannung des ganzen Körpers im Zielpunkt sind grundlegende Ziele dieses Trainings. Nach asiatischer Vorstellung liegt das Zentrum des Körpers und damit das Kraftzentrum dort, wo idealerweise auch der Körperschwerpunkt liegen sollte. Diesem oft bedeutungsverengend mit Hara (腹, „Bauch“) bezeichneten ideellen Punkt (ca. 2 cm unter dem Bauchnabel) kommt beim Atemtraining besondere Aufmerksamkeit zu (Bauchatmung). Eine gute Balance ist darüber hinaus erstrebenswert und wird oft umschrieben mit dem Finden des „inneren Schwerpunktes“.
=== Kumite ===
Kumite (japanisch 組み手 oder 組手) bedeutet wörtlich „verbundene Hände“ und meint das Üben bzw. den Kampf mit einem, selten mehreren Gegnern (siehe Bunkai).
Das Kumite stellt innerhalb des Trainings eine Form dar, die es dem Trainierenden nach ausreichender Übung ermöglicht, sich in ernsten Situationen angemessen verteidigen zu können. Voraussetzung ist das richtige Verstehen und Einüben elementarer Grundtechniken aus dem Kihon und der Kata. Wenn die Ausführung der Technik in ihrer Grundform begriffen wurde, wendet man sie im Kumite an. Die Anwendung im Kumite ist sehr wichtig, da die Ausführung von Techniken im Freikampf nicht der vorgeschriebenen Form entsprechen müssen, da man oftmals bei überraschenden Angriffen sofort von der Kampfhaltung zur Endstellung der Abwehr gelangen muss.
Es gibt verschiedene Formen des Kumite, die mit steigendem Anspruch von einer einzigen, abgesprochenen, mehrfach ausgeführten Technik bis hin zum freien Kampf in ihrer Gestaltung immer offener werden.
Bei Verteidigungstechniken werden hauptsächlich die Arme zu Blocktechniken verwendet. Würfe, Hebel, harte, weiche Blockbewegungen oder auch nur Ausweichen, meist in Kombination mit Schritt- oder Gleitbewegungen. Eine Blockbewegung kann auch als Angriffstechnik ausgeführt werden, was ein sehr gutes Auge voraussetzt; der Angriff des Gegners wird im Ansatz mit einer Abwehrbewegung oder einem Gegenangriff (出会い, deai, „Begegnung, Aufeinandertreffen“) gestoppt.
Beim Angriff wird versucht, die ungedeckten Bereiche bzw. durch die Deckung hindurch den Gegner zu treffen. Es soll möglichst mit absoluter Schnelligkeit ohne vorzeitiges Anspannen der Muskeln konzentriert angegriffen werden, denn erhöhter Krafteinsatz führt während der Bewegung zu Schnelligkeitsverlusten. Der Kraftpunkt liegt am Zielpunkt der Bewegung. Das Prinzip der Angriffstechnik gleicht dem des Pfeiles eines Bogenschützen bei Schlag- und Stoßtechniken und dem einer Peitsche bei geschnappten Techniken.
==== Yakusoku-Kumite ====
Das Yakusoku-Kumite (japanisch 約束組手, „abgesprochenes Kumite“) ist die erste Stufe der am Partner/Gegner angewandten Technik. Dabei folgen beide Partner einem vorher festgelegten Ablauf von Angriff- und Verteidigungstechniken, die in der Regel im Wechsel ausgeführt werden. Ziel dieser Übung ist es, die Bewegungen des Partners/Gegners einschätzen zu lernen, sowie die eigenen Grundschul-Techniken in erste Anwendung zu bringen, ein Gefühl für Distanz und Intensität zu erhalten. Diese Form der Übung ist wiederum nach Schwierigkeitsgrad unterteilt.
==== Jiyū-Kumite ====
Beim Jiyū-Kumite (japanisch 自由組手, „freies Kumite“) werden Verteidigung und Angriff frei gewählt, teilweise ohne Ansage oder Bekanntgabe.
Jiyū bedeutet „Freiheit“ oder „Wahlfreiheit“. Allgemein gilt: Man muss, egal ob man die Initiative im Angriff oder in der Abwehr ergreift, aus jeder beliebigen Position heraus reagieren können, ungehindert aller einschränkenden Gedanken, da man in überraschenden Situationen nicht sofort in eine Kampfstellung gehen kann. Es ist also egal, ob man einen Angriff blockt, sperrt, in diesen hineingeht oder selbst zum Angriff übergeht. Wichtig ist nur, all seine Aktionen in der Weise auszuführen, dass man dabei nicht von ablenkenden Gedanken erfasst wird. Der Kopf muss kühl bleiben. Ebenso wie in allen anderen Kampfkünsten hemmen die „Bewegungen im Kopf“ letztlich die Bewegungen des Körpers. Der Geist muss sozusagen ungehindert fließen können, um jede Bewegung des Gegners aufnehmen zu können.
Diese Form des Kampfes stellt die Höchstform des klassischen Kumite dar. Timing, Distanzgefühl, ein selbstbewusstes Auftreten, eine sichere Kampfhaltung, schnelle und geschmeidige Techniken, gehärtete Gliedmaßen, intuitives Erfassen, ein geschultes Auge, Sicherheit in Abwehr, Angriff und Konter … das alles sollte hinführend zum Jiyū-Kumite bereits vorher in den anderen Kumite-Formen sowie im Kihon und in der Kata eingeübt werden. Letzteres wird sich jedoch erst im Jiyū-Kumite sowie im Randori vollends ausbilden: Spontaneität.
==== Randori ====
Randori (japanisch 乱取り, „freies Üben“, wörtlich „Unruhen/Ungeordnetes abfangen“) ist eine freie Form des Partnertrainings, bei der es darum geht, ein Gespür für den Fluss eines Kampfes, der Bewegungen und der eingesetzten Energie zu bekommen. Dabei ist es nicht zielführend, wie im Kampf Treffer um jeden Preis zu vermeiden, sondern es ist ausdrücklich erwünscht, dass die Trainierenden Treffer bei gut ausgeführten Angriffen auch zulassen. Es sind keine Vorgaben bezüglich der einzusetzenden Techniken gemacht. Die Übenden sollen vielmehr das spontane Handeln aus den sich ergebenden Situationen erlernen. Das Randori sollte locker und gelassen sein, einen freien Fluss der Techniken ermöglichen und keinen Wettkampfcharakter annehmen.
==== (Frei-)Kampf ====
Der Freikampf imitiert entweder reale Selbstverteidigungssituationen oder dient dem Wettkampf (Shiai) bzw. dessen Vorbereitung.
Kennzeichnend im traditionellen Karate ist der beabsichtigte Verzicht auf Trefferwirkung am Gegner.
Absolut notwendig ist die Fähigkeit, Angriffstechniken vor dem Ziel, dem Körper des Gegners, mit einer „starken“ Technik zu arretieren, da ohne Hand- und Kopfschutz geübt wird. Während eines Wettkampfes wäre Trefferwirkung ein Regelverstoß, der je nach Schwere zu einer Verwarnung oder zur Disqualifikation führt. „Schwache“ Techniken führen zu keiner Wertung.
Vollkontakt-Karate-Kampfsysteme gestatten und beabsichtigen in der Wettkampfordnung die Trefferwirkung. Viele dieser Stilrichtungen verwenden dazu auch Schutzausrüstungen wie Kopf- und Gebissschutz sowie einen speziellen Handschuh, der die Fingerknöchel und den Handrücken polstert. Wird der Freikampf als Wettkampf durchgeführt, so gibt es feste Regularien die beispielsweise Würfe über Hüfthöhe, Tritte zum Kopf, sowie Techniken gegen den Genitalbereich oder mit offener Hand zum Hals geführte Schläge aus Sicherheitsgründen verbieten. Ohne Handschuhe sind Angriffe mit den Händen oder Fäusten zum Kopf verboten, wie im Kyokushin-Kai, oder es wird komplette Schutzausrüstung mit Helm, Weste, Tiefschutz, Unterarm- und Schienbeinschoner und evtl. ein Spannschutz verwendet, wie auch im Taekwondo.
=== Kata ===
Kata (japanisch 型, 形) bedeutet „Form“, „Formstück“, „Schablone“. Eine Kata ist ein stilisierter und choreographierter Kampf gegen einen oder mehrere imaginäre Gegner, der einem festgelegten Muster im Raum, Embusen genannt, folgt. Verschiedene Stilrichtungen üben im Allgemeinen verschiedene Kata, jedoch gibt es auch viele Überschneidungen, Varianten und unterschiedliche Namensgebungen.
Kata entwickelten sich, wie bereits im Abschnitt Geschichte erwähnt, zur komprimierten Weitergabe der Techniken einer Schule oder eines einzelnen Meisters ohne die Notwendigkeit schriftlicher Aufzeichnung.
==== Die vier Elemente der Kata ====
===== Bunkai =====
Bunkai (japanisch 分解, dt. „Analyse, Zerlegung“) bezeichnet die Analyse der einzelnen fest vorgeschriebenen Bewegungen einer Kata, wie sie in der entsprechenden Schule gelehrt werden. Die dabei betrachtete Form der Kata bezeichnet man als das Genkyo- (原拠) oder Basis-Modell. Dieses bezeichnet die Urform bzw. den Ursprung der Kata.
Während die Kata frei und meist öffentlich vermittelt wird, ist das Bunkai die persönliche Interpretation des (lehrenden) Meisters, seines Systems/Schule. Üblicherweise ist das (traditionelle) Bunkai damit an den persönlichen Kontakt zwischen Meister und Schüler gebunden.
===== Ōyō =====
Ōyō (japanisch 応用, dt. „Anwendung“) Individuelle Interpretationen durch die Schüler werden ōyō („frei“) genannt. Dabei wird der Leistungsstand wie auch körperliche oder andere individuelle Merkmale berücksichtigt. Manche Bunkai-Techniken berücksichtigen so z. B. nicht den Größenunterschied zwischen Tori und Uke.
Leider ist mit der Verallgemeinerung des Karate oft dieser Bezug verloren gegangen, weswegen vielfach freie Ōyō-Varianten in Umlauf sind, deren Urheber nicht mehr nachvollziehbar, bzw. deren Authentizität dann zweifelhaft sind. Daraus resultiert oft auch eine Unklarheit in der formalen Ausführung der Kata, da die Form wiederum ohne die ursprünglichen Bedeutungen leicht zu einem rein akrobatischen Leistungsvergleich (Wettkampf) zu verkommen droht.
===== Henka =====
Henka (japanisch 変化, dt. „Veränderung“, „Variation“). Die Ausführung der Kata und ihr Ausdruck werden trotz der gleichen Bewegungsabläufe der Ausführenden niemals gleich aussehen. Die Akzentuierungen innerhalb der Bewegungsabläufe, die eingesetzte Kraft in den Einzeltechniken, die individuelle koordinative Befähigung, die Gesamtkonstitution und viele weitere Aspekte bewirken, dass eine Kata von zwei Karatekas vorgetragen niemals gleich sein kann. Henka beschreibt, wie der Ausführende die Kata präsentiert und auch wie er sie sieht.
===== Kakushi =====
Kakushi (japanisch 隠し, dt. „verborgen“, „versteckt“). Jede Kata enthält Omote (表, „äußerlich“, „Oberfläche“), die offensichtlich enthaltenen Techniken, und Okuden (奥伝), den unterschwelligen oder unsichtbaren Teil. Kakushi beschäftigt sich mit letzteren Techniken, die zwar potentiell im Ablauf der Kata vorhanden sind, aber sich dem Betrachter und auch dem Praktizierenden nicht von selbst erschließen. Daher ist es meist notwendig, von einem Meister in diese unterschwelligen Kniffe und Techniken eingewiesen zu werden. In traditionell ausgerichteten Dōjō werden diese Techniken nur den Uchi-Deshi (内弟子, Privat-, Haus- oder Meisterschüler, wörtlich „Hausschüler, interner Schüler“) vermittelt. Kakushi wird traditionell ab dem 4. Dan vermittelt, da dieser auch als Dan des technischen Experten bezeichnet wird.
=== Andere Trainingsformen ===
==== Tanren-Makiwaratraining ====
Ein Makiwara ist ein im Boden oder an der Wand fest verankertes Brett aus elastischem Holz, z. B. Esche oder Hickory, mit Stoff, Leder o. ä. umwickelt, auf das man schlägt und tritt. Die Elastizität des Holzes verhindert dabei einen zu harten Rückstoß in die Gelenke. Die Verletzungsgefahr (Hautabschürfungen und Gelenkverletzungen) ist am Anfang trotzdem recht hoch.
Dieses Training fördert den Knochenaufbau der Unterarme. Die Armknochen bestehen aus fast hohlen Knochen, die durch diese Trainingsform gestärkt werden. Durch die Belastung des zurückfedernden Makiwara, bei einem Schlag oder Tritt, werden diese Stellen vom Körper „verdickt“, es lagert sich also mehr Kalzium in dem Knochen an. Dieser wird dadurch härter.
==== Kimetraining ====
Um das Kime zu trainieren, ist allgemein keine andere Übungsmethode außer dem normalen Karatetraining vonnöten (Kihon, Kata, Kumite, Makiwara), da jede Karatetechnik mit dieser Atmung ausgeführt wird. Es ist jedoch auch üblich, im Training Schwerpunkte zu setzen, doch auch dann werden Karatetechniken benutzt, um das Kime zu stärken. Kimetraining ist also Bestandteil eines umfangreichen Techniktrainings. Will man die Techniken durch das Kime stärken, so muss man zu Beginn einer Technik den Gliedmaßen jegliche Spannung nehmen. Erst beim Auftreffen einer Technik im Ziel wird die Muskulatur angespannt, gleichzeitig der Atem herausgestoßen, um die Technik zu arretieren. Um diesen Vorgang zu perfektionieren, werden meist nur einzelne Techniken geübt, hauptsächlich der gerade Fauststoß aus dem natürlichen, schulterbreiten Stand (shizentai). Isometrische Übungen stellen auch gute Übungsformen dar. Hierbei wird eine einzelne Technik ausgeführt und in der Endstellung gehalten. Dann wird Gegendruck auf diese Technik ausgeübt. Die Spannung wird ca. 4 Sekunden gehalten, die Atmung während dieser 4 Sekunden ist eine lange Kime-Atmung. Diese Übung wird mehrmals wiederholt.
Andere Übungsformen wären zum Beispiel:
Faustliegestütze mit schnellkräftigem Abstoßen
Hockstrecksprünge – Mae-Geri-Training
Training mit dem Deuser-Band (Atmung nur durch Kime)
Spezielle Atem-Kata wie Sanchin oder Hangetsu
== Wettkampf – Turniere ==
Im Zuge der modernen Entwicklung mancher Karate-Schulen von Kampfkunst hin zu Kampfsport werden in einigen Stilrichtungen Karate-Turniere (sowohl Kumite- als auch Kata-Turniere) praktiziert.
Da beim Freikampf wegen der hohen Effektivität vieler Techniken bei „echtem“ Kampf hohe Verletzungs- und sogar Todesgefahr droht, herrschen einerseits sehr strenge Regeln, die u. a. den Schutz der Teilnehmer gewährleisten sollen, und andererseits wird nur ein eingeschränktes Repertoire an Techniken im Wettkampf verwendet.
Turnierkämpfe werden mit Zahnschutz und, je nach Geschlecht, mit Brust- oder Tiefschutz ausgeführt. Weitere Schutzmaßnahmen hängen stark von der Verbandsphilosophie ab. So werden etwa beim größten Verband DKV (Deutscher Karate Verband) außerdem Faust- und Fußschützer sowie Schienbeinschoner verwendet, während beim DJKB (Deutscher JKA Karate Bund) keine weiteren Protektoren erlaubt waren (ab 2013 sind auch Faustschützer vorgeschrieben).
Befürworter von Karate-Wettkämpfen betonen den sportlichen Charakter von Karate und führen die sportlich-praktische Anwendbarkeit an. Kritiker der Karate-Wettkämpfe vertreten die Meinung, dass Wettkämpfe dem wahren Charakter und Geist des Karate-Do widersprechen, und dass durch die stark reduzierte Anzahl verwendeter Techniken das Karate verflacht und degeneriert.
Es handelt sich hierbei im Grunde genommen um verschiedene Sichtweisen: einerseits die traditionelle, die Karate als Kampfkunst sieht, deren letztendliches Ziel die Vervollkommnung der Persönlichkeit ist, und andererseits die moderne sportliche, in der Karate als Kampfsport zu sehen ist, und in der die praktische Anwendung mit sportlichem Charakter erwünscht ist. Eine mögliche Sicht ist, dass der Sportgedanke das Karate bereichert hat. Die Kampfkunst Karate könne mit dem Sport leben, doch der Sport nicht ohne die Kampfkunst Karate.
=== Olympische Spiele ===
Karate war bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio erstmals olympische Disziplin. Am 3. August 2016 stimmten die IOC Delegierten im Rahmen der 129. IOC-Session in Rio de Janeiro dem Vorschlag der IOC Exekutive zu und nahmen neben Karate auch Sportklettern, Skateboarding, Baseball und Surfing in die Liste der vom IOC anerkannten internationalen Verbände auf (siehe Karate bei den Olympischen Spielen). Viele Verbände, u. a. der DKV oder das Kampfkunst Kollegium, haben begonnen, alte Wettkampfformen und das Punktesystem zu verändern, um so den Karatewettkampf populärer und für die Olympischen Spiele geeigneter zu machen.
=== World Games ===
Qualifizierte Karatekas können an den alle vier Jahre stattfindenden World Games teilnehmen. Die World Games sind den Olympischen Spielen gleichgestellt. Deutschland hatte bereits mehrfach Goldmedaillengewinner in der Sparte Karate.
== Film und Medien ==
Siehe Hauptartikel: Martial-Arts-Film
== Siehe auch ==
Karate-Ausdrücke
Karatestellungen
Liste bekannter Karateka
Kyūsho Jitsu und Dim Mak für die Arbeit mit Vitalpunkten
Shaolin Karate
Shōtōkan
== Literatur ==
alphabetisch aufsteigend
Heiko Bittmann: Karatedō – Der Weg der Leeren Hand – Meister der vier großen Stilrichtungen und ihre Lehre. Biographien – Lehrschriften – Rezeption. Dissertation. Verlag Heiko Bittmann, Ludwigsburg und Kanazawa 1999, ISBN 3-00-004098-6.
Gichin Funakoshi: Karate-Dô Nyûmon. schlatt-books, 2000, ISBN 978-3-937745-05-3.
Gichin Funakoshi: Karate Jutsu – The Original Teachings of Master Funakoshi. 1. Auflage. Kōdansha International, Tokio, London 2001, ISBN 4-7700-2681-1 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – japanisch: Karate Jutsu. Übersetzt von John Tadao Teramoto, Erstausgabe: 1925, Vorwort von Jotaro Takagi, Tsutomu Oshima; übersetzt aus der japanischen Ausgabe von Funakoshi Gichin aus dem Jahr 1925 – WorldCat).
Gichin Funakoshi: Karate-Dō Kyōhan - The Master Text. Kodansha USA, New York 2012, ISBN 978-1-56836-482-7 (englisch, Erstausgabe: Kodansha International, 1973, übersetzt aus dem Japanischen von Tsutomu Ohshima).
Gichin Funakoshi: Karate-do. Die Kunst, ohne Waffen zu siegen. 1. Auflage. Piper, 2007, ISBN 978-3-492-24920-1 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Roland Habersetzer: Bubishi – An der Quelle des Karatedō. 3. Auflage. Palisander, Chemnitz 2009, ISBN 978-3-938305-00-3 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Roland Habersetzer: Karate der Meister. Mit Körper und Geist. Palisander Verlag, 1. Auflage 2010, ISBN 978-3-938305-16-4.
Roland Habersetzer: Die Grundtechniken des Karate. Vom Weißgurt bis zum 1. Dan. Palisander Verlag, 1. Auflage 2011, ISBN 978-3-938305-18-8. (Kihon waza für Shôtôkan und Wadô-ryû).
Thomas Heinze: Die Meister des Karate und Kobudo. Teil 1: Vor 1900. Books on Demand GmbH, Norderstedt 2009, ISBN 978-3-8391-1785-9 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Efthimios Karamitsos, Bogdan Pejcic: Karate Grundlagen. Falken Verlag, Niedernhausen im Taunus 2000, ISBN 3-8068-1863-0.
Stefan Katowiec: Karatedō in Deutschland. Kampfkunst, Buddhismusrezeption und religiöse Gegenwartskultur. Tectum-Verlag, Marburg 2010, ISBN 978-3-8288-2472-0.
Richard Kim: The Weaponless Warriors. An informal history of Okinawan Karate. Ohara Publications, Burbank 1989, ISBN 0-89750-041-5 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Werner Lind: Karate Grundlagen. BSK, Bensheim 2005, ISBN 3-00-019886-5.
Werner Lind: Karate Kihon. BSK, Bensheim 2006, ISBN 3-00-017522-9.
Kenei Mabuni: Leere Hand – Vom Wesen des Budō-Karate. Palisander Verlag, 1. Auflage 2007, ISBN 978-3-938305-05-8.
Hidetaka Nishiyama: Karate – Die Kunst der leeren Hand. schlatt-books, Lauda 2007, ISBN 978-3-937745-06-0.
Ralf Pfeifer: Mechanik und Struktur der Kampfsportarten. Handbuch für Trainer in Kampfsport und Kampfkunst. Dissertation an der Deutschen Sporthochschule Köln. 2. Auflage. Sport & Buch Strauß, Köln 2004, ISBN 3-89001-243-4 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Kurzinfo in BISp).
František Šebej, Hans Müller-Deck: Goju-Ryu Karate für Einsteiger. Sportverlag, Berlin 1990, ISBN 3-328-00388-6.
== Anmerkungen ==
== Weblinks ==
Geschichte des Karate in Deutschland
Bekannte Meister (archiviert)
Websites der Deutschen Dachverbände DKV und DJKB
Website des österreichischen Karatebundes
Toshiya. Magazin für Karate, Kampfkunst & Kultur – verbandsunabhängige Zeitschrift
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Karate |
Edelgase | = Edelgase =
Die Edelgase, auch inerte Gase oder Inertgase bilden eine Gruppe im Periodensystem der Elemente, die sieben Elemente umfasst: Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon, das radioaktive Radon sowie das künstlich erzeugte, ebenfalls radioaktive Oganesson. Die Gruppe wird systematisch auch 8. Hauptgruppe oder nach der neueren Einteilung des Periodensystems Gruppe 18 genannt und am rechten Rand des Periodensystems neben den Halogenen dargestellt.
Das einheitliche Hauptmerkmal sämtlicher Edelgasatome ist, dass sie für die energetisch höchsten Atomorbitale die Elektronenkonfiguration s2 (Helium) bzw. s2p6 aufweisen (Edelgaskonfiguration). Es gibt nur vollständig gefüllte Atomorbitale, die dazu führen, dass Edelgase nur unter extremen Bedingungen chemische Reaktionen eingehen; sie bilden auch miteinander keine Moleküle, sondern sind einatomig und bei Raumtemperatur Gase. Dieser geringen Reaktivität verdanken sie ihren Gruppennamen, der sich an die ebenfalls nur wenig reaktiven Edelmetalle anlehnt.Helium ist das mit Abstand häufigste Edelgas. Auf der Erde kommt Argon am häufigsten vor; alle anderen zählen zu den seltenen Bestandteilen der Erde. Als Gase sind sie Bestandteile der Luft; in der Erdkruste findet man sie mit Ausnahme des Heliums, das in Erdgas enthalten ist, nur in sehr geringen Mengen. Entdeckt wurden sie – mit Ausnahme des erst 2006 hergestellten Oganessons – kurz nacheinander in den Jahren 1868 (Helium) bis 1900 (Radon). Die meisten Edelgase wurden erstmals vom britischen Chemiker William Ramsay isoliert.
Verwendung finden Edelgase vor allem als Schutzgas, z. B. in Glühlampen, wichtig sind sie als Füllgas von Gasentladungslampen, in denen sie in der für jedes Gas charakteristischen Farbe leuchten. Trotz der geringen Reaktivität sind von den schwereren Edelgasen, insbesondere Xenon, chemische Verbindungen bekannt. Deren wichtigste ist das starke Oxidationsmittel Xenon(II)-fluorid.
== Geschichte ==
Einen ersten Hinweis, dass in der Luft ein unreaktives Gas enthalten ist, fand 1783 Henry Cavendish. Er mischte Luft und Sauerstoff derart, dass die darin enthaltenen Elemente Stickstoff und Sauerstoff mit Hilfe von Reibungselektrizität komplett zu Stickoxiden reagierten. Dabei blieb ein nicht reagierender Rest zurück. Er erkannte jedoch nicht, dass es sich dabei um ein neues Gas – eine Mischung aus Argon und anderer Edelgase – handelte, und setzte seine Experimente nicht fort.Als erstes Edelgas entdeckten 1868 Jules Janssen und Norman Lockyer das Helium unabhängig voneinander. Die beiden Astronomen beobachteten – Janssen in Indien, Lockyer in England – das Sonnenspektrum und entdeckten darin eine bislang unbekannte gelbe Spektrallinie bei einer Wellenlänge von 587,49 nm. Das neue Element wurde von Edward Frankland nach altgriechisch ἥλιος hélios für die Sonne Helium genannt. Der erste Nachweis von Helium auf der Erde gelang 1892 Luigi Palmieri durch Spektralanalyse von Vesuv-Lava.Cavendishs Experimente zur Untersuchung der Luft wurden ab 1888 von Lord Rayleigh fortgesetzt. Er bemerkte, dass „Stickstoff“, der aus der Luft gewonnen wurde, eine andere Dichte besitzt als aus der Zersetzung von Ammoniak gewonnener. Rayleigh vermutete daher, dass es einen noch unbekannten, reaktionsträgen Bestandteil der Luft geben müsse. Daher versuchten er und William Ramsay, durch Reaktion mit Magnesium den Stickstoff aus einer Luftprobe vollständig zu entfernen und dieses unbekannte Gas zu isolieren. Schließlich gelang ihnen 1894 spektroskopisch der Nachweis eines neuen Elementes, das sie nach dem griechischen ἀργός argos, „träge“, Argon benannten.Nachdem die wichtigsten Eigenschaften von Helium und Argon bestimmt worden waren, konnte festgestellt werden, dass diese Gase im Gegensatz zu den anderen atmosphärischen Gasen einatomig sind. Dies wurde dadurch erkannt, dass das Verhältnis der molaren Wärmekapazität Cp bei konstantem Druck im Verhältnis zur Wärmekapazität CV bei konstantem Volumen bei Edelgasen einen sehr hohen Wert von 1,67 (= Cp/CV) aufweist, während zwei- und mehratomige Gase deutlich kleinere Werte aufweisen. Daraufhin vermutete William Ramsay, dass es eine ganze Gruppe derartiger Gase geben müsse, die eine eigene Gruppe im Periodensystem bilden und er begann nach diesen zu suchen. 1898 gelang es ihm und Morris William Travers, durch fraktionierte Destillation von Luft, Neon, Krypton und Xenon zu isolieren.Als letztes der natürlich vorkommenden Edelgase wurde 1900 von Friedrich Ernst Dorn als Radium-Emanation (Ausdünstung von Radium) das Radon entdeckt und mit dem Symbol Em bezeichnet. Dabei handelte es sich um das Isotop 222Rn. Weitere Radon-Isotope wurden von Ernest Rutherford und André-Louis Debierne gefunden und zunächst für eigene Elemente gehalten. Erst nachdem William Ramsay 1910 das Spektrum und weitere Eigenschaften bestimmte, erkannte er, dass es sich um ein einziges Element handelt. Er nannte dies zunächst Niton (Nt), seit 1934 wird der Name Radon verwendet. Oganesson, das letzte Element der Gruppe, konnte nach mehreren nicht erfolgreichen Versuchen erstmals 2002–2005 am Vereinigten Institut für Kernforschung in Dubna erzeugt werden.Es wurden schon bald nach der Entdeckung Versuche unternommen, Verbindungen der Edelgase zu synthetisieren. 1894 versuchte Henri Moissan, eine Reaktion von Argon mit Fluor zu erreichen, scheiterte jedoch. Im Jahr 1924 behauptete A. von Antropoff, eine erste Kryptonverbindung in Form eines roten stabilen Feststoffes aus Krypton und Chlor synthetisiert zu haben. Später stellte sich jedoch heraus, dass in dieser Verbindung kein Krypton, sondern Stickstoffmonoxid und Chlorwasserstoff enthalten waren.Mit Xenonhexafluoroplatinat wurde 1962 durch Neil Bartlett erstmals eine Xenonverbindung und damit die erste Edelgasverbindung überhaupt entdeckt. Nur wenige Monate nach dieser Entdeckung folgten im August 1962 nahezu zeitgleich die Synthese des Xenon(II)-fluorids durch Rudolf Hoppe und die des Xenon(IV)-fluorids durch eine Gruppe um die amerikanischen Chemiker C. L. Chernick und H. H. Claassen. Bald darauf konnte durch A. V. Grosse die erste Kryptonverbindung dargestellt werden, die er zunächst für Kryptontetrafluorid hielt, die jedoch nach weiteren Versuchen als Kryptondifluorid identifiziert wurde. Im Jahr 2000 wurde die erste Argonverbindung, das sehr instabile Argonfluorohydrid synthetisiert.
== Vorkommen ==
Edelgase finden sich vorwiegend in der Erdatmosphäre, in geringem Maße aber auch in der Erdkruste; ihre Häufigkeiten sind jedoch sehr unterschiedlich. Das mit Abstand häufigste ist Argon, das mit einem Volumenanteil von 0,934 % (9340 ppm) einen nennenswerten Anteil der gesamten Atmosphäre ausmacht. Alle anderen sind mit Anteilen unter 20 ppm sehr viel seltener, sie zählen daher zu den Spurengasen. Krypton, Xenon und Radon zählen zu den seltensten Elementen auf der Erde überhaupt. Helium ist außerdem Bestandteil von Erdgas, an dem es einen Anteil von bis zu 16 % am Volumen haben kann.Ständig verlässt eine geringe Menge Helium auf Grund seiner niedrigen Dichte die Erdatmosphäre in den Weltraum und ständig werden auf der Erde Edelgase neu gebildet, was ihre Häufigkeiten und auch ihre Isotopenverhältnisse maßgeblich bestimmt. Argon, vor allem das Isotop 40Ar, wird durch Zerfall des Kaliumisotops 40K gebildet. Helium entsteht beim Alpha-Zerfall von schweren Elementen wie Uran oder Thorium (Alpha-Teilchen), Xenon beim seltenen Spontanzerfall von Uran. Das kurzlebige Radon-Isotop 222Rn mit einer Halbwertszeit von 3,8 Tagen ist das häufigste und ein Zwischenprodukt in der Zerfallsreihe von 238U. Andere, noch kurzlebigere Isotope sind ebenfalls Mitglieder der Zerfallsreihen von Uran-, Thorium- oder Neptuniumisotopen. Auf Grund dieser Zerfallsprozesse findet man die Edelgase auch in Gesteinen eingeschlossen. So findet sich Helium in vielen Uranerzen wie Uraninit und Argon im Basalt der ozeanischen Kruste, erst beim Schmelzen des umgebenden Gesteins gast es aus.Die Häufigkeitsverteilung der Edelgase im Universum lässt sich großteils durch die Nukleosynthesewege erklären. Je schwerer ein Edelgas, desto seltener ist es. Helium, das sowohl durch primordiale Nukleosynthese gebildet wird, als auch durch stellare Nukleosynthese aus Wasserstoff entsteht, ist dabei nach Wasserstoff das zweithäufigste Element überhaupt. Auch Neon und Argon zählen zu den häufigsten Elementen im Universum. Krypton und Xenon, die nicht durch stellare Nukleosynthese entstehen und sich nur in seltenen Ereignissen wie Supernovae bilden, sind deutlich seltener. Bedingt durch ihren regelmäßigen Aufbau mit gerader Protonenzahl sind Edelgase gemäß der Harkinsschen Regel häufiger als viele ähnlich schwere Elemente.
== Gewinnung ==
Mit Ausnahme eines Großteils des Heliums und der radioaktiven Elemente erfolgt die Gewinnung der Edelgase ausschließlich aus der Luft. Sie fallen als Nebenprodukte bei der Gewinnung von Stickstoff und Sauerstoff im Linde-Verfahren an. In der Haupt-Rektifikationskolonne, in der Sauerstoff und Stickstoff getrennt werden, reichern sich die verschiedenen Edelgase an unterschiedlichen Stellen an. Sie können aber in eine eigene Kolonne überführt und dort von allen anderen Gasen getrennt werden. Während Argon leicht abgetrennt werden kann und nur von Stickstoff und Sauerstoff befreit werden muss, besteht bei Helium und Neon, aber auch bei Krypton und Xenon das Problem, dass diese sich zunächst zusammen anreichern und anschließend getrennt werden müssen. Dies kann über eine weitere Rektifikationskolonne oder auch durch unterschiedliche Adsorption der Gase an geeigneten Adsorptionsmedien erfolgen.Helium wird zumindest seit 1980 überwiegend aus Erdgas gewonnen. Diese Heliumquelle wurde zuerst in den Vereinigten Staaten entdeckt, später auch in der Sowjetunion genutzt, heute in wenigen weiteren Ländern und Werken, so etwa in Algerien, dessen Ausbeute tiefkalt verflüssigt im 40-Fuß-Container nach Marseille und damit Europa verschifft wird. Von den anderen Bestandteilen des Erdgases kann es als Rohhelium entweder durch Ausfrieren aller anderen Gase oder durch Permeation an geeigneten Membranen getrennt werden. Anschließend muss das Helium noch durch Druckwechsel-Adsorption, chemische oder kryotechnische Verfahren von restlichen störenden Gasen wie Stickstoff oder Wasserstoff befreit werden.Radon lässt sich auf Grund der kurzen Halbwertszeit nicht in größeren Mengen gewinnen. In kleinerem Maßstab dient Radium als Quelle, Radon entsteht beim Zerfall dieses Elements und gast aus einem entsprechenden Präparat aus. Oganesson konnte als künstliches Element in wenigen Atomen durch Beschuss von Californium mit Calcium-Atomen erzeugt werden.
== Eigenschaften ==
=== Physikalische Eigenschaften ===
Alle Edelgase sind unter Normalbedingungen einatomige, farb- und geruchlose Gase. Sie kondensieren und erstarren erst bei sehr niedrigen Temperaturen, wobei die Schmelz- und Siedepunkte umso höher liegen, je größer die Atommasse ist. Der Siedepunkt des Heliums liegt mit 4,224 K (−268,926 °C) nur knapp über dem absoluten Nullpunkt, das schwerste Edelgas Radon siedet bei 211,9 K (−61,25 °C).
Helium besitzt die Besonderheit, dass es als einziges Element unter Atmosphärendruck und auch deutlich darüber nicht erstarrt. Stattdessen geht es bei 2,17 K in einen speziellen Aggregatzustand, die Suprafluidität, über. In diesem verliert die Flüssigkeit die innere Reibung und kann so beispielsweise über höhere Gefäßwände kriechen (Onnes-Effekt). Erst bei Drücken über 25,316 bar erstarrt Helium bei 0,775 K. Diese Temperaturen und Drücke gelten nur für das häufige Isotop 4He, das seltene zweite, leichtere stabile Isotop 3He hat dagegen deutlich andere Eigenschaften. Es wird erst bei Temperaturen unter 2,6 · 10−3 K suprafluid. Auch Schmelz-, Siede- und kritischer Punkt liegen bei anderen Temperaturen und Drücken.
Mit Ausnahme des Heliums, das im hexagonalen Kristallsystem kristallisiert, besitzen alle Edelgase eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur. Wie durch die steigenden Atomradien zu erwarten, wird der Gitterparameter a von Neon zu Radon immer größer.
Auch die Dichten der Edelgase korrelieren wie zu erwarten mit der Atommasse. Helium ist nach Wasserstoff das Gas mit der geringsten Dichte. Als einziges weiteres Edelgas hat Neon eine geringere Dichte als Luft, während Argon, Krypton, Xenon und Radon dichter sind. Radon ist mit einer Dichte von 9,73 kg/m3 eines der dichtesten Gase überhaupt.
Die Eigenschaften von Oganesson sind auf Grund der kurzen Halbwertszeit nicht experimentell ermittelbar. Nach theoretischen Überlegungen ist durch relativistische Effekte und die hohe Polarisierbarkeit des Oganesson-Atoms anzunehmen, dass Oganesson deutlich reaktiver ist als Radon. Auch ist es unwahrscheinlich, dass es bei Standardbedingungen gasförmig ist, durch Extrapolation kann ein Siedepunkt zwischen 320 und 380 K angenommen werden.
Edelgase in Gasentladungslampen
=== Atomare Eigenschaften ===
Bei Edelgasen sind alle Elektronenschalen entweder vollständig mit Elektronen besetzt oder leer. Deshalb wird dieser Zustand auch Edelgaskonfiguration genannt. Helium ist dabei das einzige Edelgas, bei dem lediglich ein s-Orbital vollständig besetzt ist (da es kein 1p-Orbital gibt), bei allen anderen ist das äußerste besetzte Orbital ein p-Orbital. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik ist dieser Zustand der Orbitale energetisch besonders günstig. Darum tendieren auch Atome anderer Elemente dazu, Edelgaskonfiguration zu erreichen, indem sie Elektronen abgeben oder aufnehmen (Edelgasregel).
Die Eigenschaften der Edelgase sind deutlich davon bestimmt, dass sie Edelgaskonfiguration nicht durch Abgabe oder Aufnahme von Elektronen, sondern bereits im neutralen, nicht-ionisierten Zustand erreichen. Edelgase liegen daher einatomig vor, besitzen eine hohe Ionisierungsenergie und reagieren fast nicht mit anderen Elementen oder Verbindungen.
=== Chemische Eigenschaften ===
Trotz des Aufbaus der Edelgasatome sind die schweren Edelgase nicht völlig unreaktiv und können einige Verbindungen bilden. Verantwortlich hierfür sind der größere Abstand der Valenzelektronen vom Kern, wodurch die Ionisierungsenergie sinkt, sowie relativistische Effekte. Die größte Vielfalt an Verbindungen ist vom Xenon und nicht wie zu erwarten vom Radon bekannt, da bei diesem die starke Radioaktivität und kurze Halbwertszeit die Bildung von Verbindungen und deren Untersuchung erschwert.
Das einzige Element, das in der Lage ist, direkt mit Xenon, Radon und unter bestimmten Bedingungen auch Krypton zu reagieren, ist Fluor. Während das bei der Reaktion von Krypton und Fluor gebildete Krypton(II)-fluorid thermodynamisch instabil und daher nur bei tiefen Temperaturen synthetisierbar ist, sind die Xenon- und auch Radonfluoride auch bei Raumtemperatur stabil. Andere Elemente reagieren nicht mit Edelgasen, dennoch sind verschiedene weitere Verbindungen bekannt, die durch Reaktionen der Fluoride zugänglich sind.
Die Reaktivität und Stabilität von Verbindungen der leichten Edelgase Helium, Neon und Argon konnte mit Ausnahme einer bekannten Argonverbindung, HArF, nur theoretisch untersucht werden. Demnach gilt Neon als das am wenigsten reaktive Edelgas. So zeigte sich in Rechnungen, dass das Neonanalogon der einzigen in der Theorie stabilen Heliumverbindung HHeF nicht stabil sein sollte.Aufgrund des Fehlens chemischer Verbindungen der Edelgase gab es lange Zeit auch keine Zahlenwerte ihrer Elektronegativitäten – bestimmt werden konnten davon bis jetzt nur die Werte der Pauling-Skala für die beiden Elemente Xenon (2,6) und Krypton (3,0), die damit in etwa denen der Halogene entsprechen. In den neueren Elektronegativitätsskalen nach Mulliken, Allred und Rochow dagegen lassen sich auch Zahlenwerte für die übrigen Edelgase berechnen, die in diesem Fall über die der Halogene hinausreichen. Bei Helium betragen sie beispielsweise 5,50 nach Allred-Rochow und 4,86 nach Mullikan.
== Verwendung ==
Edelgase werden auf Grund ihrer geringen Reaktivität, der niedrigen Schmelzpunkte und der charakteristischen Farben bei Gasentladungen genutzt. Vor allem Argon und Helium werden in größerem Maßstab verwendet, die anderen Edelgase können nur in geringeren Mengen produziert werden und sind daher teuer. Die geringe Reaktivität wird in der Verwendung als Inert- bzw. Schutzgas beispielsweise beim Schutzgasschweißen und in der Produktion von bestimmten Metallen wie Titan oder Tantal ausgenutzt. Dafür wird vorwiegend das Argon immer dann eingesetzt, wenn der billigere, aber reaktivere Stickstoff nicht verwendet werden kann.
Bei Gasentladungen gibt jedes Edelgas Licht einer charakteristischen Farbe ab. Bei Neon beispielsweise ist das emittierte Licht rot, bei Argon violett und bei Krypton oder Xenon blau. Dies wird in Gasentladungslampen ausgenutzt. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Xenon, da das Spektrum einer Xenon-Gasentladungslampe annähernd dem des Tageslichtes entspricht. Es wird darum auch in Autoscheinwerfern als „Xenonlicht“ verwendet. Auch Leuchtröhren basieren auf diesem Prinzip, nach dem ersten verwendeten Leuchtgas Neon werden sie auch Neonlampen genannt. Dagegen nutzen die umgangssprachlich „Neonröhren“ genannten Leuchtstofflampen kein Edelgas, sondern Quecksilberdampf als Leuchtmittel. Auch Glühlampen werden mit Edelgasen, häufig Krypton oder Argon, gefüllt. Dadurch ist die effektive Abdampfrate des Glühfadens geringer, was eine höhere Temperatur und damit bessere Lichtausbeute ermöglicht.Auf Grund der niedrigen Schmelz- und Siedepunkte sind Edelgase als Kühlmittel von Bedeutung. Hier spielt vor allem flüssiges Helium eine Rolle, da durch dieses besonders niedrige Temperaturen erreicht werden können. Dies ist beispielsweise für supraleitende Magnete wichtig, die etwa in der Kernspinresonanzspektroskopie eingesetzt werden. Müssen für eine Anwendung keine so niedrigen Temperaturen erreicht werden, wie sie flüssiges Helium bietet, können auch die höher siedenden Edelgase wie Neon verwendet werden.Wie alle Gase wirken auch die Edelgase abhängig vom Druck durch Blockierung von Membranen in Nervenzellen narkotisierend. Die nötigen Drücke liegen aber bei Helium und Neon so hoch, dass sie nur im Labor erreicht werden können; für Neon liegt der notwendige Druck bei 110 bar. Da sie daher keinen Tiefenrausch verursachen können, werden diese beiden Gase gemischt mit Sauerstoff („Heliox“ und „Neox“), auch mit Sauerstoff und Stickstoff („Trimix“) als Atemgase beim Tauchen verwendet. Mit diesen ist es möglich, größere Tiefen zu erreichen als bei der Nutzung von Luft. Xenon wirkt dagegen schon bei Umgebungsdruck narkotisierend und kann daher anstelle von Distickstoffmonoxid als Inhalationsanästhetikum verwendet werden. Wegen des hohen Preises und der geringen Verfügbarkeit wird es jedoch nur selten verwendet.Helium ist Füll- und Traggas für Gasballone und Zeppeline. Neben Helium kann auch Wasserstoff verwendet werden. Dieser ist zwar leichter und ermöglicht mehr Nutzlast, jedoch kann er mit dem Sauerstoff der Luft reagieren und brennen. Beim unreaktiven Helium besteht diese Gefahr nicht.
Entsprechend ihrer Häufigkeit und Verfügbarkeit werden Edelgase in unterschiedlichen Mengen produziert. So betrug 1998 die Menge des hergestellten Argons etwa 2 Milliarden m3, Helium wurde in einer Menge von rund 130 Millionen m3 isoliert. Die Weltjahresproduktion an Xenon wird dagegen für 1998 auf nur 5.000–7.000 m3 geschätzt (jeweils Normkubikmeter). Entsprechend unterschiedlich sind die Preise der Gase: Argon kostet etwa 15 Euro pro Kubikmeter (unter Standardbedingungen, Laborqualität), Xenon 10.000 Euro pro Kubikmeter (Stand 1999).
== Verbindungen ==
=== Xenonverbindungen ===
Die größte Vielfalt an Edelgasverbindungen gibt es mit dem Xenon. Die wichtigsten und stabilsten sind dabei die Xenonfluoride Xenon(II)-fluorid, Xenon(IV)-fluorid und Xenon(VI)-fluorid, die durch Reaktion von Xenon und Fluor in unterschiedlichen Verhältnissen synthetisiert werden. Xenon(II)-fluorid ist die einzige Edelgasverbindung, die in geringen Mengen technisch genutzt wird, sie dient als starkes Oxidations- und Fluorierungsmittel in der organischen Chemie.Mit Sauerstoff erreicht Xenon die höchste mögliche Oxidationsstufe +8. Diese wird in Xenon(VIII)-oxid und dem Oxifluorid Xenondifluoridtrioxid XeO3F2 sowie in Perxenaten der Form XeO4− erreicht. Weiterhin sind Xenon(VI)-oxid und die Oxifluoride XeO2F2 und XeOF4 in der Oxidationsstufe +6 sowie das Oxifluorid XeOF2 mit vierwertigem Xenon bekannt. Alle Xenonoxide und -oxifluoride sind instabil und vielfach explosiv. Auch Verbindungen des Xenons mit Stickstoff, Chlor und Kohlenstoff sind bekannt. Unter supersauren Bedingungen konnten auch Komplexe mit Metallen wie Gold oder Quecksilber synthetisiert werden.
=== Verbindungen anderer Edelgase ===
Von den anderen Edelgasen sind Verbindungen nur in geringer Zahl bekannt. So sollten Radonverbindungen zwar thermodynamisch ähnlich stabil wie Xenonverbindungen sein, aufgrund der starken Radioaktivität und kurzen Halbwertszeit der Radon-Isotope ist ihre Synthese und exakte Charakterisierung aber außerordentlich schwierig. Vermutet wird die Existenz eines stabilen Radon(II)-fluorids, da Radon nach dem Durchleiten durch flüssiges Chlortrifluorid nicht mehr nachweisbar ist, somit reagiert haben muss. Löst man die Rückstände dieser Lösung in Wasser oder Säuren, bilden sich als Zersetzungsprodukte Sauerstoff und Fluorwasserstoff im gleichen Verhältnis wie bei Krypton- oder Xenondifluorid.Alle bekannten Verbindungen leichterer Edelgase sind thermodynamisch instabil, zersetzen sich leicht und lassen sich deshalb, wenn überhaupt, nur bei tiefen Temperaturen synthetisieren. Die wichtigste und stabilste Kryptonverbindung ist Krypton(II)-fluorid, das zu den stärksten bekannten Oxidations- und Fluorierungsmitteln zählt. Krypton(II)-fluorid ist direkt aus den Elementen herstellbar und Ausgangsprodukt einer Reihe weiterer Kryptonverbindungen.Während Helium- und Neonverbindungen weiterhin allein Gegenstand theoretischer Untersuchungen sind und Rechnungen ergaben, dass allenfalls eine Heliumverbindung (HHeF), dagegen keine einzige Neonverbindung stabil sein sollte, konnte eine erste Argonverbindung inzwischen tatsächlich synthetisiert werden: Durch Photolyse von Fluorwasserstoff in einer auf 7,5 K heruntergekühlten Argonmatrix konnte das sehr instabile Argonfluorohydrid gebildet werden, das schon bei Berührung zweier Moleküle oder Erwärmung über 27 K wieder in seine Bestandteile zerfällt.
=== Clathrate ===
Argon, Krypton und Xenon bilden Clathrate, Einschlussverbindungen, bei denen das Edelgas physikalisch in einen umgebenden Feststoff eingeschlossen ist. Typische Beispiele hierfür sind Edelgas-Hydrate, bei denen die Gase in Eis eingeschlossen sind. Ein Argon-Hydrat bildet sich langsam erst bei −183 °C, Hydrate des Kryptons und Xenons schon bei −78 °C. Auch mit anderen Stoffen wie Hydrochinon sind Edelgas-Clathrate bekannt.
== Literatur ==
P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006 (doi:10.1002/14356007.a17_485).
Eintrag zu Edelgase. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 19. Juni 2014.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 417–429.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Edelgase |
Satz des Pythagoras | = Satz des Pythagoras =
Der Satz des Pythagoras (auch Hypotenusensatz) ist einer der fundamentalen Sätze der euklidischen Geometrie. Er besagt, dass in allen ebenen rechtwinkligen Dreiecken die Summe der Flächeninhalte der Kathetenquadrate gleich dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrates ist. Sind
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
die Längen der am rechten Winkel anliegenden Seiten, der Katheten, und
c
{\displaystyle c}
die Länge der dem rechten Winkel gegenüberliegenden Seite, der Hypotenuse, dann lautet der Satz als Gleichung ausgedrückt:
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
Der Satz ist nach Pythagoras von Samos benannt, der als Erster dafür einen mathematischen Beweis gefunden haben soll, was allerdings in der Forschung umstritten ist. Die Aussage des Satzes war schon lange vor der Zeit des Pythagoras in Babylon und Indien bekannt, es gibt jedoch keinen Nachweis dafür, dass man dort auch einen Beweis hatte.
== Mathematische Aussage ==
Der Satz des Pythagoras lässt sich folgendermaßen formulieren:
Sind
a
{\displaystyle a}
,
b
{\displaystyle b}
und
c
{\displaystyle c}
die Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks, wobei
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
die Längen der Katheten sind und
c
{\displaystyle c}
die Länge der Hypotenuse ist, so gilt
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
.In geometrischer Deutung ist demnach in einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Flächen der beiden Quadrate über den Katheten gleich der Fläche des Quadrats über der Hypotenuse.
Die Umkehrung des Satzes gilt ebenso:
Gilt die Gleichung
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
in einem Dreieck mit den Seitenlängen
a
{\displaystyle a}
,
b
{\displaystyle b}
und
c
{\displaystyle c}
, so ist dieses Dreieck rechtwinklig, wobei der rechte Winkel der Seite
c
{\displaystyle c}
gegenüberliegt.Eng verwandt mit dem Satz des Pythagoras sind der Höhensatz und der Kathetensatz. Diese beiden Sätze und der Satz des Pythagoras bilden zusammen die Satzgruppe des Pythagoras. Der unten beschriebene Kosinussatz ist eine Verallgemeinerung des pythagoreischen Satzes.
== Verwendung ==
=== Längen im rechtwinkligen Dreieck ===
Aus dem Satz des Pythagoras folgt direkt, dass die Länge der Hypotenuse gleich der Quadratwurzel aus der Summe der Kathetenquadrate ist, also
c
=
a
2
+
b
2
{\displaystyle c={\sqrt {a^{2}+b^{2}}}}
.Eine einfache und wichtige Anwendung des Satzes ist, aus zwei bekannten Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks die dritte zu berechnen. Dies ist durch Umformung der Gleichung für alle Seiten möglich:
a
=
c
2
−
b
2
b
=
c
2
−
a
2
{\displaystyle {\begin{aligned}a&={\sqrt {c^{2}-b^{2}}}\\b&={\sqrt {c^{2}-a^{2}}}\end{aligned}}}
Die Umkehrung des Satzes kann dazu verwendet werden, zu überprüfen, ob ein gegebenes Dreieck rechtwinklig ist. Dazu wird getestet, ob die Gleichung des Satzes für die Seiten bei dem gegebenen Dreieck zutrifft. Es reicht also allein die Kenntnis der Seitenlängen eines gegebenen Dreiecks, um daraus zu schließen, ob es rechtwinklig ist oder nicht:
Sind die Seitenlängen z. B.
3
{\displaystyle 3}
,
4
{\displaystyle 4}
und
5
{\displaystyle 5}
, dann ergibt sich
3
2
+
4
2
=
9
+
16
=
25
=
5
2
{\displaystyle 3^{2}+4^{2}=9+16=25=5^{2}}
, und daher ist das Dreieck rechtwinklig.
Sind die Seitenlängen z. B.
4
{\displaystyle 4}
,
5
{\displaystyle 5}
und
6
{\displaystyle 6}
, dann ergibt sich
4
2
+
5
2
=
16
+
25
=
41
≠
6
2
{\displaystyle 4^{2}+5^{2}=16+25=41\neq 6^{2}}
, und daher ist das Dreieck nicht rechtwinklig.Aus dem Satz des Pythagoras folgt, dass in einem rechtwinkligen Dreieck die Hypotenuse länger als jede der Katheten und kürzer als deren Summe ist. Letzteres ergibt sich auch aus der Dreiecksungleichung.
=== Reziproke Längen im rechtwinkligen Dreieck ===
Aus dem Satz des Pythagoras folgt als direkte Anwendung der reziproke Satz des Pythagoras:
Sind
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
die Längen der Katheten und
h
{\displaystyle h}
die Länge der Höhe auf der Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck
A
B
C
{\displaystyle ABC}
, dann sind
1
a
{\displaystyle {\frac {1}{a}}}
und
1
b
{\displaystyle {\frac {1}{b}}}
die Kathetenlängen und
1
h
{\displaystyle {\frac {1}{h}}}
die Hypotenusenlänge eines zu
A
B
C
{\displaystyle ABC}
ähnlichen rechtwinkligen Dreiecks
A
′
B
′
C
′
{\displaystyle A'B'C'}
.
Somit folgt:
1
a
2
+
1
b
2
=
1
h
2
{\displaystyle {\frac {1}{a^{2}}}+{\frac {1}{b^{2}}}={\frac {1}{h^{2}}}}
.
Wegen der Rechtwinkligkeit gilt für die Flächenmaßzahl des Dreiecks ABC die Gleichheit
a
b
2
=
c
h
2
{\displaystyle {\frac {ab}{2}}={\frac {ch}{2}}}
oder
c
=
a
b
h
{\displaystyle c={\frac {ab}{h}}}
.
Durch Division der Pythagorasgleichung auf beiden Seiten durch
a
2
b
2
{\displaystyle a^{2}b^{2}}
und Einsetzen von
a
b
h
{\displaystyle {\frac {ab}{h}}}
für
c
{\displaystyle c}
ergibt sich die Aussage des Satzes aus folgender Äquivalenzkette:
a
2
+
b
2
=
c
2
⇔
1
b
2
+
1
a
2
=
c
2
a
2
b
2
⇔
1
a
2
+
1
b
2
=
a
2
b
2
h
2
a
2
b
2
⇔
1
a
2
+
1
b
2
=
1
h
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}\Leftrightarrow {\frac {1}{b^{2}}}+{\frac {1}{a^{2}}}={\frac {c^{2}}{a^{2}b^{2}}}\Leftrightarrow {\frac {1}{a^{2}}}+{\frac {1}{b^{2}}}={\frac {\frac {a^{2}b^{2}}{h^{2}}}{a^{2}b^{2}}}\Leftrightarrow {\frac {1}{a^{2}}}+{\frac {1}{b^{2}}}={\frac {1}{h^{2}}}}
=== Pythagoreische Tripel ===
Unter allen Dreiergruppen
(
a
,
b
,
c
)
{\displaystyle (a,b,c)}
, die die Gleichung
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
erfüllen, gibt es unendlich viele, bei denen
a
{\displaystyle a}
,
b
{\displaystyle b}
und
c
{\displaystyle c}
jeweils ganze Zahlen sind. Diese Dreiergruppen werden pythagoreische Tripel genannt. Das einfachste dieser Tripel besteht aus den Zahlen
3
{\displaystyle 3}
,
4
{\displaystyle 4}
und
5
{\displaystyle 5}
. Pythagoreische Tripel werden seit alters her zur Konstruktion rechtwinkliger Dreiecke verwendet. Ein Beispiel ist die Zwölfknotenschnur, mit der ein Dreieck gelegt wird, dessen Seiten die Längen
3
{\displaystyle 3}
,
4
{\displaystyle 4}
und
5
{\displaystyle 5}
haben. Die beiden kurzen Seiten bilden dann einen rechten Winkel.
Der große fermatsche Satz besagt, dass die
n
{\displaystyle n}
-te Potenz einer Zahl, wenn
n
>
2
{\displaystyle n>2}
ist, nicht als Summe zweier Potenzen des gleichen Grades dargestellt werden kann. Gemeint sind ganze Grundzahlen
≠
0
{\displaystyle \neq 0}
und natürliche Hochzahlen. Allgemein gesprochen bedeutet dies:
Die Gleichung
a
n
+
b
n
=
c
n
{\displaystyle a^{n}+b^{n}=c^{n}}
besitzt für ganzzahlige
a
,
b
,
c
≠
0
{\displaystyle a,b,c\neq 0}
und natürliche Zahlen
n
>
2
{\displaystyle n>2}
keine Lösung.Das ist erstaunlich, weil es für
n
≤
2
{\displaystyle n\leq 2}
unendlich viele Lösungen gibt. Für
n
=
2
{\displaystyle n=2}
sind dies die pythagoreischen Zahlentripel.
Trotz seiner einfachen Formulierung gilt der Beweis des großen fermatschen Satzes, der erst 1995 erbracht werden konnte, als außerordentlich schwierig.
=== Euklidischer Abstand ===
Der Satz von Pythagoras liefert eine Formel für den Abstand zweier Punkte in einem kartesischen Koordinatensystem. Sind zwei Punkte
(
x
0
,
y
0
)
{\displaystyle (x_{0},y_{0})}
und
(
x
1
,
y
1
)
{\displaystyle (x_{1},y_{1})}
in einer Ebene gegeben, dann ist ihr Abstand
c
{\displaystyle c}
durch
c
=
(
x
1
−
x
0
)
2
+
(
y
1
−
y
0
)
2
{\displaystyle c={\sqrt {(x_{1}-x_{0})^{2}+(y_{1}-y_{0})^{2}}}}
gegeben. Hierbei wird ausgenutzt, dass die Koordinatenachsen senkrecht zueinander liegen. Diese Formel kann auch auf mehr als zwei Dimensionen erweitert werden und liefert dann den euklidischen Abstand. Zum Beispiel gilt im dreidimensionalen euklidischen Raum
c
=
(
x
1
−
x
0
)
2
+
(
y
1
−
y
0
)
2
+
(
z
1
−
z
0
)
2
{\displaystyle c={\sqrt {(x_{1}-x_{0})^{2}+(y_{1}-y_{0})^{2}+(z_{1}-z_{0})^{2}}}}
.Das entspricht auch dem Betrag bzw. der Länge des durch die beiden Punkte definierten Vektors.
== Beweise ==
Für den Satz sind mehrere hundert Beweise bekannt, womit er wohl der meistbewiesene mathematische Satz ist. Elisha Scott Loomis führt in einem zuerst 1927 erschienenen Buch 371 Beweise auf. Mario Gerwig führt in einer Überarbeitung und Ergänzung der Loomis-Sammlung rund 365 verschiedene Beweise auf, wobei er Loomis rund 360 Beweise zuordnet und eine ganze Reihe von Fehlern, darunter auch der Aufnahme offensichtlich falscher Beweise. Exemplarisch werden im Folgenden sechs geometrische Beweise vorgestellt. Ein siebter Beweis aus dem Jahr 1875 von James A. Garfield findet sich unter Beweis des Satzes des Pythagoras nach Garfield, der dem Beweis durch Ergänzung stark ähnelt.
=== Beweis nach Euklid ===
Euklid beschreibt den Satz des Pythagoras mit dem folgenden Beweis im ersten Buch seiner Elemente in der Proposition 47. Dort beweist er zunächst den Kathetensatz mit Hilfe kongruenter Dreiecke, aus welchem dann unmittelbar der Satz des Pythagoras folgt. Der Beweis benutzt nicht die Theorie der Proportionen, die Euklid im Buch 5 der Elemente entwickelt, sondern kommt allein mit den Sätzen des ersten Buches der Elemente aus und ist von konstruktiver Natur.
Für ein Dreieck
A
B
C
{\displaystyle ABC}
mit rechtem Winkel in
C
{\displaystyle C}
sind
C
B
L
F
{\displaystyle CBLF}
und
A
C
K
D
{\displaystyle ACKD}
die Quadrate über den Katheten und
J
{\displaystyle J}
der Fußpunkt der Höhe von
C
{\displaystyle C}
auf
A
B
{\displaystyle AB}
. Des Weiteren sind
M
N
J
A
{\displaystyle MNJA}
und
N
H
B
J
{\displaystyle NHBJ}
Rechtecke über der Hypotenuse
A
B
{\displaystyle AB}
deren längere Seite
J
N
{\displaystyle JN}
die Länge der Seite
A
B
{\displaystyle AB}
besitzt. Nun sind die Dreiecke
A
M
C
{\displaystyle AMC}
und
A
B
D
{\displaystyle ABD}
nach dem zweiten Kongruenzsatz (SWS) kongruent, da
∠
M
A
C
=
∠
B
A
C
+
90
∘
=
∠
B
A
D
{\displaystyle \angle MAC=\angle BAC+90^{\circ }=\angle BAD}
,
|
A
D
|
=
|
A
C
|
{\displaystyle |AD|=|AC|}
und
|
A
B
|
=
|
A
M
|
{\displaystyle |AB|=|AM|}
gilt. Zudem gilt, dass die Fläche des Dreiecks
A
M
C
{\displaystyle AMC}
die Hälfte der Fläche des Rechtecks
M
N
J
A
{\displaystyle MNJA}
beträgt, da dessen Grundseite
A
B
{\displaystyle AB}
und die Rechteckseite
A
M
{\displaystyle AM}
gleich lang sind und die Länge seiner Höhe von
C
{\displaystyle C}
der Länge der anderen Rechteckseite entspricht. Aufgrund eines entsprechenden Arguments folgt, dass die Fläche des Dreiecks
A
B
D
{\displaystyle ABD}
der Hälfte der Fläche des Kathetenquadrates
A
C
K
D
{\displaystyle ACKD}
entspricht. Wegen der Kongruenz der Dreiecke
A
M
C
{\displaystyle AMC}
und
A
B
D
{\displaystyle ABD}
bedeutet dies aber, dass dann auch das Kathetenquadrat
A
C
K
D
{\displaystyle ACKD}
flächengleich mit dem Rechteck
M
N
J
A
{\displaystyle MNJA}
ist. Analog lässt sich mit Hilfe der kongruenten Dreiecke
C
H
B
{\displaystyle CHB}
und
A
B
L
{\displaystyle ABL}
zeigen, dass das zweite Kathetenquadrat
C
B
L
F
{\displaystyle CBLF}
flächengleich mit dem Rechteck
N
H
B
J
{\displaystyle NHBJ}
ist. Damit hat man den Kathetensatz bewiesen. Der Satz des Pythagoras folgt dann sofort, da das Hypotenusenquadrat sich aus den Rechtecken
M
N
J
A
{\displaystyle MNJA}
und
N
H
B
J
{\displaystyle NHBJ}
zusammensetzt.
Es gibt noch einen weiteren Beweis des Satzes von Pythagoras in den Elementen in Buch 6, Proposition 31 (siehe unten). Er benutzt statt Quadraten zueinander ähnliche Rechtecke auf den drei Seiten, ist formal einfacher als der Beweis im ersten Buch durch Verwendung der Theorie der Proportionen, die erst von Eudoxos von Knidos streng begründet wurde. Pythagoras kann beide Beweise aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt haben, da sie einem fortgeschritteneren Verständnis der Geometrie entsprechen Proklos schrieb die Beweise in seinem Kommentar zu den Elementen explizit Euklid zu und drückte seine Bewunderung für beide Beweise aus.
Euklid gibt in der letzten Proposition 48 von Buch 1 zusätzlich eine Umkehrung des Satzes von Pythagoras, indem er zeigt, dass aus der Gleichheit der Fläche des Hypotenusenquadrats mit der der Summe der Kathetenquadrate folgt, dass einer der Winkel des Dreiecks ein rechter Winkel ist.Der erste Beweis (I, 47) wird wegen der Form der Hilfslinien in der zugehörigen Figur im englischen Sprachraum gelegentlich auch windmill (Windmühle) genannt, Arthur Schopenhauer nahm den ersten Beweis von Euklid als Beispiel für dessen in seiner Sicht willkürliche und wenig anschauliche Vorgehensweise („Oft werden, wie im Pythagoreischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne dass man weiss warum: hinterher zeigt sich,dass es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehen“, und so die Zustimmung Lernenden erzwingen, „der nun verwundert zugeben muß , was ihm seinem inneren Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt“) Felix Klein verteidigte den Beweis dagegen in einer Erwiderung auf Schopenhauers Kritik als besonders anschaulich und demonstrierte dies in seiner Elementarmathematik vom höheren Standpunkt.
=== Beweis durch Addition abgeleiteter Flächeninhalte ===
Der in den beiden nebenstehenden Bildern auf unterschiedlicher Weise verdeutlichte Beweis durch Addition abgeleiteter Flächeninhalte, stammt aus dem chinesischen Werk Zhoubi suanjing, übersetzt Klassische Arithmetik des Gnomon und die Kreisbahnen des Himmels (es wird heute angenommen das Werk „stamme frühestens aus dem späten 4. Jahrhundert v. Chr.“). Darin kommt das allgemein bekannte rechtwinklige Dreieck mit den Seiten
3
,
4
{\displaystyle 3,\;4}
und
5
{\displaystyle 5}
zur Anwendung.
Nach dem Zeichnen eines Quadrats (Bild 1) und dessen Unterteilung in
7
{\displaystyle 7}
x
7
=
49
{\displaystyle 7=49}
Einheitsquadrate, wird das rechtwinklige Ausgangsdreieck (rot) mit den Katheten
a
=
3
{\displaystyle a=3}
,
b
=
4
{\displaystyle b=4}
und mit der sich ergebenden Hypotenuse
c
{\displaystyle c}
anhand des Gitters eingetragen. Darüber hinaus werden drei, dem Ausgangsdreieck gleichende Dreiecke so platziert, dass die Hypotenusen ein inneres Quadrat ergeben und demzufolge ein zentrales Einheitsquadrat (gelb) mit dem Flächeninhalt
=
1
2
{\displaystyle =1^{2}}
umgrenzen. Ein auf das innere Quadrat eingezeichnetes Gitter, das dem äußeren gleicht und mit den Hypotenusen einen rechten Winkel einschließt, liefert
5
{\displaystyle 5}
x
5
=
25
{\displaystyle 5=25}
Einheitsquadrate.
Der Flächeninhalt des inneren Quadrats mit den vier Dreiecken und dem zentralen Einheitsquadrat entspricht
4
⋅
3
⋅
4
2
+
1
=
25
{\displaystyle 4\cdot {\tfrac {3\cdot 4}{2}}+1=25}
Einheitsquadraten. Die gesamte Anzahl der (gelben) Einheitsquadrate ergibt sich aus den
49
{\displaystyle 49}
Einheitsquadraten des äußeren Quadrats abzüglich der vier Dreiecksflächen des inneren Quadrats; dies bringt ebenfalls
49
−
4
⋅
3
⋅
4
2
=
25
{\displaystyle 49-4\cdot {\tfrac {3\cdot 4}{2}}=25}
Einheitsquadrate.
Die Seitenlänge des inneren Quadrats ist die Hypotenuse
c
,
{\displaystyle c,}
somit gilt als allgemeine Formel
c
2
=
4
⋅
a
⋅
b
2
+
(
a
−
b
)
2
=
a
2
+
b
2
.
{\displaystyle c^{2}=4\cdot {\frac {a\cdot b}{2}}+\left(a-b\right)^{2}=a^{2}+b^{2}.}
Werte für
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
eingesetzt:
c
2
=
4
⋅
3
⋅
4
2
+
(
3
−
4
)
2
=
3
2
+
4
2
=
25
[
F
E
]
{\displaystyle c^{2}=4\cdot {\frac {3\cdot 4}{2}}+\left(3-4\right)^{2}=3^{2}+4^{2}=25\;[\mathrm {FE} ]}
(Flächeneinheiten)
⇒
{\displaystyle \Rightarrow }
c
=
5
[
L
E
]
{\displaystyle c=5\;[\mathrm {LE} ]}
(Längeneinheiten)Die Animation (Bild 2) verdeutlicht dies auf vergleichbarer Art und Weise.
=== Beweis durch Ergänzung ===
In ein Quadrat mit der Seitenlänge
a
+
b
{\displaystyle a+b}
werden vier kongruente rechtwinklige Dreiecke mit den Seiten
a
{\displaystyle a}
,
b
{\displaystyle b}
und
c
{\displaystyle c}
(Hypotenuse) eingelegt. Dies kann auf zwei Arten geschehen, wie im Diagramm dargestellt ist.
Die Flächen des linken und des rechten Quadrates sind gleich (Seitenlänge
a
+
b
{\displaystyle a+b}
). Das linke besteht aus den vier rechtwinkligen Dreiecken und einem Quadrat mit Seitenlänge
c
{\displaystyle c}
, das rechte aus den gleichen Dreiecken sowie einem Quadrat mit Seitenlänge
a
{\displaystyle a}
und einem mit Seitenlänge
b
{\displaystyle b}
. Die Fläche
c
2
{\displaystyle c^{2}}
entspricht also der Summe der Fläche
a
2
{\displaystyle a^{2}}
und der Fläche
b
2
{\displaystyle b^{2}}
, also
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
.Eine algebraische Lösung ergibt sich aus dem linken Bild des Diagramms. Das große Quadrat hat die Seitenlänge
a
+
b
{\displaystyle a+b}
und somit die Fläche
(
a
+
b
)
2
{\displaystyle (a+b)^{2}}
. Zieht man von dieser Fläche die vier Dreiecke ab, die jeweils eine Fläche von
a
b
2
{\displaystyle {\tfrac {ab}{2}}}
(also insgesamt
2
a
b
{\displaystyle 2ab}
) haben, so bleibt die Fläche
c
2
{\displaystyle c^{2}}
übrig. Es ist also
(
a
+
b
)
2
=
2
a
b
+
c
2
{\displaystyle (a+b)^{2}=2ab+c^{2}}
.Auflösen der Klammer liefert
a
2
+
2
a
b
+
b
2
=
2
a
b
+
c
2
{\displaystyle a^{2}+2ab+b^{2}=2ab+c^{2}}
.Zieht man nun auf beiden Seiten
2
a
b
{\displaystyle 2ab}
ab, bleibt der Satz des Pythagoras übrig.
=== Beweis durch Scherung ===
Eine Möglichkeit ist die Scherung der Kathetenquadrate in das Hypotenusenquadrat. Unter Scherung eines Rechtecks versteht man in der Geometrie die Überführung des Rechtecks in ein Parallelogramm unter Beibehaltung der Höhe. Bei der Scherung ist das sich ergebende Parallelogramm zu dem Ausgangsrechteck flächengleich. Über zwei Scherungen können die beiden kleineren Quadrate dann in zwei Rechtecke umgewandelt werden, die zusammen genau in das große Quadrat passen.
Beim exakten Beweis muss dann noch über die Kongruenzsätze im Dreieck nachgewiesen werden, dass die kleinere Seite der sich ergebenden Rechtecke jeweils dem betreffenden Hypotenusenabschnitt entspricht. Wie üblich wurden in der Animation die Höhe mit
h
{\displaystyle h}
und die Hypotenusenabschnitte mit
p
,
q
{\displaystyle p,q}
bezeichnet.
=== Beweis durch Parkettierung ===
Die gesamte Ebene lässt sich mit zwei verschiedenen Sorten von jeweils flächengleichen Quadraten parkettieren. Jedes der grünen Quadrate habe den Flächeninhalt
a
2
{\displaystyle a^{2}}
, jedes der gelben Quadrate den Flächeninhalt
b
2
{\displaystyle b^{2}}
und jedes der rot umrandeten Quadrate den Flächeninhalt
c
2
{\displaystyle c^{2}}
.
Da einerseits die grünen und die gelben Quadrate zusammen und andererseits die rot umrandeten Quadrate jeweils die gesamte Ebene parkettieren, muss
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
gelten.Figur 1 zeigt die Parkettierung mit Kathetenquadraten (grün und gelb) bzw. mit Hypotenusenquadraten (rot umrandet). In Figur 2 ist in einem Parkettierungsausschnitt die Pythagorasfigur eingezeichnet. Das an der Kathete gespiegelte grüne Kathetenquadrat ist gestrichelt als Teil der Parkettierung eingezeichnet.
=== Beweis mit Ähnlichkeiten ===
Es ist nicht unbedingt notwendig, zum Beweis des Satzes von Pythagoras (explizit) Flächen heranzuziehen. Geometrisch eleganter ist es, Ähnlichkeiten zu verwenden. Sobald man sich durch Berechnung der Winkelsummen im Dreieck überzeugt hat, dass die beiden Winkel
δ
{\displaystyle \delta }
im unteren Bild gleich groß sein müssen, sieht man, dass die Dreiecke
A
B
C
{\displaystyle ABC}
,
B
C
D
{\displaystyle BCD}
und
A
D
C
{\displaystyle ADC}
ähnlich sind. Der Beweis des Satzes von Pythagoras ergibt sich dann wie im Bild gezeigt, dabei beweist man auch den Kathetensatz und die Addition beider Varianten des Kathetensatzes ergibt den Satz des Pythagoras selbst. Diese Herleitung lässt sich anschaulich mit der Ähnlichkeit der Quadrate und der Ähnlichkeit deren angrenzenden Dreiecke erklären. Da deren Fläche proportional zur Fläche der jeweils anliegenden Quadrate ist, repräsentiert die Gleichung
A
D
C
+
B
C
D
=
A
B
C
{\displaystyle ADC+BCD=ABC}
den Satz.
Ebenso kann in der Figur rechts eine Parallele zu AB von der Höhe h auf die Seite a gezogen werden, was weitere ähnliche Dreiecke und unendlich viele Beweismöglichkeiten liefert.
=== Beweis der Umkehrung ===
Die Umkehrung des Satzes lässt sich auf verschiedene Arten beweisen, ein besonders einfacher Beweis ergibt sich jedoch, wenn man den Satz des Pythagoras selbst zum Beweis seiner Umkehrung heranzieht.
Zu einem beliebigen Dreieck, dessen Seiten
a
,
b
,
c
{\displaystyle a,b,c}
die Bedingung
c
2
=
a
2
+
b
2
{\displaystyle c^{2}=a^{2}+b^{2}}
erfüllen, konstruiert man ein zweites Dreieck. Dieses besitzt einen rechten Winkel, dessen Schenkellängen den Seitenlängen von
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
entsprechen. Nach dem Satz des Pythagoras beträgt nun die Länge der Hypotenuse in diesem zweiten Dreieck
a
2
+
b
2
{\displaystyle {\sqrt {a^{2}+b^{2}}}}
und entspricht damit der Länge der Seite
c
{\displaystyle c}
des Ausgangsdreiecks. Somit besitzen die beiden Dreiecke die gleichen Seitenlängen und sind aufgrund des ersten Kongruenzsatzes (SSS) kongruent. Damit sind dann aber auch ihre Winkel gleich, das heißt, auch das Ausgangsdreieck besitzt einen rechten Winkel, der der Seite
c
{\displaystyle c}
gegenüberliegt.
== Verallgemeinerungen und Abgrenzung ==
=== Kosinussatz ===
Der Kosinussatz ist eine Verallgemeinerung des Satzes von Pythagoras für beliebige Dreiecke:
c
2
=
a
2
+
b
2
−
2
a
b
⋅
cos
γ
{\displaystyle c^{2}=a^{2}+b^{2}-2ab\cdot \cos \gamma }
,wobei
γ
{\displaystyle \gamma }
der Winkel zwischen den Seiten
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
ist. Der Kosinussatz unterscheidet sich also durch den Term
−
2
a
b
⋅
cos
γ
{\displaystyle -2ab\cdot \cos \gamma }
vom Satz des Pythagoras. Da der Kosinus von
90
∘
{\displaystyle 90^{\circ }}
gleich null ist, fällt dieser Term bei einem rechten Winkel weg, und es ergibt sich als Spezialfall der Satz des Pythagoras. Gilt umgekehrt in einem Dreieck die Beziehung
c
2
=
a
2
+
b
2
{\displaystyle c^{2}=a^{2}+b^{2}}
,so muss
−
2
a
b
⋅
cos
γ
=
0
{\displaystyle -2ab\cdot \cos \gamma =0}
sein, woraus
γ
=
90
∘
{\displaystyle \gamma =90^{\circ }}
folgt, und daher ist das Dreieck rechtwinklig. Für spitzwinklige Dreiecke gilt entsprechend
c
2
<
a
2
+
b
2
{\displaystyle c^{2}<a^{2}+b^{2}}
und für stumpfwinklige Dreiecke
c
2
>
a
2
+
b
2
{\displaystyle c^{2}>a^{2}+b^{2}}
.
=== Verallgemeinerung von Thabit ibn Qurra ===
Eine auf Thabit ibn Qurra zurückgehende Verallgemeinerung liefert zu den Quadraten über zwei Seiten eines beliebigen Dreiecks ein Rechteck über der dritten Seite, dessen Fläche der Summe der beiden Quadratflächen entspricht.Zu einem beliebigen Dreieck
△
A
B
C
{\displaystyle \triangle ABC}
mit Seiten
a
,
b
,
c
{\displaystyle a,b,c}
, Winkel
γ
{\displaystyle \gamma }
in
C
{\displaystyle C}
und Höhe
C
D
{\displaystyle CD}
konstruiert man ein gleichschenkliges Dreieck
C
F
E
{\displaystyle CFE}
dessen Basis auf der Seite
c
{\displaystyle c}
liegt und das
C
D
{\displaystyle CD}
als Höhe besitzt. Darüber hinaus besitzen seine beiden Basiswinkel die gleiche Größe wie
γ
{\displaystyle \gamma }
, sofern
γ
{\displaystyle \gamma }
ein spitzer Winkel ist. Ist
γ
{\displaystyle \gamma }
hingegen ein stumpfer Winkel, so sollen die Basiswinkel
180
∘
−
γ
{\displaystyle 180^{\circ }-\gamma }
betragen. Ferner wird der Eckpunkt des gleichschenkligen Dreiecks, der auf derselben Seite von
C
D
{\displaystyle CD}
wie
B
{\displaystyle B}
liegt, mit
E
{\displaystyle E}
bezeichnet und der andere Eckpunkt auf derselben Seite wie
A
{\displaystyle A}
mit
F
{\displaystyle F}
. Dies gilt jedoch nur im Falle
γ
<
90
∘
{\displaystyle \gamma <90^{\circ }}
, für
γ
>
90
∘
{\displaystyle \gamma >90^{\circ }}
vertauscht man stattdessen
E
{\displaystyle E}
und
F
{\displaystyle F}
. Im Fall
γ
=
90
∘
{\displaystyle \gamma =90^{\circ }}
fällt das gleichschenklige Dreieck mit der Höhe
C
D
{\displaystyle CD}
zusammen und die Punkte
E
{\displaystyle E}
und
F
{\displaystyle F}
dementsprechend mit dem Punkt
D
{\displaystyle D}
. Definiert man nun
r
=
|
A
E
|
{\displaystyle r=|AE|}
und
s
=
|
B
F
|
{\displaystyle s=|BF|}
, so gilt:
c
(
r
+
s
)
=
a
2
+
b
2
{\displaystyle c(r+s)=a^{2}+b^{2}}
Für
γ
=
90
∘
{\displaystyle \gamma =90^{\circ }}
gilt dabei
c
=
r
+
s
{\displaystyle c=r+s}
und die obige Gleichung liefert den Satz des Pythagoras.
Die Aussage lässt sich analog zum Satz des Pythagoras direkt über ähnliche Dreiecke beweisen, wobei hier die Dreiecke
△
A
B
C
{\displaystyle \triangle ABC}
,
△
A
E
C
{\displaystyle \triangle AEC}
und
△
F
B
C
{\displaystyle \triangle FBC}
ähnlich sind.Aufgrund von
2
a
b
cos
(
γ
)
=
a
2
+
b
2
−
c
2
=
c
(
r
+
s
)
−
c
2
=
c
(
r
+
s
−
c
)
{\displaystyle 2ab\cos(\gamma )=a^{2}+b^{2}-c^{2}=c(r+s)-c^{2}=c(r+s-c)}
liefert Qurras Verallgemeinerung auch eine geometrische Darstellung des Korrekturterms im Kosinussatz als ein Rechteck, das zu dem Quadrat über der Seite
c
{\displaystyle c}
hinzugefügt oder von ihm abgetrennt wird, um eine Fläche zu erhalten, die der Summe der Flächen der Quadrate über den Seiten
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
entspricht.
=== Flächensatz von Pappus ===
Eine weitere Verallgemeinerung auf beliebige Dreiecke liefert die Flächenformel von Pappus. Hier ergibt sich aus zwei beliebigen Parallelogrammen über zwei Seiten eines beliebigen Dreiecks ein eindeutig bestimmtes Parallelogramm über der dritten Seite des Dreiecks, dessen Fläche der Summe der Flächen der beiden Ausgangsparallelogramme entspricht. Sind die beiden Ausgangsparallelogramme Quadrate, so erhält man im Falle eines rechtwinkligen Dreiecks ein Quadrat über der dritten Seite und damit den Satz des Pythagoras.
Das Parallelogramm über der dritten Seiten erhält man, indem man die beiden Seiten der Ausgangsparallelogramme, die parallel zu den Dreiecksseiten sind, verlängert und deren Schnittpunkt mit dem Eckpunkt des Dreiecks, der auch auf beiden Parallelogrammen liegt, verbindet. Diese Verbindungsstrecke liefert das zweite Seitenpaar des Parallelogramms über der dritten Seite (siehe Zeichnung).
=== Ähnliche Figuren, errichtet über den Seiten des rechtwinkligen Dreiecks ===
Eine Verallgemeinerung des Satzes des Pythagoras mithilfe von drei zueinander ähnlichen Figuren über den Dreieckseiten (neben den bereits bekannten Quadraten) war bereits Hippokrates von Chios im 5. Jahrhundert v. Chr. bekannt und wurde, wahrscheinlich zweihundert Jahre später, von Euklid in seinem Werk Elemente aufgenommen:
Errichtet man über den drei Seiten
a
,
b
{\displaystyle a,\;b}
und
c
{\displaystyle c}
des ursprünglichen Dreiecks jeweils eine zu den beiden anderen ähnliche Figur (Bild 1) mit den Flächen
A
,
B
{\displaystyle A,\;B}
und
C
,
{\displaystyle C,}
dann gilt wegen ihrer Ähnlichkeit:
A
a
2
=
B
b
2
=
C
c
2
{\displaystyle {\frac {A}{a^{2}}}={\frac {B}{b^{2}}}={\frac {C}{c^{2}}}}
Stellt man
A
{\displaystyle A}
und
B
{\displaystyle B}
in der Form
A
=
C
⋅
a
2
c
2
,
B
=
C
⋅
b
2
c
2
{\displaystyle A={\frac {C\cdot a^{2}}{c^{2}}},\ B={\frac {C\cdot b^{2}}{c^{2}}}}
dar, so erhält man für die Summe:
A
+
B
=
a
2
c
2
⋅
C
+
b
2
c
2
⋅
C
=
a
2
+
b
2
c
2
⋅
C
{\displaystyle A+B={\frac {a^{2}}{c^{2}}}\cdot C+{\frac {b^{2}}{c^{2}}}\cdot C={\frac {a^{2}+b^{2}}{c^{2}}}\cdot C}
Nach dem Satz des Pythagoras
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
wird
c
2
{\displaystyle c^{2}}
für
a
2
+
b
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}}
eingesetzt und somit ergibt sich:
A
+
B
=
C
{\displaystyle A+B=C}
Während Euklids Beweis nur für konvexe Polygone (Vielecke) gilt, ist der Satz auch für konkave Polygone und sogar für ähnliche Figuren mit gekrümmten Grenzen gültig, wobei auch diese Figuren aus einer betreffenden Seite des ursprünglichen Dreiecks hervorgehen. Die im Bild 2 dargestellten Flächen
A
,
B
{\displaystyle A,\ B}
und
C
{\displaystyle C}
der Kreise entstehen aus den Seiten
a
,
b
{\displaystyle a,\ b}
und
c
{\displaystyle c}
der Fünfecke.
Um zu verdeutlichen, dass Kreise bzw. Halbkreise allein, d. h. ohne Vielecke über den Seiten, zur Verallgemeinerung herangezogen werden können, erweitert man den Satz des Pythagoras mit der Kreiszahl
π
:
{\displaystyle \pi :}
Aus dem Satz mit Quadraten
c
2
=
a
2
+
b
2
{\displaystyle c^{2}=a^{2}+b^{2}}
wird, mit den entsprechenden Seitenlängen
a
,
b
{\displaystyle a,\;b}
und
c
{\displaystyle c}
als Radien, eine Verallgemeinerung mit Kreisen
c
2
⋅
π
=
a
2
⋅
π
+
b
2
⋅
π
{\displaystyle c^{2}\cdot \pi =a^{2}\cdot \pi +b^{2}\cdot \pi }
bzw. eine Verallgemeinerung mit Halbkreisen:
1
2
⋅
c
2
⋅
π
=
1
2
⋅
(
a
2
⋅
π
+
b
2
⋅
π
)
{\displaystyle {\frac {1}{2}}\cdot c^{2}\cdot \pi ={\frac {1}{2}}\cdot \left(a^{2}\cdot \pi +b^{2}\cdot \pi \right)}
Die Grundidee hinter dieser Verallgemeinerung ist, dass die Fläche einer ebenen Figur proportional zum Quadrat jeder linearen Dimension und insbesondere proportional zum Quadrat der Länge jeder Seite ist.
=== Skalarprodukträume ===
Abstrahiert man vom gewöhnlichen euklidischen Raum zu allgemeinen Skalarprodukträumen, also Vektorräumen mit einem Skalarprodukt, dann gilt:
Sind zwei Vektoren
u
{\displaystyle u}
und
v
{\displaystyle v}
zueinander orthogonal, ist also ihr Skalarprodukt
⟨
u
,
v
⟩
=
0
{\displaystyle \langle u,v\rangle =0}
, dann gilt aufgrund der Linearität des Skalarprodukts
‖
u
+
v
‖
2
=
⟨
u
+
v
,
u
+
v
⟩
=
⟨
u
,
u
⟩
+
⟨
u
,
v
⟩
+
⟨
v
,
u
⟩
+
⟨
v
,
v
⟩
=
⟨
u
,
u
⟩
+
⟨
v
,
v
⟩
=
‖
u
‖
2
+
‖
v
‖
2
{\displaystyle \|u+v\|^{2}=\langle u+v,u+v\rangle =\langle u,u\rangle +\langle u,v\rangle +\langle v,u\rangle +\langle v,v\rangle =\langle u,u\rangle +\langle v,v\rangle =\|u\|^{2}+\|v\|^{2}}
,wobei
‖
⋅
‖
{\displaystyle \|\cdot \|}
die von dem Skalarprodukt induzierte Norm bezeichnet.
Bezieht man diesen Satz wiederum auf den euklidischen Raum, dann stehen
u
{\displaystyle u}
und
v
{\displaystyle v}
für die Katheten
a
{\displaystyle a}
und
b
{\displaystyle b}
eines rechtwinkligen Dreiecks.
‖
u
+
v
‖
{\displaystyle \|u+v\|}
steht für die Länge der Hypotenuse
c
{\displaystyle c}
.
Diese Verallgemeinerung des Satzes des Pythagoras findet sich auch in abstrakten mathematischen Strukturen, etwa unendlichdimensionalen Funktionenräumen wieder. Die Umkehrung gilt ebenfalls. Trifft die Gleichung zu, so sind die beiden Vektoren orthogonal zueinander. Der Satz lässt sich noch weiter verallgemeinern. Ist
{
u
1
,
…
,
u
n
}
{\displaystyle \{u_{1},\dotsc ,u_{n}\}}
ein Orthogonalsystem bestehend aus paarweise orthogonalen Vektoren
u
k
{\displaystyle u_{k}}
, dann folgt durch wiederholte Anwendung obigen Arguments:
‖
∑
k
=
1
n
u
k
‖
2
=
∑
k
=
1
n
‖
u
k
‖
2
{\displaystyle \left\|\sum _{k=1}^{n}u_{k}\right\|^{2}=\sum _{k=1}^{n}\|u_{k}\|^{2}}
Die entsprechende Aussage gilt sogar für unendliche Summen, wenn man eine Folge
(
u
k
)
{\displaystyle (u_{k})}
von Vektoren betrachtet, die alle zueinander orthogonal sind. Konvergiert nun die Reihe
∑
k
=
1
∞
u
k
{\displaystyle \textstyle \sum _{k=1}^{\infty }u_{k}}
, so konvergiert auch
∑
k
=
1
∞
‖
u
k
‖
2
{\displaystyle \textstyle \sum _{k=1}^{\infty }\|u_{k}\|^{2}}
und es gilt:
‖
∑
k
=
1
∞
u
k
‖
2
=
∑
k
=
1
∞
‖
u
k
‖
2
{\displaystyle \left\|\sum _{k=1}^{\infty }u_{k}\right\|^{2}=\sum _{k=1}^{\infty }\|u_{k}\|^{2}}
Der Beweis der zweiten Behauptung folgt dabei aus der Stetigkeit des Skalarprodukts. Eine weitere Verallgemeinerung führt zur Parsevalschen Gleichung.
=== Weitere Verallgemeinerungen ===
Ebenfalls als Verallgemeinerungen des Satzes des Pythagoras können der Schenkeltransversalensatz, der Satz von Stewart, der Satz von Ptolemäus, der Satz von Carnot über Lote am Dreieck und der Satz von der britischen Flagge gelten. Letzterer stellt sowohl eine Verallgemeinerung in der Ebene als auch im Raum dar. Die pythagoreische Gleichung ist darüber hinaus auch in der Apollonios-Gleichung enthalten.
Ein räumliches Analogon ist der Satz von de Gua. Hier werden das rechtwinklige Dreieck durch ein rechtwinkliges Tetraeder und die Seitenlängen durch die Flächeninhalte der Seitenflächen ersetzt. Sowohl der Satz des Pythagoras als auch der Satz von de Gua sind Spezialfälle eines allgemeinen Satzes über n-Simplexe mit einer rechtwinkligen Ecke.
=== Unterschiede in der nichteuklidischen Geometrie ===
Nichteuklidische Geometrien sind Geometrien, in denen das Parallelenaxiom nicht gilt. Ein Beispiel hierfür ist die Geometrie der Kugeloberfläche. Dort gilt der Satz des Pythagoras nicht mehr, da in solchen Geometrien der Innenwinkelsatz nicht gilt, also die Winkelsumme eines Dreiecks von 180° verschieden ist. Ein anderes Beispiel ist der „gekrümmte“ Raum der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins.
== Geschichte ==
=== Babylon und Indien ===
Bereits auf einer babylonischen Keilschrifttafel, die in die Zeit der Hammurabi-Dynastie datiert wird (ca. 1829 bis ca. 1530 v. Chr.), findet sich eine geometrische Problemstellung mit Lösung, bei der der Satz zur Berechnung von Längen (im Sexagesimalsystem) verwendet wurde:
Daraus ergibt sich:
0
;
18
2
=
0
;
30
2
−
0
;
24
2
{\displaystyle 0;18^{2}=0;30^{2}-0;24^{2}}
, also
a
2
=
c
2
−
b
2
{\displaystyle a^{2}=c^{2}-b^{2}}
und weiter
a
2
+
b
2
=
c
2
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}}
.Ein Interesse der Babylonier an einem mathematischen Beweis geht jedoch aus den Quellen nicht hervor.
Die Keilschrifttafel Plimpton 322 enthält außerdem
15
{\displaystyle 15}
verschiedene pythagoreische Tripel, unter anderem
(
56
,
90
,
106
)
{\displaystyle (56,90,106)}
,
(
119
,
120
,
169
)
{\displaystyle (119,120,169)}
sowie
(
12709
,
13500
,
18541
)
{\displaystyle (12709,13500,18541)}
,was auf ein Verfahren zur Berechnung solcher Tripel schließen lässt.
In indischen Sulbasutras („Schurregeln“ bzw. „Leitfäden zur Meßkunst“), die ungefähr vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden, finden sich einige pythagoreische Tripel. Außerdem wurde auch der Lehrsatz dort schon allgemein ausgesprochen und benutzt. Wie er begründet wurde, ist nicht sicher.
=== China ===
Der Satz war im antiken China als Satz der Gougu (勾股定理) bekannt. In der Schrift Zhoubi suanjing („Arithmetischer Klassiker des Zhou-Gnomons“), die ungefähr vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. entstand, wird mit der sogenannten „Hypotenusen-Figur“ (Xian-tu) ein dort am Beispiel des rechtwinkligen Dreiecks (gougu) mit den Seiten 3, 4 und 5 gegebener Beweis des Satzes veranschaulicht. Auch im Jiu Zhang Suanshu („Neun Bücher arithmetischer Technik“, 1. Jahrhundert n. Chr.), dem klassischen mathematischen Werk Chinas mit einer Sammlung von 263 Problemstellungen, ihren Lösungen und den Lösungswegen, wird er angewendet. Liu Hui (3. Jahrhundert n. Chr.) gab wohl in seinem Kommentar zu den „Neun Büchern“ im neunten Kapitel einen Zerlegungsbeweis an.
=== Die umstrittene Rolle des Pythagoras ===
Die Benennung des Satzes nach dem griechischen Philosophen Pythagoras (6. Jahrhundert v. Chr.) ist erst in späteren Quellen bezeugt. Daher ist in der Forschung die Frage nach der Rolle des Pythagoras stark umstritten. Verschiedene Hypothesen kommen in Betracht:
Pythagoras übernahm den Satz von den Babyloniern, seine Rolle war nur die eines Vermittlers orientalischen Wissens an die Griechen. Antiken Quellen zufolge unternahm er eine Ägyptenreise, er soll sogar in Babylonien gewesen sein, doch ist die Glaubwürdigkeit der Berichte über seine Reisen umstritten.
Pythagoras hat den Satz unabhängig von der orientalischen Mathematik entdeckt und auch erstmals bewiesen. Diese Ansicht war in der Antike verbreitet.
Pythagoras verdankte die Kenntnis des Sachverhalts orientalischen Quellen, war aber der erste, der einen Beweis dafür fand. Tatsächlich waren Babylonier und Ägypter anscheinend nur an der Anwendung des Satzes für praktische Zwecke, nicht an einem allgemeingültigen Beweis interessiert. So enthält beispielsweise das älteste bekannte Rechenbuch der Welt, das ägyptische Rechenbuch des Ahmes (auch Papyrus Rhind) aus dem 17. Jahrhundert v. Chr., bereits komplizierte Aufgaben, es fehlt jedoch jede Verallgemeinerung, es wird nicht definiert und bewiesen.
Pythagoras kannte einen der einfacheren Beweise, zum Beispiel einen Beweis vom Zerlegungstyp und für den Spezialfall eines Dreiecks mit einem rechten und zwei 45-Grad-Winkeln.
Pythagoras hat in der Geschichte des Satzes keine Rolle gespielt; erst spätere Pythagoreer haben möglicherweise den ersten Beweis gefunden.Der historisch nachweisbare Zusammenhang von Pythagoras zu dem ihm zugeschriebenen Theorem ist nach Bartel Leendert van der Waerden sehr zweifelhaft, und auch Thomas Heath sieht nur schwache historische Belege für die Zuschreibung. Gegensätzliche Positionen vertreten zum Beispiel die Wissenschaftshistoriker Walter Burkert und Leonid Zhmud. Burkert zieht allenfalls eine Vermittlerrolle des Pythagoras in Betracht, Zhmud schreibt ihm mathematische Leistungen wie den Beweis des Satzes zu und betont seine Eigenständigkeit gegenüber der orientalischen Mathematik.Euklid, der in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in seinem berühmten Werk Elemente das mathematische Wissen seiner Zeit zusammentrug, bot einen Beweis, brachte den Satz aber nicht namentlich mit Pythagoras in Zusammenhang. Proklos schrieb dazu im 5. Jahrhundert n. Chr. in seinem Kommentar zu Euklids Elementen: „Wenn wir denen zuhören die sich gerne mit Geschichte befassen finden wir, dass sie dieses Theorem Pythagoras zuschreiben und sagen, er hätte dafür einen Ochsen geopfert“, was zeigt, dass die Zuschreibung an Pythagoras damals verbreitet war. Auch Plutarch, Cicero und Vitruv berichten von Pythagoras Opferung eines Ochsen, mit unterschiedlichen Versionen zur Ursache – bei Vitruv ist es die Entdeckung eines rechtwinkligen Dreiecks mit den Seitenlängen 3, 4, 5, also einem pythagoreischen Tripel, Cicero (De natura deorum, Buch 3, 88) gibt keine genaueren Hinweise auf die zugrundeliegende geometrische Entdeckung.Der älteste Beleg dafür, dass der Satz mit Pythagoras in Verbindung gebracht wurde, ist ein Epigramm eines Apollodoros, der möglicherweise mit dem Philosophen Apollodoros von Kyzikos zu identifizieren ist; in diesem Fall stammen die Verse aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Der Text lautet:
Apollodoros gibt nicht an, welche „berühmte“ Zeichnung oder Figur er meint, doch spätere Autoren, darunter Diogenes Laertios, der im 3. Jahrhundert die beiden Verse zitierte, gingen davon aus, dass es sich um den „Satz des Pythagoras“ handelt. Diese Überlieferung, wonach Pythagoras einem Gott zum Dank dafür, dass dieser ihm die Erkenntnis eingab, ein Rinderopfer darbrachte, steht – wie schon Cicero bemerkte – in Widerspruch zu dem von zahlreichen antiken Quellen überlieferten Umstand, dass Pythagoras und die Pythagoreer Tieropfer grundsätzlich ablehnten.
== Literarische Rezeption ==
Johannes Kepler schrieb in seinem Mysterium cosmographicum (Kapitel 13) von 1597: Die Geometrie hat zwei große Schätze: der eine ist der Satz des Pythagoras, der andere die Teilung der Linie in das extreme und mittlere Verhältnis (dabei ist mit dem zweiten Schatz der Goldene Schnitt gemeint). Die Verbindung dieser beiden Sätze sind im Kepler-Dreieck ersichtlich.
Der Philosoph Thomas Hobbes begann, wie sein Biograph John Aubrey berichtete, mit 40 Jahren ernsthaft Mathematik zu studieren, nachdem er in einer Bibliothek ein Exemplar von Euklids Elementen auf der Seite des Beweises des Satzes von Pythagoras (Elemente, I, 47) aufgeschlagen fand, dies auf Anhieb nicht glauben wollte und sich von einer Proposition zur nächsten in den Elementen las, bis er von dessen Wahrheit überzeugt wurde. Anschließend fasste er eine Neigung zur Mathematik.Hans Christian Andersen verfasste 1831 einen Beweis des Satzes des Pythagoras in Gedichtform mit dem Titel Formens evige Magie (Et poetisk Spilfægterie).Adelbert von Chamisso schrieb 1836 in seinem Gedicht Vom Pythagoräischen Lehrsatz: Die Wahrheit, sie besteht in Ewigkeit / Wenn erst die blöde Welt ihr Licht erkannt / Der Lehrsatz, nach Pythagoras benannt / Gilt heute, wie er galt zu seiner Zeit. Zu dem mythischen Opfer von hundert Ochsen, die Pythagoras angeblich als Dank für seine Entdeckung geopfert haben soll, fährt er in satirischer Weise fort: Die Ochsen seit dem Tage, wenn sie wittern / Daß eine neue Wahrheit sich enthülle / Erheben ein unendliches Gebrülle. Pythagoras erfüllt sie mit Entsetzen / Und machtlos, sich dem Licht zu widersetzen / Verschließen sie die Augen und erzittern.
Der Mathematiker und Schriftsteller Lewis Carroll schrieb ähnlich Chamisso 1890: Aber weder 30 Jahre noch 30 Jahrhunderte beeinflussen die Klarheit oder den Charm geometrischer Wahrheiten. Ein Theorem wie „Das Quadrat der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks ist gleich der Summe der Quadrate der Seiten“ ist heute von so blendender Schönheit wie an dem Tag, als Pythagoras es als Erster entdeckte.
== Veranschaulichung ==
Sehr verbreitet sind Anschauungsobjekte, die mit Hilfe von Flüssigkeiten den Satz des Pythagoras beschreiben. Die nebenstehende animierte Prinzipskizze ist quasi die Vorderansicht eines drehbar gelagerten Exponates des Science-Center Phaeno in Wolfsburg. An den Seiten des mittigen rechtwinkligen Dreiecks sind flache durchsichtige Behälter mit der Tiefe
t
{\displaystyle t}
angebracht. Deren quadratische Grundflächen sind gleich den Flächen der Kathetenquadrate bzw. des Hypotenusenquadrates. Die Behälter sind deshalb mit
a
2
⋅
t
{\displaystyle a^{2}\cdot t}
,
b
2
⋅
t
{\displaystyle b^{2}\cdot t}
und
c
2
⋅
t
{\displaystyle c^{2}\cdot t}
bezeichnet. Ist das Exponat in seiner Ausgangsstellung (
c
2
⋅
t
{\displaystyle c^{2}\cdot t}
unten), fließt das in
a
2
⋅
t
{\displaystyle a^{2}\cdot t}
und
b
2
⋅
t
{\displaystyle b^{2}\cdot t}
randvoll gefüllte blaue Wasser über die Ecken des Dreiecks
A
{\displaystyle A}
und
B
{\displaystyle B}
restlos ab und füllt somit vollständig
c
2
⋅
t
{\displaystyle c^{2}\cdot t}
. Daraus folgt
a
2
⋅
t
+
b
2
⋅
t
=
c
2
⋅
t
{\displaystyle a^{2}\cdot t+b^{2}\cdot t=c^{2}\cdot t}
,geteilt durch
t
{\displaystyle t}
ergibt es
a
2
+
b
2
=
c
2
.
{\displaystyle a^{2}+b^{2}=c^{2}.}
== Verwandte Themen ==
Pythagoreische Addition – die Wurzel aus der Summe der Quadrate mehrerer Werte
Trigonometrischer Pythagoras – die Übertragung des Satzes auf die Winkelfunktionen Sinus und Cosinus
Möndchen des Hippokrates
== Literatur ==
Anna M. Fraedrich: Die Satzgruppe des Pythagoras. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1994, ISBN 3-86025-669-6.
Mario Gerwig: Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen. Springer Spektrum, Berlin 2021, ISBN 978-3-662-62886-7
Dietmar Herrmann: Die antike Mathematik. Geschichte der Mathematik in Alt-Griechenland und im Hellenismus. Springer Spektrum, Berlin 2020, ISBN 978-3-662-61394-8 [darin: S. 41–67]
Hans Schupp: Elementargeometrie. UTB, Stuttgart 1977, ISBN 3-506-99189-2, S. 114–118.
Alexander K. Dewdney: Reise in das Innere der Mathematik. Birkhäuser, Berlin 2000, ISBN 3-7643-6189-1, S. 47–76.
Eli Maor: The Pythagorean Theorem: A 4,000-year History. Princeton University Press, Princeton 2007, ISBN 0-691-12526-0.
Alfred S. Posamentier: The Pythagorean Theorem: The Story of Its Power and Beauty. Prometheus Books, Amherst 2010, ISBN 978-1-61614-181-3.
Elisha Scott Loomis: The Pythagorean Proposition. Edwards Brothers, 2-te Auflage, Ann Arbor (MI) 1940 (Digitalisate: eric, archive.org)
== Weblinks ==
Vielzahl animierter Beweise des Satzes des Pythagoras, Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Beweise für den Satz des Pythagoras. (Memento vom 12. September 2010 im Internet Archive). Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik, Universität Erlangen-Nürnberg
Geometrische Beweise für den Satz des Pythagoras (Video)
Sammlung von 122 Beweisen für den Satz des Pythagoras auf cut-the-knot (englisch)
Interaktives Lernprogramm mit Beweisen, Aufgaben und vielen Links
Eric W. Weisstein: Pythagorean theorem. In: MathWorld (englisch). (Enthält auch verschiedene Beweise)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Satz_des_Pythagoras |
Amsel | = Amsel =
Die Amsel (Turdus merula) oder Schwarzdrossel, manchmal auch Kohlamsel oder Schwarzamsel, ist eine Vogelart aus der Familie der Drosseln (Turdidae). In Europa ist die Amsel der am weitesten verbreitete Vertreter dieser Familie und zugleich einer der bekanntesten Vögel überhaupt. Ihre Körperlänge liegt zwischen 24 und 27 Zentimetern. Die Männchen sind schwarz gefärbt und haben einen gelben Schnabel, das Gefieder der Weibchen ist größtenteils dunkelbraun. Der melodiöse und laut vorgetragene Reviergesang der Männchen ist in Mitteleuropa hauptsächlich zwischen Anfang März und Ende Juli zu hören und kann bereits vor der Morgendämmerung beginnen.
Das Brutgebiet in Europa weist außer dem hohen Norden und dem äußersten Südosten keine größeren Verbreitungslücken auf. Darüber hinaus kommt die Amsel in Teilen Nordafrikas und Asiens vor. In Australien und Neuseeland wurde die Amsel eingebürgert. In Mitteleuropa verlässt ein Teil der Vögel im Winter das Brutgebiet und zieht nach Südeuropa oder Nordafrika.
Ursprünglich war die Amsel ein Vogel des Waldes, wo sie auch heute noch anzutreffen ist. Im 19. Jahrhundert begann sie über siedlungsnahe Parks und Gärten bis in die Stadtzentren vorzudringen und ist zum Kulturfolger geworden. Ihre Nahrung suchen Amseln vorwiegend am Boden. Sie ernähren sich überwiegend von tierischer Nahrung, meist Regenwürmer oder Käfer. Abhängig von der Verfügbarkeit steigt der Anteil gefressener Beeren und Früchte. Amseln sind Freibrüter und nisten vorwiegend in Bäumen und Sträuchern.
== Aussehen und Merkmale ==
Adulte Amseln weisen einen deutlichen Geschlechtsdimorphismus auf: Das Gefieder der Männchen ist einfarbig schwarz, der Schnabel auffällig hellgelb bis orange. Zudem zeigen Männchen einen deutlichen Ring um die Augen, dessen Farbe der des Schnabels ähnelt, jedoch etwas ins Bräunliche gehen kann. Dieser Augenring kontrastiert stark mit der dunkelbraunen Iris. Weniger deutlich ist dieser Augenring beim Weibchen, auch der Schnabel ist weniger auffällig und hell hornfarben statt gelb. Die Gefiederfärbung des Weibchens ist viel variabler und vorwiegend dunkelbraun, teilweise ins Grau gehend oder rötlichbraun. Bei beiden Geschlechtern sind Lauf und Zehen dunkelbraun. Im Vergleich zum kleineren, ebenfalls dunkel befiederten und sich häufig auf dem Boden aufhaltenden Star hat die Amsel einen deutlich längeren Schwanz.
=== Gefieder adulter Amseln ===
Das Gefieder der adulten Männchen ist recht einheitlich schwarz. Vor allem an der Unterseite, aber auch an Rücken und Schulterregion zeigen die Federn nicht selten einen grauen bis bronzefarbenen Endsaum, was aber recht unauffällig ist und nur bei günstigen Lichtverhältnissen einen leicht schuppigen Eindruck macht. Die Schwungfedern können im Frühjahr ausgebleicht wirken.Die Oberseite der Weibchen ist dunkel olivbraun bis olivgrau gefärbt, die Stirn oft etwas weniger dunkel. Die Färbung der helleren Unterseite fällt individuell sehr verschieden aus. Kinn und Kehle sind hell schmutziggrau bis rötlichbraun mit dunkler Streifung. Die Brust ist braungrau, gelbbraun bis rotbraun mit mehr oder weniger deutlichen Sprenkeln. Der Bauch ist braun, graubraun oder grau, wobei zuweilen durch einen hellen Endsaum der Federn ein deutlich geschuppter Eindruck entsteht. Die Schwanzfedern sind dunkel- bis schwarzbraun, Hand- und Armschwingen dunkelbraun mit oliv getönten Außenfahnen.
=== Jungvögel und Mauser ===
Ausgeflogene Jungvögel ähneln Weibchen, sind aber auf der Unterseite stärker gefleckt und vor allem an den auffälligen hellen Schaftstrichen an Rücken, Schulterfedern und Flügeldecken zu erkennen. Der Schnabel ist braun. Die Befiederung von Flügeln und Schwanz erscheint vom restlichen Gefieder deutlich abgesetzt und ist bei männlichen Jungvögeln dunkelbraun bis braunschwarz, bei weiblichen etwas heller und geht eher ins Braune.
Bei der Jugendmauser, die sich zwischen Sommer und Herbst des ersten Kalenderjahres vollzieht, wechseln die Vögel das Kleingefieder und einen Teil der Flügelfedern. Dabei wechseln vorwiegend die älteren Jungvögel in ein sogenanntes Fortschrittskleid, die später geschlüpften in ein Hemmungskleid, in dem sie weiterhin eher Jungvögeln ähneln. Die einjährigen Männchen im Hemmungskleid werden auch Stockamseln genannt. Bei allen einjährigen Männchen, also auch den Männchen im Fortschrittskleid, sind die Schwungfedern und die unvermauserten Flügeldecken braun im Gegensatz zur braunschwarzen oder schwarzen Färbung der bereits vermauserten Federpartien. Auch bei den einjährigen Weibchen kontrastieren die bereits vermauserten und die unvermauserten Gefiederteile; Letztere sind deutlich heller.Im Regelfall beginnt die reguläre Jahresmauser, bei der es sich um eine Vollmauser handelt, zwei Wochen nach Beendigung der Jungenaufzucht. Die Mauser einer Amselpopulation erstreckt sich, werden die Extremfälle außer Acht gelassen, über einen Zeitraum von fünf Monaten. In Europa liegt der Mauserzeitraum typischerweise zwischen Juni und Ende Oktober, wobei sich nahezu alle adulten Amseln im August mausern.
=== Abweichende Färbungen ===
Das für Drosseln typische Tropfenmuster ist auch bei der Amsel nachweisbar, bei den Männchen wird es durch intensive Melaninablagerungen in den Federn überdeckt. Somit kann Melanismus als normal für die Art angesehen werden. Nicht der Norm entsprechend ist dagegen die Verringerung von Pigment oder der Pigmentausfall, was in unterschiedlicher Form und Intensität auftreten kann: Durch Albinismus verursacht sind fahle Färbungen (Chlorochroismus, Flavismus). Vollständig albinotische weiße Vögel mit roten Augen dürften wegen ihrer verminderten Sehfähigkeit kaum Überlebenschancen in freier Natur haben. Weiße Tiere mit braunen oder schwarzen Augen sind leuzistisch. Scheckungen sind auf einen abgeschwächten Leuzismus zurückzuführen.In manchen Jahren treten gescheckte Tiere örtlich gehäuft auf. Die dabei entstehenden symmetrischen oder auch asymmetrischen Muster sind äußerst unterschiedlich. Einerseits kann diese Weißfärbung offenbar eine erblich bedingte oder bleibende Störung während der Anlage oder Entwicklung der Follikel sein. Andererseits wurde experimentell nachgewiesen, dass die weißen Federn im Gefieder von der Zusammensetzung der Nahrung abhängen können, vor allem während der Mauser. Eiweißarme Nahrung scheint Albinismus zu begünstigen.Aberrante Färbungen werden heute vor allem bei den Vögeln im Siedlungsgebiet beobachtet, waren aber lange bekannt, bevor Amseln in der Nähe des Menschen vorkamen, beispielsweise hat Aristoteles bereits weiße Amseln beschrieben.
=== Körpermaße und Gewicht ===
Mit einer Körperlänge zwischen 24 und 27 Zentimetern sind Amseln der Nominatform nur unwesentlich kleiner als die größte mitteleuropäische Drosselart, die Misteldrossel. Männchen sind etwas größer als Weibchen. Die Flügellänge des Männchens liegt im Mittel bei 133 mm und beim Weibchen bei 128 mm, das entspricht ungefähr einer Spannweite zwischen 34 und 38,5 Zentimetern. Die Schwanzlänge liegt zwischen 104 und 116 Millimetern.Die Gewichtsschwankungen im Jahresverlauf sind bei europäischen Amseln beträchtlich. Bei mehrjährigen, in Großbritannien durchgeführten Untersuchungen lag das Gewicht zwischen 71 und 150 Gramm, im Mittel wogen adulte Männchen 102,8 Gramm, adulte Weibchen waren mit 100,3 Gramm etwas leichter. Einjährige Vögel waren durchschnittlich knapp 3 Gramm leichter. Im Jahresverlauf sind die Weibchen nur während der Legezeit etwas schwerer als die Männchen. Das größte Gewicht haben mitteleuropäische Amseln im Januar, das niedrigste im Juli oder August, nach der Brutzeit. Die Gewichtszunahme resultiert aus dem Aufbau von Fettreserven.
== Lautäußerungen ==
Der im Frühjahr weithin hörbare Reviergesang der Amselmännchen ist vielen Menschen vertraut. Die Amsel gilt als besonders kreativ in der Erfindung, Kombination und Variation von Motiven. Die melodiösen Strophen klingen für menschliche Ohren eingängig und gefällig, ganz im Gegensatz zu dem von beiden Geschlechtern bei Erregung zu hörenden Zetern („dackderrigigigi duck duck“) oder „Tixen“ – einer Aneinanderreihung hoher „tix“-Laute.
=== Reviergesang ===
Der Reviergesang wird vom Männchen gewöhnlich von zwei bis drei verschiedenen, exponierten Singwarten vorgetragen, die hin und wieder gewechselt werden. Eine Strophe dieses Gesangs dauert im Mittel etwas mehr als zwei Sekunden. In der Brutsaison geben Amseln während der Morgendämmerung für 20 bis 30 Minuten eine nahezu ununterbrochene Folge solcher Strophen von sich, wobei die Pausen zwischen den Strophen im Mittel etwa drei Sekunden lang sind. Beim abendlichen Gesang sind die Pausen etwas länger.Eine Strophe kann in einen Motivteil und ein leiseres, mehr zwitscherndes und geräuschhaftes „Anhängsel“ unterteilt werden. Der Motivteil ist etwas länger, das Anhängsel kann auch fehlen. Der Motivteil wiederum kann in Elemente untergliedert werden, in der Regel sind es zwei bis fünf, manchmal bis zu neun. Die Pausen zwischen den ungefähr 0,2 Sekunden langen Elementen sind hörbar. Die Elemente werden zu Motiven kombiniert, und Männchen haben nicht selten mehr als 30 Motive im Repertoire, wobei sie zwei bis fünf Lieblingsmotive haben, so dass auch für das menschliche Gehör eine Identifikation eines Individuums über den Gesang möglich ist. Beim Anhängsel gibt es noch mehr Variationen als beim Motivteil. Das Frequenzspektrum des Anhängsels ist deutlich breiter, die Hauptintensität liegt über 10 kHz, während sie im Motivteil zwischen 1,5 und 3 kHz liegt. Bei technischer Analyse des Anhängsels wurden Diplophonie und gegenläufige Frequenzverläufe festgestellt. Typisch für Amseln ist der sogenannte Kontergesang, also das wechselseitige Antworten zweier benachbarter Amselmännchen auf die Strophe des anderen. Die Vögel greifen die Motive des Gegenspielers auf und erwidern in vergleichbarer Länge und häufig mit ähnlicher Strophe.
Der Gesang ist zum Teil angeboren, denn der Vortrag von isoliert aufgezogenen Männchen stimmt in vielen Einzelheiten mit dem der Artgenossen überein. Viele Gesangselemente übernehmen Amseln vom Vater und von anderen Männchen. Aber auch Lautäußerungen anderer Vogelarten werden imitiert, beispielsweise Meisenlaute oder das Lachen von Grau- und Grünspecht. Von Amseln im Siedlungsgebiet werden auch Zivilisationsgeräusche, etwa Sirenensignale von Rettungsfahrzeugen, in den Gesang aufgenommen.Der erste regelmäßige Reviergesang kann in Mitteleuropa bereits im Februar zu hören sein, die Mehrzahl der Amseln beginnt Mitte März, der Höhepunkt liegt zwischen Mai und Juni, insbesondere bei feuchtwarmem Wetter. Mitte Juli endet diese Phase der Gesangsaktivität, aber besonders im Siedlungsgebiet gibt es Berichte von laut singenden Amseln im Herbst und auch im Winter, vorwiegend bei milder Witterung. Im Frühjahr gehören Amseln zu den ersten Singvögeln, sie beginnen deutlich vor der Morgendämmerung mit dem Gesang. Das zweite Gesangsmaximum liegt am Abend. Im Siedlungsgebiet wird auch von nachts singenden Amseln berichtet, auch im Winter.
=== Rufe und anderer Gesang ===
Einer der bekanntesten der zahlreichen Erregungs- und Stimmfühlungslaute der Amseln ist das Tixen. Diese Folge schneller, scharfer Laute animiert Artgenossen, sich zu beteiligen und ist häufig in Verbindung mit dem gemeinschaftlichen Hassen auf Elstern oder Katzen zu vernehmen. Das Tixen kann bei noch stärkerer Erregung in Zetern übergehen. Zetern kann auch gegen Artgenossen gerichtet sein. Zeternde Amseln zeigen keine Fluchtbereitschaft, sondern versuchen Konkurrenten oder Feinde zu vertreiben. Ein sehr hohes, durchdringendes und lautes „ssiih“ (von 9 auf 7 kHz abfallend) dient als Warnung vor Feinden, meist bei Gefahr aus der Luft.Weibchen lassen manchmal gedämpfte, sonst aber dem männlichen Gesang ähnliche Strophen hören, beispielsweise bei Nestanflug oder angeregt durch den Gesang des Männchens. Zur Paarung fordern Weibchen mit zusammenhanglosen, sehr leisen, gepresst klingenden und oft hohen Lauten auf.Nach der Brutzeit tragen ältere Männchen mit geschlossenem Schnabel einen speziellen Herbstgesang vor, der deutlich leiser als der Gesang im Frühjahr ist, diesem aber ähnelt. Der Herbstgesang erinnert auch an den Jugendgesang. Letzterer ist sowohl Männchen als auch Weibchen angeboren und setzt ab dem 19. Tag recht plötzlich ein. Dabei vibrieren Kehle, Körper und Schwanz, der Schnabel ist geschlossen oder nur leicht geöffnet. Etwas ältere, übende junge Amselmännchen sind an der abgehackten Vortragsweise von adulten Amseln zu unterscheiden.
== Verbreitung und Wanderungen ==
Während die Amsel Europa nahezu flächendeckend besiedelt, sind die Vorkommen in Nordafrika und Asien vorwiegend inselartig, in Asien reicht das Verbreitungsgebiet bis zum Ostchinesischen Meer. In Australien und Neuseeland wurde die Amsel eingebürgert und besiedelte daraufhin weitere vorgelagerte Inseln ohne menschliches Zutun. In großen Teilen des Verbreitungsgebiets sind Amseln Teilzieher, im hohen Norden sind sie fast ausschließlich Zugvögel; die südlichen Populationen sind dagegen Standvögel. In einigen Gegenden verstreichen die Vögel im Winter in wärmere oder tiefer gelegene Gebiete, allerdings verbleiben in den Alpen und den Karpaten auch einige Amseln in den höchstgelegenen Brutgebieten.
=== Natürliche Verbreitung ===
Die Amsel besiedelt die boreale, gemäßigte sowie mediterrane Zone und die Gebirgsregion der West- und Südpaläarktis sowie angrenzender nordorientalischer Gebiete.Die am weitesten westlich liegenden Vorkommen gibt es auf den Azoren, außerdem brütet die Amsel auf den Kanaren und Madeira. In Nordafrika kommt sie von Marokko bis Tunesien zwischen Mittelmeer und Sahara vor, vereinzelt auch weiter südlich in Oasen. In Europa brütet die Amsel fast überall, einschließlich der Britischen Inseln und der Färöer, in Island wurde die erste Brut 1985 nachgewiesen. Die nördlichsten Vorkommen gibt es in Skandinavien bei 70° nördlicher Breite, weiter östlich in Russland liegt die nördliche Verbreitungsgrenze noch beim 60. Breitengrad. Im Osten bildet der Ural die Grenze des Areals. Neben dem äußersten Norden fehlt die Amsel in Europa nur ganz im Südosten, ungefähr südöstlich einer Linie von der Krim zu den Südausläufern des Ural.Der westliche Teil des asiatischen Verbreitungsgebiets umfasst Kleinasien und den östlichen Mittelmeerraum. Die Nordgrenze dieses Areals läuft von der Krim über die Kuban-Ebene, Stawropol und den Nordkaukasus zum Südufer des Kaspischen Meeres, die Südgrenze liegt östlich des Mittelmeerraumes ungefähr beim 34. Breitengrad. Das Areal setzt sich mit weiteren inselartigen Vorkommen im Zagrosgebirge, Elburs und Kopet Dag fort, weiter östlich kommt die Amsel in den Gebirgswäldern des Alai-Gebirges, des Tianschan, des Hindukusch und des Himalaya vor. Weiter im Osten schließt sich vom Süden Gansus und Westen Sichuans in Zentralchina bis zum Ostchinesischen Meer ein geschlossenes Verbreitungsgebiet an, im Süden reicht es bis etwa zum 22. Breitengrad an der Küste des Südchinesischen Meeres.
Die Amseln des Indischen Subkontinents werden teilweise auch als eigenständige Art betrachtet (siehe Systematik). Im Westen, Süden und Osten Indiens kommen sie im bewaldeten Bergland vor, zudem auf Sri Lanka.
=== Einbürgerungen ===
Die ersten Amseln erreichten den australischen Kontinent 1857 in Melbourne; es ist aber nicht überliefert, ob einzelne von ihnen freigelassen wurden. Seitdem sind in Australien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Auswilderungen dokumentiert, wobei davon ausgegangen wird, dass es viele weitere private Freilassungen gab. Die Hauptvorkommen liegen heute im Südosten Australiens südlich des 33. bis 34. Breitengrads; die Amseln dringen dabei immer weiter nach Norden vor. Südlich vom australischen Festland kommen sie auch in Tasmanien und auf den Inseln der Bass Strait vor. Die Amsel gilt in Australien vielerorts als Schädling, weil sie in Obstplantagen, Gärten oder Weinbergen Schaden anrichtet, teilweise wird sie von Plantagenbesitzern abgeschossen.In den 1860er Jahren wurde die Amsel auch in Neuseeland eingeführt. Zahlreiche Vögel wurden auf der Nord- und auf der Südinsel freigelassen. Heute kommt sie auf beiden Hauptinseln flächendeckend vor, ebenso auf den meisten der vorgelagerten Inseln. Es ist möglich, dass die dortigen Amseln die Ausbreitung eingeführter Pflanzenarten begünstigen.Erfolglose Einbürgerungsversuche sind von Nordamerika und Südafrika sowie von St. Helena und den Fidschi-Inseln bekannt.
=== Wanderungen ===
In Europa ist der Anteil der ziehenden Individuen im Norden und Osten am höchsten. In Schweden ziehen 76 Prozent, in Finnland sogar 89 Prozent. In Mitteleuropa liegt die Zahl der wegziehenden Amseln dagegen nur bei 25 Prozent. Der Zug erfolgt vorwiegend in südwestlicher Richtung, die ziehenden Amseln verstärken im Winter die Populationen im Westen und Süden Europas. Die Brutvögel Baden-Württembergs überwintern beispielsweise in Norditalien, Nordspanien und vor allem in Südwest- und Südfrankreich, bevorzugtes Winterquartier ist das untere Rhônetal.Im Siedlungsgebiet ist der Anteil ziehender Amseln niedriger als bei Waldamseln. Außerdem ziehen weniger Männchen als Weibchen, ältere Männchen bleiben noch häufiger im Brutgebiet. Der Bruterfolg bei nicht ziehenden Männchen ist zudem größer als bei den ziehenden. Diese Indizien legen nahe, dass ein für Teilzieher typisches Gleichgewicht der Strategien besteht: Im Brutgebiet bleibende Vögel haben eine höhere Mortalitätsrate im Winter, dafür können sie aber bessere Brutreviere besetzen. Eine zwischen 1998 und 2000 im Raum München durchgeführte Studie deutet darauf hin, dass die geringere Zugbereitschaft der Männchen im Siedlungsgebiet bereits genetisch bedingt sein könnte.Im Juli sind in Mitteleuropa erste Zugbewegungen zu erkennen, dabei handelt es sich aber wohl vorwiegend um nachbrutzeitliche Dispersion. Verstärkter Zug ist vor allem in der zweiten Septemberhälfte festzustellen, der Hauptdurchzug findet Mitte Oktober statt. Ende Oktober nehmen die Zugbewegungen deutlich ab und enden im November. In den Wintermonaten kann bei den nicht fortgezogenen Vögeln während extremer Witterung eine Kälteflucht stattfinden. Die heimziehenden Amseln treffen in Mitteleuropa zwischen Mitte Februar und Mitte April ein.Amseln ziehen hauptsächlich nachts oder in den frühen Morgenstunden. Der Zug erfolgt in kleinen Etappen mit häufigen, aber kurzen Pausen. Das Wetter beeinflusst das Zugverhalten vergleichsweise wenig. Dabei werden von ziehenden Amseln auch die Nordsee und das Mittelmeer sowie die Alpen überflogen.Die Amseln in Australien und Neuseeland sind fast ausschließlich Standvögel, es gibt wenige Hinweise, die auf Zugbewegungen hindeuten, einzelne Ringfunde lassen auf eine gelegentliche Überquerung der Bass Strait schließen.
== Lebensraum ==
Die Amsel, die Drosselart mit dem dunkelsten Gefieder, bewohnte ursprünglich bevorzugt den Innenbereich feuchter, dichter Wälder. Auch heute noch brütet sie an den dunklen Standorten unterholzreicher Wälder und sucht auf vegetationsfreien oder kurzrasigen Böden nach Nahrung. In einem solchen Habitat ist das bei Dämmerlicht für Singvögel außergewöhnlich gute Sehvermögen der Amsel sicher von Vorteil. Am anderen Ende des außerordentlich breiten Habitatsspektrums stehen die belebten Zentren von Großstädten, so dass sich aufgrund dieser Gegensätzlichkeit die Bezeichnungen Wald- und Stadtamsel eingebürgert haben.Die Amsel kommt in nahezu allen Arten von Kulturlandschaft vor. Ihre Habitate umfassen dabei Vorgärten, Parks und parkähnliche Anlagen, Baum- und Strauchgruppen in Industriegebieten, Streuobstwiesen, buschbestandene Heiden sowie die weitgehend offene Feldflur, sofern diese mit Feldgehölzen oder Sträuchern aufgelockert ist. Neben naturnahen, alten Wäldern werden auch monokulturell bewirtschaftete Forste besiedelt, wobei Laubwälder gegenüber Nadelwäldern bevorzugt werden. Auch in Schilfröhrichten brütet die Amsel. Die am Boden nach Nahrung suchenden Vögel entfernen sich in allen Lebensräumen nicht allzu weit von Deckung bietender Vegetation. Bis auf wenige Ausnahmen liegt die Niederschlagsmenge in den von der Amsel besiedelten Lebensräumen über 300 mm pro Jahr.Die bei weitem höchste Siedlungsdichte wird innerhalb von Ortschaften erreicht, nicht selten liegt sie bei vier und mehr Brutpaaren pro Hektar. Auf einem Friedhof in Ravensburg wurden in mehreren aufeinander folgenden Jahren zwischen fünf und sieben Brutpaare pro Hektar gezählt. In Wäldern ist die Siedlungsdichte dagegen erheblich geringer, selten brüten mehr als 0,5 Brutpaare pro Hektar. In ländlichen Gebieten und Dörfern liegt die Siedlungsdichte zwischen denen der Städte und der Wälder.Seit 150 bis 200 Jahren dringt die Amsel ins menschliche Siedlungsgebiet vor. Dabei scheint sie zunächst die am Rande der Ortschaften, oft in Waldnähe gelegenen parkähnlichen Anlagen und Gärten zu besiedeln. Dieser Prozess fand und findet in weiten Teilen des Verbreitungsgebietes statt und verläuft regional unterschiedlich schnell: In Bamberg wurde bereits 1820 von Stadtamseln berichtet, in London ist die Amsel erst in den 1930er Jahren in den großen Parks der Stadt heimisch geworden. Ein hemmender Faktor bei der Verstädterung ist die Bejagung, die noch immer in Teilen des Verbreitungsgebiets stattfindet. Einer der begünstigenden Faktoren ist das mildere Mikroklima. Zudem ermöglicht die künstliche Beleuchtung in Städten die Brutperiode auszudehnen; außerdem besteht ganzjährig ein gutes Nahrungsangebot.Auch die Gebirgswälder werden von der Amsel besiedelt. In den Alpen kommt sie bis an die Waldgrenze vor, im Hohen Atlas findet man sie bis 2300 Meter Höhe. Noch höher liegt der Lebensraum der Unterart T. m. maximus im Himalaya, diese ist zwischen 3000 und 4500 Metern häufig und kommt sogar bis 5300 Meter vor.
== Nahrung und Nahrungserwerb ==
Amseln sind flexible und anpassungsfähige Allesfresser, aber während des ganzen Jahres zumindest auf geringe Mengen tierischer Nahrung angewiesen. Wenn Letztere knapp oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beschaffen ist, spielen Beeren und andere Früchte eine größere Rolle.
Hauptbestandteile der tierischen Nahrung sind Regenwürmer und Käfer bis zur Größe des Maikäfers, regelmäßig werden auch Schnecken, Blutegel, Tausendfüßer, Spinnen sowie verschiedene Insektenstadien verwertet. Neben zahlreichen weiteren Wirbellosen zählen auch kleinere Wirbeltiere zum Nahrungsspektrum, darunter Eidechsen, Schwanz- und Froschlurche, Mäuse und Spitzmäuse sowie in Ausnahmefällen auch Schlangen. Auch fischende Amseln sind schon beobachtet worden. Bei Nahrungsmangel werden als Ersatznahrung auch kleinere Insekten wie beispielsweise Blattläuse verwertet.
Während Amseln sich zu Beginn der Brutzeit fast ausschließlich tierisch ernähren, nimmt in Mitteleuropa ab Mitte Mai der Anteil von Beeren und Früchten an der Nahrung zu. Die Amsel ist dabei der vielseitigste Früchtefresser unter den Drosseln; sie meidet allerdings rigoros die Früchte der Weißbeerigen Mistel mit ihrem zähschleimigen Inhalt. Der Anteil an Beeren und Früchten von Ziergehölzen ist vergleichsweise hoch. Die Früchte werden vorwiegend nach der Reihenfolge des Heranreifens und nach dem Zuckergehalt gewählt. Der Anteil fleischiger Früchte erreicht von Oktober bis November seinen Höhepunkt, in Weinbergen und Obstplantagen kann es während dieser Zeit zu größeren Ansammlungen von Amseln kommen. Im Winter stellen in Europa die Früchte des Efeus meist die einzige noch verbliebene pflanzliche Nahrung dar. Bei Nahrungsmangel nutzen Amseln im Siedlungsgebiet das Angebot der Winterfütterung, auch werden Sämereien in größeren Mengen aufgenommen, aber diese werden wie die Samen aufgenommener Früchte kaum verdaut. Amseln suchen auch in Abfällen nach Nahrung.Es gibt viele Beobachtungen von ungewöhnlich erscheinenden Ernährungsgewohnheiten bei Amseln. Hierzu zählen das Plündern der Nester anderer Drossel- und Finkenarten sowie der Verzehr aus dem Nest gefallener Sperlinge. Auch Aas wird offensichtlich verwertet, zudem gibt es Berichte über Koprophagie und Kannibalismus.Charakteristisch für die Nahrungssuche am Boden ist das Hüpfen einer kurzen Strecke und ein anschließendes regungsloses Verharren, wobei die Amsel den Kopf schief hält und eine bestimmte Stelle fixiert, um blitzschnell mit dem Schnabel zuzustoßen. Zu beobachten sind auch Amseln, die dürres Laub mit hastigen Pickbewegungen erfassen, umdrehen und beiseite werfen. Herabgefallene Beeren oder Früchte werden vom Boden aufgenommen, seltener auch von Bäumen oder Sträuchern gepickt, oder manchmal sogar in einem kurzen Rüttelflug abgerissen.Amseln trinken selten, da die aufgenommene Nahrung meist ausreichend Wasser enthält. Beim Trinken begeben sie sich oft bis zum Bauch in seichtes Wasser und tauchen den Schnabel ein.
== Fortpflanzung ==
Im Regelfall werden Amseln im Frühjahr, am Ende des ersten Lebensjahres, geschlechtsreif. Innerhalb einer Brutsaison führen Amselpaare größtenteils eine monogame Beziehung. Bei Standvögeln, insbesondere auf den Britischen Inseln, scheint der Zusammenhalt der Paare fester und auch mehrere Brutperioden zu überdauern, dennoch sind bei etwa 18 Prozent der Jungen die aufziehenden Amselmännchen nicht die Väter. Bigynie wurde nachgewiesen, ist aber selten.Amseln gehören zu den Frühbrütern. In Mitteleuropa gibt es die ersten Bruten Ende Februar oder Anfang März. Zwei bis drei Jahresbruten sind hier die Regel, letzte Bruten sind bis Ende August möglich. In manchen Teilen des Verbreitungsgebiets gibt es nur zwei Jahresbruten. Schachtelbruten sind häufig. In Australien und Neuseeland liegt die Brutzeit hauptsächlich zwischen August und Dezember. Im Siedlungsgebiet gibt es insbesondere in milden Wintern gelegentlich Brutversuche und auch erfolgreiche Bruten.
=== Paarbildung und Balz ===
In Mitteleuropa kann bereits im November die Neuformierung von Revieren durch die im Brutgebiet verbliebenen Männchen beginnen. Zu dieser Zeit gibt es vor allem bei Stadtamseln auch bereits erste Anzeichen der Paarbildung. Vor allem erwachsene Männchen verfolgen bereits im Winter bestimmte Weibchen und versuchen Konkurrenten fernzuhalten. Auch ziehende Vögel können bereits verpaart im Brutgebiet eintreffen. In der Regel erfolgt die Paarbildung aber erst im Spätwinter oder Frühling, indem Weibchen ein Männchen mit geeignetem Revier wählen. Erstbrüter siedeln sich im März und April zwischen bereits besetzten Revieren an oder versuchen fremde Brutreviere zu übernehmen.Heimkehrende Amseln können bereits verpaart im Brutgebiet eintreffen, aber auch bei diesen beginnt die eigentliche Balz in Mitteleuropa typischerweise im März, bei noch unverpaarten Amseln ist sie Bestandteil der Paarbildung. Beim typischen Balzritual, das häufig nach dem morgendlichen Reviergesang stattfindet, läuft das Männchen im „Imponierschritt“ vor dem Weibchen auf und ab. Dabei stolziert es hoch aufgerichtet mit lang gestrecktem Hals, das Kopfgefieder eng angelegt und das Brust- und Bauchgefieder aufgeplustert. Das Intertarsalgelenk des Standbeins wird weitest möglich durchgedrückt, das Schwungbein hochgezogen. Die leicht hängenden Flügel des Männchens zittern und es gibt „ziep“-Laute, Balztriller oder Balzgesang von sich. Einer sich an die Balz anschließenden Kopulation geht meist eine Paarungsaufforderung des Weibchens voraus; es kommt auch zu Kopulationen ohne vorausgehendes Balzritual.
=== Neststandort und Nestbau ===
Amseln sind Freibrüter und nisten vorwiegend in Bäumen und Sträuchern, aber auch am Boden. Die Rolle des Männchens bei der Nistplatzwahl ist umstritten. Manche Autoren gehen von einer alleinigen Entscheidung des Weibchens aus, andere nehmen an, dass das Männchen dem Weibchen die in Frage kommenden Nistplätze zeigt oder auf andere Weise mehr oder weniger Einfluss nimmt.Das Nest wird in der Regel auf einer festen Unterlage errichtet und ist von oben etwas geschützt. Bevorzugt werden halbdunkle Standorte in immergrünen Gehölzen, insbesondere in Nadelbäumen. In natürlichen Habitaten sind Amselnester im Vergleich zu denen der Sing- oder Wacholderdrossel besser versteckt. Auch liegen sie weniger hoch über dem Boden, in weiten Teilen des Verbreitungsgebiets liegt die typische Nesthöhe zwischen 1,5 und 2 Metern. Später im Jahr gebaute Nester liegen durchschnittlich höher, was aber durch die vermehrte Nutzung inzwischen Laub tragender Bäume bedingt ist.In Siedlungen liegen die Nester tendenziell höher, es werden vielfach mit Kletterpflanzen bewachsene Hausfassaden und Mauern genutzt oder die Nester, wie auch in natürlichen Habitaten, in immergrünen Gehölzen gebaut. Aber auch in Siedlungen sind Nester die Ausnahme, die mehr als sieben Meter über dem Boden liegen. Amseln bauen dort auch – ähnlich dem Hausrotschwanz – Nester auf Balken oder in Nischen. Es gibt Berichte über äußerst merkwürdige Niststandorte, beispielsweise im Motorraum abgestellter Autos, in fahrenden Kränen oder in Leuchtreklame-Schriftzügen – mit einer Vorliebe für runde Buchstaben und einer offensichtlichen Abneigung gegen die Farbe Rot.
Das Weibchen baut das schalenförmige Nest alleine; das Material dazu wird ausschließlich am Boden gesammelt. Zunächst errichtet das Weibchen aus dünnen Zweigen, groben Halmen, Moos und Flechten die Nestbasis, die mit etwas feuchter Erde verfestigt wird. Darauf formt es mit dünnen Halmen, Laub und Moos die Nestmulde. Diese wird anschließend mit Lehm oder feuchtem Schlamm ausgekleidet. Nach einer witterungsabhängigen Trockenpause von 12 bis 24 Stunden kleidet das Weibchen die Mulde mit dünnen Grashalmen und Blättern aus und gibt dieser durch Hin- und Herbewegungen die endgültige Gestalt. Für die Nestbasis werden häufig auch Papier- oder Kunststofffetzen, Textilien oder ähnliches künstliches Nistmaterial verwendet – auch von Waldamseln.Form und Größe des Nests hängen vom Standort ab: Nester in Astgabeln und Nischen sind kleiner, solche auf flacher Unterlage wie Balken oder Baumstümpfen dagegen größer. Der Außendurchmesser der nicht immer ganz runden Nester liegt im Mittel ungefähr bei 16 Zentimetern, der Durchmesser der Mulde bei 10 Zentimetern. Das Weibchen baut im Mittel zwei bis fünf Tage am Nest, bei Folgebruten kann es auch schneller gehen. Für jede Brut wird meist ein neues Nest gebaut, an geschützten Standorten, besonders in Siedlungen, kann dasselbe Nest aber auch ausgebessert und wieder verwendet werden.
=== Gelege und Brut ===
Nach Vollendung des Nestbaues vergehen in der Regel ein bis drei Tage bis zur Ablage des ersten Eies, dann werden die Eier im Abstand von 24 Stunden gelegt. Ein Gelege besteht normalerweise aus vier bis fünf Eiern, zu Beginn und Ende der Brutperiode sind es oft jedoch nur drei oder gelegentlich nur zwei Eier. Größere Gelege mit sechs oder sieben Eiern kommen vor, stammen aber manchmal wohl von mehr als einem Weibchen.Die Eier sind meist oval bis kurzoval, mitunter leicht elliptisch. Die Grundfarbe frischer Eier ist grün, Farbe und Zeichnung der mäßig glänzenden Eier können aber sehr unterschiedlich sein. Die Größe der Eier europäischer Amseln lässt keine signifikante geografische Variation erkennen, sie liegt im Mittel bei 29,5 × 21,5 Millimeter, das Gewicht bei etwas mehr als sieben Gramm.
Es brütet in der Regel nur das Weibchen. Es gibt auch Berichte über brütende Männchen; allerdings sitzt das Männchen bei Abwesenheit des Weibchens manchmal auf oder im Nest und bewacht lediglich das Gelege. Das Weibchen übernachtet normalerweise bereits nach Ablage des zweiten Eies im Nest, brütet aber erst ab dem dritten Ei. Der Vogel verlässt das Nest dann nur noch zur Nahrungsaufnahme, Fütterungen des Weibchens durch das Männchen sind äußerst ungewöhnlich. Die Brutdauer liegt zwischen 10 und 19 Tagen, im Mittel bei 13 Tagen.
=== Entwicklung der Jungen ===
Alle Jungen eines Geleges schlüpfen im Regelfall innerhalb von zwei Tagen. Beide Geschlechter beteiligen sich an der Fütterung. Im Normalfall hudert nur das Weibchen, bei Tod des Weibchens kann das Männchen diese Aufgabe übernehmen und auch die Jungenaufzucht erfolgreich zu Ende bringen. Im Mittel werden pro Nestling an einem Tag 16 Gramm Nahrung verfüttert. Zu Beginn der Brutzeit handelt es sich dabei nahezu ausschließlich um tierische Nahrung, später kommen auch Beeren und fleischige Früchte hinzu. Frisch geschlüpfte Nestlinge wiegen 5 bis 7 Gramm, bei Verlassen des Nests nach etwa 13 bis 15 Tagen wiegen sie etwa 65 Gramm.Nach dem „Ausfliegen“ sind die Jungvögel zunächst nahezu flugunfähig, sie halten sich sehr still und unauffällig in Deckung auf, tagsüber vor allem am Boden. Der Nachwuchs wird zur Betreuung gewöhnlich unter den Eltern aufgeteilt. Im Alter von etwa 18 Tagen können die Jungvögel fliegen, nach 19 bis 32 Tagen sind sie selbstständig. Die Dismigration beginnt im Alter von 7 bis 8 Wochen.
=== Bruterfolg ===
Im Siedlungsgebiet können zwar mehr Bruten pro Jahr erfolgen, der Bruterfolg wird aber durch Störungen durch den Menschen sowie die große Zahl an Hauskatzen beeinträchtigt und ist in ländlichen Gebieten oft größer. In Gebieten, in denen Rabenvögel und insbesondere Elstern zahlreich sind, kann es zu einer Häufung von Gelegeverlusten kommen. Viele Studien belegen einen Zusammenhang zwischen der Verborgenheit des Nests und der Ausfliegerate. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass Totalverluste bei niedrigeren Nestständen weniger häufig sind als bei Nestern in mehr als 2,5 Metern Höhe über dem Erdboden, da niedrige Nester für Nesträuber weniger gut zu sehen sind. In Großbritannien schlüpften in 56 Prozent der 1428 untersuchten Nester Junge, aus 41 Prozent dieser Nester flog mindestens ein Jungvogel aus. Im menschlichen Siedlungsgebiet fallen viele Jungamseln nach dem Ausfliegen dem Straßenverkehr oder Katzen zum Opfer.
== Sonstiges Verhalten ==
Der Aktivitätsbeginn liegt während der meisten Jahreszeiten während der Morgendämmerung, das Aktivitätsende während der Abenddämmerung.
Zwischen Februar und Ende Juni ist allerdings von mitteleuropäischen Amseln schon weit vor Beginn der Morgendämmerung ihr Gesang zu vernehmen; im Juli und Juni sowie mitten im Winter endet die Aktivität bereits bei oder sogar vor Sonnenuntergang. Witterungsabhängige Helligkeitsunterschiede sowie künstliche Lichtquellen beeinflussen die Aktivitätsdauer.
=== Ruhe und Komfortverhalten ===
Amseln suchen während des gesamten Jahres spezielle Schlafplätze auf, obschon während der Brutzeit neben den brütenden Weibchen auch häufig die Männchen nachts im Revier bleiben. Die Schlafplätze liegen typischerweise in Nadelbäumen sowie dicht belaubten Laubbäumen oder Sträuchern, meist 1 bis 2,5 Meter über dem Boden. Die Übernachtung erfolgt manchmal einzeln, aber auch gesellig: In stadtnahen Wäldern können sich 700 Vögel oder mehr versammeln. Im Siedlungsgebiet werden häufig Friedhöfe oder Parks zur Nächtigung genutzt. Die zum Schlafplatz zurückzulegende Distanz liegt normalerweise unter einem Kilometer, kann aber auch bis zu vier Kilometer betragen, insbesondere im Siedlungsgebiet sind die zurückzulegenden Distanzen oft größer. Dabei verwenden die Vögel häufig dieselben Routen, ein Individuum nutzt aber nicht jeden Tag denselben Schlafplatz.Vor dem Aufbruch zum Schlafplatz widmen sich Amseln häufig der Gefiederpflege oder nehmen ein Bad. Das Baden ist das ganze Jahr über zu beobachten, vermehrt bei bedecktem Himmel oder Regen, seltener bei Sonnenschein. Zum Komfortverhalten gehört auch das Sonnenbaden. Drosseltypisch legen die Amseln sich flach auf den Boden, spreizen den Schwanz und breiten die Flügel aus. Dies machen sie bevorzugt im Hochsommer und setzen sich dabei nachmittags gelegentlich der Sonne aus, bis sie Anzeichen von Hitzestress zeigen. Der Grund dieses intensiven Sonnenbadens ist unklar. Sonnenbaden und Einemsen sind besonders häufig unmittelbar vor der Mauser, beide Verhaltensweisen werden auch kombiniert, beispielsweise von Amseln, die sich auf dem Nest der Gelben Wiesenameisen niederlassen.
=== Sozialverhalten ===
Während der Brutzeit verhalten sich Amseln gegenüber Artgenossen ausgesprochen territorial, besonders vor und während der Phase des Nestbaus, während der Jungenaufzucht etwas weniger. Das Revier wird von beiden Geschlechtern verteidigt. Territoriale Männchen vertreiben alle Artgenossen, Weibchen während der Brutzeit nur andere Weibchen. Das Vertreiben von Eindringlingen kann mit oder ohne vorausgehendes Imponierverhalten erfolgen. Kommt es zum Kampf, können die Vögel einander picken oder Brust an Brust bis zu drei Meter hoch steigen und ineinander verkrallt weiter kämpfend auf den Boden fallen. Besonders intensiv scheinen die Kämpfe zwischen den Weibchen zu sein: Sie können mit dem Tod der Unterlegenen enden.Außerhalb der Brutzeit sind Amseln meist sozial und können gemeinsam günstige Nahrungsquellen nutzen. Ansammlungen von 30 Vögeln oder mehr sind beim Nahrungserwerb und beim Baden nicht ungewöhnlich. Wenn sich aber im Spätherbst beispielsweise die Verfügbarkeit von Beeren dem Ende nähert, können auch nicht territoriale Vögel die letzten Beeren tragenden Sträucher gegen Artgenossen oder auch andere Drosselarten verteidigen. Den wendigeren und anpassungsfähigeren Staren sind Amseln bei der Beerenernte unterlegen.
=== Bewegung und Flug ===
Amseln verbringen die meiste Zeit des Tages am oder in der Nähe des Bodens. Strecken werden je nach Beschaffenheit des Untergrunds laufend oder hüpfend zurückgelegt. Schwung wird sowohl bei der Landung als auch nach einer Hüpfsequenz mit ein paar Schritten abgebremst, wobei der Schwanz in charakteristischer Weise aufgestellt wird.Im Gegensatz zu den Singdrosseln, die mit ihren längeren und spitzeren Flügeln bessere Streckenflieger sind, sind Amseln aufgrund der ausgeprägten Spaltflügel wendiger. Im Horizontalflug wurden Geschwindigkeiten von knapp 35 km/h gemessen.
== Lebensalter und Mortalitätsursachen ==
Die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr ist signifikant höher als in den folgenden. Bei Untersuchungen in Frankreich wurde für Vögel im ersten Lebensjahr eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 31 Prozent ermittelt, in den folgenden Lebensjahren waren es 55 Prozent. Bei Untersuchungen in Großstädten im Nordwesten Deutschlands betrug das Durchschnittsalter der Vögel 3,6 Jahre. Nicht geklärt ist die Frage, ob die Lebenserwartung im ursprünglichen Lebensraum oder im Siedlungsgebiet größer ist, die hierzu durchgeführten Untersuchungen liefern widersprüchliche Ergebnisse. Einzelne Vögel können ein beträchtliches Lebensalter erreichen, mehrfach wurden schon mehr als zehn Jahre alte Vögel festgestellt. Die älteste bislang bekannte Amsel ist ein auf Helgoland 1974 beringtes Weibchen, das mit einem Alter von 22 Jahren und drei Monaten wieder angetroffen und möglicherweise noch älter wurde.
=== Wetter ===
Die Witterung hat einen großen Einfluss auf die Sterblichkeit. Im Sommer leiden die Vögel unter lang anhaltender Trockenheit, im Winter unter Frost und starkem Wind. Allerdings übersteht die Amsel längerfristige winterliche Bedingungen aufgrund des breiten Nahrungsspektrums meist besser als andere Drosseln.
=== Krankheiten ===
Außer durch Nahrungsmangel kann die Widerstandskraft der Vögel durch verschiedene Krankheiten oder Parasiten geschwächt sein. Zu den Endoparasiten zählen Saugwürmer, zu den Ektoparasiten beispielsweise die Larven der Fliege Neottiophilum praeustum, die im Nistmaterial leben und sich vom Blut der Nestlinge ernähren.
Usutu-VirusDas Usutu-Virus, das zuvor nur aus Afrika bekannt war und zu den durch Stechmücken übertragenen Flaviviren gehört, verursacht seit 2001 in einzelnen Teilen des mitteleuropäischen Verbreitungsgebiets ein auffälliges Vogelsterben. Da die Amsel die überwiegend betroffene Art ist, wird auch vom „Amselsterben“ gesprochen. Erstmals trat das Amselsterben 2001 in der Nähe von Wien auf, breitete sich dann auch auf Ungarn, die Schweiz und Italien aus. Im Sommer 2011 wurde das Usutu-Virus auch als Ursache zahlreicher verendeter Tiere in der nördlichen Oberrheinischen Tiefebene in Deutschland nachgewiesen. Es wird angenommen, dass dort einige 100.000 Individuen betroffen waren. In Österreich, wo das Virus 2001 erstmals auftrat, gingen seit 2004 die Todesfälle zurück und die Bestände hatten sich 2006 wieder normalisiert, was offensichtlich darauf zurückzuführen war, dass die österreichischen Vögel mittlerweile eine Herdenimmunität entwickelt hatten. Nach einer ähnlichen epidemiologischen Entwicklung in der Rheinebene und einigen Jahren ohne größere Ausbrüche traten 2016 dort wieder vermehrt Fälle auf, zudem auch in Frankreich, Belgien und den östlichen Niederlanden. Man geht aber davon aus, dass es bei einem solchen wiederholten Auftreten am selben Ort nicht mehr zu einem Massensterben wie beim Erstauftreten kommt, stattdessen ist zu erwarten, dass es in solchen Gebieten zu sich zyklisch wiederholenden Ausbrüchen kommt, wenn eine Amsel-Generation mit erworbener Resistenz von der nächsten Generation abgelöst wird. Im Jahr 2017 und im Hitzesommer 2018 hat sich in Deutschland das Virus weiter nach Norden ausgebreitet, besonders viele Meldungen kamen aus Niedersachsen. Wie zu erwarten erkranken besonders viele Vögel in den Regionen, in denen das Virus erstmals auftrat. Nach dem Stand von Mitte August des Jahres 2019 hat nach Feststellungen des Nabu die Zahl der in Deutschland gemeldeten Verdachtsfälle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum abgenommen.
=== Prädatoren ===
Amseln sind Beutetiere verschiedener Prädatoren. Dabei ist bemerkenswert, dass nicht die auffälligeren und auf exponierten Warten singenden Männchen häufiger gefressen werden, sondern die Weibchen. Dies hängt höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass Weibchen länger und vermehrt am Boden auf Nahrungssuche sind. Vor allem im ursprünglichen Lebensraum sind verschiedene Falkenarten, Sperber, Habicht, Mäusebussard oder Rotmilan bei der Jagd auf Amseln erfolgreich, in Neuseeland und Australien auch die Sumpfweihe. Unter den Eulen zählen Waldkauz, Waldohreule und Uhu zu den typischen Prädatoren. Verschiedene Rabenvögel erbeuten Eier und Jungvögel, die größeren Arten wie die Aaskrähe gelegentlich auch altersschwache oder kranke Altvögel. Auch verschiedene Marderarten sowie Füchse kommen als Fressfeinde in Betracht. Außerdem zählen Hauskatzen, Wanderratten sowie Eichhörnchen zu den häufig erfolgreichen Beutegreifern. Wanderratten und Eichhörnchen erbeuten in der Regel Gelege und noch nicht flügge Jungvögel.
=== Straßenverkehr und Bejagung ===
Im Siedlungsgebiet fordert der Straßenverkehr zahlreiche Opfer unter den Amseln. Besonders gefährlich sind Schnellstraßen, die an Grünflächen vorbeiführen. Es gibt auch Amseln, die mehrere Verkehrsunfälle überleben. Die Heilungschancen scheinen innerhalb des Stadtgebiets aufgrund des größeren Nahrungsangebots und des geringeren Feinddrucks größer.
In manchen Teilen des Verbreitungsgebiets stellen die Bekämpfung als Schädling und die Jagd eine nicht zu vernachlässigende Todesursache dar. In Frankreich dauert die Jagdsaison beispielsweise von Ende August bis Mitte Februar.
== Bestand und Bestandsentwicklung ==
Wahrscheinlich schon im 18. Jahrhundert, vor allem aber während des 19. Jahrhunderts hat der Amselbestand durch Arealerweiterung, Besiedlung neuer Lebensräume und durch eine Erhöhung der Siedlungsdichte erheblich zugenommen. Allein das europäische Brutgebiet wird heute auf acht Millionen Quadratkilometer geschätzt, der Bestand auf 40 bis 82 Millionen Brutpaare. Daraus kann eine etwa dreimal so große Zahl an Individuen abgeleitet werden. Da Europa mehr als die Hälfte des weltweiten Brutgebiets der Art umfasst, lässt sich darauf basierend der weltweite Bestand grob mit 160 bis 490 Millionen Individuen veranschlagen. In Deutschland ist die Amsel mit 7,9 bis 9,5 Millionen Brutpaaren im Jahr 2016 neben dem Buchfink der häufigste Brutvogel. Die Bestände nahmen in den letzten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern Europas zu, vor allem in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Italien. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Bestandszahlen stabil, die Art gilt somit als ungefährdet. Das war nicht immer so: In den 1970er Jahren gab es regional in der britischen Population Bestandseinbrüche von 20 bis 30 Prozent. Dies wird hauptsächlich der Intensivierung der Landwirtschaft zugeschrieben, denn die Rückgänge waren in landwirtschaftlichen Gebieten größer als anderswo. Auch könnte der Einsatz von Pestiziden das Nahrungsangebot entscheidend vermindert haben.
== Systematik ==
=== Verwandte Arten ===
Die Echten Drosseln (Turdus) sind eine der artenreichsten und am weitesten verbreiteten Singvogelgattungen. Die allgemein anerkannten 65 rezenten Arten kommen, abgesehen von Einbürgerungen wie in Australien und Neuseeland, in Afrika, Eurasien und Amerika vor. Untersuchungen der mitochondrialen DNA zeigen, dass es mehrere regional grob abgegrenzte Kladen gibt, die eine Aufteilung der Gattung ermöglichen würden. Dies scheint aber wegen der biologischen Ähnlichkeit der Turdus-Arten nicht zweckmäßig.Die Amsel gehört zur eurasischen Klade der Gattung Turdus. Sie ist offensichtlich die basale Art dieser Gruppe, wobei diese Position durch die genetischen Untersuchungen nicht zweifelsfrei bestimmt werden konnte. Sicher ist, dass sie nicht sehr nahe mit den anderen Turdus-Arten dieser Klade verwandt ist. Der Grund dafür könnte eine durch interkontinentale Migration verursachte, sehr rasche phylogenetische Radiation sein. Jedenfalls konnten genetische Untersuchungen eine zuvor aufgrund biologischer und morphologischer Eigenschaften vermutete nahe Verwandtschaft mit der Südseedrossel (T. poliocephalus) nicht bestätigen.
=== Unterarten ===
Innerhalb des paläarktischen Verbreitungsgebiets gibt es einen allmählichen (klinalen) Übergang verschiedener Eigenschaften der Amsel. So werden die Individuen von Westeuropa Richtung Osten bis zum Iran allmählich blasser, grauer und größer, von Afghanistan ostwärts im Himalaya dagegen wieder dunkler, die Färbung wird bräunlicher und ist weniger schwarz. Die relativ kleinen Amseln des indischen Subkontinents – die simillimus-Gruppe – unterscheiden sich in der Gefiederfärbung, den Proportionen und anderen Eigenschaften recht deutlich von den restlichen Amseln und werden nicht selten auch als eigene Art („Indienamsel“, Turdus simillimus) angesehen.Die folgende Aufstellung enthält zunächst die allgemein anerkannten Unterarten der Paläarktis; die Beschreibung der indischen Amsel folgt anschließend. Ausgehend von der Nominatform werden die Unterarten in der Reihenfolge des Auftretens von West nach Ost beschrieben.
T. m. merula Linnaeus, 1758: Fast alle europäischen Amseln gehören der Nominatform an, auf die sich dieser Artikel vorwiegend bezieht, wenn nicht gesondert darauf hingewiesen wird. Innerhalb des sehr großen Verbreitungsgebiets dieser Unterart gibt es klinale Unterschiede, für die verschiedene weitere Unterarten vorgeschlagen wurden – beispielsweise ticehursti für die schwach dunkler gefärbten Populationen Schottlands und Irlands. Diese Abweichungen werden aber für eine formelle taxonomische Trennung nicht als ausreichend eingestuft. Die eingebürgerten Populationen Australien und Neuseelands, die größtenteils von britischen Amseln abstammen, gehören ebenfalls zur Nominatform, da bisher keine nennenswerten Unterschiede festgestellt wurden – beispielsweise stimmt der Gesang neuseeländischer Amseln in der Struktur und den Elementen mit dem europäischer Amseln überein.
T. m. azorensis Hartert, 1905: Die Vertreter der auf den Azoren endemischen Unterart sind etwas kleiner als die Nominatform, vor allem aber ist der Schwanz kürzer. Das Gefieder des Männchens ist dunkler und glänzender als das der Nominatform.
T. m. cabrerae Hartert, 1901: Diese auf Madeira und den westlichen Kanaren brütende Unterart ähnelt T. m. azorensis, unterscheidet sich aber in Gefiederfärbung, Größe und Schwanzlänge nicht ganz so deutlich von der Nominatform.
T. m. mauretanicus Hartert, 1902: Die Amseln Nordafrikas gehören dieser Unterart an. Auch bei dieser ist das Gefieder des Männchens tief schwarz glänzend, der Schnabel ist etwas kräftiger als bei den der Nominatform angehörenden spanischen Amseln, mit denen es eine Mischzone in Südspanien gibt.
T. m. aterrimus (Madarász, 1903): Die Männchen dieser Unterart sind etwas matter gefärbt als die der Nominatform, die Weibchen haben eine fahlere Unterseite. Der Schnabel ist etwas länger und schlanker. Das von T. m. aterrimus besiedelte Areal reicht auf dem Balkan bis nach Slowenien und Südrumänien, über die Krim, Griechenland und die Türkei, im Osten erstreckt es sich vom Kaukasus zum Nordiran.
T. m. syriacus Hemprich & Ehrenberg, 1833: Das Verbreitungsgebiet dieser Unterart schließt sich im östlichen Mittelmeerraum südlich an das von T. m. aterrimus an, sie brütet von der Südtürkei bis nach Jordanien und Israel und dem Norden des Sinais. Die Amseln dieses Gebiets sind vorwiegend Standvögel. Weiterhin kommt diese Unterart im Norden des Irak und im Süden des Iran vor, die dortigen Amseln überwintern im Nildelta. Für die Amsel der südlichen griechischen Inseln wurde eine weitere Unterart (T. m. insularum) vorgeschlagen, diese Vögel sind aber von T. m. syriacus kaum zu unterscheiden und werden deshalb üblicherweise ebenfalls dieser Unterart zugerechnet.
T. m. intermedius (Richmond, 1896): Diese Unterart brütet in einem Streifen vom Nordosten Afghanistans bis in den Tian Shan. Im Winter ziehen die Vögel in die tieferen Lagen im Süden Afghanistans und Osten des Irak. Die Vertreter dieser Unterart sind größer als die von T. m. syriacus und T. m. aterrimus, der Schwanz in Relation zur Größe länger, der Schnabel kräftiger.
T. m. maximus Seebohm, 1881: Die mit einer Körperlänge von bis zu 29 Zentimetern größte Unterart ist im Himalaya von Nordpakistan bis Bhutan in Höhenlagen zwischen 3500 und 5300 Metern verbreitet, außerdem kommt sie im Südosten Tibets vor. Im Winter ziehen die Vögel in tiefere Lagen. Kopf, Brust, Flügel und Schwanz des Männchens sind rein schwarz, der gelbe Augenring fehlt. Die Weibchen sind oberseits schwärzlichbraun, unten braun und insgesamt fast so dunkel wie die Männchen. Aufgrund einiger signifikanter Unterschiede – insbesondere auch der mit metallisch klingenden sowie quietschenden Elementen durchsetzte, weniger wohlklingende Gesang – wird die Unterart auch als eigenständige Art eingestuft und als „Tibetamsel“ (Turdus maximus) bezeichnet.
Die Unterart T. m. sowerbyi Deignan, 1951: Diese nach dem britischen Naturforscher James Sowerby benannte Unterart brütet in Zentralchina im Süden Gansus und Westen von Sichuan. Die Vertreter sind dunkler als die weiter östlich brütende Unterart T. m. mandarinus.
T. m. mandarinus Bonaparte, 1850: Die vom Osten Sichuans und Guizhou bis zum Ost- sowie Südchinesischen Meer vorkommenden Amseln gehören dieser Unterart an. Ein Teil der Vögel zieht im Winter nach Südchina, Hainan, Laos und Vietnam. Das Gefieder der Vögel ist matt dunkelrußbraun, die Männchen weisen einen schmutzigweißen Kinnfleck und weißliche Randsäume an den Federn der Kehle und des Vorderhalses auf. Die Weibchen unterscheiden sich von den Männchen fast ausschließlich durch die auf weißlichem Grund breit schwarzbraun gestreifte Kehle.Die Unterarten des indischen Subkontinents erreichen nur eine Körperlänge von 19 bis 22 Zentimetern. Sie unterscheiden sich auch in den Proportionen, der Farbe der Eier und der Stimme deutlich von den anderen Amseln. Das Gefieder ist blasser, neben Augenring und Schnabel sind bei diesen Amseln auch Zehen und Lauf gelb bis orange gefärbt.
T. m. simillimus Jerdon, 1840: Diese Unterart kommt im Südwesten Indiens vor, besonders häufig in den Hügeln von Kerala und dem westlichen Teil von Tamil Nadu. In den Palani-Bergen schließt sich südlich das Areal von T. m. bourdilloni an, es gibt eine Übergangszone.
T. m. nigropileus (Lafresnaye, 1840): Die Unterart brütet bis in Höhenlagen der Westghats von Gujarat bis Malabar, Mysuru, dem Norden des Nilgiri-Plateaus und östlich in Andhra Pradesh bis in die Nallamala-Berge. Die Vertreter sind noch blasser als die von T. m. simillimus, das Männchen ist bräunlich schiefergrau mit einer schwarzen Kopfkappe.
T. m. bourdilloni (Seebohm, 1881): Diese Unterart kommt im Süden Indiens in Kerala in den Palani- und Nelliampathi-Bergen vor. Das Männchen ist einheitlich bräunlich schiefergrau mit blasseren Federenden an den Handschwingen.
T. m. kinnisii (Kelaart, 1851): Diese Unterart kommt in den Gebirgen von Sri Lanka vor. Die Männchen sind dunkel schiefergrau gefärbt, mit bläulichem Ton. Die Weibchen sehen ähnlich aus, das Gefieder ist aber etwas matter.
== Amsel und Mensch ==
=== Etymologie ===
Die Trivialnamen einiger Sprachen nehmen Bezug auf die schwarze Gefiederfärbung der Männchen, so beispielsweise Blackbird im Englischen oder Merle noir im Französischen. Die deutsche Bezeichnung Amsel und deren althochdeutschen Entsprechung amsla geht wie älter englisch ouzel und dessen altenglische Entsprechung ōsle auf ein westgermanisches *amslōn zurück. Dessen Lautähnlichkeit mit der lateinischen Bezeichnung merula (woher französisch merle, aber auch deutsch dialektal Merle und niederländisch Merel stammen) und vielleicht auch mit kymrisch mwyalch lässt an zwei zueinander im Ablautverhältnis stehende indogermanische Wurzeln *mes- und *am(e)s- denken.Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bezeichnung „Amsel“ auf einige in Gestalt und Größe der „normalen“ Amsel ähnelnde Vogelarten ausgedehnt, beispielsweise „Schildamsel“ für die Ringdrossel oder „Goldamsel“ für den Pirol. Letzterer ist mit der Amsel nicht näher verwandt, was auch für die Wasseramsel gilt, die auch heute noch so heißt.Der Landesname Kosovo legt einen Zusammenhang zur Amsel nahe. Kosovo geht angeblich auf den serbischen Gebietsnamen Kosovo polje zurück, wobei kos ‚Amsel‘ bedeutet, -ovo ein Ableitungssuffix ist und polje ‚Feld‘ bedeutet. Üblicherweise wird der Name auf eine Legende zurückgeführt, nach der sich die auf dem Amselfeld gefallenen serbischen Helden in Amseln verwandelt hätten. Dieser Legende widerspricht allerdings, dass es zur fraglichen Zeit am entsprechenden Ort kaum Amseln gegeben haben kann, da diese noch Waldvögel waren und zudem im Südosten Europas kaum vorkamen. Nach einer anderen Interpretation kommt der Name von kosit bzw. kositi, dem im Serbischen und Albanischen fast gleich lautenden Verb für ‚mähen‘. Damit ginge die heutige Form des Gebietsnamens auf eine mythologische oder volksetymologische Umdeutung zurück.Die Bezeichnung Blackbirding, auch Blackbird catching, für die gewaltsame Rekrutierung von Arbeitskräften vor allem in der Südsee ist vom englischen Trivialnamen abgeleitet worden. In der deutschsprachigen Literatur wurde dieser Ausdruck auch mit „Schwarzdroßler“ übersetzt. Die beteiligten Personen wurden ebenfalls so genannt.
=== Die Amsel als Nutztier ===
Bereits die Römer mästeten die Amseln in großen Vogelhäusern, denn Amselfleisch galt als sehr schmackhaft. Zur traditionellen korsischen Küche gehört Pâté de Merle, eine Amselpastete. Sehr beliebt waren Amseln wegen ihres Gesangs auch als Stubenvögel. Es galt als vorteilhaft, ältere Amseln einzufangen, um in den Genuss des Gesangs „in seiner ganzen Reinheit“ zu kommen. Von Hand aufgezogenen Amseln wiederum brachte man Melodien bei. Auch als Lockvögel auf dem Vogelherd wurden Amseln gerne eingesetzt. Eingefangene Amseln werden, im Gegensatz zu handaufgezogenen Exemplaren, nie vollständig zahm und verhalten sich überdies sehr aggressiv gegenüber anderen Vögeln, besonders Artgenossen.
=== Volksglaube und künstlerische Rezeption ===
Wegen ihrer mit Trauer zu assoziierenden Färbung und ihres einsamen Waldlebens brachte man Amseln in der christlichen Symbolik oft mit frommen Einsiedlern in Verbindung. In diesem Zusammenhang steht auch die Legende vom Heiligen Kevin, dem eine Amsel ihre Eier in die Hände legte, während er diese zum Gebet emporstreckte; danach ermöglichte die Dauer des Gebets der Amsel die Vollendung ihrer Brut.Der Aberglaube hat der Amsel schon lange magische Kräfte zugeschrieben, was durch ihre Entwicklung zum Kulturfolger sicher noch verstärkt wurde. Beispielsweise soll in ein Haus, in dem eine Amsel weilt, der Blitz nicht einschlagen. Hängt man in einem Haus eine Feder des rechten Flügels einer Amsel an einem Faden auf, können die Bewohner keinen Schlaf finden. Wenn man das Herz einer Amsel unter das Kopfkissen eines Schlafenden legt, so kann dieser in einer späteren Befragung nicht von der Wahrheit abweichen.Wohl aufgrund ihrer Bekanntheit und nicht zuletzt wegen ihres melodiösen Gesangs findet die Amsel nicht selten Erwähnung in der Lyrik. In der Prosa tritt sie bisweilen sinnbildhaft in Erscheinung. So etwa in Alfred de Mussets Die Geschichte einer weißen Amsel, in Robert Musils Die Amsel oder in Walter Kappachers Die Amseln von Parsch.
Die Amsel spielt auch in bekannten Volksliedern wie der Vogelhochzeit und Alle Vögel sind schon da eine tragende Rolle. In beiden Liedern wird anhand des Textes („Die Drossel war der Bräutigam, die Amsel war die Braut“ bzw. „Amsel, Drossel, Fink und Star“) deutlich, dass die Amsel vielfach nicht als Drossel wahrgenommen wird.
Der vornehmlich in der Morgendämmerung liegende Aktivitätsbeginn der Tiere wird in der ersten Strophe des bekannten Liedes Morning Has Broken beschrieben.
=== Gesang ===
Vielfach wurde beobachtet, dass der Amselgesang unserem Verständnis von Musik sehr nahekommt. So überrascht es nicht, dass der Amselgesang sich im Gegensatz zu vielen anderen Lautäußerungen von Vögeln recht gut im Notensystem wiedergeben lässt. Es gibt einige Betrachtungen des Gesangs unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten, besonders intensiv damit auseinandergesetzt hat sich der Komponist und Dirigent Heinz Tiessen (1887–1971). Für ihn war die Amsel „der musikalisch höchststehende Singvogel Mitteleuropas“. Der Umfang der Amselstimme betrage erheblich mehr als eine Oktave. Die häufig wegen ihres Gesangs gelobte Nachtigall mache dagegen musikalisch weniger aus ihren größeren Möglichkeiten, die Amsel sei die talentiertere Komponistin: „Die Spannweite des tonlichen Ausdrucks […] reicht vom Schlichtesten bis zum Differenziertesten, von reinen Dreiklangmotiven und diatonischen Intervallen in ausgeprägten Tonarten bis zur Chromatik und darüber hinaus bis ins tonartlich wie harmonisch unfaßbare hinein.“ Eine ähnliche Vorliebe für den Amselgesang hatte Olivier Messiaen (1908–1992), ein französischer Komponist. Er widmete der Amsel Le Merle noir, ein Kammermusikstück für Flöte und Klavier.Amselmotive haben auch Richard Strauss inspiriert, beim Rosenkavalier fing er den Amselgesang recht naturgetreu ein. Zu Beginn des ersten Aktes, während der Vorhang aufgeht, wird er von der ersten Klarinette vorgetragen. Echter Amselgesang wurde bei der Originalaufnahme von Paul McCartneys Blackbird beigemischt, dort dient die Amsel aber lediglich als Stellvertreter und verkörpert eine Frau.
=== Nationaltier ===
In Schweden wurde die Amsel 1962 von Lesern der Zeitung Dagens Nyheter zum Nationalvogel gewählt. Dies wurde 2015 bestätigt, diesmal initiiert von der Schwedischen Ornithologischen Gesellschaft (Sveriges Ornitologiska Förening).
== Trivia ==
=== Darstellung in Computersystemen ===
Seit Emoji Version 15.0 aus dem September 2022 kann man ein Amsel-Piktogramm in der Textverarbeitung mit Computersystemen einfügen.
== Literatur ==
Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Band 11/II, Echte Drosseln: Turdidae. Aula, Wiesbaden 1988, ISBN 3-89104-486-0.
Burkhard Stephan: Die Amsel. 2. Auflage, Neue Brehm Bücherei, Hohenwarsleben 1999, ISBN 3-89432-455-4.
Jochen Hölzinger: Die Vögel Baden-Württembergs. Band 3/1: Singvögel/Sperlingsvögel. Ulmer, Stuttgart 1999, ISBN 3-8001-3493-4.
Josep del Hoyo, Andrew Elliott, David A. Christie: Handbook of the Birds of the World. Band 10: Cuckoo-shrikes to Thrushes. Lynx Edicions, Barcelona 2005, ISBN 978-84-87334-72-6.
Peter Jeffrey Higgins et al.: Handbook of Australian, New Zealand and Antarctic Birds (HANZAB). Band 7: Boatbill to Starlings. Oxford University Press, Melbourne/Oxford 2006, ISBN 978-0-19-553996-7.
David Snow, Christopher M. Perrins (Hrsg.): The Birds of the Western Palearctic concise edition. (2 Bde.). Oxford University Press, Oxford 1998, ISBN 0-19-854099-X.
Heinz Tiessen: Musik der Natur. 2. Auflage, Atlantis, Zürich 1989, ISBN 3-254-00157-5.
Ulrich Raulff: Die Amsel. Zur Phänomenologie der Gartenoper, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2018, S. 57–70, ISSN 1863-8937
== Weblinks ==
Turdus merula in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN.
Amsel (Turdus merula) auf eBird.org, abgerufen am 23. Juni 2023.
Amselbilder bei www.naturfotografie-digital.de
Singende Amsel bei www.vogelstimmen-wehr.de
Alters- und Geschlechtsbestimmung (PDF; 5,1 MB) von Javier Blasco-Zumeta und Gerd-Michael Heinze (englisch). Abgerufen am 11. April 2023.
Federn der Amsel
Bestandsentwicklung der Amsel in Europa, 1980–2015
www.welt-der-amseln.de
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Amsel |
Orchideen | = Orchideen =
Orchideen (Singular: Orchidee, [ˌɔʁçiˈdeːə] ) oder Orchideengewächse (Orchidaceae) sind eine weltweit verbreitete Pflanzenfamilie. Die zwei hodenförmigen Wurzelknollen der Knabenkräuter (von griechisch ὄρχις orchis ‚Hoden‘) haben der gesamten Pflanzenfamilie ihren Namen gegeben. Nach den Korbblütlern (Asteraceae) stellen die Orchideen die zweitgrößte Familie unter den bedecktsamigen Blütenpflanzen dar. Sie gehören innerhalb der Klasse der Bedecktsamer zu den Einkeimblättrigen Pflanzen (Monokotyledonen). Etwa 1000 Gattungen mit 15.000 bis 30.000 Arten werden von den Botanikern anerkannt.
== Merkmale ==
=== Allgemeines ===
Die Pflanzentaxa der Familie Orchideen unterscheiden sich nur durch einige wenige eindeutige Merkmale von anderen verwandten Pflanzenfamilien der Einkeimblättrigen Pflanzen. Dabei gibt es trotz der vielfachen Merkmale, die bei den meisten Orchideenarten zu finden sind, nur sehr wenige, die bei allen vorkommen.
Orchideen weisen folgende spezifische Merkmale auf:
Orchideenblüten besitzen in der Regel eine Säule (Gynostemium). Durch das teilweise oder vollständige Zusammenwachsen des einzigen fruchtbaren Staubblattes (Stamen) und des Stempels entsteht ein einziges Blütenorgan(Pflanzen der Unterfamilie Cypripedioideae mit zwei Stamina und Apostasioideae mit zwei oder drei Stamina).
Die Pollenkörner sind zu den sogenannten Pollinien zusammengeballt.
Orchideen bilden zahlreiche sehr kleine Samen, die in der Regel nicht ohne Symbiosepilze keimfähig sind.
Das in der Symmetrieachse gelegene Blütenhüllblatt des inneren Hüllblattkreises (drittes Kronblatt = Petalum) unterscheidet sich meist deutlich von den anderen und wird Lippe oder Labellum genannt. Es steht dem fruchtbaren Staubblatt (Teil der Säule) gegenüber.
Die Blüten sind in der Regel zygomorph (monosymmetrisch, dorsiventral). Ausnahmen finden sich beispielsweise in den Gattungen Mormodes, Ludisia und Macodes. Die Blüten der meisten Orchideenarten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von der Knospenbildung bis zur Blütenentfaltung um 180° drehen. Dies wird als Resupination bezeichnet. Es gibt auch Arten, bei denen sich der Blütenstiel um 360° dreht (hyper-resupiniert).
Orchideen sind in der Regel ausdauernde Pflanzen, könnten theoretisch je nach Wuchsform unbegrenzt lange weiterwachsen (jedes Jahr ein oder mehrere Neutriebe oder permanentes Weiterwachsen eines Sprosses). Tatsächlich ist aber nur sehr wenig darüber bekannt, welches Alter Orchideen erreichen können.
=== Wuchsformen ===
Orchideen können auf verschiedene Art und Weise wachsen. Man unterscheidet dabei folgende Formen:
epiphytisch, auf anderen Pflanzen wachsend (nicht als Schmarotzer)
terrestrisch, auf dem Boden wachsend
lithophytisch, auf Felsen oder Steinen wachsendMehr als die Hälfte aller tropischen Arten wachsen als Epiphyten auf Bäumen. Sie besitzen spezielle morphologische (Velamen radicum, Pseudobulben) und physiologische (CAM-Mechanismus) Besonderheiten, um mit den teilweise widrigen Bedingungen wie Trockenheit und Nährstoffmangel im Kronenraum zurechtzukommen.
Ihre Größe ist sehr unterschiedlich, sie kann nur wenige Millimeter (Platystele jungermannioides, Anathalis manausesis) bis zu einigen Metern (Tiger-Orchidee) betragen.
=== Habitus ===
Man unterscheidet monopodial wachsende Orchideen, die eine an der Spitze weiterwachsende einheitliche Sprossachse besitzen (teilweise auch mit Verzweigungen) und sympodial wachsende Orchideen, die durch Verzweigung nacheinanderfolgende Sprossglieder mit begrenztem Spitzenwachstum ausbilden. Bei den monopodial wachsenden Orchideen dienen Blätter und/oder Wurzeln als Speicherorgane, während die sympodial wachsenden Orchideen dazu mehr oder weniger dicke ein- oder mehrgliedrige Pseudobulben ausbilden. Einige Orchideengattungen bilden auch unterirdische Speicherorgane (Kormus). Neben den beiden angeführten Wachstumsformen gibt es aber auch seltene Abwandlungen, die nicht dem normalen Schema monopodialen vs. sympodialen Wachstums entsprechen. So bilden etwa viele Arten der Pleurothallidinae (z. B. Pleurothallis, Lepanthes) trotz sympodialen Wuchses keine Pseudobulben aus, sondern haben stattdessen fleischige Blätter.
=== Wurzeln ===
Orchideen bilden keine Primärwurzel (Pfahlwurzel) aus, sondern nur sekundäre Wurzeln, die dem Spross entspringen. In ihrer Dicke unterscheiden sie sich teilweise ziemlich deutlich. Beim überwiegenden Teil der Orchideen weisen die Wurzeln ein Velamen auf. Neben ihrer Funktion als Aufnahmeorgan für Wasser und Nährstoffe dienen sie oft auch als Haft- und Halteorgan. Dies ist besonders bei epiphytisch wachsenden Arten von Bedeutung. Die Form der Wurzeln hängt im Wesentlichen davon ab, wo sie wachsen. Während die frei in der Luft hängenden Wurzeln der Epiphyten bzw. die Wurzeln, die völlig in den Boden wachsen, meist zylindrisch sind, weisen die Haft- und Haltewurzeln, die auf den Oberflächen wachsen, eine eher abgeflachte Form auf. Bei einigen Arten sind die Wurzeln chlorophylltragend, um auch während klimatisch bedingtem Blattabwurf weiterhin Nährstoffe verarbeiten zu können. Die Wurzeln der Orchideen verzweigen eher selten. Sie haben eine Lebensdauer, die von verschiedenen Umweltfaktoren abhängt und kürzer ist als die des Sprosses. Die Neubildung von Wurzeln erfolgt in der Regel mit dem Wachstum des neuen Sprosses zum Ende der Vegetationsperioden oder auch während der Wachstumsphase. Bei vielen terrestrischen Orchideenarten bilden sich an den Wurzeln Speicherorgane oder knollenähnliche Gebilde. Bei einigen Gattungen ist es möglich, dass sich an den Wurzeln Adventivknospen bilden, aus denen neue Sprosse entstehen.
Neben der Mykorrhiza, die für die embryonale Entwicklung aus einem Samen notwendig ist, gibt es auch in den Wurzeln Mykorrhiza. Dabei wachsen die Pilzfäden in die äußeren oder unteren Zellschichten der Wurzeln oder Rhizome. Die Orchideen nehmen auch in diesem Fall durch Verdauung von Pilzteilen oder -ausscheidungen Nährstoffe auf. Da der Pilz, der das Protokorm (Keimknöllchen) befällt, in der Regel nicht mit den neuen Wurzeln nach außen wächst, muss die Mykorrhiza jedes Jahr von neuem (mit der Bildung neuer Wurzeln) ausgebildet werden. Bei ausreichendem Angebot von Licht und Nährstoffen sind Orchideen in der Regel nicht auf diese Mykorrhiza angewiesen. Ausnahmen sind die myko-heterotroph lebenden Orchideen.
=== Blätter ===
Der überwiegende Teil der Orchideen besitzt parallelnervige Blätter mit kaum sichtbaren Querverbindungen. Sie sitzen in der Regel zweireihig, abwechselnd an den entgegengesetzten Seiten des Sprosses. Viele Orchideen bilden nur ein einziges richtiges Blatt aus, die Anlagen der Blätter sind jedoch ebenfalls zweireihig. Die Form der Blätter und Blattspitzen, die Festigkeit, die Färbung und der Blattaufbau variieren sehr stark.
Blattformen (Auswahl): kreisrund, elliptisch, eiförmig, verkehrt-eiförmig, nierenförmig, spatelig, spießförmig, länglich, borstenförmig
Form der Blattspitzen (Auswahl): abgerundet, stumpf, spitz, dreispitzig, eingekerbt, eingeschnitten, ungleich scharf gezähnt
Blattränder: in der Regel glatt, teilweise leicht gewellt, nur selten deutlich gekräuselt (Lepanthes calidictyon)
Blattaufbau: mit und ohne Blattstiel
Festigkeit der Blätter: variiert von dünn und weich über fleischig fest bis hin zu sukkulenten Blättern
Blattfarbe: in der Regel Grün in den unterschiedlichsten Abstufungen (von Hell- bis tiefem Dunkelgrün), aber auch vollständig bzw. zum Teil (Unterseiten) rötlich bis rotbraun, oder chlorophyllarm oder -frei vollständig oder zum Teil hell bis weißViele Arten verlieren klimatisch bedingt ihre Blätter, um sie zu Beginn des nächsten Vegetationszyklus neu auszubilden. Während bei dem überwiegenden Teil dieser Arten die Blätter tatsächlich nur einjährig sind, gibt es ebenso Arten, die ihre Blätter nur unter widrigen Standortbedingungen abwerfen bzw. unter günstigen Bedingungen behalten. Es gibt aber auch Arten, die völlig blattlos wachsen (Dendrophylax lindenii). Dafür besitzen sie chlorophylltragende Wurzeln.
=== Blütenstand ===
Die Blütenstände der Orchideen sind in der Regel traubenförmig, an denen sich je nach Art bis zu hundert und mehr Blüten ausbilden können. Wachsen verzweigte Blütenstände (rispenförmig), so ist die Traubenform jeweils an den äußersten Zweigen zu finden. Neben den trauben- oder rispenförmigen Blütentrieben gibt es aber auch eine Vielzahl von Orchideen, die nur einblütig sind. Bei einigen Arten bilden sich nacheinander mehrere Blüten an demselben Blütentrieb, wobei jedoch nie mehr als eine Blüte geöffnet ist (z. B. Psychopsis papilio). Die Blütenstände können an jeder Stelle des Sprosses der Orchidee entspringen. Dabei wird zwischen endständigen (terminal (an der Triebspitze), apikal (zentral am Triebansatz)) und seitenständigen (lateral) Blütenständen unterschieden. Meist entspringen die Blütentriebe einer Blattachsel. Aufgrund der Wuchsrichtung sind die Blütenstände der monopodialen Orchideen immer seitenständig. Die einzelnen Blüten werden stets von einer Braktee (Tragblatt) gestützt, die meist unauffällig ist.
=== Blüte ===
Keine andere Pflanzenfamilie hat ein solches Spektrum, was Formen und Farben der Blüten anbelangt, wie die Familie der Orchideen. Die Größe der Blüten variiert von einigen Millimetern (Beispiel Lepanthes calodictyon) bis zu 20 Zentimetern und mehr pro Blüte (Beispiel Paphiopedilum hangianum). Das Farbspektrum reicht dabei von zartem Weiß über Grün- und Blautöne bis zu kräftigen Rot- und Gelbtönen. Viele der Orchideenblüten sind mehrfarbig.
Außer bei einigen Gattungen (zum Beispiel Catasetum) sind die dreizähligen Blüten der Orchideen zwittrig. Die Blütenhülle (Perianth) besteht aus zwei Kreisen. Es gibt einen äußeren Hüllblattkreis, der aus drei Kelchblättern (Sepalen) besteht und einen inneren Hüllblattkreis, der aus drei Kronblättern (Petalen) besteht. Die Blütenblätter können frei oder zu einem gewissen Grad miteinander verwachsen sein. Bei einigen Orchideengattungen, so etwa in der Unterfamilie Cypripedioideae oder bei Acriopsis, sind die unteren beiden Sepalen komplett verwachsen. Das in der Symmetrieachse gelegene Blütenhüllblatt des inneren Hüllkreises ist in der Regel deutlich abweichend was Größe, Farbe und Form betrifft. Es bildet die Lippe (Labellum) der Orchideenblüte. Bei vielen Orchideen ist die Lippe auf der Rückseite zu einem schlauchigen bis sackigen Gebilde verlängert, dem so genannten Sporn (Beispiele Aeranthes, Aerangis). In ihm befindet sich entweder Nektar oder er ist leer. Andere Arten bilden aus der Lippe einen „Schuh“ (zum Beispiel die Gattungen der Unterfamilien Cypripedioideae). Außerdem sind Säule (Gynostemium) und der Fruchtknoten wesentliche Bestandteile der Blüten. Im Grundaufbau unterscheidet man monandrische (ein fertiles Staubblatt, Beispiele Cattleya, Phalaenopsis) und diandrische (zwei fertile Staubblätter, Beispiel Paphiopedilum, Cypripedium) Orchideen. Der Fruchtknoten ist bei Orchideen unterständig. Die anderen Blütenteile (Sepalen und Petalen, Säule, Lippe) sind mit diesem vollständig verwachsen und stehen über ihm. In der Regel ist der Fruchtknoten nur sehr schmal und schwillt erst nach der Bestäubung an (Ausbildung der Samenkapsel).
Die Blüten der Orchideen sind mit Ausnahme einiger Gattungen (Beispiel Ludisia und Mormodes mit asymmetrischen Blüten) bilateral-symmetrisch (zygomorph). Das heißt, dass man durch die Mitte der Blüte eine Spiegelachse legen kann, und zwar nur eine einzige (monosymmetrisch).
Eine zentrale Rolle in der Fortpflanzung von Orchideen spielen die besonderen Pollenanhäufungen. Die von den Staubblättern gebildeten Pollen sind zu zwei lockeren oder festen Bündeln verklebt (Pollinien). Diese beiden Klumpen hängen auf einem mehr oder weniger langen Schaft mit einer Klebscheibe (Viscidium), sie haftet an dem Bestäuber durch eine Flüssigkeit aus der Klebdrüse (Rostellum).
=== Früchte ===
Fast alle Orchideenfrüchte sind Kapseln. Sie unterscheiden sich in Größe, Form und Farbe deutlich. Epiphyten besitzen eher dickere Früchte mit fleischigen Wänden, terrestrische Arten oft dünnwandige trockene Früchte. Es gibt dreieckige, rundliche mit einer mehr (bis 9) oder weniger (bis 3) großen Anzahl von Rippen oder auch geschnäbelte Früchte. Manche sind behaart oder stachelig oder besitzen eine warzige Oberfläche. Die Früchte entwickeln sich aus dem bereits im Knospenstadium am Boden der Blüte vorgebildeten Fruchtknoten, welcher aus drei Fruchtblättern besteht. Bei eintretender Reife platzen die meisten Orchideenfrüchte der Länge nach auf, ohne sich an der Spitze vollständig zu trennen. Dabei bilden sich in der Regel drei oder sechs Längsspalten, bei manchen auch nur eine oder zwei. Fast immer werden die Samen dabei trocken verstreut.
== Vermehrung ==
Orchideen können auf unterschiedliche Weise vermehrt werden. Es gibt die Vermehrung durch Samen als auch die vegetative Vermehrung. Unter künstlichen Bedingungen ist auch die Vermehrung durch Meristeme möglich.
=== Samen ===
Fast alle Orchideen haben winzige Samen. Jede Pflanze produziert Hunderttausende bis Millionen von Samen in einer Samenkapsel. Durch ihre geringe Größe sind die Samen von Orchideen nur noch auf eine Hülle und den in ihr liegenden Embryo reduziert. Im Gegensatz zu anderen Samen fehlt ihnen das Nährgewebe oder Endosperm, das für eine erfolgreiche Keimung nötig ist. Nur bei wenigen Gattungen ist dieses noch vorhanden (z. B. Bletilla). Orchideen sind deshalb auf eine Symbiose mit Pilzen angewiesen. Bei diesem als Mykorrhiza bezeichneten Vorgang wird der mit der Keimung beginnende Embryo durch das Eindringen von Pilzfäden in den Samen infiziert. Der Embryo bezieht über diese Verbindung Nährstoffe (Mykotrophie), indem er Teile des Pilzkörpers oder Ausscheidungen des Pilzes verdaut. Sobald der Sämling zur Photosynthese fähig ist, übernimmt diese die Versorgung der Pflanze mit Nährstoffen und die Mykotrophie ist zur weiteren Entwicklung nicht mehr notwendig. Es gibt aber einige Orchideenarten, die aufgrund des fehlenden oder nur in unzureichenden Mengen vorhandenen Chlorophylls zeitlebens auf die Mykotrophie angewiesen sind (Bsp. Korallenwurz). Dies betrifft alle vollkommen myko-heterotroph lebenden Arten.
Während der überwiegende Teil der Orchideen trockene Samen verstreut, gibt es einige Gattungen (Bsp. Vanilla), bei denen die Samen von einer feuchten Masse umgeben sind.
==== Bestäubung ====
Die Bestäubung der Orchideen erfolgt in der Natur hauptsächlich durch Insekten (z. B. Ameisen, Käfer, Fliegen, Bienen, Schmetterlinge), aber auch durch Vögel (z. B. Kolibris), Fledermäuse oder Frösche. Dabei haben sich teilweise Art-Art-Bindungen (z. B. Drakea glyptodon und Zapilothynus trilobatus oder die einheimische Orchis papilionacea und Eucera tuberculata) oder Gattungs-Gattungs-Bindungen (z. B. wird die Orchideengattung Chloraea von Bienen der Gattung Colletes bestäubt) herausgebildet. Diese Spezialisierung ist in der Regel nur einseitig, da keine Insektenart auf die Bestäubung einer einzigen Orchideenart beschränkt ist. Innerhalb der Familie gibt es aber auch einige Gattungen, bei denen sich einige oder alle Arten auf asexuellem Weg durch Selbstbestäubung fortpflanzen. Dazu zählen unter anderem die Gattungen Apostasia, Wullschlaegelia, Epipogium und Aphyllorchis. Von der Art Microtis parviflora ist bekannt, dass sie sich ebenfalls selbstbestäuben kann, wenn die Bestäubung durch Ameisen ausbleibt. Die Bestäuber sind bei einer Vielzahl von Orchideengattungen jedoch unbekannt oder nur wenig erforscht.
Orchideen sind in der Regel nicht selbststeril.
In der Natur entstehen teilweise durch die Bestäuber Hybriden zwischen zwei verwandten Arten (seltener über Gattungsgrenzen hinweg), diese werden Naturhybriden genannt.
==== Bestäubungsmechanismen ====
Im Vergleich zu anderen Blütenpflanzen fällt auf, dass beispielsweise nicht-tropische Orchideen häufig keine Belohnung in Form von Nahrung anbieten, sondern ihr Ziel durch Mimikry oder Täuschung erreichen. Werden Belohnungen angeboten, bestehen diese oft nicht aus Nahrung, sondern aus Duftstoffen (zum Beispiel Sexuallockstoffe für Insekten wie es bei manchen Wespenarten der Fall ist) oder Wachs.
Durch die evolutionäre Entwicklung verschiedener Blütenformen ergab sich eine zunehmende Spezialisierung auf bestimmte Bestäubergruppen und somit auch auf die Art und Weise, wie die Blüten bestäubt werden. Im Folgenden werden einige Bestäubungssysteme und -mechanismen erläutert.
„Röhrenblüten“: Der Aufbau der Blüte ist so gestaltet, dass der Bestäuber eine „Röhre“ unterhalb der Säule betreten muss und so der Pollen meist auf den Rücken der Insekten geheftet wird. Manchmal auch an den Kopf oder an die Unterseite. (Bsp. Cattleya)
„Schlüssellochblüten“: Die Blüte ist so gebaut, dass der Bestäuber in oder auf der Blüte eine ganz bestimmte Stellung einnehmen muss, bei der der Pollen meist am Kopf oder manchmal sogar direkt am Schnabel oder Rüssel des Bestäubers angeheftet wird. (Bsp. Epidendrum)
„Fallenblüten“: In dieser Kategorie unterscheidet man in Klapp- oder Kippfallen (Bsp. Porroglossum, Bulbophyllum) und Kesselfallen (Gattungen der Unterfamilie Cypripedioideae). Allen diesen Fallen ist gemein, dass sie die Bestäuber zwingen, durch einen bestimmten Ausgang zu kriechen, bei dem sie meist zuerst die Narbe streifen und danach die Pollinien, die ihnen angeheftet werden. Somit wird eine Selbstbestäubung beim ersten Durchgang verhindert.
„Pheromonblüten“: Die Form der Blüte ähnelt einem weiblichen Insekt und strömt ggf. auch Pheromone aus. Dadurch werden paarungswillige männliche Insekten angelockt und eine Bestäubung findet während des vermeintlichen Versuchs der Kopulation statt. Pseudokopulation ist eine Variante der Mimese und bekannt bei der heimischen Gattung Ophrys.
„Alarmstoffblüten“: Die Blüten senden Alarmstoffe entweder einer vermeintlichen Beute (z. B. der Honigbiene) aus oder produzieren pflanzeneigene Signalstoffe, die normalerweise anzeigen, dass ein Pflanzenfresser die Pflanze bedroht (z. B. eine Schmetterlingsraupe). Vor allem Wespen- und Hornissenweibchen lassen sich davon täuschen und reagieren darauf, indem sie sich auf die Orchideenblüte in Erwartung einer leichten Beute stürzen.Die Pollen sind bei Orchideen zu Pollinien mit angehefteten Viscidien (Viscidium = Klebscheibe, Klebkörper) zusammengeballt (eine Ausnahme bilden dabei beispielsweise die Cypripedioideae). Dies ermöglicht es, die Pollenpakete exakt zu positionieren, so dass es möglich ist, dass an einem Bestäuber die Pollinien verschiedener Arten befestigt werden können, ohne dass es zu falschen Bestäubungen kommt. An verschiedenen Bienenarten (Euglossinae) konnten bis zu 13 Anheftungsstellen festgestellt werden. Im Gegensatz zu anderen Blütenpflanzen dient der Orchideenpollen nicht als Nahrung.
Eine ungewöhnliche Bestäubungstechnik wendet die epiphytisch lebende chinesische Orchideenart Holcoglossum amesianum an: die Antherenkappe öffnet sich und die männlichen Staubfaden drehen sich aktiv und ohne jedes Hilfsmittel um fast 360 Grad in Richtung der weiblichen Narbe. Die an dem biegsamen Staubfaden befestigten Pollenkörner werden anschließend bei Berührung der Narbe freigegeben, so dass eine Selbstbefruchtung erfolgen kann. Es wird vermutet, dass es sich bei dieser Technik um eine Anpassung der Orchidee an ihren trockenen und insektenarmen Lebensraum handelt, die womöglich bei Pflanzen vergleichbarer Biotope gar nicht so selten ist. Die bereits bekannte Selbstbestäubung der Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) folgt einem ähnlichen Schema.
Orchideen und Prachtbienen: Die bestuntersuchten Blumendüfte sind die von Stanhopea und Catasetum, die durchdringend nach Ananas, Vanille, Zimt, Kümmel oder Menthol riechen und Prachtbienenmännchen anziehen, wobei diese die Blüten beim Einsammeln der von der Pflanze produzierten Öle bestäuben. Die gesammelten Duftstoffe dienen den männlichen Bienen bei der Balz. Es gibt sowohl unzählige Prachtbienen- als auch jeweils dazugehörige Orchideen-Arten.
=== Vegetative Vermehrung ===
Verschiedene Arten haben die Möglichkeit, sich durch die Bildung von Stolonen (Bsp. Mexipedium xerophyticum), Knollen (Bsp. Pleionen) oder Kindeln (Adventiv-Pflanzen; Bsp. Phalaenopsis lueddemanniana) auf vegetativem Weg fortzupflanzen. Die entstehenden Pflanzen sind genetisch identisch.
=== Meristeme ===
Die Vermehrung über Meristeme erfolgt vor allem im Erwerbsgartenbau zur Erzeugung großer Mengen von Orchideen für den Schnitt wie auch zum Verkauf als Topfpflanze, die man häufig in Gartencentern oder Baumärkten erwerben kann. Große Produzenten findet man vor allem in den Niederlanden oder in Thailand. Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, von bestimmten Klonen, beispielsweise prämierten Pflanzen, identische Nachkommen in großen Mengen zu erzeugen, die auch den gleichen Kultivarnamen tragen dürfen. Im Erwerbsgartenbau geht man bei der Massenvermehrung aber immer mehr dazu über, mittels In-vitro-Aussaat von Orchideensamen und Clusterbildung durch Hormongaben den Bedarf zu decken.
== Verbreitung ==
Orchideen wachsen mit Ausnahme der Antarktis auf jedem Kontinent.
Aufgrund ihrer enormen Vielfalt gibt es Orchideen fast in jeder Ökozone (nicht in Wüsten). Selbst oberhalb des nördlichen Polarkreises oder in Patagonien und den dem ewigen Eis des Südpols vorgelagerten Inseln, z. B. Macquarie Island gibt es Orchideen. Der Großteil der Arten wächst allerdings in den Tropen und Subtropen, hauptsächlich in Südamerika und Asien. In Europa gibt es etwa 250 Arten.
Einen groben Überblick über die Häufigkeit auf den einzelnen Kontinenten bietet die folgende Auflistung:
Eurasien – etwa 40 bis 60 Gattungen
Nordamerika – etwa 20 bis 30 Gattungen
Neotropis (Mittel- und Südamerika und Karibische Inseln) – etwa 300 bis 350 Gattungen
tropisches Afrika – etwa 125 bis 150 Gattungen
tropisches Asien – etwa 250 bis 300 Gattungen
Ozeanien – etwa 50 bis 70 Gattungen
== Systematik ==
In den Anfängen der botanischen Systematik finden sich bei Linné 1753 acht Gattungen, die zu den Orchideen gehören. Jussieu fasste sie 1789 erstmals als Familie Orchidaceae zusammen. In der Folge wurden rasch sehr viele tropische Arten bekannt; so unterschied Swartz im Jahr 1800 schon 25 Gattungen, von denen er selbst zehn neu aufstellte. Swartz publizierte im selben Jahr eine Monographie der Familie und gilt als einer der ersten Spezialisten für die Systematik der Orchideen.
Im 19. Jahrhundert erschienen, bedingt durch die Kenntnis immer neuer tropischer Orchideen, weitere wichtige Arbeiten. Lindley veröffentlichte von 1830 bis 1840 The Genera and Species of Orchidaceaous Plants mit fast 2000 Arten und einer wegweisenden Einteilung in Unterfamilien und Triben. In England erschien 1881 Benthams Systematik, die auch in seinem zusammen mit Hooker herausgegebenen Werk Genera Plantarum verwendet wurde. Am Heidelberger botanischen Garten entstand 1887 Pfitzers Entwurf einer natürlichen Anordnung der Orchideen. 1926 erschien posthum Schlechters Arbeit Das System der Orchidaceen mit 610 Gattungen; es wurde für die nächsten Jahrzehnte das Standardwerk.Im 20. Jahrhundert waren die Publikationen Dresslers einflussreich, vor allem The Orchids. Natural History and Classification von 1981. Die weitere Entwicklung verläuft über die kladistische Analyse äußerer Merkmale zur Auswertung genetischer Untersuchungen, die zahlreich etwa von Mark W. Chase publiziert wurden.Aus phylogenetischer Sicht existieren die fünf primären monophyletischen Linien Apostasioideae, Cypripedioideae, Vanilloideae, Orchidoideae und Epidendroideae, deren Verwandtschaftsverhältnisse in einem Kladogramm wie folgt dargestellt werden können:
Danach gibt es keine genetischen Anhaltspunkte für die Existenz der Unterfamilien Vandoideae oder Spiranthoideae. Die Unterfamilie Vandoideae ist nach diesen Untersuchungen ein Bestandteil innerhalb der Epidendroideae, die Spiranthoideae ein Bestandteil der Orchidoideae. Die separate Unterfamilie Vanilloideae war „klassisch“ Bestandteil der Epidendroideae.Innerhalb der einkeimblättrigen Pflanzen werden die Orchideen in die Ordnung der Spargelartigen (Asparagales) gestellt. Auf Basis äußerer Merkmale ließ sich die Frage nach den nächsten Verwandten der Orchideen nur unsicher beantworten, Alstroemeriaceae, Philesiaceae oder Convallariaceae wurden vermutet, auch eine Einordnung in die Ordnung der Lilienartigen (Liliales) schien möglich. Genetische Untersuchungen bestätigten die Zuordnung zu den Spargelartigen und sehen die Orchideen als Schwestergruppe zu allen anderen Spargelartigen, das heißt, sie haben sich schon früh von den anderen Pflanzen dieser Ordnung entfernt.
== Evolution ==
Die Orchideen wurden häufig als besonders junge Familie angesehen. Anhand eines fossilen Polliniums von Meliorchis caribea wurde das Mindestalter des letzten gemeinsamen Vorfahren aller Orchideen auf 76 bis 84 Millionen Jahre bestimmt. Bis zum Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren spalteten sich schon die fünf Unterfamilien auf. Im Tertiär fand eine große Zunahme der Artenvielfalt der Orchideen statt. Nach der Methode der „molekularen Uhr“ datiert der Ursprung der Orchideen noch früher, vor mindestens 100, wenn nicht sogar 122 Millionen Jahren. Es wird angenommen, dass sie sich in einem tropischen Gebiet als erstes entwickelten. Die Verbreitung verschiedener primitiver Orchideen (Bsp. Vanilla, Corymborkis) und das Vorkommen der primitiven Gattungen (Bsp. Cypripedium, Epistephium) in nahezu allen tropischen Gebieten ist ein Indiz dafür, dass die Entwicklung der Orchideen in einer Zeit begonnen haben muss, in der Afrika und Südamerika enger beieinanderlagen (Kontinentaldrift). Der Hauptteil der Evolution der Orchideen hat allerdings erst begonnen, als sich die wichtigsten tropischen Regionen schon weiter voneinander entfernt hatten.
Die epiphytische Lebensweise vieler Orchideen, vor allem der tropischen und subtropischen Arten, ist das Resultat einer evolutionären Anpassung an verschiedene Bedingungen. Periodisch trockenes Klima oder gut entwässerte Standorte, die bereits zur Entstehung der Orchideen vorhandene Neigung zur Insektenbestäubung sowie der zumindest kurzzeitige Zyklus einer myko-heterotrophen Lebensweise und der damit einhergehenden Entwicklung von kleinen Samen scheinen wesentliche Faktoren gewesen zu sein, dass Orchideen Bäume besiedelten. Andererseits scheint auch die Ausbildung von fleischigen Wurzeln mit Velamen oder von fleischigen Blättern als Anpassung an die periodisch trockenen Standortbedingungen eine Voraussetzung oder eine Möglichkeit gewesen zu sein, von Felsen oder anderen gut entwässerten Standorten auf Bäume überzusiedeln. Ob dabei der Weg über Humusepiphyten und anschließende Besiedlung der ökologischen Nischen in den Baumkronen oder die direkte Besiedlung der Bäume erfolgte, konnte bis heute nicht geklärt werden.
Bei der Wuchsform der Orchideen geht man davon aus, dass sich die Vielfalt der heutigen Orchideen aus einer sehr primitiven Form entwickelt hat, die man noch ansatzweise in fast allen Unterfamilien findet. So werden die ersten Orchideen einen sympodialen Wuchs mit schmalen Rhizomen, fleischigen Wurzeln (keine Speicherorgane), gefaltete Blätter und endständige Blütenstände besessen haben. Aufgrund der fehlenden Fossilien lässt sich nur schwer ableiten, auf welchem Weg sich die verschiedenen Wuchsformen herausgebildet haben und welches die Hauptrichtungen der Wuchsevolution sind. Ähnlich verhält es sich bei der evolutionären Entwicklung der verschiedenen Blütenformen. Es wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung und Anpassung der Blüten vor allem mit den bestäubenden Insekten in Verbindung zu bringen ist. Am Anfang stand sicherlich eine lilienähnliche Blüte, die nach und nach ihre ventralen Staubbeutel verloren hat. Dies hängt wahrscheinlich mit der Art zusammen, wie die Bestäuber in die röhrenförmige Blüte eingedrungen sind. Dabei konnten wohl nur die dorsalen Staubbeutel ihre Pollen an eine für die Bestäubung sinnvolle Position heften. Die Ausbildung der Lippe resultierte ziemlich wahrscheinlich daraus, dass die Insekten immer wieder auf die gleiche Art und Weise auf den Blüten „gelandet“ sind. Vermutlich konnten Pflanzen mit lippenförmigem unterem Petalum (medianes Blütenhüllblatt des inneren Blütenhüllblattkreises) die jeweiligen Bestäuber besser unterstützen, was ein entscheidender Vorteil in ihrer Evolution gewesen sein dürfte.
== Gattungen und Arten ==
Siehe auch: Liste der Orchideengattungen
Die Schätzungen über die Artenzahl der Orchideen reichen von 15.000 bis 35.000. Govaerts, der für die Kew Gardens eine Checkliste führt, stellte 2005 einen Stand von 25.158 Arten in 859 Gattungen fest. Im Zeitraum von 1990 bis 2000 wurden pro Jahr 200 bis 500 neue Arten beschrieben. Die artenreichsten Gattungen besitzen eine hauptsächlich tropische Verbreitung, dies sind:
Bulbophyllum (1800 Arten), Pleurothallis (1250), Dendrobium (1200), Epidendrum (1120), Lepanthes (970), Habenaria (845), Maxillaria (560), Masdevallia (545), Stelis (525) und Liparis (425)In der gemäßigten Zone ist die Artenvielfalt geringer, je etwa 250 Arten sind in Europa, Ostasien und Nordamerika verbreitet. Gattungen der gemäßigten Zone sind unter anderen:
Frauenschuhe (Cypripedium), Dingel (Limodorum), Händelwurzen (Gymnadenia), Hohlzungen (Coeloglossum), Hundswurzen (Anacamptis), Knabenkräuter (Dactylorhiza, Orchis), Kohlröschen (Nigritella), Kugelorchis (Traunsteinera), Nestwurzen (Neottia), Nornen (Calypso), Ragwurzen (Ophrys), Stendelwurzen (Epipactis), Waldhyazinthen (Platanthera), Waldvöglein (Cephalanthera), Zweiblatt (Listera), Zwergstendel (Chamorchis)
== Gefährdung der Habitate und Artenschutz ==
Nur für die wenigsten Gattungen liegen gesicherte Informationen über die Stärke der Populationen vor. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass die Bestände vieler Arten in der Natur stark gefährdet sind. Dies gilt für die Habitate in allen Regionen der Welt. Vor allem die Abholzung der Regenwälder und die landwirtschaftliche Nutzung von Gebieten mit Orchideenhabitaten reduzieren die Bestände stetig. Zusätzlich werden sie durch das unkontrollierte Sammeln gefährdet.
Zum Schutz der Pflanzen wurden Vorschriften erlassen, die den Handel und den Umgang mit ihnen regeln. Alle Orchideenarten stehen mindestens im Anhang II des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens (WA). Folgende Gattungen und Arten stehen aufgrund besonders umfangreicher Aufsammlungen in der Vergangenheit und/oder der Gegenwart im Anhang I und unterliegen somit noch strengeren Auflagen:
Aerangis ellisii, Dendrobium cruentum, Laelia jongheana, Laelia lobata, Peristeria elata, Renanthera imschootiana;
alle Arten der Gattungen Paphiopedilum und Phragmipedium.Der Rückgang vieler europäischer Arten ist auch auf eine veränderte ländliche Bewirtschaftung zurückzuführen. Durch den enormen Rückgang der Beweidung (Schafe usw.), vor allem in Mitteleuropa, gehen die v. a. durch menschlichen Eingriff entstandenen Habitate (Trockenrasen) in ihren vermuteten ursprünglichen, bewaldeten Zustand zurück. Orchideenarten, die auf Trockenrasen wachsen, treten in diesen Wäldern kaum noch auf. Aus Sicht der Megaherbivorenhypothese jedoch wäre diese Wiederbewaldung als nur bedingt natürlicher Prozess zu verstehen, und Weidelandschaften wie Trockenrasen hätten auch vor dem Eintreffen des Menschen in Europa natürlicherweise existiert.
== Geschichte ==
Siehe auch: Liste bedeutender Orchideenforscher
Orchideen faszinieren und beschäftigen die Menschen schon seit mehr als 2500 Jahren. Sie wurden als Heilmittel, Dekoration und Aphrodisiakum verwendet oder sie spielten im Aberglauben eine große Rolle.
=== China ===
Die ältesten Überlieferungen über Orchideen stammen aus dem Kaiserreich China und beziehen sich auf die Kultur von Orchideen aus der Zeit um 500 v. Chr. (Tsui Tsze Kang: Orchideenkultur im Kum Cheong (erschienen in der Song-Dynastie 1128–1283)). Der chinesische Philosoph Konfuzius (551–478 v. Chr.) berichtete über ihren Duft und verwendete sie als Schriftzeichen »lán« (chinesisch 蘭), was so viel wie Anmut, Liebe, Reinheit, Eleganz und Schönheit bedeutet. Allgemein gilt die Orchidee in der chinesischen Gartenkunst als Symbol für Liebe und Schönheit oder auch für ein junges Mädchen. Orchideen in der Vase stehen dort für Eintracht.
Die ersten monographischen Abhandlungen über Orchideen entstanden in China bereits während der Song-Dynastie (Tsui Tsze Kang: Orchideenkultur im Kum Cheong, Wong Kwei Kok Die Orchideenkultur des Herrn Wong). Anhand der Schilderungen in diesen Werken kann man ablesen, dass sich die Orchideenkultur in China damals bereits auf einer hohen Stufe befand.
=== Amerika ===
Auch in Amerika (Mexiko) werden Orchideen schon lange kultiviert. Noch bevor die Spanier das Land eroberten, wurden vor allem die Früchte von „Tlilxochitl“ (Vanilla planifolia) als Gewürz geschätzt. Die Azteken verehrten »Coatzontecomaxochitl« (Stanhopea-Arten) als heilige Blumen und kultivierten diese in den Gärten ihrer Heiligtümer.
=== Europa ===
Die ältesten europäischen Überlieferungen, in denen Orchideen erwähnt werden, stammen aus der griechischen Spätklassik von Theophrastus von Lesbos (etwa 372–289 v. Chr.). In seinem Werk Historia plantarum beschrieb er eine Pflanze mit zwei unterirdischen Knollen und bezeichnete sie als orchis, was dem griechischen Wort ὄρχις „Hoden“ entspricht. Kurt Sprengel deutete sie als die Art Orchis morio. Die älteste erhalten gebliebene Schrift über Orchideen stammt von Pedanios Dioscurides (1. Jh.). Er beschrieb vier Arten (Orchis, anderes Orchis, Satyrion und rotes Satyrion), die nach seinen Angaben botanisch nur schwer zu bestimmen sind. Medizinisch sollten sie wundheilend, stuhlstopfend und gegen Atemnot wirken. Unter Anwendung der Signaturenlehre unterschied Dioscurides bei den rundknolligen Orchideen zwei Arten von Wurzelknollen: die großen diesjährigen und die kleinen letztjährigen. Die großen, von Männern verzehrt, sollten die Geburt von Knaben bewirken, die kleinen, von Frauen genossen, die Geburt von Mädchen. Allgemein sollten die Orchideenwurzeln als Aphrodisiakum wirken. Die Orchideenbeschreibungen bei Plinius (1. Jh.) und Galen (2. Jh.) sowie bei späteren Autoren weichen nur unwesentlich von denen des Dioscurides ab.Seit dem Spätmittelalter wurden flache, handförmige Orchideenwurzeln von runden Wurzeln unterschieden. Die flachen, handförmigen Wurzeln wurden „palma christi“, „manus christi“, „stendel wurcz das wyblin“ oder „hendel wurcz“ genannt.
Ab der ersten Hälfte des 16. Jh. setzte man sich auch in Europa stärker mit den Orchideen auseinander. So in den Werken der Väter der Botanik, die die bisher bekannten Pflanzen ordneten, indem sie verwandte Arten zusammenstellten, Wuchsformen, Blüten und Wurzelknollen beschrieben.
Mit dem Erscheinen von Species plantarum von Carl von Linné (1753) erhielten auch verschiedene Orchideenarten erstmals Namen nach der binären Nomenklatur. Jussieu begründete 1789 mit der Herausgabe des Werkes Genera Plantarum die Grundlagen der botanischen Klassifikation und somit auch die Schaffung der Orchidaceae als Pflanzenfamilie. Der schwedische Botaniker O. Swartz gliederte 1800 als erster die Orchideenfamilie in zwei verschiedene Gruppen (ein oder zwei fruchtbare Staubblätter). Mit seinem Werk The Genera and Species of Orchidaceous Plants (London, 1830 bis 1840) und unzähligen Einzelbearbeitungen wurde J. Lindley zum eigentlichen Begründer der Orchideenkunde. Sein Hauptwerk lag in der Gliederung und Beschreibung von Arten. Seine Arbeiten wurden später durch H. G. Reichenbach (Rchb. f.), J. D. Hooker, R. Schlechter und andere ergänzt, erweitert und zum Teil wesentlich überarbeitet.
Bevor man in Europa begann, aus Übersee tropische Orchideen einzuführen, kultivierte man schon lange Zeit heimische Orchideen in den Gärten. Die erste tropische Orchidee in Europa erblühte 1615 in Holland (Brassavola nodosa). 1688 wurde Disa uniflora aus Südafrika nach Europa eingeführt. Vor allem durch seine weltweite Vormachtstellung als Kolonialmacht und die daraus resultierenden Verbindungen gelangten viele Arten nach England, wo im 19. Jahrhundert zahlreiche Sammlungen entstanden. Vor allem C. Loddiges war ausgesprochen erfolgreicher Kultivateur. Als 1818 bei W. Cattley die erste Cattleya labiata (später als Cattleya labiata var. autumnalis bezeichnet) erblühte, war die große lavendelblaue Blüte eine Sensation in Europa und führte zu einem immer stärkeren Bedarf an weiteren tropischen Orchideen. Es wurden immer mehr Sammler und Forschungsreisende (darunter John Gibson, William und Thomas Lobb, D. Burke, J. H. Veitch) in alle Welt geschickt, um neue unbekannte Arten zu finden und diese Pflanzen in die Sammlungen der zahlenden Gärtnereien (zum Beispiel C. Loddiges, J. Linden, F. Sander, L. van Houtte, Veitch and Sons) und Privatpersonen (zum Beispiel W. Cattley, A.L. Keferstein, Senator Jenisch) einzugliedern. Die Anzahl der Importe verringerte sich erst wieder, als die Orchideenzüchtung immer mehr an Bedeutung gewann (Anfang 20. Jahrhundert). Mit dem Beginn der stärkeren wissenschaftlichen Untersuchung der Familie Orchidaceae – unter anderem zur Klärung offener Verwandtschaftsverhältnisse – und dem wachsenden Interesse von Amateuren stieg der Bedarf und das Interesse an den Naturformen wieder. Auch heute noch sind Gärtnereien in aller Welt daran interessiert, Wildformen in ihre Bestände einzugliedern, um durch Einkreuzungen vorhandenes Pflanzenmaterial aufzufrischen. Auch heute werden bisher unbekannte Arten neu entdeckt.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Orchideenkultur immer populärer, das Angebot und die Verfügbarkeit von Kulturhybriden wurde größer und so versuchten sich immer mehr Amateure daran, in den heimischen Zimmern, Vitrinen und Gewächshäusern Orchideen zu kultivieren. Heute ist die Kultur dieser Pflanzen nichts Ungewöhnliches mehr. Vor allem der Massenproduktion von Orchideen in Taiwan, Thailand und den Niederlanden ist es zu verdanken, dass die Preise der Pflanzen so gesunken sind, dass eine blühende Orchidee im Topf (zum Beispiel in Deutschland) zum Teil preiswerter ist als ein durchschnittlicher Blumenstrauß. Diese Popularität hat aber auch dazu geführt, dass die Jagd nach dem Besonderen, dem Einzigartigen, dem Besitz besonders hochwertiger Pflanzen wieder aktueller denn je ist. Die Folge ist zum einen, dass für besonders rare Exemplare oder prämierte Pflanzen exorbitante Preise in Japan oder den USA gezahlt werden, und zum anderen, dass aus Geldgier besonders bei neuentdeckten Arten häufig die natürlichen Bestände geplündert werden, nur um die Nachfrage sogenannter „Sammler“ zu befriedigen. So führte die Entdeckung von Phragmipedium kovachii neben einem Streit um die Erstbeschreibung auch dazu, dass die bekanntgewordenen Habitate in Peru stark dezimiert wurden.
Orchideen standen zudem im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens der amerikanischen Malerin Georgia O’Keeffe, die Blumenmotive mit der Sexualität weiblicher Körper assoziierte. Zu nennen wären etwa die Bilder An Orchid oder Narcissa’s Last Orchid, jeweils aus dem Jahr 1941.
== Wirtschaftliche Bedeutung ==
=== Orchideen als Nutzpflanzen ===
Trotz ihrer großen Vielfalt werden nur wenige Orchideenarten als kultivierte Nutzpflanze verwendet. Dazu zählt die Gewürzvanille (Vanilla planifolia) zur Gewürzproduktion. Einige Arten werden auch zur Aromatisierung/Bereitung von Tee (Bsp. Jumellea fragrans) oder auch als Parfümierungsmittel für Parfüm und Tabak (Bsp. Vanilla pompona) genutzt.
Wo nationale Naturschutzgesetze dies nicht unterbinden, werden verschiedene Arten der Gattungen Orchis und Ophrys (Bsp. Orchis morio) durch Naturentnahmen zur Gewinnung von Gallerte aus „Salep“ genutzt. Die ausgegrabenen Wurzelknollen werden in der Türkei zur Aromatisierung von Speiseeis verwendet.
=== Orchideen als Zierpflanze ===
Große wirtschaftliche Bedeutung erlangen die Orchideen als Zierpflanzen oder Schnittblumen. Viele können in weitem Umfang, auch über Gattungsgrenzen hinweg, zur Kreuzung verwendet werden. So entstanden im Lauf der letzten etwa 150 Jahre ungefähr 100.000 Hybriden. Von diesen werden wiederum einige Tausende als Zierpflanzen kommerziell vermehrt und verkauft. Den größten Anteil daran haben im Zierpflanzenbereich die Züchtungen von Hybriden der Gattungen Phalaenopsis, Cattleya, Dendrobium, Paphiopedilum und Cymbidium. Außer als getopfte Pflanzen werden die Blütentriebe der Gattungen Phalaenopsis, Dendrobium und Cymbidium häufig auch als Schnittblumen vermarktet.
Im südostasiatischen Raum erwirtschaftet Thailand mit dem Export von Orchideen jährlich ca. 2 Milliarden Baht (etwa 40 Mio. Euro), wobei die Hauptmärkte in den USA, Japan, Europa, Hongkong, Taiwan und Südkorea liegen. Dies sorgte 2002 für den Export von über 3,1 Mio. Orchideenpflanzen. Da laut thailändischer Landwirtschaftsbehörde ein Trend mit großem Umsatzpotenzial erkannt wurde, wird versucht, die Qualität und Attraktivität der thailändischen Orchideen mit Zertifikaten weiter zu steigern.
In Europa werden große Mengen von Orchideenhybriden vor allem in den Niederlanden für den Massenmarkt (Baumärkte, Pflanzen- und Blumencenter) produziert. So gab es 2003 dort etwa 216 ha überglaste Anbaufläche alleine für die Produktion von Orchideen für den Schnittblumenverkauf. In den USA betrug der Umsatz durch getopfte Orchideen etwa 121 Millionen US-$ (2003).
Der Massenmarkt wird vorwiegend mit in vitro erzeugten Pflanzen bedient. Die Bedeutung dieses Geschäftszweiges lässt sich anhand der Entwicklung der Produktionsmengen belegen. Innerhalb von 10 Jahren (1991–2000) hat sich die Menge der in Deutschland in vitro produzierten Orchideen fast verfünffacht (1991: ca. 2,5 Millionen Pflanzen, 2000: über 12 Millionen Pflanzen). Den größten Anteil hatten daran Pflanzen (größtenteils Hybriden) der Gattungen Phalaenopsis (2000: über 9 Millionen Pflanzen).
== Sonstiges ==
Darwins Entdeckungen
Schon Charles Darwin war fasziniert von einer madagassischen Orchideen-Blüte Angraecum sesquipedale mit einem bis zu 35 cm langen Sporn. Auch diese Blüte muss irgendwie bestäubt werden, und irgendein Tier muss in diesen Sporn hineinkommen. Tatsächlich fand man 1903 das zu der Pflanze passende Insekt, den Schwärmer Xanthopan morgani praedicta.
Orchideen als psychoaktive Pflanze
Die Trichocentrum cebolleta ist eine Orchideenart mit gelb-braun getupften Blüten, die im tropisch-subtropischen Amerika und in der Karibik wächst. In Europa wird sie schon seit langem als Zierpflanze kultiviert. Die Blätter enthalten als wirksame Inhaltsstoffe verschiedene Phenanthrene. Diese wirken halluzinogen und werden von den Tarahumara (einem mexikanischen Indianerstamm) als Ersatz für den Peyotekaktus Lophophora williamsii gebraucht (Hauptwirkstoff Meskalin).
Orchidee als Metapher in der Sprache
Die besondere Stellung der Orchidee unter den Blumen macht das Wort Orchidee zu einer beliebten Metapher in der Sprache. Die Orchidee gilt als ausnehmend schön und als selten zu finden. Daher steht einerseits „Orchidee“ oft für etwas besonders Schönes. In Verbindung mit der sexuellen Konnotation wird daher oft eine äußerst hübsche Frau als Orchidee bezeichnet, so im Film Wilde Orchidee. Andererseits steht „Orchidee“ für etwas besonders Seltenes. Diese zweite Metapher kann auch spöttisch sein; so wird eine selten studierte Studienrichtung mit außergewöhnlichen Inhalten als Orchideenfach bezeichnet.
== Literatur ==
James Bateman: Hundert Orchideen. Lithographien von Walter Hood Fitch. Nach der Buchausgabe von 1867. Mit einem Nachwort von Edmund Launert. Harenberg, Dortmund (= Die bibliophilen Taschenbücher. Band 136).
Helmut Baumann: Die Orchideen Deutschlands. Hrsg. v. Arbeitskreis heimischer Orchideen. AHO Thüringen, Uhlstädt-Kirchhasel 2005, ISBN 3-00-014853-1.
R. Schlechter: Die Orchideen. 4 Bände und Register. Überarb. K. Senghas. 3. Auflage. Blackwell, Berlin/Wien 2003, ISBN 3-8263-3410-8 (Das Standardwerk zum Thema Orchideen)
Robert L. Dressler: Die Orchideen. Bechtermünz, Augsburg 1997, ISBN 3-86047-413-8.
Gertrud Fast (Hrsg.): Orchideenkultur. Botanische Grundlagen, Kulturverfahren, Pflanzenbeschreibungen. Eugen Ulmer, Stuttgart 1995, ISBN 3-8001-6451-5.
Helmut Bechtel, Philip Cribb, Edmund Launert: Orchideen-Atlas. Lexikon der Kulturorchideen. 3. Auflage. Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8001-6199-0 (umfangreiches, gut bebildertes Nachschlagewerk)
Die Blumen des Paradieses. In: Die Gartenlaube. Heft 11, 1891, S. 171–174 (Volltext [Wikisource]).
== Filme ==
Verborgene Schönheit – Die Orchideen des Saaletals (2017) Regie: David Cebulla. Naturfilm, 19 Min.
== Weblinks ==
Allgemein
Beschreibung der Familie der Orchidaceae bei der APWebsite (englisch)
Weltweite Suche und Links: Orchideen
The Internet Orchid Photo Encyclopedia (die umfangreiche Orchideen-Enzyklopädie im Netz, englisch)
Orchideenfotos die im USENET veröffentlicht wurden (gesammelt in einem durchsuchbaren Archiv)
RBO – Reproduktionsbiologie der Orchideen (Web-Portal)
Übersicht: Im Internet verfügbare historische Literatur zu Orchideen
Orchideenkonservation Private Initiative zur Rettung wilder Orchideen
Orchideenforum.de Orchideenportal mit vielen Informationen zur Pflege und Haltung.
Orchideenmantis: Hymenopus coronatusVereine und Gesellschaften
Arbeitskreise Heimische Orchideen (AHO)
Deutsche Orchideen Gesellschaft (DOG)
Verein Deutscher OrchideenFreunde (VDOF)
Oesterreichische Orchideengesellschaft
Schweizerische Orchideenstiftung am Herbarium Jany Renz
Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen Aargau (AGEO Schweiz)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Orchideen |
Volk | = Volk =
Mit dem Wort Volk werden allgemein (große) Gruppen von Menschen bezeichnet, die durch kulturelle Gemeinsamkeiten, reale oder fiktive gemeinsame Abstammung oder einen politisch und rechtlich organisierten Personenverband zu einer unterscheidbaren Einheit zusammengefasst sind. Eine verbindliche Definition gibt es nicht.
Der Begriff umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher soziologischer, ethnischer, nationaler und vornationaler politischer, demokratietheoretischer, staatsrechtlicher und theologischer Bedeutungen. Seit dem 18. Jahrhundert ist er emotional hoch aufgeladen und wird zur Legitimation von Revolutionen, Kriegen und verschiedenen Herrschaftsformen verwendet. Dabei wird regelmäßig um Inklusion und Exklusion gerungen, also um die Frage, wer zum Volk im jeweils definierten Sinne gehört und wer nicht. Heute wird davon ausgegangen, dass ein Volk ein soziales Konstrukt ist, das heißt, dass es erst durch Fremd- und Selbstzuschreibung der Mitglieder im Diskurs entsteht.
Verwandte Begriffe mit zum Teil überschneidender Bedeutung sind Ethnie, Stamm, Nation, Bevölkerung und Staatsvolk.
== Etymologie ==
Der Ausdruck Volk (über mittelhochdeutsch volc aus althochdeutsch folc, dies aus urgermanisch fulka „die Kriegsschar“) ist laut Friedrich Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache erstmals im 8. Jahrhundert, laut dem Sprachwissenschaftler Günter Herold erst im 9. Jahrhundert belegt. Zu Grunde liegt dieselbe indogermanische Wortwurzel, von der auch die Wörter voll und viele abgeleitet werden können. Die ursprüngliche Bedeutung war Kriegsschar, Kriegerhaufen. Darauf weist auch die slawische Wortwurzel pulk- hin, die allgemein als frühe Entlehnung aus dem Germanischen gilt und später ins Deutsche mit spezieller Bedeutung als Pulk zurückentlehnt worden ist. Eine Wurzelverwandtschaft mit dem lateinischen Wort plebs für „Volksmenge“ (zu lateinisch plere „füllen“) ist möglich.
== Bedeutungsspektrum ==
Es gibt keine feststehende Definition des Begriffs. Die verschiedenen Bedeutungsschattierungen lassen sich nach dem Historiker Reinhart Koselleck diachron durch alle Zeiten in eine „Oben-unten-Relation“ und in eine „Innen-außen-Relation“ einteilen. Im erstgenannten Sinn wird das Volk nach oben (vom Adel, der Oberschicht, den Eliten) oder nach unten (von Sklaven, Metöken, Unterschichten) abgegrenzt, im zweitgenannten Sinn von den Fremden, die nicht am selben Ort wohnen und nicht zur selben politischen Handlungseinheit gehören. In der Staatslehre wird zwischen dem vorstaatlichen, also dem soziologisch-ethnologisch-politischen Volksbegriff und dem staatlich verfassten Volk unterschieden, um den Begriff dadurch in einen staatsrechtlichen Kontext einordnen zu können.Der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch (1912–1992) definierte: „Ein Volk ist ein ausgedehntes Allzweck-Kommunikationsnetz von Menschen. Es ist eine Ansammlung von Individuen, die schnell und effektiv über Distanzen hinweg und über unterschiedliche Themen und Sachverhalte miteinander kommunizieren können.“ Voraussetzung hierfür seien eine gemeinsame Sprache und eine Kultur: Bedeutungen und Erinnerungen würden geteilt, wodurch es wahrscheinlich sei, dass die dem Volk angehörenden Menschen auch in der nahen Zukunft Vorlieben und Wahrnehmungen teilen und sich in Gewohnheiten und Charakterzügen ähneln bzw. ergänzen würden.Laut dem österreichisch-amerikanischen Soziologen Emerich K. Francis (1906–1994) ist unter Volk „eine jede dauerhafte, durch ein gemeinsames kulturelles Erbe gekennzeichnete, zahlreiche Verwandtschaftsverbände (kinship groups) zu einer unterscheidbaren Einheit zusammenfassende Gesamtgesellschaft zu betrachten. ‚Verwandtschaftsverband‘ soll dabei heißen: ein auf tatsächlicher oder fiktiver Abstammung beruhendes, zahlreiche Familien sowohl gleichzeitig als auch in zeitlicher Abfolge zu einer Einheit verbindendes Sozialgebilde“. Dabei trennt er zwischen dem Demos, dem Staatsvolk, und Ethnos, der Abstammungsgemeinschaft.Auch der Rechtswissenschaftler Reinhold Zippelius unterscheidet zwei Volksbegriffe: Das Staatsvolk definiert er als „Gesamtheit der Menschen unter einer Staatsgewalt“. Es sei nicht notwendig identisch mit dem Volk im soziologischen Sinne, das heißt, der „Gesamtheit von Menschen […], die sich vorwiegend durch Stammesverwandtschaft, gemeinsame Kultur (insbesondere Sprache und Religion), gemeinsame Geschichte und als politische Schicksalsgemeinschaft verstehen“. Aus der Differenz beider Begriffe entstehe das Minderheitenproblem. Die objektiven Merkmale des soziologischen Volksbegriffs müssten nicht alle erfüllt sein, vielmehr bestehe ein Bedeutungsspielraum. Wichtig sei immer das „völkische Zusammengehörigkeitsgefühl“.Der Historiker Otto Dann definiert Volk als soziale Großgruppe, die durch gemeinsame Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte gekennzeichnet sei. Auf Grundlage eines oder mehrerer dieser Merkmale könne es eine Kommunikationsgemeinschaft bilden und sich enger zusammenschließen. Ein Volk könne die Grundlage einer Nationsbildung darstellen, doch gebe es einerseits auch Völker, die keine Nationsbildung durchlaufen hätten, andererseits Nationen mit mehreren Völkern oder Volksgruppen.Die Soziologen Günter Hartfiel und Karl-Heinz Hillmann sehen sieben Bedeutungen des Wortes: es könne die Bevölkerung in einem bestimmten Kulturgebiet bedeuten, eine ethnisch bestimmte Menschengruppe, eine politische Kollektivpersönlichkeit, die als ideelle Einheit vorgestellt wird, die Gesamtheit der Staatsbürger im demokratischen Verfassungsstaat, die breite Masse der Bevölkerung als Gegenbegriff zur Elite oder Oberschicht, eine vornationale Gemeinschaft oder in marxistischer Interpretation die sozialen Klassen, die ein vermeintlich objektives Interesse am gesellschaftlichen Fortschritt haben.Der Soziologe Friedrich Heckmann definiert Volk als „das umfassendste ethnische Kollektiv, das durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeiten von Kultur und Geschichte sowie ein bestimmtes Identitäts- und Zusammengehörigkeitsbewußtsein gekennzeichnet ist“. Das Wort stehe sowohl für bloße Vorstellungen als auch für reale Beziehungen, die kooperativ oder konfliktär sein könnten, und biete Chancen für ein Gemeinschaftshandeln derer, die sich zugehörig fühlten.Der Historiker Peter Brandt nennt drei Bedeutungen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch: „1. die Bewohner eines Staates, namentlich die Inhaber der Souveränität in der Demokratie, 2. die Angehörigen einer Ethnie mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur bzw. einer sich als auch außerstaatliches Volk verstehenden Großgruppe, 3. die ‚einfachen‘ Mitglieder oder unteren Schichten einer Gesellschaft“.Laut der Definition des Ethnologen Dieter Haller sind Völker „über Abstammung und Kultur miteinander verbunden und verfügen über eine Organisationsform, die nicht notwendigerweise staatl[icher] Natur sein muss.“ Auch nach Harald Haarmann ist mit eigenständigen Kulturen zwar meist auch eine „selbständige politische Organisation“ verbunden, aber „Staatlichkeit“ und „Volkstum“ seien nicht deckungsgleich.Der Ethnologe Jens Wietschorke definiert Volk als „Kollektiv, das auf der politischen Ebene durch staatlich-institutionelle Regeln und Praktiken sowie auf der kulturellen Ebene durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Geschichte und Identität bestimmt ist.“ Als Ordnungsbegriff bezeichne er nicht etwas, das bereits bestehe, vielmehr erzeuge er die Wissensordnung des Bezeichneten mit. Volk sei ein relationaler Begriff, der stets in Beziehung zu allen, die von der Zugehörigkeit ausgeschlossen sind, zu verstehen sei.Volk ist ein emotional und politikideologisch stark aufgeladener Begriff und wird in verschiedenen Zusammenhängen als politisches Schlagwort verwendet. Es ist ein Fahnenwort, das heißt, ein Ausdruck von großer Symbolkraft, unter dem sich Gruppen von Menschen im politischen Wettbewerb oder gar Kampf zusammenfinden können und der dadurch identitätsstiftend wirkt. Seine Mehrdeutigkeit prädestiniert es für demagogische Aussagen und Forderungen. Wer zum Volk gehört und wer nicht, ist immer wieder und oft blutig umkämpft. Der Historiker Peter Walkenhorst nennt Volk und Nation „grenzziehende Kollektivbegriffe zur Bezeichnung der eigenen […] Gemeinschaft“. Laut dem Soziologen Lutz Hoffmann definiert Volk eine Gruppe als relevant und legitimiert sie damit. Volk sei immer als Totalität gedacht, nie als Teil eines Größeren. Wer nicht dazugehöre, also irrelevant sei, gerate aus dem Blick, über den brauche nicht gesprochen zu werden. Inwieweit auch Frauen zum Volk gehören, war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine offene Frage. Häufig waren mit der so bezeichneten Wir-Gruppe nur Männer gemeint. Frauen galten als angegliedert oder als Eigentum des Volkes bzw. seiner Männer. In Deutschland änderte sich das erst mit Einführung des Frauenwahlrechts 1918.Der Ausdruck Volk wird, zum Teil mit dem Zusatz „einfach“, zur Kennzeichnung der „breiten Masse“ einer Gesellschaft verwendet. Dieser Aspekt ist auch in der theologischen Unterscheidung von Klerus und Laienvolk (von griechisch λαός laós, deutsch ‚Volk‘) enthalten.Ein Volk im Sinne von Staatsvolk besteht hingegen aus der Gesamtmenge der Staatsangehörigen und ihnen staatsrechtlich gleichgestellter Personen. Das Wort hat immer auch eine subjektive Komponente im „Sich-Bekennen“ zu einem Volk. Darauf machten insbesondere Ernest Renan (1823–1892), Gustav von Rümelin (1815–1889) und Hermann Heller (1891–1933) aufmerksam. Die ethnische Herkunft von Bürgern eines Staates ist dabei völkerrechtlich unerheblich. Ein Volk im ethnischen Sinn dagegen muss nicht unbedingt einen eigenen Staat haben, in dem es die Mehrheit der Bevölkerung bildet (→ Vielvölkerstaat).In der Ethnologie hat die Bezeichnung Ethnie den Begriff Volk (im Singular) seit Mitte des 20. Jahrhunderts weitestgehend abgelöst. Ansonsten wird in der Fachliteratur nur noch von Völkern (im Plural) gesprochen, wenn spezielle Gruppierungen benannt werden (etwa Hirtenvölker, indigene Völker, sibirische Völker u. ä.). Im Singular bezeichnet das Wort (im Sinne von das eigene Volk) dagegen den Gegenstand der Volkskunde. Wo Ethnologen von Ethnien sprechen, verwenden laut dem Ethnologen M. Krischke Ramaswamy hauptsächlich Historiker den Begriff Völker, Soziologen Gesellschaften oder Sozialgebilde, Politikwissenschaftler Staaten oder Nationen und Geographen Bevölkerungen.
== Begriffsgeschichte ==
=== Antike ===
Die antiken Bezeichnungen für Volk (altgriechisch ἔθνος éthnos, δῆμος démos, λαός laós, lateinisch gens, populus, natio) wurden in ihren Bedeutungen nicht trennscharf unterschieden. Sie bezeichnen in erster Linie politische Einheiten, also etwas, das man im modernen Sprachverständnis als Staat bezeichnen würde. Die Polis Athen wurde oft οἱ Ἀθηναῖοι, hoi Athenaíoi („die Athener“) genannt, der Staatsname des Römischen Reiches lautete Senatus Populusque Romanus – „Senat und Volk von Rom“.Als éthnos wurde ein bestimmtes Volk bzw. ein Volksstamm bezeichnet. Démos konnte neben den Polisbewohnern mit Bürgerrecht auch deren Teilmenge aus der Unterschicht bezeichnen, für die es auch die Bezeichnungen ὄχλος, óchlos, und πλῆθος, plēthos, gab. In Rom hieß die Unterschicht ursprünglich plebs. Seit den Ständekämpfen wurde dieses Wort, oft synonym zu populus, für alle römischen Bürger (mit Ausnahme der Patrizier) verwendet. Nach Harald Haarmann gab es ein „Volk der Römer“ oder „der Athener“ im ethnischen Sinne nie. Während die Bezeichnung Römer anfänglich lediglich für die Bewohner der Stadt Rom stand, sei sie später in Sinne einer Staatsbürgerschaft verwendet worden. Träger der römischen Kultur seien unter anderem die Latiner, Umbrer, Gallier, Etrusker und Iberer gewesen. Die Athener rechnet Haarmann sprachlich und kulturell zum Volk der Griechen.Die antike Staatsformenlehre unterschied Monarchie als Herrschaft eines Einzelnen, Aristokratie als Herrschaft des Adels und Demokratie als Herrschaft des Volkes. Je nach politischer Haltung des Verfassers wurde dabei Demos teils als Gesamtheit aller Bürger, teils pejorativ als niederes Volk oder Pöbel verstanden. Der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) betonte dagegen, ein Volk müsse notwendig auch eine moralische Qualität haben, nicht bloß eine formale Rechtsordnung. In einem irdischen Staat, einer civitas terrena, gebe es nur eine beliebig zusammengewürfelte Menge (multitudo). Erst die Gerechtigkeit mache daraus ein Volk (populus).Für die fremden Völker verwendeten die Römer die Bezeichnung gentes. Seit der Ausweitung des Bürgerrechts auf alle freien Bewohner des Reichs im 3. Jahrhundert wurden damit die „Barbaren“ am Rande und außerhalb des Reichs bezeichnet. Die germanischen und anderen Völker, die während der Spätantike in der so genannten Völkerwanderung in das weströmische Reich eindrangen, schließlich auf dessen Boden eigene Reiche bildeten und somit die Voraussetzungen für die Entwicklung des europäischen Mittelalters schufen, entstanden zumeist erst während ihrer Migration (Ethnogenese).
=== Mittelalter ===
Volk umfasste im Mittelalter eine Spannbreite der Bedeutungen von einer unbestimmten Vielzahl von Menschen („Masse[n]“) über die heterogene Masse der Angehörigen der Unterschichten – hier im Allgemeinen mit dem Bedeutungsakzent der Armut (daz arm Volk) – bis hin zu dem als „die ‚eigentliche‘ Unterschicht“ betrachteten, aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Feudalordnung ausgeschlossenen, vielfältig gegliederten „fahrenden Volk“. Das Wort wurde auch für religiöse Gemeinschaften („das judisch volck“, „das christlich volck“) und militärische Gruppierungen („Kriegsvolk“) verwendet. Ebenfalls verbreitet war die Verwendung des Wortes für einen Haushalt (lat. familia), wobei darin auch das Gesinde eingeschlossen sein konnte. Das Wort konnte also die Funktion einer Gruppe bezeichnen oder ihre Anzahl. Welches von beiden gemeint war, lässt sich nur aus dem Kontext erschließen. Der moderne Volksbegriff fehlt daher nach Ansicht der Soziologin Katja Jung im Mittelalter: Der Mensch wurde verstanden als Geschöpf Gottes und somit als Teil einer universalen Ordnung, die als ständisch gegliedert gedacht wurde. Jeder hatte darin seinen festen Platz, für Alternativen bestand kein Raum. Eine Autonomie des Politischen, in dem Volk im modernen Sinne ein zentraler Begriff wurde, habe es erst seit Niccolò Machiavelli (1469–1527) gegeben.Doch auch im politischen Diskurs des Mittelalters lässt sich der Volksbegriff nachweisen. Bischof Fulbert von Chartres unterschied in einem antijüdischen Traktat um die Jahrtausendwende drei Elemente eines regnum, einer Königsherrschaft: terra (das Land), populus (das Volk) und die persona regis, die Person des Königs. Mediävisten wie Bernd Schneidmüller fanden Belege für diese Trias von rex, gens, patria auch in noch älteren Texten des Frühmittelalters und der Völkerwanderungszeit. Daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, dass Völker einen überzeitlichen oder naturgegebenen Charakter hätten und „das Volk […] zum Staat drängte“, wie die ältere Mediävistik lange Zeit annahm. Was die deutsche Geschichte betreffe, sei vielmehr davon auszugehen, dass es auch im Hochmittelalter noch vielfältige Prozesse der Ethnogenese etwa der Sachsen oder der Schwaben gab, wobei die Ethnogenese der Herrschaftsbildung folgte, nicht umgekehrt: Das heißt, dass sich in Bevölkerungsgruppen, die dieselben institutionellen Rahmenbedingungen hatten, langsam ein Grundkonsens über ihre Volks- oder Staatszugehörigkeit entwickelte. Eine Kontinuität von den germanischen Stämmen der Völkerwanderungszeit bis zu den Stammesherzogtümern des Ostfrankenreichs, wie die ältere Forschung sie unter Anwendung des modernen Volksbegriffs auf die Spätantike annahm, wird heute angezweifelt. Vielmehr hätten neue oder anhaltende Ethnogenesen, etwa von Sachsen, Schwaben und Baiern, im 9. und 10. Jahrhundert zu neuen gentilen Identitäten geführt, die jeweils nur alte Namen für sich beanspruchten.Ab wann von einem deutschen Volk die Rede sein kann, ist in der Forschung stark umstritten. Bernd Schneidmüller sieht in verschiedenen Ursprungsgeschichten der Deutschen, die ab dem 11. Jahrhundert aufkamen, ein Indiz für ein sich ausbildendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Nach dem Anglisten Manfred Görlach gab es im europäischen Mittelalter kein sprachlich begründetes Nationalgefühl. Der Historiker Heinz Thomas dagegen bewertet die integrierende Kraft der deutschen Sprache höher als Görlach und nimmt an, dass seit den 1080er Jahren Alemannen, Bayern, Franken und Sachsen zusammenfassend als deutsch bezeichnet worden seien. Der Historiker Knut Schulz sieht dagegen Belege für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Deutschen im Ausland erst für das 15. Jahrhundert als gegeben an.
=== Frühe Neuzeit und Aufklärung ===
Martin Luther (1483–1546) gebrauchte den Volksbegriff noch ganz unspezifisch: In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung etwa verwendet er das Wort 36 Mal: zwei Mal im militärischen Zusammenhang, zwei Mal politisch, einmal geographisch, fünfzehn Mal sozial und zwölf Mal theologisch für die Christenheit. Der mährische Theologe Johann Amos Comenius (1592–1670) legte in seinem Traktat Gentis felicitas 1659 eine Definition vor, die abstammungsmäßige, geographische, sprachliche und emotionale Gesichtspunkte verknüpfte:
Im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit erfuhr der Volksbegriff eine erhebliche Aufwertung und Politisierung. Am Ende des englischen Bürgerkriegs stipulierte etwa die Declaration of Parliament 1649, die „erste Einrichtung des Amtes des Königs durch die Zustimmung des Volkes“ sei geschehen. Im Zeitalter der Aufklärung 1765 konnte zwar Louis de Jaucourt (1704–1779) in der Encyclopédie französisch peuple noch nicht auf den Begriff bringen und bezeichnete es als „schwer zu definierende Kollektivbezeichnung“. Im Text des Artikels ging er dann auf Magistratswahlen und Abstimmungen in den antiken Volksversammlungen ein und zitierte seinen Zeitgenossen Gabriel-François Coyer, der sich bemühte, Handwerker und freie Berufe nicht zum Volk rechnen zu müssen, und betonte, wenn man Bauern und Arbeiter sozial besser stellte, hätten die Könige treuere Untertanen.In der politischen Philosophie der Aufklärung wurde die Idee der Volkssouveränität entwickelt, also die Vorstellung, dass alle Macht im Staat vom Volk ausgeht. Bereits im 17. Jahrhundert verbreiteten etwa die so genannten Monarchomachen die Vorstellung, das Volk habe ein Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrscher. Diesen Gedanken entwickelte der englische Dichter und Philosoph John Milton (1608–1674) zu der Vorstellung weiter, es dürfe von Zeit zu Zeit entscheiden, wer es regiere. Bereits 1603 hatte der Staatstheoretiker Johannes Althusius dem Volk im Staatsrecht einen Vorrang vor seinem Fürsten zugebilligt, den er als durch Übereinkunft eingesetzten Mandatar beschrieb. Das Volk dachte Althusius aber korporativ, nicht vom Individuum her, und knüpfte an religiöse Vorstellungen eines Bundes zwischen Volk und Gott an. Auch blieb er dem frühneuzeitlichen Begriffsverständnis von Volk als breiter Masse verhaftet, denn er beschrieb es als unbeständig und leichtgläubig. Insofern kann er nicht als Vorläufer der modernen Lehre von der Volkssouveränität angesehen werden.In Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes und der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells entwickelte der Vordenker der Aufklärung John Locke (1632–1704) in der zweiten seiner Zwei Abhandlungen über die Regierung die Vorstellung, dem Volk komme naturrechtlich (wenngleich nicht verfassungsrechtlich) Supream Power (sic!) zu, die höchste Macht im Staat. In einem Vertrag mit der – gewählten oder erbmonarchisch bestimmten – Staatsspitze solle es vereinbaren, dass die Gewalt im Staat geteilt werde zwischen einem regelmäßig von ihm als der Summe der Individuen zu wählenden Parlament und der Exekutive. Auch wenn sein Wohl der eigentliche Zweck des Staates sei, könne das Volk an ihr keinen Anteil haben, weil eine Identität zwischen Staat und Individuen die Freiheit vernichten würde. Locke empfahl eine konstitutionelle Monarchie, in der sich die Repräsentanten des Volkes, die Repräsentanten des Adels und der König die Macht teilten (King in Parliament).Als eigentlicher Begründer des Gedankens der Volkssouveränität gilt Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes forderte er 1762: „Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muß auch ihr Urheber sein“. Die Individuen schlössen zum gemeinschaftlichen Schutz ihrer Interessen miteinander einen Vertrag. Erst dadurch würden sie zu einem Volk. Ihm allein komme konstitutionelle Souveränität zu, die Rousseau als unteilbar und nicht delegierbar dachte. Daher lehnte er Repräsentativsysteme ebenso ab wie eine Gewaltenteilung. Der Wille des Volkes als gemeinsamer Wille, als volonté générale müsse sich in direkter Demokratie verwirklichen. Da Rousseau die volonté générale als widerspruchsfrei, unveräußerlich und stets im Recht dachte, nennt der Historiker Michael Wildt ihn den Begründer des „Mythos von der Einheit und Homogenität des Volkes“.In ähnlicher Weise ging auch Immanuel Kant (1724–1804) davon aus, dass sich ein Volk erst durch den voluntaristischen Abschluss eines Gesellschaftsvertrags konstituiert:
Einen so entstandenen Staat nannte Kant republikanisch, wenn er sich am Gemeinwohl und an der Freiheit orientiert. Darunter fallen bei ihm auch Monarchien, in denen Gewaltenteilung herrscht. Staaten, in denen das nicht der Fall ist, nennt er despotisch. Das kann auch die radikale Volksherrschaft betreffen, wie Rousseau sie vorgeschlagen hatte. Das Volk grenzte Kant scharf gegen seine nicht gesetzestreue Teilmenge ab, den „Pöbel […], dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottiren (agere per turbas) ist; ein Verhalten, welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt“.
=== Gründung der USA ===
Die Gründerväter der Vereinigten Staaten knüpften an Lockes Theoriebildung an. In ihrer Unabhängigkeitserklärung legten sie am 4. Juli 1776 dar, es sei „das Recht des Volkes“, seine Regierungsform „zu verändern oder abzuschaffen“, sobald diese ihren eigentlichen Zwecken, nämlich der Garantie der Menschenrechte, „verderblich wird, […] und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket“. Im sich anschließenden Unabhängigkeitskrieg wurde immer wieder die Einigkeit des „American people“ beschworen, um die durchaus divergenten Partikularinteressen der dreizehn Kolonien zu überdecken. In diesem Sinne war auch die Einleitungsformel der Verfassung der Vereinigten Staaten zu verstehen: “We the People of the United States, in order to form a more perfect Union …” Das so beschworene Volk bezog aber weder Frauen noch Sklaven noch die indigene Bevölkerung mit ein. Es war nur eine Minderheit.Seinen klassischen Ausdruck fand der amerikanische Gedanke der Volkssouveränität 1863 in der Gettysburg Address Abraham Lincolns. Darin definierte er Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“. Das heißt, in ihr gehe die Herrschaft aus dem Volk hervor (of), sie werde durch das Volk (by) und in seinem Interesse (for) ausgeübt.
=== Französische Revolution ===
Bedeutsam für die Erhebung des Wortes Volk zu einem Wertbegriff war die Französische Revolution. Vorher war französisch peuple zur Bezeichnung der Bevölkerung Frankreichs hauptsächlich im Plural verwendet worden. Im Singular trat es erstmals während der vorrevolutionären Krise in den Cahiers de Doléances in Erscheinung, wobei es paternalistisch als Kinderschar des Königs Ludwig XVI. hingestellt wurde. Das änderte sich nach dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, als dessen Urheber in Zeitungen und Flugblättern nun „das Volk“ dargestellt wurde. Seitdem wurde die Formel „Im Namen des Volkes“ als Gegenformulierung gegen das weiterhin verbreitete „Im Namen Gottes“ gebraucht.Das Wort Volk wurde in der Französischen Revolution mit Einigkeit und Brüderlichkeit konnotiert. Diese Vorstellung erreichte einen Höhepunkt beim Föderationsfest zum einjährigen Jubiläum des Bastillesturms und zeigte sich etwa im dafür gedichteten Lied Ah! Ça ira: Hier stehen dem einig und entschlossen handelnden Volk die Aristokraten gegenüber, die somit aus dem Volk ausgegrenzt werden. In der Folgezeit verschob sich die Bedeutung des Wortes mehr in Richtung petit peuple, also auf die Unterschichten und die Sansculotten, die die Revolution aktiv unterstützten. Wer dies nicht tat, war kein ami du peuple (so der Name der Zeitung von Jean Paul Marat) und machte sich verdächtig. Damit begann eine Dialektik von Einigkeit und Ausgrenzung: Während einerseits weiterhin (in Anlehnung an Rousseau) die Solidarität und Identität der Interessen innerhalb des französischen Volkes betont wurde, wuchs die Zahl derer, die wegen ihrer (wirklich oder vermeintlich) revolutionsfeindlichen Aktivität als Volksfeinde galten, als „ennemis du peuple“: eidverweigernde Priester, Emigranten, Royalisten, Girondisten usw. Ihren Höhepunkt erreichte diese Ausgrenzung in der Terrorherrschaft 1793/94, Tausende wurde guillotiniert. Peuple trat nun in Konkurrenz zu der bis dahin bevorzugten Vokabel nation: In der Verfassung von 1793 geht die Souveränität anders als noch in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 nicht mehr von der Nation, sondern vom Volk aus. Im Thermidor und unter dem Direktorium wurde dann wieder die Einigkeit innerhalb des Volkes betont, was die realen gesellschaftlichen Verhältnisse aber verschleierte, denn die soziale Ungleichheit wuchs.
=== Volksaufklärung, Romantik und Idealismus in Deutschland ===
In Deutschland hofften seit den 1770er Jahren Volksaufklärer wie Rudolph Zacharias Becker, die Bildung und Erziehung des Volkes zu einem Motor des Fortschritts machen zu können. Sie sahen ihre eigene Rolle darin, Erzieher der mit den Mitteln der Kultur erst noch zu begründenden Nation zu sein, und nobilitierten in diesem Zusammenhang den Volksbegriff. Gleichwohl blieb er bei ihnen mit Rohheit und mangelnder Bildung konnotiert. Als handelndes Subjekt wurde das Volk von den Volksaufklärern nicht angesehen.Johann Gottfried Herder (1744–1803) verstand Völker als kollektive Individualitäten, die sich durch je eigene Sprachen, Seelen und Charaktere voneinander unterscheiden würden. Poesie und Sprache würden ein Volk erst als spirituelle Gemeinschaft konstituieren: Für Herder wurzelte die Volkszugehörigkeit in der Muttersprache. Bei ihm finden sich auch erste Ansätze der Exklusionsfunktion des Volksbegriffes: Die Natur habe die Völker als distinkte Entitäten durch Sprache, Sitten und Gebräuche getrennt, jede Mischung erschien in dieser Sicht widernatürlich und sei abzulehnen. Die besondere Betonung der Sprache und bei anderen deutschen Autoren der Abstammung zur Definition der Volkszugehörigkeit hatte ihre Ursache darin, dass in Deutschland, anders als in Frankreich, ein Volk konstruiert wurde, bevor es einen entsprechenden Staat gab. Somit waren andere, nicht politische Zugehörigkeitskriterien notwendig. Herder versuchte sich auch an einer religiösen Aufladung des Volksbegriffes: „Wer sich seiner Nation und seiner Sprache schämt, hat die Religion seines Volks, also das Band zerrissen, das ihn an die Nation knüpfet“, schrieb er 1802. Ihm schwebte eine „Nationalreligion“ im Geiste Luthers vor. Mit dieser Idee, die auf die Ausgrenzung sowohl von Juden als auch von Katholiken zielte, setzte sich Herder nicht durch.An Herder knüpften die Romantiker an, die in den Äußerungen des Volkes, seiner authentisch-ungekünstelten Sprache, seinen Erzählungen und Liedern eine bewahrenswerte Natürlichkeit sahen. Zum Teil großangelegte Sammlungen der Volkskultur wurden begonnen (Grimms Märchen und Deutsches Wörterbuch, Des Knaben Wunderhorn). Jacob Grimm definierte volk 1846 auf dem ersten Germanistikkongress in Frankfurt am Main als „inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden“, und diese Erklärung erlaube, über das „gitter“ der Grenzen der Einzelstaaten hinwegzuspringen mit Blick auf die „einmal unausbleiblich heranrückende zukunft“, nämlich dem Nationalstaat. Diese romantische Konstruktion des Volkes, seines vermeintlich urwüchsigen Charakters, seiner „unverfälschten Seele“ und seiner, wie man annahm, jahrtausendealten Tradition stand im Widerspruch zu den Werten der Aufklärung, die dem Individuum als solchem und nicht nur als Angehörigem eines Volkes unveräußerliche Rechte zuschrieb und alle hergebrachten Sozialbindungen infrage stellte. Die Romantiker verstanden Volk dagegen als einen „lebendigen sozialen Organismus“, den man nicht abrupt oder gewaltsam verändern dürfe. In diesem Sinne wurde der romantische Volksbegriff später von Konservativen als Argument gegen Reformen und gegen eine Revolution benutzt. Weil durch die politische Zersplitterung Deutschlands sich ein Volksbegriff wie in Frankreich, der auf einer Gemeinschaft freier Bürger beruhte, nicht bilden konnte, konstruierten deutsche Intellektuelle stattdessen die Kultur als einigendes Band. Sie sei ein Zwischenstadium vor der Zusammenfassung aller so verstandenen Deutschen in einem Staat. Dass dieser alle Angehörigen der Kulturnation, wie Friedrich Meinecke (1862–1954) dieses Konzept später nannte, umfassen würde, war angesichts der deutschsprachigen Streusiedlung in Osteuropa unwahrscheinlich. Auch war das Konzept geeignet, angeblich Fremde (wie preußische Polen oder deutsche Juden) auszugrenzen, und es war, wie Hans-Ulrich Wehler feststellte, kompatibel mit allen politischen Systemen, ob demokratisch, monarchisch oder diktatorisch.Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) glaubte im Anschluss an Herder, Völker seien Entitäten mit jeweils individuellen Eigenschaften. In seiner Geschichtsphilosophie erscheinen sie ebenso wie die großen Individuen als „Mittel und Werkzeuge des Weltgeistes“, die eben dadurch, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgen (die sprichwörtliche List der Vernunft), zum Endzweck der Welt beitragen, nämlich dem zunehmenden Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit. Da sich dies für die Völker nur in einem Staat verwirklichen lasse, unterschied Hegel den Wert der Völker nach ihrer Staatlichkeit, von den barbarischen Völkern ohne Staat über die zivilisierten Nationen bis hin zu dem zu voller Staatlichkeit entwickelten „welthistorischen Volk“. Dieses sei in seiner Epoche „Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes“. Ihm gegenüber seien die Geister der anderen Völker rechtlos.
=== Befreiungskriege und deutscher Frühnationalismus ===
Das Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 trug dazu bei, Volk in breiteren Bevölkerungsschichten als einen Begriff zu etablieren, unter den sich die Bevölkerungen der einzelnen deutschen Länder subsumieren und von anderen abgrenzen ließen. Es stellt einen Kompensationsbegriff zur französischen nation dar, weil eine deutsche Nation oder ein deutsches Volk um 1800 noch nicht gegeben war, auch wenn in den späteren Geschichtsdarstellungen seine Existenz bis ins Mittelalter oder in die Antike hinein rückprojiziert und mythologisiert wurde.Das Wort Volk wurde im Sprachgebrauch der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts zum zentralen politischen Schlagwort, zur Trope des neu entstehenden Nationalismus. Während der Befreiungskriege wurde Volk als handelnde Einheit konzipiert, wobei der in der Aufklärung herausgearbeitete emanzipatorische Gehalt nun gegen den „usurpatorischen“ Herrscher Napoleon Bonaparte gerichtet wurde: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, dichtete zum Beispiel Theodor Körner (1791–1813).Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) entwarf 1808 in seinen Reden an die deutsche Nation die Vorstellung, Völker würden durch ihre Sprache als unvermischbare Wesenheiten konstituiert. „Was dieselbe Sprache redet“, sei „durch die bloße Natur“ auf verschiedenste Arten eng miteinander verbunden:
Die Deutschen seien das „Urvolk“: Ihnen wies Fichte eine Sendung für die ganze Menschheit im beinahe kosmopolitischen Sinne zu, denn Volk definierte er nicht ethnisch oder sprachlich, sondern durch Geistigkeit und Freiheit. Ein Volk sei „das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht“. Gleichzeitig sollte der Gedanke des Volkstums aber gegen die französische Besatzung mobilisieren. Das Volk der Franzosen erscheint bei ihm als minderwertig, als Träger des Prinzips des Bösen. Den Begriff des Volkstums hatte Friedrich Ludwig Jahn, der als „Turnvater“ berühmt wurde, 1810 in den politischen Diskurs eingebracht. Damit versuchte er Wesenszüge zu fassen, die angeblich allen Mitgliedern einer Nation eigen sein sollen und durch die sie sich von anderen Nationen unterscheiden würden. Das individualisierte Kollektiv Volk stellte er sich als Körper vor, in dem jedes einzelne Organ seine jeweilige Funktion und auch seine jeweilige Wertigkeit besitze: Somit sollten die Menschen ihre individuellen Bedürfnisse denen der Nation unterordnen – ein Konzept, mit dem sich politische Ungleichheit rechtfertigen und ein Austrag innergesellschaftlicher Konflikte verbieten ließ. Diese Überhöhung des deutschen Volkes ging bei Jahn mit einer Dämonisierung alles Französischen einher, wie sie sich auch bei Ernst Moritz Arndt (1769–1860) findet, der zu „Völkerhass“ gegen die Franzosen als Mittel zur nationalen Selbstfindung aufrief: „Dieser Haß glühe als Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn, in allen Herzen“. In Arndts folgenreicher Kriegspropaganda, die die Völkerwelt manichäisch in entweder gut oder böse einteilte, gingen die innere Identitätsfindung des Volks und der Aggressionsvollzug nach außen eine scheinbar unauflösliche Einheit ein. Arndts Volksbegriff war dabei antisemitisch aufgeladen: Die Juden stellte er als eigenes, fremdartiges Volk dem deutschen Volk gegenüber und polemisierte insbesondere gegen die Zuwanderung von Ostjuden, die als „unreine Flut vom Osten her“ den „germanischen Stamm“ verunreinigen würden. Die Verherrlichung des Volkes ging bei Arndt so weit, dass es für ihn noch über den Fürsten stand, die er 1815 als „Diener und Beamte des Volkes“ beschrieb. Insofern attestiert Peter Brandt dem Volks-Begriff von Arndt, Jahn und Fichte eine „obrigkeitsfeindliche und egalitäre Tendenz“.Im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen bekam das Volk auch einen neuen, militärischen Sinn: Anders als in den Kabinettskriegen der Frühen Neuzeit war es ein jederzeit mobilisierbares Potenzial. Der Krieg wurde, wie Carl von Clausewitz (1780–1831) analysierte, „wieder Sache des ganzen Volkes“: Er wurde zum Volkskrieg.Der Volksbegriff, wie er um 1800 entwickelt worden war, wurde zentral für mehrere Wissenschaften, die sich im 19. Jahrhundert in engem Zusammenhang mit den über ihn geführten Debatten ausbildeten: die Völkerkunde, die Volkskunde, die Sprachwissenschaften, die Rechtsgeschichte und die Geschichtswissenschaft. Großen Einfluss hatte er auch auf die verschiedenen europäischen Nationalbewegungen, vor allem im Osten und Norden des Kontinents. Im Russischen Kaiserreich etwa lässt sich eine ähnliche emphatische Überhöhung des Volkes wie bei Herder und den Romantikern nachweisen. In Russland wurde der Begriff „Volk“ (auf russisch народ narod) ab etwa 1800 vielfältig verwendet. Volkslieder und andere Hervorbringungen der Volkskultur wurden vermehrt ediert, Intellektuelle veredelten das Wort auf ihrer Suche nach einer russischen Identität und nach dem emanzipativen Potenzial der Unterschichten. Daraus erwuchs in der zweiten Jahrhunderthälfte die soziale Bewegung der Narodniki. Im 20. Jahrhundert folgten Übernahmen des Volksbegriffes durch den Zionismus, den arabischen und den türkischen Nationalismus.
=== Die Revolution von 1848 ===
In Deutschland wurde aber auch der staatsbürgerliche Volksbegriff rezipiert. Der liberale Staatswissenschaftler Karl von Rotteck schrieb 1818, ein Volk ohne Verfassung sei „ – im edlen Sinne des Wortes – gar kein Volk.“ Im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 wurde das Wort weiter aufgewertet. Die Liberalen befürworteten ein Zensuswahlrecht, nach dem nur die Aktivbürger, die über ein hinreichend großes Eigentum oder eine entsprechende Bildung verfügten, das „eigentliche“ Volk bildeten. Die Demokraten dagegen sahen das Volk, verstanden als alle erwachsenen Männer im Land, als Quelle aller legitimen Herrschaft an. Das Offenburger Programm, das unter anderem von Gustav Struve (1805–1870) und Friedrich Hecker (1811–1881) formuliert worden war, forderte am 12. September 1847 eine „Vertretung des Volks beim deutschen Bunde, […] eine Stimme in dessen Angelegenheiten. Gerechtigkeit und Freiheit im Innern, eine feste Stellung dem Auslande“. Eine Republik wurde noch nicht gefordert. Das geschah erst am 31. März 1848 im Frankfurter Vorparlament, als Struwe feierlich erklärte, „alle Bande“ seien „gelöst, welche das deutsche Volk an die bisherige sogenannte Ordnung der Dinge geknüpft hatten“. Von nun an forderten die Demokraten, die erbliche Monarchie abzuschaffen, dafür sollten Parlamente frei gewählt werden, die zusammen eine föderative Republik mit einem gewählten Präsidenten an der Spitze bilden sollten. Sie sprachen sich für Volkssouveränität aus, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten schon jahrzehntelang verwirklicht war. In der Frankfurter Nationalversammlung konnten sie sich damit nicht durchsetzen. Das zeigte sich etwa in der Polendebatte, als der Abgeordnete Wilhelm Jordan (1819–1904) am 24. Juli 1848 einen „gesunden Volksegoismus“ forderte, „welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen obenanstellt“. Der Demokrat Robert Blum (1807–1848) dagegen riet dazu, auch den Polen ein Recht auf einen Nationalstaat zuzubilligen, und unterlag in der Abstimmung mit 342 zu 31 Stimmen. Benedict Anderson weist auf die Probleme hin, die die ungarischen Nationalisten 1848 mit den nichtungarischen Minderheiten hatten: Lajos Kossuth wollte ihnen zwar die gleichen Bürgerrechte wie den Ungarn einräumen, nicht aber das Recht auf eigene Nationalstaaten: Sie hätten nämlich keine „historischen Persönlichkeiten“. Laut dem Historiker Dieter Langewiesche zeigte die 1848er Revolution, „wie nah ‚Völkerfrühling‘ und ‚Völkerhaß‘ beieinander sein können“.Auch die Paulskirchenverfassung zeigte, vom allgemeinen Wahlrecht abgesehen, keine Spuren demokratischen Denkens: Deutschland sollte eine konstitutionelle Monarchie unter einem Erbkaiser werden, das deutsche Volk wurde nicht als Souverän bezeichnet. Als Verfassungsgeber figurierte vielmehr die Nationalversammlung. Sie war es, die laut der Präambel die Reichsverfassung beschloss und verkündigte. Auch was die Definition einer deutschen Staatsangehörigkeit betraf, blieb die Paulskirchenversammlung hinter demokratischen Standards zurück. Für den Vorsitzenden des Verfassungsausschusses Georg Beseler stellte das Volk nicht eine Masse von Individuen dar, sondern verlange die rechtliche Berücksichtigung von „Sitte“ und „Bedürfnissen“ der einzelnen deutschen „Stämme“: Daher sollten Bundesstaaten ihr je eigenes Staatsbürgerrecht behalten. Ethnisch Nicht-Deutschen werde als Staatsangehörigen der Bundesstaaten zwar gleiches Recht eingeräumt, aber, so betonte er, sie hätten „dies dankbar anzuerkennen“. § 131 der Paulskirchenverfassung legte fest, das deutsche Volk bestehe aus den Angehörigen der Staaten, die das Deutsche Reich bildeten.
=== Sozialistische Arbeiterbewegung ===
Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) knüpften an Hegels Geschichtsphilosophie an, maßen den Völkern gegenüber den Veränderungen der ökonomischen Bedingungen aber eine nur untergeordnete Bedeutung bei. Im Kommunistischen Manifest diagnostizierten sie ein Schwinden der Gegensätze zwischen den Völkern schon durch die Entfaltung des weltweiten Kapitalismus und prognostizierten: „Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.“ Volk wurde von ihnen seltener national als vielmehr soziologisch verwendet. Häufig verwendeten sie Volk oder Volksmassen synonym mit Proletariat: Das Volk galt ihnen als Träger der kommenden Revolution. In diesem Sinne bezeichnete Marx auch die Religion als „Opium des Volkes“. Statt dieses „illusorischen Glücks“ gelte es, „das wirkliche Glück“ des Volkes zu verlangen. Im Marxismus-Leninismus wurde diese Theorie weiterentwickelt: Erst die sozialistische Revolution bringe ein „sozial geeintes Volk“ als Basis wirklicher Volksherrschaft hervor. Demokratie wurde als Übergangsphänomen bei der Machteroberung und -behauptung des Proletariats verstanden. Georg Lukács (1885–1971) prägte dafür den Begriff der „demokratischen Diktatur“. Man nahm an, die Demokratie würde erst in einer späteren Phase ihren Funktionskreis auf das ganze Volk ausdehnen und in der kommunistischen Gesellschaft absterben.Dies Verständnis von Volk dominierte allerdings nicht den gesamten Diskurs der Arbeiterbewegung. Ferdinand Lassalle (1825–1864) etwa argumentierte häufiger mit dem demokratischen oder dem nationalen Sinn des Wortes. Gleich im ersten Programmpunkt des Eisenacher Programms setzte sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1869 „die Errichtung des freien Volksstaates“ zum Ziel. Während des Kaiserreichs gelang es der deutschen Sozialdemokratie aber nicht, aus der Spannung zwischen ökonomisch-internationalistischem und liberaldemokratischem Verständnis der Begriffe Volk und Nation ein konsensfähiges Konzept zu erarbeiten. Dies führte wiederholt zu innerparteilichen Kontroversen, etwa 1896 über die Fragen, ob der Bevölkerung Elsass-Lothringens (1889) oder dem polnischen Volk ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen sei. Aus Furcht, weiterhin als „vaterlandslose Gesellen“ ausgegrenzt zu werden, stimmte die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag zu Beginn des Ersten Weltkriegs mehrheitlich den Kriegskrediten zu: „Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft“ stehe zu viel auf dem Spiel, hieß es in der begründenden Erklärung.
In der Novemberrevolution 1918 aktualisierten die Sozialdemokraten sowohl den soziologischen als auch den staatsrechtlichen Volksbegriff. Das Volk als Träger der Revolution schien auf in Begriffen wie Volkswehren und Rat der Volksbeauftragten. Noch 1921 im Görlitzer Programm stellte sich die SPD als „Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land“ vor. In der von Sozialdemokraten maßgeblich mitgetragenen Weimarer Verfassung wurde 1919 erstmals in Deutschland das Prinzip der Volkssouveränität verwirklicht. Ihre Präambel lautete:
Doch auch auf den nationalen Volksbegriff griffen die Sozialdemokraten zurück: In der Debatte um den Friedensvertrag von Versailles verlangte der SPD-Abgeordnete Paul Löbe am 22. Juni 1919 vor der Weimarer Nationalversammlung eine Vereinigung Deutschlands mit Österreich einschließlich des Sudetenlands und Südtirols und bekannte, „daß wir bei voller Treue zur Internationale zu unserem Volke stehen und daß wir bereit sind, für unser Volk einzustehen und alles ihm zu opfern“.
=== Von der völkischen Bewegung zur Konservativen Revolution ===
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden Volkskonzepte, die die vermeintlich gemeinsame Abstammung als Basis des Volksbegriffs nahmen. Im Zuge sozialdarwinistischer Vorstellungen wurde dieser Begriff in Rassentheorien eingebettet. Die völkische Bewegung trieb einen regelrechten Kult um das rassistisch verstandene deutsche Volk. Stichwortgeber waren hier vor allem Paul de Lagarde (1827–1891) und Julius Langbehn (1851–1907). Dieser definierte in seinem Buch Rembrandt als Erzieher (1890) Volk im Unterschied zu Pöbel oder Masse als „nach bestimmten Gesetzen buntschattierte Menge“. Zu diesen Gesetzen rechnete er das Führerprinzip, eine Ständeordnung und den „eingeborenen Erdcharakter des deutschen Volkes“. Beide vertraten einen entschiedenen Rasseantisemitismus. Lagarde behauptete 1855, es sei „das Recht jedes Volkes, selbst Herr auf seinem Gebiet zu sein, für sich zu leben, nicht für Fremde“, und trat dafür ein, fremde Elemente zu „beseitigen“.Der Alldeutsche Verband forderte 1894 eine „nationale Zusammenfassung des gesamten deutschen Volkstums in Mitteleuropa, d. h. die schließliche Herstellung Großdeutschlands“. Dies sollte der Kern eines Kolonialreichs in Übersee werden. Heinrich Claß, der 1908 den Vorsitz des Verbands übernahm, radikalisierte dessen Propaganda weiter, die sich „allein an dem Bedürfnis des deutschen Volkes“ zu orientieren hätte. Dabei fasste er auch „völkische Feldbereinigungen“ ins Auge. Durch die rassistische Auslegung des Volksbegriffs durch die völkische Bewegung wurde es Minderheiten wie Juden und Polen unmöglich gemacht, sich zu assimilieren. Völkische Publizisten wie Willibald Hentschel (1858–1947) entwickelten den Mythos eines Herrenvolkes, das sich in einem langen Prozess von Zuchtwahl, Auslese und Umweltanpassung gebildet habe: die Arier. Dieser Mythos wurde später von den Nationalsozialisten aufgegriffen.Von 1914 bis 1945 fungierte Volk im politischen Sprachgebrauch der Deutschen als Bezeichnung einer politisch-sozialen und historischen Letztinstanz: Der Begriff war zentral sowohl für die Bewusstseinsbildung als auch das Handlungsgefüge: Alle Parteien mussten sich in der Legitimierung ihrer Politik darauf beziehen, ein Verzicht war nicht möglich. Dementsprechend wurde der Begriff propagandistisch manipuliert. Die Mehrzahl der am Ende des Kaiserreichs und zu Beginn der Weimarer Republik gegründeten Parteien nutzte Volk oder eine Abwandlung als Namensbestandteil, wobei sich die gemeinte Bedeutung jeweils signifikant unterschied (Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei, Bayerische Volkspartei Deutsche Demokratische Partei, Deutschvölkische Freiheitspartei, Christlich-Sozialer Volksdienst, Konservative Volkspartei). Für die Republikaner war Volk zwar ebenfalls ethnisch-kulturell konnotiert, schloss aber Juden und andere Minderheiten in Deutschland als gleichrangige Staatsbürger ein. Für die Rechtsradikalen gehörten diese aber nicht zum Volk, das sie, wie Peter Brandt formuliert, als „überhistorische Gemeinschaft“ verstanden, als „Organismus höchster Ordnung“. Dieses Verständnis ging bei ihnen mit einer scharfen Ablehnung der Demokratie einher, da sie meinten, der Wille des Volkes ergebe sich aus seinem „Wesen“, dem Volkstum, und nicht empirisch durch Abstimmungen.Durch die territorialen Veränderungen des Versailler Vertrags, der 1920 in Kraft trat, wurden viele Deutsche Bürger anderer Staaten. Um die rechtliche Stellung dieser sogenannten Volksdeutschen zu fassen, prägte man den Begriff der Volkszugehörigkeit. Dadurch wurde, wie der Historiker Dieter Gosewinkel analysiert, die Bedeutungsvielfalt des Wortes Volk „auf einen Substanzbegriff ethnisch-kultureller Homogenität verengt“. Volk und Staatsangehörigkeit seien dadurch auf Volkstum reduziert worden.Die Autoren der so genannten Konservativen Revolution verfügten über keinen gemeinsamen Volksbegriff. Während Volk bei Carl Schmitt, Oswald Spengler und Ernst Jünger von nur untergeordneter Bedeutung war, spielte es für andere eine zentrale Rolle. Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) etwa war der Überzeugung, dass Einigkeit im Volke die Voraussetzung für eine Überwindung des Versailler Vertrags sei. Sie werde aber durch den seit der Novemberrevolution herrschenden Liberalismus verhindert, der Gemeinschaft durch Gesellschaft ersetze und Trennungen im Volk aufreiße: „An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde“. Daher gelte es, ihn zu überwinden. Hans Freyer (1887–1969) sprach sich 1931 für einen Staatssozialismus aus, denn nur so könne das „Kraftfeld des Volks von den heterogenen Querschlägen der industriellen Gesellschaft freigemacht“ werden und so „das Volk, Herr seiner Welt, zum politischen Subjekt, zum Subjekt seiner Geschichte“ werden. Edgar Julius Jung (1894–1934) lud in seiner Programmschrift Die Herrschaft der Minderwertigen den Volksbegriff in Anknüpfung an Herder religiös auf: Ein Volk sei das Gefäß, „in dem der göttliche und sittliche Inhalt gefaßt wird“. Gerade das deutsche Volk empfinde „das leise Wehen eines neuen ‚Heiligen Geistes‘ am lebhaftesten“. In diesem Denken darf das Volk, wie Koselleck analysiert, sich nicht als politisches Subjekt erleben, ihm wird vielmehr die Rolle eines Objekts der Heilsgeschichte zugewiesen, als eine transzendente Größe, der anzugehören den einzelnen daran hindere, ein selbstbestimmter Staatsbürger zu werden. Dies werde deutlich in dem nationalsozialistischen Schlagwort: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“.
=== Nationalsozialismus ===
Die Sprache des Nationalsozialismus knüpfte an die emphatisch überhöhte Verwendung des Wortes an, die in der Weimarer Republik parteiübergreifend üblich war. Die Nationalsozialisten konstruierten Volk als eine organische Ganzheit von Kultur, Geschichte und Rasse, wobei die letztgenannte für sie den entscheidenden Bestandteil „völkischer“ Substanz darstellte. Bereits in ihrem 25-Punkte-Programm von 1920 spielten sie Volkszugehörigkeit gegen Staatsangehörigkeit aus und engten den Begriff des Staatsbürgers auf den „Volksgenossen“ ein, das heißt, auf Menschen „deutschen Blutes“. Juden wurden explizit hiervon ausgeschlossen, sie sollten unter „Fremden-Gesetzgebung“ gestellt werden. Das zentrale Kapitel von Adolf Hitlers Mein Kampf ist „Volk und Rasse“. Hier entfaltet Hitler auf sozialdarwinistischer Grundlage einen rassistischen und radikal antisemitischen Volksbegriff.
Gleichwohl war Volk durchaus nicht der höchste Wert der Nationalsozialisten. Höher rangierte die Rasse. Dieser Begriff war geeignet, das einst als nach innen solidarisch gedachte Volk aufzuspalten und seine Mitglieder je nach ihrem vermeintlichen rassischen Wert unterschiedlich zu behandeln, wie es Hitler bereits in Mein Kampf niedergelegt hatte: Als „den wertvollsten Schatz für unsere Zukunft“ bezeichnete er die „auch heute noch in unserem deutschen Volkskörper […] unvermischt gebliebenen Bestände an nordisch-germanischen Menschen“. Die „Mission des deutschen Volkes“ sei die Bildung eines Staates, der sich allein der „Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit“ widme. Alle anderen Deutschen tat er als „allgemeinen Rassenbrei des Einheitsvolkes“ ab.Als zentraler Begriff der NS-Ideologie wurde der Terminus Volk in der NS-Zeit häufig verwendet. Zudem kam der Begriff auch in zahlreichen Kompositionen wie „Volksgenosse“, „Volksgemeinschaft“ oder „Volksgesundheit“, „Volksführer“ und „Volksbewegung“ vor. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels erklärte am 15. November 1933: „Der Sinn der Revolution, die wir gemacht haben, ist die Volkwerdung der deutschen Nation“. In den Nürnberger Gesetzen, vor allem im Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, wurde das völkische Verständnis des Volkes als „Blutsgemeinschaft“ auch rechtlich kodifiziert: Juden wurde der Status des gleichberechtigten „Reichsbürgers“ vorenthalten, sie waren nur Staatsangehörige des Deutschen Reichs ohne politische Rechte. Mit der Utopie einer „gesunden Volksgemeinschaft“ rechtfertigten die Nationalsozialisten die Diskriminierung, Entrechtung und Ermordung der deutschen Juden, „Zigeuner“, „Asozialen“, „Erbkranken“ oder Oppositionellen, die angeblich die Homogenität des Volkskörpers beeinträchtigten. Während des Zweiten Weltkriegs operierte namentlich die SS in Wissenschaft und Praxis mit dem Begriff der Umvolkung: Damit war der Versuch gemeint, die Slawen aus den in Ostmittel- und Osteuropa eroberten Gebieten zu vertreiben, um diese (wieder) mit Deutschen zu besiedeln und ihnen so eine deutsche kulturelle Identität zu geben. Mit dieser Umvolkung sollten Prozesse der „Entdeutschung“ in diesen Gebieten rückgängig gemacht werden, den der nationalistische und völkische Diskurs seit dem 19. Jahrhundert beklagt hatte. Nach 1945 verschwand das Wort aus dem seriösen Diskurs.
=== Nach dem Zweiten Weltkrieg ===
Wegen der missbräuchlichen Verwendung im Nationalsozialismus wurde der Begriff Volk in der politischen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg seltener benutzt. Der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter (1889–1953) gebrauchte ihn in seiner berühmten Rede am 9. September 1948 an die „Völker der Welt“ auch für die Gesamtheit der Einwohner seiner Stadt.Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR verwendeten Volk, um ihre jeweilige innerstaatliche Verfassung zu legitimieren. In der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wird dem „Deutschen Volk“ ganz im Sinne der Lehre der Volkssouveränität „verfassungsgebende Gewalt“ (pouvoir constituant) zugeschrieben. Tatsächlich durfte es aber nie über das Grundgesetz abstimmen, weshalb diese Formulierung als Fiktion gilt. Insgesamt fächerte das Grundgesetz den Begriff des Deutschen Volkes dreifach auf: Neben den westlichen Bundesländern, auf die der Geltungsbereich des Grundgesetzes zunächst beschränkt blieb, gehörten dazu auch die Bürger der DDR, für die stellvertretend zu handeln die Bundesrepublik den Anspruch erhob. Drittens erstreckt er sich nach Artikel 116 GG auch auf Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit sowie alle Emigranten nach 1933, sofern sie dem zustimmen. Als Kriterium, wer als Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit zu gelten habe, griff man noch 1961 auf die Deutsche Volksliste aus der Zeit des Nationalsozialismus zurück.Nach Einschätzung des Historikers Dirk van Laak wurde das Wort Volk nach 1945 „völlig konturlos“ und nahm teilweise sogar revisionistische und revanchistische Konnotationen an. Durch die millionenfache Zuwanderung von Ausländern, denen die deutsche Staatsbürgerschaft nur zögerlich gewährt wurde, tauge es kaum noch als Einheitskriterium. Seit den 1960er Jahren wurde es in Publizistik und Politik der Bundesrepublik seltener benutzt. In der Deutschlandpolitik nach 1969 war stattdessen zumeist von der Nation die Rede. 1973 bestand das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag mit der DDR darauf, dass ein „gesamtdeutsches Staatsvolk“ weiterhin existiert. Es folgte dabei Bundeskanzler Willy Brandt, der die Deutschen als Angehörige eines Volkes betrachtete, wonach beide Staaten in Deutschland „füreinander nicht Ausland“ waren. Bereits im Mai 1970 hatte gegenüber dem Ministerpräsidenten der DDR Willi Stoph erklärt, das gesamtdeutsche Volk sei „der eigentliche Souverän“.In der DDR hielt man zunächst an der deutschen Einheit fest und verwendete den Begriff Volk dementsprechend ganz ähnlich wie in der Bundesrepublik. Anders als im Grundgesetz wurde das Volk in der Verfassung der DDR von 1949 aber als Objekt und Adressat des staatlichen Handelns beschrieben: „Die Republik entscheidet alle Angelegenheiten, die für den Bestand und die Entwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit wesentlich sind“, hieß es in Artikel 1. Damit war die Regierung der DDR unter der Kontrolle der SED gemeint. In den 1950er Jahren war im politischen Diskurs der DDR vermehrt vom „werktätigen Volk“ die Rede. Unter diesen Klassenbegriff ließen sich Kapitalisten nicht mehr subsumieren. In den Verfassungen von 1968 und 1974 war dann von einem „Volk der DDR“ die Rede. Der Gedanke eines einheitlichen deutschen Volkes war aufgegeben. Dies zeigte sich auch, als im Zuge des Kalten Krieges die SED-Führung das Wort Volk im Sinne einer nationalen Widerstandsgemeinschaft gegen die „imperialistischen Besatzungsmächte“ in der Bundesrepublik und die dortigen Parteien benutzte.In den Verfassungen der DDR wurde den „Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität“ erstmals das Recht zur Pflege ihrer Sprache und Kultur eingeräumt. In der SED ging man davon aus, dass sich das sorbische Volk freiwillig der sozialistischen deutschen Nation angeschlossen habe. Auf seine Belange war indes zuvor bei der Ansiedlung von deutschsprachigen Flüchtlingen in seinem Siedlungsgebiet und der Kollektivierung der Landwirtschaft keine Rücksicht genommen worden. Der Tagebau im Lausitzer Braunkohlerevier führte bis 1989 zur Zerstörung von zahlreichen sorbischen Dörfern.
Während der friedlichen Revolution in der DDR kam dem Wort Volk neue politische Bedeutung zu: Die Parole „Wir sind das Volk“, die bei den Montagsdemonstrationen und anderen Kundgebungen der Opposition gerufen wurde, markierte ein Abrücken vom klassenkämpferischen hin zum demokratisch-verfassungsrechtlichen Volksbegriff: Statt der werktätigen Volksmassen und ihrer Partei sollte das Staatsvolk selbst entscheiden. 1990 wandelte sich die Parole zu „Wir sind ein Volk“ und damit zur Forderung nach der Wiedervereinigung Deutschlands.Seit den 1970er Jahren verwendet die Neue Rechte den Volksbegriff ethnopluralistisch. Der französische Publizist Alain de Benoist etwa erklärte, die „Vielfalt der Welt“ liege in der Tatsache, „daß jedes Volk, jede Kultur eigene Normen hat – wobei jede Kultur eine sich selbst genügende Struktur darstellt“. In diesem Denken wird die Allgemeingültigkeit etwa der Menschenrechte kulturrelativistisch bestritten. Jedes Volk habe seine eigene Kultur und seine Werte, die nur für es selbst gälten, die Unterschiede zwischen den Völkern seien unüberbrückbar. Kultur wird ethnisch und homogen gedacht, ein umfassender Sinnentwurf für das Volk, der autoritär gesetzt wird. Der Einzelne könne die jeweiligen Mythen der Abstammung, Sprache, Geschichte des Volkes, in das er hineingeboren wurde, weder individuell umdeuten noch sich ihnen sonst entziehen. Sie stellten das kollektive Schicksal eines Volkes dar. Laut Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn gelingt es den Rechten nicht, plausibel zu begründen, worin das Wesen eines Volkes, das von „kulturfremden Migranten“ angeblich bedroht werde, konkret bestehe. Zudem unterlägen sie einem Sein-Sollen-Fehlschluss, da aus der Existenz eines Volkes nicht zwingend folge, dass seine Identität vor Veränderungen geschützt werden müsse.
=== Gegenwart ===
In den aktuellen Gesellschaftswissenschaften vertritt man inzwischen die Auffassung, dass Völker im Sinne ethnischer oder religiöser Gemeinschaften „gedachte Ordnungen“ bzw. „imaginierte Gemeinschaften“ sind. Niklas Luhmann schrieb, Volk sei „nur ein Konstrukt, mit dem die politische Theorie Geschlossenheit erreicht. Oder anders: wer würde es merken, wenn es gar kein Volk gäbe?“ Nach Jörg Echternkamp und Oliver Müller führt die substanzialistische Annahme, ein Volk wäre ein „wesenhafter Sozialkörper“, notwendig in die Irre. Damit ist nicht gemeint, dass Völker Fiktionen wären, gleichsam aus dem Nichts erfunden. Vielmehr beruhen Abgrenzungen gegenüber anderen Völkern auf bereits vorhandenen Vorstellungen und wirken auf sie zurück. Zugleich waren und sind sie als Integrations- und Legitimationsideologeme von erheblicher Wirkungskraft. Als entscheidend wird das subjektive Zugehörigkeitsgefühl angesehen. Laut dem Soziologen Friedrich Heckmann wurzelt die „Realität ethnischer Groß-Kollektive“ unter anderem im „Glauben“, man habe gemeinsame Vorfahren, und im „Bewusstsein“, man gehöre zusammen und habe eine gemeinsame Identität. Dies führt nach Ansicht des Soziologen Lutz Hoffmann zu einer zirkulären Definition: „‚Volk‘ ist das, was für den Menschen sein ‚Volk‘ ist“. Die subjektive Vorstellung, man habe bestimmte Gemeinsamkeiten mit bestimmten anderen Menschen, konstituiere das „Volk“ als Summe aller Menschen mit derselben Volkszugehörigkeit. In einem sekundären Prozess würden dann die objektiven Merkmale, auf die sich die Vorstellung eines gemeinsamen Volkes stütze, hervorgebracht, sie gingen ihr nicht voraus.Dem steht das Verständnis von Volk im Populismus gegenüber, der in der Gegenwart verstärkt Zulauf gewinnt. Hier wird das Problem von Einschließung und Ausschließung, das dem Volksbegriff inhärent ist, ebenso geleugnet wie sein Konstruktcharakter. Auch Interessengegensätze innerhalb des Volkes, die es in modernen Gesellschaften zahlreich gibt, kommen in der populistischen Verwendung des Wortes nicht vor. Populisten überhöhen das Volk als „ehrlich“, „hart arbeitend“ und „vernünftig“ und stellen ihm die Eliten bzw. das Establishment gegenüber. Diesen werfen sie vor, den als einheitlich imaginierten Willen des Volkes nicht entschieden genug oder gar nicht zu vertreten. Die Frage, was sie mit Volk genau meinen, beantworten Populisten abhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung jeweils unterschiedlich. Während linke Populisten Arbeitnehmer oder Arbeitslose ansprechen, also eher an einen soziologischen Volksbegriff anknüpfen, meinen rechte damit vor allem nationale Identität. Unabhängig davon geben alle Populisten die Partikularinteressen ihrer präsumptiven Wähler als Volkswillen aus und fordern mehr direktdemokratische Elemente in der Verfassung. Diesen angenommenen Volkswillen wollen sie häufig mit einem charismatischen Führer umsetzen, der mit dem Volk unter Umgehen der intermediären Instanzen in direktem Kontakt steht. Daher richten sich Rechtspopulisten nicht nur gegen „die Anderen“, also zum Beispiel gegen Muslime, sondern stets auch gegen die herrschende Schicht und die repräsentative Demokratie. Der Ethnologe Jens Wietschorke sieht in der populistischen Begriffsverwendung eine absichtliche Verunklarung des semantischen Gehalts: So verwendete Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Rassemblement National im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 oft die Formel «Au nom du peuple» („Im Namen des Volkes“), die seit Langem zur Legitimation demokratischer Willensbildungsprozessen benutzt wird. Sie meinte aber peuple nicht als Staatsbüger-, sondern als Abstammungsgemeinschaft, wodurch das Wort ein Instrument der Ausgrenzung wurde.In typischer Vereinfachung komplexer Probleme in einer globalisierten Welt neigen Populisten dazu, nationalen Alleingängen gegenüber internationalen Lösungen den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind der Brexit oder die Ankündigungen des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die illegale Einwanderung zu stoppen.Im 21. Jahrhundert wurden die Wörter Volk (im völkischen Verständnis des Wortes) und Umvolkung von Rechtsextremen und Rechtspopulisten wieder aufgegriffen. 2016 wurde die Bezeichnung Volksverräter, mit der Anhänger von Pegida und der AfD demokratische Politiker herabwürdigen, in Deutschland zum Unwort des Jahres gekürt. Zur Begründung führte die Jury unter anderem an, dass der Wortbestandteil Volk dabei in einem ähnlich ausgrenzenden Sinne gemeint sei wie zur Zeit des Nationalsozialismus.
Um nicht in den Verdacht populistischer Demagogie zu kommen und um das Pathos, das mit dem Wort verbunden ist, zu vermeiden, verwenden deutsche Politiker das Wort Volk gegenwärtig nur noch selten. Dabei spielt auch die rassistische Aufladung des Wortes durch die Nationalsozialisten eine Rolle. Ersatzweise ist etwa von den „Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ die Rede, den „Menschen draußen im Land“, vom „kleinen Mann“ oder von der „Bevölkerung“. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm bei ihrer Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2016 dem Begriff das Pathos und erteilte allen Versuchen eine Absage, die Zugehörigkeit zum Volk zu privilegieren, indem sie formulierte: „Alle sind das Volk“. Eine ähnliche Formulierung, nämlich „Wir (alle) sind das Volk“, zeigten in zwölf verschiedenen Sprachen von Mai bis Oktober 2021 Plakate, mit denen der Konzeptkünstler Hans Haacke den Bauzaun des neuen Museums des 20. Jahrhunderts am Kulturforum Berlin gestaltete.
== Abgrenzung zu anderen Begriffen ==
=== Staatsvolk ===
Volk im Sinne von Staatsvolk bezieht sich auf die Staatsangehörigen eines Völkerrechtssubjekts. Das Staatsvolk ist neben dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt eines der drei konstitutiven Elemente eines Staates. In einer Demokratie ist das Volk „Ursprung und Rechtsgrund jeglicher Staatsgewalt“. Der Verfassungsjurist Karl Brinkmann verwendet dafür den Ausdruck Bevölkerung, da es für ihn gleichgültig sei, ob die einem Staat angehörenden Menschen „zu einem Volk zählen oder nicht“.Damit setzt er sich von dem antiliberalen Staatsrechtler Carl Schmitt ab, der 1928 in seiner Verfassungslehre stipuliert hatte: „Subjekt der Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk“. Bereits 1923 hatte Schmitt in Aufnahme der rousseauschen Identitätsvorstellungen auf die „Homogenität und Identität des Volks mit sich selbst“ als Basis des Staates hingewiesen. Das bedeute aber „mit unvermeidlicher Konsequenz“, dass man „das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten“ wisse. Exklusion aus dem Staatsvolk nach ethnischen Kriterien war für Schmitt Gelingensbedingung „jeder wirklichen Demokratie“. 1939 entwickelte Schmitt den Begriff des Volks als Gegensatz zu dem des Staates und skizzierte eine „vom Volk getragene […] volkhafte Großraumordnung“, die nur vom „Reichsbegriff“ ausgehen könne.Das Staatsvolk entspricht idealtypisch dem Demos, den Emerich K. Francis 1965 begrifflich vom Ethnos unterschied. In Wiederaufnahme dieser Theoriebildung erklärt es der Soziologe M. Rainer Lepsius (1928–2014) für „die Basis für eine Zivilgesellschaft demokratischer Selbstlegitimation“, die diversen Spannungsverhältnisse zwischen beiden anzuerkennen: Setze man Demos als Träger der politischen Souveränität mit einem spezifischen Ethnos gleich, führe das zur Unterdrückung oder Zwangsassimilation ethnischer, kultureller, religiöser oder sozioökonomischer Minderheiten. Der Status des Staatsbürgers sei in seinem Ursprung naturrechtlich und individualistisch definiert und gelte für alle gleich. Er dürfe nicht an materielle Eigenschaften geknüpft werden, die den durch sie definierten Bevölkerungsteilen unterschiedliche Partizipationsrechte zuteilten. Als Negativbeispiele hierfür führt Lepsius die Germanisierung von ethnischen Polen, Elsässern und Lothringern sowie die Diskriminierung von Sozialdemokraten und Katholiken im deutschen Kaiserreich an. Real aber gilt in vielen Staaten, insbesondere jenen des ehemaligen Ostblocks, eine ethnische Definition des Staatsvolks. Dabei wird – vor dem Hintergrund eigener historischer Konflikterfahrungen – die mangelnde Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten von der Bevölkerungsmehrheit als Preis für ihr Überleben als ethnische Gruppe betrachtet und gerechtfertigt. Dies führt laut Gerhard Seewann im Gegenzug „gesellschaftlich und politisch zur Ausgrenzung aller von der Titularnation ethnisch verschiedenen Gruppen“. Der israelische Soziologe Sammy Smooha hat für multiethnische demokratische Systeme, in denen eine Ethnie verfassungsgemäß bevorzugt wird, den Begriff Ethnische Demokratie geprägt. Beispiele für ethnische Demokratien sind Israel, Estland, Lettland, die Slowakei und Malaysia.
Der Philosoph Jürgen Habermas diagnostizierte 1992, dass die Widersprüche, die im Begriff der Volkssouveränität angelegt seien, noch nicht gelöst seien:
Diese Formulierung griff Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR auf. In einer Demokratie gebe es das Volk nur im Plural, weshalb es die schwierige Aufgabe der Politik sei, aus dieser Vielstimmigkeit eine gemeinsame Linie zu entwickeln. Nie wieder dürfe ein Einzelner oder eine Gruppe beanspruchen, für das „wahre Volk“ zu sprechen. Der Historiker Peter Brandt warnt dagegen vor einem Demokratieproblem, das man sich bei einem Verzicht auf den Volksbegriff einhandle, „denn offenbar benötigt auch der moderne demokratische Staat, der auf Inklusion […] angelegt ist, ein Mindestmaß an ‚sozialer‘ (i.S.v. Hermann Heller) und kultureller Homogenität.“ Dies zeige etwa die Parole “We the people” der Occupy-Bewegung. Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer weist darauf hin, dass auch totalitäre Regime sich auf eine angebliche Volksherrschaft berufen, dabei aber Volkssouveränität monistisch und substanzialistisch verstehen. In Demokratien dagegen werde Volk als eine Vielheit von Individuen und Gruppen angesehen, die sehr unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen hätten.Die Exklusivität dieses Staatsvolks, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass Ausländern das Wahlrecht verweigert wird, wird begründet mit seiner qualifizierten Verbundenheit: Wer den Staat gemeinsam trage, solle mit diesem in einer politischen Schicksalsgemeinschaft untrennbar verbunden sein. Die Definition der Staatsangehörigkeit erfolgt durch die Verfassung des jeweiligen Staates. Sie wird nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) oder nach dem Ortsprinzip (ius soli) gewährt. In den meisten Staaten gilt eine Kombination von beiden. Die Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk kann auch durch Einbürgerung erfolgen. Sie hat den Zweck, „dass eine tendenzielle Kongruenz von Staatsgebiet und Staatsvolk erhalten bleibt“.Das Völkerrecht setzt die Existenz von Völkern als gegebene soziale Grundtatsache voraus; es kennt jedoch keinen einheitlichen Volksbegriff, sondern sieht im Volk als Rechtsbegriff einen persistierenden Personenverband. Geht – wie in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes festgelegt – die Staatsgewalt „vom Volke“ aus, spricht man im verfassungstheoretischen Sinne von Volkssouveränität. Nach diesem Prinzip ist auch aus völkerrechtlicher Sicht vor allem entscheidend, dass das Volk von Verfassungs wegen als eigentlicher Inhaber der Staatsgewalt und mithin als pouvoir constituant angesehen wird. Die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich aus einem Rechtssatz ergebende Selbstbestimmung und Volkssouveränität bilden hierbei eine Einheit.
=== Nation ===
Volk im Sinne von Nation wird in politischen Begriffen wie Völkerrecht oder Völkerbund verwendet. Die Wörter Volk und Nation sind im Deutschen semantisch nicht klar voneinander abgegrenzt und können folglich nicht trennscharf unterschieden werden. Laut Peter Brandt ist eine plausible terminologische Scheidung der beiden Begriffe nie gelungen. Der Rechtswissenschaftler Thilo Ramm sieht den Unterschied zwischen beiden Begriffen darin, dass Nation weniger missverständlich sei. Er sei klar mit innerer und äußerer Unabhängigkeit und Freiheit konnotiert, die Nation sei „das souveräne Volk“. Der amerikanische Soziologe Michael Banton definiert das deutsche Wort Volk als „kulturelle Gruppe“ und „Möchtegern-Nation“ (“would-be nation”).In der Frage, was eine Nation definiert, ist Volk idealtypisch der Gegenbegriff zu Staatsnation: In diesem Konzept wird wie zum Beispiel im französischen Staatsdenken angenommen, dass die Zugehörigkeit zur Nation auf einem subjektiven Willensakt beruht (→ Willensnation). Im politischen Diskurs in Deutschland und anderswo folgte man dagegen lange dem Konzept der Volksnation: Diese beruhe auf der Zugehörigkeit zum Volk, dem somit eine objektive Substanz unterstellt wurde, die als vorpolitisch gegeben angenommen wurde. Da eine ethnische Homogenität aufgrund nur selten oder gar nicht vorhandener äußerer körperlicher Merkmale einer gemeinsamen Abstammung schwer plausibel zu machen ist, definierte man Volksnationen auch über kulturelle Eigenschaften wie Religion, Sprache oder Schicksalsgemeinschaft. Wenn das so definierte Volk nicht in einem kompakten Siedlungsblock, sondern territorial verstreut siedelte, ergaben sich aus dem Konzept der Volksnation immer wieder Schwierigkeiten für die Angehörigen anderer ethnischer Gruppen, die als Minderheit diskriminiert wurden. In Mittel- und Südosteuropa war dies regelmäßig der Fall. Die Berufung auf angeblich objektiv vorgegebene Bestimmungen eines Volkes ist aber selber das Ergebnis eines subjektiven Willensakts. Den deutschen emphatischen Begriffen Volk, Volksgeist, völkisch bzw. volklich stehen im Französischen die Begriffe nation, nationalité, esprit national und national weitgehend gleichbedeutend gegenüber.Langewiesche weist auf mediävistische Forschungen hin, nach denen die Ethnogenese der Herrschaftsbildung folgt, nicht vorangeht. Völker entstehen demnach in Staaten, sie sind jünger als diese. Die Vorstellung, das Volk sei „ewig“ und werde erst im Laufe seiner Entwicklung eine Nation, die sich einen Staat schaffe, sei ein Mythos.Ein politisches System, das sich, anders als der ethnisch-kulturell definierte Nationalstaat, aus mehreren Völkern zusammensetzt, nennt man Vielvölkerstaat. Beispiele für Vielvölkerstaaten sind etwa Österreich-Ungarn, die Sowjetunion, Jugoslawien, die Vereinigten Staaten, Kanada oder die Schweiz. Die einzelnen Völker solcher Staaten werden auch als Nationalitäten bezeichnet. Vielvölkerstaaten tragen ein besonderes Konfliktpotenzial in sich, wenn die Partizipationsrechte der Nationalitäten ungleich verteilt sind. Als Lösungsmöglichkeiten hierfür gelten Multikulturalismus, Föderalismus oder Sezession.In der Sowjetunion wurde seit der Stalin-Ära versucht, dies Problem mit einem „Sowjetpatriotismus“ zu lösen, der jedes kulturelle Kollektivbewusstsein überwölben sollte. Die Sowjetunion selbst fungierte dabei als Nation oder Vaterland, wie etwa in „Großer Vaterländischer Krieg“ (russisch Вели́кая Оте́чественная война́, Welikaja otetschestwennaja wojna), der Propagandabezeichnung für den deutsch-sowjetischen Krieg 1941–1945, die beteiligten ethnischen und sprachlichen Gruppen hießen Völker. Die Termini Nationen oder Nationalitäten wurden für sie vermieden. Bildungs- und Kaderpolitik trugen zur Ausbildung eines integrierten Gesamtstaatsbewusstseins bei. Die russische Hegemonie wurde in der Metapher „Brüdervölker“ eskamotiert, wobei die Russen die „älteren Brüder“ waren.In der Volksrepublik China gibt es seit den 1980er Jahren offiziell nur eine chinesische Nationalität (中华民族, Zhōnghuá Mínzú). Alle Völker Chinas sind seitdem weniger eigenständige Völker eines Vielvölkerstaats, sondern mehr als ethnische Gruppen einer gemeinsamen Nationalität zu verstehen, so auch das Han-Volk. Jedoch wird diese gemeinsame Nationalität, welche von den Han-Chinesen dominiert wird, von Tibetern, Uiguren und Mongolen als Herabsetzung wahrgenommen, da sie sich als Völker mit einem Recht auf Selbstbestimmung betrachten.
=== Bevölkerung ===
Im Unterschied zu Volk meint das Wort Bevölkerung die real zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Territorium ansässigen Menschen, unabhängig von ihrer zugeschrieben oder selbstdefinierten Gruppenzugehörigkeit. Bereits 1935 mahnte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht (1898–1956), statt vom Volk besser von der Bevölkerung zu sprechen: Dann unterstütze man „schon viele Lügen nicht“ und nehme dem Wort seine „faule Mystik“. In einer Bevölkerung gebe es, anders als in einem Volk, immer unterschiedliche, teils divergierende Interessen. Diese Wahrheit werde durch den Gebrauch des Wortes Volk unterdrückt.Bevölkerung und Volk fallen zahlenmäßig oft deutlich auseinander. Noch in den 1990er Jahren hatte ein erheblicher Anteil der deutschen Bevölkerung (in manchen Großstädten bis zu 20 %) kein Wahlrecht und keine politischen Partizipationsmöglichkeit. Den so genannten Gastarbeitern und ihren Nachkommen wurde die Einbürgerung verwehrt, ihre Interessen wurden stattdessen durch Ausländerbeauftragte wahrgenommen.Hans Haacke installierte auf Beschluss des Deutschen Bundestags im Jahr 2000 im Innenhof des Reichstagsgebäudes sein Kunstwerk Der Bevölkerung in weißen Neonlichtbuchstaben. Es korrespondiert mit der Inschrift Dem deutschen Volke auf dem Architrav des Westportals und soll „zum Nachdenken und zu Diskussionen über Rolle und Selbstverständnis des Parlamentes“ anregen.
=== Ethnie ===
Der Soziologe Michael Bommes definiert Ethnien als „Völker ohne Staaten“, wohingegen Nationen „Völker mit Staaten“ seien. Bisweilen werden Volk und Ethnie auch parallel im Sinne einer ethnischen Gruppe gebraucht. Versuche, Menschen von außen auf ihre Zugehörigkeit zu einem „Volk“ im ethnischen Sinn amtlich festzulegen, werden im Zuge der Anerkennung nationaler Minderheiten heute oft abgewiesen. So heißt es im deutsch-dänischen Abkommen vom 29. März 1955: „Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und zur deutschen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.“ und im Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen: „Zum sorbischen Volk gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei. Es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Aus diesem Bekenntnis dürfen keine Nachteile erwachsen.“ In anderen Staaten ist es üblich, in Volkszählungen nach der ethnischen Zugehörigkeit zu fragen, so etwa in Israel, Kanada und den USA. Beim US-amerikanischen Zensus werden die Selbsteinschätzung der race sowie Herkunft und Sprache abgefragt, um jemanden als Hispanic kategorisieren zu können. Die Hispanistin Jennifer Leeman spricht von einer „ethnisch-rassischen Klassifizierung“ (clasificación etnoracial).In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden zum Teil noch bis heute von der Staatsangehörigkeit abweichende Nationalitäten in amtlichen Personaldokumenten geführt. Für das Gebiet des heutigen Russland wurde die bisherige, z. B. durch Abstammung von den Eltern begründete Volkszugehörigkeit ab 1991 von einer wohnortbezogenen Regelung abgelöst. Dadurch wurde die Einbürgerung von Menschen aus den Nachfolgestaaten eingeschränkt, obwohl diese sich teilweise auch als ethnische Russen verstanden.In der soziologischen oder ethnologischen Klassifizierung gelten Ethnien heute mitunter als kleinste Einheit und Völker als übergeordnete Einheit: Volk kann demnach als klassifizierender Überbegriff für mehrere Ethnien verwendet werden, die sich als Gesamtgesellschaft verstehen. Während die Ethnie auf einem „intuitiven Selbstverständnis einer gemeinsamen Identität“ beruhe, sei es beim Volk eher ein „vom Willen abhängiges Selbstverständnis einer gemeinsamen historischen Identität“, das in der Staatsangehörigkeit seinen rechtlichen Ausdruck finden kann. Der Begriff wird aber auch kritisiert, weil er die längst dekonstruierten Ideen eines „Volksgeistes“ oder einer „völkischen Eigenart“ als vermeintlich empirische Realitäten wieder in den sozialwissenschaftlichen Diskurs reimportiere.Einen groben Überblick der Völker der Erde im ethnisch-kulturellen Sinne bietet das Konzept der Kulturareale. Nicht existente Völker finden sich in Sagen und in der Mythologie.
=== Stamm ===
In der älteren Ethnologie war der Begriff Stamm weit verbreitet. Darunter wurden vorstaatliche Verbände sprachlich und kulturell verwandter Menschen verstanden, die durch Herkunft und das gemeinsam bewohnte Territorium verbunden seien. Sie verfügten über ein gemeinsames Verständnis von Rechten und Pflichten, ein engerer Zusammenschluss sei aber nur zum Zweck der Territorialverteidigung möglich. Als Beispiel für Stämme galten Lineage-Verbände wie die Nuer. Der Begriff formte sich im Mittelalter anhand von Berichten der Bibel (Zwölf Stämme Israels), aus antiken Quellen und arabischen Chroniken. Seit der europäischen Expansion wurde der Begriff auf zahlreiche indigene Völker außerhalb Europas angewandt. In Europa selbst wurden als Stämme nur wenige Minderheiten wie die Samen und Sinti und Roma bezeichnet. Der Begriff ist mit Rückständigkeit und Primitivität assoziiert und diente der Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus. Es gab aber auch Stimmen, die dem Leben in Stämmen eine besondere Freiheit zuschrieben.Der amerikanische Ethnologe Morton Fried bemerkte 1967, dass sich Stämme oft erst in staatlichen Kontexten herausbilden. In den letzten Jahren kam der Begriff daher zunehmend außer Gebrauch, auch weil die so bezeichneten Gruppen linguistisch und sozial häufig keine klar abgrenzbaren Einheiten darstellen. Stattdessen spricht man von Ethnien. Stamm, englisch tribe, ist bis heute Teil der Rechtssprache in mehreren Staaten Nordamerikas, Australiens und Südasiens. Auch wenn für die so bezeichneten Menschengruppen häufig als Indigene bezeichnet werden, spielt das Wort in der Debatte um deren Rechte eine Rolle.In der Geschichtswissenschaft war lange die Vorstellung verbreitet, das deutsche Volk sei aus mehreren frühmittelalterlichen Großstämmen entstanden.
=== Gesellschaft ===
Ähnlich wie Volk kann auch der Begriff Gesellschaft Personen bezeichnen, die dauerhaft an einem Ort zusammenleben, um individuelle und gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen. Francis benutzte ihn daher in seiner Definition für Volk. Dagegen wendet Friedrich Heckmann ein, dass in der Gegenwart damit staatlich verfasste Gesellschaften bezeichnet würden. Im Unterschied dazu könnten aber die Relationen zwischen Volk und Staat ganz verschieden sein. So gebe es Völker, die in mehreren Gesamtgesellschaften und nicht bloß in einer lebten.Die Vorstellung eines Volks als Gesellschaft steht im Widerspruch zur Idee der Volksgemeinschaft, die nicht nur bei den Nationalsozialisten, sondern bis in die 1930er Jahre auch bei deutschen Liberalen wie Friedrich Naumann (1860–1919) und schwedischen Sozialdemokraten (Folkhemmet) verbreitet war. Sie knüpft an die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft an, die der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) bereits 1887 entwickelt hatte.
=== Völkerrechtssubjekt ===
Das Völkerrecht beschäftigt sich, anders als der irreführende Name andeutet, nicht mit den Rechtsbeziehungen zwischen Völkern, sondern mit denen zwischen Staaten und anderen Subjekten, die Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sind. Völker selbst sind keine Völkerrechtssubjekte, auch wenn der seit 1948 im Völkerstrafrecht verankerte Straftatbestand des Völkermordes in diese Richtung weist. Ob das in der Charta der Vereinten Nationen und anderen internationalen Verträgen garantierte Selbstbestimmungsrecht der Völker einen Rechtsanspruch auf Autonomie oder Sezession gewährt oder ob es sich lediglich um eine politische Leitlinie handelt, ist in der Fachliteratur umstritten.
=== Religion ===
Das Wort Volk spielt in vielen Religionen eine Rolle. Im Judentum ist das Konzept des auserwählten Volkes zentral. Nach JHWHs Verheißung an Abraham, er habe ihn zum „Vater vieler Völker“ gemacht (Gen 17,5 ), ist vor allem der Bundesschluss am Berg Sinai von Bedeutung, in dem Gott den Israeliten zusagt, sie würden bei Einhaltung seiner Gebote „mein Eigentum sein vor allen Völkern“ (Ex 19,5 ). Das Hebräische unterscheidet hier zwischen עם (`am, in der Septuaginta λαός laós), das zur Selbstbezeichnung des Volk Israels benutzt wird, und den גּוֹיִם gôjim (in der Septuaginta ἔθνη éthnē), den Völkern außerhalb des Bundes, den Heiden.Das Christentum hob diesen Exklusivitätsanspruch auf: Nach Gal 3,26-29 sind alle, die an Jesus Christus glauben und getauft sind, „Kinder Gottes“ und „Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben“, unabhängig von Volkszugehörigkeit, Rechtsstatus und Geschlecht. Die Vorstellung vom Volk Gottes wurde übernommen und auf die Kirche übertragen. Augustinus etwa beschrieb sie in De civitate Dei als wanderndes Gottesvolk, eine Metapher, die das Zweite Vatikanische Konzil 1964 in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium aufgriff.
Gleichwohl gab es immer wieder christliche Stimmen, die eine Sonderstellung des eigenen Volkes vor Gott beanspruchen zu können glaubten. Der deutsche Theologe Friedrich Schleiermacher (1768–1834) erklärte in einer Predigt während der Befreiungskriege 1813: Im deutschen Protestantismus wurde nach dem Ersten Weltkrieg der Begriff Volk von Theologen wie Paul Althaus, Emanuel Hirsch und Friedrich Gogarten sogar ins Zentrum theologischen Denkens gerückt. Unter der Devise „Gott und Volk“ trat das Heil des Volkes an die Stelle der Erlösung des Einzelmenschen. In der Konservativen Revolution und im Nationalsozialismus knüpfte man an biblische Vorstellungen eines von Gott auserwählten Volkes an und identifizierte die Deutschen damit. Volk wurde somit zum Gegenstand einer politischen Religion. Solche völkischen Religionen gab es nur im deutschsprachigen Raum des 19. und 20. Jahrhunderts. Gegen eine solche Verabsolutierung des eigenen Volkes, wie sie die Deutschen Christen betrieben, wandte sich 1934 die Barmer Erklärung der Bekennenden Kirche. Diese Absolutsetzung gilt heute als überwunden. In der Gegenwart ist das Phänomen Volk für die Kirchen noch insofern von Bedeutung, als es den Handlungsrahmen definiert, innerhalb dessen sie predigen, Seelsorge und Diakonie betreiben und Zeugnis ablegen gegenüber „allem Volk“.Der Islam richtet sich nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an alle Menschen. Einer seiner zentralen Begriffe ist Umma (arabisch أمة), was Volk oder Gemeinschaft bedeuten kann. Damit wird zweierlei bezeichnet: Zum einen hat Allah nach dem Koran (Sure 35, Vers 24) an jedes Volk einen eigenen Propheten gesandt. Mohammed aber als „Siegel der Propheten“ wurde nicht nur zu seinem eigenen Volk, den Arabern, gesandt, sondern zur ganzen Menschheit. Zum andern bedeutet Umma die Gemeinschaft aller Muslime, wie Mohammed sie 622 in Medina schuf: Sie ist sowohl eine religiöse als auch eine politische Assoziation – wie der amerikanische Islamwissenschaftler Francis Edward Peters formuliert, sowohl eine „Kirche“ als auch ein „Staat“. An der Spitze der Umma stand bis zur Abschaffung des Amtes 1924 der Kalif, doch war seine weltliche Macht auch vorher nie unbestritten. Viele Muslime sehen heute die Wiederherstellung der Umma in ihrer ursprünglichen Form als wichtiges Ziel an.
== Literatur ==
Peter Brandt: Volk. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001, S. 1080–1090 (online).
Peter Brandt: Volk. In: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 6: Volk–Zweites Vatikanisches Konzil. Herder, Freiburg 2022, ISBN 978-3-451-39516-1, Sp. 1–9 (online).
Franz-Josef Deiters: Auf dem Schauplatz des „Volkes“. Strategien der Selbstzuschreibung intellektueller Identität von Herder bis Büchner und darüber hinaus. Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2006.
Emerich K. Francis: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie. Duncker & Humblot, Berlin (West) 1965.
Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-60111-8.
Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Karl Ferdinand Werner: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, ISBN 3-12-903912-0, S. 141–431.
M. Rainer Lepsius: „Ethnos“ oder „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die europäische Einigung. In: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen. Westdeutscher Verlag, Opladen 1990, ISBN 978-3-531-11879-6, S. 247–255.
Martin Schaffner: Furcht vor dem Volk. Schwabe Verlag, Basel 2020, ISBN 978-3-7965-4003-5.
Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer: Volk. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14: Vater–Wirtschaftswachstum. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, S. 376–384 (doi:10.1163/2352-0248_edn_COM_375140).
Jens Wietschorke: Volk. In: Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hrsg.): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar. Böhlau, Wien 2022, ISBN 978-3-205-21272-0, S. 271–277.
Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburger Edition, Hamburg 2017, ISBN 978-3-86-854309-4.
Georg Zenkert: Individuum und Demos. Das Volk im demokratischen Verfassungsstaat. Nomos, Baden-Baden 2022, ISBN 978-3-7489-3348-9.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Volk |
Sunniten | = Sunniten =
Die Sunniten (arabisch أهل السنة, DMG ahl as-sunna ‚Leute der Sunna‘) bilden die größte Glaubensgruppe im Islam. Ihre Glaubensrichtung selbst wird als Sunnitentum oder Sunnismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist von dem arabischen Wort Sunna (‚Brauch, Handlungsweise, überlieferte Norm, Tradition‘) abgeleitet. Die Sunniten sehen sich als diejenigen, die der sunnat an-nabī, der „Sunna des Propheten“ (Mohammed), folgen. Neben ahl as-sunna wird im Arabischen auch häufig der erweiterte Ausdruck ahl as-sunna wal-ǧamāʿa („Leute der Sunna und der Gemeinschaft“) verwendet. Wenn die Sunniten als Kollektiv der Schia gegenübergestellt werden, werden sie manchmal auch nur als as-Sunna („die Sunna“) bezeichnet. Im Bereich der Normenlehre und der Dogmatik gibt es unter den Sunniten mehrere Lehrrichtungen. Über die Frage, welche dogmatischen Lehrrichtungen dem Sunnitentum angehören, besteht unter den muslimischen Gelehrten allerdings keine Einigkeit. Die sunnitischen Glaubenslehren werden in verschiedenen Glaubensbekenntnissen dargestellt, die sich jedoch in Einzelheiten je nach dogmatischer Ausrichtung der Autoren unterscheiden.
Heute gelten die Schiiten als die wichtigste Gegengruppe zu den Sunniten, allerdings hat sich das sunnitische Selbstbewusstsein im Mittelalter nicht nur in Absetzung zu den Schiiten, sondern auch zu den Charidschiten, Qadariten und Murdschi'iten herausgebildet. Die Sunniten verstehen sich hierbei als „die gerettete Sekte“ (al-firqa an-nāǧiya) und die Mitte der Muslime. Seit Ende des 20. Jahrhunderts gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen den Aschʿariten und den Salafisten, die sich gegenseitig aus dem Sunnitentum ausschließen. Die Rivalität zwischen den beiden Gruppen wurde auch auf zwei Sunnitenkonferenzen im Jahre 2016 sichtbar: Während bei der Sunnitenkonferenz von Grosny im August 2016 die Takfīr betreibenden Salafisten, darunter auch die IS-Organisation, aus dem sunnitischen Islam ausgeschlossen wurden, fand wenige Monate später in Kuweit eine zweite Sunnitenkonferenz statt, bei der der Salafismus zur einzig wahren Form des Sunnitentums erklärt wurde.
== Verbreitung ==
Nach Schätzungen des Pew Research Center aus dem Jahre 2009 sind 87–90 % aller Muslime weltweit Sunniten. Sunniten stellen in den meisten islamischen Ländern die Mehrheit der Muslime (siehe Liste der Länder nach muslimischer Bevölkerung), allerdings hat eine Umfrage des Pew Research Center von 2012 ergeben, dass die sunnitische Identität bei der muslimischen Bevölkerung nicht in allen diesen Ländern gleich stark ausgeprägt ist. Bei dieser Umfrage wurden Muslime aufgefordert, sich selbst einer der folgenden Kategorien zuzuordnen: „sunnitisch“, „schiitisch“ oder „etwas anderes“. Während sich in Jordanien, Bangladesch und Afghanistan, Türkei und Ägypten rund 90 % Prozent der Muslime als Sunniten betrachten, war dieser Anteil in Ländern wie Kasachstan (16 %), Usbekistan (18 %), Mali (20 %), Indonesien (26 %) und Nigeria (38 %), die ebenfalls als Länder mit sunnitischer Bevölkerungsmehrheit gelten, erheblich geringer. Viele befragte Muslime lehnten es dort ab, sich einer speziellen konfessionellen Gruppe zuzuordnen, und sagten bei der Befragung von sich aus, dass sie „nur Muslime“ seien.Die einzigen Länder, in denen die Sunniten auch statistisch nicht die größte muslimische Bevölkerungsgruppe stellen, sind Irak, Iran, Oman, Libanon, Aserbaidschan und Bahrain. Im Irak gehören fast zwei Drittel der Bevölkerung der Zwölfer-Schia an, doch gibt es auch Regionen wie das Sunnitische Dreieck im Nordwesten des Landes, in denen die Sunniten die Bevölkerungsmehrheit stellen. In Iran stellen die Sunniten ungefähr 9 % der Bevölkerung. Die meisten Sunniten gehören den Volksgruppen der Kurden, Belutschen und Turkmenen an und leben in den nordwestlichen und südöstlichen Grenzregionen des Landes, allerdings gibt es auch unter den Persern und Arabern Sunniten. In Bahrain sind ca. 75 % der Bevölkerung schiitisch, doch wird das politische Leben seit dem 18. Jahrhundert von wenigen tribalen sunnitischen Familien beherrscht.Nach Angabe von REMID leben in Deutschland ungefähr 2,64 Millionen Sunniten. Nach dem Religionsmonitor 2017 der Bertelsmann Stiftung, die sich auf Befragungen von Muslimen stützt, liegt der Anteil der Sunniten unter den Muslimen in Deutschland bei 61 %. Bei einer Gesamtzahl von 4,4 bis 4,7 Millionen Muslimen in Deutschland ergibt dies eine Gesamtzahl von 2,684 bis 2,867 Millionen Sunniten. In Österreich liegt der Anteil der Sunniten unter den Muslimen nach dem Religionsmonitor bei 64 % (in absoluten Zahlen: ca. 320.000), in der Schweiz bei 51 % (in absoluten Zahlen: 172.380). In Vereinigten Königreich liegt der Anteil der Sunniten bei 75 % (entspricht 2,25 Millionen), in Frankreich bei 52 % (entspricht 2,756 Millionen).
== Lehrrichtungen ==
=== Im Bereich der Normenlehre ===
Im Bereich der Normenlehre (Fiqh) werden heute allgemein vier Lehrrichtungen als sunnitisch anerkannt, nämlich diejenigen der Hanafiten, der Mālikiten, der Schāfiʿiten und der Hanbaliten. Unterschiede zwischen diesen Lehrrichtungen zeigen sich nicht nur bei rechtlichen Fragen, sondern auch auf ritueller Ebene, so zum Beispiel beim rituellen Gebet und den Reinheitsbestimmungen.
Diese Vierer-Zahl stand allerdings keineswegs schon immer fest. So rechnete zum Beispiel ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037) neben diesen vier Gruppen auch die Anhänger von al-Auzāʿī (gest. 774), Sufyān ath-Thaurī (gest. 778), Ibn Abī Lailā (gest. 765) und Abū Thaur (gest. 854) sowie die Zahiriten zu den Sunniten. Das System von vier sunnitischen Lehrrichtungen im Fiqh lässt sich bis ins späte 12. Jahrhundert zurückverfolgen. In dieser Zeit berichtet der andalusische Reisende Ibn Dschubair von „vier sunnitischen Imamen“ im Haram von Mekka, die dort eigene Gebetsgruppen anführten.
=== Im Bereich der Glaubenslehre ===
==== Die Lehre von den drei Gruppen ====
Hinsichtlich der Frage, welche dogmatischen Richtungen den Sunniten zuzurechnen sind, besteht unter den muslimischen Gelehrten keine Einigkeit. Seit der frühen Neuzeit ist die Vorstellung nachweisbar, dass insgesamt drei Gruppen den Sunniten zugehören: 1. die nach Abū l-Hasan al-Aschʿarī (gest. 935) benannten Aschʿariten, 2. die nach Abū Mansūr al-Māturīdī (gest. 941) benannten Māturīditen und 3. eine unterschiedlich benannte dritte Gruppe, die traditionalistisch orientiert ist und die von Māturīditen und Aschʿariten befürwortete rationale Spekulation des Kalām ablehnt. Der syrische Gelehrte ʿAbd al-Bāqī Ibn Faqīh Fussa (gest. 1661) bezeichnet diese dritte traditionalistische Gruppe als Hanbaliten. Sein ein Jahrhundert später lebender Landsmann Muhammad ibn Ahmad as-Saffārīnī (gest. 1774) verwendet für sie den Namen Atharīya, der von dem arabischen Wort für die tradierten Überlieferungen (āṯār) abgeleitet ist; allerdings meint er damit ebenfalls die Anhänger von Ahmad ibn Hanbal.Der spätosmanische Denker İsmail Hakkı İzmirli (gest. 1946), der ebenfalls die Lehre von den drei Gruppen des Sunnitentums vertrat, nannte die traditionalistische Gruppe Salafīya, verwendete als Alternativnamen aber auch Atharīya. Bei der Māturīdīya gibt er Nasafīya als einen möglichen Alternativnamen an.Ein weiterer Name, der für die traditionalistisch orientierte Gruppe verwendet wird, ist „Leute des Hadith“ (ahl al-ḥadīṯ). Er wird zum Beispiel im Abschlussdokument der Konferenz von Grosny verwendet. Allerdings wird hier nur denjenigen „Leuten des Hadith“ die Zugehörigkeit zum Sunnitentum zugesprochen, die tafwīḍ betreiben, also bei den mehrdeutigen Aussagen des Korans auf Interpretation verzichten.
==== Engere Definitionen ====
Daneben gab es muslimische Gelehrte, die den Sunniten-Begriff allein auf die Aschʿariten und Māturīditen beschränken wollten. So schrieb zum Beispiel Murtadā az-Zabīdī (gest. 1790) in seinem Kommentar zu al-Ghazālīs Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn: „Wenn [sc. der Begriff] ahl as-sunna wal-ǧamāʿa verwendet wird, dann sind damit die Aschʿariten und Māturīditen gemeint.“ Diese Position wurde im Juli 2013 auch vom Ägyptischen Fatwa-Amt übernommen. In osmanischer Zeit wurden viele Bemühungen unternommen, zwischen den Lehren der Aschʿarīya und der Māturīdīya weitgehende Harmonie herzustellen.Schließlich gab es die Sichtweise, dass allein die Aschʿariten Sunniten sind. So schreibt Averroes (gest. 1198) in seiner Abhandlung al-Kašf ʿan manāhiǧ al-adilla fī ʿaqāʾid al-milla („Enthüllung der Beweismethoden hinsichtlich Glaubenssätze der Gemeinschaft“), dass von den zahlreichen Gruppen, in die die islamische Gemeinschaft in seiner Zeit zerfallen sei, die Aschʿariten diejenigen seien, die die meisten Menschen für die Sunniten (ahl as-sunna) hielten. Später erklärte der marokkanische Sufi Ahmad ibn ʿAdschība (gest. 1809) in seinem Kommentar zur Fātiha: „Was die Sunniten betrifft, so sind es die Aschʿariten und diejenigen, die ihnen in ihrer richtigen Glaubensüberzeugung folgen.“ Allerdings gab es umgekehrt auch Gelehrte, die die Aschʿariten aus dem Sunnitentum ausschlossen. So meinte Ibn Hazm (gest. 1064), dass Abū l-Hasan al-Aschʿarī den Murdschi'a zugehöre, und zwar denjenigen, die den Sunniten glaubensmäßig besonders fernständen.
==== Sunniten im allgemeinen und im speziellen Sinne ====
Der hanbalitische Gelehrte Ibn Taimīya (gest. 1328) unterschied in seinem Werk Minhāǧ as-sunna zwischen Sunniten im allgemeinen Sinne (ahl as-sunna al-ʿāmma) und Sunniten im speziellen Sinne (ahl as-sunna al-ḫāṣṣa). Sunniten im allgemeinen Sinne sind nach ihm alle Muslime, die das Kalifat der drei Kalifen (sc. Abū Bakr, ʿUmar ibn al-Chattāb und ʿUthmān ibn ʿAffān) anerkennen. Dazu gehören seiner Auffassung nach alle islamischen Gruppen außer den schiitischen Rāfiditen. Sunniten im speziellen Sinne sind nur die „Leute des Hadith“ (ahl al-ḥadīṯ).İsmail Hakkı İzmirli, der die Unterscheidung zwischen einem weiteren und engeren Kreis von Sunniten von Ibn Taimīya übernahm, meinte, dass die Kullābīya und die Aschʿarīya die Sunniten im allgemeinen Sinne seien, während die Salafīya die Sunniten im speziellen Sinne darstellten. Von der Māturīdīya sagt er nur, dass sie der Salafīya näher stände als die Aschʿarīya, weil es eine Gruppe sei, die sich stärker im Fiqh als im Kalām hervortue. Der saudische Gelehrte Muhammad Ibn al-ʿUthaimīn (gest. 2001), der wie Ibn Taimīya zwischen Sunniten im allgemeinen und speziellen Sinne unterschied, schloss die Aschʿariten ebenfalls aus dem Kreis der Sunniten im speziellen Sinne aus und vertrat die Auffassung, dass nur die frommen Altvorderen (as-salaf aṣ-ṣāliḥ), die sich auf die Sunna geeinigt haben und an ihr festhalten, zu diesem Kreis gehörten.
==== Die Einordnung des Sufismus ====
Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass auch die Sufis dem Sunnitentum zuzurechnen sind. Diese Auffassung findet sich bereits bei dem schāfiʿitischen Gelehrten ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037). Er teilte in seinem häresiographischen Werk al-Farq baina l-firaq die Sunniten insgesamt in acht verschiedene Kategorien (aṣnāf) von Menschen ein: 1. die Theologen und Kalām-Gelehrten, 2. die Fiqh-Gelehrten, 3. die Traditions- und Hadith-Gelehrten, 4. die Adab- und Sprachgelehrten, 5. die Koran-Gelehrten, 6. die sufischen Asketen (az-zuhhād aṣ-ṣūfīya), 7. diejenigen, die den Ribāt und Dschihad gegen die Feinde des Islams durchführen, 8. die allgemeine Volksmenge. Nach dieser Einteilung sind die Sufis eine von insgesamt acht entsprechend ihrer religiösen Spezialisierung definierten Gruppen innerhalb des Sunnitentums.
Auch der tunesische Gelehrte Muhammad ibn al-Qāsim al-Bakkī (gest. 1510) bezieht die Sufis in das Sunnitentum ein. Er unterteilte die Sunniten entsprechend ihrer Wissensgewinnung (istiqrāʾ) in die folgenden drei Gruppen:
die Leute des Hadith (ahl al-ḥadīṯ): Ihre Prinzipien stützen sich auf die hörbasierten Beweise, nämlich das Buch, die Sunna und den Idschmāʿ.
die Leute der Theorie und des intellektuellen Gewerbes (ahl an-naẓar wa-ṣ-ṣināʿa al-fikrīya): Zu ihnen gehören die Aschʿariten und die Hanafiten, wobei letztere Abū Mansūr al-Māturīdī als ihren Meister ansehen. Sie stimmen in den rationalen Prinzipien bei allen Fragen überein, bei denen es keinen hörbasierten Beweis gibt, in den hörbasierten Prinzipien bei allem, was die Vernunft nur als möglich begreift, und in den rationalen wie auch den hörbasierten Prinzipien bei allen anderen Fragen. Außerdem stimmen sie bei allen dogmatischen Fragen überein, außer bei der Frage der Erschaffung (takwīn) und der Frage des Taqlīd.
die Leute des Empfindens und der Enthüllung (ahl al-wiǧdān wa-l-kašf): Das sind die Sufis. Ihre Prinzipien entsprechen im Anfangsstadium den Prinzipien der beiden anderen Gruppen, im Endstadium stützen sie sich aber auf Enthüllung (kašf) und Eingebung (ilhām).Auf ähnliche Weise erklärte Murtadā az-Zabīdī an einer anderen Stelle in seinem Kommentar zum Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, dass die Sunniten aus vier Gruppen (firaq) beständen, nämlich den Hadith-Gelehrten (muḥaddiṯūn), den Sufis, den Aschʿariten und den Māturīditen.Allerdings gab es auch muslimische Gelehrte, die die Sufis aus dem Sunnitentum ausschließen wollten. So erklärte der jemenitische Gelehrte ʿAbbās ibn Mansūr as-Saksakī (gest. 1284) in seinem doxographischen Werk al-Burhān fī maʿrifat ʿaqāʾid ahl al-adyān („Der Beweis zur Kenntnis der Glaubensüberzeugungen der Anhänger verschiedener Religionen“) über die Sufis: „Sie ordnen sich den Sunniten zu, doch gehören sie nicht zu ihnen, denn sie stehen in der Glaubensüberzeugung, den Handlungen und Lehren im Widerspruch zu ihnen.“ Das, wodurch sich die Sufis nach as-Saksakī besonders von Sunniten unterscheiden, ist ihre Orientierung am verborgenen inneren Sinn von Koran und Sunna. Darin gleichen sie seiner Meinung nach den Bātiniten. Nach dem Abschlussdokument der Konferenz von Grosny sollen nur diejenigen Sufis als Sunniten gelten, die im Wissen, der Ethik und der Läuterung des Inneren „Leute des reinen Sufismus“ (ahl at-taṣauwuf aṣ-ṣāfī) sind, nach der Methode, wie sie al-Dschunaid und die „Imame der Rechtleitung“ (aʾimma al-hudā), die seinem Weg folgten, praktiziert haben.
==== Die Einordnung der Muʿtazila ====
Die Muʿtaziliten werden üblicherweise nicht dem Sunnitentum zugerechnet. Ibn Hazm zum Beispiel stellte sie in seinem häresiographischen Werk al-Faṣl fi-l-milal wa-l-ahwāʾ wa-n-niḥal als eigene Gruppe den Sunniten gegenüber. Auch in vielen mittelalterlichen Texten aus dem islamischen Osten werden die Ahl as-Sunna von den Muʿtaziliten abgegrenzt. 2010 hat das jordanische Fatwa-Amt in einer Fatwa geurteilt, dass die Muʿtaziliten wie die Charidschiten eine dem Sunnitentum entgegengesetzte Lehre vertreten. Eine andere Meinung diesbezüglich vertrat hingegen Ibn Taimīya. Er meinte, dass die Muʿtaziliten den Sunniten im allgemeinen Sinne zugehören, weil sie das Kalifat der drei ersten Kalifen anerkennen. Diese Ansicht vertraten auch verschiedene moderne Gelehrte, die sich an den Lehren Ibn Taimīya orientieren, wie der bereits genannte Muhammad Ibn al-ʿUthaimīn. In Indonesien hat sich der Muhammadiyah-Gelehrte Djarnawi Hadikusuma (gest. 1993) dafür ausgesprochen, die Muʿtaziliten in das Sunnitentum einzuschließen.
== Begriffsgeschichte ==
=== Sunna ===
Der arabische Ausdruck Sunna, nach dem die Sunniten benannt sind, ist sehr alt und schon im vorislamischen Sprachgebrauch verwurzelt. Man hat damit den „Brauch“ bezeichnet, dem die Mehrheit der Menschen folgt. Größere politische Bedeutung erhielt der Begriff in der Zeit nach der Ermordung von ʿUthmān ibn ʿAffān. Mālik al-Aschtar, ein bekannter Gefolgsmann von ʿAlī ibn Abī Tālib, soll dessen Anhänger während der Schlacht von Siffin mit der Aussage angefeuert haben, dass ʿAlīs Gegner Muʿāwiya ibn Abī Sufyān die Sunna töte. In dem Schiedsspruch nach der Schlacht wurde vereinbart, dass „die gerechte Sunna, die vereinende, nicht die spaltende“ (as-sunna al-ʿādila al-ǧāmiʿa ġair al-mufarriqa) konsultiert werden sollte, um den Konflikt zu lösen. Ab wann der Begriff sunna als Kurzform für die „Sunna des Propheten“ (sunnat an-nabī) verstanden wurde, ist eine noch ungeklärte Frage. Während der Umaiyadenzeit haben mehrere politische Bewegungen, darunter schiitische und charidschitische, die gegen den sich formierenden Staat aufbegehrten, ihren Kampf im Namen „des Buch Gottes und der Sunna seines Propheten“ (kitāb Allāh wa-sunnat nabīyihī) geführt.Während des Zweiten Bürgerkriegs (680–92) erhielt der Sunna-Begriff eine anti-schiitische Ausrichtung. So wird von Masrūq ibn al-Adschdaʿ (gest. 683), der in Kufa als Mufti wirkte, überliefert, dass er es für einen Teil der Sunna hielt, die beiden ersten Kalifen Abū Bakr und ʿUmar ibn al-Chattāb zu lieben und ihren Vorrang zu kennen. Ein Schüler von Masrūq, der Gelehrte asch-Schaʿbī (gest. zwischen 721 und 729), der während des Bürgerkriegs zuerst auf der Seite der Schiiten von Kufa gestanden, sich dann aber angewidert von ihrem Fanatismus von ihnen abgewandt hatte und schließlich in den Dienst des umaiyadischen Kalifen ʿAbd al-Malik trat, popularisierte dieses Konzept von sunna. Von asch-Schaʿbī wird auch überliefert, dass er Anstoß an dem Hass der Kaisāniten auf ʿĀʾiša bint Abī Bakr nahm und diesen als einen Verstoß gegen die Sunna des Propheten verurteilte.In späterer Zeit wird der Ausdruck Sunna anstelle der längeren Ausdrücke ahl as-sunna bzw. ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa auch als Gruppenbezeichnung für die Sunniten verwendet. Üblicherweise geschieht dies dann, wenn die Sunniten als Konfessionsgruppe den Schiiten gegenübergestellt werden. So schreibt zum Beispiel schon Ibn al-Dschauzī (gest. 1200) in seiner Weltchronik al-Muntaẓam in seinem Eintrag zum Jahr 408 der Hidschra (= 1017 n.Chr.), dass in diesem Jahr „die Kämpfe zwischen Schia und Sunna“ (al-fitna bain aš-šīʿa wa-s-sunna) eskalierten. Später wurde sie unter anderem von dem panislamischen Denker Raschīd Ridā in seiner 1928/29 veröffentlichten Abhandlung as-Sunna wa-š-šiʿa au al-Wahhābīya wa-r-Rāfiḍa: Ḥaqāʾiq dīnīya taʾrīḫīya iǧtimaʿīya iṣlaḥīya („Sunna und Schia, oder Wahhabiten und Rāfiditen: religionsgeschichtliche, soziale und reformbezogene Tatsachen“) benutzt. Das Wortpaar Sunna-Schia wird auch in der westlichen wissenschaftlichen Literatur über den sunnitisch-schiitischen Gegensatz gerne verwendet.
=== Ahl as-Sunna ===
Einer der frühesten Belege für die Bezeichnung ahl as-sunna („Leute der Sunna“) stammt von dem basrischen Gelehrten Muhammad Ibn Sīrīn (gest. 728). Er wird im Ṣaḥīḥ von Muslim ibn al-Haddschādsch mit der Aussage zitiert: „Früher hat man nicht nach dem Isnād gefragt. Als aber die Fitna ausbrach, sagte man: ‚Nennt uns Eure Gewährsleute‘. Man schaute dann auf sie: Wenn es Leute der Sunna (ahl as-sunna) waren, übernahm man ihren Hadith. Wenn es aber Leute der Neuerungen (ahl al-bidaʿ) waren, übernahm man ihren Hadith nicht.“ G. H. A. Juynboll vermutet, dass das Wort Fitna in dieser Aussage nicht den ersten Bürgerkrieg (656–661) nach der Ermordung von ʿUthmān ibn ʿAffān meint, sondern den zweiten Bürgerkrieg (680–692), in dem die islamische Gemeinschaft in vier Parteien (ʿAbdallāh ibn az-Zubair, die Umayyaden, die Schiiten unter al-Muchtār ibn Abī ʿUbaid und die Charidschiten) zerfallen war. Der Begriff ahl sunna kennzeichnete in dieser Situation diejenigen, die sich von ketzerischen Lehren der verschiedenen Kriegsparteien fernhielten.Der Ausdruck ahl as-sunna war immer eine lobende Bezeichnung. Abū Hanīfa (gest. 767), der mit den Murdschi'a sympathisierte, bestand darauf, dass diese „Leute der Gerechtigkeit und Leute der Sunna“ (ahl al-ʿadl wa-ahl as-sunna) seien. Nach Josef van Ess bedeutete der Ausdruck damals nicht viel mehr als „honorige und rechtgläubige Menschen“. In hanafitischen Kreisen blieben die Bezeichnungen ahl as-sunna und ahl al-ʿadl („Leute der Gerechtigkeit“) noch lange miteinander austauschbar. So verwendete der Hanafit Abū l-Qāsim as-Samarqandī (gest. 953), der für die Samaniden einen offiziellen Katechismus verfasste, mal die eine und mal die andere Bezeichnung für die eigene Gruppe.Singular zu ahl as-sunna war ṣāḥib sunna („Anhänger der Sunna“). Diesen Ausdruck verwendete zum Beispiel ʿAbdallāh ibn al-Mubārak (gest. 797) für eine Person, die sich von schiitischen, charidschitischen, qadaritischen und murdschiitischen Lehren fernhielt. Daneben wurde für die einzelne Person auch das Nisba-Adjektiv sunnī verwendet. So wird überliefert, dass der kufische Korangelehrte Abū Bakr ibn ʿAiyāsch (gest. 809) einmal gefragt wurde, wer ein sunnī sei. Er soll daraufhin geantwortet haben: „Derjenige, der, wenn die Ketzereien erwähnt werden, sich für nichts davon begeistert.“ Der andalusische Gelehrte Ibn Hazm (gest. 1064) lehrte später, dass sich diejenigen, die sich zur Religion des Islams bekennen, insgesamt in vier Gruppen teilen: ahl as-sunna, Muʿtaziliten, Murdschiiten, Schiiten und Charidschiten. Die Muʿtaziliten sind hier an die Stelle der Qadariten getreten.
Im 9. Jahrhundert begann man, den Begriff ahl as-sunna mit positiven Zusätzen zu erweitern. Abū l-Hasan al-Aschʿarī benutzte für die eigene Gruppe gerne solche Wendungen wie ahl as-sunna wa-l-istiqāma („Leute der Sunna und Geradheit“), ahl as-sunna wa-l-ḥadīṯ („Leute der Sunna und des Hadith“) oder ahl al-ḥaqq wa-s-sunna („Leute der Wahrheit und der Sunna“).
=== Ahl as-Sunna wa-l-Dschamāʿa ===
Wann und wo die Wendung ahl as-sunna wal-ǧamāʿa („Leute der Sunna und der Gemeinschaft“) zum ersten Mal aufkam, ist nicht ganz klar. Der abbasidische Kalif Al-Ma'mūn (reg. 813–33) kritisierte in seinem ersten Mihna-Edikt eine Gruppe von Menschen, die „sich selber mit der Sunna in Verbindung brachten“ (nasabū anfusa-hum ilā s-sunna) und behaupteten, sie seien die „Leute der Wahrheit, der Religion und der Gemeinschaft“ (ahl al-ḥaqq wa-d-dīn wa-l-ǧamāʿa). Sunna und ǧamāʿa werden hier also schon in eine Verbindung gebracht. Als Paar kommen die beiden Begriffe im 9. Jahrhundert auch schon in Buchtiteln vor. So wird berichtet, dass der Ahmad-ibn-Hanbal-Schüler Harb ibn Ismāʿīl as-Sīrdschānī (gest. 893) eine Schrift mit dem Titel as-Sunna wa-l-ǧamāʿa erstellte, zu der der Muʿtazilit Abū l-Qāsim al-Balchī später eine Widerlegung verfasste. Abū ʿAlī al-Dschubbā'ī (gest. 916) berichtet in seinem Kitāb al-Maqālāt, dass Ahmad ibn Hanbal seinen Schülern das Prädikat sunnī ǧamāʿī („dschamāʿitischer Sunnit“) zuerkannte. Dies deutet darauf hin, dass die Hanbaliten die Wendung ahl as-sunna wal-ǧamāʿa als erste als Selbstbezeichnung verwendeten.Aber auch die von Muhammad ibn Karrām (gest. 859) begründete Karrāmīya berief sich auf Sunna und Gemeinschaft. Sie überlieferte zum Lob ihres Schulgründers einen Hadith, wonach der Prophet Mohammed vorausgesagt hatte, dass am Ende der Zeit ein Mann namens Muhammad ibn Karrām auftreten werde, der die Sunna und die Gemeinschaft (as-sunna wal-ǧamāʿa) wiederbeleben und eine Hidschra von Chorasan nach Jerusalem vollziehen werde, so wie er selbst eine Hidschra von Mekka nach Medina vollzogen habe. Nach dem Zeugnis des transoxanischen Gelehrten Abū l-Yusr al-Bazdawī (gest. 1099) sagten die Kullābiten, also die Anhänger des basrischen Gelehrten Ibn Kullāb (gest. 855), ebenfalls von sich, dass sie zu den ahl as-sunna wal-ǧamāʿa gehörten.Abū l-Hasan al-Aschʿarī verwendete den Ausdruck ahl as-sunna wal-ǧamāʿa kaum, sondern griff lieber auf andere Zusammensetzungen zurück. Spätere Aschʿariten wie al-Isfarā'īnī (gest. 1027) und ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1078) machten sich aber die Phrase ahl as-sunna wal-ǧamāʿa ebenfalls zu eigen und verwendeten sie in ihren Werken als Bezeichnung für die Lehren der eigenen Schule. Nach al-Bazdawī sagten zu seiner Zeit alle Anhänger al-Aschʿarīs von sich, zu den ahl as-sunna wal-ǧamāʿa zu gehören. Um diese Zeit war der Ausdruck aber auch schon zur Selbstbezeichnung der hanafitischen Māturīditen in Transoxanien geworden, vielfach verwendet von Abū l-Laith as-Samarqandī (gest. 983), Abū Schakūr as-Sālimī (gest. 1086) und al-Bazdawī selbst. Sie verwendeten den Begriff zur Abgrenzung von „Gegnern jeder Couleur“, darunter auch den Hanafiten im Westen, die Anhänger der Muʿtazila waren. Al-Bazdawī grenzte die ahl as-sunna wal-ǧamāʿa auch von den ahl al-ḥadīṯ ab, weil diese seiner Auffassung nach hinsichtlich des Korans abweichende Lehren vertraten.Nach Schams ad-Dīn al-Maqdisī (Ende 10. Jh.) war der Ausdruck ahl as-sunna wal-ǧamāʿa zu seiner Zeit eine lobende Bezeichnung, der auf einer ähnlichen Ebene wie der Ausdruck ahl al-ʿadl wa-t-tauḥīd („Leute der Gerechtigkeit und des Einheitsbekenntnisses“), der für die Muʿtaziliten benutzt wurde, oder allgemeinen Bezeichnungen wie Mu'minūn („Gläubige“) oder aṣḥāb al-hudā („Leute der Rechtleitung“) für Muslime, die als rechtgläubig betrachtet wurden. Da der Ausdruck ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa ebenfalls immer mit einem Anspruch auf Rechtgläubigkeit verbunden war, wird er in manchen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch mit Begriffen wie “the orthodox” oder „die Orthodoxie“ übersetzt.
Hinsichtlich der Frage, was der Begriff ǧamāʿa in der Phrase ahl as-sunna wal-ǧamāʿa genau bedeutet, gibt es unter den muslimischen Gelehrten unterschiedliche Auffassungen. In dem sunnitischen Glaubensbekenntnis von at-Tahāwī (gest. 933) wird ǧamāʿa mehrfach kontrastiv dem arabischen Begriff furqa („Spaltung, Sektierertum“) gegenübergestellt. So erklärt at-Tahāwī, dass man ǧamāʿa als wahr und richtig (ḥaqq wa-ṣawāb) betrachte, furqa dagegen als Abirrung und Strafe (zaiġ wa-ʿaḏāb). Ibn Taimīya meinte, dass ǧamāʿa als Gegenbegriff zu furqa die Bedeutung von iǧtimāʿ („Zusammenkommen, Zusammensein, Übereinkunft“) habe. Außerdem stellte er eine Verbindung zum Prinzip des Idschmāʿ her, das bei den Sunniten die dritte Rechtsquelle nach dem Buch (= Koran) und der Sunna bildet. Der osmanische Gelehrte Muslih ad-Dīn al-Qastallānī (gest. 1495) war dagegen der Auffassung, dass mit der ǧamāʿa in diesem Ausdruck der „Weg der Prophetengefährten“ (ṭarīqat aṣ-ṣaḥāba) gemeint sei. Der moderne indonesische Theologe Nurcholish Madjid (gest. 2005) deutete ǧamāʿa als ein inklusivistisches Konzept: Es sei damit eine Gemeinschaft gemeint, die offen für Pluralismus und Dialog sei und Differenzen zwischen den Muslimen nicht zu sehr betone.
== Sunnitische Bekenntnisschriften ==
Die Glaubenslehren der Sunniten werden in verschiedenen Bekenntnisschriften und Glaubensbekenntnissen festgehalten, die die wichtigsten Punkte in Form einer Liste nach Art eines Katechismus zusammenfassen. Die einzelnen Lehrpunkte unterscheiden sich hierbei je nach Zugehörigkeit des Autors zu einer bestimmten Lehrtradition. Zu den wichtigsten Bekenntnisschriften und Glaubensbekenntnissen, die explizit den Anspruch erheben, die Lehre der Sunniten (ahl as-sunna wal-ǧamāʿa oder ähnlich) darzustellen, gehören:
der auf Ahmad ibn Hanbal zurückgeführte Text, in dem dieser definiert, „was die Eigenschaft des Gläubigen von den Sunniten“ (ṣifat al-muʾmin min ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa) ist. Der Text ist in zwei Versionen in dem Werk Ṭabaqāt al-Ḥanābila des hanbalitischen Qādī Ibn Abī Yaʿlā (gest. 1131) überliefert. Die erste Version entstammt einem Traktat über die Sunna von Ahmad ibn Hanbals Schüler Muhammad ibn Habīb al-Andarānī, die zweite wird auf Ahmads Schüler Muhammad ibn Yūnus as-Sarachsī zurückgeführt.
die beiden Glaubensbekenntnisse von Abū l-Hasan al-Aschʿarī in seinen Werken Maqālāt al-islāmīyīn und Kitāb al-Ibāna ʿan uṣūl ad-diyāna. Ersteres wird als Lehre der ahl al-ḥadīṯ wa-s-sunna ausgewiesen, letzteres als die Lehre der ahl al-ḥaqq wa-s-sunna.
die Bekenntnisschrift des ägyptischen Hanafiten at-Tahāwī (gest. 933), bekannt auch unter dem Titel Bayān as-sunna wa-l-ǧamāʿa („Darlegung von Sunna und Gemeinschaft“). Sie ist ab dem 13. Jahrhundert häufig kommentiert worden.
das „Qādiritische Glaubensbekenntnis“ (al-iʿtiqād al-Qādirī), das in der Weltchronik al-Muntaẓam von Ibn al-Dschauzī erwähnt und auf den abbasidischen Kalifen al-Qādir (gest. 1031) zurückgeführt wird. Der Kalif al-Qā'im soll diesen Text, der am Ende als „Lehre der Sunniten“ (qaul ahl as-sunna wal-ǧamāʿa) ausgewiesen wird, im Jahre 433 der Hidschra (= 1041/42 n. Chr.) vor einer Versammlung von Asketen und Gelehrten im Kalifenpalast verlesen haben.
das Glaubensbekenntnis al-Ghazālīs (gest. 1111) im zweiten Buch seiner religiösen Enzyklopädie Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn. Es ist überschrieben mit „Das Glaubensbekenntnis der Sunniten in den zwei Phrasen der Schahāda“ (ʿAqīdat ahl as-sunna fī kalimatai aš-šahāda) und behandelt zunächst die Gotteslehre und dann die übrigen Lehrpunkte. Es liegen eine englische und eine deutsche Übersetzung vor.
die māturīditische Bekenntnisschrift ʿUmdat ʿAqīdat ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa („Die Stütze des Bekenntnisses der Leute der Sunna und der Gemeinschaft“) von Abū l-Barakāt an-Nasafī (gest. 1310). Sie wurde 1843 von William Cureton unter dem Titel „Pillar of the Creed of the Sunnites“ ediert.
die Bekenntnisschrift al-ʿAqīda al-Wāsiṭīya von Ibn Taimīya (1263–1328), die später vor allem bei den Wahhabiten und den Ahl-i Hadīth eine wichtige Bedeutung erhielt. Sie wurde von Henri Laoust ins Französische, von Merlin Swartz ins Englische und von Clemens Wein ins Deutsche übersetzt.
das 500 Verse umfassende Lehrgedicht Iḍāʾat ad-duǧunna fī iʿtiqād ahl as-sunna des aschʿaritischen Gelehrten al-Maqqarī (gest. 1632). Es ist stark auf den Kalām ausgerichtet, ist häufig kommentiert worden und bis heute in Mauretanien Teil des Lehrplans.
eine Liste mit zehn sunnitischen Glaubenssätzen im ersten Kapitel des persisch verfassten Werks Maʿrifat al-maḏāhib des hanafitischen Gelehrten Mahmūd-i Tāhir Ghazzālī, das vor 1634 verfasst wurde, hauptsächlich in Indien rezipiert worden ist und 1956 von ʿAlī Asghar Hikmat ediert wurde. Die Liste wird mit der Aussage eingeleitet, dass ʿAbdallāh ibn ʿAbbās gesagt habe, dass jeder, der diese zehn Dinge anerkenne, ein Sunnit sei. Ein Punkt, der Mahmūd-i Tāhir Ghazzālīs Liste von anderen sunnitischen Glaubensbekenntnissen unterscheidet, ist die besondere Hervorhebung von Jerusalem. So ist der dritte Glaubenssatz in dieser Liste „die Verehrung der beiden Qiblas, nämlich Jerusalem, die die Qibla aller Propheten ist, und die Kaaba, die die Qibla Mohammeds ist.“ Eine weitere Besonderheit ist, dass nach dem neunten Glaubenssatz der sunnitische Gläubige nur zwei Dinge als Fard-Pflicht erfüllen muss, nämlich die Verrichtung der Salāt und die Leistung der Zakāt.
die ʿAqīdat ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa des wahhabitischen Gelehrten Muhammad ibn Sālih al-ʿUthaimīn (1925–2001). Sie wurde in den 1980er Jahren erstmals veröffentlicht.Daneben gibt es auch kurze Texte, die die wichtigsten Lehrunterschiede zwischen den verschiedenen dogmatischen Lehrrichtungen erklären. Hierzu gehört zum Beispiel die Risāla fī l-iḫtilāf baina al-Ašāʿira wa-l-Māturīdīya fī iṯnatai ʿašara masʾala („Abhandlung über die Meinungsverschiedenheit zwischen Aschʿariten und Māturīditen in zwölf Punkten“) des osmanischen Gelehrten Ibn Kamāl Pascha (gest. 1534).
== Die sunnitischen Glaubenslehren nach den Bekenntnisschriften ==
Mehrere der erwähnten sunnitischen Bekenntnisschriften definieren den Glauben als sechsteilig: Er besteht aus dem Glauben an 1. Gott, 2. seine Engel, 3. seine Bücher, 4. seine Gesandten, 5. den jüngsten Tag bzw. die Auferstehung nach dem Tode und 6. die Vorherbestimmung des Guten und Schlechten. Die Systematik dieser Liste, die auf dem Gabriel-Hadith in seiner auf ʿUmar ibn al-Chattāb zurückgeführten Version fußt, wird der nachfolgenden Darstellung der sunnitischen Glaubenslehren zugrundegelegt.
=== Gott ===
==== Die Einheit Gottes ====
Im Zentrum des sunnitischen Bekenntnisses steht der Tauhīd, der Glaube an die Einheit Gottes. Gott ist ein einziger (fard) Gott, neben dem es keinen anderen Gott gibt. Er ist alleinstehend (munfarid), hat keinen Teilhaber (šarīk), keinen Partner (nidd), kein Gegenstück (maṯīl) und keinen Widersacher (ḍidd). Er hat sich weder eine Gefährtin noch Kinder genommen, hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt.Gott hat alles erschaffen, die Jahre und Zeiten, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, die Himmel und die Erde, alle Arten von Geschöpfen, die sich darauf befinden, das Festland und das Meer, und alles Lebendige, Tote und Feste. Bevor er dies alles erschuf, war er völlig allein, ohne dass etwas bei ihm war. Im Gegensatz zu seiner Schöpfung hat Gott eine überzeitliche Natur. Er ist anfangslos (azalī), weil er seit aller Ewigkeit besteht und ihm nichts vorausgeht, und er ist endlos (abadī), weil er ohne Unterbrechung in alle Ewigkeit weiterexistiert. Er ist der Erste und der Letzte, wie es im Koran (Sure 57:3) heißt. Gott hat die Schöpfung nicht deswegen hervorgebracht, weil er ihrer bedurfte, sondern zur Demonstration seiner Macht und als Realisierung seines vorausgegangenen Willens und seiner uranfänglichen Rede. Gott ist Schöpfer, hat aber keinerlei Bedürfnis. Er benötigt keine Nahrung oder Speise, fühlt sich nicht einsam und pflegt mit niemandem Gesellschaft.
==== Seine Transzendenz ====
Ein wichtiges Prinzip der sunnitischen Gotteslehre ist das Freisprechen (tanzīh) Gottes von allen Eigenschaften des Geschaffenen. Mit diesem Prinzip, das die Transzendenz Gottes betont, hält der sunnitische Islam die Mitte zwischen der Verähnlichung (tašbīh) Gottes mit der Schöpfung auf der einen und der völligen Entleerung (taʿṭīl) Gottes von Eigenschaften auf der anderen Seite. Gott ist weder ein geformter Körper, noch eine begrenzte oder abschätzbare Substanz. Er kann auch nicht wie Substanzen zugemessen oder geteilt werden. Vielmehr ist es so, wie der Koran (Sure 42:11) sagt, dass es nichts gibt, das ihm gleicht.Gott hat weder Grenzen, noch Enden, Ecken, Glieder oder Organe und ist auch nicht wie die erschaffenen Dinge durch Richtungen fassbar. Es gibt weder Gefilde, die ihn enthalten, noch Erden oder Himmel, die ihn umschließen. Gott wohnt keiner Sache inne, so wie auch keine Sache ihm innewohnt. Gott ist über allem anderen, auch über dem Himmel, doch ist er gleichzeitig jeder existierenden Sache nahe. Dem Menschen ist er sogar näher als die eigene Halsschlagader. Seine Nähe ähnelt aber nicht der Nähe von Körpern. Das, was in Koran und Sunna über Gottes Nähe gesagt wird, widerspricht nicht dem, was von seiner Höhe gesagt wird, weil er hoch in seiner Nähe und nah in seiner Höhe ist.Gott gleicht auch nicht den Menschen, sondern entzieht sich jeglichen Vorstellungen (auhām) und jeglichem Verständnis (afhām). Er ist lebendig (ḥaiy), aber stirbt nicht; er ist wach (qaiyūm), aber schläft nicht, da ihn weder Schlaf noch Schlummer erfasst. Die Sunniten bekennen zwar, dass Gott zwei Hände, zwei Augen und ein Gesicht hat, sowie es im Koran steht, aber ohne nach dem Wie zu fragen (bi-lā kaif). Gott ist zornig und ist zufrieden, aber nicht wie eines seiner Geschöpfe. Die Jahre und Zeiten machen ihn nicht alt. Sie können ihn nicht verändern, da er sie selbst erschaffen hat.Vor dem Hintergrund der Bemühungen, Gott von jeglichem Anthropomorphismus freizusprechen, erhalten die koranischen Aussagen, dass „Gott sich auf dem Thron zurechtgesetzt hat“ (istawā ʿalā l-ʿarš; Sure 7:54; 20:5), in den sunnitischen Glaubensbekenntnissen besonders viel Aufmerksamkeit. Das Glaubensbekenntnis al-Qādirs betont, dass Gott sich auf dem Thron (ʿarš) „nicht nach Art des Ausruhens der Geschöpfe“ zurechtgesetzt hat und er diesen Thron erschaffen hat, obwohl er ihn nicht brauchte. Das Glaubenskenntnis al-Ghazālīs konstatiert, dass das „Sich-Zurecht-Setzen“ frei von Berührung (mumāssa; sc. mit dem Thron), von Verweilen (istiqrār) und Innewohnen (ḥulūl) ist. Nicht der Thron trägt Gott, sondern der Thron und seine Träger werden durch die Huld seiner Macht getragen. Nach al-Aschʿarī bekennen die Sunniten, dass Gott auf seinem Throne ist, ohne aber nach dem Wie zu fragen. Auch wenn Gott des Throns und dessen, was darunter ist, nicht bedarf, weil er räumlich alles einnimmt, auch das, was über ihm ist, sind Thron und Schemel (kursī) eine Realität.
==== Seine Namen und Attribute ====
Die Sunniten bekennen, dass man von den Namen Gottes nicht sagen darf, dass sie etwas anderes sind als Gott, wie es Muʿtaziliten und Charidschiten behaupten. Vielmehr lehren sie, dass es für die im Koran erwähnten Namen Gottes jeweils korrelierende Attribute (ṣifāt) gibt, die in ihm bestehen: Gott ist lebendig durch Leben (ḥayāh), wissend durch Wissen (ʿilm), mächtig durch Macht (ʿqudra), wollend durch Willen (irāda), hörend durch Gehör (samʿ), sehend durch Sehkraft (baṣar) und redend durch Rede (kalām). Die Attribute sind weder identisch mit Gott, noch sind sie etwas anderes als er. Gott werden nur diejenigen Attribute zugeschrieben, die er sich selbst (sc. im Koran) zugeschrieben hat oder die ihm sein Prophet zugeschrieben hat. Und jedes Attribut, das er sich selbst oder sein Prophet ihm zugeschrieben hat, ist ein wirkliches Attribut, kein Attribut im übertragenen Sinn.Gottes Attribute ähneln allerdings nicht den Attributen der Geschöpfe, so wie auch sein Wesen (ḏāt) nicht den Wesenheiten der Geschöpfe ähnelt. Vielmehr unterscheidet sich Gott von seiner Schöpfung durch seine Attribute. Sunniten behaupten deswegen auch keine Ähnlichkeit zwischen Gottes Attributen und den Eigenschaften seiner Geschöpfe, denn keiner ist ihm namensgleich (samī) und er kann auch mit niemandem verglichen werden. Wer auch immer Gott eine menschliche Eigenschaft beilegt, wird zum Ungläubigen.Seine Macht (qudra)
Alles, was nicht Gott ist, hat er mit seiner Macht (qudra) erschaffen. Gott ist mächtig (qādir), gewaltig (ǧabbār) und bezwingend (qahhār). Er besitzt Stärke (ʿizza), Herrschaft (sulṭān), oberste Gewalt (mulk) und Königtum (malakūt). Die Sunniten halten auch daran fest, dass Gott Kraft (qūwa) hat.Gottes Macht erstreckt sich auf jede Sache, und es gibt nichts, das ihn unfähig macht. Er ist erhaben über alle Widersacher (aḍdād) und Gegenspieler (andād). Es gibt niemanden, der seinen Beschluss zurückweist oder ändert oder seinen Befehl überwindet. Niemand ist ihm ebenbürtig (kafw).Sein Wissen (ʿilm)
Gott weiß alles, was gewusst werden kann. Sein Wissen umfasst alles von den Grenzen der Erde bis zu den höchsten Himmeln. Es ist so genau, dass ihm nicht das Gewicht eines Atoms auf der Erde oder im Himmel entgeht, und er auch um das Krabbeln der Schwarzen Ameise auf dem harten Felsen in der dunklen Nacht weiß. Er weiß das Geheime und Verborgene und ist über alle Einfälle, Gemütsbewegungen und geheimen Gedanken der Menschen unterrichtet. Auch weiß er über all ihre Verhältnisse, ihren Lebensunterhalt und ihre Sterbestunde Bescheid. Er weiß, was gewesen ist, was sein wird und wie das, was nicht sein wird, wäre, wenn es gewesen wäre.Gottes Wissen ist dabei das uranfängliche Wissen, das seit aller Ewigkeit zu seinen Attributen gehört. Es ist kein erworbenes (ġair mustafād) Wissen und auch keines, das sich in seinem Wesen durch Inhärenz oder Wandel einstellt. Gott hat auch die Geschöpfe durch sein Wissen erschaffen, und alles, was geschieht, geschieht nach seinem Wissen.Sein Wille (mašīʾa)
Die Sunniten lehren, dass es auf der Erde nichts Gutes und nichts Schlechtes gibt außer dem, was Gott will, und dass die Dinge nach dem Willen Gottes geschehen. Was Gott will, geschieht, und was er nicht will, geschieht nicht. Weder der flüchtige Blick eines Blickenden noch ein flüchtiger Gedanke fallen aus seinem Willen heraus.Auch die Menschen haben nur dann Willen, wenn Gott dies für sie will. Was immer Gott für sie will, geschieht. Und was Er nicht will, geschieht nicht. Der Mensch hat auch keine Kraft, Gott zu gehorchen, außer durch Gottes Willen. Allerdings hat Gott das Schlechte nicht befohlen und findet an ihm kein Gefallen, auch wenn er hinsichtlich dessen ein Wollender ist.Gott macht, was er will, doch ist er niemals ungerecht (ẓālim). Aus Güte (faḍlan) führt er den rechten Weg und schützt er, wen er will, und aus Gerechtigkeit (ʿadlan) führt er in die Irre, lässt er im Stich und prüft er, wen er will. So sind alle seinem Willen unterworfen, zwischen Güte und Gerechtigkeit. Auch wenn die Dinge, die in der Zeit geschehen, genauso so geschehen, wie Gott sie schon vor aller Ewigkeit festgelegt und gewollt hat, bleibt der Wille in seinem Wesen als Attribut bestehen.Sein Hören (samʿ) und Sehen (baṣr)
Die Sunniten halten am Hören und Sehen fest und sprechen es Gott nicht ab, wie es die Muʿtaziliten tun. Gott hört und sieht, wobei ihm nichts Hörbares entgeht, auch wenn es versteckt ist, und ihm nichts Sichtbares verborgen bleibt, selbst wenn es äußerst klein ist. Ferne hindert ihn nicht am Hören, und Dunkelheit nicht am Sehen. Er sieht ohne Pupille und Augenlider, und er hört ohne Gehörgänge und Ohren.Seine Rede (kalām)
Eine besondere Bedeutung unter den Attributen Gottes hat die Rede Gottes. Mit ihr gebietet, verbietet, verheißt und droht Gott. Zur Rede Gottes gehört auch das Schöpfungswort kun („Sei!“). Will Gott etwas, so sagt er zu ihm: „Sei“, und es ist. Die Rede Gottes selbst ist dagegen anfangslos und geht allem anderen voraus. Zur Rede Gottes gehört aber auch der Koran. Wer sagt, dass die Rede Gottes in irgendeiner Weise erschaffen ist, ist nach dem Glaubensbekenntnis des Kalifen al-Qādir ein Ungläubiger, dessen Blut vergossen werden darf, nachdem man ihn zur Tauba aufgefordert hat.Die Rede Gottes besteht in seinem Wesen und ähnelt nicht der Rede der Geschöpfe. Gott ist zwar ein Redender, aber nicht durch ein geschaffenes Organ, wie das Organ der Geschöpfe. Umstritten war unter den Sunniten, ob die Rede Gottes hörbar ist. Während al-Aschʿarī dies bejahte, meinte al-Māturīdī, dass die Rede Gottes nicht hörbar ist, sondern nur das, was auf sie hinweist. Nach al-Ghazālī ist die Rede Gottes kein Laut und entsteht auch nicht durch Ausstoß von Luft oder verschiedene Arten von Artikulation. Mose habe die Rede Gottes in dieser lautlosen und unartikulierten Form im Brennenden Dornbusch vernommen. An-Nasafī betont hingegen, dass die die Rede Gottes im Gegensatz zum Schweigen steht.Der Dissens über Gottes Tätigkeitsattribute
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Aschʿarīya und Māturīdīya betrifft die sogenannten Tätigkeitsattribute (ṣifāt al-fiʿl) Gottes, zu denen insbesondere sein Erschaffen (takwīn) gehört. Nach der aschʿaritischen Lehre sind diese Tätigkeitsattribute erst in der Zeit aufgetretene Attribute (ṣifāt ḥādiṯa), für die Māturīdīya dagegen anfangslose Attribute (ṣifāt azalīya). Letztere Ansicht teilte auch at-Tahāwī. Er erklärt, dass Gott durch die Erschaffung der Dinge keine zusätzlichen Attribute erhalten habe: Den Namen al-Chāliq („Schöpfer“) habe er nicht erst durch die Schöpfung erhalten, den Namen al-Bārī („Erschaffender“) nicht erst durch die Erschaffung der Geschöpfe. Er habe auch den Charakter der Herrschaftlichkeit ohne Beherrschte und den Charakter des Neubelebers der Toten schon vor dem Akt der Belebung gehabt.Unterschiedlich eingeordnet wird auch das Attribut der Weisheit (ḥikma), durch die Gott weise (ḥakīm) ist. Während die Matūridīten Gottes Weisheit für ein anfangsloses Attribut halten, differenzieren die Aschʿariten zwischen der Weisheit im Sinne von Wissen (ʿilm) und der Weisheit im Zusammenhang mit den religionsgesetzlichen Bestimmungen (aḥkām). Während sie erstere für ein anfangsloses Attribut halten, betrachten sie letztere als ein in der Zeit entstandenes Attribut.
=== Engel und andere Geistwesen ===
Die Sunniten glauben des Weiteren an die Engel. Gott hat die Engel vor den Menschen verborgen, so dass sie sie üblicherweise nicht sehen. Nur manchmal enthüllt er sie vor einzelnen von ihnen. So ist der Erzengel Gabriel dem Propheten das eine Mal in seiner wirklichen Gestalt mit 600 Flügeln, die den Horizont ausfüllte, erschienen, das andere Mal, als er im Kreise seiner Gefährten weilte, in der Gestalt eines weißgekleideten Reisenden.Die Engel haben Aufgaben, mit denen sie von Gott betraut sind. Der Engel Gabriel hat die Aufgabe, Gottes Offenbarung den von ihm ausgewählten Propheten zu überbringen. Der Engel Michael ist über den Regen und die Pflanzenwelt eingesetzt. Der Engel Isrāfīl ist damit beauftragt, beim Donnern und bei der Auferstehung in die Posaune zu blasen. Des Weiteren gehören zu den Engeln die edlen Schreiberengel, die Gott zur Aufsicht über die Menschen eingesetzt hat, und der Engel des Todes, der damit beauftragt ist, die Seelen (wörtl. Geister) der Weltenbewohner zu ergreifen.Anders als es die Muʿtaziliten und Dschahmiten lehren, glauben die Sunniten, dass der Satan dem Menschen einflüstert, ihm Zweifel eingibt und ihn schlägt, wie es im Koran (Sure 2:275) heißt. Menschen, Dschinn, Engel und Satane sind jedoch alle von Gott durch seine Macht erschaffen und seinem Willen unterworfen. Selbst wenn sich Menschen, Dschinn, Engel und Satane zusammentäten, um auf der Welt ein Atom zu bewegen oder es anzuhalten, wären sie dazu ohne seinen Willen nicht imstande.
=== Die Bücher Gottes, der Koran ===
Die Sunniten glauben außerdem an die Bücher Gottes, die auf Gesandte Gottes herabgesandt wurden. Hierzu gehören der Koran, die Tora, das Evangelium und die Psalmen.Der Koran ist nach sunnitischer Auffassung die Rede Gottes. Wer ihn hört und ihn für menschliche Rede hält, ist nach dem sunnitischen Glaubensbekenntnis von at-Tahāwī ein Ungläubiger. Der Koran ist als Rede Gottes von dem „zuverlässigen Geist“ (ar-rūḥ al-amīn; Sure 26:193) herabgebracht und Mohammed gelehrt worden. Gott hat ihn als Eingebung (waḥy) auf seinen Gesandten herabgesandt. Der Weg der Rede Gottes zur Gemeinschaft der Muslime ist ein mehrstufiger Prozess: Gott hat sie ausgesprochen, der Engel Gabriel hat sie gehört und Mohammed wiederholt, Mohammed hat sie seinen Gefährten wiederholt, und diese haben sie der Umma wiederholt.Als Rede Gottes ist der Koran nach sunnitischer Auffassung unerschaffen. Die Lehre von der Erschaffenheit des Korans wird von den Sunniten zurückgewiesen. Wer diese Lehre vertritt, ist ein Ungläubiger. Der Koran wird mit den Zungen rezitiert, in Büchern niedergeschrieben, in den Herzen memoriert, und bleibt dennoch immer die unerschaffene Rede Gottes, die in seinem Wesen besteht, weil sie unteilbar ist und durch die Überführung in die Herzen auf die Blätter nicht aufgespalten wird. At-Tahāwī spezifiziert, dass der Koran nicht erschaffen ist wie die Rede der Menschen. Er ist vielmehr in ungeklärter Weise als Wort (qaul) von Gott ausgegangen. Ibn Taimīya erklärt, dass der Koran von Gott ausgegangen und zu ihm auch (sc. am Ende der Zeiten) zurückkehren wird.
=== Die Propheten Gottes ===
==== Die Propheten und ihre Botschaft ====
Das Bekenntnis zu den Propheten Gottes gehört ebenfalls zum sunnitischen Glauben. Der erste der Propheten ist Adam. Der Urvertrag (mīṯāq), den Gott gemäß Sure 7:172–3 mit ihm und seiner Nachkommenschaft schloss, ist nach sunnitischem Glauben eine Realität. Gott hat Abraham zum Freund (ḫalīl) genommen und Mose direkt angesprochen. Der letzte der Propheten ist Mohammed aus dem Stamm der Quraisch. Die Sunniten unterscheiden nicht zwischen den Gesandten Gottes, (sc. indem sie einzelne von ihnen verwerfen), sondern halten alles für wahr, was sie gebracht haben.Gott hat die Propheten berufen und ihre Wahrhaftigkeit durch offenkundige Wunder sichtbar bekundet. Die Propheten haben Gottes Gebot und Verbot, seine Verheißung und Androhung übermittelt, und den Menschen obliegt es, das, was sie gebracht haben, für wahr zu halten. Gott hat den Menschen die Gehorsamshandlung (ṭāʿa) befohlen und die Widersetzlichkeit (maʿṣiya) verboten. Gottes Recht auf die Gehorsamshandlungen ist für die Menschen nicht allein durch den Verstand (bi-muǧarrad al-ʿaql) eine Verpflichtung, sondern auch dadurch, dass er sie durch die mündliche Übermittlung seiner Propheten zu einer Pflicht gemacht hat.
==== Die Bedeutung Mohammeds ====
Mohammed aus dem Stamm der Quraisch ist nicht nur das Siegel der Propheten (ḫātam al-anbiyāʾ), vielmehr hat ihn Gott über alle anderen Propheten gestellt und zum Herrn der Menschen (saiyid al-bašar) gemacht. Er ist Gottes auserwählter Knecht (ʿabd), Gesandter, der Imam der Gottesfürchtigen (imām al-atqiyāʾ) und der Geliebte des Herrn der Welten (ḥabīb rabb al-ʿālamīn). Er ist entsandt mit Wahrheit (ḥaqq), Rechtleitung (hudā) und Licht (nūr). Gott hat ihn mit seiner Botschaft zu Arabern und Nicht-Arabern sowie zur Allgemeinheit der Dschinn und Menschen entsandt und mit seiner Scharia die früheren Religionsgesetze aufgehoben, außer dem, was er bestätigt hat. Zum Weg der Sunniten gehört es, die Traditionen (āṯār) Mohammeds innerlich und äußerlich zu befolgen. Sie geben seiner Rechtleitung den Vorzug vor der Rechtleitung eines jeden anderen.Mohammeds Zugehörigkeit zu den Gottesgesandten ist durch Wunder (muʿǧizāt) wie die Mondspaltung bewiesen. Das deutlichste Wunder ist jedoch der Koran mit seiner Unnachahmlichkeit. Jeder Anspruch auf Prophetentum nach ihm ist Irrtum und Einbildung. Ein weiterer wichtiger Lehrpunkt ist der Glaube an Mohammeds Himmelfahrt (miʿrāǧ).
Diese bedeutet, dass der Prophet auf eine nächtliche Reise ging, bei der seine Person im Wachzustand in den Himmel, und von dort aus in Höhen versetzt wurde, „die Gott ausersehen hat“. Dort hat ihn Gott mit dem beschenkt, was er dafür ausersehen hat, und ihm seine Offenbarung eingegeben. Gott hat ihn dabei außerdem in seinem jenseitigen und diesseitigen Leben gesegnet.
==== Die Gefährten und die Familie Mohammeds ====
Sunniten sollen die Gefährten des Gottesgesandten lieben und nur Gutes über sie sagen. Und sie sollen diejenigen hassen, die die Prophetengefährten hassen. Deshalb sagen sie sich von den Rāfiditen los, die die Prophetengefährten hassen und schmähen. Die Prophetengefährten zu lieben ist nach sunnitischer Auffassung Religion und Glaube, sie zu hassen Unglaube. Weder übertreiben sie es in der Liebe zu einem von ihnen, noch sagen sie sich von einem von ihnen los. Der sunnitische Gläubige soll die Prophetengefährten allesamt preisen, so wie Gott und sein Gesandter sie gepriesen hat. Er soll sich an ihre Vortrefflichkeiten halten und sich eines Urteils hinsichtlich dessen, was zwischen ihnen strittig war, enthalten.Die Sunniten glauben nicht, dass jeder Prophetengefährte vor großen und kleinen Sünden geschützt (maʿṣūm) war. Allerdings ist das Ausmaß der missbilligten Handlung einzelner Prophetengefährten winzig im Vergleich zu den Verdiensten der ganzen Gruppe im Bereich von Glaube, Dschihad, Hidschra, Hilfe (nuṣra), nützlichem Wissen und frommem Werk. Deswegen sind die Sunniten davon überzeugt, dass die Prophetengefährten die besten aller Geschöpfe nach dem Propheten selbst sind, sowie die muslimische Umma die beste aller Religionsgemeinschaften ist.
Zwischen den Prophetengefährten gibt es Unterschiede. Der beste unter ihnen war Abū Bakr, sodann ʿUmar ibn al-Chattāb, dann ʿUthmān ibn ʿAffān und schließlich ʿAlī ibn Abī Tālib. Die Sunniten bekennen, dass diese vier die rechtgeleiteten Kalifen (al-ḫulafāʾ ar-rāšidūn) waren. Sie bekräftigen außerdem, dass das Kalifat nach dem Gottesgesandten zuerst Abū Bakr zustand, weil er eine Vorrangstellung gegenüber der gesamten Umma hat. Er war der Imam nach dem Gesandten Gottes, durch den Gott die Religion gestärkt und dem er den Sieg über die Apostaten verliehen hat. Die Muslime haben ihm das Imamat übertragen, so wie ihm vorher der Gottesgesandte die Leitung des Gebets übertragen hatte. Die Lehre, dass ʿUthmān gegenüber ʿAlī vorzuziehen ist, hat sich allerdings erst im Laufe der Zeit bei den Sunniten durchgesetzt. Diejenigen, die ʿUthmān töteten, taten dies unrechtmäßig und heimtückisch.Neben den vier rechtgeleiteten Kalifen haben außerdem die sechs Prophetengefährten Talha ibn ʿUbaidallāh, Az-Zubair ibn al-ʿAuwām, Saʿd ibn Abī Waqqās, Abū ʿUbaida ibn al-Dscharrāh, ʿAbd ar-Rahmān ibn ʿAuf und Saʿīd ibn Zaid eine herausgehobene Position bei den Sunniten. Zusammen mit den rechtgeleiteten Kalifen sind sie die zehn Gefährten, denen das Paradies verheißen wurde. Mit Ausnahme von Abū ʿUbaida waren sie zusammen mit dem Propheten auf dem Berg Hirā'. Ibn Taimīya meint außerdem, dass die Sunniten die Muhādschirūn den Ansār voranstellen.Die Sunniten lieben außerdem die Familie (Ahl al-bait) des Gottesgesandten und halten ihr die Treue. Hierzu gehören insbesondere seine Gattinnen, die als „Mütter der Gläubigen“ (ummuhāt al-muʾminīn) bezeichnet werden. Sie sollen auch im Jenseits Mohammeds Gattinnen sein. Nach dem Glaubensbekenntnis des Kalifen al-Qādir ist es Pflicht, für sie um Erbarmen zu bitten. Den höchsten Rang unter den Ehefrauen Mohammeds hat Chadīdscha bint Chuwailid, die Mutter der meisten seiner Kinder und der erste Mensch, der an ihn glaubte und ihn in seiner Sache unterstützte. Danach folgt ʿĀ'ischa bint Abī Bakr. Wer sie schmäht, soll keinen Anteil am Islam haben. Auch über Muʿāwiya ibn Abī Sufyān soll man nur Gutes sagen. Wer Gutes sagt über die Gefährten des Gottesgesandten, seine Frauen, die rein sind von jedem Makel, und seine geheiligte Nachkommenschaft, ist frei von Heuchelei.
=== Eschatologie ===
==== Das Geschehen im Grab ====
Nach ihrem Tod werden die Menschen gemäß sunnitischer Lehre in ihren Gräbern durch Munkar und Nakīr befragt. Munkar und Nakīr sind zwei furchteinflößende gewaltige Gestalten, die den Menschen in seinem Grab mit Geist und Körper aufrecht sitzen lassen und ihn dann über die Einheit Gottes und das Gesandtentum Mohammeds befragen. Sie fragen ihn: „Wer ist Dein Herr? Was ist Deine Religion? Wer ist Dein Prophet?“ Sie sind die beiden Prüfer des Grabes und die Befragung durch sie ist die erste Prüfung (fitna) des Menschen nach dem Tod. Der Gläubige wird bei dieser Prüfung antworten: „Gott ist mein Herr, der Islam ist meine Religion und Mohammed ist mein Prophet.“ Der Zweifler dagegen wird antworten: „O weh, ich weiß es nicht. Ich hörte die Leute etwas sagen, und so sagte ich es auch.“ Er wird dann mit einer Eisenkeule geschlagen, so dass er einen lauten Schrei ausstößt, den alle Welt, außer den Menschen, vernimmt. Wenn die Menschen ihn hörten, würden sie das Bewusstsein verlieren. Auch Kinder werden von Munkar und Nakīr befragt sowie Menschen, die verschollen oder ertrunken sind oder von Raubtieren gefressen wurden.Nach dieser Prüfung erlebt der Mensch in seinem Grab entweder Annehmlichkeit (naʿīm) oder Peinigung (ʿaḏāb) bis zum Tag der Auferstehung. Das Grab ist deswegen für den Menschen entweder wie ein Paradiesgarten oder wie eine Höllengrube. Die Grabpeinigung (ʿaḏāb al-qabr) kommt denjenigen zu, die sie verdienen. Verstorbenen Muslimen kommen aber das Bittgebet, das für sie gesprochen wird, und die Sadaqa, die in ihrem Namen geleistet wird, zugute.
==== Die Zeichen der Stunde ====
Ein weiterer Glaubenspunkt sind die Zeichen der Stunde (ašrāṭ as-sāʿa), die dem Tag der Auferstehung vorausgehen. Dazu gehört das Hervortreten des Daddschāl, der Aufgang der Sonne im Westen, das Hervortreten des Erdtiers aus seinem Bau und der Auszug von Gog und Magog. Jesus, der Sohn der Maria, wird vom Himmel herabsteigen und den Daddschāl töten.
==== Der Tag der Auferstehung ====
Am Tag der Auferstehung erfolgen die Auferweckung (baʿṯ) und die Vergeltung der Taten. Zunächst werden die Körper aller Menschen, Tiere und Dschinn wieder zusammengefügt und neu belebt. Die Geister werden in die Körper zurückgebracht, die Menschen erheben sich aus ihren Gräbern, barfüßig, nackt und unbeschnitten. Die Sonne nähert sich ihnen, und der Schweiß bricht ihnen aus.Es wird eine Waage aufgestellt, auf der die Taten der Menschen gewogen werden. Die Waage hat zwei Waagschalen und eine Zunge und ist so groß wie mehrere Schichten der Himmel und der Erde. Die Gewichte werden dabei die Schwere von Atomen und Senfkörnern haben, um die Genauigkeit von Gottes Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Blätter mit den guten Taten (ḥasanāt) werden in einer schönen Form in die Waagschale des Lichts geworfen und beschweren die Waage durch die Gnade (faḍl) Gottes, die Blätter mit den schlechten Taten (saiyiʾāt) werden in einer hässlichen Form in die Waagschale der Dunkelheit geworfen und vermindern durch die Gerechtigkeit (ʿadl) Gottes das Gewicht der Waage.Bei der Abrechnung (ḥisāb) werden die Menschen in drei Gruppen geteilt, diejenigen, die bei ihm durchgehauen werden, diejenigen, die bei ihm mild behandelt werden, und die sogenannten „Nahegestellten“ (muqarrabūn), die ohne Abrechnung ins Paradies eingehen. Gott fragt die Propheten nach der Überbringung der Botschaft, die Ungläubigen nach der Leugnung der Gesandten, diejenigen, die eine Bidʿa eingeführt haben, nach der Sunna und die Allgemeinheit der Muslime nach ihren Werken. Gott ist mit dem Gläubigen bei der Abrechnung allein, damit er ihn seine Sünden bekennen lässt. Bei den Ungläubigen werden gute und schlechte Taten nicht gegeneinander abgewogen, weil sie keine guten Taten aufzuweisen haben. Es werden lediglich ihre schlechten Taten zusammengezählt und ihnen mitgeteilt, und sie werden dazu gebracht, sie zu bekennen.Nach der Abrechnung erfolgt das Passieren der Sirāt-Brücke. Sie ist über der Hölle aufgespannt, schärfer als ein Schwert und dünner als ein Haar. Auf ihr gleiten die Ungläubigen durch das Urteil Gottes mit ihren Füßen aus und stürzen in die Hölle. Die Gläubigen dagegen stehen mit ihren Füßen fest auf ihr und werden durch die Gnade Gottes in das „Haus der Ruhe“ (dār al-qarār) geführt. Für die Kinder der Polytheisten wird Gott ein Feuer entfachen und sie auffordern, sich hineinzustürzen.Hinter der Sirāt-Brücke befindet sich das Becken (ḥauḍ), mit dem Gott den Propheten als eine Hilfe für seine Umma beschenkt hat. Die Gläubigen trinken aus ihm nach der Überquerung der Sirāt-Brücke und vor dem Eintritt ins Paradies. Wer immer aus ihm getrunken hat, ist danach nie mehr durstig. Das Becken ist eine Monatsreise breit, sein Wasser ist weißer als Milch und süßer als Honig. In dieses Becken ergießt sich Wasser aus dem Paradiesfluss al-Kauthar. Um es herum sind Wasserkrüge aufgestellt, so zahlreich wie die Sterne des Himmels. Diejenigen, die die Sirāt-Brücke passiert haben und gereinigt und geläutert worden sind, treten schließlich in den Paradiesgarten ein.
==== Die Schau Gottes im Jenseits ====
Zu den Lehren der Sunniten gehört auch die Schau Gottes (ruʾyat Allāh) im Jenseits, die Ähnlichkeiten mit der visio beatifica in der christlichen Tradition hat. Mit dieser Lehre setzen sich die Sunniten von den Muʿtaziliten, den Zaiditen und den Philosophen ab, die die Gottesschau verstandesmäßig für unmöglich halten.Über den Zeitpunkt und die Art der Gottesschau gibt es allerdings unter den sunnitischen Gelehrten unterschiedliche Ansichten. So meint al-Aschʿarī, dass Gott am Tag der Auferstehung gesehen wird, wobei nur die Gläubigen ihn sehen, die Ungläubigen hingegen nicht, weil sie von Gott ferngehalten werden. At-Tahāwī war dagegen der Ansicht, dass die Gottesschau für die Insassen des Paradieses eine Realität sei. Ibn Taimīya verdoppelt die Gottesschau: die Menschen sehen Gott, während sie sich noch an den Plätzen der der Auferstehung befinden, und dann nach dem Eintritt ins Paradies, wenn Gott will.Was die Art der Gottesschau betrifft, so betonten al-Aschʿarī und Ibn Taimīya ihren visuellen Charakter. Al-Aschʿarī meinte, dass Gott mit den Augen gesehen werde, so wie man den Mond in der Vollmondnacht sieht. Ibn Taimīya ergänzt, dass die Gottesschau so sei, wie man die Sonne an einem wolkenlosen Tag sehe. In der ʿAqīda at-Tahāwīs wird indessen die Transzendenz Gottes betont: die Schau ist weder zu begreifen noch zu beschreiben, weil keines der Geschöpfe Gott gleicht. In al-Ghazālīs Glaubensbekenntnis heißt es, dass die Frommen im Jenseits das Wesen Gottes ohne Substanz und Akzidens sehen. Nach dem Glaubensbekenntnis von an-Nasafī wird Gott weder an einem Ort, noch in irgendeiner Richtung oder Entfernung gesehen. Auch gibt es keinerlei Verbindung von Strahlen.
==== Entlassung der Monotheisten aus der Hölle und Fürsprache ====
Nach dem Glaubensbekenntnis Ibn Taimīyas ist die Umma Mohammeds die erste Religionsgemeinschaft, die ins Paradies eintritt, andere Religionsgemeinschaften haben also ebenfalls die Möglichkeit, ins Paradies zu gelangen, denn Gott führt durch die Huld seiner Barmherzigkeit ganze Völker (aqwām) aus dem Höllenfeuer heraus. Ahmad ibn Hanbal und al-Ghazālī erklären in ihren Glaubensbekenntnissen, dass die Monotheisten (al-muwaḥḥidūn) nach der Bestrafung aus der Hölle herausgeholt werden. Al-Ghazālī ergänzt, dass durch die Huld (faḍl) Gottes kein Monotheist für alle Ewigkeit in der Hölle verbleibt.Nach dem Glaubensbekenntnis at-Tahāwīs gilt dies hingegen nur für die schweren Sünder aus Mohammeds Umma: Sie sind in der Hölle, aber nicht für immer, wenn sie zum Zeitpunkt des Todes Monotheisten waren. Was mit ihnen geschieht, liegt bei Gott: Wenn er will, vergibt er ihnen durch seine Huld (faḍl), und wenn er will, bestraft er sie in seiner Gerechtigkeit (ʿadl) und holt sie sodann durch seine Barmherzigkeit (raḥma) und durch die Fürsprache derjenigen, die ihm gehorchen, aus der Hölle und lässt sie in den Paradiesgarten eingehen.Die Fürsprache (šafāʿa) des Gottesgesandten und ihre Wirkung für diejenigen aus seiner Umma, die schwere Sünden begangen haben, ist ein fester Lehrpunkt des sunnitischen Glaubens. Der Prophet hat die Fürsprache speziell für sie aufgespart. Nach al-Ghazālī hat der sunnitische Gläubige insgesamt an die Fürsprache der Propheten, sodann der Gelehrten, sodann der Märtyrer, sodann der übrigen Gläubigen jeweils entsprechend ihrer Würde und ihrem Rang bei Gott zu glauben. Wer von den Gläubigen keinen Fürsprecher hat, wird durch die Gnade Gottes aus der Hölle geholt.
=== Die Vorherbestimmung ===
==== Der Umfang der Vorherbestimmung ====
Nach sunnitischer Lehre geschieht alles, was geschieht, durch den Ratschluss (qadāʾ) und die Vorherbestimmung (Qadar) Gottes bzw. seine Festsetzung (taqdīr). Die Vorherbestimmung schließt die Vorherbestimmung des Guten und Schlechten, des Süßen und Bitteren ein. Gott hat den Geschöpfen ihr Maß (qadar) zugemessen und ihren Todeszeitpunkt festgelegt. Er macht seine Geschöpfe krank und heilt sie, lässt sie sterben und macht sie lebendig, während die Geschöpfe selbst keine Macht darüber haben. Gott lässt sterben ohne Furcht und erweckt zum Leben ohne Anstrengung. Derjenige, der stirbt, stirbt zu dem für ihn bestimmten Termin, auch wenn er getötet wird.Gott hat die den Geschöpfen vorherbestimmten Dinge auf der Wohlverwahrten Tafel (al-lauḥ al-maḥfūẓ) niedergeschrieben. Das Schreibrohr, das sie niederschrieb, ist das erste, was Gott erschaffen hat. Gott befahl ihm, niederzuschreiben, was bis zum Tag der Auferstehung sein wird. Die Feder ist bereits trocken geworden, und die Schriftrollen sind zusammengerollt. Alles, was darauf in Vorzeiten niedergeschrieben worden ist, ist unveränderlich.Gott ist in seinen Ratschlüssen (aqḍiya) gerecht, allerdings kann seine Gerechtigkeit nicht nach Analogie der Gerechtigkeit von Menschen beurteilt werden, weil ungerechtes Handeln für den Menschen nur mit Bezug auf fremdes Eigentum denkbar ist, Gott aber nirgendwo auf fremdes Eigentum stößt, so dass er sich ihm gegenüber ungerecht verhalten könnte. Das Prinzip der Vorherbestimmung ist Gottes Geheimnis hinsichtlich seiner Geschöpfe. Kein Erzengel und kein Prophet ist darüber unterrichtet. Die Reflexion über die Vorherbestimmung führt zum Verderben und ist ein Schritt zur Auflehnung gegenüber Gott, weil Er das Wissen darüber vor den Menschen verborgen hat.
==== Die Handlungen der Menschen ====
Der Glaube an die Vorherbestimmung schließt den Glauben daran ein, dass Gott durch sein urewiges Wissen auch weiß, was die Geschöpfe tun werden. Er weiß sowohl um ihre Gehorsamstaten (ṭāʿāt) als auch um ihre Widersetzlichkeiten (maʿāṣī). Niemand vermag sich dem Wissen Gottes zu entziehen oder etwas zu tun, von dem Gott weiß, dass er es nicht tun wird. Das, was die Menschen tun werden, ist Gott bereits seit Urzeiten bekannt. Er hat aufgeschrieben, dass es geschehen wird. Nichts davon war ihm verborgen, bevor er sie erschuf.Die Handlungen der Menschen werden nach sunnitischer Lehre auch durch Gott allein erschaffen. Die Menschen handeln zwar, doch ist Gott der Erschaffer ihrer Handlungen. Was Gott den Menschen richtig machen lässt, kann er unmöglich falsch machen, und was er ihn falsch machen lässt, kann er unmöglich richtig machen.
Gott erschafft sowohl die guten, als auch die schlechten Taten der Menschen, während diese nichts zu erschaffen vermögen. Auch die Handlungen des Ungläubigen und des Ehebrechers werden von Gott erschaffen. Der Mensch eignet sich seine Handlungen lediglich an.Mit dieser Lehre der Aneignung unterscheiden sich die Sunniten auf der einen Seite von den Muʿtaziliten, die lehren, dass die Menschen ihre Handlungen aus freiem Willen selbst hervorbringen, und den Dschabriten auf der anderen Seite, die dem Menschen Handlungsvermögen (qudra) und freien Willen (iḫtiyār) absprechen. Der wahre Islam hält nach sunnitischer Auffassung bei der Beschreibung des menschlichen Handelns die Mitte zwischen der Annahme von Zwang (ǧabr) und der Zuschreibung eines eigenen Qadar. Der Mensch hat das Vermögen und den Willen zur Handlung, aber es ist Gott, der ihr Handlungsvermögen und ihren Willen erschafft. Die Menschen haben nur dann Willen, wenn Gott dies für sie will.Nach sunnitischer Lehre vermag niemand etwas zu tun, bevor er es wirklich tut. Das Handlungsvermögen (istiṭāʿa) tritt erst mit der Handlung selbst ein, im Gegensatz zur Lehre der Muʿtaziliten und Karrāmiten, nach der das Handlungsvermögen der Handlung vorausgeht, weil sonst ihrer Auffassung nach die Auferlegung von etwas Unerfüllbarem vorliegt. Im Glaubensbekenntnis von at-Tahāwī wird allerdings differenziert: Das Handlungsvermögen, von der die Handlung abhängig ist, wie das Gelingen (taufīq), für das nicht das Geschöpf verantwortlich ist, kommt erst mit der Handlung. Das Handlungsvermögen, das solche Dinge wie Gesundheit, Kraft, Fähigkeit und Intaktheit der Mittel betrifft, ist dagegen bereits vorher da. At-Tahāwī postuliert auch eine völlige Übereinstimmung zwischen göttlicher Verpflichtung und menschlicher Handlungsfähigkeit: „Gott hat den Menschen nur das auferlegt, was sie leisten können. Und die Menschen können nur das leisten, was er ihnen auferlegt hat. Das ist die Bedeutung der Hauqala“. Die Aschʿariten nehmen dagegen an, das Gott dem Menschen auch etwas als Pflicht auferlegen kann, was dieser nicht zu leisten vermag. Diese Lehre vom Taklīf mā lā yutāq ist einer der wichtigsten Lehrunterschiede zwischen Aschʿarīya und Māturīdīya.
==== Die Seligen und die Verdammten ====
Jedem ist das leicht gemacht, wofür er erschaffen ist. Selig ist, wer durch den Ratschluss Gottes (qaḍāʾ Allāh) selig wird, verdammt ist, wer durch den Ratschluss Gottes verdammt wird. Gott hat Paradies und Hölle vor allem anderen erschaffen; dann hat er die Leute erschaffen, die ihrer würdig sind. Die einen hat er aus Großzügigkeit (faḍlan) für das Paradies bestimmt, die anderen aus Gerechtigkeit (ʿadlan) für die Hölle. Gott hat schon immer die Anzahl derjenigen gekannt, die ins Paradies eingehen, und die Anzahl derjenigen, die in die Hölle eingehen. Diese Anzahl wird weder vergrößert noch verringert. Wenn Gott den Körper des Embryos erschafft, schickt er einen Engel zu ihm, der seinen Lebensunterhalt (rizq) aufschreibt, seine Sterbestunde, seine Taten und ob er ein Verdammter (šaqī) oder ein Seliger (saʿīd) ist.Der sunnitische Gläubige zweifelt nicht an seinem Glauben. Allerdings weiß der Mensch weder, wie er bei Gott verzeichnet ist (sc. ob als Gläubiger oder Ungläubiger), noch wie es mit ihm endet. Gott ist nämlich auch der Wandler der Herzen (muqallib al-qulūb). Deshalb ziemt es sich zu sagen: „Ein Gläubiger, so Gott will“ oder „Ich hoffe, dass ich ein Gläubiger“ bin. Eine solche Ausdrucksweise macht den Menschen nicht zum Zweifler, weil er damit nur meint, dass ihm sein jenseitiges Schicksal und sein Ende verborgen sind. Die Sunniten sprechen auch keinem von den Leuten, die zur Kaaba beten, das Paradies oder die Hölle zu, aufgrund einer guten Tat oder einer Sünde, die er begangen hat.
=== Weitere Lehren ===
==== Das Wesen des Glaubens ====
Groß sind die Differenzen unter den Sunniten bei der Definition des Glaubens. Nach aschʿaritischen und hanbalitischen Autoren besteht er aus Wort (qaul) und Tat (ʿamal). Das Glaubensbekenntnis des Kalifen Qādir spezifiziert, dass das Wort „mit der Zunge“ (bi-l-lisān) und die Tat „mit den Gliedern“ (bi-l-ǧawāriḥ) zu verrichten ist, und fügt als drittes Element die Nīya hinzu. Nach at-Tahāwī dagegen ist der Glaube die „Bestätigung mit der Zunge“ (al-iqrār bi-l-lisān) und das „Für-Wahr-Halten mit dem Herzen“ (at-taṣdīq bi-l-ǧanān), die Tat und die Nīya gehören nicht dazu.Nach aschʿaritischer und hanbalitischer Lehre kann der Glaube zunehmen und abnehmen. Er nimmt durch Gehorsam (ṭāʿa) zu und durch Widersetzlichkeit (maʿṣiya) ab. Nach hanbalitischer Lehre hat der Glaube auch verschiedene Teile und Verzweigungen. Der höchste Teil ist das Bekenntnis: „Es gibt keinen Gott außer Allāh“, der geringste die Entfernung eines Hindernisses von der Straße. Alles, womit sich der Mensch Gott nähert, gehört zum Glauben. Deshalb ist der Glaube auch nie am Ende. Nach hanafitischer Sicht dagegen ist der Glaube nicht zusammengesetzt und die Gläubigen sind im Prinzip alle gleich. Ungleichheit besteht allerdings hinsichtlich der Gottesfurcht (ḫašya wa-tuqan), der Abwehr von Begierde (muḫālafat al-hawā) und der Befolgung des Vorrangigen (mulāzamat al-aulā). Es ist auch nicht so, dass die Sünde dem Gläubigen nicht schadet. Der edelste Gläubige vor Gott ist derjenige, der ihm am meisten gehorcht und am stärksten den Koran befolgt.
==== Die Gemeinschaft der Muslime ====
Die Sunniten stellen sich nicht gegen die Gemeinschaft der Muslime (ǧamāʿat al-muslimīn), sondern üben die Religion durch guten Ratschlag (naṣīḥa) für sie sowie durch Gottesdienst gemeinsam mit anderen. Sie halten zwar Muschabbiha, also diejenigen, die Gott mit seiner Schöpfung verähnlichen, Muʿtaziliten, Dschahmiten, Dschabriten und Qadariten für abgeirrt, doch nennen sie alle diejenigen, die ihre Qibla teilen, Muslime und Gläubige, so lange sie anerkennen, was der Prophet gebracht hat, und alles, was er gesagt und mitgeteilt hat, für wahr halten.Die Sunniten erklären auch niemanden von denen, die ihre Qibla teilen, wegen einer Sünde, die er begeht, wie Zinā, Diebstahl und ähnlich schwerer Sünden, für ungläubig. Vielmehr sind diese Personen ihrer Ansicht nach durch den Glauben, den sie besitzen, Gläubige, auch wenn sie schwere Sünden begehen. Mit dieser Lehre unterscheiden sich die Sunniten von den Charidschiten, die derartigen Takfīr betreiben. Der sunnitische Gläubige dagegen überlässt das Urteil über den Sünder Gott und wartet bei den Dingen, die ihm verborgen sind, zu, bis Gott darüber entscheidet. Die Glaubensbruderschaft (al-uḫūwa al-īmānīya) mit den Sündern wird von daher auch nicht aufgekündigt, sondern bleibt bestehen. Anders als die Muʿtaziliten sprechen die Sunniten auch dem Frevler (fāsiq) den Glauben nicht ab. Nach hanbalitischer Auffassung ist sein Glaube allerdings unvollkommen. Die Sunniten befinden es auch für gut, für jeden, der von den Leuten der Qibla gestorben ist, das Totengebet zu sprechen, sowohl den Frommen als auch den Sündhaften, und erkennen erbrechtliche Beziehungen mit ihnen an.Nach aschʿaritischer und hanafitischer Sicht werden Sünder erst dann zu Ungläubigen, wenn sie das betreffende Vergehen für erlaubt erklären. Die Sichtweise der Hanbaliten ist diesbezüglich rigider. Sie sind der Auffassung, dass auch derjenige, der ohne Grund das vorgeschriebene Gebet unterlässt, zum Ungläubigen wird, selbst wenn er die Pflicht zum Gebet nicht leugnet. Er bleibt ein Ungläubiger, bis er bereut und das Gebet nachgeholt hat. Und wenn er stirbt, ohne dass er bereut hat, soll das Totengebet für ihn nicht gesprochen werden.
==== Imamat und Dschihad ====
Die Muslime benötigen nach sunnitischer Ansicht einen Imam, der für die Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen, die Vollstreckung der Hadd-Strafen und Bereitstellung der Heere sorgt. Der Imam darf keine Person sein, die verborgen ist und erwartet wird, wie es die Imamiten lehren, sondern muss sichtbar sein. Um Imam werden zu können, muss eine Person frei, männlich, geschlechtsreif, geistig gesund und mutig sein und von den Quraisch abstammen. Er muss aber nicht gottesfürchtig oder sündlos oder der beste Mensch seiner Zeit sein.Der Imam wird aufgrund von Lasterhaftigkeit (fisq) nicht abgesetzt. Die Sunniten sind der Ansicht, dass man für die Imame um Wohlergehen beten und nicht gegen sie mit dem Schwert zu Felde ziehen darf, ferner dass man auch nicht in der Fitna mitkämpfen darf, sondern im Falle der Fitna das Haus hüten soll. Auch dann wenn die Imame oder Machthaber ungerecht sind, wird es nicht für gut befunden, gegen sie zu Felde ziehen. Man darf ihnen gegenüber auch nicht den Gehorsam aufkündigen, sondern soll den Gehorsam ihnen gegenüber als Teil der Gehorsamspflicht gegenüber Gott betrachten, solange sie nicht eine Widersetzlichkeit (maʿṣiya) anordnen. Neben Wohlergehen soll man für sie auch um Vergebung bitten. Derjenige, der es befürwortet, gegen die Imame zu Felde zu ziehen, wenn bei ihnen eine Abweichung vom rechten Weg sichtbar wird, wird für abgeirrt erklärt.Die Sunniten befinden es für gut, am Fest, am Freitag und in Gemeinschaft hinter jedem Imam bzw. mit jedem Amīr zu beten, sei er fromm (birr) oder sündhaft (fāǧir), so wie auch ʿAbdallāh ibn ʿUmar hinter al-Haddschādsch ibn Yūsuf gebetet hat. Die Sunniten bekräftigen außerdem die Pflicht zum Dschihad gegen die Beigeseller, seit der Zeit, da Gott seinen Propheten entsandt hat, bis zur letzten Schar, die gegen den Daddschāl kämpft, und noch weiter. Der Dschihad ist sowohl mit den frommen als auch mit den sündhaften Machthabern zu leisten. Nichts macht ihn ungültig oder setzt ihn außer Kraft.
==== Gelehrte, Gottesfreunde und Zauberer ====
Die Gelehrten der Altvorderen (salaf), sowohl die Vorausgehenden als auch diejenigen, die nach ihnen kamen, die Leute der Tradition, des Fiqh und der Einsicht (naẓar), dürfen nur im Guten erwähnt werden. Wer auch immer schlecht über sie spricht, ist nicht auf dem rechten Weg. Der Idschmāʿ der frommen Altvorderen (as-salaf aṣ-ṣāliḥ) bildet für die Sunniten nach Koran und Sunna die dritte der drei Grundlagen, auf die sie sich bei Religion und Wissen stützen und nach denen sie die Worte und Taten der Menschen, die einen Bezug zur Religion haben, beurteilen.Die Sunniten bekennen, dass Gott die Rechtschaffenen (aṣ-ṣāliḥūn) durch Wunderzeichen (āyāt) auszeichnen kann, die er an ihnen zeigt. Sie glauben an die Huldwunder (karāmāt), die von vertrauenswürdigen Personen über die Gottesfreunde (auliyāʾ Allāh) überliefert werden, sowie an die außergewöhnlichen Dinge (ḫawāriq al-ʿāda) und Enthüllungen (mukāšafāt), die Gott durch sie vollbringt. Diese Wunder existieren bis zum Tag der Auferstehung. Mit dem Glauben daran, dass Gottesfreunde Huldwunder vollbringen können, unterscheiden sich die Sunniten von den Muʿtaziliten, die solche Huldwunder für unmöglich halten. Allerdings stellen die Sunniten keinen von den Gottesfreunden auf eine hörere Stufe als einen von den Propheten, weil ein Prophet besser ist als alle Gottesfreunde zusammen.Die Sunniten glauben weder einem Wahrsager (kāhin) noch einem Hellseher (ʿarrāf). Sie glauben aber, dass es auf der Welt Zauberer gibt; der Zauberer ist ihrer Ansicht ein Ungläubiger und die Zauberei etwas Innerweltliches. Nach an-Nasafīs Glaubensbekenntnis sind Zauberei und Böser Blick eine Realität. Außerdem glauben die Sunniten an das Traumgesicht (ruʾyā) im Schlaf. Sie halten vieles von dem, was im Traum gesehen wird, für richtig und bekennen, dass es dafür eine Deutung gibt.
==== Ethische Prinzipien ====
Mehrere sunnitische Glaubensbekenntnisse enthalten darüber hinaus Listen mit ethischen Prinzipien, an die sich die Sunniten halten. Sie üben die Religion durch Vermeidung von schweren Sünden, von Zinā, Lüge (qaul az-zūr), Eiferertum, Stolz (faḫr), Hochmut (kibar), Herabsetzung der Menschen (izrāʾ ʿalā n-nās) und Selbstgefälligkeit (ʿuǧb). Sie verbieten Eingebildetheit (ḫuyalāʾ), Unrecht und Anmaßung (istiṭāla) gegenüber anderen Menschen, gebieten Standhaftigkeit (ṣabr) in der Not, Dank im Glück und Zufriedenheit (riḍāʾ) beim Vergehen des Verhängnisses und rufen auf zu vornehmen Charaktereigenschaften (makārim al-aḫlāq) und guten Werken. Sie gebieten des Weiteren die Pietät gegenüber den Eltern (birr al-wālidain), die Verbundenheit mit den Verwandten (ṣilat al-arḥām), gute Nachbarschaft (ḥusn al-ǧiwār), Wohltätigkeit gegenüber Waisen, Bedürftigen und Reisenden und die Freundlichkeit gegenüber dem Sklaven. Zum Weg der Sunniten gehört außerdem Bescheidenheit (tawāḍuʿ), Demut (istikāna), Anstand (ḥusn al-ḫuluq), freigebiges Spenden (baḏl al-maʿrūf), Vermeidung von Schädigung (kaff al-aḏā), Verleumdung (ġība) und übler Nachrede (namīma) und die Prüfung von Speise und Trank (sc. hinsichtlich ihrer Erlaubtheit).Die Sunniten halten es für gut, sich von jedem, der zu einer Bidʿa aufruft, fernzuhalten und sich mit der Rezitation des Korans und Niederschreiben der Traditionen (āṯār) und der Fiqh zu beschäftigen. Bei den Dingen, bei denen sie unterschiedlicher Meinung sind, stützen sie sich auf das Buch Gottes, die Sunna ihres Propheten, den Konsens der Muslime und das, was damit übereinstimmt.Die Sunniten missbilligen den Streit und Disput über die Religion, den Zwist über die Prädestination und die Diskussion über das, worüber die Leute des Dschadal miteinander streiten, indem sie sich auf die zuverlässigen Überlieferungen und die Nachrichten, die glaubwürdige Leute voneinander bis hin zum Propheten überliefert haben, und sie fragen nicht „Wie?“ und „Warum?“, weil dies eine Neuerung ist. Sie disputieren auch nicht über den Koran. Bei den Dingen, über die sie kein sicheres Wissen haben, sagen sie: „Gott weiß es am besten“ (Allāhu aʿlam).
==== Besonderheiten in der Normenlehre ====
Zwei Punkte, die die Sunniten im Bereich der Normenlehre miteinander verbindet und von den imamitischen Schiiten unterscheidet, ist ihre Gutheißung des Mash ʿalā al-chuffain und ihr Verbot der Mutʿa. Der Mash ʿalā al-chuffain, das „Überstreichen der Schuhe“ anstelle der Waschung vor dem Gebet, ist ihrer Auffassung nach eine Sunna und sowohl bei dauerndem Aufenthalt als auch auf der Reise zulässig. Das Überstreichen der Stiefel wird auch in Mahmūd-i Tāhir Ghazzālīs Liste sunnitischer Glaubenssätze angeführt. Sie bildet dort den vierten Punkt. Ahmad ibn Hanbal nennt außerdem die Kürzung des Gebets auf der Reise als Besonderheit der Sunniten.
== Selbstverständnis der Sunniten ==
=== Als die „gerettete Sekte“ ===
Ein bekannter Hadith, der als Vaticinium ex eventu zu interpretieren ist, besagt, dass sich die muslimische Umma in 73 Sekten aufspalten wird, von denen nur eine gerettet werden wird. Bei den Sunniten gibt es die Vorstellung, dass sie diese „gerettete Sekte“ (firqa nāǧiya) sind. So erklärt zum Beispiel ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī (gest. 1037) am Anfang seines häresiographischen Werks al-Farq baina l-firaq („Der Unterschied zwischen den Sekten“), dass es 20 rāfiditische, 20 charidschitische, 20 qadaritische, 3 murdschiitische, 3 naddschāritische, 3 karrāmitische und darüber hinaus Bakrīya, Dirārīya und Dschahmīya gebe. Das seien die 72 irrenden Sekten. Die 73. Sekte, die die „gerettete Sekte“ sei, seien die Sunniten (ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa). Sie setzen sich nach al-Baghdādī aus zwei Gruppen zusammen, nämlich den Anhängern des Ra'y und den Anhängern des Hadith. Beide stimmten sie jedoch in den Grundlagen der Religion (uṣūl ad-dīn) überein. Unterschiede beständen lediglich bei den Ableitungen (furūʿ) aus den Normen hinsichtlich der Frage, was erlaubt und was verboten ist. Diese Unterschiede seien jedoch nicht so groß, dass sie sich gegenseitig für vom rechten Weg abgeirrt hielten.
=== Als die Mitte der Muslime ===
Spätere sunnitische Gelehrte präsentieren die Sunniten außerdem als die muslimische Gemeinschaft der Mitte. Der Gedanke erscheint ansatzweise schon bei dem Aschʿariten ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī, der bei mehreren dogmatischen Fragen betont, dass die Sunniten eine Position vertreten, die in der Mitte liegt zwischen den Positionen der anderen islamischen Gruppen. Ein Beispiel ist die Frage der Prädestination (Qadar), bei der sie seiner Ansicht nach mit der Kasb-Theorie genau die Mitte halten zwischen den beiden Extrempositionen der Dschabrīya und den Qadarīya.Auch der hanbalitische Gelehrte Ibn Taimīya (gest. 1328), der ansonsten für seine Kompromisslosigkeit bekannt war, hing dieser Auffassung an. Er meinte, dass die Sunniten „die Mitte unter den Sekten der Umma“ (al-wasaṭ fī firaq al-umma) darstellten, so wie die islamische Umma die Mitte zwischen den anderen religiösen Gemeinschaften bilde. Dies verdeutlicht er an den folgenden Beispielen:
bei den Attributen Gottes stehen die Sunniten in der Mitte zwischen der Dschahmīya, die Gott völlig von Eigenschaften entleert, und den Muschabbiha, die Gott der Schöpfung ähnlich machen,
bei den Taten Gottes stehen sie in der Mitte zwischen der Qadarīya und der Dschabrīya,
bei der Frage der Androhung Gottes (waʿīd Allāh) stehen sie in der Mitte zwischen den Murdschi'a und der Waʿīdīya, einer Untergruppe der Qadarīya,
bei der Frage des Glaubens und der Religion stehen sie in der Mitte zwischen Harūrīya (= Charidschiten) und Muʿtazila auf der einen und Murdschi'a und Dschahmīya auf der anderen Seite,
und hinsichtlich der Prophetengefährten stehen sie in der Mitte zwischen Rāfiditen und Charidschiten.Der hanafitische Gelehrte ʿAlī al-Qārī (gest. 1606) führte diesen Gedanken später fort. In seiner anti-schiitischen Schrift Šamm al-al-ʿawāriḍ fī ḏamm ar-rawāfiḍ zitiert er eine Überlieferung, der zufolge ʿAlī ibn Abī Tālib gesagt haben soll: „Zwei Arten von Menschen gehen über mich zugrunde: der übertrieben Liebende und der übertrieben Hassende.“ Hierzu merkt er an, dass der übertrieben Liebende der Rāfidit sei und der übertrieben Hassende der Charidschit. Der Sunnit dagegen liebe ʿAlī in hoher Wertschätzung und befinde sich damit in der ausgewogenen Mitte (al-wasaṭ allaḏī huwa al-qisṭ). Dies setzt al-Qārī zu dem Koranwort Sure 2:143 in Verbindung, in dem es heißt, dass Gott die Muslime zu einer in der Mitte stehenden Gemeinschaft (umma wasaṭ) gemacht habe. Da sich die Sunniten von der in dem überlieferten ʿAlī-Ausspruch beschriebenen Übertreibung fernhalten, meint al-Qārī, dass sie auch die eigentliche „Partei ʿAlīs“ (šīʿat ʿAlī) seien.
=== Als die wesentlichen Träger islamischer Wissenschaften und Kultur ===
ʿAbd al-Qāhir al-Baghdādī stellt die Sunniten in seinem Werk al-Farq baina l-firaq auch als die eigentlichen Träger der islamischen Wissenschaft und Kultur dar. An allen Wissenschaften, Kenntnissen und Anstrengungen, auf die die Muslime stolz seien, so erklärt al-Baghdādī, hätten die Sunniten den Hauptanteil. Daran könne man ersehen, dass das gesamte Verdienst um die Wissenschaften ihnen zukomme. Im letzten Kapitel seines Buchs bezieht al-Baghdādī dies auch auf die Bautätigkeit in den islamischen Ländern. So meint er, dass die Sunniten mit ihren Moscheen, Medresen, Palästen, Ribāten, Manufakturen und Hospitälern eine unerreichbare Stellung erlangt hätten, weil niemand von den Nicht-Sunniten solche Leistungen erbracht habe.Ein ähnliches Bild von den Sunniten als Trägern von Wissenschaft und Kultur wurde 2016 in dem Abschlussdokument der Sunnitenkonferenz von Grosny entworfen. Dort heißt es:
== Staatliche Institutionen mit sunnitischer Ausrichtung ==
Eine der wichtigsten Lehrinstitutionen des sunnitischen Islams weltweit ist die Azhar in Ägypten. In Artikel 32b, Abs. 7 des ägyptischen Azhar-Gesetzes von 1961 ist festgelegt, dass die Azhar „dem Weg der Sunniten“ (manhaǧ ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa) folgt, „mit dem sich die Umma einverstanden erklärt hat, in den Grundlagen der Religion und Anwendungen des Fiqh, mit seinen vier Lehrrichtungen.“ Mitglied des Rats der großen Gelehrten (haiʾat kibār al-ʿulamāʾ) dieser Behörde, die den Scheich der Azhar wählt und aus dem auch die Kandidaten für dieses Amtes rekrutiert werden, kann nur werden, wer sich selbst in seiner Wissenschaft und seinem Betragen an diesen Weg hält. Weitere sunnitische Lehrinstitutionen, die große internationale Anerkennung genießen, sind die Universität Ez-Zitouna in Tunesien und die Universität al-Qarawīyīn in Marokko. Sie werden zusammen mit der Azhar auch in dem Abschlussdokument der Sunniten-Konferenz von Grosny erwähnt.Besonders deutlich ist die sunnitische Ausrichtung auch bei dem „Amt für islamischen Fortschritt von Malaysia“ (Jabatan Kemajuan Islam Malaysia, abgekürzt JAKIM), das 1997 gegründet wurde und in Malaysia verschiedene islambezogene Aufgaben wahrnimmt: Es dient als Sekretariat für den Nationalen Rat für Islamische Religiöse Angelegenheiten (MKI), unterstützt die Formulierung und Standardisierung des Islamischen Rechts, koordiniert die islamische Erziehung, organisiert wissenschaftliche Konferenzen, verbreitet die Fatwas der Muftis, hat die Autorität über die großen Moscheen von Malaysia und bereitet die Freitagspredigten vor. Nach dem Profil, das JAKIM auf seiner eigenen Website veröffentlicht, ist der „Dienst für Religion, Nation und Staat auf Basis der sunnitischen Lehre“ (berkhidmat untuk agama, bangsa dan negara berdasarkan akidah Ahli Sunnah Wal Jamaah) einer der fünf gemeinsamen Werte, der die Behörde bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nachstrebt. Der Staat hat der Behörde außerdem die Aufgabe übertragen, sich mit abweichenden Bekenntnissen, die die nationale Sicherheit bedrohen, zu befassen.Eine weitere Körperschaft, die im Namen des sunnitischen Islams zu sprechen beansprucht, ist der 1971 gegründete Rat der Höchsten Religionsgelehrten in Saudi-Arabien mit seinem Ständigen Komitee für wissenschaftliche Untersuchungen und Fatwa-Erteilung. Das Komitee hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach in Fatwas zur Zugehörigkeit bestimmter islamischer Gruppen zum Sunnitentum geäußert. So hat es 1986 eine Fatwa veröffentlicht, in dem es die Gemeinschaft der Ahbāsch aus dem Sunnitentum ausgeschlossen hat. Die ebenfalls von Saudi-Arabien finanzierte Islamische Weltliga präsentiert sich selbst nicht als eine sunnitische Organisation, allerdings hat die ihr angeschlossene Islamische Fiqh-Akademie in Mekka in einem Beschluss aus dem Jahr 1987 deutlich gemacht, dass sie das Sunnitentum als die ursprüngliche Lehre betrachtet, „die das reine und richtige islamische Denken zur Zeit des Gesandten und des rechtgeleiteten Kalifats repräsentiert“ und auf die sich die islamische Gemeinschaft einigen muss.
Allgemein gilt es auch als ausgemacht, dass die türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) in der Nachfolge der Religionspolitik des Osmanischen Reichs eine sunnitische Interpretation des Islams vorgibt. 1961 verteilte die Diyanet eine Broschüre an seine Muftis, in der sie diese aufforderte, Personen an die Behörde zu melden, die anti-sunnitisches Gedankengut oder schiitische oder alevitische Propaganda verbreiten. Pläne des Komitees der Nationalen Einheit in den 1960er Jahren, die Diyanet-Behörde zu einer überkonfessionellen Institution umzubauen, die auch die Aleviten integrierte, scheiterten am Widerstand konservativer sunnitischer Geistlicher innerhalb und außerhalb der Diyanet-Behörde. Allerdings hat sich die sunnitische Rhetorik im Laufe der Zeit etwas abgeschwächt. Seit den 1990er Jahren präsentiert sich die Diyanet-Behörde als eine Institution, die über den Denominationen (mezhepler üstü) steht. Der von der Behörde organisierte obligatorische Religionsunterricht an den türkischen Schulen stützt sich aber weiter ausschließlich auf das sunnitische Verständnis des Islams.
== Sunnitische Organisationen und Verbände ==
Die größte sunnitische Massenorganisation weltweit ist die Nahdlatul Ulama (NU) in Indonesien mit über 40 Millionen Mitgliedern. Sie erwähnt seit 1984 explizit in ihren Statuten, dass sie der sunnitischen Lehre folgt. Dies bedeutet nach dem Verständnis der NU, 1. sich in der Jurisprudenz an die Prinzipien zu halten, die die vier Madhhab-Gründer festgelegt haben, 2. in der Theologie der Lehre von Abū l-Hasan al-Aschʿarī und Abu Mansur al-Maturidi zu folgen und 3. in der Sufik die Prinzipien von al-Dschunaid und al-Ghazālī zu verwirklichen. Als Reaktion auf den Terror der IS-Organisation richtete die Nahdlatul Ulama im Mai 2016 in Jakarta den International Summit of Moderate Islamic Leaders (ISOMIL) aus, an dem 400 Gelehrte aus 30 Ländern teilnahmen. Zum Abschluss der Konferenz präsentierte der Zentralvorstand der NU eine 16 Punkte umfassende Deklaration, in der die Organisation ihr gemäßigtes Verständnis des traditionellen sunnitischen Islams bekräftigte. In Punkt 10 der Erklärung wird konstatiert, dass religiöser Extremismus und Terrorismus unter Muslimen unmittelbar zur Verbreitung von Islamophobie in der nicht-muslimischen Welt beigetragen haben. In Punkt 16 erklärt die Organisation, nach einer Konsolidierung der globalen sunnitischen Gemeinschaft zu streben, um eine Welt zu erreichen, in der der Islam und die Muslime wahrhaft positiv wirken und zum Wohlstand der gesamten Menschheit beitragen.In Indonesien wird der Begriff Ahlussunnah wal Jamaah, der hier häufig mit ASWAJA abgekürzt wird, vor allem für traditionalistisch ausgerichtete Gruppierungen verwendet, die die Madhhab-Ordnung befürworten und im Gegensatz zu modernistischen Gruppen stehen. Die Muhammadiyah-Organisation, die eine modernistische Ausrichtung hat, präsentiert sich umgekehrt in ihren offiziellen Verlautbarungen nicht als sunnitische Organisation, auch wenn sie die Sunna als zweite Rechtsquelle nach dem Koran betrachtet. Nachdem aber andere muslimische Organisationen der Muhammadiyah vorgeworfen hatten, wegen ihrer Ablehnung des Taqlīd außerhalb des Sunnitentums zu stehen, verfasste der Muhammadiyah-Gelehrte Djarnawi Hadikusuma (gest. 1993) eine Abhandlung, in der er die Zugehörigkeit seiner Organisation zum Sunnitentum bekräftigte. Eine weitere indonesische Massenorganisation mit explizit sunnitischer Orientierung ist die Front Pembela Islam, die für die Einführung der Scharia in Indonesien kämpft. Sie hat im Gegensatz zur moderaten NU jedoch eine militante Ausrichtung.
Eine Organisation in Westafrika, die sich explizit als sunnitisch präsentiert, ist die Association des Musulmans Sunnites en Côte d’Ivoire (AMSCI – „Gesellschaft der sunnitischen Muslime der Elfenbeinküste“). Sie wurde 1976 unter dem Namen Association des musulmans orthodoxes de Côte d’Ivoire (AMOCI) gegründet und hat erst 1997 ihren jetzigen Namen angenommen. Ihre Ausrichtung ist gemäßigt salafistisch. Sie ist seit 2007 föderal organisiert, unterhält eigene Jugend- und Frauenorganisationen und eine eigene Organisation sunnitischer Imame, den Conseil des Imams Sunnites (CODIS). Nachdem sie 1993 mit anderen islamischen Organisationen den Conseil National Islamique (CNI – „Nationaler Islamischer Rat“) gründete, hat sie diesen 2005 wieder verlassen und rivalisiert heute mit ihm.Von den vier muslimischen Vereinen und Dachverbänden in Deutschland, die im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossen sind, betont vor allem der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) seine sunnitische Identität. Er hat eine mystische Ausrichtung und folgt den Lehren Süleyman Hilmi Tunahans. Auf seiner eigenen Website gibt der VIKZ an, dass er der „sunnitisch-hanefitischen Ausrichtung des Islam“ angehört, und betont, dass auch Süleyman Hilmi Tunahan und seine Schüler „Angehörige des sunnitischen Islam“ gewesen seien.
== „Ahl as-Sunna“ als Selbstbezeichnung moderner islamischer Bewegungen ==
Seit dem 19. Jahrhundert sind verschiedene islamische Bewegungen entstanden, die den Ahl-as-Sunna-Begriff für sich reklamieren, um damit ihren Anspruch auf „Legitimität, Authentizität und einen Sinn von Besonderheit“ zum Ausdruck zu bringen. Die Aneignung des Titels als religiöser Identitätsmarker dient auch dazu, um rivalisierende Bewegungen als „anders“ oder abweichend abzugrenzen oder der Einführung unrechtmäßiger Neuerungen zu beschuldigen. Bei den neuen Gruppierungen, die sich als Ahl as-sunna bezeichnen, lassen sich sufische Bewegungen und salafistische Bewegungen, die dem Sufismus ablehnend gegenüberstehen, unterscheiden.
=== Sufische Bewegungen ===
Eine der wichtigsten sufischen Bewegungen, die den Begriff Ahl-e Sunnat wa Jama'at als Selbstbezeichnung für sich verwendet, ist die Barelwī-Bewegung aus Südasien, die von Ahmad Riza Khan Barelwi (1856–1921) gegründet wurde. Sie steht dem Qādirīya-Orden nahe, betrachtet den Propheten Mohammed als übernatürliches Wesen und pflegt Praktiken der Heiligenverehrung. Damit steht sie in starkem Gegensatz zur Deobandi-Bewegung, die solche Praktiken ablehnt. 1925 gründeten Gelehrte der Barelwī-Bewegung als Antwort auf die Jamiat Ulema-e-Hind, in der sich die Deobandi-Gelehrten zusammengeschlossen hatten, die All-India Sunni Conference (AISC). Sie hielt insgesamt drei landesweite Konferenzen ab (1925, 1935 und 1946). Auf der Konferenz von 1946 in Benares, bei der sich die Organisation für die Gründung Pakistans aussprach, nahmen 500 Sufi-Scheiche, 7000 ʿUlamā' und 2000 andere „Sunniten“ teil.
Zwar erheben auch die Deobandis Anspruch auf die Bezeichnung „Sunni“, doch ist es den Barelwis gelungen, sie in Südasien weitgehend als Selbstbezeichnung für die eigene Bewegung zu okkupieren. 1981 gründeten Gelehrte der Barelwī-Bewegung als Konkurrenz zur Tablighi Jamaat, die der Deobandi-Bewegung nahesteht, als eigene Missionsbewegung die Daʿwat-e Islami („Islamische Daʿwa“). Sie hat ihren Sitz in Karatschi und ist inzwischen in mehr als 60 Ländern aktiv. Neben Karatschi sind Dubai und Durban zu zentralen Drehscheiben der Aktivitäten der Bewegung geworden. Vorsitzender ist Ilyas Attar Qadri (geb. 1950), der in Dubai lebt. Er führt den Titel eines Amir-e Ahl-e sunnat („Befehlshaber der Sunniten“).1992 gründete Salim Qadiri, der Bezirksvorsteher der Daʿwat-e Islami von Saidabad bei Karatschi die radikale Bewegung Sunni Tehreek („Sunnitische Bewegung“), um eine Übernahme der Moscheen und Madrasa-Schulen der Barelwis durch Deobandi- und Ahl-i Hadīth-Gruppen zu verhindern. Aktivisten der Bewegung verübten zahlreiche Anschläge auf Deobandi-Funktionäre, bis im April 2006 die Führung der Sunni Tehreek in Karatschi selbst zum Opfer eines Anschlages wurde. Barelwis und Deobandis rivalisieren nicht nur in Pakistan, sondern auch im Vereinigten Königreich und in Südafrika miteinander und sind immer wieder in Konflikte verwickelt. Hierbei nehmen die Barelwis für sich in Anspruch, als Ahl as-Sunna die einzige errettete Sekte von den 73 islamischen Sekten zu sein.Eine weitere sufische Bewegung erheblich jüngeren Datums, die auf den Begriff Ahl as-Sunna als Selbstbezeichnung zurückgreift, ist die paramilitärische Gruppierung Ahlu Sunna Wa l-Jamaʿa (ASWJ) in Somalia, die gegen die Shabaab-Miliz kämpft. Eine erste Organisation dieses Namens wurde schon 1992 durch General Mohammed Farah Aidid gegründet. In ihr sollten muslimische Geistliche zusammengeführt werden, die ihn beim Kampf gegen die Islamisierung des Landes unterstützten. Die meisten ASWJ-Anhänger gehörten dem Qādirīya-Orden an. Nach dem Tod von Aidid organisierte sich die ASWJ-Gruppierung neu und betrieb eigene islamische Gerichte. Die ASWJ verfolgte eine legitimistische Linie und rief dazu auf, mit der Regierung zusammenzuarbeiten und Fitna zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit der Shabaab-Miliz begann, als im Dezember 2008 Shabaab-Kämpfer Gräber von Sufi-Scheichen zerstörten, die von der lokalen Bevölkerung in Galguduud verehrt wurden. Die ASWJ bildeten daraufhin eine eigene Miliz, die die Shabaab-Kämpfer zurückdrängen konnte. Im März 2010 schloss die ASWJ-Miliz eine Übereinkunft mit der Übergangsregierung Somalias, die ihr eine Anzahl von Positionen im Kabinett und im Staatsapparat sicherte. Heute spielen die ASWJ und ihr Anführer Sheikh Mohamed Shakir Ali Hassan eine wichtige politische Rolle in dem autonomen somalischen Bundesstaat Galmudug.
=== Salafistische Bewegungen ===
Bewegungen mit salafistischer Ausrichtung, die den Begriff Ahl as-Sunna als Selbstbezeichnung verwenden, finden sich vor allem in Westafrika. Eine der frühesten Bewegungen dieser Art sind die Ahl as-Sunna von Burkina Faso, die dort bereits in den 1960er Jahren viele Anhänger unter Händlern und Regierungsbeamten gewannen. Sie gerieten dabei immer mehr in eine Rivalität zu den Muslimen der Communauté Musulmane, die mit dem Herrscherhaus der Mossi verbunden war. Im April 1973 kam es zu einem schweren Ausbruch von Gewalt, weil ein Prediger der Ahl as-Sunna in seiner Predigt in Ouagadougou behauptete, dass allein die Muslime seiner Gemeinschaft wahre Muslime seien, während die anderen Muslime für die Hölle bestimmt seien, und dabei auch auf den Hadith von 72 Sekten Bezug nahm. Muslime der Communauté Musulmane griffen daraufhin die Moschee des Predigers an. Weitere Zusammenstöße zwischen den beiden Gruppen folgten in Bobo-Dioulasso. Obwohl Muslime der Communauté die Ahl as-Sunna bei der Regierung zu diskreditieren und damit eine offizielle Registrierung als Organisation zu verhindern versuchten, konnten diese ihre Bewegung im Dezember 1973 schließlich doch als Mouvement Sunnite eintragen lassen. Bei der offiziellen Zulassung des Mouvement Sunnite spielte auch die Bestrebung der Regierung, freundschaftliche Beziehungen nach Saudi-Arabien aufzubauen, eine wichtige Rolle. In den 1980er Jahren konnte Mouvement Sunnite mit finanzieller Unterstützung aus arabischen Ländern (insbesondere Saudi-Arabien und Kuweit) Madrasa-Schulen, Moscheen und Bibliotheken bauen. Innere Konflikte und die zunehmende Unzufriedenheit der jüngeren Generation mit dem intellektuellen Extremismus der Organisation führten aber dazu, dass der Mouvement Sunnite in den frühen 1990er Jahren einen Niedergang erlebte.Eine andere Ahl-Sunna-Bewegung mit salafistischer Ausrichtung entstand in Ghana um den Prediger al-Hajj Umar Ibrahim, der an der Islamischen Universität Medina (IUM) studiert hatte und nach seiner Rückkehr aus Saudi-Arabien zwischen 1969 und 1972 eine große Anzahl von Anhängern um sich scharen konnte. Er wandte sich vor allem gegen die sufischen Praktiken des Tidschānīya-Ordens und den Glauben an Baraka. Auch säkulare Muslime fühlten sich von seinen Predigten angezogen. Mit Unterstützung des Ghana Islamic Research and Reformation Center (GIRRC), in dem säkulare Muslime dominierten, gründete al-Hajj Umar 1972/72 in Nima, einem Stadtteil von Accra, eine Madrasa, die auch viele Studenten aus Benin und Togo anzog. In den frühen 1980er Jahren erlebte die Ahl-as-Sunna-Bewegung ihren Höhepunkt und übertraf in Ghana zahlenmäßig die Anhängerschaft der Tidschānīya, danach ging die Zahl ihrer Anhänger aufgrund interner Streitigkeiten wieder zurück. 1996 wurde al-Hajj Umar zum National Chief Imam der Ahl as-Sunna ernannt. Nachdem er sich mit den säkularen Muslimen überworfen hatte, brachte er 1997 GIRCC unter seine Kontrolle und benannte es in Ahl-as-Sunna wa-Jama’a (ASWAJ) um. Während sich die Anhänger al-Hajj Umars selbst Ahl as-Sunna nennen, werden sie von den anderen Muslimen als Wahhabiten betrachtet.
Auch die Ahl as-Sunna im Senegal sind eine anti-sufische Bewegung. Sie wendet sich nicht nur gegen die Tidschānīya, sondern auch gegen den Murīdīya-Orden. Die anderen Senegalesen bezeichnen diese anti-sufisch orientierten Muslime als Ibadou, nach der Jamatou Ibadou Rahmane (JIR), eine der Keimzellen der „sunnitischen Bewegung“ von Senegal. Sie wurde 1978 in Thiès von Dissidenten der Union culturelle musulmane (UCM) gegründet. Im Laufe der 1990er Jahre hat sich dieser „sunnitische Islam“ sehr schnell unter den Jugendlichen von Dakar verbreitet. Die Ibadou-Muslime sehen sich als die einzig wahren Ahl as-Sunna, während sie die sufischen Muslime, die lauten Dhikr-Übungen nachgehen, als „Leute des Satans“ (ahl šaiṭān) betrachten.
Ein weiteres salafistisches Netzwerk in Westafrika, das als Selbstbezeichnung Ahl as-Sunna verwendet, entstand in Nigeria in den 1990er Jahren aus einer Abspaltung der nigerianischen Izala-Bewegung. Einige Izala-Aktivisten aus Kano, die an der IUM studiert hatten und Dschaʿfar Mahmūd Ādam (1960–2007) als ihren Anführer betrachteten, kündigten ihren Gehorsam gegenüber der Izala-Führung auf und gründeten eine eigene Gruppierung, die sie Ahl as-Sunna nannten. Ideologischer Orientierungspunkt für sie waren die Schriften von Muhammad Nāsir ad-Dīn al-Albānī, ʿAbd al-ʿAzīz ibn Bāz und Muhammad ibn al-ʿUthaimīn. Wie die Yan Izala lehnten die Ahl as-Sunna unislamische Neuerungen ab, doch waren sie nicht mit der Art einverstanden, wie die Yan Izala gegen die Sufis vorgingen und sie für ungläubig erklärten. Durch die Wahl des Namens Ahl as-Sunna versuchten sie, ihre Identität auf eine universalere Basis zu stellen. Sie wollten keine Organisation sein, sondern „einer Methode, die auf den Gottesgesandten zurückgeht,“ folgen. Die religiösen Aktivitäten der Ahl as-Sunna konzentrierten sich im Wesentlichen auf Daʿwa und intellektuelle Auseinandersetzungen mit anderen salafistischen Gruppierungen. Außerdem beteiligten sie sich in den frühen 2000er Jahren an Hisba-Akitivitäten in Nordnigeria und unterstützten die Einführung der Scharia.Aus einer regionalen Zelle des Ahl-as-Sunna-Netzwerks in Maiduguri, die unter der Führung von Muhammad Yūsuf stand, entstand später Boko Haram. Diese Zelle sagte sich 2002 von Dschaʿfar Mahmūd Ādam los und benannte sich in ahl al-sunna wa-l-ǧamāʿa wa-l-hiǧra („Leute der Sunna, der Gemeinschaft und der Hidschra“) um. Mit dem Zusatz Hidschra („Auswanderung“) brachte die Gruppe zum Ausdruck, dass sie Nigeria als einen heidnischen Staat betrachtete, aus dem Muslime so auswandern müssten wie 622 Mohammed aus Mekka. Nach dem Tod von Muhammad Yūsuf im Jahre 2009 benannte sich die Gruppierung im Zuge einer strategischen Neuausrichtung erneut um und nahm den Namen ahl as-sunna li-d-daʿwa wa-l-ǧihād ʿalā manhaǧ al-salaf („Leute der Sunna für Daʿwa und Dschihad nach der Methode der Altvorderen“) an. Damit verschob die Gruppierung ihren ideologischen Akzent von Hidschra auf Dschihad und gab ihrer neuen dschihadistisch-salafistischen Orientierung Ausdruck. Gleichzeitig beansprucht Boko Haram mit ihrem Namensbestandteil ahl as-sunna weiter Deutungshoheit darüber, was als Sunna anzusehen ist.
== Die Rivalität zwischen Aschʿarīya und Salafīya und die Sunniten-Konferenzen von 2016 ==
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es innerhalb des sunnitischen Lagers heftige Auseinandersetzungen zwischen Aschʿariten auf der einen und Salafisten/Wahhabiten auf der anderen Seite, die sich gegenseitig aus dem Sunnitentum ausschließen. In Indonesien schrieb in den 1960er Jahren der aschʿaritische Gelehrte Sirajuddin Abbas (gest. 1980) mehrere Bücher, in denen er die Ahl as-salaf explizit aus dem Sunnitentum ausschloss. Hierbei argumentierte er unter anderem damit, dass es in den ersten 300 Jahren des Islam keinen Salafī-Madhhab gegeben habe. Daraus folgerte er, dass diejenigen, die andere Muslime dazu aufriefen, den Salafī-Madhhab zu befolgen, einen Madhhab anpriesen, den es gar nicht gebe. Seiner Auffassung nach waren allein die Aschʿariten wirkliche Sunniten. Abbas’ Bücher dienten 2014 als theologische Grundlage für anti-salafistische Kampagnen in Aceh. Bei diesen Kampagnen wurden verschiedene salafistische Schulen in Aceh von der Provinz-Regierung geschlossen.Offenbar aufgrund der Zweifel an der Zugehörigkeit der Salafīya zum Sunnitentum veröffentlichte das Ständige Komitee für wissenschaftliche Untersuchungen und Fatwa-Erteilung eine Fatwa, in der es klarstellte, dass es die Salafisten sehr wohl als Sunniten betrachtet. Wie einige Aschʿariten sind die Salafisten der Auffassung, dass ihre Lehre die einzig wahre Form des Sunnitentums darstellt. Deswegen sprechen sie den Aschʿariten und Māturīditen auch teilweise die Zugehörigkeit zum Sunnitentum ab. Ein Beispiel ist der saudische Gelehrte Muhammad Ibn al-ʿUthaimīn, der in seinem 2001 veröffentlichten Kommentar zur ʿAqīda Wāsiṭīya von Ibn Taimīya die Meinung äußerte, dass Aschʿariten und Māturīditen nicht zu den Sunniten zählen würden, weil sie mit ihrer Attributenlehre im Gegensatz zur Lehre des Propheten und seiner Gefährten ständen. Aus diesem Grund sei auch die Auffassung von den drei Gruppen, die dem Sunnitentum angehören, zurückzuweisen. Sunniten seien nur diejenigen, die salaf hinsichtlich des Glaubens seien. Wer immer bis zum Tag der Auferstehung dem Weg des Propheten und seiner Gefährten folge, sei ein Salafī. Der salafistische kuweitische Gelehrte Faisal ibn Quzāz al-Dschāsim veröffentlichte 2006 ein 800 Seiten langes Buch, um nachzuweisen, dass die Aschʿariten im Widerspruch zum Weg der Sunniten stünden.Der Vorwurf einiger Wahhabiten, dass die Aschʿariten außerhalb des Sunnitentum ständen, war auch Gegenstand einer Fatwa des Ägyptischen Fatwa-Amtes im Juli 2013. In seiner Fatwa wies das Amt diesen Vorwurf zurück, bekräftigte, dass die Aschʿariten noch immer die „Menge der Gelehrten“ (ǧumhūr al-ʿulamāʾ) darstellten, und betonte, dass sie es gewesen seien, die in der Vergangenheit die „Scheinargumente der Atheisten“ (šubuhāt al-malāḥida) abgewehrt hätten. Wer sie für ungläubig erkläre oder an ihrer Rechtgläubigkeit zweifele, für den müsse man um seine Religion fürchten. Das Fatwa-Amt stellte noch am selben Tag in einer Fatwa klar, dass seinem Verständnis nach mit den Ahl as-Sunna wa-l-Dschamāʿa nur solche Muslime gemeint sind, die in der Glaubenslehre Aschʿariten oder Māturīditen sind.
Die Rivalität zwischen Aschʿarīya und Salafīya wurde erneut bei den beiden Sunnitenkonferenzen von 2016 sichtbar, die sich gegen den Terror der IS-Organisation richteten. Die erste Konferenz mit dem Titel „Wer sind die Ahl al-Sunna wa al-Jamāʿa?“ fand im August 2016 unter Schirmherrschaft von Ramsan Achmatowitsch Kadyrow in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny statt. An ihr nahmen zahlreiche religiöse Persönlichkeiten aus Ägypten, Indien, Syrien, Jemen und der Russischen Föderation teil, darunter auch Ahmad al-Tayyib, der Groß-Imam der Azhar, und Sheikh Abubakr Ahmad, der Groß-Mufti von Indien, der der Barelwi-Bewegung angehört. Die Konferenz sollte nach Vorstellung ihrer Organisatoren „einen gesegneten Wendepunkt für die Bemühungen darstellen, die schwerwiegende und gefährliche Entstellung der Religion durch jene Extremisten zu korrigieren, die versuchen, sich des ehrwürdigen Namens der Ahl al-Sunna wa-al-Jamāʿa zu bemächtigen, ihn ausschließlich auf sich selbst zu münzen und seine wahren Vertreter davon auszuschließen.“ In der Abschlusserklärung wurden die Takfīr betreibenden Salafisten und die IS-Organisation aus dem sunnitischen Islam ausgeschlossen. Als Antwort darauf hielten im November 2016 verschiedene bekannte Persönlichkeiten der Salafīya in Kuweit eine Gegenkonferenz unter dem Titel „Die richtige Bedeutung des Sunnitentums“ (al-Mafhūm aṣ-ṣaḥīḥ li-ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa) ab, in der sie sich ebenfalls von extremistischen Gruppen distanzierten, aber gleichzeitig darauf bestanden, dass der Salafismus nicht nur ein Bestandteil des Sunnitentums sei, sondern das Sunnitentum selbst repräsentiere. Die Konferenz wurde von Ahmad ibn Murābit, dem Groß-Mufti von Mauretanien, geleitet. Wenige Tage später distanzierte sich Ahmad al-Tayyib öffentlich von der Abschlusserklärung der Konferenz von Grosny, bekräftigte, dass er nicht an ihr nicht beteiligt gewesen sei, und betonte, dass er die Salafisten selbstverständlich als Sunniten betrachte.In Algerien erregte im Frühjahr 2018 der Gelehrte Muhammad ʿAlī Farkūs, der der madchalistischen Unterströmung des Salafismus angehört, großes Aufsehen mit einer Fatwa, in der er nicht nur die Sufis und Aschʿariten, sondern auch die Tablighis und die Muslimbrüder sowie die Anhänger von IS und al-Qaida aus dem Sunnitentum ausschloss. Abderrezak Guessoum, der Präsident der Vereinigung der algerischen muslimischen Gelehrten, kritisierte den Text wegen seiner Angriffe gegen die Sufis und Aschʿariten als „schweren Ausrutscher“ und forderte die algerischen Religionsgelehrten und Exegeten auf, derartige Deklarationen als „wirkliche Gefahr für die nationale Einheit“ anzuprangern. Sein Stellvertreter Ammar at-Talibi warf Farkūs vor, mit seiner Erklärung Fitna unter den Muslimen hervorzurufen, zu einer Spaltung aus der fernen Vergangenheit zurückzukehren und „künstliche Parolen“ (šiʿārāt muṣṭaniʿa) wiederzubeleben. In diesem Zusammenhang wies er auch darauf hin, dass der Ausdruck ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa zur Zeit des Gottesgesandten noch gar nicht existiert hat.
== Literatur ==
Arabische Quellen (chronologisch)
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== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Sunniten |
Caligula | = Caligula =
Gaius Caesar Augustus Germanicus (* 31. August 12 in Antium als Gaius Iulius Caesar; † 24. Januar 41 in Rom), postum bekannt als Caligula, war von 37 bis 41 römischer Kaiser. Caligulas Jugend war von den Intrigen des ehrgeizigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt. Nach hoffnungsvollem Regierungsbeginn, der durch persönliche Schicksalsschläge getrübt wurde, übte der Kaiser seine Herrschaft zunehmend als autokratischer Monarch aus und ließ in Hochverratsprozessen zahlreiche Senatoren in willkürlicher Ausschöpfung seiner Amtsgewalt zum Tode verurteilen. Seine Gewaltherrschaft endete mit seiner Ermordung durch die Prätorianergarde und Einzelmaßnahmen zur Vernichtung des Andenkens an den Kaiser.
Da die antiken Quellen Caligula praktisch einhellig als wahnsinnigen Gewaltherrscher beschreiben und sich zahlreiche Skandalgeschichten um die Person des Kaisers ranken, ist er wie kaum eine zweite Herrscherpersönlichkeit der Antike zum Gegenstand belletristischer und populärwissenschaftlicher Bearbeitungen geworden. Einige Beiträge der jüngeren Forschung diskutieren allerdings alternative Ansichten und gelangen so zu einer differenzierteren Darstellung.
== Anfänge ==
=== Herkunft ===
Geboren als Sohn des Germanicus und Agrippina der Älteren mit dem Namen Gaius Iulius Caesar, war Caligula durch die Mutter Urenkel von Kaiser Augustus, durch den Vater Urenkel von Augustus’ Frau Livia (siehe Julisch-claudische Dynastie). Der Name Caligula (lateinisch: „Soldatenstiefelchen“, Diminutiv zu caliga) ist von den genagelten Soldatenstiefeln der Legionäre abgeleitet, den caligae, welche die Rheinlegionen für den mitreisenden Sohn ihres Oberbefehlshabers Germanicus anfertigen ließen, und war zu Lebzeiten ungebräuchlich. Sein vollständiger Titel zum Zeitpunkt seines Todes war Gaius Caesar Augustus Germanicus, Pontifex maximus, Tribunicia potestate IV, Consul IV, Imperator, Pater patriae.
=== Jugend ===
Schon als Kleinkind begleitete Caligula seine Eltern 14 bis 16 n. Chr. nach Germanien, wo er zum Liebling der Truppen wurde, und anschließend in den Orient. Als Caligula sieben Jahre alt war, verstarb sein Vater Germanicus im Jahr 19 während dieser Orientreise, wobei der Statthalter Syriens Gnaeus Calpurnius Piso beschuldigt wurde, ihn vergiftet zu haben. Caligulas Mutter kehrte mit ihm nach Rom zurück. Der Hof von Caligulas Großonkel Tiberius war zu dieser Zeit von der intriganten Politik des mächtigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt, der den Plan fasste, durch systematische Ausschaltung der natürlichen Erben des Tiberius seine eigene Nachfolge durchzusetzen. Diesem Plan kam der Tod des Drusus im Jahre 23, den Seianus’ Frau später als geplanten Giftmord ihres Gatten darstellte, sehr gelegen. Seianus denunzierte Caligulas Mutter, Agrippina die Ältere, bei Tiberius mit Verschwörungsvorwürfen, woraufhin Agrippina und Caligulas ältester Bruder Nero Caesar im Jahre 29 in die Verbannung gehen mussten, während derer beide in den Tod gedrängt wurden. Nur ein Jahr später wurde unter ähnlichen Umständen der zweitälteste Bruder, Drusus Caesar, in den Kerker geworfen, wo er durch Nahrungsentzug getötet wurde. Damit war Caligula der einzige überlebende Thronfolger.
Das Sorgerecht für den jungen Caligula war bereits im Jahr 27 an Livia, die Mutter des Tiberius und Witwe des Augustus, übergegangen. Nach ihrem Tod wurde Caligula der Obhut seiner Großmutter Antonia übergeben. Wohl um ihn als einzig verbliebenen männlichen Erben des Tiberius vor Mordversuchen zu schützen, wuchs der jugendliche Caligula isoliert im Umfeld seiner drei Schwestern Agrippina, Drusilla und Iulia Livilla auf, unter denen er eine besondere Zuneigung zu Drusilla entwickelte. Dass Tiberius an seiner Regierungsfähigkeit zweifelte und ihn deshalb vom politischen Leben ausschloss, ist vermutlich eine spätere Konstruktion, da die Quellen sonst von der allgemeinen Beliebtheit des jungen Caligula berichten: Vorsicht und Intelligenz hätten den späteren Kaiser die Zeit bis zur Hinrichtung des Seianus im Jahre 31 überleben lassen, allerdings in späteren Jahren eine ständige Angst vor vermeintlichen oder realen Verschwörungen mitverursacht. Vermutlich von dem engen Umgang Caligulas mit seinen Schwestern motiviert, der später zur propagandistischen Erhöhung der Frauen führte, wird vom Inzest der Geschwister berichtet. Aus dynastischen Gründen – Kindszeugungen in engen Verwandtenverhältnissen waren in der Kaiserfamilie nicht ungewöhnlich – kann ein Inzest allerdings nicht ausgeschlossen werden.
Tiberius rief Caligula noch im Jahr 31 an seinen Alterssitz auf Capri. Dort gelang es dem jungen Mann, das Vertrauen des amtierenden Kaisers zu gewinnen. Sueton berichtet, dass dieses Vertrauensverhältnis auf dem gemeinsamen Interesse an Folterungen und sexuellen Ausschweifungen beruhte. Es dürfte sich hierbei jedoch um einen zumindest tendenziösen Passus des anekdotenreichen Biographen handeln, der ähnliche Berichte auch anderen Kaisern zuschreibt, ebenso bei dem überlieferten Gerücht, Caligula habe den kranken Tiberius mit einem Kissen erstickt: Besonders bei Todesfällen von Herrschern kamen häufig unbestätigte Gerüchte auf.
== „Der Kaiser“ ==
=== Regierungsantritt ===
Mit dem Tod des Tiberius am 16. März 37 war die Nachfolge Caligulas weit sicherer als noch bei den mehrfach wechselnden Nachfolgekandidaten unter Augustus. Zwar hatte Tiberius in seinem Testament seinen leiblichen Enkel, Caligulas Cousin Tiberius Gemellus, zum Miterben eingesetzt, der Senat erklärte es aber auf Initiative des Prätorianerpräfekten und Nachfolgers des Seianus, Macro, für ungültig. Die von Augustus geschaffene Prätorianergarde mit ihrem Präfekten hatte traditionell ein enges Verhältnis zum Kaiser und mag daher gehofft haben, den jungen Caligula als Marionette zu gebrauchen. Jedenfalls ließ sie ihn am 18. März zum Kaiser ausrufen. Nach feierlichem Einzug in Rom übertrug der Senat am 28. März beinahe sämtliche Amtsfunktionen und Privilegien, die Augustus und Tiberius über die Zeit auf sich vereinigt hatten, an Caligula. Der übergangene Tiberius Gemellus wurde zunächst mit der Adoption durch Caligula entschädigt, die ihm Hoffnung auf Teilhabe an der Herrschaft sowie eine spätere Nachfolge machen konnte.
Nach den unruhigen letzten Regierungsjahren des Tiberius, die durch den Putschversuch des Seianus und die anschließenden Prozesse geprägt waren, wurden mit Caligulas Herrschaftsantritt große Hoffnungen verbunden, unter anderem wegen der Popularität seines Vaters Germanicus, der als Wunschnachfolger des Augustus gegolten hatte.
=== Die ersten zwei Jahre (37–38 n. Chr.) ===
In den ersten Monaten seiner Regentschaft machte sich Caligula bei den herrschaftstragenden Gruppen beliebt: Er beschloss Steuersenkungen, setzte die unter Tiberius ausufernden Hochverratsprozesse aus und gewährte den bereits mit der Verbannung bestraften Senatoren die Rückkehr. Auch mit der Ausweisung einer Gruppe von Lustknaben distanzierte er sich von Tiberius, der deren Dienste in Anspruch genommen haben soll. Der Prätorianergarde ließ er erstmals bei Regierungsantritt ein Geldgeschenk zukommen und erkaufte sich damit die Gunst dieser als kaiserliche Leibgarde dienenden Elitetruppe. Der Tempel des vergöttlichten Augustus wurde symbolträchtig zu Beginn seiner Herrschaft eingeweiht, um Abstammung und Verbundenheit zum ersten Kaiser zum Ausdruck zu bringen. Diese Maßnahmen brachten Caligula allerdings an den Rand des Ruins. Kostspielig waren auch die von Caligula veranstalteten aufwändigen Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe, die während seiner Regierungszeit grausamer wurden und dabei dem Geschmack der Zeit entgegenkamen: Blutige Gladiatorenkämpfe wurden in der Antike, soweit bekannt, zumindest nicht nachhaltig kritisiert. Viele Grausamkeiten des Kaisers sind im Zusammenhang mit Spielen oder öffentlichen Spektakeln überliefert.
Möglicherweise aus Überanstrengung litt Caligula nach 6 Monaten Herrschaft an einer schweren Krankheit. Ihre Folgen kleidete Sueton in die Worte: Bis hierhin vom Kaiser, jetzt muss über das Scheusal berichtet werden. Dieser Periodisierung liegt ein gängiges Erzählmuster der antiken Biographie zugrunde, die das Leben eines Menschen möglichst in Kategorien aufzuteilen bestrebt war. Tatsächlich begannen in der Zeit nach Caligulas Genesung die ersten Hochverratsprozesse: Der Kaiser ließ seinen ehemaligen Miterben und Adoptivsohn Tiberius Gemellus, seinen Schwiegervater Silanus, den Vater seiner ersten, bereits 36 oder 37 im Kindbett verstorbenen Frau Iunia Claudilla, und den einflussreichen Prätorianerpräfekten Macro unter dem Vorwurf einer Verschwörung verhaften und zum Selbstmord zwingen. Caligula hatte damit seine Herrschaft abgesichert und gegen Einflussnahme geschützt.
=== Außenpolitik ===
Caligulas kurze Regierungszeit sah nur vergleichsweise kleine militärische Unternehmungen, deren Chronologie weitgehend unklar ist. Im Herbst 39 überschritt er mit einem Heer die Alpen, um in der Tradition seiner Vorfahren die als noch nicht abgeschlossen angesehene Expansion in Germanien und Britannien fortzuführen. Seine Ambitionen in Germanien waren indes nicht von Erfolg gekrönt: Weder konnte der Kaiser nach Abzug der Truppen signifikante territoriale Gewinne verzeichnen noch erhielten die provisorischen Militärterritorien des ober- und niedergermanischen Heeres vor 85 n. Chr. den Status einer Provinz mit der hierzu notwendigen Infrastruktur. Im Zusammenhang mit dem Britannienfeldzug berichten die Quellen ausschließlich von großenteils grotesk anmutenden Aktionen des Kaisers. So ließ er Seemuscheln an den Stränden des Ärmelkanals sammeln, die als exotische Beutestücke den Erfolg der Operation suggerieren sollten. Pläne zu einem aufwendigen Triumph, bei dem eigens angeworbene gallische Gladiatoren mit rot gefärbten Haaren als germanische Kriegsgefangene aufgeführt werden sollten, wurden in diesem Umfang nicht verwirklicht. Die Münzprägung des Caligula betont indes die militärische Größe des Kaisers und steht damit im Widerspruch zur literarischen Überlieferung.Außerhalb militärischer Führungsstellen war Caligulas Politik erfolgreicher. Es gelang ihm 37, den im Umkreis der kaiserlichen Familie aufgewachsenen, romfreundlichen Herodes Agrippa I. als König von Judäa einzusetzen und sein Herrschaftsgebiet zwei Jahre später zu erweitern. Außerdem ließ Caligula unter unbekannten Umständen im Jahre 40 Ptolemaios, den König von Mauretania, zunächst nach Rom einladen, anschließend ermorden und sein Gebiet annektieren. Die Quellen berichten von Neidgefühlen des Caligula, welche der eindrucksvolle Auftritt des Königs im Amphitheater auslöste. Politische Motive für die Ermordung, die zur Expansion des Reiches beitrug, sind jedoch anzunehmen.
=== Kunstraub ===
Caligula ist auch als Liebhaber und Räuber nichtitalischer Kunstschätze, bevorzugt aus dem opulenten Bestand griechischer Tempel, in die Geschichte eingegangen. So wollte er die Zeus-Statue des Phidias, ein Weltwunder der Antike, nach Rom bringen lassen. Dieses Vorhaben scheiterte der Überlieferung nach daran, dass die Statue durch einen Abbau zerstört worden wäre und sich mächtige Wunderzeichen ereignet hätten. Seit Fortschreiten der Expansion und administrativer Einteilung des Reiches in Provinzen war Kunstraub durch Statthalter und Verwaltungsbeamte keine Seltenheit, was sich in den zahlreichen Belegen diesbezüglicher Anklagen spiegelt, die vermutlich bei weitem nicht das tatsächliche Ausmaß zum Ausdruck bringen. Da Caligula sich nur kurzfristig im Osten des Reiches aufhielt, mag die Initiative zum Kunstraub im Einzelfall eher beim verantwortlichen Statthalter als beim Kaiser gelegen haben. Caligula wird diese Missstände zumindest nicht unterbunden haben, da es gerade in seinem Interesse lag, seine Herrschaft mit hellenistischen Symbolen auszuschmücken. Als Augenzeuge berichtet Philon von Alexandria über die luxuriöse Ausstattung der Privatgemächer des Kaisers mit Kunstwerken aus aller Welt.
=== Bautätigkeiten ===
Caligulas freizügiger Umgang mit Geld schlug sich in bisweilen spektakulären Bauvorhaben nieder: Archäologisch nachweisbar sind ein Leuchtturm bei Boulogne in Nordfrankreich, der Wiederaufbau des Palastes des Polykrates in Samos, der Baubeginn zweier stadtrömischer Aquädukte, Reparaturen an der Stadtmauer und von Tempeln in Syrakus sowie eines Bades in Bologna. Literarische Belege existieren für ehrgeizige Projekte zum Bau eines Kanals über den Isthmus von Korinth, von Straßenverbindungen über die Alpen, den Ausbau des Hafens von Rhegium sowie der zwei sogenannten Nemi-Schiffe, zweier riesiger Schiffe, die sowohl kultischen Zwecken als auch zum Privatgebrauch des Kaisers dienten. Die Schiffe waren mit zwei im Lago di Nemi bereits 1446 entdeckten und 1929–31 von Archäologen geborgenen Schiffswracks aufgrund eindeutiger Inschriften identifiziert worden. 1944 wurden sie allerdings bei einem Brand im eigens für sie gebauten Museum zerstört.
In Rom wurde an den Abhängen des Vatikanhügels ein Circus errichtet, das Theater des Pompeius renoviert, ein aufwendiges Amphitheater aus Holzbalken aufgestellt, das Staatsgefängnis (Carcer Tullianus), das der Hinrichtung politischer Gegner diente, ausgebaut sowie die Privatgemächer und Lustgärten des Kaisers luxuriös ausgestaltet (die sogenannten Gärten der Kaisermutter). Als besonders spektakulär und Zeichen der Eitelkeit des Kaisers wird eine mehr als fünf Kilometer lange Schiffsbrücke über die Bucht von Neapel zwischen Puteoli und Baiae beschrieben. Archäologische Überreste von Bauten an der Residenz des Caligula wurden 2003 auf dem Gelände des Forum Romanum gefunden.
=== Ehen ===
In erster Ehe war Caligula mit Iunia Claudilla verheiratet. Die Hochzeit wurde 33 n. Chr. noch vom Kaiser Tiberius ausgerichtet. Etwa vier Jahre später starb sie, vermutlich bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ein weiterer Schicksalsschlag traf den Kaiser am 10. Juni 38 mit dem Tod seiner Lieblingsschwester Drusilla, für die er Ehrungen beschloss, die in Rom nur bei männlichen Herrscherpersönlichkeiten üblich waren. Bald nach dem Todesfall heiratete Caligula die vornehme Römerin Livia Orestilla; ihre Eheschließung mit Gaius Calpurnius Piso ließ Caligula noch während der Zeremonie wieder annullieren, nur um sie am selben Tag selbst zu heiraten. Bereits wenige Tage später erfolgte die Scheidung. Später schickte er Livia ins Exil, weil er sie verdächtigte, die Beziehung zu Piso wieder aufgenommen zu haben. Seine dritte Ehefrau war Lollia Paulina, die ebenfalls bereits verheiratet war (mit Publius Memmius Regulus) und von der er sich auch nach kurzer Zeit wieder trennte. In vierter Ehe war Caligula mit Milonia Caesonia verheiratet, mit der er Ende 39 oder Anfang 40 eine Affäre begonnen haben soll. Da diese in einem moralisch fragwürdigen Ruf stand, soll die römische Öffentlichkeit von der Eheschließung nicht sehr angetan gewesen sein. Nur einen Monat nach der Hochzeit – laut Sueton sogar am Tag der Vermählung – gebar Milonia eine Tochter, die ihren Namen Iulia Drusilla nach Caligulas verstorbener Schwester erhielt.
== „Das Scheusal“ ==
=== Ermordung ===
Nach nur vier Jahren der Herrschaft fand Caligula den Tod durch die Hand der Prätorianergarde. Initiator war ihr Offizier Cassius Chaerea, wobei die Verschwörung von einem Teil des Senatorenstandes und anderen einflussreichen Persönlichkeiten am Kaiserhof mitorganisiert wurde. Antike Todesdarstellungen sind üblicherweise stark stilisiert: Laut den antiken Berichten erfolgte das Attentat im unterirdischen Korridor eines Theaters, wobei Caligula nach der Art einer rituellen Opferung abgeschlachtet wurde, um so den Personenkult des Caligula in einer symbolischen Rollenumkehrung zu vergelten.Caligulas Ermordung erfolgte, nachdem er den Senat durch demonstrative Ausschöpfung der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Prinzipats brüskiert hatte. Über die Gründe und den genauen Ablauf der Verschwörung gibt Flavius Josephus den ausführlichsten Bericht, über die Chronologie der vorausgegangenen Vorgänge lässt sich allerdings wenig Sicheres sagen, da die Darstellung des Sueton für diese Zeit ungeordnet, diejenige des Cassius Dio teilweise verloren und in den erhaltenen Teilen nicht widerspruchsfrei ist. Laut dessen Zeugnis begann Caligulas radikaler Regierungswechsel mit einer im Laufe des Jahres 39 vor dem Senat gehaltenen Rede. Die wörtliche Wiedergabe dieser Rede ist höchstwahrscheinlich eine unhistorische Ausgestaltung des Geschichtsschreibers, doch liegt ein in diesem Jahr erfolgter Umbruch auch durch andere Quellenaussagen nahe.
=== Gewalt ===
Hauptgrund der Verschwörung war Caligulas ausufernde Anwendung von Gewalt, vor allem gegen Senatoren: Der Kaiser ließ die Hochverratsprozesse, die nach dem Tod des Tiberius vorübergehend ausgesetzt wurden, etwa gegen Mitte der Regierungszeit in großem Umfang wieder aufnehmen. Mindestens 36 Fälle teils grausamer Hinrichtungen oder anderer schwerer Bestrafungen wie der Verbannung sind literarisch unter Angabe des Namens belegt, wobei es sich bei diesen Opfern in der Regel um Angehörige der Oberschicht, teilweise auch um Soldaten oder Bühnendarsteller handelte. In einigen Fällen ließ Caligula Senatoren foltern, die rechtlich grundsätzlich vor der Folter immun waren. Hierzu boten allerdings die Hochverratsgesetze einen gewissen rechtlichen Spielraum. Sueton erwähnt die Ermordung von Verbannten, ohne allerdings konkrete Fälle anzuführen. Caligula mag durch seine Jugenderfahrungen ein übertriebenes Bedrohungspotenzial wahrgenommen haben. Durch die Prozesse wuchs tatsächlich die Gefahr eines Mordanschlages.
Dem Kaiser wird daher das Motto oderint, dum metuant (zu dt.: Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten) zugeschrieben, das auf ein Zitat einer Tragödie des Lucius Accius zurückgeht. Hierin spiegelt sich der politische Stil der autokratischen Herrschaft, die Widerstand durch Gewalt oder zumindest deren demonstrative Zurschaustellung bekämpft, anstatt durch Konsensbildung ein derartiges Risiko zu verringern sucht. In ähnlicher Weise soll Caligula geäußert haben: „Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Nacken! [… damit ich es mit einem Mal erwürgen kann]“. Wörtliche Zitate in der antiken Literatur sind allerdings in ihrer Historizität fragwürdig; sie dienten dazu, den Charakter einer Person pointiert zum Ausdruck zu bringen.Hinrichtungen von Senatoren werden beinahe ausnahmslos als Willkürakte des Kaisers beschrieben, der entweder aus sadistischer Mordlust oder in Reaktion auf geringfügige Vergehen (wie Kritik an der Kleidung des Kaisers) handelte. Das Gleiche gilt für grausame Tötungen, besonders im Umfeld des nichtaristokratischen Kaiserhofs, bei denen der Kaiser seinen Anspruch auf totale Ermessensfreiheit zynisch zum Ausdruck brachte. Abweichend davon lässt sich aus der allgemeinen Regierungsrichtung vermuten, dass es Caligula letztlich mehr oder weniger um eine systematische Entmachtung des Senats ging, indem er einige Senatoren beseitigen ließ und die übrigen einschüchterte. Für diese Annahme sprechen Auffälligkeiten seiner Regierung, die im Folgenden diskutiert werden.
Es finden sich außerdem überlieferte Berichte von Zwangsprostitution und Vergewaltigungen seitens des Kaisers, denen Angehörige der Oberschicht zum Opfer fielen. In der Forschung werden jedoch einige Berichte über Caligula (und andere Kaiser) in ihrer Historizität angezweifelt und dem Bereich der Tyrannentopik zugewiesen, da sich auch bei anderen negativ bewerteten Herrschern der römischen und vorrömischen Antike vergleichbare Berichte in auffälliger Weise wiederholen. Unbestätigte Gerüchte sowie literarische Bearbeitungen, z. B. im Rahmen von Tragödien, oder Bezugnahmen auf typologisch vergleichbare Herrscherpersönlichkeiten finden oft als historische Berichte Eingang in die Literatur. So geben einige Geschichtsschreiber in methodischen Abschnitten darüber Auskunft, dass fiktionale Elemente zur nachdrücklichen Charakterisierung einer Person legitim seien. Nur selten lässt sich allerdings mit letzter Sicherheit entscheiden, was zu diesem Bereich zu zählen ist, so dass sich gerade im Falle Caligulas eine Reihe historischer Probleme ergeben.
=== Caligula und der Senat ===
Durch demonstrative Gesten der Demütigung, die oft an Hofzeremonielle orientalischer Despoten erinnern, zielte Caligula auf eine politische Ausschaltung des hohen Standes. Bei der Ämtervergabe überging der Kaiser gezielt unerwünschte Bewerber und machte sich auch dadurch unbeliebt. Die Quellen berichten unter den zahllosen Extravaganzen des Kaisers, dass er sein Lieblingspferd Incitatus mit dem Konsulat bestallen wollte. Sollte Caligula sich tatsächlich in dieser Richtung geäußert haben, so wohl mit der Absicht, dem Senat seine alleinige Entscheidungsgewalt und seine Allmacht, auch über die Senatsaristokratie, zu demonstrieren.
Caligula stand einem orientalischen Herrschaftsverständnis nahe, was eine demonstrativ extravagante Lebensweise sowie die Verehrung im Staatskult schon zu Lebzeiten, nicht erst nach dem Ableben, mit einschloss (obwohl sich im Westen des Reiches heute keine Belege in Form von Tempelanlagen, Inschriften oder Münzen finden, die Caligula eindeutig in Zusammenhang mit einer persönlichen Verehrung bringen; siehe auch Cäsaropapismus). Die öffentliche Darstellung seiner Verbundenheit zu seinen Schwestern und besonders zu Drusilla könnte von ägyptischen Geschwisterherrschaften inspiriert sein. Ein solcher Herrschaftsstil, dem sich etwa auch Gaius Iulius Caesar und besonders Marcus Antonius verbunden fühlten, war der römischen Oberschicht von jeher suspekt. Der Kaiser brachte dieses Herrschaftsverständnis durch Ersetzung von Götterbildern mit dem eigenen Porträt oder dem von Verwandten zum Ausdruck sowie durch hellenistischen Kleidungsstil. Soweit Gründe für Hinrichtungen genannt sind, stehen diese zumeist mit einer Kritik an dieser Herrschaftsauffassung in Zusammenhang. Auch sind Tendenzen einer Alexander-Imitatio erkennbar.
Wie im Falle des Antonius berichten die Quellen von den Plänen des Kaisers, die Hauptstadt des Reiches von Rom nach Alexandria zu verlegen, was einer endgültigen Entmachtung des Senats gleichgekommen wäre. Darin mögen sich Überlegungen zu einer radikalen Reichsreform spiegeln, basierend auf der Erkenntnis, dass sich ein Imperium von der Größe des römischen Reiches nicht mehr mit dem Personalbestand einer mittelitalienischen Stadt verwalten ließ, sondern nur mit Hilfe einer entwickelten Bürokratie und Hierarchie wie im hellenistisch-ptolemäischen Ägypten. Caligula mag gehofft haben, unter Übergehung des Senatorenstandes seine Regierung zunehmend auf Teile des Ritterstandes zu stützen, der einerseits durch Degradierungen, andererseits durch die Förderung loyaler Mitglieder personell umstrukturiert und dem Kaiser botmäßig gemacht werden sollte.
=== Gruppen außerhalb der Oberschicht ===
Die Gewaltherrschaft des Caligula erstreckte sich in erster Linie auf den Senat, der ihn deshalb hasste. Da nach Caligulas Tod Reaktionen gegen die Attentäter weitgehend ausblieben, scheint der Kaiser allerdings auch bei anderen herrschaftslegitimierenden Gruppen, wie dem Heer oder der stadtrömischen Bürgerschaft, trotz der Freigebigkeit seiner ersten Regierungsmonate teilweise unbeliebt geworden zu sein. Mitunter drastische Steuererhöhungen infolge der erhöhten Ausgaben könnten hierfür ein Grund gewesen sein. Caligula hat dabei auch ungewöhnliche Maßnahmen getroffen, wie die öffentliche Förderung und Besteuerung der Prostitution. Pro Bordellbesuch musste als Abgabe der Mindestpreis entrichtet werden, der für eine Umarmung verlangt wurde. Diese Steuer blieb als eine der wenigen Maßnahmen nach dem Tod des Kaisers bestehen und wurde erst in christlicher Zeit abgeschafft.
Es gibt Berichte über Willkürakte und Gewalttaten gegenüber der stadtrömischen Bevölkerung bei Spielen, die gewöhnlich als öffentliche Plattform für Forderungen zum Beispiel nach Getreidespenden dienten und insofern als Ausgangspunkte für Volksaufstände Gefahrenpotential besaßen. Flavius Josephus spricht allerdings auch davon, dass Caligula bei Teilen der Bevölkerung, die an aufwendigen Spielen interessiert war, bis zu seinem Tod beliebt geblieben war, ebenso bei dem Teil des Heeres, der seine Soldzahlungen pünktlich erhalten hatte. Auch andere Quellen lassen auf relative Beliebtheit des Kaisers beim Volk in Rom beziehungsweise Italien schließen, vermutlich jedoch nicht in den Provinzen des griechischen Ostens, wo Caligula sich durch Kunstraub und Tempelplünderungen unbeliebt gemacht hatte: Tilgungen des Kaisernamens in Inschriften, die vermutlich auf lokal begrenzte Reaktionen nach Caligulas Tod zurückgehen, sind ausschließlich im Osten des Reiches belegt (s. u.).
=== Juden ===
Während von Caligulas Politik und seiner Einschätzung in den Provinzen kaum systematische Informationen überliefert sind, gibt es hauptsächlich aufgrund der Darstellungen des Flavius Josephus sowie des Philon von Alexandria Berichte über Caligulas Interventionen in Zentren des jüdischen Glaubens. Diese lassen jedoch nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Bewertungen des Kaisers in anderen Bevölkerungsgruppen zu, da der jüdische Monotheismus unvereinbar mit der von Caligula forcierten hellenistischen Herrscherverehrung der griechischen Bevölkerung war, die mit den Juden auf engstem Raum zusammenlebte. Insofern trug Caligula neben anderen Ursachen zur späteren dramatischen Entwicklung, der Zerstörung des Tempels durch Titus sowie der endgültigen Diaspora unter Hadrian, bei.
Alexandria war seit dem Hellenismus multikulturell geprägt und besaß neben hellenisierten Ägyptern und Griechen eine starke jüdische Minderheit. Religiöse Auseinandersetzungen kamen wiederholt vor. Während der Anwesenheit des Herodes Agrippa I. verschärften sich Hassgefühle der griechischen Bevölkerung, die zu einem lokalen Pogrom führten. Der römische Statthalter Aulus Avillius Flaccus hatte bereits im Vorfeld Sanktionen einseitig nur gegen die jüdische Bevölkerung angeordnet und gab dieser nun die Hauptschuld an den Vorfällen, mit der Folge, dass die Juden in getrennte Wohnorte innerhalb der Stadt zwangsumgesiedelt wurden. Es handelt sich dabei um das erste historisch belegte jüdische Ghetto. Diese Zustände gaben Anlass zu einer Gesandtschaftsreise, an der Philon teilnahm und die er ausführlich beschreibt. Noch vor der Audienz mit Caligula, der die aus Griechen und Juden bestehende Gesandtschaft versetzt hatte, trafen im Jahre 40 aus Jerusalem schockierende Nachrichten ein, der Kaiser habe die Umwandlung des jüdischen Tempels in ein Zentrum des Kaiserkults in Auftrag gegeben. Die Gespräche endeten ergebnislos.
Caligulas Versuch, den Kaiserkult gewaltsam durchzusetzen, erfolgte als Vergeltungsmaßnahme auf Übergriffe von Juden gegen den Kaiserkult praktizierende Griechen in Judäa. Sie verursachte weitere Unruhen in Antiochia, dem Verwaltungssitz von Syria, deren Statthalter Publius Petronius mit Anfertigung und Aufstellung einer Kaiserstatue im Tempel von Jerusalem beauftragt wurde, diese aber mit Rücksicht auf die mobilisierte jüdische Bevölkerung hinauszögerte. Die folgenden Ereignisse lassen sich alternativ so rekonstruieren, dass Caligula entweder auf Fürsprache des Herodes Agrippa von seinem ursprünglichen Befehl absah oder auf seinem Entschluss beharrte und Petronius die Aufforderung zum Selbstmord übersandte, die den Empfänger allerdings erst nach der Nachricht von Caligulas Tod erreichte. Aufgrund der Ereignisse wurde die Nachricht vom Tode des Caligula bei der jüdischen Reichsbevölkerung mit Freude aufgenommen, daraus resultierende Verschärfungen der Anspannungen mussten von Claudius beschwichtigt werden.
=== Caligula als Präzedenzfall ===
Der kurze Prinzipat des Caligula zeigte die Gefahren auf, die sich aus der unscharfen Stellung des Kaisers innerhalb der grundsätzlich fortbestehenden Verfassung der römischen Republik ergaben. Es wird heute vielfach davon ausgegangen, dass Caligula bei Amtsantritt ein ähnliches Bündel an Vollmachten erhalten hatte, wie dies für Vespasian inschriftlich überliefert ist (Lex de imperio Vespasiani). Einige Forscher erkennen darin die praktische Übertragung der völligen Ermessensfreiheit. Zumindest bei Wahlen brauchte der Kaiser auf den Senat formal keine Rücksicht zu nehmen; die republikanische Verfassung sah allerdings das Prinzip der Kollegialität vor, das unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius zumindest propagandistisch aufrechterhalten wurde. Das aus republikanischer Zeit stammende Hochverratsgesetz (Lex maiestatis) war unscharf und ließ willkürliche Prozesse und Verurteilungen sowie Folter und Hinrichtungen, unabhängig von Statusgrenzen, zu. Da Caligula in seinen letzten beiden Regierungsjahren hiervon rücksichtslos Gebrauch machte, konnte die so ausgeübte Autokratie nur durch Tod und Damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“) beendet werden. Das Beispiel des Caligula wies daher auf spätere Kaiserherrschaften voraus: Performative Ritualisierung eines Konsenses mit der Senatsaristokratie durch den Kaiser war Bedingung für dessen Würdigung in der senatorisch geprägten römischen Geschichtsschreibung (und der zu großen Teilen auf dieser basierenden Rezeption späterer Jahrhunderte). Trotzdem blieb Caligula kein Einzelfall in der römischen Kaiserzeit.
== Historische Probleme ==
=== Maßnahmen nach Caligulas Tod ===
Mit Caligula wurden am 24. Januar 41 auch seine Gattin Milonia Caesonia und die gemeinsame Tochter Iulia Drusilla getötet. Sein Andenken sollte ausgelöscht werden. Schon nach dem Tod des Tiberius wurden vereinzelt Kaiserstatuen umgeworfen sowie die Schändung des Leichnams gefordert. Nach Caligulas Tod diskutierte der Senat zeitweise sogar die kollektive Verdammung aller Vorgänger sowie die Wiederherstellung der Republik, die allerdings allein durch den Senat nicht durchsetzbar gewesen wäre. Caligulas Nachfolger Claudius ließ schließlich mit Rücksicht auf den Senat sämtliche Regierungsmaßnahmen seines Vorgängers für ungültig erklären, Schriften über seine Regierung vernichten, Statuen zerstören und Münzen mit dem Bildnis des Caligula aus dem Verkehr ziehen. Einzelne archäologische Zeugnisse für eine Tilgung von Kaisernamen oder Verstümmelung von Statuen, besonders in den Provinzen, könnten allerdings von spontanen, nicht öffentlich angeordneten Einzelaktionen verursacht sein. Eine damnatio memoriae des Caligula kann somit nicht belegt werden, und Claudius dürfte auch angesichts der Ermordung seines Neffen keinen Präzedenzfall zu schaffen gewünscht haben.
Diese Vorgänge könnten die literarische Darstellung beeinflusst haben: Da der Bericht des Tacitus für die Regierungszeit Caligulas verloren ist, ist neben dem viel späteren Cassius Dio sowie Flavius Josephus der Kaiserbiograph Sueton die literarische Hauptquelle. Etwa das erste Drittel der Caligula-Vita des Sueton, das überwiegend Jugend und Regierungsbeginn des Kaisers darstellt, bezieht sich auf positive oder neutrale Bewertungen oder auf außerliterarisch überprüfbare Fakten (politische Ämter, Bauten). Aus der zweiten Hälfte der Regierung sind hauptsächlich nur noch solche Informationen überliefert, die von den Untaten des Kaisers berichten. Sueton vertritt das senatorische Geschichtsbild, seine Darstellung lässt daher überwiegend nur Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Caligula und dem Senat zu und sagt wenig über die Bewertung Caligulas bei anderen herrschaftstragenden Gruppen aus. Die Biographie trägt deutlich Züge der Ideologie der Adoptivkaiser, die sich von den Kaisern der julisch-claudischen Dynastie mit Ausnahme des Augustus distanzieren wollten. Als kaiserlicher Archivar hatte der Biograph Zugriff auf Dokumente der Regierung Caligulas, gibt aber kaum Informationen über Herkunft, Historizität oder Tendenz einer Quelle. Einige Argumentationen erscheinen aus heutiger Sicht unsachlich. Viele Beschreibungen des Sueton, besonders solche, die willkürliche Gewalthandlungen gegen Senatoren zum Inhalt haben, werden von Josephus bestätigt, der zur Zeit der Flavier schrieb.
=== Angeblicher Wahnsinn ===
Die antiken Quellen bezeichnen die Herrschaft des Caligula beziehungsweise die Person selbst häufig und praktisch einhellig als „wahnsinnig“. Fraglich ist jedoch, ob es sich bei dieser Bezeichnung regelmäßig um eine psychopathologische Kategorie im modernen Sinne handelt: Das vielleicht authentischste Zeugnis des Philon von Alexandria über seine Gesandtschaftsreise schildert den Kaiser als arrogant und zynisch, jedoch nicht als psychotisch. Trotzdem finden sich bei demselben Autor erste Hinweise auf den Wahnsinn des Kaisers. Seneca überliefert, hauptsächlich während seiner von Caligula mitverschuldeten Verbannung, Bilder grausamer Folterungen und Hinrichtungen des Kaisers, die ihn als Sadisten beschreiben. Seneca definiert außerdem den Begriff des Wahnsinns als Entartung eines Tyrannen, ohne dabei Caligula namentlich zu erwähnen. Flavius Josephus gebraucht den Begriff des Wahnsinns zur Charakterisierung des Kaisers mehrere Male, jedoch ist nicht genau zu unterscheiden, ob er damit auf eine tatsächliche psychische Störung anspielt oder eher die Willkürhandlungen des Kaisers pejorativ bezeichnet. Sueton, der in der Tradition antiker Biographie steht, den Charakter einer Person aus ihrer Herrschaft zu konstruieren, schildert Caligula ein halbes Jahrhundert später explizit als geisteskrank, indem er seine Darstellung mit pathologischen Auffälligkeiten Caligulas verbindet. Spätere Quellen argumentieren ähnlich (Cassius Dio; Eutropius, Breviarium ab urbe condita 7,12).
Die für künstlerische Bearbeitungen des Tyrannen-Stoffes wegweisende Theorie des Cäsarenwahnsinns ist erstmals in einem 1894 erschienenen Essay von Ludwig Quidde dargelegt: Caligula sei im Verlauf seiner Herrschaft größenwahnsinnig und geisteskrank geworden, was ein Resultat der praktisch inzestuösen Familienpolitik der julisch-claudischen Kaiserfamilie sei. Obwohl auch antike Autoren von einer Degeneration sprechen, ist ihnen eine genetische Ursache völlig unbekannt: Die römische Gesellschaft berief sich auf das Konzept des mos maiorum (der Sitten der Vorfahren), das die Verdienste einer angesehenen Ahnenreihe automatisch auf Nachgeborene übertrug. Quidde ließ sich also vom naturwissenschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt vom darwinistischen Ansatz seiner Zeit inspirieren. Der Essay war außerdem als indirekte Kritik an Wilhelm II. gedacht.
Als Indikation einer psychopathologischen Störung können nach heutigem Verständnis angeblich irrationale Handlungen gelten (z. B. die geplante Beförderung von Incitatus, Maßnahmen während und nach dem Germanien- und Britannienfeldzug), ebenso die Selbstinszenierung Caligulas als lebender Gott. Diese Personenverehrung steht allerdings in Kontinuität zum Kaiserkult des Augustus. Augustus hatte es zwar in der Stadt Rom noch vermieden, zu Lebzeiten persönlich als Gott verehrt zu werden, nicht jedoch im Osten des Reiches, wo es bereits seit dem Hellenismus einen Herrscherkult gab. Verschiedene Abstufungen des Herrscherkultes pflegten ebenfalls die Nachfolger im Kaiseramt oder andere hochrangige Personen am Kaiserhof. Grundsätzlich war in der paganen Antike ein Personenkult akzeptiert. Daher schließen ausschließlich Autoren mit monotheistischem Glauben (Philo, Flavius Josephus) hieraus auf den Wahnsinn des Kaisers. Vor allem in der neueren Forschung wird eine psychopathologische Störung bisweilen bezweifelt oder die Frage gar nicht erst diskutiert, da man sie als historisch nicht relevant oder unzulässig ansieht.
Vor allem Aloys Winterling (2003) stellt Caligulas Geisteskrankheit vehement in Frage: Der Kaiser sei ein zynischer Machtmensch gewesen, der im Laufe seiner Regierungszeit das von Augustus eingeführte Konzept der „doppelbödigen Kommunikation“ gegenüber dem Senat aufgekündigt habe. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen, die in ihrer Bedeutungsbreite heute nur noch schwer nachzuvollziehen seien, hätten vor allem in der modernen Rezeption zum Bild des irrational handelnden Kaisers beigetragen: gelobte man, sein Leben für die Genesung des Kaisers zu geben, so forderte der genesene Caligula die Einhaltung des Gelübdes. Entscheidend für die Legendenbildung in der Antike seien Selbstschutzgründe des Senats, der den Vorwurf der Geisteskrankheit erfunden habe, um erlittene, letztlich aber akzeptierte Demütigungen des autokratischen Kaisers historisch zu rechtfertigen. Es sei schließlich der Senat gewesen, der eine zu diesem Zeitpunkt noch präzedenzlose Gewaltenübertragung zumindest formal auf freiwilliger Basis bewilligt habe und daher nach der einvernehmlichen erfolgten Ermordung in Erklärungsnot geraten sei. Dies spiegele sich in der Entwicklung der literarischen Überlieferung wider, bei der sich das Verdikt des Wahnsinns im Sinne einer psychischen Störung graduell entwickelt finde.
Eine Legendenbildung des „wahnsinnigen“ Kaisers aus der Kommunikation zwischen Kaiser und Senat zu erklären, ist einerseits auch deshalb schlüssig, da für Caligula schon als Kind die Nachfolgefrage erstmals weitgehend sicher war. Er brauchte daher den Prinzipat nicht mit den gleichen Konsensritualen zu legitimieren, wie es der Senat unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius gewohnt war. Die Aristokratie benötigte darüber hinaus eine Erklärung für die Degeneration des Nachkommen des populären Germanicus, ohne dabei das sie legitimierende Konzept der Vererbung von Verdiensten in Frage zu stellen. Ob Caligula andererseits gerade durch diese ungeheure Machtfülle pathologische Züge von Größenwahn entwickelte, ist letztlich eine spekulative Frage. Es kann nicht zuverlässig entschieden werden, inwieweit Beschreibungen von Caligulas Krankheit des Jahres 37/38 sowie weitere Schilderungen gesundheitlicher Auffälligkeiten (z. B. Schlafstörungen) Produkt der antiken Polemik sind oder, sollten diese historisch akkurat sein, eine psychotische Störung indizieren.
=== Bewertungen ===
Die Verurteilung zumindest der zweiten Regierungshälfte des Caligulas als grausame Tyrannenherrschaft ist in den antiken Quellen, auch solchen aus späterer Zeit, einhellig. Es ist keine Gegendarstellung überliefert, und es gibt keine Gründe anzunehmen, dass Tacitus in dem verlorenen Textabschnitt eine alternative Ansicht zu Caligula vertreten haben sollte.In der modernen Forschung wurden aufgrund der problematischen Überlieferungslage bis in die 80er-Jahre hinein vergleichsweise wenige monographische Untersuchungen zu Caligula geschrieben. Trotz der möglicherweise einseitigen Überlieferung gilt Caligula als politisch konzeptionsloser, willkürlicher Gewaltherrscher, dessen Regierung nur aufgrund der inneren Stabilität des Reiches ohne negative Folgen blieb. Die letzten drei größeren Caligula-Biographien spiegeln die Bandbreite der heutigen Lehrmeinung wider: Arther Ferrill (1991) beschreibt das in den Quellen dargestellte Bild des wahnsinnigen und irrational grausamen Tyrannen als historisch, Anthony A. Barrett (1989) diskutiert umfangreich Alternativen zur überlieferten Darstellung, Aloys Winterling (2003) rehabilitiert den Kaiser insofern, als er seine Regierung aus den zeitgenössischen Rahmenbedingungen verständlich macht. Die beiden letztgenannten Arbeiten sind in der Forschung breit rezipiert und aufgrund der vorbildlichen Darstellungsweise überwiegend positiv aufgenommen worden. Damit hat sich jedoch keine Revision des traditionellen Geschichtsbildes in dem Sinne vollzogen, dass die Herrschaft des Caligula als in irgendeiner Hinsicht erfolgreich oder für spätere Entwicklungen wegweisend gedeutet werden könnte.
== Caligula-Rezeption ==
Das in den antiken Quellen überlieferte Bild des grausamen Tyrannen sowie Quiddes Bild des Wahnsinns bei Kaisern der julisch-claudischen Dynastie bestimmen die zahlreichen populärwissenschaftlichen, belletristischen und literarischen Darstellungen Caligulas, die sich aus dem reichlich überlieferten anekdotischen Material zur Person des Kaisers bedienen, und insofern nicht als historisch schlecht recherchiert gelten können, jedoch bisweilen zur Wirkungssteigerung weniger Wert auf quellenkritische Vorbehalte legen.In Anspielung an die totalitären Regime seiner Zeit verfasste der erst 25-jährige Albert Camus 1938 das Drama Caligula. Historisch setzt es nach dem Tod der Drusilla und der damit verbundenen Krise des Kaisers ein, der die Sinnlosigkeit des Lebens erkennt und damit Camus’ philosophische Konzeption des Existentialismus versinnbildlicht. Der deutsche Komponist Detlev Glanert verfasste eine frei auf Camus’ Drama beruhende Oper, die am 7. Oktober 2006 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde.Tinto Brass setzte 1979 den Skandalfilm Caligula (dt. Untertitel Aufstieg und Fall eines Tyrannen) in Szene, das Drehbuch stammte von Gore Vidal. Malcolm McDowell gab den Kaiser, Peter O’Toole den Tiberius. Der ursprünglichen Verfilmung folgten weitere Produktionen, die den historischen Stoff als Fassade für die Darstellung von Sex- und Gewaltorgien benutzten.
Im Rahmen des New York Musical Theatre Festivals wurde am Broadway 2004 das Musical Caligula: An Ancient Glam Epic uraufgeführt. Die Inszenierung, die ebenfalls die Skandalgeschichten um den Kaiser thematisiert, avancierte zum Publikumsliebling und wurde in der Presse überwiegend positiv rezensiert. Eine politisch gefärbte Singleauskopplung diente der Mobilisierung von Wählern in der bevorstehenden Präsidentenwahl.
== Quellen ==
=== Literarische Quellen ===
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Band 4 (= Bücher 51–60). Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung Römische Geschichte. Buch 59 bei LacusCurtius).
Sueton: Caligula. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, (lateinischer Text, englische Übersetzung).
Philon von Alexandria: Gesandtschaft an Gaius (engl. Übersetzung).
Philon von Alexandria: Gegen Flaccus (engl. Übersetzung).
Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor), Wiesbaden 2004. ISBN 3-937715-62-2 Die Bücher 17–19 betreffen Caligula. Online by archive.org.
E. Mary Smallwood (Hrsg.): Documents Illustrating the Principates of Gaius, Claudius and Nero. Cambridge University Press, Cambridge 1967. ISBN 0-86292-085-X
=== Bildquellen ===
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Eric R. Varner (Hrsg.): From Caligula to Constantine. Tyranny and Transformation in Roman Portraiture. Michael C. Carlos Museum, Atlanta Georgia 2001. ISBN 1-928917-01-1.
== Literatur ==
=== Biographien ===
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Arther Ferrill: Caligula, Emperor of Rome. Thames & Hudson, London 1991, ISBN 0-500-25112-6.
Michael Grant: Roms Caesaren. Von Julius Caesar bis Domitian. Beck, München 1978, ISBN 3-406-04501-4.
Theodor Kissel: Kaiser zwischen Genie und Wahn. Caligula, Nero und Elagabal. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 3-538-07233-7.
Ludwig Quidde: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. Wilhelm Friedrich, Leipzig 1894. Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttp%3A%2F%2Fdigi.bib.uni-mannheim.de%2Furn%2Furn%3Anbn%3Ade%3Absz%3A180-digad-16843~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D
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Aloys Winterling: Caligula: Eine Biographie. C. H. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63233-4 (korrigierte Neuausgabe).
=== Spezialstudien ===
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=== Belletristische Darstellungen ===
Siegfried Obermeier: Caligula. Der grausame Gott. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993.
Josef Toman: Tiberius und Caligula. Langen Müller, München 1982.
== Weblinks ==
Garrett G. Fagan: Kurzbiografie (englisch) bei De Imperatoribus Romanis (mit Literaturangaben)
Literatur von und über Caligula im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Druckschriften von und über Caligula im VD 17.
Romane über Caligula
Bildnisse Caligulas
ZeitZeichen: 31.08.0012 - Geburtstag des römischen Kaisers Caligula
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Caligula |
Koala | = Koala =
Der Koala (Phascolarctos cinereus), fälschlich manchmal auch Koalabär genannt, ist ein baumbewohnender Beutelsäuger in Australien. Er wurde von dem Zoologen Georg August Goldfuß im Jahre 1817 als Lipurus cinereus erstbeschrieben. Der Koala ist neben dem Känguru das am weitesten verbreitete Symbol Australiens.
== Aussehen ==
Der Koala wird 61 bis 85 cm groß und wiegt zwischen 4 und 14 kg. Körpergröße und Proportionen eines erwachsenen Tieres hängen von Alter, Geschlecht, Ernährung und Region ab. Im kühleren Klima lebende Koalas sind im Allgemeinen größer und haben ein dunkleres und dichteres Fell als das von Tieren in wärmeren Regionen. Trotz dieser Anpassungen gibt es auch Ausnahmen. Im fruchtbaren Victoria können ausgewachsene Koalamännchen bis zu 14 kg, Weibchen bis 11 kg wiegen. Das Durchschnittsgewicht der nördlich lebenden Tiere ist niedriger: Männchen erreichen 12 kg, Weibchen 8 kg. Die Koalas im niederschlagsarmen Queensland sind generell kleiner, das Durchschnittsgewicht der Männchen beträgt 8 kg, das der Weibchen 6 kg.
Der Koala hat bräunlich-silbergraues, wolliges Fell, an dem bei regelmäßiger Pflege Regenwasser wie am Gefieder einer Ente abperlt, und zwei mit spitzen, scharfen Krallen versehene Greifhände mit jeweils zwei Daumen und drei entgegengesetzten Fingern, die sich gut zum Klettern und Ergreifen von Zweigen eignen. Die Fingerkuppen haben Papillarleisten, die denen des Menschen extrem ähnlich sind. Ihre Füße tragen einen krallenlosen Daumen, die zweiten und dritten Zehen sind miteinander verwachsen, so dass sie mit den verschmolzenen Krallen Zecken entfernen können, unter denen sie häufig leiden. Charakteristische Merkmale sind eine vorstehende, dunkle Nase und große Ohren, woran man sieht, dass Riechen und Hören in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen. Der Koala hat einen im Verhältnis zu seinem Körper großen Kopf, dessen Gehirnmasse relativ gering ist. Das Fell wildlebender Koalas ist verwitterter als das von Koalas in Menschenhand.
Männchen unterscheiden sich durch Hodensack und Duftdrüsen an der Brust von den Weibchen, die durch ihren Beutel auf der Bauchseite gekennzeichnet sind. Der Beutel ist wie bei den Wombats (im Gegensatz zu den Kängurus) mit nach unten gerichteter Öffnung ausgestattet. Erwachsene Männchen können bis zu 50 % größer als erwachsene Weibchen sein und haben neben einer hakigen Krümmung der Nase eine etwas andere Kopfform. Aufgrund des besonderen Ablaufs der Trächtigkeit, Geburt und Jungenaufzucht von Beutelsäugern besitzen Koalas keinen Bauchnabel.
== Sinnesleistungen ==
Als nachtaktive Tiere besitzen Koalas ein gutes Hörvermögen, das Sehvermögen ist jedoch eher mäßig. Die große Nase der Koalas ist außerordentlich empfindlich. Sie informiert den Koala über alles, was das Überleben, die Territorien und die Paarung betrifft. Dazu gehören die Wahl geeigneter Eukalyptusblätter, die nicht zu viel Toxine enthalten sollten, das rechtzeitige Feststellen, dass Feinde in der Nähe sind, das Erkennen und die Bestimmung fremder Geruchsmarkierungen nach dem Geschlecht und das Erriechen der Mutter beziehungsweise des Kindes.
== Verbreitung ==
Koalas waren ursprünglich in Australien weit verbreitet, wurden aber wegen ihres Fells gejagt und dadurch in vielen Gebieten ausgerottet. Sie konnten teilweise wieder angesiedelt werden. Ein Reservat ist beispielsweise Kangaroo Island vor Adelaide, wo der Koala ursprünglich nicht beheimatet war. Größere Populationen sind entlang der australischen Ostküste in Queensland, New South Wales und Victoria und in Gegenden im Hinterland, in denen es genügend Futterbäume gibt, zu finden. Die gesamte Population wird auf 45.000–80.000 Tiere geschätzt. Im Bundesstaat Tasmanien gibt es keine Koalas.
== Unterarten ==
Traditionell werden nach morphologischen Gesichtspunkten drei Unterarten des Koala unterschieden. Die typische Unterart Phascolarctos cinereus cinereus ist mittelgroß und hat ein relativ dichtes Fell, das durch die aschgrauen Spitzen gemischt-grau wirkt. Das Typusexemplar dieser Form stammt aus der Gegend des Nepean River in New South Wales. Die nördliche Unterart Phascolarctos cinereus adustus, die 1923 anhand eines Exemplars aus Queensland beschrieben wurde, ist deutlich kleiner und besitzt ein wesentlich kürzeres silbergraues Fell. Die südliche Unterart Phascolarctos cinereus victor ist dagegen deutlich größer und durch ein eher zimtfarbenes Fell gekennzeichnet.
== Lebensraum ==
Koalapopulationen können sich nur in Lebensräumen verbreiten, die bestimmte Bedingungen erfüllen. Ein geeigneter Lebensraum enthält von Koalas bevorzugte Bäume (hauptsächlich Eukalyptusarten, aber auch einige andere) in bestimmten Vergesellschaftungen auf geeigneten Böden sowie ausreichenden Niederschlag. Ein weiteres Kriterium ist, dass andere Koalas in der Nähe leben müssen. Solche Lebensräume sind lichte Eukalyptuswälder, in denen andere Baumarten nur vereinzelt vertreten sind.
Häufig leben Koalas jedoch aufgrund von Waldrodungen in einer Steppenlandschaft mit eher verstreuten Bäumen, die schlimmstenfalls in der Nähe einer Straße liegen. In diesem Fall sind die Reviere größer, da nur so gewährleistet ist, dass sie genügend Futterbäume enthalten. Man findet sie auch auf Grünflächen mit Eukalyptusbäumen in Städten, die für sie allerdings keinen geeigneten Lebensraum darstellen. Solche Tiere werden in der Regel Opfer von Autos, Hunden, Schwimmbecken und anderen von Menschen geschaffenen Gefahren.
Die Größe von Koalapopulationen ist direkt abhängig von der Größe des Lebensraumes und von der Anzahl der darin wachsenden ernährungsrelevanten Eukalyptusarten und ihrer Bewuchsdichte. Wird ein Lebensraum verkleinert oder zerschnitten, verringert sich die ökologische Tragfähigkeit des Lebensraumes proportional zu seiner Fläche. Durch Rodungen oder Waldbrände unterschreiten heute viele ehemalige Verbreitungsgebiete der Koalas die für eine stabile Population notwendige Minimalgröße.
== Lebensweise ==
Koalas sind Baumbewohner und überwiegend nachtaktiv. Sie halten sich nur ungern am Boden auf und bewegen sich dann auf allen vieren vorwärts. Um Energie zu sparen, schlafen sie bis zu 20 Stunden am Tag und damit noch länger als die Faultiere, die (zumindest in Gefangenschaft) etwa 16 Stunden täglich schlafen. Ihre natürlichen Feinde sind Dingos, große Eulen, Adler, Warane und Pythons. Außerdem können ihnen Trockenzeiten und vor allem Buschfeuer gefährlich werden. Die menschliche Besiedelung liefert zusätzliche Gefahrenquellen wie Autos, streunende Hunde, ein gestiegenes Brandrisiko, Insektizide und Schwimmbecken; wird eine Straße mitten durch ein Revier gebaut, so verbleibt der Koala in der Hälfte, in der er sich gerade befindet. Der Lebensraum wird zudem durch Rodung, Entwässerungsmaßnahmen und den Bau von Zäunen eingeschränkt.
=== Ernährung ===
Koalas ernähren sich fast ausschließlich von Blättern und Rinde sowie Früchten ganz bestimmter Eukalyptusarten. In ganz Australien nutzen sie nur etwa 70 der über 600 bekannten Eukalyptusarten, lokal sogar nur 5–10 Arten. Innerhalb eines begrenzten Gebietes werden in der Regel nicht mehr als zwei bis drei Eukalyptus-Sorten zur Nahrungsaufnahme genutzt (primäre Nahrungsbäume). Eine Vielzahl anderer Bäume, eingeschlossen einige Nicht-Eukalyptus-Arten, werden gelegentlich zur Futteraufnahme oder für andere Zwecke (z. B. Ausruhen, Schlafen) aufgesucht. Gelegentlich aufgenommene Erde liefert zusätzliche Mineralien.
Ein erwachsener Koala benötigt pro Tag rund 200 bis 400 Gramm Blätter. Bei der Nahrungsaufnahme sind Koalas gezwungenermaßen äußerst wählerisch, denn Eukalyptus enthält Giftstoffe, die der Koala zwar in gewissen Maßen tolerieren kann, aber zu hohe Konzentrationen sind auch für ihn giftig. Zuerst strecken sie einen Arm aus und pflücken mit großer Sorgfalt einige ausgewählte Blätter, bevorzugt ältere, in denen die Giftstoffe nicht mehr so konzentriert vorliegen. Danach beschnuppern sie sie sorgfältig, bevor sie einen Bissen nehmen. Zuletzt werden sie zu einem Brei zerkaut und geschluckt. Koalas trinken äußerst selten. Sie decken ihren Wasserbedarf hauptsächlich durch die sehr wasserreichen Eukalyptus-Blätter. Von geringerer Bedeutung sind Tau und Regentropfen. In Trockenzeiten gehen sie allerdings trotz aller Gefahren an Wasserstellen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Name „Koala“ aus einer Sprache der Aborigines stammt und so viel wie „ohne Wasser“ bzw. „ohne zu trinken“ bedeutet. (Siehe auch den Abschnitt „Aborigines“ weiter unten.)
Die Zähne der Koalas (I 3/1, C 1/0, P 1/1, M 4/4 ×2 = 30) sind gut an die Eukalyptusnahrung angepasst. Mit den oberen und unteren Schneidezähnen pflücken die Tiere die Blätter. Ein Spalt zwischen Schneide- und Backenzähnen ermöglicht es, mit der Zunge die Blattmasse wirkungsvoll hin und her zu schieben, ohne sich zu beißen. Die Backenzähne sind so geformt, dass sie die Blätter schneiden und zerreißen und nicht nur zermalmen. So entziehen die Zähne den Blättern die Feuchtigkeit und zerstören die Zellwände, was die Verdauung erleichtert.
Koalas entnehmen dem Eukalyptus Energie in Form von Zuckern, Stärken, Fetten und Eiweißen. In einem relativ langen Verdauungsprozess werden alle verwertbaren Nährstoffe und das Wasser entzogen. Entsprechend der schwerverdaulichen, wenig energiereichen und sogar toxischen Pflanzennahrung ist der Blinddarm der Koalas ungewöhnlich lang (bis 2,5 m). Dort helfen Bakterien bei der Aufarbeitung der Zellwände und lassen eine Art Gärung stattfinden. Zudem ermöglicht ein sehr langsamer Stoffwechsel, den Eukalyptus über lange Zeit zu speichern, in der ihm das Maximum an Energie entzogen wird. Gleichzeitig folgt aus dem langsamen Stoffwechsel ein geringer Energieverbrauch, so dass dieser niedriger ist als der anderer Pflanzenfresser.
=== Leben in Bäumen ===
Koalas verbringen den größten Teil ihres Lebens auf Eukalyptusbäumen. Diese Baumbewohner sind kräftige Kletterer mit schlanken, muskulösen Körpern. Sie haben kurze, gedrungene Körper, aber relativ lange Gliedmaßen. Ihre Hände, Füße und Krallen eignen sich zum Packen von Zweigen, zum Festhalten im Geäst und zum Balancieren. Bei Gefahr versuchen Koalas instinktiv, in den Zweigen eines Baumes Schutz zu suchen. In menschlichen Siedlungen erklettern sie Wände, Zäune, Lichtmasten und Straßenschilder.
Wollen Koalas einen Baum ersteigen, springen sie vom Boden hoch und schlagen ihre Krallen in die Rinde. Dann klettern sie jeweils gleichzeitig mit beiden Armen und Beinen in fließenden Bewegungen nach oben. Koalas klettern Stämme immer mit dem Kopf nach oben hinauf und hinunter. Der Abstieg ist normalerweise bedächtiger. Hier wird immer nur ein Bein versetzt.
Koalas kommen regelmäßig auf den Boden herunter, um den Baum zu wechseln. Hier lauern die meisten Gefahren. Sie gehen, indem sie erst den rechten Vorderfuß, dann den linken Hinterfuß, danach den linken Vorderfuß und schließlich den rechten Hinterfuß nach vorne setzen. Beim Rennen setzen sie beide Vorder- und beide Hinterbeine gleichzeitig.
Manche Koalas verweilen länger als andere am Boden. Dieses Verhalten hängt von der Größe ihrer Reviere und von den Entfernungen zwischen den Bäumen ab. In der Nähe menschlicher Siedlungen müssen oft größere Strecken am Boden zurückgelegt werden als in ungestörter Umgebung.
Auf ihren sicheren und bequemen Wohnbäumen zeigen Koalas eine Vielfalt von Ruhehaltungen, die von der Beschaffenheit der Astgabeln, von Wetterbedingungen und von der Tageszeit abhängen. Da sich das Wetter im australischen Busch mit der Tageszeit ändert, suchen sich die Koalas immer neue Stellen im Baum, mal in der Sonne, mal im Schatten, mal im kühlenden Wind, mal im Windschatten oder im Regenschutz.
Koalas können stundenlang bequem auf einem Ast rasten. Sie klemmen sich zwischen Astgabeln, um von diesem sicheren Schlafplatz nicht herunterzufallen. Ihr besonders dichtes Fell am Hinterteil stellt eine weiche Unterlage für die harten und winkligen Äste dar. Bei kaltem, nassem und windigem Wetter neigen sie dazu, sich wie eine Kugel zusammenzurollen, um ihre Oberfläche zu verringern und möglichst wenig Wärme abzugeben. Dann läuft das Wasser vom Rücken des Koalas wie vom Rücken einer Ente ab. An heißen, trockenen oder feuchtwarmen Tagen bevorzugen sie eine offene Haltung, so dass ihr helles und langes Brustfell die Hitze reflektieren und im Wind ein wenig flattern und somit kühlen kann.
=== Sozialverhalten ===
Koalapopulationen verfügen über ein kompliziertes System der Kommunikation und Organisation, das den sozialen Zusammenhalt gewährleistet. Obwohl sie außerhalb der Paarungszeit Einzelgänger sind, ordnen sie sich in stabilen Populationen einer Sozialhierarchie unter, indem sie überschneidende Reviere gründen und sich entsprechend ihrer Position verhalten. Wird diese Ordnung destabilisiert, leidet die Gruppe darunter.
==== Reviere ====
Jeder Koala gründet sein eigenes Revier. Dessen Größe hängt von mehreren Faktoren wie Qualität des Habitats, Geschlecht, Alter, sozialer Status und Tragfähigkeit des Lebensraumes ab.
Die Größe des Reviers gewährleistet in einer sozial stabilen Population eine ausreichende Anzahl von geeigneten Bäumen, um dem Koala genügend Nahrung und Schutz zu bieten. Er kann – abgesehen von Katastrophen und Störungen des Habitats – seinem Revier ein Leben lang treu bleiben. Um zu fressen, Schutz zu suchen oder soziale Kontakte zu pflegen, wechseln Koalas regelmäßig die Bäume innerhalb ihres Reviers. Dabei setzen sie auch Duftmarken, um ihren Bereich abzugrenzen.
In einer stabilen Population überlappen sich die Reviere der Nachbarn. Männchen bevorzugen Reviere, welche sich mit einem oder mehreren Revieren von Weibchen überlappen. Bei Überlappung von Männchenrevieren wird Kontakt gemieden. Das Revier eines Weibchens überschneidet sich mit Revieren beiderlei Geschlechts. Bevor die Jungen abwandern, sehen sie das Revier ihrer Mutter als ihr eigenes an. Reviere männlicher Koalas sind im Allgemeinen größer als die der Weibchen.
Die an einer Vielzahl von Kratzspuren und gehäuftem Kot erkennbaren Grenzbäume eines Koalareviers werden regelmäßig besucht. Manche von ihnen dienen auch als Begegnungsstätten, die für die Stabilität der Population eine entscheidende Rolle spielen. Während Koalamännchen ihre Reviere mit dem Duft ihrer Brustdrüsen markieren, nutzen Weibchen den Geruch ihres Urins.
Innerhalb eines Reviers wird aus Selbstbeschränkung nicht jeder Nahrungsbaum benutzt. Diese ungenutzten Nahrungsbäume werden ebenso wie die genutzten verteidigt, so dass sie für andere Koalas unerreichbar sind. Auf Grund dieses Verhaltens wird die Population im Gleichgewicht gehalten, da eine unkontrollierte Vermehrung vermieden wird, die den Lebensraum zu stark belasten würde. Aus diesem Grund müssen die Jungen ihre Mütter verlassen. Wenn sie blieben, wären sie Nahrungskonkurrenten ihrer Mutter beziehungsweise anderer Tiere. Junge Koalas müssen sich in den Randbereichen einer Gemeinschaft ansiedeln.
Stirbt ein Koala, wird sein Revier von einem Artgenossen übernommen, wobei die Grenzen nahezu gleich bleiben. Junge Koalas wandern oft monatelang am Rande einer Kolonie herum, bevor sie ein dauerhaftes Revier gründen. Diese übernehmen dann häufig verwaiste Reviere. In der Wildnis finden besonders zur Paarungszeit Revierkämpfe statt.
==== Abwanderung und Ausbreitung ====
Junge Koalas sind einige Zeit nach der Entwöhnung gezwungen, das Revier ihrer Mutter zu verlassen. Dies geschieht normalerweise im Alter von 18 Monaten. Da sich nicht alle Weibchen jährlich fortpflanzen, kann es aber auch erst nach zwei oder gar drei Jahren geschehen. Abwandernde Koalas suchen ein sowohl unbesetztes als auch in der Nähe anderer Koalas liegendes Habitat.
Reviersuchende Koalas sind manchmal gezwungen, große Strecken zurückzulegen, um ein geeignetes Gebiet zu finden. Diese Abwanderungen sorgen für den genetischen Austausch zwischen benachbarten Fortpflanzungsgruppen und gewährleisten somit die genetische Vielfalt von Populationen.
Abwanderung und Ausbreitung sind heutzutage in vielen von Koalas besiedelten Gebieten durch menschliche Eingriffe behindert. Verfügbare Lebensräume sind häufig eingeschränkt oder zersplittert, so dass junge Koalas keine geeigneten Reviere finden. Daran gehen sie entweder zugrunde oder sie müssen ständig umherwandern. Das kann allerdings zur Übernutzung der Nahrungsgrundlagen, zum Absterben von Bäumen und zum Niedergang der Population führen.
==== Verständigung ====
Koalas verfügen über eine Reihe von Lautäußerungen, mit denen sie sich über relativ große Entfernungen verständigen können. Sowohl weibliche als auch männliche Koalas gebrauchen den Angstruf. Dieser klingt wie ein beängstigender Schrei eines Säuglings. Er wird unter Stress ausgestoßen und ist oft von Zittern begleitet.
Männchen geben ein tief grunzendes Bellen von sich, wenn sie sowohl ihre Gegenwart als auch ihre soziale Stellung kundtun. Oft klingt es wie ein fernes Rumpeln, wie ein startendes Motorrad oder wie ein grunzendes Schwein. Die Männchen ersparen sich mit diesem Hinausbellen ihrer dominanten Stellung den Energieaufwand eines Kampfes. Während der Fortpflanzungszeit wird viel gebellt, um anderen Tieren die Möglichkeit zu geben, die Position des Rufers genau festzustellen.
Weibchen bellen nicht so oft wie Männchen. Aber ihre Rufe dienen ebenso der Mitteilung von Aggression als auch sexueller Stimmung. Mit ihren Jungen tauschen Mütter sanfte Klick- und Quietschgeräusche untereinander aus, aber auch leichte Grunztöne, die Unwohlsein und Ärger ausdrücken. Manchmal ist ein leises Summen oder Murmeln zu hören.
=== Krankheiten ===
Koalas können sich wegen ihres schlechten Immunsystems leicht verschiedene Krankheiten und Beschwerden einfangen. Dazu gehören Urogenital-Krankheiten, Erkrankungen der Atemwege und des Verdauungstrakts, Magengeschwüre, Krebs, Austrocknung und Muskelschwund. Koalas sind besonders empfindlich gegenüber Lebensraum- und körperlichem Stress. Nach außen kann Stress bei Koalas zum Beispiel durch ein Wackeln mit den Ohren oder sogar durch Schluckauf deutlich werden. Wegen der erhöhten Aktivität und des Stresses sind sie in der Fortpflanzungszeit besonders anfällig für Krankheiten. Oft treten dann Chlamydia-Infektionen auf. Diese treten vermehrt durch die Infektion mit dem Koala-Retrovirus, der, ähnlich wie HIV beim Menschen, das Immunsystem massiv schwächt, auf. Nur kranke Koalas zeigen nach einem Regenschauer ein nasses Fell, da sie nicht mehr genügend Energie aufbringen, es regelmäßig zu pflegen, so dass der Perleffekt verloren geht. Sie haben auch oft ungewöhnlich viele Zecken. Bei alten Koalas kann die Abnutzung ihrer Zähne zum Tod führen, da sie die Blätter dann nicht mehr kauen können und folglich verhungern müssen.
=== Fortpflanzung ===
Koalas erreichen mit etwa zwei Jahren die Geschlechtsreife. Erfolgreiche Begattungen finden jedoch meist erst ein bis zwei Jahre später statt. Die Weibchen pflanzen sich zum ersten Mal meist schon früher fort, da die älteren dominanten Männchen die jüngeren vom Geschehen fernhalten. Es ist umstritten, ob die Männchen auf die Suche nach Weibchen gehen oder umgekehrt. Möglicherweise hängt dies vom Status des Tieres in der sozialen Hierarchie ab. Die dominanten Männchen müssen ihre Position gegenüber anderen Männchen aufrechterhalten und ihre Weibchen überblicken. Dennoch kommt es vor, dass ein läufiges Weibchen auf die Suche nach einem dominanten Männchen geht.
==== Paarung und Befruchtung ====
Während der Fortpflanzungszeit sind Koalas aktiver als sonst. Während dieser Zeit geben männliche Koalas oft ein weitreichendes, heiseres Bellen von sich. Dieses Geräusch dient der Reviermarkierung, aber auch zur Information für die paarungsbereiten Weibchen. Bei den Koalas bestimmen grundsätzlich die Weibchen, wann die Paarung vollzogen wird. Meist versorgt das Koalaweibchen noch ein Jungtier vom Vorjahr. Eine Aufzucht eines neuen Koalababys kann jedoch erst erfolgen, wenn das vorhergehende Jungtier entwöhnt ist. Dies dauert meist etwa zwölf Monate. So kann sich der Zeitpunkt der Paarung, je nach Region, von Oktober bis April hinziehen. Fast erwachsene Jungtiere werden meist aus den Territorien ihrer Mütter vertrieben, so dass sie eigene Reviere gründen müssen.
Die Männchen sind während der Paarungszeit sehr aggressiv und verletzen sich oft gegenseitig mit ihren scharfen Krallen. Männchen paaren sich während der Paarungszeit mit allen erreichbaren Weibchen, dies geht meist mit Kratzen und Beißen einher. Da bei einer Paarung der Samen des Vorgängers weitgehend ausgeschwemmt wird, versuchen dominante Männchen auch Weibchen zu begatten, die bereits von einem anderen Männchen begattet wurden.
==== Trächtigkeit, Geburt und Jungenaufzucht ====
Die Tragzeit beträgt 35 Tage. Bei der Geburt krabbelt das Junge selbständig aus dem Geburtskanal in den Beutel. Es wiegt dann weniger als ein Gramm und ist etwa 2 cm lang, blind und nackt. Im Beutel hindert ein kräftiger Schließmuskel das gänzlich umhüllte Junge am Herausfallen. Es wird meist nur ein Junges im Sommer geboren, welches sechs bis sieben Monate im Beutel heranreift und gesäugt wird. Nach etwa 22 Wochen öffnet es die Augen und beginnt aus dem Beutel zu schauen. Im Alter von 22 bis 30 Wochen bekommt es eine als „Papp“ bezeichnete Zusatznahrung, die seine Mutter neben der Milch produziert. Papp ist eine besondere Art von Kot, die dem Jungen die Umstellung von der Milch- auf die Blattnahrung, eine entscheidende Veränderung, erleichtert und zunehmend zur Hauptnahrung des Jungen wird, das mit wachsender Körpergröße den Beutel häufiger verlässt und beim Fressen auf dem Bauch der Mutter liegt. In dieser Zeit lernt es, Blätter mit den Händen zu greifen und sie sorgfältig zu beschnuppern, bevor es sie frisst. Trotzdem nimmt das Junge noch bis zum Alter von einem Jahr Muttermilch. Auf Grund der Größe der Jungen verlängert sich die Zitze der Mutter nun so, dass sie aus der Öffnung des Beutels herausragt. Mit Beginn der Blattnahrung wachsen die Jungen viel schneller und ihr Körperbau wird gedrungener. Nun wird das Junge von der Mutter auf dem Rücken herumgetragen, sucht aber noch im Beutel der Mutter Schutz. Ist es größer, macht es im Umkreis der Mutter erste Ausflüge.
Nach rund zwölf Monaten ist das Junge selbständig genug, so dass das Muttertier erneut trächtig werden kann. Stellt sich erneuter Nachwuchs ein, lässt die Mutter ihr vorjähriges Junges nicht mehr saugen und auf sich reiten, duldet es jedoch weiterhin in ihrer Nähe, bis das jüngere erste Ausflüge macht. Normalerweise werden die Jungtiere etwa im Alter von 18 Monaten von der Mutter vertrieben. Wird die Mutter allerdings nicht erneut trächtig, kann das Junge den mütterlichen Schutz bis zu drei Jahre genießen. Nach der Vertreibung wandert es aus und gründet sein eigenes Revier.
Wildlebende Männchen haben mit durchschnittlich zehn Jahren im Allgemeinen eine geringere Lebenserwartung als Weibchen mit 15 Jahren, weil sie sich oft bei Kämpfen verletzen, normalerweise weiter wandern und oft in mäßigen Habitaten leben. Koalas in freier Natur leben generell kürzer als in Gefangenschaft (Weibchen bis 19 Jahre). Besonders kurz leben Koalas in städtischen Vororten oder in der Nähe einer Autobahn. Hier liegt die mittlere Lebenserwartung eines Männchens bei zwei oder drei Jahren.
== Systematik und Evolution ==
Koalas gehören innerhalb der Beuteltierordnung Diprotodontia zur Unterordnung der Vombatoidea, die unter anderem auch die Wombats umfasst (Näheres siehe Systematik der Diprotodontia). Die Koalas bilden als einzig lebende Vertreter die Familie der Phascolarctidae.
Die frühesten Fossilien aus der Familie der Koalas sind rund 25 Millionen Jahre alt. Sie sind allerdings selten und man findet meist nur einzelne Zähne und Knochen. Es wird angenommen, dass die Vertreter aller fünf bis heute bekannten fossilen Gattungen (Koobor, Madakoala, Perikoala, Nimiokoala und Litokoala) baumbewohnende Laubfresser waren, die sich von eher weicher Pflanzenkost ernährten. Die hohe Spezialisierung auf harte Eukalyptusblätter fand erst mit der Bildung der Gattung Phascolarctos und der Entstehung der heute lebenden Koalas (Phascolarctos cinereus) statt.Eine Erklärung für die auffallende Seltenheit von Fossilienfunden wäre, dass die frühen Koalas selbst selten waren. Wahrscheinlich hatten sie sich auf die Blätter von Vorläufern heutiger Eukalyptusbäume spezialisiert, die in den damaligen Regenwäldern Australiens nur verstreut vorkamen. Das Land trocknete später infolge einer Eiszeit und wegen der langsamen Annäherung des Kontinents an den Äquator aus. Dadurch breitete sich der Eukalyptus aus und beherrschte zunehmend die offenen Waldgebiete Australiens. Nun konnten sich die Koalas besser entfalten. Man nimmt an, dass sich der Eukalyptus und die Koalas über viele Millionen Jahre gemeinsam entwickelten und dass die Koalas zur Zeit der Aborigines häufiger und weiter verbreitet waren als ihre Vorfahren.
== Koalas und Menschen ==
Die Beziehungen der Menschen zu den Koalas unterlagen im Lauf der Jahre großen Schwankungen. Den Ureinwohnern galt der Koala nicht mehr oder weniger als andere Tiere ihrer Umgebung. Die frühen Siedler Australiens sahen ihn als Kuriosität und begannen bald, ihn wegen seines Pelzes zu jagen. Heutzutage gilt er international als Symbol Australiens.
=== Aborigines ===
Die Aborigines jagten Koalas wegen ihres Fleisches und ihres Fells. Es gab einige mündlich überlieferte Traumzeit-Legenden über den Koala, die seine körperlichen Besonderheiten erklären. Er war ein häufig gebrauchtes Totemsymbol. Wer den Koala als Totem hatte, durfte ihn nicht töten. Der Koala wurde als Teil der Traumzeitschöpfung betrachtet.
=== Etymologie ===
Das Wort „Koala“ entstammt der heute fast ausgestorbenen Sprache der Darug-Aborigines aus der Gegend um Sydney. Es hieß darin gula, in englischer Rechtschreibung koola, und wird gewöhnlich mit „trinkt nicht“ übersetzt. Durch einen Abschreibfehler entstand daraus die Form „Koala“. Andere Namen der Aborigines für das Tier sind: Kallwein, Kuhlewong, Kolo, Kola, Kuhla, Kaola, Karbor, Burabie und Goribun.
=== Nach Ankunft der Europäer ===
Koalas wurden von den europäischen Siedlern als Merkwürdigkeit des australischen Kontinents angesehen. Nachdem die Europäer bald nach ihrer Ankunft erfahren hatten, wie leicht die Aborigines Koalas fangen, erlegten sie Hunderttausende. Koalapelze wurden auf dem Weltmarkt zum begehrten Artikel.
1919 wurde von der australischen Regierung eine sechsmonatige Jagdzeit für Koalas (und Baumkängurus) beschlossen, welcher eine Million Koalas zum Opfer fielen. Dieser massenhafte Abschuss führte jedoch zu öffentlichen Protesten, weshalb die Koalas noch im selben Jahr wieder unter Jagdschutz gestellt wurden. Allerdings wurde dem Koala weiterhin ganzjährig illegal nachgestellt. Um 1924 waren die Koalas in Südaustralien ausgerottet, in New South Wales massiv dezimiert und in Victoria schätzte man den Bestand auf 500 Tiere. Damit verlagerte sich der Pelzhandel nach Queensland.
Im August 1927 gab die Regierung in der Hoffnung auf Wählerstimmen die Jagd auf Koalas wieder frei. In der kurzen Zeit von 31 Tagen wurden schätzungsweise 800.000 Koalas getötet, was zu einem kolossalen Aufstand in der Öffentlichkeit führte. Zu dieser Zeit waren 80 % ihrer ehemaligen Lebensräume zerstört. Die nun vorhandene Bereitschaft, die Koalas zu unterstützen, ebnete den Weg für die Unterschutzstellung der Koalas in den späten 1930er Jahren. So wurde der Koala im Jahre 1937 in ganz Australien zur geschützten Art erklärt.
=== Heutige Bedeutung ===
Der Koala ist heutzutage ein öffentlichkeitswirksames Tier, ein Symbol der Schutzbemühungen um Australiens Flora und Fauna. Aufgrund seines niedlichen Aussehens hat er eine hohe Popularität auf allen Kontinenten erlangt. Neben seinen flauschigen Ohren und der großen Nase tragen seine friedliche Art und seine Ähnlichkeit mit dem Teddybären dazu bei.
Während der Koala in der frühen Zeit der australischen Besiedlung nur als Pelzträger galt, avancierte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zeiten des Nationalismus zum anerkannten Symbol Australiens. Innerhalb weniger Jahre entwickelten sich Koalafiguren wie Blinky Bill und Bunyip Bluegum. Diese waren mit menschlichen Eigenschaften, wie ein wenig Respektlosigkeit, mit deutlichen Moralvorstellungen ausgestattet. Ebenso wurde er als nicht zugeknöpfter, spaßvoller Charakter beschrieben. Figuren wie Blinky Bill sollten Schwächen und Widersprüche individueller Personen aufzeigen. Der Koala gilt seitdem als Personifizierung des australischen Charakters. Viele Koala-Zeichnungen und -Karikaturen dienten der Darstellung ganz allgemeiner Eigenschaften wie Nationalstolz, Mutterschaft, Mut und Demut. Dies reicht bis in unsere heutige Zeit.
=== Heutige Gefährdung ===
Einer WWF-Analyse zufolge sind in einigen Regionen Australiens seit den 1990er-Jahren 80 Prozent der Koalas verschwunden.Früher waren die weichen, dauerhaften Felle der Koalas sehr begehrt, so dass sie durch die Bejagung stark dezimiert wurden. Obwohl sie seit 1937 unter Schutz stehen, sterben jährlich etwa 4000 städtische Koalas durch menschliche Ursachen. Dabei kommen auf jeden erfassten verunglückten Koala drei bis vier Tiere, die unbemerkt durch Unfälle umkommen.
Folgende Tabelle zeigt die Gefährdung der Koalas in den australischen Bundesstaaten:
Die Aussiedlung von Koalas auf Kangaroo Island hat zu einer so starken Vermehrung geführt, dass nun die Eukalyptusbäume und damit eine Reihe von anderen Tieren bedroht sind. Dies liegt an den Ernährungsgewohnheiten: Koalas bewegen sich nur wenig und fressen daher die Äste, auf denen sie sitzen, regelrecht kahl. Ein Umsiedlungsprogramm schlug auf Grund mangelnder Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Koalapopulation fehl, weshalb Koalas auf Kangaroo Island sogar wieder zum Abschuss freigegeben sind.
Ab einem bestimmten Punkt können sich Koalapopulationen nicht mehr selbst erhalten. Jede Population ist an ihren Lebensraum angepasst und jedes Revier ist einmalig. Für Koalapopulationen vorgesehene Gebiete müssen geeignet und groß genug sein. Dies wird jedoch bei vielen Umsiedlungversuchen nicht beachtet. Ein weiteres Problem ist, dass etwa 80 % der Koalas auf privatem Land leben. Dies trifft vor allem auf die Ostküste Australiens zu. Besonders Waldrodungen führen zum Rückgang von Lebensräumen für Koalas. Wenn keine wirksamen Schutzmaßnahmen ergriffen werden, werden die Koalas nach Berechnungen der „Australian Koala Foundation“ im Jahre 2080 kritisch gefährdet und damit vom Aussterben bedroht sein. In einem Bericht der IUCN von Dezember 2009 für die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen wird auch davon ausgegangen, dass der Koala eine der durch die globale Erwärmung mit am stärksten bedrohten Tierarten sei.Große Verluste gab es bei den Buschbränden in Australien 2019/2020: Unter anderem wird geschätzt, dass bis Mitte Januar von den rund 80.000 in Australien lebenden Koalas etwa 33.000 ums Leben kamen. Die einzelnen Populationen in Australien waren dabei unterschiedlich schwer betroffen. Neben den direkten Todesfällen durch die Brände wirken sich auch indirekte Auswirkungen der Brände wie Autounfälle, Angriffe durch Haustiere und Verluste von Futterbäumen negativ auf die Bestandszahlen aus.
=== Haltung in Menschenobhut ===
Die ersten in Menschenobhut gehaltenen Koalas wurden um 1920 im Koala Park in Sydney dem Publikum zur Schau gestellt. Seitdem werden sie in Schaugehegen immer häufiger gezeigt.
In Zoologischen Gärten werden Koalas außerhalb Australiens nur sehr selten gezeigt, was vor allem mit der Schwierigkeit zusammenhängt, genügend geeigneten Eukalyptus für die Tiere bereitzustellen. Erstmals für Deutschland zeigte der Tierpark Berlin im Jahr 1994 Koalas, bevor die Tiere in den Duisburger Zoo überführt wurden, wo heute auch regelmäßig die Nachzucht gelingt. Seit November 2013 leben zwei Koala-Männchen im Prof.-Brandes-Haus des Dresdner Zoos. Beide Tiere wurden 2011 bzw. 2012 im Duisburger Zoo geboren und nach Einholung aller Genehmigungen und Schulung der Tierpfleger erfolgreich umgesiedelt. Im Wiener Tiergarten Schönbrunn werden ebenfalls Koalas gehalten. Der Zoo Leipzig hat seit April 2016 einen männlichen Koala namens Oobi-Ooobi aus einem Zoo in Belgien übernommen. Dieser lebt im dafür aufwendig hergerichteten ehemaligen Tieraffenhaus, welches nun als Koalahaus verwendet wird. Seit März 2018 leben auch im Zoo Zürich Koalas.In Gehegen können Koalas kein ausgeprägtes Wanderverhalten zeigen, da sie dort unter engeren Bedingungen und viel höherer Dichte leben als in der Wildnis. Trotzdem zeigen sie auch hier noch gewisse soziale Verhaltensweisen von Wildtieren. Dazu gehören das Revierverhalten und die Rangordnung der Männchen.
== Literatur ==
Ann Sharp: Koalas. Die Teddybären aus dem Eukalyptuswald. Australian Koala Foundation. BLV Verlagsgesellschaft, München/ Wien/ Zürich 1995, ISBN 3-405-14845-6.
Ann Sharp: The Koala Book. Australian Koala Foundation. Pelican Publishing, Gretna La 1995, ISBN 1-56554-160-X. (englisch)
L. Cronin: Koala, Australia’s Endearing Marsupial. Reed Books, Frenchs Forest NSW 1987, ISBN 0-7301-0158-4.
A. K. Lee, R. W. Martin: The Koala. A natural History. New South Wales University, Kensington 1988, ISBN 0-86840-354-7.
A. K. Lee, K. A. Handasyde, G. D. Sanson: Biology of the Koala. Surrey Beatty & Sons, Chipping Norton, NSW 1990, ISBN 0-949324-34-5.
Roger William Martin: Draft Management Plan for the Conservation of the Koala (Phacolarctos cinereus) in Victoria. Arthur Rylah Institute for Environmental Research, Heidelberg Vict 1989, ISBN 0-7241-9636-6.
F. Nelson: The Koala’s Tail. Proceedings of the Conference of the Status of the Koala in 1993. Australian Koala Foundation, Brisbane 1993.
Bill Phillips: Koalas. The little Australians we’d all hate to lose. Australian National Parks and Wildlife Service, Canberra 1990, ISBN 0-644-09697-7.
C. W. Pieters, P. F. Woodall: An Investigation into the Factors that Influence Habit Usage by a Koala (Phascolarctos cinereus) Population in South-east Queensland. Final Report to the Australian Koala Foundation. University of Queensland, Currumbin Qld 1993.
=== Zootierhaltung von Koalas in Deutschland ===
Claus Pohle: Koalas im Tierpark. In: Takin. Nr. 2, Berlin 1994, S. 15–17. .Koalas im Tierpark Berlin.
Renate Taeschner: Besuchermagnet Wale und Delphine. In: Takin. Nr. 2, Berlin 1996, S. 13–14. .Koalas im Zoo Duisburg.
== Weblinks ==
Phascolarctos cinereus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2020. Eingestellt von: Woinarski, J. & Burbidge, A. A., 2014. Abgerufen am 19. Juni 2021.
Koalahilfe – Informationen rund um den Koala … außerdem Hilfe für das Koala Hospital in Port Macquarie
Australian Koala Foundation (AKF) – wichtigste nichtstaatliche Institution zum Schutz der Koalas und ihrer Lebensräume
Lone Pine Koala Sanctuary – Waisenhaus und Auffangstation für Koalas
Zoo Duisburg – Größte Koalahaltung und -zucht außerhalb Australien und USA
Koalavideos aus Australien – Videos vom Koala Care and Research Center in Lismore, Australien
Video: Phascolarctos cinereus (Phascolarctidae) – Klettern und Fressen. Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) 1966, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.3203/IWF/E-1068.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Koala |
Pink Floyd | = Pink Floyd =
Pink Floyd war eine 1965 gegründete englische Rockband. Mit ihrer Musik und der visuellen Gestaltung ihrer Platten und Bühnenauftritte schuf sie einen neuartigen Stil. Den Quellenangaben zufolge verkaufte die Band bislang über 300 Millionen Tonträger. Damit gehört Pink Floyd zu den erfolgreichsten Bands überhaupt. Das Konzeptalbum The Dark Side of the Moon (1973) ist das weltweit drittmeistverkaufte Album und das Konzeptalbum The Wall (1979) das meistverkaufte Doppelalbum.
Unter der Leitung des ersten Sängers und Gitarristen Syd Barrett gehörte die Band zunächst zur britischen Bewegung des Psychedelic Rock. Nachdem Barrett zunehmend unter, mutmaßlich durch Drogenkonsum verursachten, psychischen Problemen zu leiden begann und 1968 die Band verlassen musste, entwickelte die Gruppe in der Besetzung Roger Waters, David Gilmour, Richard Wright und Nick Mason (der als einziger Musiker an sämtlichen Alben der Band mitwirkte) einen eigenständigen Stil mit Einflüssen aus Progressive Rock, Blues, Jazz sowie klassischer und Neuer Musik. Die Texte, die von 1973 (The Dark Side of the Moon) bis 1983 (The Final Cut) komplett von Waters geschrieben wurden, setzen sich oft kritisch mit sozialen und politischen Themen auseinander.
== Geschichte ==
=== Vorgeschichte ===
Die Wurzeln der Band gehen zurück auf die Schulzeit von Syd Barrett, Roger Waters und David Gilmour in Cambridge. Barrett und Waters besuchten das Hills Road Sixth Form College, Gilmour die Perse School in derselben Straße. Barrett und Gilmour trafen sich in den Mittagspausen zum Gitarrespielen und gaben vereinzelt Straßenkonzerte. Zu einer Bandgründung kam es allerdings noch nicht. 1963 ging Barrett nach London. Gilmour gründete die Band Joker’s Wild und zog ab 1966 mit einer weiteren Band relativ erfolglos durch Spanien und Frankreich.
=== Die Ära Syd Barrett: 1965 bis 1968 ===
1964 kam Roger Waters nach London und lernte bei seinem Architekturstudium an der Polytechnischen Hochschule den Schlagzeuger Nick Mason und den Pianisten und Organisten Richard „Rick“ Wright kennen. Sie gründeten die Coverband Sigma 6 und interpretierten aktuelle Blues- und Beatsongs. Mitglieder der sich zunächst als Rhythm-and-Blues-Band verstehenden Gruppe waren auch die Sängerin und spätere Ehefrau von Rick Wright, Juliette Gale, der Bassist Clive Metcalf und der Sänger Keith Noble. Sie änderten den Namen in The Tea Set, und Gitarrist Bob Klose kam hinzu.
1965 trat der exzentrische Kunststudent Syd Barrett als Sänger und Gitarrist der Band bei. Gale, Metcalf und Noble traten bald darauf aus, und Waters stieg von Gitarre auf E-Bass um. Barrett gab der Band den Namen The Pink Floyd Sound, abgeleitet von den Vornamen seiner beiden Lieblings-Bluesmusiker Pink Anderson und Floyd Council. Nach Aufnahme der Demos Lucy Leave und I’m a King Bee verließ auch Bob Klose die Gruppe. Der Name wurde auf The Pink Floyd und 1967 ab der zweiten Single schließlich zu Pink Floyd verkürzt.Ab 1966 spielte Pink Floyd im Londoner Untergrundclub UFO und wurde dort zur Hausband. Die ersten Erwähnungen der sich unter Barrett zur führenden Londoner Underground-Band entwickelnden Gruppe in der Presse erfolgten in der Untergrundzeitung International Times sowie in der Sunday Times im Oktober 1966; in beiden Artikeln wurde über ihren Auftritt im Londoner Roundhouse berichtet. Am 10. März 1967 veröffentlichte Pink Floyd ihre erste Single Arnold Layne bei EMI. Ein Londoner Rundfunksender verweigerte die Ausstrahlung, weil sie von einem Unterwäsche stehlenden Transvestiten handelt. Die Quellen sind sich uneins darüber, ob es der Piratensender Wonderful Radio London oder BBC Radio London gewesen ist. Am 16. Juni desselben Jahres erschien ihre zweite Single mit dem gleichnamigen Top-Ten-Erfolg See Emily Play.
Die Band übernahm die von Andy Warhol stammende Idee der Mixed Media, etwa bei Liedern von Chuck Berry, die mit elektronischen Feedback-Techniken zerhackt wurden, und bei mit Licht- und Diashow untermalten Trip-Fantasien. Daraus entwickelte sich später ein zunehmend ausgeklügeltes Multi-Media-Konzept. Barrett war prägend für die frühen Jahre von Pink Floyd, gab die psychedelische Richtung vor und schrieb fast alle Stücke für das erste Album The Piper at the Gates of Dawn sowie für die ersten drei Singles. Mit wachsender Popularität der Band verschlechterte sich seine psychische Verfassung allmählich, verstärkt durch maßlosen Drogenkonsum, was die Zusammenarbeit mit ihm zunehmend erschwerte. Teilweise stand Barrett nur noch regungslos auf der Bühne, statt zu spielen.So kam es, dass Barretts Schulfreund David Gilmour, dessen eigene Gruppe sich gerade auflöste, Anfang 1968 von Roger Waters als fünftes Mitglied aufgenommen wurde; es gibt Fotos, die alle fünf Musiker gemeinsam zeigen. Gilmour sollte Barrett bei Live-Auftritten zunächst nur unterstützen, ersetzte ihn aber schließlich ganz. Im März 1968 wurde entschieden, ohne Barrett weiterzumachen. Auf dem zweiten Album A Saucerful of Secrets ist nur noch eine Komposition von Barrett enthalten (Jugband Blues). Seine restlichen Stücke aus dieser Zeit wurden 1970 auf zwei Soloalben Barretts eingespielt, zum Teil unter Mitwirkung von Pink-Floyd-Mitgliedern, sowie in der Box The Early Years 2017 veröffentlicht. Die Auseinandersetzung der restlichen Gruppe mit dem Abgang Barretts und seiner psychischen Erkrankung wurde im späteren Werk der Gruppe – und besonders auf dem Album Wish You Were Here – wiederholt thematisiert.
=== Ausprägung eines neuen Stils: 1968 bis 1972 ===
Auftritte der Gruppe, vor allem im Londoner UFO-Club, weckten auch das Interesse von Filmregisseuren. Die Band erhielt mehrere Aufträge zur Mitwirkung an Soundtracks, so bei Zabriskie Point und More. More erschien als Vinyl 1969 etwa zeitgleich mit Ummagumma, das als Doppelalbum eine Studioplatte, die je zu einem Viertel von jedem Bandmitglied stammt, und einen Live-Teil umfasst. Neben dem dort veröffentlichten Live-Programm wurde auch eine Konzeptshow namens The Man and The Journey interpretiert, die vorhandene Stücke sowie Neukompositionen enthielt. Im ersten Teil (The Man) geht es um einen Tagesablauf, im zweiten (The Journey) um eine innere Reise.Die Phase der künstlerischen Neuorientierung setzte sich mit dem nächsten Werk fort. Atom Heart Mother von 1970 war das erste Pink-Floyd-Album, das in Großbritannien den ersten Platz der Albumcharts erreichte. Neben drei Songs, die vom Folk beeinflusst sind, enthält es die 23-minütige Suite Atom Heart Mother, bei der ein Orchester und ein teilweise experimentell eingebrachter Chor zum Einsatz kamen, sowie die 13-minütige Soundcollage Alan’s Psychedelic Breakfast.
Der Nachfolger Meddle (1971) belegte Platz 3. Die zweite Seite der Schallplatte füllt das 23 Minuten lange Echoes aus, das als wegweisend für die anschließende Entwicklung der Band gilt. In den USA blieb der Erfolg zunächst aus – über Platz 55 kam man dort trotz gut besuchter und umfangreicher Tourneen nicht hinaus. Einen Achtungserfolg brachte dort aber der Filmsoundtrack Obscured by Clouds ein, das als erstes ihrer Alben in die amerikanischen Top 50 einstieg. Free Four, ein Song mit vergleichsweise hohem Tempo, wurde öfter von US-amerikanischen Radiosendern gespielt als jede andere ihrer früheren Singles.
Im Jahr 1972 begann Pink Floyd auch die Arbeit an ihrem erfolgreichsten Album The Dark Side of the Moon. Dafür arbeiteten sie sowohl im Studio, als auch auf Konzerten im Zuge der zweijährigen The Dark Side of the Moon Tour. Dort spielten, verfeinerten und ersetzten sie nach und nach die Stücke. Dieses Konzept wurde auf ihren Konzerten bis 1975 genutzt.
=== Weltweite Erfolge: 1973 bis 1975 ===
In den folgenden Jahren wurde Pink Floyd zu einer der erfolgreichsten Rockbands weltweit. Dabei entwickelte sich Roger Waters immer mehr zum Bandleader und hauptsächlichen Songwriter. Ab 1973 schrieb er – bis zu seinem Ausstieg Mitte der 1980er Jahre – sämtliche Songtexte der Band, und auch sein Einfluss auf die Musik wuchs zusehends. Auf seinen Ideen basierte auch das erste Konzeptalbum der Gruppe, The Dark Side of the Moon, das im März 1973 mit Kompositionen aller vier Mitglieder erschien. Von der Kritik zunächst verhalten aufgenommen, avancierte es zu einem Klassiker der Rockmusik. Es war die erste Veröffentlichung der Band, die auch in den USA durchschlagenden Erfolg hatte, dokumentiert durch Platz 1 in den Charts und eine sehr erfolgreiche Tour, die den Superstarstatus und damit den kommerziellen Erfolg der Band zementierte. Das Album, das vom Leitmotiv „Wahnsinn“ geprägt war, hielt sich von 1973 bis 1988 740 Wochen in den amerikanischen Billboard-Charts – bis heute ein unübertroffener Rekord (diese Charts umfassen die Top 200-Alben und berücksichtigen nicht nur Verkäufe, sondern auch Radioeinsätze). Es wird vermutet, dass die für diesen Rekord erforderlichen Mehrfachkäufe auch dadurch zustande kamen, dass das Album aufgrund seiner außergewöhnlichen Klangqualität als Referenzalbum zum Test von High-End-Stereoanlagen diente und Kratzer auf der Schallplatte audiophile Fans zu einem erneuten Kauf bewegten. Als das Album 1983 auf CD erschien, gab es wiederum einen Kaufanstieg, bis das Werk allmählich aus den Billboard-Charts verschwand.1974 war die Gruppe für ihre Verhältnisse nur sehr kurz auf Tour. Lediglich einige Konzerte im Juli in Frankreich und eine Tournee im November und Dezember in Großbritannien fanden statt, was dem Erfolg von The Dark Side of the Moon geschuldet war. Auf diesen Tourneen erarbeiteten sie die Stücke Shine On You Crazy Diamond, Raving and Drooling, das auf dem Album Animals zu Sheep wurde, sowie You've Gotta Be Crazy, das auf dem gleichen Album zu Dogs wurde. Außerdem arbeiteten sie an neuem Material, sie versuchten, nur mit Haushaltsgegenständen ein vollständiges Album zu produzieren. Das unter dem Arbeitstitel Household Objects bekanntgewordene Projekt scheiterte allerdings an dem erforderlichen Arbeitsaufwand, der durch den Ehrgeiz der Gruppe auf ein unerreichbares Niveau gehoben wurde.Das Nachfolgewerk Wish You Were Here von 1975 ist Syd Barrett gewidmet: Das Titelstück Wish You Were Here und auch Shine On You Crazy Diamond beziehen sich auf das Gründungsmitglied. Während der Studioarbeit erhielt die Band Besuch vom psychotischen Barrett, der sich stark verändert und den Bezug zur Realität verloren hatte. Richard Wright bezeichnete die Platte später als das beste Pink-Floyd-Album und Shine On You Crazy Diamond als besten Song, an dem er nicht die kleinste Veränderung vornehmen würde. Die Platte wurde in Großbritannien 250.000-mal vorbestellt. Das Album gilt als der zweite Klassiker im Katalog der Band. 1975 kaufte Pink Floyd eine ehemalige Kirche in der Britannia Row im Londoner Stadtteil Islington, wo sie neben Büros und Lager die eigenen Britannia Row Studios unterbrachten. Dort wurden seitdem Teile der Alben aufgenommen. Die Veranstaltungstechnik wurde im selben Jahr als Britannia Row Productions ausgelagert und war zunächst im selben Gebäudekomplex beherbergt.
=== Die Ära Roger Waters: 1976 bis 1985 ===
Das Album Animals von 1977, das teilweise auch in pinkfarbenem Vinyl gepresst wurde, besteht aus drei Kompositionen mit Laufzeiten zwischen 10 und 17 Minuten und dem umrahmenden Akustikstück Pigs on the Wing. Erstmals enthielt ein Pink-Floyd-Album fast ausschließlich Beiträge von Roger Waters; nur an Dogs war Gilmour maßgeblich als Komponist beteiligt. Dafür füllt das Lied fast eine komplette Albumseite. Musikalisch rauer als die Vorgängeralben gehalten und mit politischen sowie sarkastischen Texten versehen, wurde das Album von Fans und Kritikern insgesamt weniger positiv aufgenommen als seine direkten Vorgänger. Die Konzerte vor großem Publikum empfand besonders Waters als sehr anstrengend und entfremdend. Bei späteren Tourneen wurden keine Songs von Animals mehr gespielt. Erst als Solokünstler führte Waters große Teile des Albums Jahre später wieder regelmäßig auf.
Das wohl ehrgeizigste und größte Projekt war dann die Konzeption des Albums The Wall im Jahr 1979. Die Aufnahmen markierten erste schwerwiegende Differenzen zwischen den Bandmitgliedern, vornehmlich Gilmour und Waters, über die Frage, wohin sich die Band entwickeln sollte. Ein letztes Mal konnten die Konflikte aber in Kreativität umgesetzt werden, nicht zuletzt aufgrund der Vermittlung des jungen Bob Ezrin, den die Band als Produzenten hinzugezogen hatte. Waters setzte seine Linie dabei alles in allem durch, bis auf wenige Ausnahmen stammen auch alle Songs von ihm. Gilmour war als Komponist vor allem an Run Like Hell und Comfortably Numb beteiligt, wobei letzteres ursprünglich auf seinem Soloalbum erscheinen sollte, er steuerte aber auch bei anderen Songs wesentliche Gesangs- und Gitarrenparts bei.
Wright, der sich auch als Musiker der Kritik der übrigen Bandkollegen ausgesetzt sah, verließ die Band nach dem Ende der Aufnahmen: Zum Bruch kam es im Herbst 1979, als Wright sich weigerte, seinen Familienurlaub in Griechenland abzubrechen, um an einer letzten Session teilzunehmen, die notwendig geworden war, um das Album, wie von der Plattenfirma gefordert, vor Weihnachten veröffentlichen zu können. Waters konnte Gilmour daraufhin überzeugen, Wright zu entlassen, wobei er drohte, The Wall andernfalls als Solo-Projekt zu realisieren. Wright nahm zwar noch an den folgenden The-Wall-Konzerten teil, wurde aber aus der Floyd-Partnerschaft ausgezahlt; zudem wurden weitere, von der Fertigstellung der diversen Wall-Projekte abhängige Honorare vereinbart. Waters behauptete später, Wright sei zum „Spielen“ zu ausgebrannt gewesen und hätte Bob Ezrin und dem Studiomusiker Peter Wood viele Keyboardparts auf The Wall überlassen. Nach anderen Berichten wurde er von Waters aufgrund von Drogenproblemen entlassen. Wright sagte dazu: „Roger und ich kamen einfach nicht mehr miteinander zurecht. Egal was ich machte, er war dagegen. Es war für mich unmöglich, mit ihm zu arbeiten.“Das Album gilt, wiewohl beim Erscheinen durchaus umstritten, allgemein als das letzte „klassische“ Werk der Band. Das Konzeptalbum trägt autobiografische Züge von Roger Waters und beschreibt die zunehmende, durch eine Vereinnahmung von Seiten der Mutter und den Verlust des Vaters begründete Vereinsamung eines Rocksängers. Ein letztes Mal waren zudem Anspielungen auf das Schicksal Syd Barretts enthalten, denn auch Pink, die Hauptfigur von The Wall, ist ein Rockmusiker, der den Kontakt zur Realität verliert. Eine entsprechende Bühnenshow umrahmte diesen Inhalt: Während der ersten Konzerthälfte wurde auf der Bühne eine Mauer errichtet, die die Entfremdung zwischen Musikern und Publikum symbolisieren sollte. In der zweiten Hälfte spielte die Band hinter der Mauer, auf der Vorderseite wurden verschiedene Clips projiziert. The Wall wurde nur an vier Orten live aufgeführt: in Los Angeles, New York, London und Dortmund (1981). 1990, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, führte Roger Waters The Wall noch einmal mit eigenen Gastmusikern auf dem ehemaligen Todesstreifen in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz auf. Ab dem Jahr 2010 führte Roger Waters mit seinem Solo-Projekt The Wall in einer langen, weltweiten Tour mit einer multimedialen Show in mehreren Ländern erneut auf.
The Wall wurde 1982 von Alan Parker mit Bob Geldof in der Hauptrolle unter dem Titel Pink Floyd – The Wall verfilmt, wobei sich die Musik im Film und auf dem Konzeptalbum in einigen Stücken und Gesangsparts voneinander unterscheiden. Gilmour gab später zu Protokoll, dass vor allem in diesem Zusammenhang, nicht bereits während der Arbeit am Album, die Konflikte zwischen ihm und Waters eskaliert seien. Dieser habe nun die absolute künstlerische Kontrolle beansprucht. Das anschließende und bis zum Comeback 1986 zunächst letzte Album The Final Cut von 1983 stammte folglich vollständig aus der Feder von Roger Waters und ist seinem Vater Eric Fletcher Waters gewidmet, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Kompositorisch ist das Album eine Waters-Soloarbeit („written by Roger Waters, performed by Pink Floyd“) und enthält mehrere Songs, die die übrigen Musiker ursprünglich als „zu schwach“ abgelehnt hatten; auch die Reaktionen der Kritik waren insgesamt eher verhalten. Gilmour, auf The Wall noch sehr prominent als Sänger und Gitarrist vertreten, tritt auf dem Album kaum in Erscheinung, sondern arbeitete parallel an seinem Soloalbum About Face.
=== Die Ära David Gilmour: 1987 bis 1995 ===
1985 führten die Spannungen zwischen Waters und Gilmour zum Ausstieg von Waters, der die Band daraufhin im Alleingang für aufgelöst erklärte. Eine lange juristische Auseinandersetzung um den Bandnamen folgte: Gilmour, dessen Soloprojekt zuvor nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hatte, wollte 1986 zusammen mit Mason unter dem Namen „Pink Floyd“ weitermachen und setzte sich vor Gericht schließlich durch. Jahre später räumte Waters ein, sein Versuch, Pink Floyd gegen den Willen der anderen Musiker aufzulösen, sei ein Fehler gewesen.
Während der Aufnahmen zu dem neuen Projekt A Momentary Lapse of Reason (1987) stieß auch Wright wieder hinzu, allerdings noch nicht als Vollmitglied, da Gilmour und Mason das Album alleine finanziert hatten. Es war am Ende eher ein Soloprojekt von Gilmour, der auf die Hilfe unterschiedlicher Studiomusiker und Songwriter zurückgriff, und stieß bei den Fans auf Begeisterung. Die Reaktionen der Kritiker auf Pink Floyds 13. Studioalbum, die teils Schwächen im Songmaterial konstatierten, die durch eine bombastische, dem Zeitgeist entsprechende Produktion überdeckt würden, und insbesondere die Qualität der Texte bemängelten, waren dagegen geteilt. Das Album verkaufte sich hervorragend.
Trotz der anhaltenden juristischen Auseinandersetzung mit Waters startete man mit dem neuen Album am 9. September 1987 zu einer Welttournee. Pink Floyd spielte auch einige Stücke aus der Waters-Ära, beschränkte sich aber weiterhin darauf, gemäß der Vereinbarung mit Waters pro Konzert nie mehr als drei Stücke von The Wall aufzuführen (davon ausgenommen sind Another Brick in the Wall sowie Gilmours Kompositionen Run Like Hell und Comfortably Numb). Eine Station der Tournee war am 16. Juni 1988 der Berliner Reichstag, in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer. Jenseits der Mauer, an der Straße Unter den Linden, standen ungefähr 5000 Personen, um von dort zuzuhören. Am 21. Juli 1990 wurde in Berlin das von Roger Waters initiierte Rock-Spektakel The Wall am Potsdamer Platz aufgeführt, mit Gaststars wie Scorpions, Bryan Adams, Cyndi Lauper, Sinead O’Connor, Ute Lemper, Van Morrison und Joni Mitchell.Gegen Ende der Tour fand am 15. Juli 1989 vor rund 200.000 Zuschauern ein neben bedrohlichen Schallwellen auch einen riesigen Müllberg produzierendes Konzert auf einer schwimmenden Insel vor dem Markusplatz in Venedig statt. Die letzte Veranstaltung war am 18. Juli 1989 in Marseille im Stadion Velodrome. Die Streitigkeiten zwischen Waters und der restlichen Band endeten mit einer vorläufigen Vereinbarung, in der die Rechte und Anteile an den Alben, den Songs und dem Bandnamen geregelt wurden. Roger Waters tourte derweil weiterhin mit namhaften Gastmusikern und schrieb eigenes Material. In seinem Liveprogramm griff er ebenfalls auf viele Pink-Floyd-Stücke zurück.
Seit dem 1992 veröffentlichten Video La Carrera Panamericana war Wright wieder Vollmitglied der Band. Der Soundtrack des Videos enthält mehrere nur dort veröffentlichte Musikstücke aus der Feder der drei verbliebenen Floyds. Das Trio brachte dann im Frühjahr 1994 das Album The Division Bell heraus. Die Band war diesmal zu ihrer früheren Arbeitsweise zurückgekehrt, und erstmals seit 1975 waren Wright und Mason wieder intensiv in das Songwriting involviert. Der kommerzielle Erfolg der CD war allerdings sehr viel größer als die Zustimmung der Kritik, die überwiegend künstlerischen Stillstand, Sentimentalität, Selbstplagiate und Einfallslosigkeit konstatierte. Es folgten eine anschließende Welttournee und das Live-Album Pulse (1995). In den darauffolgenden 19 Jahren erschien kein neues Material mehr.
=== Post-Division-Bell-Ära: 1996 bis 2005 ===
Pink Floyd wurden 1996 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen.2000 legte man das Doppelalbum Is There Anybody Out There? The Wall Live 1980–1981 vor, 2001 eine Doppel-CD (Best of) namens Echoes. Zu der Zeit gelangten erstmals Gerüchte an die Öffentlichkeit, Waters würde sich, vermittelt durch Mason, den übrigen Musikern langsam wieder annähern. Eine DVD-Version des Konzertes von 1971 im Amphitheater von Pompeji erschien 2003, ohne dass die Mitarbeit der Musiker gewünscht wurde. Gilmour distanzierte sich später deutlich von dieser DVD.
Im Rahmen der von Bob Geldof organisierten Live-8-Veranstaltung, zu der unter anderem ein Konzert im Londoner Hyde Park gehörte, traten Pink Floyd, einschließlich Roger Waters, im Juli 2005 auf. Damit spielten sie erstmals (und zugleich letztmals) seit 1981 wieder in der Besetzung der Zeit ihrer größten Erfolge zusammen und nährten Spekulationen rund um eine „Reunion-Tour“ oder gar ein neues Album. Sie spielten Speak to me/Breathe/Breathe Reprise, Money, Wish You Were Here und Comfortably Numb. In Bezug auf weitere Auftritte wechselte Gilmour bei Interviews anlässlich seiner Solo-Tour im Jahr 2006 mehrfach seine Meinung. Waters hingegen erklärte, ebenso wie Nick Mason, er sei sehr gerne zu einer Zusammenarbeit bereit. In einem Interview im September 2007 äußerte sich Gilmour zuletzt wieder skeptisch zu einer nochmaligen Wiedervereinigung der Band: „Was ich mitteilen kann, ist, dass die Aussichten auf eine Reunion von Pink Floyd wirklich extrem gering sind, abgesehen von einmaligen, wichtigen Anlässen, wie ‚Live 8‘ einer war.“ Allerdings könne und wolle er das offizielle Ende von Pink Floyd nicht verkünden, zumal es rechtliche Gründe gebe, die ihn daran hinderten.
=== Jüngere Entwicklungen seit 2006 ===
Am 7. Juli 2006 starb Pink-Floyd-Mitbegründer Syd Barrett im Alter von 60 Jahren. Bei einem Gedenkkonzert am 10. Mai 2007 traten neben den Künstlern Chrissie Hynde und Damon Albarn auch Roger Waters und die übrigen drei Mitglieder von Pink Floyd auf, jedoch getrennt voneinander. Waters spielte zum Ende der ersten Hälfte sein Stück Flickering Flame. Begleitet wurde er von dem Keyboarder Jon Carin, der bereits auf den Floyd-Tourneen zwischen 1987 und 1994, auf Waters’ Solo-Konzerten in den Jahren 2000 und zwischen 2006 und 2008, bei Pink Floyds Live-8-Auftritt sowie bei Gilmours Tournee 2006 spielte. Gilmour, Wright und Mason spielten dann (vor dem Finale) als letzte Künstler des Abends Arnold Layne. Eigentlich hätte Waters in der zweiten Hälfte des Konzerts noch Shine On You Crazy Diamond spielen sollen; er war jedoch in der Pause gegangen und deshalb auch beim Finale nicht mehr dabei.
Die DVD-Veröffentlichung eines Mitschnitts der 1994er-Tour mit dem Titel Pulse, die 1995 durch das gleichnamige Live-Album dokumentiert wurde, wurde 2006 zu einer der meistverkauften Musik-DVDs und gewann zahlreiche Preise.
2007 erschien zum vierzigjährigen Jubiläum der Erstveröffentlichung des Albums The Piper at the Gates of Dawn ein limitiertes 3-CD-Boxset mit der Stereo- und Monoabmischung des Albums und zusätzlich den drei Singles aus dem Jahr 1967 sowie zuvor unveröffentlichten Alternativversionen von Songs des Albums.
2008 wurden Pink Floyd mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet. Bei der Verleihung durch den schwedischen König Carl XVI. Gustaf waren Nick Mason und Roger Waters anwesend.
Am 15. September 2008 starb der Pink-Floyd-Mitbegründer Richard Wright im Alter von 65 Jahren an Krebs. David Gilmour würdigte Wright auf seiner Website mit einem emotionalen Nachruf, in dem er ihn als ruhigen und bescheidenen Menschen sowie als wichtigen Freund und Teil seiner musikalischen Laufbahn bezeichnete. Auch Waters nutzte seinen Internet-Auftritt, um an Richard Wright zu erinnern. Dabei merkte er an, dass man Wrights musikalischen Einfluss bei Pink Floyd gar nicht groß genug schätzen könne. Er erinnerte dabei an Songs wie Us & Them oder The Great Gig In The Sky, die beide aus der Feder Wrights stammen. Gleichzeitig brachte er zum Ausdruck, dass er sich glücklich schätze, bei Live 8 noch einmal mit Wright aufgetreten zu sein, und er es bedauere, dass es im Anschluss daran keine weiteren Auftritte mit Wright, Gilmour und Mason gegeben habe.Nick Mason gab in einem Interview im April 2009 an, dass er sich nach dem Tod von Wright nur sehr schwer vorstellen könne, dass Pink Floyd noch einmal auftreten werde. Am 10. Juli 2010 traten Waters und Gilmour zugunsten der „Hoping Foundation“ (Hope and Optimism for Palestinians in the Next Generation) vor ca. 200 geladenen Gästen gemeinsam auf und spielten dabei eine Coverversion von To Know Him is To Love Him, die Pink-Floyd-Songs Wish You Were Here und Comfortably Numb sowie als Zugabe Another Brick In The Wall (Part 2). Begleitet wurden die beiden unter anderem von Chester Kamen, Harry Waters, Andy Newmark und Guy Pratt. Waters ließ daraufhin verlauten, dass ein Auftritt von David Gilmour auf Waters’ kommender Tournee geplant sei. Schließlich kam es am 12. Mai 2011 in der Londoner O2 Arena tatsächlich zu dem angekündigten Gastauftritt von David Gilmour bei dem Stück Comfortably Numb. Am Ende des Konzertes spielten Waters und Gilmour, begleitet vom ebenfalls anwesenden Schlagzeuger Nick Mason, Outside The Wall. Waters war dabei an der Trompete zu hören, während Gilmour Mandoline spielte und Mason ein Tamburin schlug. Im Anschluss daran verließen die drei noch lebenden Mitglieder von Pink Floyd unter dem frenetischen Jubel der Fans gemeinsam die Bühne. Es handelte sich dabei aber nicht um eine offizielle Pink-Floyd-Reunion, wie in einem Teil der Presse fälschlicherweise danach zu lesen war.
Später traten die restlichen Pink-Floyd-Mitglieder nicht mehr gemeinsam auf, jedoch gab es Auftritte einzelner Mitglieder, die dann Stücke von Pink Floyd spielten. So trat zuletzt Nick Mason im Rahmen der Abschlussveranstaltung der Olympischen Spiele in London am 12. August 2012 mit dem Stück Wish You Were Here auf.
Am 5. Juli 2014 gab Gilmours Ehefrau Polly Samson in einer Nachricht über den Kurznachrichtendienst Twitter die Veröffentlichung eines neuen Albums mit Songmaterial, das großenteils bereits 1994 mit Richard Wright während der Aufnahmen zu The Division Bell entstanden war, im Oktober 2014 bekannt. Das Album solle The Endless River heißen. Der Titel geht auf eine Textzeile aus dem Song High Hopes zurück. Die ursprünglich als Instrumentalstücke angelegten Kompositionen waren von Gilmour und Mason seit 2013 überarbeitet, erweitert und teils mit Texten und Gesang versehen worden. Zur viralen Verbreitung entschied man sich, weil ein nicht genannter Insider zuvor der Boulevardzeitung The Sun Informationen zum Album zugetragen hatte. Entgegen den Aussagen von Polly Samson sollte das neue Album nun im November 2014 erscheinen. Es erschien schließlich am 7. November 2014 auf CD, LP und Bluray. Waters war an den Aufnahmen nicht beteiligt. Gilmour und Mason bestätigten, nach The Endless River keine weiteren Studioalben von Pink Floyd mehr zu veröffentlichen.Im weiteren Verlauf stellten Pink Floyd viel zuvor unveröffentlichtes Material aus den verschiedenen Phasen in Kompilationen und Boxsets zum Verkauf. So wurde im Zeitraum von 2011 bis 2012 ihr gesamtes Repertoire remastert und die drei Alben The Dark Side of the Moon, Wish You Were Here und The Wall wurden in den sogenannten Immersion Boxsets mit Live- und Studioaufnahmen, 5.1-Remixes sowie Videomaterial näher behandelt. 2014 erschien das Boxset The Early Years: 1965 – 1972, welches ebenfalls diverses Audio- und Videomaterial aus der Zeit enthält und aus 7 Volumina besteht, die unterschiedlichen Jahren zugewiesen sind. Diese sind im Folgejahr einzeln erschienen. 2019 erschien das Boxset The Later Years: 1987 – 2019 welches die genannte Zeitperiode behandelt. 2021 erschien erstmals Pink Floyds Auftritt am Knebworth Festival offiziell als einzelstehendes Album.
Am 7. April 2022 kündigte die Band (ohne Waters) überraschend die neue Single Hey, Hey, Rise Up! an, deren Veröffentlichung am darauffolgenden Tag erfolgte. Die Erlöse sollen für humanitäre Zwecke in der Ukraine verwendet werden. Neben Gilmour und Mason waren als Bassist Guy Pratt und am Keyboard Nitin Sawhney beteiligt. Der Gesang in dem Stück kommt von Andriy Khlyvnyuk, dem Frontmann der ukrainischen Rock-Band BoomBox. Gilmour stellte in einem Interview klar, dass der Song eine einmalige Sache gewesen sei und kein Interesse an der Wiederbelebung der Band bestünde.Roger Waters, der den russischen Präsidenten aufgrund des Angriffskrieges zunächst noch als „Gangster“ bezeichnet hatte, distanzierte sich im Februar 2023 ausdrücklich von der Single, die nur dazu diene, einen „Stellvertreterkrieg“ der NATO gegen Russland zu legitimieren. Die gegensätzlichen Haltungen zum Ukrainekrieg und zu Israel trugen so dazu bei, die Konflikte zwischen Gilmour und Waters wieder zu verschärfen.
== Stil ==
=== Neuartiger Technikeinsatz ===
Pink Floyd nutzten erstmals gezielt das Binson Echorec als Effektgerät, um damit u. a. die Bassläufe von One of These Days (auf Meddle) zu erzeugen. Auch analoges Sampling in Form von Tapeloops wurde von ihnen verwendet. Diese Technik hatten Pink Floyd 1970 beim Avantgarde-Künstler Ron Geesin entdeckt, der auch an ihrem Album Atom Heart Mother mitarbeitete. Insbesondere wurde die Technik auf The Dark Side of the Moon verwendet, unter anderem beim Registrierkassen-Loop des Songs Money und dem Albumintro Speak to Me. Im Studio profitierte die Band von den Aufnahmebedingungen der Abbey Road Studios, in denen bereits die Beatles gearbeitet hatten, sowie – bei Atom Heart Mother und The Dark Side of the Moon – von der Mitwirkung des Toningenieurs Alan Parsons, der auch als Produzent fungierte. In ihren Live-Shows nutzten Pink Floyd erstmals live die Technik der Quadrophonie (die von ihnen erfolglos auf einigen Alben getestet wurde), indem sie mit Hilfe eines sogenannten Azimut-Koordinators vorgefertigte Sounds durch die Halle, unter anderem hinter das Publikum, wandern ließen. Schließlich gehörte Pink Floyd zu den ersten Rockbands, die (auf dem Album The Dark Side of the Moon) einen Synthesizer als zentrales Instrument verwendeten, den EMS-Synthi-AKS-Synthesizer. Beispielsweise basiert der Song On the Run fast ausschließlich auf einer repetitiven Synthesizer-Sequenz.
=== Instrumental ===
David Gilmour wurde in seinen Spielweisen sowohl vom Blues und vom Rock ’n’ Roll als auch von der Folkmusik beeinflusst. Typische Blues-Techniken wie Bendings und Slides ziehen sich durch mehrere berühmte Soli. Gilmour spielte meistens E-Gitarren der Modelle Fender Stratocaster und Fender Telecaster über Hiwatt-Verstärker mit WEM (4×15)- und Marshall (4×12)-Boxen, zudem kamen mehrere Effektpedale zum Einsatz. Darüber hinaus spielte er Lap-Steel-Slide-Gitarren, zu hören bei Breathe, The Great Gig in the Sky, Shine On You Crazy Diamond (Part 6–9), High Hopes oder One of These Days.
Richard Wright verwendete zunächst verschiedene Orgeln, kennzeichnend ist insbesondere der Klang der Hammond-B3-Orgel. Synthesizer kamen bei Pink Floyd ab 1972 zum Einsatz, die Modelle EMS VCS 3 und Minimoog prägen seine Solo-Parts auf den Alben The Dark Side of the Moon, Wish You Were Here und Animals. Wright erlernte das Klavierspielen als Autodidakt. Zu seinen frühesten Einflüssen zählen Bach, Beethoven und Komponisten der Romantik. Wie später auch Gilmour griff er bei seinen Kompositionen mit Vorliebe auf erweiterte Akkorde zurück. Dieses Vorgehen stand dem Kompositionsstil von Roger Waters entgegen, der einfache Akkordfolgen bevorzugte.
Der charakteristische Klang wird von Gilmours melodischem Gitarrenspiel und den Klangteppichen von Richard Wright bestimmt. Anders als bei den Bands des gleichzeitig aufblühenden Progressive Rock nimmt die Rhythmusfraktion um E-Bass und Schlagzeug eher eine untergeordnete Rolle ein. Ungerade Metren wie der 7/8-Takt im Intro und der Strophe von Money bilden eher die Ausnahme als die Regel, die Kompositionen bewegen sich vor allem im Down- bis Midtempo-Bereich. Typisch für das Bass-Spiel ist der akzentuierte Wechsel zwischen dem Akkord-Grundton und seinem Oktavton, ergänzt um variierende Übergänge. Das Schlagzeugspiel von Nick Mason hält sich im Allgemeinen dezent im Hintergrund, bietet dabei aber feine Nuancen. Insbesondere ist jedes seiner Breaks einzeln und individuell gestaltet.
=== Gesang ===
Nach dem Ausscheiden von Syd Barrett als Frontmann wurde der Gesang in der Regel, teilweise auch innerhalb eines Stücks zwischen David Gilmour und Roger Waters aufgeteilt. Richard Wright übernahm zudem gelegentlich eine Zweitstimme. Nick Masons Stimme ist nur auf wenigen Stücken zu hören: In One of These Days sagt er den einzigen Satz des Stücks, „One of these days I’m going to cut you into little pieces“, während er in Corporal Clegg in der Strophe abwechselnd mit David Gilmour singt. Auf den beiden Alben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here ist jeweils bei einem Stück ein Gastsänger zu hören: Die Soul-Sängerin Clare Torry improvisierte eine Gesangsdarbietung zu den Klavierakkorden von The Great Gig in the Sky; als Sänger von Have a Cigar trat der Singer-Songwriter Roy Harper in Erscheinung, da sich Waters dem Song zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen fühlte. Chöre wurden bei Pink Floyd in recht unterschiedlichem musikalischem Kontext eingesetzt: Atom Heart Mother enthält eine einige Minuten dauernde Passage, in der ein gemischter Chor zur Begleitung von Orgel, Bass und Schlagzeug mit anwachsender Intensität melodische Fragmente vorträgt. Die Einbindung einer Gruppe von Soul-Sängerinnen an mehreren Stellen von The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here dient vor allem der atmosphärischen Abrundung. Schließlich wurde Another Brick in the Wall, Pt. 2 als eine der bekanntesten Pink-Floyd-Singles zur Hälfte (zweite Strophe) von einem Schülerchor eingesungen.
=== Einflüsse auf spätere Bands ===
Die Krautrockbands Amon Düül, Ash Ra Tempel, Guru Guru, Novalis, Kraftwerk und Tangerine Dream sind stark vom Pink-Floyd-Sound geprägt. Tangerine Dream veröffentlichte 2007 das als Hommage an Syd Barrett konzipierte Album Madcap’s Flaming Duty. Während sich Amon Düül mehr an den Klangexperimenten der „psychedelischen Phase“ der Pink-Floyd-Musik orientierte, folgte Tangerine Dream eher der Musik der „programmatischen Phase“ mit ihren lang ausgehaltenen Harmonien und Strukturen.
Porcupine Tree zitierten Passagen vom Animals-Album, den Song Dogs in deren Song Time Flies.
Die britische New Artrock-Band Crippled Black Phoenix wird u. a. häufiger mit Pink Floyd verglichen. Ihre dritte EP namens Oh'Ech-Oes enthält ausschließlich Neuinterpretationen der Lieder Echoes vom Pink Floyd Album Meddle und Childhood End's von Obscured by Clouds.Die Musik Pink Floyds hatte prägenden Einfluss auf zahlreiche Musiker. So greifen besonders Bands aus dem Umfeld des Progressive Rock wie etwa Yes, Tool, Porcupine Tree, Pure Reason Revolution, RPWL, Shamall, Solar Project und Pallas musikalische Gestaltungsmittel und Stilistiken von Pink Floyd wieder auf. Dream Theater spielte 2005 das komplette Album The Dark Side of the Moon live.
Musiker der New-Age-Musik wie Kitarō haben sich viel an musikalischer Essenz und Techniken bei Pink Floyd geborgt.
Die Metalbands Anathema, The Gathering und Tiamat sind ebenfalls von der Musik Pink Floyds beeinflusst. Tiamat nahm 1994 das offenbar von Pink Floyd inspirierte Konzeptalbum Wildhoney auf. Auch Bands wie Fields of the Nephilim und einige Industrial-Bands haben ihre Wurzeln teilweise in der Musik von Pink Floyd.
Auf Konzerten oder als Studioaufnahmen coverten Musiker verschiedener Stilrichtungen Stücke von Pink Floyd, unter anderem Pearl Jam (Interstellar Overdrive), die Foo Fighters mit Brian May (Have a Cigar) und später mit Roger Waters (In The Flesh?), die Scissor Sisters (Comfortably Numb), Nightwish (High Hopes), Wyclef Jean (Wish You Were Here), Korn (Another Brick in the Wall), Shadows Fall (Welcome to the Machine) sowie die Bloodhound Gang und die Ska-Band The Busters.Des Weiteren coverten mehrere Bands das kommerziell erfolgreichste Album The Dark Side of the Moon komplett. So legten The Flaming Lips ihre Interpretation des Klassikers als Flaming Side of the Moon vor.Darüber hinaus gibt es weltweit Tribute-Bands, die Pink-Floyd-Stücke werkgetreu aufführen, u. a. The Australian Pink Floyd Show und Echoes.
== Musikalische Entwicklung ==
In der Beurteilung der verschiedenen Schaffensphasen der Band gehen die Meinungen stark auseinander. Nachfolgend wird eine grobe Periodisierung versucht.
=== Psychedelische Phase ===
Pink Floyd war eine der populärsten Bands des Psychedelic Rock. Die treibende künstlerische Kraft war Syd Barrett. Das drückte sich vor allem in seinem Songwriting aus. Neben den ersten fünf Singles, die 1992 auf der Remastered-CD The Early Singles bei EMI Records Ltd. als Teil des Box-Sets Shine On enthalten sind, zählen die ersten fünf Alben zur psychedelischen Phase.
Singles1967 – Arnold Layne / Candy and a Currant Bun
1967 – See Emily Play / Scarecrow
1967 – Apples and Oranges / Paintbox
1968 – It Would Be So Nice / Julia Dream
1968 – Point Me at the Sky / Careful with That Axe, EugeneAlben1967 – The Piper at the Gates of Dawn (Titel des siebten Kapitels von Der Wind in den Weiden)
1968 – A Saucerful of Secrets (Übergang)
1969 – More (Soundtrack)
1969 – Ummagumma
1971 – Relics (Übergang – Es handelt sich um eine Kompilation mit Stücken der Jahre 1967–1969, die zum Teil nicht auf Alben erschienen sind.)
Die Musik der Band ist in dieser Zeit von psychedelischen Einflüssen der Byrds (siehe den Song Eight Miles High) und der Beatles (Revolver und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band) geprägt. Viele Titel des ersten Albums, wie The Gnome, Flaming, oder Arnold Layne, stehen noch fest in der Tradition der Beatmusik der 1960er-Jahre. Bisweilen zeigt sich in Titeln wie Scarecrow oder Bike ein bizarrer musikalischer Humor. Im Titel Corporal Clegg () ist zum Beispiel ein mit seiner näselnden Melodie und den Beckenschlägen an Geburtstags- bzw. Zirkusmusik erinnernder Teil eingebaut. Modaler Jazz und Weltmusik-Experimente wie von Yusef Lateef oder John Coltrane beeinflussen die Band jedoch zusehends. So basiert beispielsweise das Orgelsolo aus Matilda Mother auf einer phrygisch-dominanten Tonleiter. Titel wie Careful with That Axe, Eugene, oder das ebenfalls modale Set the Control for the Hearts of the Sun () mit seinem ostinaten Bass, dezenten Paukenschlägen, und eingestreuten „Keyboardtupfern“, entfalten eine hypnotische, an arabische und indische Musik erinnernde Wirkung. Harmonisch ist die Musik gewagter als spätere Werke der Band. So überrascht Astronomy Domine () mit der ungewöhnlichen Akkordfolge E – Es – G – A – E6 – F – E6 – G. Auf dem Album Ummagumma erreichen die experimentellen Ambitionen der Band einen Höhepunkt. Titel wie das atonale Sysyphus, das über weite Strecken aus Geräuschen und vielfältig kolorierender Perkussion bestehende A Saucerful of Secrets, sowie das im Stil der Musique concrète konstruierte Several Species of Small Furry Animals Gathered Together in a Cave and Grooving with a Pict verweisen auf die klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Auf More zeigt sich die Band in Titeln wie Green Is the Colour, Cymbaline, und dem im Rahmen des Rockkontextes harmonisch gewagten Cirrus Minor () verstärkt von akustischer Folkmusik beeinflusst.Die beiden ersten Single-Veröffentlichungen von Pink Floyd (Arnold Layne und See Emily Play) brachten die psychedelische Neigung der Band nur ansatzweise zum Ausdruck.
=== Programmatische Phase ===
Pink Floyd entwickelten den für sie typischen ätherischen Klang, der die Vorbilder der Rock- und Bluesgeschichte nie verleugnet. Meilensteine dieser Phase sind das 23 Minuten lange Stück Echoes vom Album Meddle sowie das ebenfalls 23-minütige unter der Leitung von Ron Geesin entstandene Stück Atom Heart Mother aus dem gleichnamigen Album.
Die teilweise über 20 Minuten langen Titel dieser Phase sind mittels übergreifender musikalischer Gestaltungsmerkmale und Bögen konstruiert. So entfaltet sich zum Beispiel Echoes aus der einfachsten denkbaren musikalischen Keimzelle, einem Einzelton. Über ein im Klang eines Echolotes mehrmals (vom Flügel über ein Leslie-Cabinet geleitetes), wiederholtes dreigestrichenes H entfalten sich sukzessive die ersten beiden Dreiklänge (cis-Moll und gis-Moll) des Songs (). Parallel dazu ist die Instrumentation gestaltet. Nacheinander treten Bass, Schlagzeug, weitere Keyboardklänge sowie der Gesang hinzu. Der Titel weist eine
großformale Dreiteilung auf, in der zwei harmonisch eher konventionell gestaltete Teile einen klangmalerischen, hauptsächlich aus Geräuschen gebildeten Mittelteil umschließen. Die dynamische Entwicklung, die sich erst gegen Ende mit einem „kräftigeren Schlagzeug“ zu Wort meldet, unterstützt diesen Prozess zusätzlich.
Die angesprochenen vielfältigen Gestaltungsmittel dieser Phase werden mit einer gegenüber der psychedelischen Phase einfacheren Harmonik ausgeglichen. So beruht der vokale Teil von Echoes auf einer „herkömmlichen“ aus reinen Dreiklängen bestehenden Akkordfolge: Cis-Moll – Gis-Moll – Fis-Moll – Gis-Dur – Cis-Dur – Gis-Dur – Fis-Moll – Gis-Dur, einer Rückung nach A-Dur, und wieder Cis-Moll ().
„Aufs Ganze gesehen klingt die Pink Floyd-Musik kaum anders als wenn man eine Violinsonate aus dem 19. Jahrhundert auf der Hammondorgel spielt.“
Es erfolgt eine bewusste Anlehnung an klassische Formen und Ästhetik, wie auf Atom Heart Mother. Hier wird zum Beispiel die über einfachen Dreiklängen aufgebaute Kantilene des Violoncellos in Father’s Shout des gleichnamigen Titelsongs mit einfachen, gebrochenen Dreiklängen begleitet. Dennoch sind auch in dieser Phase harmonisch gewagtere Teile in die Titel eingebaut. So wird die aufwärts gerichtete, diatonisch klare Bläserlinie des Anfangs von Atom Heart Mother () später mit einer chromatischen, in Quarten und Quinten begleiteten, atonal wirkenden Linie beantwortet. Der besondere Reiz des gesamten Stückes entsteht dabei durch das Zusammenspiel eines klassisch instrumentierten Orchesters und den Instrumenten einer Rockband sowie des experimentellen Vokaleinsatzes eines Chores.
1970 – Atom Heart Mother
1971 – Meddle
1972 – Obscured by Clouds (Soundtrack) (Übergang)
=== Klassische Phase ===
Es entstanden drei erste Konzeptalben, die nicht aus einzelnen Titeln bestanden, sondern diese in einem übergreifenden Kontext miteinander zusammenführten. David Gilmours Gitarre trat mehr in den Vordergrund, besonders auf Shine On You Crazy Diamond. Meilensteine sind dabei die Alben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here. Die Musik vereint die bewährten, „flächigen Elemente“ der programmatischen Phase, wie in Breathe (Reprise) oder Shine on You Crazy Diamond (Part 1) mit härteren, durch die E-Gitarre geprägten, deutlicher am Rock orientierten Songs, wie in Time, Money () oder Pigs (three different ones). Der Einsatz von Clare Torrys ekstatischem Gesang in The Great Gig in the Sky sowie leichte Jazzeinflüsse durch Dick Parrys Saxophon in Money, Us and Them und Shine on You Crazy Diamond (Part 5) () prägen die Musik.
Trotzdem werden die Einzeltitel durch übergreifende musikalische Strukturen zusammengehalten. So wird The Dark Side of the Moon trotz seiner musikalischen Vielfalt durch übergreifende Bande vereint. Der hervorstechende Halbtonschritt vom Fis zum F ist ein durchgehendes Charakteristikum vieler Songs. Das Intervall des Tetrachords in auf- und absteigender Form ist ebenso eine die einzelnen Songs verbindende Klammer. Er erscheint in Breathe, Us and Them und im Passacaglia-Bass von Eclipse.
Das Album Animals gilt trotz der ausufernden Länge seiner Songs mit seinem rauen, anstatt von Keyboards mehr von E-Gitarren geprägten Sound (), eher als Übergangswerk zur folgenden Phase.
1973 – The Dark Side of the Moon
1975 – Wish You Were Here
1977 – Animals
=== „Intellektuelle“ Phase ===
Diese Phase wurde von Roger Waters dominiert, wobei Gilmour aber zunächst noch wichtige Beiträge leistete. Die Texte und das intellektuelle Konzept erhielten eine deutliche Aufwertung, allerdings bemängelten Kritiker dieser Phase, dass das letztlich auf Kosten der Ästhetik geschehen sei. Dennoch wird das Doppelalbum The Wall mit seinen vergleichsweise prägnanten Songs neben The Dark Side of the Moon und Wish You Were Here zu den drei wichtigsten Alben der Band gezählt. Zwecks adäquater Darstellung der Textaussagen bedient sich die Band auf diesem 1979 entstandenen Werk unterschiedlichster musikalischer Mittel und Stile. Gewohnt orchestral wirkenden Titeln wie Comfortably Numb stehen rock- und hardrockorientierte Songs wie Young Lust, Run Like Hell oder The Happiest Days of Our Lives gegenüber. Das als Single veröffentlichte Another Brick in the Wall (Part II), der erfolgreichste Song der Bandgeschichte, greift Einflüsse aus der damaligen Tanzmusik auf. Dazu treten mit akustischen Instrumenten sparsam besetzte Balladen wie z. B. Nobody Home. Dieses von Randy Newman inspirierte Lied, zu dem erst im weiteren Verlauf Streicher hinzutreten, beginnt passend zu der textlichen Aussage von Einsamkeit und Isolation allein mit Klavier und Waters’ Gesang ().
Musikalische Parodie ist ein weiteres Gestaltungsmittel. So wird die Anklage gegenüber der „klammernden Mutter“ in Mother musikalisch mit einfachen im Wandergitarrenstil gehaltenen Akkorden konterkariert. Auf Bring the Boys back Home wird die pazifistische Textaussage durch aus der Militärmusik entlehnte Snare-Drum-Rhythmen, Bläser und „Massenchöre“ ad absurdum geführt. Im an die komische Oper von Gilbert und Sullivan erinnernden Finale The Trial singt Waters zu Orchesterbegleitung.Eine Unterordnung der Musik unter die Botschaft macht sich erst bei The Final Cut deutlich bemerkbar, das inmitten des Kalten Krieges mit einer deutlichen Antikriegsbotschaft veröffentlicht wurde. Was auf The Wall noch gelang, missglückte nun nach Ansicht der meisten Kritiker. Das zeigt sich hier in der rezitativischen Deklamation von Texten über einem reduzierten Fundament von langsam wechselnden Harmonien, Basstönen und Geräuschen, wie in Paranoid Eyes oder The Post War Dream (), wobei die Musik fast nur noch einen Hintergrund für die Botschaft der Texte bildet. Das Album ist dabei ruhiger ausgerichtet und weniger an Rockmusik orientiert als seine Vorgänger.
Mit dem Ausstieg von Roger Waters aufgrund von künstlerischen Differenzen mit David Gilmour und Nick Mason endete diese Phase. Von manchen Kritikern wird das Album The Final Cut auch als das erste Soloalbum von Waters angesehen, bei dem die anderen Mitglieder nur noch als Gastmusiker auftraten, was sich auch auf der Rückseite des Covers niederschlägt: The Final Cut – a Requiem for the post war dream by Roger Waters. Performed by Pink Floyd.
1979 – The Wall
1983 – The Final Cut
=== Post-Waters-Phase ===
Ohne Roger Waters wurde die Band von Gilmour geprägt und veröffentlichte mit großem kommerziellen Erfolg zwei weitere Alben, A Momentary Lapse of Reason und The Division Bell, sowie zwei Live-Alben aus den begleitenden Tourneen. Sie stellen in Abwendung von The Wall und insbesondere The Final Cut eine (im Rückblick allerdings kaum noch als innovativ zu bezeichnende) Synthese zwischen der programmatischen und der klassischen Phase ihrer früheren Musik dar. Während an A Momentary Lapse of Reason vornehmlich die Texte kritisiert wurden, die nicht an das Niveau der Waters-Arbeiten anknüpfen konnten, war The Division Bell nach Ansicht der meisten Kritiker – nicht hingegen in den Augen vieler Fans – auch musikalisch misslungen und einfallslos. 2014 folgte das weitestgehend instrumentale Album The Endless River, basierend auf unveröffentlichten Aufnahmen der Sessions 1993/94.
1987 – A Momentary Lapse of Reason
1994 – The Division Bell
2014 – The Endless RiverAlle Bandmitglieder haben auch Soloalben veröffentlicht, denen unterschiedlicher Erfolg beschieden war.
== Diskografie ==
Studioalben
grau schraffiert: keine Chartdaten aus diesem Jahr verfügbar
== Panoramashows in Planetarien ==
Die Pink Floyd Panorama-Shows zu den Musikalben The Wall, Dark Side of the Moon und Wish You Were Here der britischen Rock-Gruppe Pink Floyd sind für Planetarien entwickelte Vorführungen in 360-Grad-Multimedia-Choreografie mit zusätzlichen Laser-Effekten und künstlichem Rauch aus Nebelmaschinen. Sie basieren auf den Liedern der Band und gelten als kosmische Hommage an deren Mitglieder Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason und Richard Wright.
=== The Wall ===
Die Show basiert auf dem Album The Wall von 1979. Sie beginnt wie die LP mit dem Lied In the Flesh?, dazu werden einige der schon aus dem Film beziehungsweise vom Cover des Albums The Wall bekannten Bilder an die Kuppel des Planetariums geworfen. Die ganze Show geht über 60 Minuten und beinhaltet weitere bekannte Lieder wie Another Brick in the Wall, Comfortably Numb, Goodbye Cruel World oder Is There Anybody Out There?. Das ganze wird als Geschichte des kleinen Pink erzählt, der seinen Vater im Krieg verloren hat. Das Lied Goodbye Blue Sky ist mit Bildern von fallenden Bomben und Flugzeugen untermalt. Immer höher türmt sich die Mauer, bis sie schließlich einstürzt und die Show mit Outside the Wall endet.
=== Dark Side of the Moon ===
Die Projektion zeigt zu den Klängen des Albums von 1973 sowohl in die Tiefen des Universums als auch in die Abgründe der menschlichen Seele. Zu Liedern wie Speak to me, Time, Money oder Eclipse werden Bilder aus dreidimensionalen Welten gezeigt und durch Lichteffekte bereichert. Die Bilder selbst erzählen hierbei die Geschichte zu den Songs.
=== Wish You Were Here ===
Die Lieder des Albums von 1975 gehen fließend ineinander über. Shine On You Crazy Diamond bildet das zentrale Thema, das musikalisch stark von Keyboard- und Synthesizersounds Richard Wrights durchzogen ist. Das Titellied Wish You Were Here ist eine melancholische Hommage an den ehemaligen Bandleader Syd Barrett. Die 360° Fulldome-Visualisierung von Aaron McEuen ist dem Stil der Musik angepasst, wobei auf erzählende Effekte verzichtet wird und der Schwerpunkt auf der Visualisierung der Musik liegt und teilweise psychedelische Farbeffekte nutzt, die den Zuhörer fesseln können und die Wirkung der Musik verstärken.
=== Rezeptionen ===
== Ehrungen ==
Im Jahr 2003 wurde der am 3. Dezember 1997 im Observatoire de Calern entdeckte Asteroid (19367) Pink Floyd nach der Band benannt.Der Rolling Stone listete die Band 2011 auf Rang 51 der 100 größten Musiker aller Zeiten.Im Jahr 2017 wurde die erstmals wissenschaftlich beschriebene Art Synalpheus pinkfloydi aus der Familie der Knallkrebse nach Pink Floyd benannt – aufgrund ihrer Fähigkeit, mit ihrer großen, pinkfarbenen Schere Knalle in der Lautstärke einer Rockband produzieren zu können. Die Art wurde vor der Pazifikküste von Panama entdeckt, die Typusexemplare wurden im Museu de Zoologia der Universidade de São Paulo in São Paulo (Brasilien) und in den Zoological Collections des Oxford University Museum of Natural History in Oxford (England) hinterlegt.
== Siehe auch ==
Pink Floyd/Konzerte und Tourneen
Pink Floyd/Auszeichnungen für Musikverkäufe
Liste der Lieder von Pink Floyd
== Literatur ==
Mark Blake: Pink Floyd. Die definitive Biografie. Hannibal Verlag, Höfen 2016, ISBN 978-3-85445-605-6 (Originalausgabe: Pigs Might Fly – The Inside Story Of Pink Floyd).
Alain Dister: Pink Floyd. Boehler, Stuttgart 1980, ISBN 3-9800448-0-7 (Originalausgabe: Le livre du Pink Floyd).
François Ducray: Pink Floyd. EJL, Paris 2000, ISBN 2-290-30646-0.
Vernon Fitch: The Pink Floyd Encyclopedia. Collector’s Guide Publ., New York 2005, ISBN 1-894959-24-8 (mit CD).
Uwe Göller: Eclipsed. Das Pink-Floyd-Fan-Buch. Sysyphus, Aschaffenburg 2001, ISBN 3-00-009230-7.
Cliff Jones: Echoes – Die Geschichte hinter jedem Pink Floyd Song 1967–1995. Edition Olms, Zürich 1996, ISBN 3-283-00339-4 (Originalausgabe: Echoes).
Andreas Kraska: Pink Floyd. The Records. Michael Schwinn, Neustadt 1988, ISBN 3-925077-10-3.
Andy Mabbett: The complete guide to the music of Pink Floyd. Omnibus, London 1995, ISBN 0-7119-4301-X.
Philippe Margotin, Jean-Michel Guesdon: Pink Floyd. Alle Songs. Die Geschichten hinter den Tracks. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-667-11410-5.
Nick Mason: Inside Out. Mein persönliches Porträt von Pink Floyd. Rockbuch, Schlüchtern 2005, ISBN 3-927638-09-9 (Originalausgabe: Inside Out).
Nick Mason: Inside Out. Meine Geschichte mit Pink Floyd. Erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Edel, Hamburg 2018, ISBN 978-3-8419-0639-7 (mit Fotos, Chronik und Register).
Barry Miles: Pink Floyd: A visual documentary. Omnibus, London 2001, ISBN 0-7119-4109-2.
Jason Rich: Pink Floyd (Interview-CD und Booklet).
Paul Sahner: Pink Floyd. Elektronischer Rock in Vollendung. Heyne, München 1980, ISBN 3-453-80044-3.
Rick Sanders: The Pink Floyd. Futura, London 1976, ISBN 0-86007-264-9.
Nicholas Schaffner: Saucerful of Secrets – The Pink Floyd Odyssey.
Pink Floyd. Vom Underground zur Supergroup. Heyne, München 1994; überarbeitete und aktualisierte Neuauflage unter dem Titel Pink Floyd. Vom Underground zur Rock-Ikone. Hannibal, Höfen 2004, ISBN 3-85445-248-9.
Jürgen Seibold: Pink Floyd. Zsolnay, Wien 1993, ISBN 3-552-05088-4.
Storm Thorgerson: Welcome to the picture: Pink Floyd Cover im Wandel der Zeit. PPVMedien, Bergkirchen 2004, ISBN 3-932275-90-X.
Storm Thorgerson: Pink Floyd: Shine on. Stace, 1992 (Buch zur CD-Box).
Marcus Hearn (Hrsg.): A tribute to Pink Floyd. Fotografien aus der Rex Collection. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2008, ISBN 978-3-89602-823-5.
== Ausstellungen ==
13. Mai bis 1. Oktober 2017: Pink Floyd: Their Mortal Remains. im Victoria and Albert Museum, London. Ausstellungskatalog: ISBN 978-1-85177-916-1.
19. Januar 2018 bis 1. Juli 2018: Their Mortal Remains im MACRO, Rom
16. September 2018 bis 10. Februar 2019: Their Mortal Remains im Dortmunder U, Dortmund
10. Mai 2019 bis 27. Oktober 2019: Their Mortal Remains im IFEMA, Madrid
== Weblinks ==
pinkfloyd.com (englisch)
whypinkfloyd.com (mehrsprachig)
Pink Floyd bei Discogs
Pink Floyd bei MusicBrainz (englisch)
Pink Floyd bei laut.de
Pink Floyd RoIO-Coverbilder by Hokafloyd (englisch)
Making of Dark Side of the moon. einestages
Planetarium Hamburg The Cosmic Wall – A monument to Pink Floyd.
Pink Floyd – The Wall, Dark Side of the Moon, Wish you were here. Planetarium Wolfsburg
Pink Floyd Planetarium Laser Shows. Miami Science Museum
The Wall, Dark Side of the Moon, Wish you were here. Planetarium der University of Texas
Pink Floyd – The Wall. Planetarium Melbourne
Chrystal Voyager in der englischsprachigen Wikipedia, ein Surffilm mit dem Musikstück Echoes. Der Film wurde von Pink Floyd während dieses Stückes als Bühnenhintergrund verwendet.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Pink_Floyd |
Schneeleopard | = Schneeleopard =
Der Schneeleopard, Irbis oder Unze (Panthera uncia) ist eine Großkatze (Pantherinae) der zentralasiatischen Hochgebirge. Man findet ihn vom Himalaya Nepals und Indiens im Süden bis zum Altai- und Sajangebirge Russlands im Norden sowie vom tibetischen Hochland im Osten bis zum Pamir, Hindukusch und Tianshan-Gebirge im Westen. Er sieht einem Leoparden ähnlich, hat aber ein längeres, meist graues Fell, das in der kalten Jahreszeit besonders dick ist. Im Gegensatz zu anderen Großkatzen brüllt der Schneeleopard nie. Durch die relativ kurze Schnauze und den extrem langen Schwanz unterscheidet sich der Schneeleopard auch äußerlich von anderen Großkatzenarten. Der Schneeleopard lebt als Einzelgänger und ernährt sich in erster Linie von mittelgroßen Huftieren sowie Nagetieren des Gebirges. Er bewohnt felsige und zerklüftete Bergregionen in bis zu 6000 Meter Höhe. Obwohl Schutzgebiete eingerichtet wurden, ist der Bestand der Art durch Wilderei und Rückgang der Beutetiere stark gefährdet.
== Merkmale ==
=== Körperbau ===
Der Schneeleopard wirkt mit seinem dicken Fell sehr massig, ist jedoch kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Leopard (Panthera pardus). Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt 80 bis 130 Zentimeter, zuzüglich 80 bis 100 Zentimeter Schwanzlänge. Die Schulterhöhe beträgt um die 60 Zentimeter und das Gewicht variiert zwischen 25 und 75 Kilogramm. Männliche Tiere sind mit durchschnittlich 45 bis 55 Kilogramm deutlich schwerer und größer als Weibchen, die meist zwischen 35 und 40 Kilogramm wiegen.
Der dicht behaarte Schwanz hat eine dicke Fettschicht. Er ist länger als beim Leoparden und misst mehr als drei Viertel der Kopf-Rumpf-Länge. Er übernimmt beim Springen die Funktion eines Steuerruders und hilft dem Schneeleoparden, das Gleichgewicht zu halten. Beim Ruhen dient der Schwanz dem Raubtier als Kälteschutz, indem es sich darin einrollt und das Ende über die Nase schlägt. Der Schneeleopard bewegt sich äußerst sicher in schwierigem Gelände und zeichnet sich durch ein großes Sprungvermögen aus, obwohl sich angebliche Rekordweiten von bis zu 15 Metern kaum belegen lassen. Es sind jedoch Stürze aus größeren Höhen dokumentiert, die überlebt wurden. Dabei kommt Schneeleoparden der Stellreflex der Katze zugute.
Der Kopf ist relativ klein und durch eine kurze Schnauze sowie vergrößerte Nasenhöhlen gekennzeichnet, die vermutlich die Aufgabe haben, kalte Atemluft zu erwärmen. Die sehr großen Pfoten ähneln denen des Luchses und haben eine Art Schneeschuheffekt. Sie sind an den Sohlen mit einem Haarpolster bedeckt, das die Oberfläche zusätzlich vergrößert und so zur besseren Verteilung des Körpergewichtes beiträgt. Das verringert ein Einsinken in Schneefeldern und schützt die Fußsohlen besser vor Kälte.
=== Fell ===
Die Grundfarbe des Schneeleopardfells ist ein helles Grau, das im Kontrast zu den schwarzen Flecken fast weiß aussehen kann. Die Variationsbreite der Färbung reicht von blassgrau bis cremefarben oder rauchgrau; die Unterseite ist heller, oft beinahe weiß. Die dunkelbraunen bis schwarzen Flecken auf Rücken, Flanken und Schwanz haben die Form von Ringen oder Rosetten, deren Inneres oft dunkler ist. Nur an Kopf, Hals und Gliedmaßen werden die Rosetten durch Tupfen abgelöst. Das Fell ist zum Schutz vor extremer Kälte sehr dicht und besteht stellenweise aus 4000 Haaren pro Quadratzentimeter. Im Winter erreicht das Fell am Rücken eine Länge von fünf Zentimetern, am Bauch sogar eine Länge von bis zu zwölf Zentimetern. Im Sommer ist es allerdings wesentlich kürzer. Beim Sommerfell tritt die Fellzeichnung deutlicher hervor, die im Winter deutlich verwaschener ist.
== Lebensweise ==
=== Lebensraum ===
Der Schneeleopard ist ein typischer Bewohner des Gebirges. Hier findet man ihn in verschiedenen Lebensräumen wie Felsgebieten, Gebirgssteppen, Buschland und lichten Nadelwäldern. Dichte Wälder scheint er zu meiden. Im Sommer hält er sich bevorzugt oberhalb der Baumgrenze auf Bergwiesen und in felsigen Regionen auf, wobei er etwa im Himalaya in Höhenlagen bis 6000 Meter aufsteigt. Selbst im Winter, wenn er seinen Beutetieren in niedrigere Lagen folgt, findet man ihn in dieser Region kaum unterhalb von 2000 bis 2500 Meter, im Sommer hält er sich meist oberhalb von 4000 bis 4500 Meter auf. In Nepal etwa bewohnt der Schneeleopard in der Regel die offenen Gebiete oberhalb von etwa 3500 Meter, während der Leopard vor allem in den bewaldeten Gebieten darunter vorkommt. Im Pamirgebirge findet man seine Spuren selbst im Winter auf 4500 bis 5000 Meter. Dabei bewegt sich die Katze allerdings in der Regel auf Gebirgsgraten, die der Wind von einer allzu dicken Schneedecke befreit hat. Vor allem in den nördlichen Teilen des Verbreitungsgebietes findet man den Schneeleoparden auch in weitaus geringeren Höhenlagen. So findet man ihn im Dsungarischen Alatau das ganze Jahr über auf 600 bis 1000 Meter Höhe. Auch in den Gebirgen des Aktau findet man ihn in recht niedrigen Höhen von 1000 bis 1500 Meter. Nur selten werden Schneeleoparden weitab von Gebirgen gesichtet. Ein Tier wurde etwa im Winter 1957/58 am Nordufer des Balchaschsees gesichtet. Es muss also 600 Kilometer durch Flach- oder Hügelland zurückgelegt haben. In der Mongolei existieren Berichte über Schneeleoparden in Felsformationen des Flachlands auf nur 100 Meter Höhe. Generell bevorzugt der Schneeleopard überall felsige und steile Gebiete. In der Südwest-Mongolei bevorzugt er beispielsweise zerklüftete Bereiche und Hänge mit Steigungen von über 20°, während er weniger zerklüftete und eher hügelige Geländeformationen seltener aufsucht. Als Ruhelager sucht der Schneeleopard Felshöhlen oder unzugängliche Felsspalten auf, gelegentlich aufgegebene Nester von Geiern.
=== Ernährung ===
Zu den wichtigsten Beutetieren des Schneeleoparden gehören je nach Region Blauschafe, Argalis, Steppenschafe, Steinböcke, Schraubenziegen, Tahre, Murmeltiere, Pfeifhasen und verschiedene Vögel. In einigen Gebieten zählen auch Arten, die nicht explizit mit Hochgebirgslebensräumen assoziiert sind, zu den Beutetieren, etwa Halbesel, Moschustiere, Wildschweine, Hirsche und Gazellen. Schneeleoparden reißen auch Haustiere wie Schafe, Ziegen, Yaks, Rinder, Esel und Pferde. Anscheinend frisst der Schneeleopard mit Vorliebe auch bestimmte Pflanzen. So finden sich im Kot des Schneeleoparden immer wieder größere Mengen an pflanzlichem Material, darunter vor allem Zweige von Rispelsträuchern und Tamarisken.Eine Studie, die zwischen 2007 und 2009 im Himalaya- und Karakorumgebiet im Norden Pakistans (Baltistan) durchgeführt wurde, kam zum Ergebnis, dass hier 70 Prozent der Gesamtbeutetiermasse aus Haustieren, vorwiegend Schafen, Ziegen, Rindern und Yaks, besteht. Nur etwa 30 Prozent der Nahrung machen Wildtiere, vor allem Sibirische Steinböcke, Schraubenziegen und Vögel aus. Eine Orientierung der Ernährung hin zu menschlichen Nutztieren kann man in vielen anderen Lebensräumen des Schneeleoparden beobachten, Ursache sind die rückläufigen Bestände an natürlichen Beutetieren. Im Pin Valley-Nationalpark in Himachal Pradesh (Nordindien), der über relativ gute Bestände an Sibirischen Steinböcken verfügt, machen natürliche Beutetiere etwa 58 Prozent der Nahrung aus. Dagegen bestehen im benachbarten Kibber-Wildreservat, in dem natürliche Beutetiere seltener, Haustiere dagegen häufiger vorkommen, nur 42 Prozent der Nahrung aus natürlichen Beutetieren, vorwiegend Blauschafen. In beiden Reservaten fehlt zudem das Murmeltier, das in anderen Gebieten einen großen Teil der Nahrung des Schneeleoparden ausmachen kann. Insgesamt scheinen Schneeleoparden in Gebieten, in denen Murmeltiere ausgerottet wurden, besonders stark auf Haustiere als Nahrung zurückzugreifen.Im nepalesischen Annapurna-Gebiet ist das Blauschaf das Hauptbeutetier, während im Everest-Gebiet Nepals der Himalaya-Tahr und Moschustiere die wichtigsten natürlichen Beutetiere darstellen. Aber auch hier machen Nutztiere einen relativ großen Anteil der Nahrung aus. In der Mongolei stellen vor allem Sibirische Steinböcke eine wichtige Beute dar. So findet man die Katze hier meist in Gebieten, die von Steinböcken bewohnt sind. Daneben zählen in der Mongolei Halbesel, Kropfgazellen, Argalis, Tolai-Hasen, Altai-Königshühner und Chukar-Steinhühner zu den nachgewiesenen Beutetieren. Steinböcke bilden neben Argalis auch im Tienshangebirge die wichtigsten Beutetiere. Im Sommer werden dort häufig Rehe erlegt. Im Pamir sind Rehe offenbar sogar die wichtigste Beute.Auf der Jagd wandert der Schneeleopard häufig über Gebirgsgrate und folgt Flussläufen oder den Wanderrouten seiner Beute. Ansonsten lauert er ihr aus einem Hinterhalt an Wildwechseln, Salzlecken oder Wasserstellen auf. Sobald er potentielle Beutetiere ausgemacht hat, versucht er den Abstand zwischen sich und seinem Opfer auf wenige zehn Meter zu reduzieren. Oft werden erhöhte Felsen als Ansitz genutzt, so dass er seine Opfer von oben überraschen kann. Ansonsten sucht er beim Anschleichen Deckung zwischen Felsen und Geröll. Der Angriff erfolgt in großen etwa sechs bis sieben Meter langen Sätzen, wird aber häufig nach wenigen Sätzen erfolglos abgebrochen. Die Verfolgung kann sich aber auch über 200 bis 300 Meter einen Hang hinab erstrecken. Wenn das Opfer erreicht ist, wird es niedergerissen, mit den Vorderbeinen zu Boden gedrückt und meist durch einen Biss in Kehle oder Hals getötet. Um die Beute vor Geiern und Krähen zu verbergen, schleift der Schneeleopard sie meist in ein Versteck, etwa unter Felsen oder Büsche. Die Katze hält sich häufig einige Tage in der Nähe eines größeren Risses auf und kehrt dabei immer wieder zur Beute zurück. Oft werden die Reste der Mahlzeit aber auch von anderen Räubern, wie Wölfen oder Bären verzehrt. In Gefangenschaft benötigt ein Schneeleopard etwa 1,5 Kilogramm Fleisch pro Tag.
=== Territorialität und Populationsdichte ===
Die Größe des Streifgebietes richtet sich nach der Anzahl der verfügbaren Beutetiere. Da die Beutetiere im Hochgebirge meist nur in sehr geringen Populationsdichten vorkommen, nutzen Schneeleoparden in vielen Regionen riesige Flächen. Ein Revier umfasst in einem guten Jagdgebiet 20 bis 40 Quadratkilometer und in beutearmen Regionen wie der Mongolei bis zu 1000 Quadratkilometer. Die Territorien von Männchen und Weibchen überlappen einander oft beträchtlich.
Bis in die 1980er Jahre war über das Leben des Schneeleoparden in freier Wildbahn, insbesondere die Größe der Reviere und die Aktivitätszeiten, so gut wie nichts bekannt. Das wenige vorhandene Wissen stammte vor allem aus den Interpretationen von Spuren und den Berichten von Jägern. Die erste umfassende Studie, die detailliertere Informationen zur Lebensweise lieferte, wurde in den Jahren 1982 bis 1985 im Shey-Phoksundo-Nationalpark im westlichen Nepal durchgeführt. Dabei wurde mittels Radiotelemetrie gearbeitet und insgesamt fünf Schneeleoparden mit Sendern markiert. Die Größe der Streifgebiete variierte hier zwischen 12 und 39 Quadratkilometer, wobei teilweise große Überlappungen auftraten. In der Regel hielten die Individuen aber mindestens zwei Kilometer Abstand zueinander. Es gab keine Hinweise auf ein Patrouillieren an den Reviergrenzen. Die meiste Zeit brachten die Tiere in den Kernzonen der Streifgebiete zu. Eine saisonale Verschiebung der Streifgebiete konnte in diesem Gebiet ebenfalls nicht beobachtet werden.Eine weitere recht umfassende Studie mit Hilfe von Radiotelemetrie wurde in den Jahren 1994 bis 1997 im Mongolischen Altai, nordöstlich des Großen Gobi-B-Schutzgebietes durchgeführt. Die Streifgebiete lagen dabei zwischen 14 und 142 Quadratkilometer. Die meisten Positionen wurden in konventioneller Weise vom Boden aus ermittelt, wodurch die Tiere bisweilen nicht geortet werden konnten, weil sie sich außerhalb des Empfangsbereiches aufhielten. Dies führte letztendlich zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Reviergröße. Ergänzend wurde in dieser Studie daher zusätzlich Satellitentelemetrie eingesetzt, bei der die Reichweite oder störende Bergketten unproblematisch sind. Mit dieser Methode ergab sich für ein Weibchen, das nach den vom Boden aus durchgeführten Messungen ein Streifgebiet von 58 Quadratkilometer hatte, ein Streifgebiet von etwa 1600 Quadratkilometer. Bei Hinzunahme der äußersten Ausreißer ergäbe sich sogar ein Areal von etwa 4500 Quadratkilometer, was aber wohl über dem regelmäßig aufgesuchten Streifgebiet liegt. Reviere in der Größenordnung von mehreren hundert Quadratkilometern decken sich besser mit dem, was nach den recht niedrigen Beutetierbeständen zu erwarten ist. Die Schneeleoparden leben in dem Gebiet vor allem von Sibirischen Steinböcken, deren Bestandsdichte hier bei etwa einem Tier pro Quadratkilometer liegt. Berechnet man die potentiell benötigte Reviergröße bei dieser Beutetierdichte, ergibt sich ein durchschnittliches Streifgebiet von etwa 130 bis 260 Quadratkilometer, bei überlappenden Revieren von durchschnittlich jeweils drei Tieren etwa 380 bis 770 Quadratkilometer, was mit den über Satellitentelemetrie ermittelten Daten recht gut übereinstimmt.An häufig begangenen Wegen markiert der Schneeleopard sein Revier mit Kratzspuren, Kot und einem Duftsekret. Meist hält er sich etwa sieben bis zehn Tage in einem begrenzten Gebiet auf, um dann in einen anderen Teil des Reviers zu wechseln. Der Schneeleopard galt gemeinhin eher als Nachttier, ist jedoch oft auch am Tage und vor allem in der Dämmerung aktiv. Als Unterschlupf sucht er häufig in Grotten oder Felshöhlen Schutz, deren Boden nach einer gewissen Zeit mit einer dicken Schicht aus Haaren gepolstert ist.
=== Fortpflanzung und Lebensdauer ===
Schneeleoparden sind Einzelgänger und kommen nur zur Paarungszeit zwischen Januar und März zusammen. Dabei setzen die Tiere vermehrt Duftmarken und stoßen Paarungsrufe aus. Diese jahreszeitlich festgelegte Paarungszeit ist für Großkatzen einmalig. Der Paarungsruf ist ein langgezogenes Heulen.Beobachtungen in Gefangenschaft zeigen, dass der Östrus des Weibchens in der Regel fünf bis acht Tage dauert. Die Paarungen finden in einer kurzen Zeitspanne von drei bis sechs Tagen statt, wobei die Partner etwa 12 bis 36 mal pro Tag kopulieren. Ein Geschlechtsakt dauert dabei jeweils 15 bis 45 Sekunden. Die Jungen werden nach einer Tragzeit von rund 94 bis 103 Tagen geboren. Im Wurf befinden sich ein bis fünf, meist zwei bis drei Junge, die zwischen April und Juni, in der Wildnis meist im Schutz einer Felshöhle, zur Welt kommen. Diese ist mit den Haaren des Muttertieres ausgepolstert. Die Jungen sind bei der Geburt sehr dunkel behaart, blind und wiegen etwa 450 Gramm. Nach etwa sieben Tagen öffnen sie die Augen, und nach etwa zwei Monaten nehmen sie erstmals feste Nahrung zu sich. Sie bleiben 18 bis 22 Monate bei der Mutter, wodurch zwischen zwei Würfen mindestens zwei Jahre liegen.Im Alter von zwei bis vier Monaten beginnen die Jungen, ihre Mutter auf die Jagd zu begleiten. Anfangs sind sie allerdings eher ein Hindernis als eine Hilfe für das Muttertier. In Gefangenschaft sind Schneeleoparden mit etwa zwei bis drei Jahren geschlechtsreif, vermehren sich allerdings selten vor dem vierten Lebensjahr. Angaben zum durchschnittlichen oder maximalen Alter wildlebender Individuen liegen nicht vor; in Gefangenschaft wurde der älteste bekannte Schneeleopard, der Kater Shynghyz in Japan, 25 Jahre alt.
=== Natürliche Feinde, Krankheiten und Parasiten ===
Der wichtigste natürliche Feind und gleichzeitig größter Konkurrent ist der Wolf, in den südlichen Teilen des Verbreitungsgebietes ist darüber hinaus auch der Leopard ein großer Konkurrent.
Wie stark Schneeleoparden in freier Wildbahn unter Krankheiten und Parasiten leiden, ist nicht genau untersucht. Fälle von Tollwut wurden bekannt. In Gefangenschaft sterben Jungtiere häufig an Magen-Darm-Entzündungen. In einem Zoo in Japan wurde im Jahr 2003 erstmals ein Herzwurm nachgewiesen.
== Verbreitungsgebiet und Bestand ==
Der Schneeleopard bewohnt die Hochgebirge Zentralasiens. Im Himalaya ist er ebenso zu Hause wie im Hindukusch, Pamir, Kunlun, Tianshan, Altai und benachbarten Gebirgszügen.
Die nördlichsten Vorkommen liegen im Gebiet des Baikalsees, im Osten reicht das Verbreitungsgebiet bis Osttibet, im Süden bildet der Himalaya die Verbreitungsgrenze und im Westen der Hindukusch. Der größte Teil des Verbreitungsgebietes liegt in Tibet und anderen Teilen der Volksrepublik China.
Schneeleoparden leben in zwölf Ländern. Unklar ist, ob die Katze auch in Myanmar an der Grenze zu China vorkommt, wo zumindest potentielle Lebensräume existieren.Schätzungen gehen von insgesamt 4000 bis 6600 wild lebenden Individuen aus, die sich auf eine Fläche von 1,8 Millionen Quadratkilometern verteilen. Davon gelten 550.000 Quadratkilometer als sehr gutes Habitat. Das potentielle Verbreitungsgebiet wird auf drei Millionen Quadratkilometer geschätzt.
=== Bedrohung ===
Die illegale, aber lukrative Pelzjagd hat die Bestände dieser Raubkatze erheblich reduziert. Auch die Knochen des Schneeleoparden sind in der Traditionellen Chinesischen Medizin begehrt und erzielen hohe Preise. Außerdem wird er verfolgt, weil er gelegentlich Haustiere schlägt. In allen Staaten seines Verbreitungsgebiets steht der Schneeleopard unter Schutz, doch Wilderei ist ein Problem, das ihn weiter gefährdet. Die Bejagung seiner natürlichen Beutetiere durch den Menschen stellt ebenfalls eine ernste Bedrohung für die Katze dar. In weiten Teilen seines Verbreitungsgebietes ist der Schneeleopard heute sehr selten geworden. Die Art wurde von der IUCN bis 2017 als endangered (stark gefährdet) geführt, dann wurde ihr Bedrohungsstatus als vulnerable (gefährdet) eingestuft, da die geschätzte Anzahl der ausgewachsenen Individuen größer als 2500 ist und angenommen wird, dass der Bestand in 22,6 Jahren sich um höchstens 10 % verringert.Der Schneeleopard wurde bereits 1985 auf Vorschlag Deutschlands auf den Anhang I der UN-Konvention zum Schutz der wandernden Tierarten gesetzt. Mit Ausnahme des tibetischen Plateaus befinden sich alle Schneeleopardenpopulationen genau in den Hochgebirgszügen, die sowohl die natürlichen als auch die nationalstaatlichen Grenzen zwischen den zwölf Herkunftsländern bilden: Himalaja, Hindukusch/Karakorum, Tianshan und Altai. Im gesamten Verbreitungsgebiet der Schneeleoparden fehlt es eklatant an transnationaler Kooperation. Gerade in den Grenzregionen sind Schneeleoparden durch Wilderei und den Mangel an Beutetieren bedroht. Darüber hinaus häufen sich die Hinweise, dass in den Grenzregionen Angehörige des Militärs und Grenzposten sowohl Beutetieren als auch Schneeleoparden nachstellen. Der NABU fordert daher grenzüberschreitende Schutzmaßnahmen für den bedrohten Schneeleoparden und begrüßt die Initiative Tadschikistans, im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz konkrete grenzüberschreitende Schutzmaßnahmen in einem Abkommen festzuschreiben.Eine große Gefahr für den Schneeleoparden liegt darin, dass er bei den Viehzüchtern seiner Heimatregionen als Viehdieb ungeliebt ist und vielerorts auch verfolgt wird. Strategien zur Vermeidung von Angriffen auf Haustiere sind ein Schlüssel zum Schutz der bedrohten Katze. Besonders in Gebieten mit niedrigen Beständen an natürlichen Beutetieren greift der Schneeleopard häufig auf Haustiere als Nahrungsgrundlage zurück. Daher sind der Schutz von wilden Huftieren und Ausgleichszahlungen für geschädigte Viehzüchter entscheidend für den Erhalt des Schneeleoparden.
=== Vorkommen nach Staaten ===
Für Afghanistan, wo der Schneeleopard im Pamir und Hindukusch vorkommt, liegen kaum Angaben zur Population vor. Die Katzen dürften ebenso wie ihre Beutetiere durch den jahrzehntelangen Krieg starke Einbußen erfahren haben. Zum Verbreitungsgebiet gehören der Wakhan-Korridor und die südlichen Teile Badakhshans, wo er etwa aus Zebak nachgewiesen ist. Angebliche Vorkommen im Ajar-Tal sind dagegen unbestätigt.In Bhutan befinden sich etwa 15.000 Quadratkilometer Lebensraum für Schneeleoparden. Es dürfte demzufolge etwa 100 Tiere beherbergen. Der wichtigste Nationalpark für den Schneeleoparden ist der Jigme-Dorji-Nationalpark.China ist das Land mit der größten Zahl an Schneeleoparden und verfügt über 300.000 Quadratkilometer potentiell gutes Schneeleopardenhabitat. Insgesamt werden über eine Million Quadratkilometer als geeignet eingeschätzt. Die Gesamtpopulation wurde für das Jahr 1994 auf 2000 bis 2500 Tiere geschätzt. Der Schneeleopard kommt innerhalb Chinas in den Provinzen beziehungsweise Autonomen Gebieten Tibet, Xinjiang, Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan vor. In der Inneren Mongolei steht er kurz vor dem Aussterben. In Gansu sind die meisten Populationen ebenfalls drastisch gesunken. Einige Teilpopulationen, etwa jene im Mazong Shan und weiteren nördlichen Gebirgen der Provinz, sind völlig ausgestorben. Kleinere Restbestände halten sich in Gansu noch im Yanchiwan-Naturreservat und im Qilian Shan-Naturreservat. Über die Vorkommen in Sichuan und Yunnan am südöstlichen Rand des Schneeleoparden-Verbreitungsgebietes liegen kaum Daten vor. Kürzlich konnte die Art allerdings durch Kamerafallen im Wolong-Naturschutzgebiet nachgewiesen werden. In den gewaltigen Schutzgebieten der zentralen tibetischen Hochländer, etwa im Changtang-Naturreservat und im Arjinshan-Naturreservat, sind Schneeleoparden relativ selten, was auf die geringen Blauschafbestände und die wenigen Steilhänge in diesem Gebiet zurückzuführen sein dürfte. Im Autonomen Gebiet Tibet scheinen vor allem im Westteil und an der Grenze zu Nepal und Indien größere Bestände vorzukommen. So verfügt das Qomolangma-Naturreservat über eine recht gute Population. Im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang wurde die Gesamtpopulation in drei Reservaten in den 1980er Jahren auf etwa 750 Tiere geschätzt, von denen etwa 15 im Tomur-Naturreservat im Tian Shan lebten. In diesem Schutzgebiet, das eines der größten Schneeleopardenreservate Nordwestchinas darstellt, konnte sich die Population mittlerweile erholen. Zwei Untersuchungen der Jahre 2004 und 2005 kamen auf schätzungsweise 40 bis 65 beziehungsweise 80 bis 130 Tiere im Reservat. Im Tian Shan erstreckt sich das Verbreitungsgebiet bis zur mongolischen Grenze. Daneben kommen Schneeleoparden in Xinjiang auch im Altai, im Arjin Shan und Kunlun, die die Nordgrenze des Tibetischen Plateaus bilden, und außerdem im Pamir und Karakorum an den westlichen Grenzgebieten zu Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan vor. Eines der wichtigsten Reservate im Karakorum ist das Taxkorgan-Reservat, wo 1987 noch 50 bis 57 Schneeleoparden vermutet wurden. Hier ist die Zahl aufgrund der sinkenden Beutetierbestände allerdings inzwischen gesunken. In Qinghai wurde die Gesamtpopulation in den 1980er Jahren auf etwa 650 Tiere geschätzt.In Indien kommt der Schneeleopard nur in den Hochgebirgszonen im Norden des Landes vor. Das Land beherbergte in den 1980er Jahren vermutlich etwa 500 Schneeleoparden auf etwa 95.000 Quadratkilometer Fläche. Davon lebt der weitaus größte Teil in Ladakh, wo etwa im Hemis-Nationalpark eine große Population lebt. Im Gebiet des Spiti-Flusses im Norden der Provinz Himachal Pradesh ernähren sich Schneeleoparden zu großen Teilen von Haustieren. Dennoch wird die Katze hier, vor allem aus religiösen und kulturellen Gründen, kaum verfolgt.In Kasachstan bewohnt der Schneeleopard nur die Gebirge am Südost- und Ostrand des Landes. Kleinere Populationen existieren etwa im Dsungarischen Alatau. Die meisten Tiere leben im Grenzgebiet zu Kirgistan in verschiedenen Ketten des Tienshan. Die einzigen stabilen Populationen in Kasachstan befinden sich offenbar im Almaty-Naturreservat und im Aksu-Jabagly-Naturreservat.
In Kirgistan bewohnt der Schneeleopard den Talas-Alatau, die Ferghanaberge und die Ketten Tienshan. Das gebirgige Land verfügt über 65.800 Quadratkilometer Schneeleopardenhabitat und könnte Schätzungen zufolge etwa 800 dieser Großkatzen beherbergen. Schutzgebiete, in denen Schneeleoparden vorkommen, sind das Issyk-Kul-Reservat, das Sarychat-Ertash-Naturreservat und der Ala-Artscha-Nationalpark.In der Mongolei, wo der Schneeleopard nur in den Gebirgen der Westhälfte des Landes vorkommt, ist er immer noch recht weit verbreitet. Der Gesamtbestand des Schneeleoparden in der Mongolei wird auf etwa 1000 Tiere geschätzt, womit das Land etwa 13–22 % des Weltbestands beherbergt. Das gesamte Verbreitungsgebiet im Land umfasst etwa 130.000 Quadratkilometer. Die wichtigsten Gebirgsketten der Mongolei mit Vorkommen von Schneeleoparden sind der Altai, das Khangai-Gebirge, die Chöwsgöl-Berge, die Berge der Transaltai-Gobi sowie Kharkhyral und Turgen Uul. Aus dem mongolischen Teil des Sajan und dem Baikalseegebiet ist der Schneeleopard mittlerweile verschwunden. In den Khangai- und Chöwsgöl-Bergen ist er sehr selten, möglicherweise schon verschwunden. In den gebirgigen Teilen der Transaltai-Gobi ist er ebenfalls nicht häufig, dürfte aber auf den meisten größeren Bergen noch vorkommen. Insgesamt deckt sich sein Vorkommen stark mit dem Sibirischen Steinbock, seinem wichtigsten Beutetier in der Mongolei. Vermutlich war der Schneeleopard in der Mongolei ebenso wie in Russland seit jeher relativ selten. Dies gilt insbesondere für die nördlichen Randgebiete des Verbreitungsgebietes. Die Katze wird in der Mongolei vor allem wegen ihres Pelzes gejagt. Gelegentlich stellt man ihr auch als Viehräuber nach. Der Schneeleopard kommt in einigen Schutzgebieten des Landes wie dem Khokh-Serkh-Reservat im Altai vor. Weitere Reservate, in denen der Schneeleopard vorkommt, sind das Große Gobi B Schutzgebiet und der Nationalpark Gobi Gurwan Saichan.
In Nepal bewohnt der Schneeleopard die Gebirgsketten im Norden an der Grenze zu Tibet. Relativ hohe Bestandsdichten von mindestens fünf bis zehn Tieren pro 100 Quadratkilometer wurden in den 1980er Jahren im Gebiet des Shey-Phoksundo-Nationalparks im Nordwesten Nepals ermittelt. Im Humla-Distrikt (Karnali) im Westen des Landes wird der Schneeleopard als Viehräuber verfolgt. Ähnliches gilt für das Gebiet der Annapurna Conservation Area, wo um das Jahr 1990 Untersuchungen zufolge die Mehrzahl der Viehhalter eine Ausrottung des Schneeleoparden befürwortete. Im Everest-Gebiet wurde der Schneeleopard auf nepalesischer Seite in den 1960er Jahren ausgerottet. Mittlerweile scheint er den Sagarmatha-Nationalpark wieder besiedelt zu haben. Dies war vor allem durch die Erholung der Bestände von Himalaya-Tahren und Gelbbauch-Moschustieren (Moschus chrysogaster) möglich. Weitere Großschutzgebiete mit Schneeleopardenpopulationen sind der Makalu-Barun-Nationalpark, das Kangchendzönga-Schutzgebiet, der Langtang-Nationalpark, das Manaslu-Schutzgebiet und das Dhorpatan-Jagdreservat.In Pakistan bewohnt der Schneeleopard ausschließlich die Gebirgsketten der nördlichen Landesteile. Die Katze kommt hier in den Distrikten Chitral, Dir, Swat und Kohistan, in Gilgit-Baltistan sowie im Muzaffarabad-Distrikt vor. Pakistan besitzt etwa 80.000 Quadratkilometer potentielles Schneeleopardenhabitat, wovon etwa 40.000 Quadratkilometer als sehr guter Lebensraum gelten. Die Art kommt in einigen Schutzgebieten des Landes, etwa im Chitral-Nationalpark und im Khunjerab-Nationalpark vor. George B. Schaller schätzte die Population in Pakistan im Jahr 1976 vorsichtig auf 100 bis 250 Tiere. Eine jüngere Schätzung aus dem Jahr 2003 geht von insgesamt etwa 320 bis 400 Schneeleoparden in ganz Pakistan aus. Sie basiert im Wesentlichen auf der Hochrechnung einer Schneeleoparden-Zählung der Jahre 1998 bis 2001 in der Region Baltistan, wo alleine etwa 90 bis 120 Schneeleoparden leben sollen. In dieser Region bilden Schraubenziege und Sibirischer Steinbock die wichtigsten natürlichen Beutetiere. Die Bestandsdichten dieser Huftiere liegen zum Teil bei 0,5 pro Quadratkilometer. Die größte Bedrohung in Pakistan ist die Bejagung des Schneeleoparden als Viehdieb und zur Pelzgewinnung. Derzeit scheint der Druck auf die Katze allerdings noch mäßig zu sein, da die Viehhalter der Gegend arm und schlecht organisiert sind. Ob die zunehmende Trophäenjagd, von der die lokale Bevölkerung teilweise profitiert, eine Gefahr oder eine Chance für den Schneeleoparden darstellt, ist unklar und hängt vermutlich von den entsprechenden Bedingungen ab. Hohe Bestände von natürlichen Beutetieren nützen zwar erst einmal dem Schneeleoparden, doch könnte der Jagddruck auf die Katze zunehmen, wenn die lokale Bevölkerung sie als Feind dieser Einnahmen betrachtet.
Russland beherbergt die nördlichsten Randpopulationen des Schneeleoparden. Ursprünglich erstreckte sich das Verbreitungsgebiet vom Altaigebirge im Westen bis zum Oberlauf der Lena im Baikalgebiet. Das Verbreitungsgebiet erstreckte sich im Nordosten mindestens bis ins Gebiet von Balagansk, im Südosten des großen Bratsker Stausees. Am Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand die Art aus den nördlichen und westlichen Teilen des Areals. Der Rückzug aus dem Baikal- und Transbaikalgebiet erfolgte wohl mit dem Verschwinden von Wildziegen und Wildschafen in dieser Region. Heute ist das Vorkommen auf das Altai- und Sajangebirge, einschließlich Tuwa und Tunkaberge, beschränkt. Unbestätigte Berichte deuten darauf hin, dass er noch im Süden der Tschita-Region östlich des Baikalsees vorkommt. In den 1980er Jahren wurde er darüber hinaus im Kusnezker Alatau und in den Kanskoe Belogor'e, einem nördlichen Ausläufer des Sajan südlich von Kansk, nachgewiesen. Zu den Bestandszahlen des Schneeleoparden in Russland liegen kaum handfeste Daten vor. Alle Angaben basieren lediglich auf groben Schätzungen. Man vermutet, dass etwa 150 bis 200 Schneeleoparden in Russland leben, von denen etwa 30 bis 40 Tiere im Tschuja- und Katungebiet vorkommen. Eine Studie, die mit Hilfe von Kamerafallen und Spuren-Analysen im westlichen Sajangebirge zwischen Januar und März 2008 durchgeführt wurde, kam zum Ergebnis, dass ein etwa 120 Quadratkilometer großes Areal im Bereich des Sajano-Schuschensker Reservates von insgesamt sechs Schneeleoparden aufgesucht wurde. Zu dieser Jahreszeit bewohnen die Tiere hier vor allem steile Süd- und Osthänge zwischen 540 und 1200 Meter über dem Meeresspiegel. Das Schutzgebiet beherbergt etwa 15 Schneeleoparden und ist eines der Schlüssel-Schutzgebiete für den Schneeleoparden im Sajangebirge. Die Lebensräume im russischen Altai werden durch das Altai-Schutzgebiet und das Katun-Schutzgebiet geschützt.Über die Bestandsverhältnisse in Tadschikistan ist wenig bekannt. Unterschiedliche Schätzungen gehen von 200 bis 300 beziehungsweise 80 bis 100 Exemplaren aus. Zum Verbreitungsgebiet sollen das Pamir-Gebiet in Berg-Badachschan sowie das Serafschan-, Gissar- und Karategin-Gebiet im Nordwesten des Landes zählen.Die Vorkommen in Usbekistan liegen an der Westgrenze des Gesamtverbreitungsgebietes und befinden sich im westlichen Tienshan und Pamir-Alai, etwa dem Gissar-Naturschutzgebiet. Man geht von nur etwa 20 bis 50 Tieren in Usbekistan aus.
=== Bestand in Gefangenschaft ===
Etwa 580 Schneeleoparden leben in Zoologischen Gärten und ähnlichen Einrichtungen (Stand 1994). In Gefangenschaft wird regelmäßig Nachwuchs großgezogen. Statt der durchschnittlichen Wurfgröße von zwei bis drei sind hier vereinzelt bis zu sieben Jungtiere zur Welt gekommen.
== Evolution und Systematik ==
Der Schneeleopard zählt zu den Großkatzen (Pantherinae), hat aber in einigen Merkmalen eine Sonderstellung inne. Obwohl er wie Löwe, Jaguar, Leopard und Tiger ein unverknöchertes, elastisches Zungenbein besitzt, das früher mit der Fähigkeit zum Brüllen in Verbindung gebracht wurde, brüllt der Schneeleopard nicht. Neuere Studien zeigen, dass die Fähigkeit zum Brüllen vor allem mit der speziellen Morphologie des Kehlkopfs zusammenhängt. Der Schneeleopard besitzt diese Kehlkopf-Morphologie genauso wenig wie Kleinkatzen. Aufgrund dieser anatomischen Besonderheit ist er die einzige Großkatze, die in der Lage ist, wie Hauskatzen zu schnurren. Eine weitere Eigenschaft unterscheidet ihn von den vier genannten Arten: Er verzehrt seine Beute in Hockstellung, wie Kleinkatzen es tun, und nicht wie typische Großkatzen im Liegen. Darüber hinaus ist der Schädel durch eine kurze Schnauze und eine hohe Stirn gekennzeichnet.
Ursprünglich wurde der Schneeleopard bereits zur Gattung Panthera gestellt, zwischenzeitlich aber aufgrund der genannten Besonderheiten der separaten Gattung Uncia zugeordnet. Neuere molekulargenetische Untersuchungen zeigen jedoch, dass er tatsächlich zur Gattung Panthera gehört. Innerhalb der Gattung Panthera ist die systematische Stellung allerdings noch nicht völlig geklärt. Genetische Analysen lieferten lange keine einheitlichen Interpretationen, da die Gattung Panthera sich erst vor wenigen Millionen Jahren, und offenbar in relativ kurzer Zeit, in verschiedene Arten aufgespalten hat. Analysen von mehreren mitochondrialen Genen in verschiedenen Studien deuteten zuerst darauf hin, dass der Schneeleopard an der Basis der Gattung steht, sich die anderen Arten also erst nach Abspaltung des Schneeleoparden auseinander entwickelten. Andere Studien mitochondrialer DNA stellten den Schneeleoparden dagegen als Schwesterart neben den Tiger. Unter Hinzunahme weiterer mitochondrialer Gene sowie Zellkern-DNA wurde als Schwesterart eher der Leopard vermutet. Eine weitere Studie, bei der das gesamte mitochondriale Genom des Schneeleoparden entschlüsselt wurde, kam schließlich zum Ergebnis, dass er am wahrscheinlichsten eine Schwesterart des Löwen darstellt. Dieses Ergebnis wurde von einer weiteren jüngeren Studie bestätigt, in welcher die gesamte mitochondriale DNA-Sequenz bei der Analyse des Verwandtschaftsgrads berücksichtigt wurde.Ein Kladogramm der rezenten Großkatzen sähe demnach folgendermaßen aus:
Die genetischen Befunde deuten darauf hin, dass sich die Linie des Schneeleoparden vor etwa vier bis fünf Millionen Jahren von der Löwen-Linie getrennt hat. Um diese Zeit fand eine starke Hebung des nordwestlichen Hochlands von Tibet statt. Vermutlich erreichten die Vorfahren des Schneeleoparden damals erstmals diese alpinen Gebiete und passten sich langsam den Gegebenheiten an. Die wichtigsten Schritte zur Artbildung des Schneeleoparden dürften aber vor etwa 1,7 Millionen Jahren stattgefunden haben, als das tibetische Hochland sein heutiges Niveau nahezu erreicht hatte.Bis vor kurzem waren vom Schneeleoparden nur wenige Fossilfunde aus dem späten Pleistozän bekannt, die aus dem Altai-Gebirge an der Westgrenze der Mongolei stammen. Doch neuere Funde aus den Siwaliks in Nordpakistan zeigen, dass die Katze hier wahrscheinlich vor 1,2 bis 1,4 Millionen Jahren verbreitet war. Allerdings scheint der Schneeleopard schon immer auf den asiatischen Kontinent beschränkt gewesen zu sein. Angebliche Funde aus dem Jungpleistozän Europas stammen von Leoparden oder großen Luchsen.Schneeleoparden sehen sich in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet sehr ähnlich. Tiere des Himalaya unterscheiden sich optisch kaum von Tieren des Altaigebirges. Auf der Grundlage der aberranten Fellfärbung weniger Einzelindividuen wurden dennoch bis zu drei Unterarten vorgeschlagen. Panthera uncia schneideri (Exemplar aus Sikkim), Panthera uncia uncioides (Fell aus Nepal) und Panthera uncia uncia. Das Handbook of the Mammals of the World unterscheidet P. u. uncia aus Russland, der Mongolei und Zentralasien sowie P. u. uncioides aus West-China und dem Himalayagebiet. Genetische Untersuchungen zu den umstrittenen Unterarten wurden bisher nicht durchgeführt.
== Der Schneeleopard in der Kultur ==
Siehe auch: Der Schneeleopard in der Kunst (Commons-Kategorie)
Dem Schneeleoparden wird als charismatischem Tier in der Regel weltweit große Sympathie entgegengebracht. Seine Scheu und Seltenheit tragen zu einer gewissen Mystifizierung bei. Sein kirgisischer Titel „Geist der Berge“ wird beispielsweise von westlichen Naturschutzorganisationen gebraucht. Bei den Viehzüchtern seiner Heimatländer gilt er dagegen häufig als Schädling.
Der Schneeleopard ist ein nationales Symbol für Tataren und Kasachen. Im Wappen der Städte Almaty (Kasachstan), Samarkand (Usbekistan) und Bischkek (Kirgistan) befindet sich jeweils ein Schneeleopard, der manchmal geflügelt ist. Die ehemalige 10.000-Tenge-Banknote (kasachische Währung) war von einem Schneeleoparden geziert. Das Staatswappen Tatarstans und Chakassiens zeigt einen stilisierten, geflügelten Schneeleoparden. Daneben ziert der Schneeleopard das Logo der Eishockeyklubs Ak Bars Kasan und Barys Astana, da die Namen dieser Klubs als „Schneeleopard Kasan“ und „Schneeleopard Astana“ übersetzt werden können.
Der Schneeleopard-Orden stammt aus Sowjet-Zeiten und wird heute noch durch die GUS-Staaten an Bergsteiger verliehen, die alle fünf Siebentausendergipfel in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion erfolgreich bestiegen haben.
Eine Version des Betriebssystems der Firma Apple trägt die Bezeichnung Snow Leopard, die englische Bezeichnung für Schneeleopard: Mac OS X Snow Leopard 10.6.
== Angriffe auf Menschen ==
Angriffe auf Menschen wurden bisher kaum bekannt. Die einzigen zwei in der Literatur angegebenen Fälle ereigneten sich in der Nähe von Almaty. Ein tollwütiges Tier griff hier am 12. Juli 1940 zwei Männer an und verletzte sie schwer, bevor es getötet wurde. Ein anderes, sehr altes Tier griff ebenfalls im Raum Almaty einen Menschen an, wurde aber mit einem Knüppel außer Gefecht gesetzt und getötet.
== Literatur ==
Thomas Bauer: Nurbu – Im Reich des Schneeleoparden. Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2012, ISBN 978-3-942063-89-0
Peter Matthiessen: Auf der Spur des Schneeleoparden. Malik / National Geographic, München 2000, ISBN 978-3492400893 (orig. The Snow Leopard, Viking Books, New York 1978, ISBN 978-0099771111)
Eckard Gehm: Schneeleopard (Uncia uncia). Geist der Berge. Verlag Wildpark Lüneburger Heide, Hanstedt-Nindorf 2002, ISBN 3-00-009603-5 (deutsch/englisch)
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9
M. E. Sunquist & F. C. Sunquist (2009): Family Felidae (Cats). (S. 128–130). In: D. E. Wilson, R. A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Bd. 1: Carnivores. Lynx Edicions, 2009. ISBN 978-84-96553-49-1
=== Film ===
Der Schneeleopard (Originaltitel: La panthère des neiges), französischer Dokumentarfilm der Regisseurin Marie Amiguet über die Suche nach dem Schneeleoparden, Filmstart in den deutschen Kinos am 10. März 2022.
== Weblinks ==
Artenprofil Schneeleopard; IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch
Seite des NABU über ein Artenschutzprogramm für den Schneeleoparden
BBC-Reportage (englisch) über eine Schneeleopardin und ihr Jungtier in der Region Chitral/ Pakistan.
Snow Leopard Conservancy (englisch)
Dissertation mit ausführlichen Informationen zum Schneeleopard (PDF-Datei; 1,32 MB)
Der Schneeleopard
Animal info (englisch)
Panthera uncia in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2006. Eingestellt von: Cat Specialist Group, 2002. Abgerufen am 11. Mai 2006.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Schneeleopard |
Kondensator (Elektrotechnik) | = Kondensator (Elektrotechnik) =
Ein Kondensator (von lateinisch condensare ‚verdichten‘) ist ein passives elektrisches Bauelement mit der Fähigkeit, in einem Gleichstromkreis elektrische Ladung und die damit zusammenhängende Energie statisch in einem elektrischen Feld zu speichern. Die gespeicherte Ladung pro Spannung wird als elektrische Kapazität bezeichnet und in der Einheit Farad gemessen. In einem Wechselstromkreis wirkt ein Kondensator als Wechselstromwiderstand mit einem frequenzabhängigen Impedanzwert.
Kondensatoren bestehen im Prinzip aus zwei elektrisch leitfähigen Flächen, den Elektroden, die mit einem isolierenden Material, dem Dielektrikum, voneinander getrennt sind. Die Größe der Kapazität wird durch die Fläche der Elektroden, das Material des Dielektrikums und den Abstand der Elektroden zueinander bestimmt. Die Elektroden und das Dielektrikum können aufgerollt oder parallel geschaltet als Stapel angeordnet sein. Industriell hergestellte Kondensatoren werden mit Kapazitätswerten von etwa 1 Pikofarad (10−12 F) bis zu etwa 1 Farad, bei Superkondensatoren bis zu 10.000 Farad geliefert.
Die mit großem Abstand am meisten produzierten Kondensatoren sind integrierte Speicherkondensatoren in digitalen Speicherschaltungen. Die wichtigsten Kondensatorarten sind Keramikkondensatoren, Kunststoff-Folienkondensatoren, Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren und, obwohl sie auf völlig anderen Speicherprinzipien beruhen, die Superkondensatoren. Neben diesen Kondensatoren mit festen Kapazitätswerten gibt es Bauelemente mit einstellbaren Kapazitätswerten, die variablen Kondensatoren.
Kondensatoren werden in vielen elektrischen Anlagen und in nahezu allen elektrischen und elektronischen Geräten eingesetzt. Sie realisieren beispielsweise elektrische Energiespeicher als Zwischenkreiskondensatoren in Frequenzumrichtern, als Speicherkondensator in Sample-and-Hold-Schaltungen oder als Photo-Flash-Kondensatoren in Blitzlichtgeräten. Sie koppeln Signale in Frequenzweichen von Audiogeräten und bilden als hochstabile Klasse-1-Kondensatoren zusammen mit Spulen Filter und Schwingkreise. Als Glättungskondensatoren in Netzteilen und Stützkondensatoren in Digitalschaltungen sind sie im Bereich der Stromversorgung zu finden. Sie unterdrücken als Entstörkondensatoren elektromagnetische Störsignale und bewirken als Leistungskondensatoren eine erwünschte Phasenkompensation. Spezielle Bauformen von Kondensatoren werden als Sensor verwendet.
Unerwünschte kapazitive Störeinkopplungen aus elektrischen Feldern benachbarter Bauteile in Schaltungen und parasitäre Kapazitäten, sogenannte Streukapazitäten, gehören nicht zu den Kondensatoren. Ebenfalls nicht zu den Kondensatoren gehören eine Reihe von Aktoren wie piezoelektrische Wandler, elektrostatische Lautsprecher, Ablenkplatten und Bauelemente der Elektrooptik.
== Funktionsweise ==
Ein Kondensator sperrt den Gleichstrom, aber leitet den Wechselstrom weiter.
=== Funktionsweise im Gleichstromkreis ===
Nach dem Anlegen einer Gleichspannung an einen realen Kondensator mit Vorwiderstand fließt ein monotoner elektrischer Strom, der die Elektroden gegenpolig auflädt, so dass sich im Kondensator eine ständig zunehmende Spannung einstellt. Das sich aufbauende elektrische Potential auf den Elektroden lässt im Raum zwischen den Elektroden ein elektrisches Feld entstehen, dessen Feldstärke der aufgebauten Spannung proportional ist.
Bei einer Gleichspannungsquelle mit konstantem Innenwiderstand folgt die Spannung am Kondensator hier einer Exponentialfunktion mit negativem Exponenten, so dass der Strom mit der Zeit asymptotisch gegen null geht. Haben Spannungsquelle und Kondensator die gleiche Spannung, dann fließt kein Strom („der Kondensator ist geladen“).
Wird der Kondensator von der Spannungsquelle getrennt, so bleiben Energie und Ladungen erhalten und die Spannung bleibt konstant. Allgemein ausgedrückt, wird dadurch die auf den Elektroden befindliche Ladung vom Kondensator gespeichert. Wird durch Anschließen eines Verbrauchers dem Kondensator Energie entnommen, dann sinkt die Feldstärke des elektrischen Feldes und damit auch die Kondensatorspannung.
Da in einem geschlossenen Stromkreis der Strom im ganzen Kreis fließt, fließt er auch durch den Kondensator hindurch. Physikalisch besteht der Strom im Stromkreis jedoch aus zwei Strömen, einem leitungsgebundenen Strom von Ladungsträgern wie Elektronen oder Ionen und einem sogenannten Verschiebungsstrom im Raum zwischen den Elektroden, der als ein Teil der Wirkung des elektrischen Feldes zu verstehen ist und mit einer entsprechenden Änderung der elektrischen Feldstärke einhergeht. Bei realen Kondensatoren ist der Raum zwischen den Elektroden mit einem Dielektrikum ausgefüllt. Der Verschiebungsstrom ergibt sich dann zusätzlich zu dem Anteil durch die Änderung der Feldstärke noch aus der Ladungsverschiebung im Dielektrikum, der Polarisation, die sich aus seiner Dielektrizitätszahl ergibt.
Bei kleinen Feldstärken und linearen dielektrischen Materialien wächst die Polarisation linear mit der Spannung am Kondensator. Proportional zur Spannung wächst die im Kondensator gespeicherte Ladung. Die Proportionalitätskonstante wird als Kapazität bezeichnet; sie ist das wesentliche Merkmal eines Kondensators. Je größer die Kapazität
C
{\displaystyle C}
ist, desto mehr Ladung
Q
{\displaystyle Q}
und Energie
W
{\displaystyle W}
kann ein Kondensator bei einer bestimmten Spannung
U
{\displaystyle U}
speichern. Die Gleichungen
Q
=
C
⋅
U
{\displaystyle Q=C\cdot U}
beziehungsweise
U
(
Q
)
=
Q
C
{\displaystyle U(Q)={\frac {Q}{C}}}
und
W
=
∫
0
Q
U
(
q
)
⋅
d
q
=
∫
0
Q
q
C
⋅
d
q
=
1
2
⋅
Q
2
C
=
1
2
⋅
C
⋅
U
2
{\displaystyle W=\int _{0}^{Q}U(q)\cdot \mathrm {d} q=\int _{0}^{Q}{\frac {q}{C}}\cdot \mathrm {d} q={\frac {1}{2}}\cdot {\frac {Q^{2}}{C}}={\frac {1}{2}}\cdot C\cdot U^{2}}
fassen das zusammen.
Q
{\displaystyle Q}
ist die Ladung (in Coulomb, C, oder Amperesekunden, As),
C
{\displaystyle C}
die Kapazität (in Farad, F) und
U
{\displaystyle U}
die Spannung (in Volt, V); die Energie (in Joule, J) ist mit
W
{\displaystyle W}
bezeichnet, um sie von der Feldstärke
E
{\displaystyle E}
zu unterscheiden.
Reale Kondensatoren können nur bis zu einer maximal zulässigen Spannung, die sich aus der Durchschlagsfestigkeit des Dielektrikums ergibt, geladen werden.
Die Zeit, die ein realer Kondensator braucht, um sich aufzuladen beziehungsweise um entladen zu werden, kann dem Artikel RC-Glied entnommen werden.
=== Funktionsweise im Wechselstromkreis ===
Kondensatoren leiten im Wechselstromkreis Wechselspannungen und Wechselströme weiter, jedoch mit einer Verschiebung der Phasenlage zwischen Spannung und Strom, der Strom eilt der Spannung um 90 ° voraus. Denn aufgrund ihrer Ladungsspeicherfähigkeit beginnt bei Kondensatoren erst ein Strom zu fließen, bevor sich die Spannung ändert, während bei einer Spule sich erst die Spannung ändert, bevor ein Strom fließt. Merksätze:
Beim Kondensator: Strom eilt vor.
Bei Induktivitäten: Ströme verspäten sich.Ein Kondensator mit der Kapazität
C
{\displaystyle C}
(F) bildet im Wechselstromkreis bei der Kreisfrequenz
ω
{\displaystyle \omega }
als Quotient der Wechselspannung
u
(
ω
)
{\displaystyle u(\omega )}
und dem Wechselstrom
i
(
ω
)
{\displaystyle i(\omega )}
einen Wechselstromwiderstand mit der Impedanz
Z
_
{\displaystyle {\underline {Z}}}
(Ω) als komplexe Größe:
Z
C
=
u
(
ω
)
i
(
ω
)
=
U
0
e
j
ω
t
C
U
0
j
ω
e
j
ω
t
=
−
j
ω
C
=
Z
_
{\displaystyle Z_{C}={\frac {u(\omega )}{i(\omega )}}={\frac {U_{0}e^{j\omega t}}{CU_{0}j\omega e^{j\omega t}}}=-{\frac {j}{\omega C}}={\underline {Z}}}
.Der Betrag der komplexen Impedanz
Z
_
{\displaystyle {\underline {Z}}}
ist der Scheinwiderstand
Z
=
|
Z
_
|
{\displaystyle Z\ =|{\underline {Z}}|}
.
Der Scheinwiderstand ist umso kleiner, je größer die Kapazität und je höher die Frequenz ist.
Die Eigenschaft von Kondensatoren als Wechselstromwiderstand mit möglichst geringem Scheinwiderstand wird neben der Energiespeicherung in vielen Anwendungen genutzt zur Trennung von Gleich- und Wechselstromanteilen, zur Korrektur von Phasenverschiebungen und zur Erzeugung von Resonanzkreisen.
Die für viele Anwendungen wichtige Entladedifferentialgleichung befindet sich im Artikel RC-Glied.
== Geschichte ==
=== Leidener Flasche ===
Die Leidener Flasche ist die älteste Bauform eines Kondensators (Kapazität etwa 5 nF). Sie besteht aus einem Glasgefäß, das innen und außen mit Metallfolie, meist aus Aluminium, belegt ist. Das Glas wirkt als Isolator, später „Dielektrikum“ genannt. Das Prinzip der Leidener Flasche wurde unabhängig voneinander 1745 von dem Domdechanten Ewald Jürgen Georg von Kleist in Cammin (Pommern) und ein Jahr später von dem Physiker Pieter van Musschenbroek in Leiden gefunden, als sie bei Laborversuchen mit Anordnungen von Gläsern und Metallteilen elektrische Stromschläge erlitten.
Die Leidener Flasche und ähnliche Laborgeräte wurden in der Folge vornehmlich zur publikumswirksamen Demonstration von Stromschlägen (auch als „Kleistscher Stoß“ bekannt geworden) eingesetzt, bei später zunehmenden Kenntnissen über das Wesen der Elektrizität auch als Energiequelle für fortgeschrittenere Experimente: Benjamin Franklin verband eine Leidener Flasche über eine Metallschnur mit einem Drachen, den er in den Himmel steigen ließ. Es gelang ihm mit diesem gefährlichen Experiment, Ladung von Gewitterwolken auf die Leidener Flasche zu übertragen. Er prägte den Begriff „electrical condenser“.
=== Weiterentwicklung ===
Ein verbesserter Kondensator wurde 1775 durch Alessandro Volta erfunden, er nannte ihn „electrophorus“ (Elektrophor, Elektrizitätsträger). Er bestand aus zwei Metallplatten, die durch eine Ebonitschicht gegeneinander isoliert waren. Man kann diese Anordnung bereits als Prototyp moderner Kondensatoren betrachten. Der Einsatz besserer Dielektrika führte später zu einer Reduzierung der Baugröße. Etwa 1850 wurde Glimmer, ein natürlich vorkommendes Mineral, in Scheiben geschnitten und als Isolator verwendet; kommerziell wurden diese Kondensatoren ab der Zeit des Ersten Weltkrieges hergestellt. Gewickelte Papierkondensatoren mit Metallfolienbelägen sind seit 1876 in Gebrauch.Kondensatoren, die durch den chemischen Aufbau eines äußerst dünnen Dielektrikums aus nichtleitendem Aluminiumoxid auf einer Aluminium-Anode und Verwendung eines flüssigen Elektrolyten zu Kondensatoren mit höherer Kapazität führten, die späteren Elektrolytkondensatoren, wurden 1896 von Charles Pollak zum Patent angemeldet, sie wurden anfangs als Siebkondensator zur Unterdrückung von Brummgeräuschen in Telefonnetzen benutzt.
Seit etwa 1900 wurde auch Porzellan als Dielektrikum in Kondensatoren verwendet. In den 1930er Jahren erforschte man weitere keramische Werkstoffe als Ersatz für Porzellan; die Entwicklung der Keramikkondensatoren setzte ein.
Glimmer als Dielektrikum in Kondensatoren wurde erstmals 1909 von William Dubilier in den USA eingesetzt und war bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das meistgenutzte Material für Kondensatoren in Kommunikationsgeräten. Glimmerkondensatoren werden im Jahre 2022 nur noch vereinzelt eingesetzt, sie waren durch Klasse-1-Keramik-Kondensatoren abgelöst worden.
Mit der Entwicklung hoch isolierender und durchschlagsfester bzw. verlustarmer Kunststofffolien nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Papier in den Metall-Papierkondensatoren bei vielen Anwendungen durch dünnere Kunststofffolien ersetzt, es entwickelte sich eine breite Palette von Kunststoff-Folienkondensatoren.
Ab etwa 1950 wurde bei der General Electric in den USA mit der Entwicklung von Tantal-Elektrolytkondensatoren begonnen. Hier gelang es, nicht nur eine Miniaturisierung durch eine erheblich höhere Kapazität pro Bauvolumen gegenüber den bislang bekannten Kondensatoren zu erreichen, sondern mit der Entwicklung eines festen Elektrolyten konnte außerdem die Langzeitstabilität von Elektrolytkondensatoren deutlich verbessert werden.
Eine nochmals deutliche Kapazitätssteigerung gelang mit dem von General Electric 1957 patentierten „low voltage electrolytic capacitor“, der durch SOHIO und ab 1971 durch NEC zu einem marktreifen Bauelement weiterentwickelt wurde und zunächst die Bezeichnung „Doppelschicht-Kondensator“ erhielt, aus der jetzt aufgrund der Erkenntnisse zur Pseudokapazität die Bezeichnung Superkondensator wurde.
Eine neuere Entwicklung ist der MIS-Kondensator. Dieser besteht aus einem rückseitig lötbar vergoldeten Substrat aus Silicium und einer darauf mit Halbleitertechnologie (Metall-Isolator-Halbleiter-Struktur) aufgebrachten Siliciumdioxid-Schicht mit bondbarer Deckelektrode. Es entstehen frequenzstabile Kapazitäten kleiner Baugröße und geringer Spannungsbelastbarkeit, die auf Dickschicht-Schaltungen bis in den Gigahertz-Bereich Verwendung finden.
Bei allen Kondensatorarten ist eine Entwicklung zu immer kleinerem Bauvolumen und hin zu oberflächenmontierbaren (SMD) Kondensatoren typisch. Darüber hinaus wurde speziell bei Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren durch Einführung von Polymer-Elektrolytsystemen eine erhebliche Erhöhung der Elektrolyt-Leitfähigkeit und entsprechend geringere Verlustwiderstände erreicht.
Forschungen in 2009 beschäftigten sich unter anderem mit neuartigen Oberflächenstrukturen der Elektroden. Beispielsweise lässt sich durch eine Nanostruktur in Form von Milliarden nebeneinander liegender kleiner Löcher in einer dünnen Aluminiumschicht, beschichtet mit Titan-Nitrid/Aluminiumoxid/Titan-Nitrid als kapazitiver Aufbau, die Leistungsdichte eines Nanokondensators, gemessen in W/kg, um mehr als das Zehnfache gegenüber Elektrolytkondensatoren vergrößern und erreicht damit eine Speicherfähigkeit in der Größenordnung von Doppelschichtkondensatoren, ohne deren Nachteil, die begrenzte Lade- bzw. Entladegeschwindigkeit, aufzuweisen.Eine weitere Möglichkeit, die Kapazität zu erhöhen, besteht in der Verwendung von Dielektrika mit hoher Permittivität. Klassisch wird hierfür Bariumtitanat-Keramik verwendet. Auch die Einbindung von Bariumtitanat-Körnern in nichtleitendes folienartiges Material wird erprobt, wodurch das Dielektrikum formbar wie bei Folienkondensatoren wird.
=== Markt ===
Kondensatoren sind in nahezu allen elektrischen und elektronischen Geräten zu finden. Nach der Schätzung eines Industriereports belief sich im Jahre 2008 der Wert aller weltweit verkauften Kondensatoren auf 18 Milliarden US$. Davon entfielen auf Keramikkondensatoren 8,3 Milliarden US$ (46 %), Aluminium-Elektrolytkondensatoren 3,9 Milliarden US$ (22 %), Kunststofffolien- und Metallpapierkondensatoren 2,6 Milliarden US$ (15 %), Tantal-Elektrolytkondensatoren 2,2 Milliarden US$ (12 %), Doppelschicht- und Superkondensatoren 0,3 Milliarden US$ (2 %) und andere Kondensatoren wie Vakuumkondensatoren 0,7 Milliarden US$ (3 %). Insbesondere die Entwicklung auf dem Gebiet neuer Telekommunikationsgeräte und Tabletcomputer mit ihren MLCC-Chipkondensatoren hat den Markt erheblich vorangetrieben. Von den etwa 1,4 Billionen (1,4·1012) Kondensatoren (2008) entfielen allein auf MLCC-Chips etwa 1 Billion (1,0·1012) Stück.Der Markt an industriell hergestellten und von der Industrie benötigten Kondensatoren ist in den darauffolgenden Jahren etwas gesunken, weil vielfach eine Substition von teureren Kondensatoren durch preiswertere Lösungen erfolgte. Beispielsweise wurden Tantal-Chips durch MLCCs ersetzt. Der Kondensatormarkt wurde für 2016 auf 16,9 Milliarden US$ geschätzt.
== Berechnung der Kapazität ==
Für eine Reihe von idealisierten Elektrodenanordnungen lässt sich die Feldverteilung
E
(
r
)
{\displaystyle E(r)}
im Kondensator und damit seine Kapazität
C
{\displaystyle C}
exakt bestimmen. In der folgenden Tabelle sind einige wichtige Anordnungen aufgeführt:
Es bedeuten:
A
{\displaystyle A}
die Elektrodenfläche,
d
{\displaystyle d}
deren Abstand,
l
{\displaystyle l}
deren Länge,
R
1
{\displaystyle R_{1}}
sowie
R
2
{\displaystyle R_{2}}
deren Radien,
ε
0
{\displaystyle \varepsilon _{0}}
die elektrische Feldkonstante des Vakuums,
ε
r
{\displaystyle \varepsilon _{\mathrm {r} }}
die relative Permittivität des Dielektrikums und
Q
{\displaystyle Q}
die elektrische Ladung.
In der schematischen Darstellung sind die Elektroden hellgrau bzw. dunkelgrau und das Dielektrikum blau gefärbt. Anzumerken ist hier, dass bei den Anordnungen Plattenkondensator und Zylinderkondensator nur der Kapazitätsanteil durch dieses blau dargestellte Dielektrikum berechnet wird. Da auch Felder außerhalb des dargestellten Dielektrikums existieren – die bildlich gesprochen seitlich herausquellen –, stellen die gegebenen Formeln nur Näherungen dar, die umso besser werden, je geringer der Abstand der Elektroden im Vergleich zu ihrer Länge ist.
Plattenkondensatoren erlauben in einer modifizierten Ausführung sehr hohe Kapazitäten pro Volumen: Indem man die jeweils mit einem Potential verbundenen Elektroden abwechselnd aufeinander stapelt, werden sie doppelt wirksam. Die Abbildung des Vielschichtkondensators verdeutlicht dies. Sind die Platten als Metallfolie oder -film ausgeführt, können sie bei einem geeigneten Isolator auch aufgewickelt werden, auch dabei verdoppelt sich die Wirkung. Aufgrund seiner kompakten Bauform ist das der gebräuchlichste Kondensator.
Zylinderkondensatoren werden meist nur bei speziellen Anwendungen eingesetzt, beispielsweise als Vakuum- oder Durchführungskondensator. Die für die Bauform angegebene Gleichung ist aber auch hilfreich, um den Kapazitätsbelag einer Koaxialleitung zu bestimmen.
Bei Kugelkondensatoren ist insbesondere der Spezialfall,
R
2
→
∞
{\displaystyle R_{2}\to \infty }
von Bedeutung, die Kapazität einer freistehenden Kugel. Hier wird die Gegenelektrode durch die Umgebung gebildet, sie liegt deshalb gewöhnlich auf Erdpotenzial. Die Kapazität dieser Bauform ist sehr gering. So hat eine Kugel mit einem Radius von 15 cm, wie sie im Van-de-Graaff-Generator zur Ladungsspeicherung oder in Tesla-Spulen zur Bildung eines LC-Schwingkreises eingesetzt wird, theoretisch eine Kapazität von ca. 16,7 pF. In der Praxis ist die Kapazität jedoch höher, weil die Gegenelektrode (Erde) nicht unendlich weit entfernt ist. Im CGS-Einheitensystem ist die Kapazität eines Kugelkondensators gleich dem Radius der Kugel in Zentimetern, die oben genannte Kugel hat also eine Kapazität von 15 cm (cm ist die Einheit der Kapazität in diesem System). Da auf der Kugeloberfläche das elektrische Feld sehr homogen ist, können große Kugelkondensatoren auf mehrere Millionen Volt aufgeladen werden, bevor es zu einer Funkenentladung kommt.
== Anwendungen ==
=== Energie- und Ladungsspeicher ===
Eine typische Anwendung in der Leistungselektronik bilden Zwischenkreiskondensatoren in Schaltnetzteilen und Umrichtern. Hier übernimmt eine Schaltung (zum Beispiel Gleichrichter, Vierquadrantensteller) die Gleichrichtung von Wechselstrom, dieser Schaltungsteil agiert als Stromquelle. Ein zweiter Schaltungsteil agiert als Senke (zum Beispiel Wechselrichter). Der Zwischenkreiskondensator hat die Aufgabe, den pulsierenden Strom aus dem Gleichrichter aufzunehmen und dem Wechselrichter eine ausreichend konstante Spannung zuzuführen. Je größer seine Kapazität desto kleiner die Spannungsänderung durch die Stromentnahme zwischen den Ladepulsen. Die gleiche Funktion haben auch die Glättungskondensatoren am Ausgang von Gleichspannungswandlern und in Gleichspannungsnetzteilen, sie halten deren Brummspannung möglichst klein.
In ähnlicher Weise können Kondensatoren zeitlich begrenzt hohe Leistung bereitstellen (siehe auch Doppelschichtkondensator). Sie werden auf eine bestimmte Spannung aufgeladen und können dann Verbraucher mit hohem kurzzeitigem Leistungsbedarf antreiben. Beispiele dafür sind die Hochspannungs-Kondensatorzündung bei Verbrennungsmotoren und in der Waffentechnik der „exploding-bridgewire detonator“.
Eine typische Anwendung findet man in Blitzlichtgeräten. Ein Kondensator wird mit Hilfe eines Spannungswandlers innerhalb von einigen Sekunden aus einer Batterie bis etwa 400 V aufgeladen. Nach Zündung der Blitzröhre entlädt sich der Kondensator innerhalb einiger Mikrosekunden und liefert dabei eine Leistung von einigen Kilowatt. Die Batterie selbst kann wegen ihres hohen Innenwiderstandes unmöglich so viel Leistung zur Verfügung stellen.
Gleiches gilt für die in der Medizin eingesetzten Defibrillatoren. Implantierbare Defibrillatoren arbeiten mit Spannungen von zirka 650 bis 800 V und einer Schockenergie von 30 J bei einer Batteriespannung von zirka 3,5 V. Die Kapazitäten der Kondensatoren liegen bei etwa 100 bis 170 μF.
Stützkondensatoren dienen zur Stabilisierung der Versorgungsspannung in hochfrequenten und komplexen digitalen Schaltungen. Hier werden zu jedem integrierten Schaltkreis oder Schaltungsabschnitt ein oder mehrere Kondensatoren parallel zur Versorgungsspannung geschaltet, die als Spannungs- oder Energiequelle in Momenten hohen Strom- bzw. Leistungsbedarfs wirken. Durch ihre niedrige Impedanz bei hohen Frequenzen verringern sie die Impedanz der übergeordneten Spannungsversorgung oder deren Zuleitung und verhindern eine gegenseitige Beeinflussung der Energieversorgung von Teilschaltungen. Umgekehrt können Kondensatoren störende, zeitlich begrenzte Überspannungen in elektronischen Schaltungen aufnehmen und so ihre Ausbreitung und schädliche Wirkung verhindern. Man nennt das Glätten oder Abblockung und bezeichnet jene Bauteile als Glättungs- oder Blockkondensatoren. Entstehen die Überspannungen durch Schaltvorgänge an Relais oder Leistungshalbleitern, werden die Kondensatoren speziell als Lösch- bzw. Snubberkondensatoren bezeichnet.
Des Weiteren werden Verschaltungen von mehreren Kondensatoren zum Herauf-, Herabsetzen und zum Invertieren von Versorgungsspannungen genutzt. Hier werden Kondensatoren zyklisch auf ein Potential aufgeladen, mit einem anderen Potential verbunden und dort entladen. Gebräuchliche Schaltungen sind die Ladungspumpe und deren spezielle Ausführung als Hochspannungskaskade.
Für Anwendungen, in denen es nicht auf schnellste Verfügbarkeit ankommt, sind zur Speicherung größerer Energiemengen andere Speichertechnologien wirtschaftlicher.
=== Frequenzabhängiger Widerstand ===
Für die Anwendung als frequenzabhängiger Blindwiderstand muss der Kondensator eine bekannte Kapazität haben, da der Kapazitätswert direkten Einfluss auf den kapazitiven Blindwiderstand hat. Im Folgenden werden Anwendungen des frequenzabhängigen Blindwiderstandes genannt, wie sie in der elektrischen Energietechnik, Nachrichtentechnik, Analog- und Digitaltechnik auftreten.
==== Abblockkondensatoren ====
Induktionsarme (Keramik-)Kondensatoren sind in allen Elektronikschaltungen notwendig, um den dynamischen Innenwiderstand der Stromversorgung so weit zu vermindern, dass auch sehr hochfrequente Stromimpulse von beispielsweise 2 GHz keine unzulässigen Spannungsschwankungen am induktiven Widerstand des Zuleitungsdrahtes hervorrufen. Deshalb müssen diese Kondensatoren unmittelbar mit dem IC verbunden werden. Auch Abklatschkondensator.
==== Energietechnik ====
In der Wechselstrom-Energietechnik werden zum Zwecke der Blindleistungskompensation spezielle Leistungskondensatoren dazu genutzt, die Phasenlage zwischen Strom und Spannung zu ändern: Werden in mittleren und großen Industrie- und Werksanlagen viele induktive Verbraucher (wie Elektromotoren, Leuchtstoffröhrendrosseln und Transformatoren) betrieben, kommt es aufgrund ihrer Gesamtinduktivität zu einem (mitunter erheblichen) induktiven Blindstrom. Bei fehlender Kompensation würde dies die Energierechnung erhöhen und größere Leitungsquerschnitte der Zuleitungen innerhalb der Energieverteilung des Werkes bis hin zum Elektrizitätswerk erforderlich machen. Vielmehr wird die induktive Phasenverschiebung (entsprechend der Gesamtinduktivität der gerade aktiven Verbraucher) innerhalb der Werksenergieverteilung automatisch kompensiert, indem dazu passend Kondensatoren zu- oder weggeschaltet werden. Bei kleineren Elektromotoren erfolgt die Blindstrom-Kompensation durch einen Kondensator meist schon direkt am Motor. Für eine effektive Blindstromkompensation müssen die Kompensationskondensatoren und die Motor- und Trafoinduktivitäten immer möglichst die gleiche gegenphasige Impedanz haben, d. h. der Leistungsfaktor wird am Stromübergabepunkt des Elektrizitätswerkes in der Werksenergieverteilungszentrale möglichst immer bei einem Wert nahe 1 gehalten.
Eine weitere Anwendung findet der Kondensator in einem Kondensatormotor, bei dem er zusammen mit einer Feldspule des Motors die Phasenlage des Wechselstroms verschiebt, wodurch letztendlich ein magnetisches Drehfeld erzeugt wird. Durch einen externen Phasenschieberkondensator kann z. B. auch ein Dreiphasenmotor (L1, L2, L3) unter Wirkleistungseinbuße unter Beachtung der Betriebsspannung am Einphasenstromnetz (L, N oder L, L) betrieben werden (Steinmetzschaltung).
Zur Herabsetzung von Spannungen bzw. als kapazitiver Vorwiderstand an Stelle eines verlustwärmeerzeugenden (Wirk-)Widerstandes oder eines vergleichsweise teuren Transformators wird der Kondensator in einem Kondensatornetzteil verwendet: Er arbeitet dort an einer großen Wechselspannung (in der Regel die Netzspannung) und liefert einen kleinen Wechselstrom, der z. B. an einer Zenerdiode zusammen mit einer normalen Rückstromdiode eine abgreifbare Spannung erzeugt, die dann in einer nachfolgenden Schaltung als Versorgungsspannung genutzt werden kann. Allerdings entfällt hier die galvanische Trennung zwischen Netz- und Verbraucherstromkreis.
==== Filteranwendungen ====
Die Frequenzabhängigkeit des Wechselstromwiderstands wird benutzt, um Wechselspannungen frequenzabhängig anzuheben oder abzusenken, zu „filtern“. Eine einfache Schaltung ist das RC-Glied, das je nach Schaltung als Hoch- oder Tiefpass wirkt. Einen Grenzfall des Hochpasses stellt der Koppelkondensator dar, der dazu dient, Gleichströme von überlagerten, höherfrequenten Wechselstromanteilen zu trennen. Das ist unter anderem nötig, um den Arbeitspunkt bei Analog-Verstärkern einstellbar zu halten.
Zusammen mit Spulen, die als Kenngröße eine bestimmte Induktivität aufweisen, ohmschen Widerständen und eventuell aktiven Bauelementen werden Kondensatoren in elektronischen Schaltungen auch für Schwingkreise, Bandfilter und Frequenzweichen verwendet. Dabei ergibt sich eine bestimmte Resonanzfrequenz. Entsprechende Schaltungen sind ebenfalls Hoch- oder Tiefpässe, lassen sich allerdings mit höherer Güte herstellen. Ein Beispiel dafür sind die Frequenzweichen in Lautsprechern.
Eine zeitdiskrete Variante von speziellen Filtern, die Kondensatoren in ihrem Aufbau verwenden, stellen die Switched-Capacitor-Filter dar. Weiters können in Filtern Spulen durch sogenannte Gyratoren nachgebildet werden: Dabei wird mit der Kapazität eines Kondensators unter Verwendung einer aktiven Schaltung die Induktivität einer Spule nachgebildet.
=== Wandler ===
Die sich an einem Kondensator aufbauende Spannung ist proportional dem Integral des Ladestromes über die Zeit. Auf diese Weise werden Kondensatoren zur Festlegung von Schaltzeiten genutzt, zum Beispiel bestimmt ein Kondensator die Schaltzeiten einer astabilen Kippstufe. Dazu wird ein Kondensator über eine Stromquelle geladen; seine Spannung nimmt proportional zur verstrichenen Zeit zu. Sobald die Spannung einen bestimmten Wert überschreitet, erfolgt ein Zustandswechsel der Schaltung. In ähnlicher Weise wird eine Reihe von Wandlerschaltungen realisiert:
Spannungs-Frequenz-Umformer: Diese Schaltung wandelt eine Eingangsspannung in eine dazu proportionale Frequenz um. Ein Kondensator wird zyklisch durch eine spannungsgesteuerte Konstantstromquelle bis zu einer vorgegebenen Spannung geladen, dann schlagartig entladen. Die Frequenz des sägezahnförmigen Spannungsverlaufes am Kondensator ist das Ausgangssignal.
Analog-Digital-Umsetzer nach dem slope-Prinzip: Dieser Wandler gleicht dem Spannungs-Frequenz-Wandler, arbeitet allerdings nicht zwingend zyklisch.
Zeitmessung: Hier wird die Stromquelle durch einen Impuls unbekannter Länge gesteuert, die Spannung des Kondensators nach dem Impulsende ist proportional zur Impulslänge.
Frequenz-Spannungs-Wandler: Zur Frequenzmessung werden im Takt der zu messenden Frequenz Impulse konstanter Länge erzeugt. Diese laden periodisch einen Kondensator, dem ein konstanter Entladestrom entnommen wird. Die Spannung am Kondensator ist das Ausgangssignal.Siehe auch: NE555, ein 1971 entwickelter integrierter Schaltkreis für Timer- oder Oszillator-Schaltungen.
=== Informationsspeicher ===
Der Ladungszustand eines Kondensators kann Information in digitaler oder analoger Form darstellen. Analoge Informationsspeicherung mittels eines Kondensators findet beispielsweise in der Abtast-Halte-Schaltung statt: während der Abtastphase wird ein Kondensator mit einer Eingangs-Signalspannung verbunden, von welcher er während der Haltephase getrennt wird. Der Spannungswert steht dann zur Weiterverarbeitung, typischerweise einer Analog-Digital-Wandlung (ADC), konstant zur Verfügung. Eine andere Art analoger Informationsspeicherung ist der Eimerkettenspeicher.
Zur Speicherung von großen Informationsmengen können einige Milliarden Kondensatoren in einer integrierten Schaltung zusammengefasst werden. Beispiele dafür sind dynamisches RAM (DRAM), Eraseable Programmable Read Only Memory (EPROM) und Flash-Speicher.
=== Kapazitätsnormal ===
Ein Kapazitätsnormal ist ein Kondensator mit höchster absoluter und relativer Kapazitätskonstanz gegenüber Temperaturänderungen und Alterung. Zusätzlich werden meist noch höchste Anforderungen an die elektrische Güte über einen großen Einsatzfrequenzbereich sowie an die dielektrische Absorption des verwendeten Dielektrikums von weniger als einigen Mikrovolt gestellt. Auch Thermospannungen sind hier unerwünscht. Diese Eich-Kapazitätsnormale werden zur Kalibrierung (Abgleich) hochwertiger Messgeräte, wie Präzisions-RLC-Messbrücken eingesetzt bzw. befinden sich in diesen Geräten.
=== Kondensatoren als Sensoren und Aktoren ===
Sonderbauformen von Kondensatoren sind als Sensoren für eine Reihe physikalischer Größen geeignet. Diese Größen bewirken eine Änderung der Kapazität oder der enthaltenen Ladung, beides kann durch eine nachfolgende Schaltung ausgewertet werden. Bei besonderen Konfigurationen sind nichtlineare Kondensatoren bekannt. Kondensatoren mit großen Toleranzen können aber auch unbeabsichtigt nichtlinear sein. Folienkondensatoren zum Beispiel können durch elektrostatische Anziehung nach der Aufladung eine größere Kapazität aufweisen.
Man kann die Messprinzipien in die beiden folgenden Gruppen einteilen:
==== Änderung der Elektrodengeometrie ====
Die Kapazität eines Kondensators ändert sich mit dem Abstand der Elektroden. So können Kondensatoren zur Abstands- und Dickenmessung verwendet werden, indem eine Elektrode mit der Messgröße mechanisch gekoppelt wird und sich so die Veränderung der Messgröße auf eine Veränderung des Plattenabstandes überträgt. So können zum Beispiel Lackschichtdicken oder der Abstand einer Düse bei der Laser-Materialbearbeitung bestimmt werden. In diese Gruppe gehören auch der kapazitive Näherungsschalter und der kapazitive Touchscreen. Bei letzterem wird der Abstand zum Finger ortsaufgelöst ausgewertet.
Auch Beschleunigung kann auf diese Weise erfasst werden: Aufgrund der Massenträgheit einer beweglichen Elektrode zum Beispiel in einem mikromechanischen Beschleunigungssensor ändert eine Beschleunigung den Abstand zwischen den Elektroden eines Kondensators. In ähnlicher Art sind Drucksensoren (Manometer) aufgebaut – eine Druckänderung ruft eine Abstandsänderung der Platten hervor. Nach diesem Prinzip funktioniert auch das Kondensatormikrofon, das den Schalldruck oder den Schalldruckgradienten in ein elektrisches Signal wandelt.
Unter anderem der elektrostatische Lautsprecher nutzt die elektrostatische Anziehungskraft der Elektroden aus. Die Druckkraft
p
{\displaystyle p}
auf die im Abstand
z
{\displaystyle z}
befindlichen planparallelen Platten eines Kondensators bei der Spannung
U
{\displaystyle U}
beträgt
p
=
1
2
ε
0
ε
r
U
2
z
2
{\displaystyle p={\frac {1}{2}}\varepsilon _{0}\varepsilon _{r}{U^{2} \over z^{2}}}
mit
ε
0
ε
r
{\displaystyle \varepsilon _{0}\varepsilon _{r}}
– Permittivität
Der Druck ist somit vom Quadrat der Feldstärke abhängig und lässt sich durch Verwenden durchschlagsfester Materialien mit hohem
ε
r
{\displaystyle \varepsilon _{r}}
stark steigern, siehe auch Dielektrische Elastomere.
Alternativ kann eine Messgröße auch die Überdeckung der Elektroden verändern, wodurch sich ebenfalls die Kapazität ändert. So lassen sich bspw. Winkel messen, indem kreissegmentförmige Elektroden gegeneinander verdreht werden, ähnlich dem weiter unten beschriebenen Drehkondensator.
==== Änderung des Dielektrikums ====
Bei einem kapazitiven Hygrometer beeinflusst die Luftfeuchtigkeit die Dielektrizitätszahl eines speziellen Isolationsmaterials und auf diese Weise die Kapazität.
Ebenfalls auf einer Änderung der Dielektrizitätszahl beruht der kapazitive Füllstandssensor. Hier sind die Elektroden so befestigt, dass sie mit zunehmendem Füllstand weiter in die Flüssigkeit eintauchen. Durch die höhere Permittivität der Flüssigkeit nimmt die Kapazität mit zunehmender Tauchtiefe zu.
== Bauarten und Bauformen ==
Im Laufe der Geschichte der Kondensatoren haben sich viele industriell genutzte Bauarten, auch Familien oder Technologien genannt, entwickelt. Diese werden gemäß der Eingruppierung in den internationalen und nationalen Normen in Kondensatoren mit fester Kapazität, die „Festkondensatoren“, und Kondensatoren mit veränderbarer Kapazität, die „Veränderbaren oder Variablen Kondensatoren“, unterteilt.
=== Kondensatoren mit fester Kapazität, Festkondensatoren ===
Festkondensatoren haben einen definierten und mit einer Toleranz versehenen Kapazitätswert. Es gibt sie je nach den technischen Anforderungen wie Spannungsfestigkeit, Strombelastbarkeit, Kapazitätsstabilität, Temperaturkoeffizient, Einsatzfrequenzbereich, Temperaturbereich oder Montageart (SMD-Ausführung) sowie nach wirtschaftlichen Anforderungen (Preis) in zahlreichen verschiedenen Technologie-Familien, Ausführungen oder Bauformen.
Die wichtigsten industriell hergestellten Festkondensatoren sind Keramik-, Kunststoff-Folien-, Aluminium- und Tantal- Elektrolytkondensatoren und Superkondensatoren, früher „Doppelschichtkondensatoren“ genannt. Keramik- und Kunststoff-Folienkondensatoren besitzen Kapazitätswerte im Bereich weniger Pikofarad bis zu etwa 100 Mikrofarad. Elektrolytkondensatoren beginnen bei etwa 1 Mikrofarad und erstrecken sich bis in den Farad-Bereich. Darüber hinaus haben Superkondensatoren Kapazitätswerte bis in den Kilofaradbereich.
==== Keramikkondensatoren ====
Keramikkondensatoren haben keramische Dielektrika mit Spannungsfestigkeiten von 10 bis zu 100.000 V bei verschieden hoher Permittivität. Sie bilden eine große Gruppe von Kondensatoren im unteren Kapazitätsbereich (0,5 pF bis zu 100 µF oder mehr). Die verwendeten Keramikarten gehören einerseits zu den paraelektrischen Materialien mit feldstärkeunabhängiger relativer Permittivität, beispielsweise Titandioxid (TiO2), andererseits zu den ferroelektrischen Materialien mit feldstärkeabhängiger relativer Permittivität, wie Bariumtitanat (BaTiO3). Keramikkondensatoren werden aus fein gemahlenen Granulaten durch Sinterung im Temperaturbereich zwischen 1200 und 1400 °C hergestellt. Durch geeignete Zusatzstoffe (Aluminium-Silikate, Magnesium-Silikate, Aluminiumoxide) kann die relative Permittivität εr eines Keramikkondensators zwischen 6 und 14.000 liegen. Die Keramikkondensatoren werden anhand ihrer Keramikart und damit zusammenhängend ihren elektrischen Eigenschaften in zwei Klassen eingeteilt: Klasse-1-Kondensatoren, die sich für Hochfrequenz- und Filteranwendungen eignen, und Klasse-2-Kondensatoren, die als Energiespeicher und Siebkondensator eingesetzt werden.
==== Kunststoff-Folienkondensatoren ====
Kunststoff-Folienkondensatoren verwenden Folien aus Kunststoff oder Kunststoffmischungen als Dielektrikum und werden in zwei Ausführungen hergestellt:
Kunststoff-Folienkondensatoren mit Metallbelägen bestehen aus je zwei Kunststofffolien, die beide mit einer Metallfolie, meist aus Aluminium, belegt sind und gemeinsam zu einem Wickel aufgerollt werden. Bei den üblichen kleineren Bauformen ragen die Metallfolien abwechselnd entgegengesetzt über die Kunststofffolie hinaus, so dass auf jeder Seite des Wickels eine der Metallfolien übersteht, die dann großflächig und induktionsarm mit dem jeweiligen Anschluss kontaktiert wird.
Metallisierte Kunststoff-Folienkondensatoren bestehen im einfachsten Fall aus zwei Kunststofffolien, die jeweils einseitig mit Aluminium bedampft sind. Diese werden mit leichtem seitlichem Versatz so aufgewickelt, dass die metallisierten Folien an gegenüberliegenden Seiten aus dem Wickel heraus stehen und somit kontaktiert werden können. Diese Bauform gibt es auch als Schichtkondensatoren – die Lagen werden zu einem großen Block geschichtet, aus dem die einzelnen Kondensatoren herausgesägt werden. Metallisierte Kunststoff-Folienkondensatoren sind, wie MP-Kondensatoren, bei einem Durchschlag selbstheilend, da die dünne Metallschicht der Beläge vom Spannungsdurchschlags-Lichtbogen um den Durchschlagskanal herum verdampft.
==== Metallpapierkondensatoren ====
Metallpapierkondensatoren (MP-Kondensatoren) bestehen aus je zwei mit Aluminium metallisierten Papierstreifen (Isolierpapier), die mit einer weiteren Papierfolie zu einem Wickel aufgerollt und in einem Becher eingebaut werden. Der Wickel wird mit einem Isolieröl imprägniert, wodurch die Spannungsfestigkeit erhöht und der Verlustfaktor verringert wird. MP-Kondensatoren finden vor allem als Leistungskondensatoren im Bereich der Leistungselektronik und für Netzanwendung als Entstörkondensator Verwendung. Sie sind auf Grund der metallisierten Beläge, wie vergleichbare Kunststoff-Folienkondensatoren, selbstheilend.
==== Elektrolytkondensatoren ====
Elektrolytkondensatoren (auch Elko genannt) sind gepolte Kondensatoren, deren Anoden-Elektrode aus einem Metall (Aluminium, Tantal und Niob) besteht, auf dem durch Elektrolyse (anodische Oxidation, Formierung) eine äußerst dünne, elektrisch isolierende Schicht aus dem Oxid des Anodenmetalls erzeugt wird, die das Dielektrikum des Kondensators bildet. Zur Vergrößerung der Oberfläche wird die Anode strukturiert, bei Aluminium-Elkos wird die Anodenfolie aufgeraut, bei Tantal- und Niob-Elkos wird Metallpulver zu einem schwammartigen Körper gesintert. Der Elektrolyt kann aus einem flüssigen Elektrolyten (Ionenleiter) oder einem festen Elektrolyten (Elektronenleiter) bestehen und bildet die Kathode des Elektrolytkondensators, die sich der strukturierten Oberfläche der Anode perfekt anpassen muss. Die Stromzuführung zum Elektrolyten erfolgt über Folien gleichen Metalls wie das der Anode oder über eine andere geeignete Kontaktierung. Elektrolytkondensatoren sind, mit Ausnahme bipolarer Elektrolytkondensatoren, immer gepolte Bauelemente, die Anode ist der positive Anschluss. Sie dürfen niemals mit falsch gepolter Spannung betrieben werden (Explosionsgefahr) und können schon bei geringer Überspannung zerstört werden. Zur besseren Verpolungssicherheit gibt es Bauformen mit drei Pins, welche in Form eines unregelmäßigen Dreiecks angeordnet sind und daher nur in einer bestimmten Position in die Platine gelötet werden können. Der dritte Pin ist je nach Hersteller entweder unbeschaltet, mit dem Gehäuse oder mit der Kathode verbunden. Durch gegenpolige Serienschaltung zweier Anodenfolien in einem Kondensatorgehäuse werden für spezielle Anwendungen (zum Beispiel Tonfrequenzweichen) auch Bipolar-Elektrolytkondensatoren für Wechselspannungsbetrieb hergestellt. Neueste Entwicklungen auf dem Gebiet der Elektrolytkondensatoren sind Aluminium- und Tantal-Elektrolytkondensatoren mit Polymer-Elektrolyten aus leitfähigen Polymeren, die sich durch besonders geringe interne ohmsche Verluste auszeichnen.
==== Superkondensatoren ====
Superkondensatoren, früher "Doppelschichtkondensatoren" genannt, (englisch electrochemical double layer capacitor, EDLC) haben die größte Energiedichte aller Kondensatoren. Ihre hohe Kapazität, bezogen auf das Bauvolumen, basiert einerseits auf dem physikalischen Phänomen äußerst dünner elektrisch isolierender Helmholtz-Doppelschichten an den Oberflächen spezieller großflächiger Elektrodenmaterialien, in denen die elektrische Energie statisch als Doppelschichtkapazität in elektrischen Feldern gespeichert wird. Andererseits stammt sehr oft ein weiterer Anteil an der hohen Kapazität aus einer sogenannten Pseudokapazität, einer innerhalb enger Grenzen spannungsabhängigen elektrochemischen bzw. faradayschen Speicherung elektrischer Energie, die mit in einer Redoxreaktion und mit einem Ladungsaustausch an den Elektroden verbunden ist, wobei allerdings im Gegensatz zu Akkumulatoren an den Elektroden keine chemische Stoffänderung eintritt. Die Pseudokapazität kann durch spezielle Elektroden bei gleichem Bauvolumen einen erheblich größeren Wert als die Doppelschichtkapazität erreichen.
Der jeweilige Anteil der Doppelschichtkapazität und der Pseudokapazität an der Gesamtkapazität des Kondensators wird in sehr grober Verallgemeinerung durch die Namensgebung solcher Kondensatoren in industriellen Veröffentlichungen erkennbar.
Doppelschichtkondensatoren
speichern die elektrische Energie überwiegend in Helmholtz-Doppelschichten ihrer Elektroden und haben keinen oder nur einen geringen Anteil von Pseudokapazität an der Gesamtkapazität (bis etwa 10 %)
Pseudokondensatoren
weisen aufgrund ihrer Elektrodenkonstruktion mit hoher Redoxkapazität meist einen zum Teil deutlich höheren Anteil an der Pseudokapazität auf, wodurch sie eine höhere spezifische Kapazität als Doppelschichtkondensatoren haben.
Hybridkondensatoren
sind Superkondensatoren mit einer statischen Doppelschichtelektrode und einer elektrochemischen Redox-Elektrode, wobei die Redox-Elektrode aus einer anderen Technologie, beispielsweise aus dem Bereich der Akkumulatoren oder der Elektrolytkondensatoren, ähneln kann.Bei allen Superkondensatoren bildet der Elektrolyt die leitfähige Verbindung zwischen zwei Elektroden. Das unterscheidet sie von Elektrolytkondensatoren, bei denen der Elektrolyt die Kathode bildet, der Elektrolyt also eine Elektrode ist, die mit dem negativen Anschluss des Kondensators verbunden ist. Superkondensatoren sind, wie Elektrolytkondensatoren, gepolte Bauelemente, die nur mit korrekter Polarität betrieben werden dürfen.
Superkondensatoren werden unter vielen unterschiedlichen Handelsnamen wie BestCap, BoostCap, DLCAP, EVerCAP, DynaCap, Faradcap, GreenCap, Goldcap, SuperCap, PAS, PowerStor oder Ultracapacitor sowie die Lithium-Ionen-Kondensatoren unter Premlis, EneCapTen, Ultimo oder LIC angeboten.
==== Weitere Bauarten ====
Vakuumkondensatoren
Sie sind bei großen hochfrequenten Strömen und Spannungen im Kilovolt-Bereich vorteilhaft und werden vorzugsweise bei Sendern hoher Leistung eingesetzt. Es gibt auch Bauformen mit variabler Kapazität.
Glas-Dielektrikum
erlaubt einen hohen Temperaturbereich von −75 bis +200 °C; typische Werte sind 300 pF bis 100 nF.
Kondensatoren auf Siliziumsubstrat
In integrierten Schaltkreisen werden Kondensatoren konventionell durch eine Schichtfolge von Silizium, Siliziumoxid, Aluminium hergestellt. Silizium und Aluminium bilden dabei die Elektroden des Kondensators; das Siliziumoxid (auch Siliziumnitrid) bildet das Dielektrikum. Sind besonders viele Kondensatoren erforderlich, wie in Halbleiterspeichern, so kommen auch schwieriger zu verarbeitende Dielektrika mit höherer Dielektrizitätszahl zum Einsatz. In besonderen Fällen, wenn der Speicherinhalt ohne Energieversorgung erhalten bleiben soll, auch Ferroelektrika. Nach einem ähnlichen Verfahren werden auch diskrete Kondensatoren hergestellt, die bei Frequenzen bis in den Gigahertz-Bereich gute Eigenschaften besitzen.
Glimmerkondensatoren
haben ein Dielektrikum aus dem natürlich vorkommenden Mineral Glimmer. Dieses weist eine hohe Spannungsfestigkeit auf und ist aufgrund seiner Schichtstruktur spaltbar in dünne Blättchen bis hinab zu 20 µm Dicke, die meist mit Silber als Elektrodenbeläge bedampft werden. Glimmerkondensatoren werden aufgrund der niedrigen Verlustfaktoren in der Sendetechnik und aufgrund ihrer hohen Kapazitätskonstanz und geringen Kapazitätstoleranz in Messnormalen und in Filter- und Schwingkreisanwendungen für hohe Anforderungen eingesetzt. Sie werden, nach dem englischen Wort für Glimmer, oft auch als Mica-Kondensatoren bezeichnet.Neben der Unterteilung von Kondensatoren nach verwendetem Dielektrikum bzw. bei Elkos nach der Kathode kann auch eine Klassifizierung nach Anwendungsbereich oder nach Bauform erfolgen. Wichtige Beispiele sind:
Leistungskondensatoren
sind Metallpapier- oder Kunststoff-Folienkondensatoren. Sie können direkt an Versorgungsnetzspannung betrieben werden und zeichnen sich durch eine größere Bauform, je nach Leistungsbereich durch Steck- oder Schraubanschlüsse sowie meist durch erdbare Blechgehäuse aus und sind funktionell für eine hohe Strombelastbarkeit vorgesehen.
Durchführungskondensatoren
sind meist koaxial aufgebaute Kondensatoren, oft Keramikkondensatoren, die eine elektrische Leitung durch eine leitfähige Wandung (Abschirmung) führen. Der innen liegende Anschluss ragt beidseitig an den Enden eines leitfähigen Belags aus dem Kondensator heraus und bildet die Durchführung für eine elektrische Verbindung. Die außen liegende Elektrode des Kondensators wird mit der Wandung kontaktiert. Die Kapazität, die zwischen Innen- und Außenanschluss wirkt, leitet hochfrequente Störungen, zum Beispiel einkoppelnde Funkwellen aus der Umgebung, aus einer Geräte-Zuleitung gegen Masse ab.
Schutzringkondensatoren
sind eine spezielle Bauform eines Plattenkondensators, um Randeffekte in Messvorgängen zu reduzieren.
=== Bauformen von Festkondensatoren ===
Die heutzutage industriell genutzten Bauformen von Festkondensatoren spiegeln die Entwicklung der industriellen Technik der letzten 100 Jahre wider. Die Bauformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden noch mechanisch mit Schrauben befestigt und die Anschlüsse per Hand gelötet oder auch angeschraubt. Der Preisdruck in der Fertigung führte Mitte des 20. Jahrhunderts zur Leiterplattentechnik. Dafür wurden bedrahtete Bauteile benötigt und die Kondensatoren wurden entsprechend mit Anschlussdrähten entwickelt. Aus zunächst liegenden Bauformen mit axialen Anschlüssen wurden, um mit kompakteren Leiterplatten Kosten einzusparen, etwas später radiale, stehende Bauformen. Diese werden häufig, bei gleichen elektrischen Werten, mit verschieden großen Abständen der Anschlüsse, dem Rastermaß (RM), angeboten.
Im Zuge der Miniaturisierung und Standardisierung, getrieben von der Entwicklung immer umfangreicherer Schaltungen, begann in den 1980er Jahren der Siegeszug der oberflächenmontierbaren Bauelemente, der sog. SMD-Chips. Sie ermöglichen kompaktere Leiterplatten bei höherer Fertigungsqualität und niedrigeren Prozesskosten.
Neben den Bauteilen für das industrielle Massengeschäft finden sich aber auch weiterhin Bauformen, die sich aus speziellen Anforderungen der jeweiligen Schaltung ergeben. Beispielsweise die Flachbandanschlüsse von Folienkondensatoren für eine hohe Impuls-Strombelastbarkeit, die Schraubanschlüsse großer Aluminium-Elektrolytkondensatoren für hohe Strombelastbarkeit oder spezielle Bauformen für zum Beispiel Durchführungskondensatoren.
Auch Integrierte Schaltungen enthalten eine große Zahl von Kondensatoren. Je nach Anforderung können diese zwischen unterschiedlichen Schichten des ICs mit zwischenliegendem Isolator (=Dielektrikum) bestehen. Die Kondensatorplatten können z. B. aus verschiedenen Metall- oder Polysilizium-Schichten bestehen. Besonders bei DRAMs besteht jede Speichzelle üblicherweise aus einem Kondensator mit zugehörigem Transistor. Siehe auch MIS-Kondensator.
=== Variable Kondensatoren ===
Variable Kondensatoren sind elektrische Kondensatoren, deren Kapazität in definierten Grenzen manuell oder mit einer geregelten Motorsteuerung stufenlos und reproduzierbar eingestellt werden kann. Sie werden überwiegend in Filtern und Oszillatoren für die Abstimmung von Sendern oder Empfängern sowie zur Impedanzanpassung eingesetzt, wobei sie durch die Möglichkeit der Einstellbarkeit die sonst erforderlichen einzelnen Kondensatoren der vielen Einzelkreise mit unterschiedlicher Frequenz ersetzen.
Es gibt mechanische und elektrische variable Kondensatoren.
Die mechanisch-variablen Kondensatoren gehören zu den Passiven Bauelementen und werden unterschieden in Drehkondensatoren, die zur Senderabstimmung für häufige und wiederholende Betätigungen ausgelegt sind und Trimmkondensatoren (Trimmer), die für einmalige oder seltene Betätigungen zur Feinabstimmung ausgelegt sind.
Die meisten Bauformen der mechanisch-variablen Kondensatoren haben nur noch historische Bedeutung, auch die anschaulichen, mit Luft-Dielektrikum arbeitenden Drehkondensatoren, die typisch für die Sendereinstellung älterer Radios waren. Diese mechanischen Kondensatoren sind seit den 1970er Jahren durch Kapazitätsdioden abgelöst oder durch VCO-gesteuerte PLL-Schaltungen ersetzt worden.
Heutzutage (2017) noch benötigte mechanische Bauformen sind u. A.
Variable Vakuumkondensatoren für Geräte mit höheren Leistungen wie z. B. in MRT-Scannern.
Multiturn-Rohrtrimmer, die sich aufgrund des wirksamen Drehwinkels der Spindel, der ein Mehrfaches von 360 Grad (Multiturn) beträgt, recht präzise einstellen lassen und für Mikrowellen-Anwendungen in Radargeräten sowie in medizinischen und industriellen Geräten bis zu 100 GHz geeignet sind.
SMD-Trimmer mit kleinsten Abmessungen in Kreisen mit sehr kleinen Leistungen für z. B. Mobiltelefone, ferngesteuerte Zugangssysteme, Überwachungskameras, DVD-Geräte und Einbruchsicherungen., sowie
Laser-Abgleichkondensatoren, deren oberste Elektrode mit Hilfe eines präzise steuerbaren Laserstrahles schrittweise verdampft werden kann. Somit lässt sich ein gewünschter Kapazitätswert mit einer sehr großen Genauigkeit einstellen.Ein einstellbarer Kapazitätswert kann für Kreise mit kleineren Leistungen auch durch elektrisch-variable Kondensatoren, auch Varaktoren genannt (Varactors), bewerkstelligt werden. Diese Kondensatoren gehören zu den Aktiven Bauelementen und nutzen die Eigenschaften der Halbleitertechnik aus, um eine variable Kapazität zu erhalten. Zu den elektrisch-variablen Kondensatoren gehören
Kapazitätsdioden (Varicap diode), in denen durch elektrisch beeinflussbare Änderung der Raumladungszone der Elektrodenabstand und somit die Kapazität variiert werden kann.
Dielektrisch-variable Kondensatoren (Dielectric varactors), beispielsweise integrierte variable BST-Kondensatoren bzw. BST-Varaktoren (BST varactors), deren Besonderheit das Dielektrikum aus dem ferroelektrischen Material Barium-Strontium-Titanat (BST) ist. BST hat eine relativ hohe relative Permittivität, die abhängig von der Feldstärke im Dielektrikum ist. Damit ist die Kapazität der BST-Varaktoren abhängig von der anliegenden Spannung.,
Digital-variable Kondensatoren (Digitally Tunable Capacitors (DTC)) sind Anordnungen mehrerer integrierter Kondensatoren in Integrierten Schaltungen unterschiedlicher Halbleitertechnologien, die über digital-codierte Schalter parallel/seriell so geschaltet werden können, das ein gewünschter Kapazitätswert erreicht wird, der zur Abstimmung eines Schwingkreises oder Filters benötigt wird. und
Elektrisch-variable RF-MEMS-Kondensatoren (Tunable RF MEMS capacitors), in denen die Kraft ausgenutzt wird, mit der sich gegenpolig geladene bewegliche Elektroden in Mikro-Elektromechanischen Systemen beim Anlegen einer Spannung anziehen, um elektrisch einstellbare Kapazitätswerte zu erzeugen.Die Parameter dieser elektrisch-variablen Kondensatoren werden durch spezielle Eigenschaften der Halbleitertechnik stark beeinflusst. U. a. führen die kleinen Dimensionen zu deutlich kleineren realisierbaren Kapazitätswerten, wodurch allerdings die Eignung dieser Kondensatoren für höhere Frequenzen bis zu einigen 100 GHz möglich wird. Sie werden u. a. in modernen stationären und mobilen Empfangsgeräten in Filtern zur Frequenzselektion eingesetzt.
=== Kennzeichnungen ===
Bei Kondensatoren gibt es keine so einheitliche Kennzeichnung wie bei Widerständen. Einige häufige Varianten sind unten aufgelistet. Weitere Informationen sind über die Weblinks unten zu finden.
==== Kennzeichnung der Kapazität ====
473: Die ersten beiden Ziffern geben den Wert in Pikofarad an, die dritte die Anzahl der nachfolgenden Nullen. 473 bedeutet also 47 × 103 pF = 47000 pF = 47 nF.
18: Oft auf keramischen bedrahteten Kondensatoren als Aufdruck zu finden, bedeutet eine Angabe in Pikofarad, hier also 18 pF.
3n9: Bedeutet 3,9 nF.
.33 K 250: Die erste Zahl gibt den Wert in Mikrofarad an, also 0,33 µF = 330 nF. K steht für eine Kapazitätstoleranz von 10 % und 250 für die Nennspannung in Volt, für die der Kondensator ausgelegt ist und die dauernd im gesamten spezifizierten Temperaturbereich angelegt werden darf (J, K und M stehen respektive für ±5 %, ±10 % und ±20 %).
Für die zunehmend seltener werdende axiale Bauform waren auch Farbcodes üblich.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden vor allem Papierkondensatoren, welche in den damals aufkommenden ersten Röhrenempfängern für den Rundfunkempfang eingesetzt wurden, häufig mit der Einheit „cm“ beschriftet, der Kapazitätseinheit im kaum noch gebrauchten elektrostatischen CGS-Einheitensystem.
Die nebenstehende Abbildung zeigt einen Papierkondensator der Firma SATOR aus dem Jahr 1950 mit einer Kapazität laut Aufdruck von „5.000 cm“ bei einer Prüfspannung von „2.000 V“. Das wäre eine Kapazität von zirka 5,6 nF im üblichen SI-Einheitensystem. Eine Kapazität von 1 cm im CGS-Einheitensystem entspricht 1,1 pF im SI-Einheitensystem, der Umrechnungsfaktor ist 4 πε0.
==== Weitere Kennzeichnungen ====
Oft wird auch bei Elektrolytkondensatoren ein in mehreren Ziffern codierter Datumscode aufgedruckt, um das Herstellungsdatum erkennen zu können, da Elektrolytkondensatoren in Abhängigkeit von der Zeit ihre Kapazität verringern können; zum Beispiel 2313 : 2 = 2002, 3 = März, 13 = 13. Tag, also 13. März 2002. Der Aufbau der Codes kann sich bei verschiedenen Herstellern unterscheiden, da nur wenige sich nach einheitlichen Normen richten. (Siehe auch Kennzeichnung von Elektrolytkondensatoren)
Sofern es die Bauform des Kondensators zulässt, wird auch der Hersteller, der Betriebstemperaturbereich, die Spannungsfestigkeit und eine Baureihenbezeichnung angebracht, die Aufschluss über den verwendeten Isolator gibt.
Keramikkondensatoren werden mit ihrer Toleranz und dem gültigen Temperaturbereich gekennzeichnet.
Die Bezeichnungen X1, X2, X3 sowie Y1 bis Y4 dienen der Kennzeichnung von Entstörkondensatoren zur Verwendung in Netzfiltern im Niederspannungsnetz. X-Kondensatoren werden zwischen Außenleiter und Neutralleiter eingesetzt. Der X1-Typ hält einem Spannungsimpuls von 4 kV stand, X2 von 2,5 kV. Durch eine spezielle Konstruktion geraten sie auch bei Überlastung nicht in Brand. Die Y-Typen werden eingesetzt, wenn eine Schutzisolierung überbrückt wird und deren Defekt zu einem Stromschlag führen kann; sie halten Spannungsimpulsen der doppelten Höhe stand.
=== Schaltzeichen ===
In den unten abgebildeten Schaltzeichen symbolisieren die horizontalen Flächen die separierten Elektroden. In Europa sind elektrische Schaltzeichen in EN 60617 Graphische Symbole für Schaltpläne bzw. IEC 60617 genormt. Im nordamerikanischen Raum kommen die Normen ANSI/IEEE Std 91a–1991 IEEE Graphic Symbols for Logic Functions, IEEE Std 315–1986 (Reaffirmed 1993) / ANSI Y32.2–1975 (Reaffirmed 1989) / CSA Z99–1975 Graphic Symbols for Electrical and Electronics Diagrams zum Einsatz.
=== Normung und Ersatzschaltbild ===
Diskrete Kondensatoren sind Industrieprodukte, von denen etwa 1400 Milliarden (1,4·1012) Einheiten im Jahre 2008 hergestellt und eingebaut wurden. Für Kondensatoren werden die elektrischen Werte und die Kriterien ihrer Messverfahren im internationalen Bereich harmonisiert durch die Rahmenspezifikation IEC 60384-1, die in Deutschland als DIN EN 60384-1 (VDE 0565-1) im Mai 2010 erschienen ist. Diese Norm definiert zunächst die elektrischen Werte eines Kondensators mit Hilfe eines Serien-Ersatzschaltbildes. Darin sind:
C die Kapazität des Kondensators,
Risol, der Isolationswiderstand des Dielektrikums bzw. RLeak, der Widerstand, der den Reststrom bei Elektrolytkondensatoren repräsentiert,
ESR (engl. Equivalent Series Resistance), der äquivalente Serienwiderstand, in ihm sind die ohmschen Leitungs- und die dielektrischen Umpolungsverluste des Kondensators zusammengefasst
ESL (engl. Equivalent Series Inductivity L), die äquivalente Serieninduktivität, sie fasst die parasitäre Induktivität des Bauelementes zusammen.Mit diesem Ersatzschaltbild, den Vorschriften in der DIN EN 60384-1 und den jeweiligen untergeordneten Bauartspezifikationen können Betriebszustände von Kondensatoren so beschrieben werden, dass für definierte Randbedingungen (Frequenz, Temperatur, anliegende Spannung) reproduzierbare Messergebnisse erzielt werden können.
== Elektrotechnische und systemtheoretische Beschreibung ==
Für die unterschiedlichen Anwendungsbereiche wurde eine Reihe von Beschreibungen entwickelt, die bestimmte Aspekte des Verhaltens eines Kondensators hervorheben.
=== Feldenergie ===
Ein geladener Kondensator speichert elektrische Energie in dem elektrischen Feld, das zwischen den geladenen Platten besteht. Ist ein Kondensator der Kapazität
C
{\displaystyle C}
auf die Spannung
U
{\displaystyle U}
geladen, so enthält sein Feld die Energie
E
{\displaystyle E}
gemäß:
E
=
1
2
⋅
C
⋅
U
2
{\displaystyle E={\frac {1}{2}}\cdot C\cdot U^{2}}
Zum Laden eines Kondensators werden elektrische Ladungen von der einen Platte zur anderen transportiert. Je weiter der Kondensator während dieses Vorgangs bereits aufgeladen ist, desto stärker ist das bereits zwischen seinen Platten herrschende elektrische Feld
E
{\displaystyle E}
, desto mehr Kraft wird ausgeübt, um die Ladung von einer Platte zur anderen zu bringen. Mit steigender Spannung des Kondensators wird daher zunehmend mehr Arbeit für eine weitere Spannungserhöhung verrichtet. Am Schluss ist die während des Aufladens verrichtete Gesamtarbeit als Feldenergie gespeichert. Beim Entladen wird diese wieder frei.
=== Lade- und Entladevorgang ===
Für einen Lade- oder Entladevorgang gelten mit
τ
=
R
C
⋅
C
{\displaystyle \tau =R_{\text{C}}\cdot C}
die Zusammenhänge
u
C
(
t
)
=
U
0
+
Δ
U
⋅
e
−
t
τ
=
U
0
+
(
U
C
,
t
0
−
U
0
)
⋅
e
−
t
τ
{\displaystyle u_{\text{C}}(t)=U_{0}+\Delta U\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}=U_{0}+\left(U_{{\text{C}},t_{0}}-U_{0}\right)\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}}
und
i
C
(
t
)
=
u
C
(
t
)
R
C
=
U
0
R
C
+
Δ
U
R
C
⋅
e
−
t
τ
{\displaystyle i_{\text{C}}(t)={\frac {u_{\text{C}}(t)}{R_{\text{C}}}}={\frac {U_{0}}{R_{\text{C}}}}+{\frac {\Delta U}{R_{\text{C}}}}\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}}
.Dabei ist
e
{\displaystyle e}
die Eulersche Zahl
u
C
(
t
)
{\displaystyle u_{\text{C}}(t)}
die Kondensatorspannung zum Zeitpunkt
t
{\displaystyle t}
i
C
(
t
)
{\displaystyle i_{\text{C}}(t)}
der Ladestrom zum Zeitpunkt
t
{\displaystyle t}
U
0
{\displaystyle U_{0}}
die Quellspannung, welche am Kondensator anliegt
U
C
,
t
0
{\displaystyle U_{{\text{C}},t_{0}}}
die Kondensatorspannung zum Zeitpunkt
t
=
0
{\displaystyle t=0}
Δ
U
{\displaystyle \Delta U}
die Differenz zwischen Kondensatorspannung und Quellspannung
τ
{\displaystyle \tau }
die Zeitkonstante des Kondensators
R
C
{\displaystyle R_{\text{C}}}
der Innenwiderstand des Kondensators, bzw. die Summe aus Innen- und Vorwiderstand bei einem RC-Glied
C
{\displaystyle C}
die Kapazität des Kondensators
=== Ladevorgang ===
Während des Ladevorgangs eines Kondensators über ein RC-Glied lassen sich Spannungs- sowie Stromverlauf (in der Zeit) durch folgende e-Funktionen beschreiben:
u
C
(
t
)
=
U
0
⋅
(
1
−
e
−
t
τ
)
=
U
0
⋅
(
1
−
e
−
t
R
C
⋅
C
)
{\displaystyle u_{\mathrm {C} }(t)=U_{0}\cdot {\biggl (}1-e^{-{\frac {t}{\tau }}}{\biggr )}=U_{0}\cdot {\biggl (}1-e^{-{\frac {t}{R_{\mathrm {C} }\cdot C}}}{\biggr )}}
und
i
C
(
t
)
=
U
0
R
C
⋅
e
−
t
τ
=
I
0
⋅
e
−
t
R
C
⋅
C
{\displaystyle i_{\mathrm {C} }(t)={\frac {U_{0}}{R_{\mathrm {C} }}}\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}=I_{0}\cdot e^{-{\frac {t}{R_{\mathrm {C} }\cdot C}}}}
mit
u
C
{\displaystyle u_{\mathrm {C} }}
als Momentanwert der Spannung am Kondensator,
i
C
{\displaystyle i_{\mathrm {C} }}
als Momentanwert des Stroms am Kondensator,
R
C
{\displaystyle R_{\mathrm {C} }}
als ohmscher (Vor-)Widerstand des Kondensators (im Stromkreis),
τ
=
R
C
⋅
C
{\displaystyle \tau =R_{\mathrm {C} }\cdot C}
als Zeitkonstante und
U
0
{\displaystyle U_{0}}
als Ladespannung. Ein Kondensator erreicht nach einer Ladezeit von
τ
{\displaystyle \tau }
eine Spannung in Höhe von
0,632
⋅
U
0
{\displaystyle 0{,}632\cdot U_{0}}
; nach einer Ladezeit von nur rund
0
,
69
⋅
τ
{\displaystyle 0{,}69\cdot \tau }
hat ein Kondensator bereits 50 % seiner endgültigen beziehungsweise ursprünglichen Spannung erreicht. Er ist nach einer Ladezeit von
t
C
≈
5
τ
{\displaystyle t_{\mathrm {C} }\approx 5\tau }
zu rund 99 % aufgeladen.
=== Entladevorgang ===
Der Verlauf der elektrischen Spannung und des elektrischen Stroms (in der Zeit) während des Entladevorgangs eines Kondensators lassen sich folgendermaßen als Funktionen darstellen:
u
C
(
t
)
=
U
0
⋅
e
−
t
τ
=
U
0
⋅
e
−
t
R
C
⋅
C
{\displaystyle u_{\mathrm {C} }(t)=U_{0}\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}=U_{0}\cdot e^{-{\frac {t}{R_{\mathrm {C} }\cdot C}}}}
sowie
i
C
(
t
)
=
−
U
0
R
C
⋅
e
−
t
τ
=
−
I
0
⋅
e
−
t
R
C
⋅
C
{\displaystyle i_{\mathrm {C} }(t)=-{\frac {U_{0}}{R_{\mathrm {C} }}}\cdot e^{-{\frac {t}{\tau }}}=-I_{0}\cdot e^{-{\frac {t}{R_{\mathrm {C} }\cdot C}}}}
mit
U
0
{\displaystyle U_{0}}
als Spannung des geladenen Kondensators. An einem Kondensator liegt nach einer Entladezeit von
τ
{\displaystyle \tau }
nur noch eine Spannung von
0,368
⋅
U
0
{\displaystyle 0{,}368\cdot U_{0}}
(= 1/e) an; nach einer Entladezeit von näherungsweise
0
,
69
⋅
τ
{\displaystyle 0{,}69\cdot \tau }
ist die Spannung auf die Hälfte gesunken. Nach einer Entladezeit von
t
C
≈
5
τ
{\displaystyle t_{\mathrm {C} }\approx 5\tau }
ist die Spannung auf rund 1 % gesunken (Restströme/Leckströme sind zu beachten).
=== Zeitbereich ===
Eine Beziehung zwischen Strom und Spannung ergibt sich durch die zeitliche Ableitung der Elementgleichung des Kondensators
Q
:=
Q
(
t
)
=
C
(
t
)
⋅
U
(
t
)
{\displaystyle Q:=Q(t)=C(t)\cdot U(t)}
:
I
=
d
Q
d
t
=
d
C
d
t
⋅
U
(
t
)
+
C
(
t
)
⋅
d
U
d
t
=
C
⋅
d
U
d
t
,
falls
C
(
t
)
:=
C
:=
const.
{\displaystyle I={\frac {\mathrm {d} Q}{\mathrm {d} t}}={\frac {\mathrm {d} C}{\mathrm {d} t}}\cdot U(t)+C(t)\cdot {\frac {\mathrm {d} U}{\mathrm {d} t}}=C\cdot {\frac {\mathrm {d} U}{\mathrm {d} t}},\ {\text{falls }}C(t):=C:={\text{const.}}}
Das bedeutet, dass der Strom durch den Kondensator proportional der Spannungsänderung am Kondensator ist. Die Aussage, dass der Strom proportional der zeitlichen Ableitung der Spannung ist, lässt sich umkehren: Die Spannung ist proportional zum zeitlichen Integral des Stroms. Legt man beispielsweise einen konstanten Strom an, so folgt daraus eine konstante Spannungsänderung, die Spannung steigt linear an.
Das Aufladen und Entladen eines Kondensators durch eine Spannungsquelle über einen Widerstand resultiert in einen exponentiell abflachenden Spannungsverlauf. Es wird ausführlich im Artikel RC-Glied behandelt.
=== Phasenverschiebung und Blindwiderstand ===
Eine kosinusförmige Wechselspannung mit der Amplitude
U
S
:=
const.
{\displaystyle U_{S}:={\text{const.}}}
und der Frequenz
f
:=
const.
{\displaystyle f:={\text{const.}}}
bzw. der Kreisfrequenz
ω
=
2
π
f
{\displaystyle \omega =2\pi f}
, also
u
(
t
)
=
U
S
cos
(
ω
t
+
φ
u
)
{\displaystyle u(t)=U_{\mathrm {S} }\cos(\omega t+\varphi _{\mathrm {u} })\ }
an einem Kondensator bewirkt den Stromfluss
i
(
t
)
=
C
d
u
(
t
)
d
t
=
ω
C
U
S
(
−
sin
(
ω
t
+
φ
u
)
)
{\displaystyle i(t)=C\ {\frac {\mathrm {d} u(t)}{\mathrm {d} t}}=\omega CU_{\mathrm {S} }\ (-\sin(\omega t+\varphi _{u}))}
i
(
t
)
=
I
S
(
−
sin
(
ω
t
+
φ
u
)
)
=
I
S
cos
(
ω
t
+
φ
u
+
90
∘
)
{\displaystyle i(t)=I_{\mathrm {S} }(-\sin(\omega t+\varphi _{u}))=I_{\mathrm {S} }\cos(\omega t+\varphi _{u}+90^{\circ })\,}
.Der Strom fließt zeitlich versetzt zur Spannung („Phasenverschiebung“), er eilt dieser um
π
2
{\displaystyle {\tfrac {\pi }{2}}}
bzw. 90° voraus.
φ
i
=
φ
u
+
π
2
{\displaystyle \varphi _{i}=\varphi _{u}+{\frac {\pi }{2}}}
Die Stromstärke
I
S
:=
const.
{\displaystyle I_{S}:={\text{const.}}}
ist proportional zur Frequenz
f
{\displaystyle f}
der angelegten Spannung und zur Kapazität
C
{\displaystyle C}
des Kondensators:
I
S
∼
f
{\displaystyle I_{\mathrm {S} }\sim f}
I
S
∼
C
{\displaystyle I_{\mathrm {S} }\sim C}
Das Verhältnis von Spannungsamplitude zu Stromamplitude wird allgemein als Scheinwiderstand bezeichnet; im Falle eines idealen Kondensators, bei dem der Strom der Spannung um genau 90° vorauseilt, als kapazitiver Blindwiderstand
X
C
{\displaystyle X_{\text{C}}}
:
Phasenverschiebungswinkel:
φ
z
=
φ
u
−
φ
i
=
−
π
2
{\displaystyle \varphi _{z}=\varphi _{u}-\varphi _{i}=-{\frac {\pi }{2}}}
Blindwiderstand:
X
C
=
U
S
I
S
⋅
sin
(
φ
z
)
=
U
S
ω
C
U
S
⋅
sin
(
−
π
2
)
=
−
1
ω
C
.
{\displaystyle X_{\mathrm {C} }={\frac {U_{\mathrm {S} }}{I_{\mathrm {S} }}}\cdot \sin(\varphi _{\mathrm {z} })={\frac {U_{\mathrm {S} }}{\omega CU_{\mathrm {S} }}}\cdot \sin \left(-{\frac {\pi }{2}}\right)=-{\frac {1}{\omega C}}\,.}
Die Formel zeigt, dass der elektrische Blindwiderstand des Kondensators mit zunehmender Frequenz bis zum praktischen Kurzschluss bei Hochfrequenz abnimmt und andererseits bei der Frequenz
f
=
0
{\displaystyle f=0}
, also bei Gleichspannung, unendlich groß wird und praktisch wie eine Leitungsunterbrechung wirkt.
Durch die Phasenverschiebung von 90° zwischen Spannung und Strom wird an einem Blindwiderstand im zeitlichen Mittel keine Leistung in Wärme umgewandelt; die Leistung pendelt nur hin und her und wird als Blindleistung bezeichnet.
Wird ein Kondensator von periodischen nichtsinusförmigen Wechselströmen durchflossen, so können diese mittels der Fourieranalyse als eine Summe von sinusförmigen Wechselströmen dargestellt werden. Für diese lässt sich die Verknüpfung von Spannung und Strom am Kondensator auf jede einzelne Sinusschwingung getrennt anwenden, der resultierende nichtsinusförmige Spannungsverlauf am Kondensator ergibt sich dann als Summe der einzelnen sinusförmigen Spannungsverläufe.
Diese Zusammensetzung gilt nur, wenn die Kapazität des Kondensators nicht von der anliegenden Spannung abhängt. In diesem Fall ist der Kondensator ein lineares Bauelement und die damit aufgebauten Schaltungen mit den Methoden der komplexen Wechselstromrechnung zugänglich. Hängt die Kapazität des Kondensators von den Momentanwerten der anliegenden Spannung ab, d. h., die dielektrische Leitfähigkeit des zwischen den Platten befindlichen Dielektrikums ist von der elektrischen Feldstärke abhängig, liegt ein nichtlinearer Kondensator vor. In diesem allgemeinen Fall können die obige Beziehungen zwischen Strom und Spannung am Kondensator nicht angewendet werden.
==== Beispiel für die Kompensation einer Phasenverschiebung ====
Die nebenstehende Parallelschaltung aus einem Widerstand und einem Kondensator ist am 230-V-Stromnetz angeschlossen, bei 50 Hz fließen die angegebenen Ströme. Durch den Widerstand fließt 2,3 A Wirkstrom, der bezahlt werden muss, auf den Blindstrom von 1,45 A darf der Elektrizitätszähler nicht reagieren und die Anschlussleitung muss für den Gesamtstrom von 2,72 A bemessen sein (der Strom durch den Kondensator ist um 90° phasenverschoben, daher ist der Gesamtstrom:
2
,
3
2
+
1
,
45
2
A
=
2
,
72
A
{\displaystyle {\sqrt {2{,}3^{2}+1{,}45^{2}}}\,\mathrm {A} =2{,}72\,\mathrm {A} }
). Einer Wirkleistung von 529 W steht eine Blindleistung von 334 var (W) gegenüber, die zwischen Generator und Kondensator pendelt und Leitungen und Trafos unnötig belastet.
Zur Kompensation dieser Blindleistung wird eine passend gewählte Induktivität von 0,5 H parallel zum Gerät geschaltet, deren Blindstrom ebenfalls 1,45 A beträgt. Die Blindströme von Kondensator und Spule kompensieren sich auf Grund ihrer entgegengesetzten Phasenlagen und die gesamte Stromaufnahme sinkt auf 2,3 A. Die gesamte Anordnung gleicht nun einem gedämpften Schwingkreis.
=== Impedanz ===
Insbesondere Systeme mit mehreren Kondensatoren, Widerständen und Spulen sind mit dem oben genannten Formalismus umständlich zu beschreiben. Um nicht Phase und Betrag von Signalen getrennt berechnen zu müssen, werden in der komplexen Wechselstromrechnung die Amplituden sinus- und kosinusförmiger Spannungsverläufe in Imaginär- und Realanteil einer komplexen Amplitude der auf die komplexe Ebene erweiterten Kreisfunktion
e
j
ω
t
{\displaystyle e^{\mathrm {j} \omega t}}
zusammengefasst, wobei
j
{\displaystyle \mathrm {j} }
die imaginäre Einheit und
ω
{\displaystyle \omega }
die Kreisfrequenz bezeichnen. Kleine Buchstaben für Spannungen und Ströme kennzeichnen zeitlich veränderliche Größen; zeitlich konstante Größen werden mit Großbuchstaben gekennzeichnet; komplexe Größen werden unterstrichen:
u
_
(
t
)
=
U
0
e
j
ω
t
,
{\displaystyle {\underline {u}}(t)=U_{0}e^{\mathrm {j} \omega t}\,,}
i
_
(
t
)
=
C
d
u
_
(
t
)
d
t
=
j
ω
C
U
0
e
j
ω
t
.
{\displaystyle {\underline {i}}(t)=C\,{\frac {\mathrm {d} {\underline {u}}(t)}{\mathrm {d} t}}=\mathrm {j} \omega CU_{0}e^{\mathrm {j} \omega t}\,.}
Der Realteil davon ergibt den Momentanwert der Größe.
Der Zusammenhang zwischen Strom und Spannung, die Impedanz
Z
C
=
R
C
+
j
X
C
{\displaystyle Z_{\mathrm {C} }=R_{C}+\mathrm {j} X_{\mathrm {C} }}
, lässt sich daraus analog dem ohmschen Widerstand durch Quotientenbildung gewinnen:
Z
_
C
=
u
_
(
t
)
i
_
(
t
)
=
U
0
e
j
ω
t
j
ω
C
U
0
e
j
ω
t
=
1
j
ω
C
=
−
j
1
ω
C
{\displaystyle {\underline {Z}}_{\mathrm {C} }={\frac {{\underline {u}}(t)}{{\underline {i}}(t)}}={\frac {U_{0}e^{\mathrm {j} \omega t}}{\mathrm {j} \omega CU_{0}e^{\mathrm {j} \omega t}}}={\frac {1}{\mathrm {j} \omega C}}=-\mathrm {j} {\frac {1}{\omega C}}}
Als Beispiel wird der Betrag der Impedanz eines 5-nF-Kondensators bei 3 kHz berechnet:
|
Z
C
|
=
1
2
π
⋅
3000
H
z
⋅
5
⋅
10
−
9
F
=
10
,
6
k
Ω
{\displaystyle \left|Z_{\mathrm {C} }\right|={\frac {1}{2\pi \cdot 3000\,\mathrm {Hz} \cdot 5\cdot 10^{-9}\,\mathrm {F} }}=10{,}6\,\mathrm {k} \Omega }
Man sieht, dass für den (idealen) Kondensator der Wirkwiderstand
R
C
{\displaystyle R_{\text{C}}}
gleich 0 ist und der Blindwiderstand
X
C
{\displaystyle X_{\text{C}}}
automatisch das negative Vorzeichen bekommt.
Durch diese Betrachtungsweise werden Differentialgleichungen vermieden. Anstelle der Ableitung tritt eine Multiplikation mit
1
j
ω
=
−
j
ω
{\displaystyle {\tfrac {1}{\mathrm {j} \omega }}=-{\tfrac {\mathrm {j} }{\omega }}}
(mathematisch negativer Drehsinn).
Da reale Kondensatoren nicht nur eine Kapazität
C
{\displaystyle C}
sondern auch immer noch parasitäre Effekte aufweisen (Serienersatzwiderstand ESR, engl. Equivalent Series Resistance, Serienersatzinduktivität ESL, engl. Equivalent Series Inductance L), ändert sich die Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung. Sie ist nicht mehr 90°, sondern nimmt einen um den Verlustwinkel
δ
{\displaystyle \delta }
kleineren Wert an. Mit einem Zeigerdiagramm kann auf anschauliche Weise nicht nur die Impedanz
Z
_
{\displaystyle {\underline {Z}}}
, sondern auch noch der Phasenverschiebungswinkel
φ
{\displaystyle \varphi }
und der ergänzende Verlustwinkel
δ
{\displaystyle \delta }
dargestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass dieses Diagramm jeweils nur für eine Frequenz gilt.
Sind die Serienersatzwerte eines Kondensators bekannt, dann kann die Impedanz auch über diese Werte berechnet werden. Sie ist dann die Summe der geometrischen (komplexen) Addition der Wirk- und der Blindwiderstände, also des Ersatzserienwiderstandes ESR und des induktiven Blindwiderstandes
X
L
{\displaystyle X_{\text{L}}}
abzüglich des kapazitiven Blindwiderstandes
X
C
{\displaystyle X_{\text{C}}}
. Die beiden Blindwiderstände weisen mit der Kreisfrequenz
ω
{\displaystyle \omega }
folgende Beziehungen auf:
X
L
=
ω
L
E
S
L
,
X
C
=
−
1
ω
C
{\displaystyle X_{\mathrm {L} }=\omega L_{\mathrm {ESL} },\qquad X_{\mathrm {C} }=-{\frac {1}{\omega C}}}
Der Scheinwiderstand ist dementsprechend der Betrag der geometrischen (komplexen) Addition der Wirk- und der Blindwiderstände:
Z
=
R
E
S
R
2
+
(
X
L
+
X
C
)
2
{\displaystyle Z={\sqrt {R_{\mathrm {ESR} }^{2}+(X_{\mathrm {L} }+X_{\mathrm {C} })^{2}}}}
(Zur verwendeten Vorzeichenkonvention siehe Anmerkung unter Blindwiderstand, zur Herleitung siehe unter Komplexe Wechselstromrechnung).
In den Datenblättern der Hersteller von Kondensatoren wird meist der Betrag der Impedanz, also der Scheinwiderstand
|
Z
_
|
{\displaystyle |{\underline {Z}}|}
, angegeben.
=== Verlustfaktor, Güte und Serienwiderstand ===
Reale Kondensatoren weisen parasitäre Verluste auf, die sich aus den Widerständen der Zuleitungen und den dielektrischen Verlusten ergeben. Sie bewirken, dass die Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung an den Klemmen eines realen Kondensators nicht mehr genau 90° beträgt, sondern um den sogenannten Verlustwinkel
δ
{\displaystyle \delta }
reduziert ist. Dieser Winkel wird als Tangens ausgedrückt und heißt dann Verlustfaktor
tan
δ
{\displaystyle \tan \delta }
(engl.: dissipation factor, abgekürzt DF). Er ergibt sich aus dem Tangens des Phasenwinkels
δ
{\displaystyle \delta }
zwischen der geometrischen Summe der Blindwiderstände
X
C
{\displaystyle X_{\text{C}}}
und
X
L
{\displaystyle X_{\text{L}}}
und dem Ersatzreihenwiderstand ESR.
Unter Vernachlässigung der Induktivität ESL sind der Verlustfaktors
tan
δ
{\displaystyle \tan \delta }
, der ESR und die Kapazität
C
{\displaystyle C}
eines Kondensators bei einer bestimmten Frequenz
f
{\displaystyle f}
mit folgender Formel miteinander verbunden:
tan
δ
=
E
S
R
⋅
ω
C
⟺
E
S
R
=
tan
δ
ω
C
{\displaystyle \tan \delta =\mathrm {ESR} \cdot \omega C\iff \mathrm {ESR} ={\frac {\tan \delta }{\omega C}}}
Für kleine Werte von
δ
{\displaystyle \delta }
(ausgedrückt im Bogenmaß) gilt:
tan
δ
≈
δ
{\displaystyle \tan \delta \approx \delta }
Bei verlustarmen Klasse-1-Keramikkondensatoren wird anstelle des Verlustfaktors häufig sein Kehrwert, die Güte
Q
{\displaystyle Q}
oder der Gütefaktor spezifiziert.
Q
=
1
tan
δ
=
1
E
S
R
⋅
ω
C
{\displaystyle Q={\frac {1}{\tan \delta }}={\frac {1}{\mathrm {ESR} \cdot \omega C}}}
Dieser Wert bezieht sich auf die Bandbreite
B
{\displaystyle B}
bei der Resonanzfrequenz
f
0
{\displaystyle f_{0}}
und berechnet sich nach der Gleichung:
Q
=
f
0
B
{\displaystyle Q={\frac {f_{0}}{B}}\,}
,wobei sich die Bandbreite (definiert als der Frequenzbereich, an dessen Grenzen sich der Spannungspegel um 3 dB gegenüber dem Mittelwert geändert hat) aus
B
=
f
2
−
f
1
{\displaystyle B={f_{2}}-{f_{1}}\,}
ergibt (mit
f
2
{\displaystyle f_{2}}
als oberer und
f
1
{\displaystyle f_{1}}
als unterer Grenzfrequenz).
Da der Verlauf der Impedanzkurve im Resonanzbereich umso steiler ist, je kleiner der ESR ist, kann auch mit der Spezifikation der Güte bzw. des Gütefaktors eine Aussage über die Verluste gemacht werden.Die oben beschriebene Definition der Spezifikation der Verluste in einem Kondensator geht von dem allgemein üblichen und in der Fachgrundspezifikation DIN EN (IEC) 60384-1 spezifizierten Serien-Ersatzschaltbild aus, in dem die dielektrischen und die Leitungsverluste zum ESR bzw. Verlustfaktor zusammengefasst werden. Einige Fachbücher benutzen zur Erklärung des Verlustfaktors aber ein anderes Ersatzschaltbild, in dem die ohmschen Verluste durch einen Widerstand
R
p
{\displaystyle R_{\text{p}}}
modelliert werden, der (zusätzlich zum Isolationswiderstand) zu einem idealen Kondensator mit der Kapazität
C
{\displaystyle C}
parallelgeschaltet ist. (Wenn in diesen Beschreibungen dann die ohmschen Verluste mit den dielektrischen Verlusten gleichgesetzt werden, dann erfolgt das aus dem Wissen heraus, dass die Leitungsverluste in diesen Kondensatoren vernachlässigbar sind.) Die Verlustleistung
P
V
{\displaystyle P_{\text{V}}}
ergibt sich damit beim Betrieb des Kondensators an einer Wechselspannung mit dem Effektivwert
U
{\displaystyle U}
zu
P
V
=
U
2
R
p
.
{\displaystyle P_{\mathrm {V} }={\frac {U^{2}}{R_{\mathrm {p} }}}.}
Der Kehrwert dieses Widerstands ist der Leitwert
G
{\displaystyle G}
und wird auch als Ableitung bezeichnet. Der Tangens des Verlustwinkels
δ
{\displaystyle \delta }
kann in der Form
tan
δ
=
I
R
I
C
=
G
B
C
=
1
2
π
f
C
R
p
{\displaystyle \tan \delta ={\frac {I_{\mathrm {R} }}{I_{\mathrm {C} }}}={\frac {G}{B_{\mathrm {C} }}}={\frac {1}{2\pi fCR_{\mathrm {p} }}}}
dargestellt werden.
=== Spektralbereich ===
Eine Beschreibung im Bildbereich der Laplace-Transformation vermeidet die Beschränkung auf harmonische Schwingungen. Für die Impedanz im Bildbereich gilt dann
Z
C
=
1
s
C
{\displaystyle Z_{\mathrm {C} }={\frac {1}{sC}}}
Dabei ist
s
=
σ
+
j
ω
{\displaystyle s=\sigma +\mathrm {j} \omega }
die „komplexe Frequenz“,
σ
{\displaystyle \sigma }
charakterisiert die exponentielle Einhüllende,
ω
{\displaystyle \omega }
wiederum die Kreisfrequenz.
=== Parallelschaltung ===
Kondensatoren sind in einer elektrischen Schaltung als Parallelschaltung miteinander verbunden, wenn dieselbe Spannung an allen Bauteilen anliegt. In diesem Fall addieren sich die Kapazitäten der einzelnen Bauteile zur Gesamtkapazität:
C
ges
=
C
1
+
C
2
+
⋯
+
C
n
{\displaystyle C_{\text{ges}}=C_{1}+C_{2}+\dotsb +C_{n}}
Durch die Parallelschaltung erhöht sich sowohl die Gesamtkapazität als auch die Strombelastbarkeit der Schaltung. Der gesamte Stromfluss
I
ges
{\displaystyle I_{\text{ges}}}
verteilt sich auf den
k
{\displaystyle k}
-ten Kondensator gemäß:
I
k
=
C
k
C
ges
⋅
I
ges
{\displaystyle I_{k}={\frac {C_{k}}{C_{\text{ges}}}}\cdot I_{\text{ges}}}
Neben einer Erhöhung der Kapazität und Strombelastbarkeit der Schaltung, reduzieren sich durch parallel geschaltete Kondensatoren auch deren unerwünschte parasitäre Eigenschaften wie Induktivität (ESL) und Ersatzserienwiderstand (ESR).
=== Reihenschaltung ===
Eine Reihenschaltung liegt vor, wenn durch zwei oder mehr Kondensatoren derselbe elektrische Strom fließt. Dann addiert sich der Kehrwert der Kapazität der einzelnen Bauteile zum Kehrwert der Gesamtkapazität:
1
C
ges
=
1
C
1
+
1
C
2
+
⋯
+
1
C
n
{\displaystyle {\frac {1}{C_{\text{ges}}}}={\frac {1}{C_{1}}}+{\frac {1}{C_{2}}}+\dotsb +{\frac {1}{C_{n}}}}
Die Reihenschaltung wird beispielsweise angewendet, um eine hohe Spannung auf mehrere Kondensatoren mit geringerer Spannungsfestigkeit zu verteilen, wenn kein Einzelbauelement für diese Spannung verfügbar ist. Da die Isolationswiderstände bzw. bei Elektrolytkondensatoren die Restströme der einzelnen Kondensatoren stark unterschiedlich sein können, kann über unterschiedliche Isolationswiderstände bzw. Restströme eine Spannungsaufteilung entstehen, die nicht mit der kapazitiven Spannungsaufteilung übereinstimmt. Dadurch können unter Umständen einzelne Kondensatoren mit einer zu hohen Spannung beaufschlagt werden, was zu Kurzschlüssen führen könnte. Aus diesem Grunde werden in der Regel in Reihe geschaltete Kondensatoren symmetriert, das heißt, jedem Kondensator wird ein definierter hochohmiger Widerstand (jedoch deutlich geringer als
R
L
e
a
k
{\displaystyle R_{\mathrm {Leak} }}
) parallel geschaltet, damit eine definierte Spannungsaufteilung entsteht.
=== I²t-Wert für Lade- und Entladevorgänge ===
Beim Auf- und Entladen von Kondensatoren ist der
I
2
t
{\displaystyle I^{2}t}
-Wert für die Dimensionierung bzgl. Kurzzeitbelastung von Halbleitern (Grenzlastintegral) und Schmelzsicherungen (Schmelzintegral) von Bedeutung.
Für die vom Lade- bzw. Entladestrom durchflossenen Bauelemente berechnet sich der von der Zeit anhängige
I
2
t
{\displaystyle I^{2}t}
-Wert wie folgt:
[
I
2
t
]
Wert
(
t
)
=
U
0
2
C
2
R
(
1
−
e
−
2
t
R
C
)
{\displaystyle [I^{2}t]_{\text{Wert}}(t)={\frac {{U_{0}}^{2}C}{2R}}\left(1-e^{\frac {-2t}{RC}}\right)}
oder
[
I
2
t
]
Wert
(
t
)
=
I
0
2
τ
2
(
1
−
e
−
2
t
τ
)
{\displaystyle [I^{2}t]_{\text{Wert}}(t)={\frac {{I_{0}}^{2}\tau }{2}}\left(1-e^{\frac {-2t}{\tau }}\right)}
mit
t
{\displaystyle t}
als Lade- bzw. Entladezeit,
U
0
{\displaystyle U_{0}}
als Anfangskondensatorspannung beim Entladen bzw. als Ladespannung beim Aufladen,
C
{\displaystyle C}
als Kondensatorkapazität,
R
{\displaystyle R}
als Lade- bzw. Entladewiderstand,
I
0
=
U
0
R
{\displaystyle I_{0}={\tfrac {U_{0}}{R}}}
als Anfangsstrom und
τ
=
R
C
{\displaystyle \tau =RC}
als Zeitkonstante. Für das vollständige Auf- bzw. Entladen
(
t
→
∞
)
{\displaystyle (t\to \infty )}
gilt:
[
I
2
t
]
Wert
=
U
0
2
C
2
R
{\displaystyle [I^{2}t]_{\text{Wert}}={\frac {{U_{0}}^{2}C}{2R}}}
oder
[
I
2
t
]
Wert
=
I
0
2
τ
2
{\displaystyle [I^{2}t]_{\text{Wert}}={\frac {{I_{0}}^{2}\tau }{2}}}
== Material- und bauartbedingte Merkmale ==
=== Kapazität und Spannungsfestigkeit ===
Die überwiegende Anzahl der industriell hergestellten Kondensatoren sind im weitesten Sinne als Plattenkondensatoren ausgeführt. Die Kapazität ergibt sich damit aus der Oberfläche der Elektroden, der Dielektrizitätszahl des verwendeten Dielektrikums und dem Kehrwert des Abstandes der Elektroden zueinander. Neben diesen drei Parametern, die bei realen Kondensatoren erheblich voneinander abweichen können, spielt die Verarbeitbarkeit der Materialien eine entscheidende Rolle. Dünne, mechanisch flexible Folien lassen sich gewickelt oder gestapelt leicht zu großen Bauformen mit hohen Kapazitätswerten verarbeiten. Hauchdünne metallisierte Keramikschichten zu SMD-Bauformen gesintert bieten dagegen beste Voraussetzungen für die Miniaturisierung von Schaltungen.
Reale Kondensatoren können nicht bis zu einer beliebigen Spannung aufgeladen werden. Überschreitet man die zulässige Spannung, die durch die Spannungsfestigkeit des jeweiligen Dielektrikums bestimmt wird, bis zur „Durchschlagsspannung“, so schlägt der Kondensator durch, das heißt, es fließt plötzlich ein erheblich größerer Strom über eine Funkenstrecke oder auf eine ähnliche Art ab. Meist führt das zur Zerstörung des Kondensators (zum Beispiel Kurzschluss oder gar einer Explosion), oft auch zu weitergehenden Zerstörungen an den Geräten. Die maximale Durchschlagsfestigkeit eines Kondensators ist abhängig von der inneren Konstruktion, der Temperatur, der elektrischen Belastung durch Lade- und Entladeströme, bei Wechselspannungsanwendungen auch von der Frequenz der anliegenden Spannung sowie von der Alterung.
Bei Keramikkondensatoren ist es nicht möglich, eine physikalisch begründete präzise Durchschlagsspannung einer keramischen Schicht für eine definierte Dicke festzulegen. Die Durchschlagsspannung kann in Abhängigkeit von der Zusammensetzung des Elektrodenmaterials und der Sinterbedingungen bis um den Faktor 10 variieren. Auch bei Kunststoff-Folienkondensatoren variiert die Spannungsfestigkeit der Folie abhängig von Einflussgrößen wie Schichtdicke der Elektroden und elektrischen Belastungen sehr stark.Metallisierte Kunststoff-Folienkondensatoren besitzen die Fähigkeit zur Selbstheilung, ein Durchschlag führt dabei lediglich zur lokalen Verdampfung der dünnen Elektroden. Der Kondensator verliert jedoch einen bestimmten, geringen Teil seiner Kapazität ohne dass seine Funktionsfähigkeit darunter leidet.
Elektrolytkondensatoren sind vom Aufbau her gepolte Bauelemente. Die Spannungsfestigkeit der Oxidschichten gilt nur bei richtig gepolt anliegender Spannung. Falschpolspannung zerstört den Elektrolytkondensator.
=== Frequenzabhängigkeit ===
Die Frequenzabhängigkeit der Kapazität und des Verlustfaktors von Kondensatoren ergibt sich aus zwei Komponenten:
aus dem frequenzabhängigen Verhalten des Dielektrikums von Kondensatoren. Das beeinflusst den Kapazitätswert, der mit steigender Frequenz abnimmt und die Verluste im Dielektrikum, die mit steigender Frequenz meist zunehmen. Für Details siehe Dielektrische Spektroskopie.
eine bauartbedingte, parasitäre Induktivität (Anschlüsse, Aufbau), die im Ersatzschaltbild als eine in Reihe liegende Induktivität dargestellt wird. Sie wird ESL (von engl. equivalent series inductance L) genannt und führt zu einer charakteristischen Eigenresonanzfrequenz, bei der der Kondensator seine minimale Impedanz besitzt.Ist bei einer Anwendung eine geringe Impedanz in einem weiten Frequenzbereich erforderlich, schaltet man Kondensatoren verschiedener Bauarten parallel. Bekannt ist das Parallelschalten eines Elektrolytkondensators mit einem Keramikkondensator oder auch das Parallelschalten von Keramikkondensatoren verschiedener Baugrößen.
=== Temperaturabhängigkeit ===
Die Kapazität eines Kondensators ist temperaturabhängig, wobei die verschiedenen Dielektrika starke Unterschiede im Verhalten bewirken. Für Keramikkondensatoren gibt es paraelektrische Dielektrika mit positivem, negativem und nahe null betragendem Temperaturkoeffizienten. Auch einige Kunststoff-Folienkondensatoren weisen ähnliche Eigenschaften auf. Bei hohen Stabilitätsanforderungen an zum Beispiel Schwingkreisen können auf diese Weise Temperatureinflüsse anderer Bauteile ausgeglichen werden. Keramikkondensatoren aus ferroelektrischer Keramik sowie Elektrolytkondensatoren haben günstigerweise eine sehr hohe Permittivität, was zu einem hohen Kapazitätswert führt, haben jedoch auch einen hohen, meist nichtlinearen Temperaturkoeffizienten und eignen sich daher für Anwendungen ohne große Anforderungen an die Stabilität wie Siebung, Funkentstörung, Kopplung oder Entkopplung.
=== Spannungsabhängigkeit ===
Ferroelektrische Klasse-2-Keramikkondensatoren zeigen einen spannungsabhängigen, nichtlinearen Verlauf der Kapazität. Daraus resultiert zum Beispiel bei Anwendungen im Audiobereich ein Klirrfaktor. Dort werden bei hohen Qualitätsanforderungen deshalb oft Folienkondensatoren eingesetzt.
Formal lässt sich ein nichtlinearer Kondensator durch eine von der Momentanspannung
u
{\displaystyle u}
abhängige Dielektrizitätszahl
ε
r
(
u
)
{\displaystyle \varepsilon _{r}(u)}
beschreiben. Diese relative Dielektrizitätszahl ist also nicht konstant, sondern ist als Funktion der am Kondensator anliegenden Spannung
u
{\displaystyle u}
zu betrachten. Beispielsweise ist bei einem nichtlinearen Kondensator die spannungsabhängige Kapazität gegeben als:
C
(
u
)
=
ε
r
(
u
)
⋅
ε
0
⋅
A
d
{\displaystyle C(u)=\varepsilon _{r}(u)\cdot \varepsilon _{0}\cdot {\frac {A}{d}}}
Die Funktion
ε
r
(
u
)
{\displaystyle \varepsilon _{r}(u)}
ist werkstoffabhängig.
Klasse-2-Keramikkondensatoren weisen, abhängig von der Art der Keramik, bei Nennspannung einen Abfall der Kapazität von bis zu 90 % gegenüber der genormten Messspannung von 0,5 oder 1 V auf.
=== Alterung ===
Die elektrischen Eigenschaften einiger Kondensatorfamilien sind Alterungsprozessen unterworfen, sie sind zeitabhängig.
Keramische Klasse-2-Kondensatoren mit Dielektrika aus ferroelektrischen Materialien zeigen eine ferroelektrische Curietemperatur. Oberhalb von etwa 120 °C, der Curietemperatur von Bariumtitanat, ist die Keramik nicht mehr ferroelektrisch. Da diese Temperatur beim Löten von SMD-Kondensatoren deutlich überschritten wird, werden die dielektrischen Gebiete parallel ausgerichteter dielektrischer Dipole erst beim Abkühlen des Materials neu gebildet. Diese Bereiche zerfallen aufgrund mangelnder Stabilität der Domänen jedoch im Laufe der Zeit, die Dielektrizitätszahl verringert sich und damit sinkt die Kapazität des Kondensators, der Kondensator altert. Die Alterung folgt einem logarithmischen Gesetz. Dieses definiert die Alterungskonstante als Kapazitätsabnahme in Prozent während einer Zeitdekade, zum Beispiel in der Zeit von 1 h auf 10 h.Aluminium-Elektrolytkondensatoren mit flüssigem Elektrolyten altern infolge der langsamen, temperaturabhängigen Austrocknung des Elektrolyten im Laufe der Zeit. Dabei verändert sich zunächst die Leitfähigkeit des Elektrolyten, die ohmschen Verluste (ESR) des Kondensators steigen an. Später sinkt dann auch der Benetzungsgrad der porigen Anodenstrukturen, wodurch die Kapazität absinkt. Sofern keine anderen chemischen Prozesse im Kondensator auftreten, kann die Alterung von „Elkos“ mit dem sog. „10-Grad-Gesetz“ beschrieben werden. Die Lebensdauer dieser Kondensatoren halbiert sich, wenn die auf den Kondensator einwirkende Temperatur um 10 °C ansteigt.
Auch Doppelschichtkondensatoren sind einer Alterung durch Verdunstung des Elektrolyten unterworfen. Die damit verbundene Erhöhung des ESR begrenzt die mögliche Anzahl von Ladezyklen des Kondensators.
=== Scheinwiderstand und Resonanz ===
Die Anwendungsbereiche von Kondensatoren nutzen überwiegend die Eigenschaft als kapazitiver Wechselstromwiderstand zum Filtern, Sieben, Koppeln und Entkoppeln von erwünschten oder unerwünschten Frequenzen oder zum Erzeugen von Frequenzen in Schwingkreisen. Aus diesem Grunde ist das Frequenzverhalten der Impedanz ein mitentscheidender Faktor für den Einsatz in einer Schaltungsfunktion.
Der Betrag der Impedanz, der Scheinwiderstand
|
Z
_
|
{\displaystyle |{\underline {Z}}|}
, wird in Datenblättern von Kondensatoren häufig als Kurve über der Frequenz
f
{\displaystyle f}
dargestellt. Dabei sinkt mit steigender Frequenz zunächst der Scheinwiderstand ab bis zu einem Minimum in der Kurve, ab dem er wieder ansteigt. Dieser Verlauf ist das Resultat der Konstruktion realer Kondensatoren, die nicht nur eine Kapazität
C
{\displaystyle C}
, sondern immer auch noch eine in Serie dazu liegende parasitäre Induktivität
L
{\displaystyle L}
(ESL) aufweisen. (Siehe Absatz „Normung und Ersatzschaltbild“). Kapazität
C
{\displaystyle C}
und Induktivität ESL bilden einen Serienschwingkreis, der bei der Frequenz
f
0
=
1
2
π
L
C
{\displaystyle f_{0}={\frac {1}{2\pi {\sqrt {LC}}}}}
in Resonanz gerät. An diesem Punkt hat der Scheinwiderstand nur noch einen Realanteil, den ESR des Kondensators. Bei höheren Frequenzen überwiegt der induktive Anteil; der Kondensator ist somit als solcher unwirksam, da er nun wie eine Spule wirkt.
Herkömmliche Aluminium-Elektrolytkondensatoren haben aufgrund ihrer großen Kapazität relativ gute Siebeigenschaften im Bereich niedriger Frequenzen bis etwa 1 MHz. Sie weisen aber aufgrund ihres gewickelten Aufbaus eine relativ hohe Induktivität auf, so dass sie für den Einsatz bei höheren Frequenzen ungeeignet sind. Keramik- und Folienkondensatoren sind schon von ihren kleineren Kapazitäten her für höhere Frequenzen bis zu einigen 100 MHz geeignet. Sie haben außerdem durch ihre Konstruktion (Stirnkontaktierung der Folien, Parallelschaltung der Elektroden) deutlich niedrigere parasitäre Induktivitätswerte. Um einen sehr breiten Frequenzbereich abdecken zu können, wird häufig ein Elektrolytkondensator mit einem Keramik- oder Folienkondensator parallelgeschaltet.
Viele Neuentwicklungen bei Kondensatoren haben unter anderem eine Verringerung der parasitären Induktivität ESL zum Ziel, um durch Erhöhung der Resonanzfrequenz zum Beispiel die Schaltgeschwindigkeit digitaler Schaltungen erhöhen zu können. Durch die Miniaturisierung speziell bei den SMD-Keramikvielschicht-Chipkondensatoren (MLCC) wurde hier schon viel erreicht. Eine weitere Verringerung der parasitären Induktivität ist durch Kontaktierung der Elektroden an der Längsseite anstatt der Querseite erreicht worden. Die Face-down-Konstruktion, verbunden mit der Multi-Anodentechnik, hat bei Tantal-Elektrolytkondensatoren ebenfalls zu einer Verringerung der ESL geführt. Aber auch neue Kondensatorfamilien, wie MOS- oder Silizium-Kondensatoren, bieten Lösungen an, wenn Kondensatoren für sehr hohe Frequenzen bis in den GHz-Bereich benötigt werden.
=== Ohmsche Verluste ===
Ohmsche Verluste in diskreten, handelsüblichen Kondensatoren für die Elektronik entstehen durch dielektrische Umpolarisierungsverluste im Wechselfeld und durch den ohmschen Widerstand der Zuleitungen und der Elektroden des Kondensators. Bei Aluminium-Elektrolytkondensatoren trägt besonders die begrenzte Leitfähigkeit flüssiger Elektrolyte zu diesen Verlusten bei. Die verschiedenen Verlustwiderstände werden, da sie bei industriell gefertigten Kondensatoren messtechnisch nicht voneinander getrennt gemessen werden können, zu einem gemeinsamen Wert zusammengefasst. Sie können in den jeweiligen Datenblättern als Verlustfaktor
tan
δ
{\displaystyle \tan \delta }
, als Güte
Q
{\displaystyle Q}
und als Ersatzreihenwiderstand ESR dargestellt werden. Der Zahlenwert des Verlustfaktors und der Güte ist, bei gleicher Messfrequenz, innerhalb eines spezifizierten Bereiches unabhängig von dem Kapazitätswert des Kondensators. Der ESR dagegen ist unabhängig von den Blindwiderständen und ist eine Größe, die jeden Kondensator einzeln kennzeichnet. Über ihn kann mit Hilfe der Gleichung
P
=
I
2
⋅
E
S
R
{\displaystyle P=\ I^{2}\cdot \,\mathrm {ESR} }
leicht die im Kondensator entstehende Verlustwärme
P
{\displaystyle P}
bei Strombelastung mit dem Strom
I
{\displaystyle I}
errechnet werden.
Bei Leistungskondensatoren wie Vakuumkondensatoren, großen Keramik- und Polypropylen-Folienkondensatoren werden die ohmschen Verluste anders definiert. Anstatt Verlustfaktor, Güte oder ESR wird hier oft die maximale Strom- oder Impulsbelastung spezifiziert. Diese Angabe ist letztendlich ein Ausdruck der ohmschen Verluste des Kondensators und ermittelt sich aus der zulässigen Verlustwärme, die über die ohmschen Verluste bei der Strombelastung entsteht.
Die ohmschen Verluste von Kondensatoren hängen von der Bauart ab, sind also spezifisch für eine bestimmte Fertigungstechnik. Innerhalb einer Bauart sinken die ohmschen Verluste mit steigender Kapazität. Das scheint zunächst paradox, weil mit steigender Kapazität die dielektrischen Verluste größer werden müssten. Dass das nicht der Fall ist, liegt am technischen Aufbau der Kondensatoren. Anschaulich wird es am Beispiel der Keramik-Vielschichtkondensatoren. Die vielen Einzelkondensatoren im Schichtverbund sind parallel geschaltet, so dass auch ihre einzelnen Verlustwiderstände parallel geschaltet sind. Dadurch reduziert sich der Gesamtwiderstand entsprechend der Anzahl parallel geschalteter Einzelkondensatoren. Bei Folienkondensatoren bewirkt die Stirnflächenkontaktierung des Wickels ähnliches. Die Art der Kontaktierung kann als eine Vielzahl parallel geschalteter Einzelkondensatoren beschrieben werden. Bei Elektrolytkondensatoren, bei denen die Zuleitungsverluste über den Elektrolyten die ohmschen Verluste maßgeblich bestimmen, kann bei größer werdenden Elektrodenflächen die steigende Anzahl der Zuleitungspfade als Parallelschaltung vieler Einzelwiderstände verstanden werden, wodurch sich die gesamten ohmschen Verluste verringern. Bei sehr großen Aluminium-Elektrolytkondensatoren reduziert außerdem häufig eine Mehrfachkontaktierung der Anoden- und Kathodenfolien die ohmschen Verluste. Aus demselben Grund werden Tantal-Elektrolytkondensatoren in einigen Ausführungsformen mit Mehrfach-Anoden gefertigt.
Die ohmschen Verluste sind Wechselstromverluste, Gleichstromverluste (Isolationswiderstand, Reststrom) sind bei Kondensatoren meist vernachlässigbar. Die Wechselstrom-Frequenz zum Messen der Verluste muss eindeutig festgelegt sein. Da aber handelsübliche Kondensatoren mit Kapazitätswerten von pF (Pikofarad, 10−12 F) bis einigen 1000 F bei Superkondensatoren mit 15 Zehnerpotenzen einen außerordentlich großen Kapazitätsbereich abdecken, ist es nicht möglich, mit nur einer Messfrequenz den gesamten Bereich zu erfassen. Nach der Fachgrundspezifikation für Kondensatoren, der DIN EN (IEC) 60384-1, sollen die ohmschen Verluste mit derselben Frequenz gemessen werden, die zur Messung der Kapazität verwendet wird, mit:
100 (120) Hz für Elektrolytkondensatoren und andere Kondensatoren mit C > 10 µF
1 kHz (Bezugsfrequenz) oder 10 kHz für andere Kondensatoren mit 1 nF ≤ C ≤ 10 µF
100 kHz, 1 MHz (Bezugsfrequenz) oder 10 MHz für andere Kondensatoren mit C ≤ 1 nFDie ohmschen Verluste von Kondensatoren sind frequenz-, temperatur- und zum Teil zeitabhängig (Alterung). Eine Umrechnung der Einheit tan δ in ESR und umgekehrt ist möglich, erfordert aber einige Erfahrung. Sie kann nur erfolgen, wenn die Messfrequenz hinreichend weit entfernt von der Resonanzfrequenz ist. Denn bei der Resonanz ändert sich der Kondensator von einem kapazitiven in ein induktives Bauelement, dabei ändert sich der Verlustwinkel dramatisch und ist deshalb zur Umrechnung nicht mehr geeignet.
==== Ohmsche Verluste unterschiedlicher Klasse-1-Kondensatorarten ====
Die Güte und der Verlustfaktor sind charakteristische Größen der ohmschen Verluste im Dielektrikum bestimmter Kondensatoren, bei denen die Leitungsverluste vernachlässigbar sind. Diese Kondensatoren, bei den Keramikkondensatoren „Klasse-1“ genannt, werden überwiegend in frequenzbestimmenden Schaltungen oder in Hochleistungsanwendungen als Leistungskondensatoren eingesetzt. Als Messfrequenz für den in der Elektronik üblichen Kapazitätsbereich von 30 pF bis 1 nF wird von großen Herstellern meist 1 MHz genommen. Mit dieser hohen Frequenz wird Bezug auf die Anwendung solcher Kondensatoren genommen, die überwiegend im höheren Frequenzbereich liegt. Die betroffenen kleinen Kapazitätswerte mit den dazu vorhandenen niedrigen ESL-Werten stellen außerdem sicher, dass der Messwert noch weit genug von der Resonanzfrequenz entfernt ist.
Die folgende Tabelle, in der die ESR-Werte rechnerisch ermittelt wurden, gibt einen Überblick über die ohmschen Verluste (Maximalwerte) unterschiedlicher Kondensatorarten (ohne Leistungskondensatoren) bei 1 MHz in für Frequenz bestimmende Anwendungen in der Elektronik:
==== Ohmsche Verluste unterschiedlicher Kondensatorarten im mittleren Kapazitätsbereich ====
Der Kapazitätsbereich von 1 nF bis 10 µF wird überwiegend von Klasse-1- und Klasse-2-Keramikkondensatoren und von Kunststoff-Folienkondensatoren abgedeckt. Elektrolytkondensatoren werden in diesem Kapazitätsbereich weniger häufig eingesetzt. Dieser Kapazitätsbereich ist durch eine Vielzahl unterschiedlicher Anwendungen mit stark unterschiedlichen Anforderungen gekennzeichnet. Die ohmschen Verluste dieser Kondensatoren werden in den Datenblättern der Hersteller überwiegend über den Verlustfaktor spezifiziert. Allerdings sind in diesem Bereich auch Wechselspannungs- und Impulskondensatoren angesiedelt, die sich über eine Strombelastung spezifizieren.
In der folgenden Tabelle sind als allgemeines Beispiel die Verlustfaktoren (Maximalwerte) bei 1 kHz, 10 kHz und 100 kHz sowie die daraus abgeleiteten ESR-Werte für einen 100-nF-Kapazitätswert gelistet.
==== Ohmsche Verluste unterschiedlicher Kondensatorarten im höheren Kapazitätsbereich ====
Kondensatoren mit Kapazitätswerten größer 10 µF werden überwiegend in Anwendungen im Bereich der Stromversorgungen, der Sieb- und der Stützschaltungen eingesetzt. Es ist der typische Kapazitätsbereich, in dem Elektrolytkondensatoren und hochkapazitive Keramik-Vielschichtkondensatoren eingesetzt werden. Nach der Fachgrundspezifikation für Kondensatoren, der DIN EN (IEC) 60384-1, sollen die ohmschen Verluste solcher Kondensatoren mit 100 Hz (bzw. 120 Hz) gemessen werden. Da in der Elektronik die Arbeitsfrequenzen in den letzten Jahrzehnten aber deutlich gestiegen sind und im Bereich der Schaltnetzteile mit viel höheren Frequenzen gearbeitet wird, finden sich in den Datenblättern, speziell denen von Elektrolytkondensatoren, auch häufig die 100-kHz-ESR-Werte.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die ohmschen Verluste (Maximalwerte) verschiedener Kondensatorarten für Sieb- oder Stützanwendungen im Niedervoltbereich. Zur Vergleichbarkeit der Kondensatorarten miteinander ist jeweils die Kapazität von etwa 100 µF und eine Spannungsfestigkeit von 10 bis 16 V gewählt worden. Da für diesen Anwendungsbereich in der Elektronik das Bauvolumen eine große Rolle spielt, sind in der Tabelle die Abmessungen mit aufgeführt worden. Die Zeile mit der Kapazität 2200 µF ist als Beispiel dafür aufgeführt, dass mit größerer Kapazität und Baugröße bei der preiswertesten Kondensatorart, den „Elkos“, niedrige ESR-Werte zu erreichen sind. Im Übrigen ist der höhere ESR bei den „Elkos“ mitunter schaltungstechnisch sogar erwünscht, weil die Dämpfung über diese Verluste unerwünschte Resonanzen auf Leiterplatten verhindern kann.
=== Wechselstrombelastbarkeit ===
Eine Wechselspannung oder eine einer Gleichspannung überlagerte Wechselspannung bewirkt Lade- und Entladevorgänge in einem Kondensator. Es fließt ein Wechselstrom, der umgangssprachlich Rippelstrom genannt wird. Der Effektivwert dieses Wechselstromes bewirkt über die ohmschen Verluste des Kondensators (ESR, Verlustfaktor) eine Verlustleistung PV, die das Bauelement von innen heraus erwärmt.
P
V
=
I
2
⋅
E
S
R
{\displaystyle P_{\mathrm {V} }=I^{2}\cdot \,\mathrm {ESR} }
oder
P
V
=
U
2
⋅
tan
δ
⋅
2
π
f
⋅
C
{\displaystyle P_{\mathrm {V} }=U^{2}\cdot \tan \delta \cdot 2\pi f\cdot C}
Die entstandene Wärme wird über Konvektion und Wärmeleitung an die Umwelt abgegeben. Die Menge der Wärme, die an die Umwelt abgegeben werden kann, hängt von den Maßen des Kondensators und den Bedingungen auf der Leiterplatte und der Umgebung ab.
Die zulässige Wechselstrombelastung von Elektrolytkondensatoren und Kunststoff-Folienkondensatoren wird allgemein so berechnet, dass maximal eine zulässige interne Temperaturerhöhung von 3 bis 10 K entsteht. Bei Keramikkondensatoren kann die Wechselstrombelastung so spezifiziert werden, dass bei einer gegebenen Umgebungstemperatur durch die im Kondensator entstehende Wärme die spezifizierte Maximaltemperatur nicht überschritten wird.
In den Datenblättern von Folienkondensatoren und Keramikkondensatoren wird anstelle eines Wechselstromes oft eine maximal zulässige effektive Wechselspannung spezifiziert, die innerhalb des Nenntemperaturbereiches am Kondensator dauernd anliegen darf. Da mit steigender Frequenz die ohmschen Verluste im Kondensator ansteigen, die interne Wärmeentwicklung bei gleichbleibender Effektivspannung also größer wird, muss bei höheren Frequenzen die Spannung reduziert werden, um die zulässige Temperaturerhöhung einzuhalten.
Besonders bei Elektrolytkondensatoren ist eine hohe Wechselstrombelastung kritisch. Da sich der Kondensator erwärmt, wird die zu erwartende Lebensdauer reduziert. Wird durch überhöhte Wechselstrombelastung die maximal zulässige Temperatur überschritten, kann der flüssige Elektrolyt unter Umständen in den Siedebereich kommen und den Kondensator so zum Platzen bringen.
=== Isolationswiderstand und Selbstentladung ===
Ein auf eine Gleichspannung
U
0
{\displaystyle U_{0}}
aufgeladener realer Kondensator entlädt sich mit der Zeit von selbst. Dieser Effekt kann durch einen endlichen Isolationswiderstand
R
I
s
o
l
{\displaystyle R_{\mathrm {Isol} }}
des Dielektrikums beschrieben werden, der zu einem idealen Kondensator mit der Kapazität C parallel geschaltet ist. Der fließende Strom wird als Leckstrom bezeichnet; er wird bei Baureihen häufig als Funktion der Kapazität spezifiziert. Der zeitliche Verlauf der absinkenden Kondensatorspannung hat die Form
u
(
t
)
=
U
0
⋅
e
−
t
/
τ
s
,
{\displaystyle u(t)=U_{0}\cdot \mathrm {e} ^{-t/\tau _{\mathrm {s} }},}
wobei
τ
s
=
R
i
s
⋅
C
{\displaystyle \tau _{\mathrm {s} }=R_{\mathrm {is} }\cdot C}
die Selbstentladezeitkonstante ist. Nach der Zeit
τ
s
{\displaystyle \tau _{\mathrm {s} }\,}
ist die Kondensatorspannung
U
0
{\displaystyle U_{0}}
auf 37 % des Anfangswertes abgesunken. Die Selbstentladezeitkonstante ist ein Maß für die Isolation des Dielektrikums zwischen den Elektroden eines Kondensators. Diese Zeitkonstante ist beispielsweise wichtig, wenn ein Kondensator als zeitbestimmendes Glied (zum Beispiel in Zeitrelais) oder zur Speicherung eines Spannungswertes wie in einer Abtast-Halte-Schaltung oder Integrierern eingesetzt wird.
Keramikkondensatoren der Klasse 1 müssen gemäß geltender Normen einen Isolationswiderstand von mindestens 10 GΩ, die der Klasse 2 mindestens 4 GΩ oder eine Selbstentladezeitkonstante von mindestens 100 s besitzen. Der typische Wert liegt meist darüber. Kunststoff-Folienkondensatoren haben typischerweise einen Isolationswiderstand zwischen 6 und 12 GΩ. Das entspricht für Kondensatoren im µF-Bereich einer Selbstentladezeitkonstante von 2000 bis 4000 s.Bei Elektrolytkondensatoren wird der Isolationswiderstand des Oxidschichtdielektrikums über den Reststrom des Kondensators definiert.
Der Isolationswiderstand bzw. die Selbstentladezeitkonstante ist teilweise stark temperaturabhängig und sinkt mit steigender Temperatur. Der Isolationswiderstand bzw. die Selbstentladezeitkonstante darf nicht verwechselt werden mit der Isolierung des Bauelementes gegenüber der Umgebung.
=== Reststrom, Leckstrom ===
Bei Elektrolytkondensatoren wird nicht der Isolationswiderstand definiert, sondern der Reststrom, auch „Leckstrom“, (engl. Leakage Current), genannt.
Der Reststrom eines Elektrolytkondensators ist der Gleichstrom, der durch den Kondensator fließt, wenn eine Gleichspannung angelegt wird. Er entsteht aus einer Schwächung der Oxidschicht durch chemische Prozesse während Lagerzeiten und durch Strombrücken außerhalb der Kondensatorzelle. Der Reststrom ist kapazitäts-, spannungs-, zeit- und temperaturabhängig. Er ist außerdem noch abhängig von der Vorgeschichte, zum Beispiel von der Temperaturbelastung durch einen Lötprozess.
Bedingt durch Selbstheilungseffekte in Elektrolytkondensatoren wird der Reststrom normalerweise immer geringer, je länger der Kondensator an Spannung liegt. Obwohl der Reststrom von Elektrolytkondensatoren deutlich höher ist als derjenige von Folien- oder Keramikkondensatoren, kann die Selbstentladung geladener moderner Elektrolytkondensatoren mehrere Wochen dauern.
=== Dielektrische Absorption ===
Unter dielektrischer Absorption oder dielektrischer Relaxation versteht man eine unerwünschte Ladungsspeicherung im Dielektrikum. Das hat zur Folge, dass ein Kondensator, der längere Zeit aufgeladen war und dann entladen wird, sich langsam wieder auflädt, nachdem der Entladewiderstand bzw. Kurzschluss beseitigt ist. Weil dabei nach einigen Minuten gut messbare Spannungen entstehen, heißt dies auch Nachladeeffekt. Er muss bei hochwertigen Kondensatoren berücksichtigt werden, wenn diese beispielsweise als Kapazitätsnormale eingesetzt werden sollen.
Der Effekt hat seine Ursache in den nicht idealen Eigenschaften des Dielektrikums. Unter Einwirkung eines äußeren elektrischen Feldes werden bei manchen Materialien durch atomare Umstrukturierung elektrische Elementardipole in Richtung des herrschenden Feldes ausgerichtet. Diese Ausrichtung läuft mit einer wesentlich langsameren Zeitkonstante ab, als der Raumladungsprozess des Kondensators und verbraucht zugeführte Energie. Diese Polarisationen bilden sich nach Abbruch der Feldeinwirkungen (Abschaltung der Betriebsspannung und komplette Entladung des Kondensators) im Dielektrikum nicht sofort zurück, so dass eine „Restspannung“ an den Kondensatorbelägen jeweils in der Polarität der vorher angelegt gewesenen Spannung nachweisbar bleibt. Dieser Effekt kann mit der magnetischen Remanenz (Restmagnetismus) verglichen werden.
In der Praxis hat diese oft minimale elektrische Spannung selten Auswirkungen auf die elektrische Schaltung. Ausnahmen sind beispielsweise Sample-and-Hold-Schaltungen oder Integrierer.
Die Größe der Absorption wird im Verhältnis zur ursprünglich angelegten Spannung angegeben und hängt von dem verwendeten Dielektrikum ab.
Die entstehende Spannung kann eine Gefährdung darstellen: Es können dadurch Schäden an Halbleitern oder Funkenbildung beim Kurzschließen von Anschlüssen verursacht werden. In Messschaltungen ist dieser Effekt unerwünscht, da er zu falschen Messergebnissen führt. Hochspannungs- und Leistungskondensatoren, auch größere Aluminium-Elektrolytkondensatoren werden daher kurzgeschlossen transportiert bzw. geliefert. Diese Kurzschlussbrücke muss nach dem Einbau wieder entfernt werden.
=== Streu- bzw. Parasitärkapazität ===
Aus physikalischen Gründen hat jedes reale elektrische Bauelement mehr oder weniger stark eine kapazitive Kopplung mit der Umgebung (Streukapazität) oder parallel zu seinem gewünschten Verhalten (Parasitärkapazität). Dieses kapazitive Verhalten kann vor allem bei hohen Frequenzen unerwünschte Auswirkungen haben.
Schaltungen, die an sich einen Kondensator benötigten, können aufgrund dieser schon vorhandenen Streukapazität zuweilen ohne einen Kondensator als separates Bauteil ausgeführt werden. Insbesondere können Kondensatoren im Picofaradbereich durch eine entsprechende Ausformung von Leiterzügen auf einer Leiterplatte ersetzt werden: Zwei gegenüberliegende Kupferflächen von 1 cm² haben bei einem Abstand von 0,2 mm beispielsweise bei Verwendung von FR2 als Basismaterial (εr = 3,4) eine Kapazität von 15 pF. Die Realisierung solcher „Kondensatoren“ ist jedoch eine Preisfrage. Ein 15-pF-MLCC-Klasse-2-Keramikkondensator ist einschließlich der Bestückungskosten und abzüglich der von ihm benötigten Leiterplattenfläche deutlich preiswerter als 1 cm² Leiterplattenfläche.
Bei einem Kondensator können unerwünschte kapazitive Kopplungen entstehen. Insbesondere gewickelte Kondensatoren sind asymmetrisch in Bezug auf die Außenfläche. An die außen liegende Schicht wird der „kalte“ Schaltungsteil (meist die Masse) angeschlossen, der das geringere oder niederohmigere Wechselspannungspotential führt, um eine Kopplung des Kondensators mit dem Umfeld zu verringern. Ähnlich verhält es sich mit Trimmkondensatoren, hier gilt das für den zur Trimmung betätigbaren Anschluss, um bei Betätigung mit einem Werkzeug dessen Störeinfluss zu verringern.
== Siehe auch ==
Frequenzkompensation
Glättungskondensator
== Literatur ==
Friedhelm Schiersching: Kondensatoren verstehen und anwenden. Kosmos, Stuttgart 1983, ISBN 3-440-05185-4.
Otto Zinke, Hans Seither: Widerstände, Kondensatoren, Spulen und ihre Werkstoffe. Springer, Berlin 1982, ISBN 3-540-11334-7.
Peter Volkmann, Edgar P. Vorndran: Elektrisches Feld und Kondensator. VDE, Berlin 1999, ISBN 3-8007-2018-3 (= Aufgaben Elektrotechnik + Elektronik. Band 2).
Wolfgang Just, Wolfgang Hofmann: Blindstromkompensation in der Betriebspraxis: Ausführung, Energieeinsparung, Oberschwingungen, Spannungsqualität. VDE, Berlin 2003, ISBN 3-8007-2651-3.
Hermann Böger, Friedrich Kähler, Günter Weigt: Bauelemente der Elektronik und ihre Grundschaltungen. Stam, Köln 1996, ISBN 3-8237-0214-9 (= Einführung in die Elektronik. Teil 1).
Heinz-Josef Bauckholt: Grundlagen und Bauelemente der Elektrotechnik. 7 Auflage. Hanser, München / Wien 2013, ISBN 978-3-446-43246-8, S. 409 ff.
DIN EN 60384-1.
Fritz Henze: Blindstrom und Leistungsfaktor. Fachbuchverlag, Leipzig 1955, DNB 451961005.
Stefan Hochsattel: „Den werden sie wohl immer brauchen …“ 75 Jahre Kondensatorfertigung in Gera. Eigenverlag S. Hochsattel, Gera 2013, ISBN 978-3-00-043983-4.
== Weblinks ==
Grundlagen und Funktionsweise
Wissenswertes über den Kondensator
CapSite 2016 Introduction To Capacitors Technische Details zu industriell relevanten Kondensatoren (englisch)
Technische Daten und weiterführende Informationen finden sich auf den Seiten der Hersteller, insbesondere: AVX, Cornell Dubilier, epcos,ELECTRONICON, Europe Chemi-Con, KEMET, Nichicon, Panasonic, Capacitive Products, RUBYCON, VISHAY, WIMA, Jianghai
museum-digital: Elektrolyt-Kondensator mit Steckanschlüssen, hergestellt im Werk für Fernmeldewesen (WF), Ostberlin, ca. 1959
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Kondensator_(Elektrotechnik) |
Chemische Reaktion | = Chemische Reaktion =
Eine chemische Reaktion ist ein Vorgang, bei dem eine oder meist mehrere chemische Verbindungen in andere umgewandelt werden und Energie freigesetzt oder aufgenommen wird. Auch Elemente können an Reaktionen beteiligt sein. Chemische Reaktionen sind in der Regel mit Veränderungen der chemischen Bindungen in Molekülen oder Kristallen verbunden. Durch eine chemische Reaktion können sich die Eigenschaften der Produkte im Vergleich zu den Edukten stark ändern. Nicht zu den chemischen Reaktionen zählen physikalische Vorgänge, bei denen sich lediglich der Aggregatzustand ändert wie Schmelzen oder Verdampfen, Diffusion, das Vermengen von Reinstoffen zu Stoffgemischen sowie Kernreaktionen, bei denen Elemente in andere umgewandelt werden.
Reaktionen bestehen aus einer meist recht komplizierten Folge einzelner Teilschritte, den sogenannten Elementarreaktionen, die zusammen die Gesamtreaktion bilden. Auskunft über den exakten Ablauf der Teilschritte gibt der Reaktionsmechanismus. Zur Beschreibung chemischer Reaktionen wird die Reaktionsgleichung verwendet, in der Edukte, Produkte und mitunter auch wichtige Zwischenprodukte graphisch dargestellt werden und über einen Pfeil, den Reaktionspfeil, miteinander verbunden werden.
Sowohl Elementarreaktionen als auch Reaktionsmechanismen kann man in verschiedene Gruppen aufteilen. Zu den Elementarreaktionen zählen etwa der Zerfall von einem Molekül in zwei oder der umgekehrte Fall, die Synthese von zwei Atomen oder Molekülen zu einem. Reaktionsmechanismen werden häufig nach der erfolgten Änderung in den beteiligten Stoffen eingeteilt. Erfolgt etwa eine Änderung der Oxidationszahlen, spricht man von Oxidation und Reduktion; entsteht ein festes Produkt aus gelösten Stoffen, von einer Fällung.
In welchem Umfang eine bestimmte Reaktion zweier oder mehrerer Partner stattfindet, hängt davon ab, wie groß die Differenz der sich aus einem enthalpischen und einem entropischen Anteil zusammensetzenden Gibbs-Energie der Produkte und der Edukte ist. Bei negativen Werten liegt das Reaktionsgleichgewicht auf Seite der Produkte. Es gibt jedoch auch viele Reaktionen, die zwar in diesem Sinne thermodynamisch möglich sind, aber kinetisch nur sehr langsam ablaufen, im Extremfall so langsam, dass sie praktisch nicht beobachtet werden können. Verantwortlich hierfür ist eine zu hohe Aktivierungsenergie, die aufgebracht werden muss, damit die weitere Reaktion möglich wird. Derartige Reaktionen laufen aber bei höheren Temperaturen schneller ab, da so eine vergleichsweise größere Anzahl der beteiligten Teilchen genug Energie besitzt, um die Aktivierungsbarriere zu überwinden. Bei vielen Reaktionen ist dies auch mittels Katalyse möglich, bei der nicht die direkte Reaktion, sondern eine andere, bei der ein dritter, aus der Reaktion unverändert hervorgehender Stoff beteiligt ist, stattfindet. Durch die Anwesenheit dieses Katalysators wird die benötigte Aktivierungsenergie gesenkt.
== Geschichte ==
Chemische Reaktionen wie die Verbrennung im Feuer, die alkoholische Gärung oder die Reduktion von Erzen zu Metallen – beispielsweise bei Eisen – sind schon seit sehr langer Zeit bekannt. Erste Theorien zur Umwandlung von Stoffen wurden von griechischen Philosophen entwickelt, etwa die Vier-Elemente-Lehre des Empedokles, nach der jeder Stoff aus den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde zusammengesetzt ist und in diese auch zerlegt werden kann. Im Mittelalter beschäftigten sich vor allem die Alchemisten mit chemischen Reaktionen. Dabei versuchten sie insbesondere Blei in Gold umzuwandeln, wobei sie unter anderem Reaktionen von Blei und Blei-Kupfer-Legierungen mit Schwefel einsetzten.Die Herstellung chemischer Substanzen, die in der Natur nicht vorkommen, durch geeignete Reaktionen ist schon lange bekannt. Dies betrifft etwa die Schwefel- und Salpetersäure, deren erstmalige Herstellung dem umstrittenen Alchemisten Dschābir ibn Hayyān zugeschrieben werden. Die Herstellung erfolgte durch Erhitzung von Sulfat- und Nitraterzen wie Kupfervitriol, Alaun und Salpeter. Im 17. Jahrhundert stellte Johann Rudolph Glauber durch Reaktion von Schwefelsäure und Natriumchlorid erstmals Salzsäure und Natriumsulfat her. Mit Entwicklung des Bleikammer-Verfahrens zur Schwefelsäureproduktion und des Leblanc-Verfahrens zur Natriumcarbonatherstellung wurden chemische Reaktionen auch industriell eingesetzt. Mit der zunehmenden Industrialisierung wurde die industrielle Synthese immer bedeutender und es wurden neuere und effizientere Verfahren entwickelt. Beispiele sind etwa das ab 1870 angewendete Kontaktverfahren zur Schwefelsäureproduktion oder das 1910 entwickelte Haber-Bosch-Verfahren zur Ammoniaksynthese.
Ab dem 16. Jahrhundert versuchten Forscher wie Johan Baptista van Helmont, Robert Boyle oder Isaac Newton beobachtete chemische Umwandlungen wissenschaftlich zu untersuchen und Theorien zu ihrem Ablauf aufzustellen. Eine wichtige untersuchte Reaktion war die Verbrennung, für die Johann Joachim Becher und Georg Ernst Stahl Anfang des 18. Jahrhunderts die Phlogistontheorie entwickelten. Diese erwies sich jedoch als falsch und konnte 1785 durch Antoine Lavoisier widerlegt werden, der die korrekte Erklärung der Verbrennung als Reaktion mit Sauerstoff der Luft fand.Joseph Louis Gay-Lussac erkannte 1808, dass Gase stets in bestimmten Verhältnissen miteinander reagieren. Daraus und aus Daltons Atomtheorie entwickelte Joseph Louis Proust das Gesetz der konstanten Proportionen, auf dem die Stöchiometrie aufbaut und das auch die Entwicklung der Reaktionsgleichungen ermöglichte.Für organische Reaktionen wurde lange Zeit angenommen, dass sie durch eine spezielle „Lebenskraft“ (vis vitalis) bestimmt werden und sich so von nicht-organischen Reaktionen unterscheiden. Nach der Harnstoffsynthese aus anorganischen Vorläufersubstanzen durch Friedrich Wöhler 1828 verlor diese Annahme in der Chemie stark an Bedeutung. Weitere Chemiker, die wichtige Beiträge zur Aufklärung organischer chemischer Reaktionen lieferten, waren beispielsweise Justus von Liebig mit seiner Radikaltheorie, Alexander William Williamson, der die nach ihm benannte Synthese von Ethern entwickelte, sowie Christopher Kelk Ingold, der unter anderem die Mechanismen für Substitutionsreaktionen erforschte.
== Reaktionsgleichungen ==
Um chemische Reaktionen graphisch darzustellen, werden sogenannte Reaktionsgleichungen genutzt. Diese bestehen aus Summen- oder Strukturformeln der Edukte auf der linken und denen der Produkte auf der rechten Seite. Dazwischen befindet sich ein Pfeil, der sogenannte Reaktionspfeil, der die Richtung und Art der Reaktion anzeigt. Die Spitze des Pfeiles zeigt dabei immer in die Richtung, in die die Reaktion verläuft. Bei Gleichgewichtsreaktionen werden Doppelpfeile genutzt, die in entgegengesetzte Richtungen zeigen. Reaktionsgleichungen sollten stöchiometrisch ausgeglichen sein. Dies bedeutet, dass auf beiden Seiten des Reaktionspfeils die gleiche Zahl Atome stehen soll und Gleichungen gegebenenfalls durch unterschiedliche Anzahlen der beteiligten Moleküle ausgeglichen werden.
A
+
B
⟶
C
+
D
{\displaystyle \mathrm {A+B\longrightarrow C+D} }
Schematische einfache ReaktionsgleichungKompliziertere Reaktionen werden durch Formelschemata dargestellt, die neben Edukten und Produkten auch wichtige Zwischenprodukte oder Übergangszustände zeigen. Dabei werden die Reaktionswege durch Pfeile verdeutlicht, die den Angriff von Elektronenpaaren eines Atoms an andere Atome zeigen. In Reaktionsgleichungen der organischen Chemie werden kleine, anorganische Moleküle wie Wasser oder Kohlenstoffdioxid, häufig auf den Pfeil (für Edukte) oder darunter (für Produkte) gesetzt oder durch Vorzeichen kenntlich gemacht. Auch Katalysatoren, Lösungsmittel, besondere Bedingungen oder andere Stoffe, die während der Reaktion eine Rolle spielen, sich bei dieser aber nicht verändern, werden auf den Reaktionspfeil geschrieben.
Für die Planung komplizierter Synthesen kann auch die Schreibweise einer Reaktion als Retrosynthese nützlich sein. Hier wird eine Reaktion vom Ende, also dem Produkt her aufgeschrieben, das über mögliche Syntheseschritte so lange zerlegt wird, bis mögliche Edukte erreicht sind. Retrosynthesen werden durch einen speziellen Pfeil, den Retrosynthesepfeil (
⟹
{\displaystyle \Longrightarrow }
), gekennzeichnet.
== Elementarreaktionen ==
Die Elementarreaktion ist der kleinste Abschnitt, in den eine chemische Reaktion zerlegt werden kann. Makroskopisch beobachtbare Reaktionen bauen sich aus einer Vielzahl Elementarreaktionen auf, die parallel oder nacheinander ablaufen. Die konkrete Abfolge einzelner Elementarreaktionen bezeichnet man auch als Reaktionsmechanismus. An einer Elementarreaktion sind in der Regel ein oder zwei, selten drei Moleküle beteiligt. Reaktionen mit mehr Molekülen sind praktisch ausgeschlossen, da es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich mehr als drei Moleküle gleichzeitig nahe genug für eine Reaktion kommen.Die wichtigsten Elementarreaktionen sind die unimolekularen und die bimolekularen Reaktionen. Bei einer unimolekularen Reaktion ist nur ein Molekül beteiligt, das sich durch eine Isomerisierung oder einen Zerfall in ein oder mehrere andere Moleküle umwandelt. Für diese Reaktionen braucht es in der Regel Energiezufuhr etwa in Form von Wärme oder durch Bestrahlung mit Licht.
Ein Beispiel für eine typische unimolekulare Reaktion ist die cis-trans-Isomerisierung, bei der die cis-Form einer Verbindung in die trans-Form oder umgekehrt umgewandelt wird.
Bei einer Dissoziation spaltet sich eine Bindung in einem Molekül und es entstehen zwei Teile. Die Spaltung kann homo- oder heterolytisch erfolgen. Im ersten Fall wird die Bindung so gespalten, dass jeder Teil ein Elektron behält und Radikale entstehen, bei der heterolytischen Spaltung bleiben beide Elektronen bei einem Teil des Moleküls, während der andere keine Elektronen aus der gespaltenen Bindung zurückbehält und so Ionen entstehen. Zerfälle spielen eine wichtige Rolle beim Auslösen von Kettenreaktionen wie der Knallgasreaktion oder Polymerisationen.
A
B
⟶
A
+
B
{\displaystyle \mathrm {AB\longrightarrow A+B} }
Zerfall eines Moleküls AB in zwei kleinere Teile A und BBei bimolekularen Reaktionen stoßen zwei Moleküle zusammen und reagieren miteinander. Eine Möglichkeit dabei ist, dass aus diesen zwei Molekülen ein einziges wird, also eine Synthese stattfindet. Dies erfolgt beispielsweise bei der Reaktion zweier Radikale zu einem Molekül. Auch bei Additionsreaktionen der organischen Chemie bildet sich aus mehreren Molekülen ein neues.
A
+
B
⟶
A
B
{\displaystyle \mathrm {A+B\longrightarrow AB} }
Es ist aber auch möglich, dass bei einer Reaktion kein stabiles Molekül entsteht und nur ein Teil des einen auf das andere Molekül übergeht. Dieser Reaktionstyp tritt beispielsweise bei Redox- und Säure-Base-Reaktionen auf. Bei Redoxreaktionen ist das übertragene Teilchen ein Elektron, bei Säure-Base-Reaktionen ein Proton. Dieser Reaktionstyp wird auch Metathese genannt.
H
A
+
B
⟶
A
+
H
B
{\displaystyle \mathrm {HA+B\longrightarrow A+HB} }
== Chemisches Gleichgewicht ==
Jede chemische Reaktion in homogener Phase ist umkehrbar und kann in beide Richtungen verlaufen. Wenn etwa die Reaktion zweier Stoffe zu einem dritten stattfindet, existiert gleichzeitig auch der Zerfall des dritten in die Ausgangsstoffe. Hin- und Rückreaktion stehen immer in Konkurrenz zueinander und unterscheiden sich durch unterschiedliche Reaktionsgeschwindigkeiten. Da Reaktionsgeschwindigkeiten auch konzentrationsabhängig sind, ändern sie sich mit der Zeit. Die Geschwindigkeiten von Hin- und Rückreaktion nähern sich mit Verlauf der Reaktion immer weiter an, bis sie schließlich gleich sind. Zu diesem Zeitpunkt ändern sich die Konzentrationen der einzelnen Stoffe in der Reaktionsmischung nicht mehr, ein Gleichgewicht, das sogenannte chemische Gleichgewicht, ist erreicht.
Die Lage des Gleichgewichtes ist neben den Eigenschaften der beteiligten Stoffe abhängig von der Temperatur und dem Druck und wird durch die minimale freie Energie bestimmt. Häufig wird auch mit der Ableitung der freien Enthalpie, der freien Reaktionsenthalpie gerechnet, die im Gleichgewicht 0 sein muss. Die Druckabhängigkeit lässt sich einfach mit dem Prinzip von Le Chatelier erklären, nach der ein System einem Zwang wie einer Druckerhöhung so ausweicht, dass die Wirkung minimal wird.
An diesem Punkt ist die maximale Ausbeute einer Reaktion erreicht, da bei weiterer Bildung eines Produktes nun die Rückreaktion schneller abläuft und daher so lange bevorzugt wird, bis wieder das Gleichgewicht erreicht wird. Größere Ausbeuten lassen sich aber durch Entfernen von Produkten aus der Reaktionsmischung, bei der das Gleichgewicht gestört wird, oder durch Änderungen von Druck oder Temperatur erzielen. Keinen Einfluss auf die Lage des Gleichgewichtes besitzen die Ausgangskonzentrationen der beteiligten Stoffe.
== Thermodynamik ==
Chemische Reaktionen werden maßgeblich von den Gesetzen der Thermodynamik bestimmt. Prinzipiell läuft jede Reaktion umkehrbar ab. Jedoch liegt das Gleichgewicht in sehr vielen Fällen fast vollständig auf Seite der Edukte. Damit eine Reaktion ablaufen kann, muss sie exergon sein, also die freie Enthalpie während der Reaktion abnehmen. Die freie Enthalpie setzt sich aus zwei verschiedenen thermodynamischen Größen, der Enthalpie und der Entropie, zusammen. Diese sind über die Fundamentalgleichung für die freie Enthalpie miteinander verbunden.
Δ
G
=
Δ
H
−
T
⋅
Δ
S
{\displaystyle \Delta G=\Delta H-T\cdot \Delta S}
G: freie Enthalpie, H: Enthalpie, T: Temperatur, S: Entropie, Δ: DifferenzenReaktionen können auf mehrere Arten stattfinden. Eine Möglichkeit ist die exotherme Reaktion, bei der ΔH negativ ist und Energie frei wird. Abhängig von der Größe der freiwerdenden Energie können hierbei auch hochgeordnete Strukturen, die eine niedrige Entropie besitzen, entstehen. Typische Beispiele für exotherme Reaktionen mit Entropieverlust sind Fällungen und Kristallisationen, bei denen aus ungeordneten Strukturen in Gasphase, Flüssigkeit oder Lösung, geordnete feste Strukturen entstehen. Bei endothermen Reaktionen wird dagegen Wärme verbraucht und muss aus der Umgebung aufgenommen werden. Diese können nur ablaufen, wenn gleichzeitig die Entropie des Systems zunimmt. Dies kann beispielsweise über die Bildung gasförmiger Reaktionsprodukte erfolgen, die eine hohe Entropie besitzen.
Da die Entropie temperaturabhängig ist und mit steigender Temperatur zunimmt, finden Entropie-bestimmte Reaktionen wie Zerfälle bevorzugt bei hohen Temperaturen statt. Energie-bestimmte Reaktionen wie Kristallisationen finden dagegen vor allem bei tiefen Temperaturen statt. Mitunter lässt sich die Richtung einer Reaktion durch Temperaturänderung umdrehen.
Ein Beispiel hierfür ist das Boudouard-Gleichgewicht.
C
O
2
+
C
⇌
2
C
O
;
Δ
H
=
+
172
,
45
k
J
⋅
m
o
l
−
1
{\displaystyle \mathrm {CO_{2}+C\rightleftharpoons 2\ CO} ;\quad \Delta H=+172{,}45\ \mathrm {kJ\cdot mol} ^{-1}}
Die Reaktion von Kohlenstoffdioxid und Kohlenstoff zu Kohlenstoffmonoxid ist endotherm, so dass das Gleichgewicht bei tiefen Temperaturen auf der Seite des Kohlenstoffdioxides liegt. Erst bei Temperaturen von über 800 °C ist durch die höhere Entropie auf der Seite des Kohlenstoffmonoxides diese Seite bevorzugt.Auch über Änderungen der inneren Energie können Reaktionen betrachtet werden. Diese lässt sich ebenfalls über eine Fundamentalgleichung beschreiben, die unter anderem Entropie, Volumenänderungen und chemisches Potential berücksichtigt. Letzteres hängt unter anderem von den Aktivitäten der beteiligten Stoffe ab.
d
U
=
T
d
S
−
p
d
V
+
μ
d
n
{\displaystyle \mathrm {d} U=T\,\mathrm {d} S-p\,\mathrm {d} V+\mu \,\mathrm {d} n\!}
U: innere Energie, S: Entropie, p: Druck, μ: chemisches Potential, n: Stoffmenge, d: differentielle Schreibweise
== Reaktionskinetik ==
Die Reaktionskinetik untersucht die Geschwindigkeit, mit der eine Reaktion abläuft. Diese ist von verschiedenen Parametern der Reaktion abhängig, etwa der Reaktionsordnung, den Konzentrationen der beteiligten Stoffe, der Temperatur, der Aktivierungsenergie und weiteren, meist empirisch bestimmten Faktoren. Zudem gibt es verschiedene Theorien, Reaktionsgeschwindigkeiten für verschiedene Systeme theoretisch auf molekularer Ebene zu berechnen. Dieses Arbeitsgebiet wird in Abgrenzung zur Reaktionskinetik auch als Reaktionsdynamik bezeichnet.
Für Elementarreaktionen lassen sich einfache Geschwindigkeitsgesetze aufstellen, die sich je nach Reaktionsordnung unterscheiden und die Abhängigkeit von den Konzentrationen der beteiligten Stoffe zeigen. Für eine Reaktion erster Ordnung, also etwa einen Zerfall eines Stoffes A, gilt für die Reaktionsgeschwindigkeit v (k: Geschwindigkeitskonstante, t: Zeit, [A]: Konzentration von A, [A]0: Anfangskonzentration von A):
v
=
−
d
[
A
]
d
t
=
k
⋅
[
A
]
{\displaystyle v=-{\frac {\mathrm {d} [\mathrm {A} ]}{\mathrm {d} t}}=k\cdot [\mathrm {A} ]}
integriert
[
A
]
t
=
[
A
]
0
⋅
e
−
k
⋅
t
{\displaystyle \mathrm {[A]} _{t}=\mathrm {[A]} _{0}\cdot e^{-k\cdot t}}
Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt also bei einer Reaktion erster Ordnung nur von der Konzentration und den Eigenschaften des zerfallenden Stoffes ab. Da bei einer Reaktion 1. Ordnung die Konzentration exponentiell mit der Zeit abnimmt, lässt sich eine konstante und damit für die jeweilige Reaktion typische Halbwertszeit bestimmen. Vor allem bei den nicht zu den chemischen Reaktionen gehörenden, aber ebenfalls nach einem Geschwindigkeitsgesetz erster Ordnung ablaufenden radioaktiven Zerfällen wird dieser Wert häufig angegeben. Für andere Reaktionsordnungen und kompliziertere Reaktionen existieren entsprechend andere Geschwindigkeitsgesetze. Um die Geschwindigkeitskonstante zu berechnen, kann die Arrhenius-Gleichung verwendet werden, die die Temperaturabhängigkeit der Konstante zeigt.
Ein einfaches Modell, mit dem der molekulare Ablauf einer chemischen Reaktion und die Reaktionsgeschwindigkeiten erklärt werden können, ist die Stoßtheorie. Mit dieser lassen sich jedoch nur wenige einfache Reaktionen einigermaßen korrekt berechnen. Für kompliziertere Reaktionen muss darum auf genauere Theorien, die in der Regel auf ein spezielles Problem zugeschnitten sind, zurückgegriffen werden. Dazu zählen etwa die Theorie des Übergangszustandes, die Berechnung der Potentialhyperfläche, die Marcus-Theorie und die RRKM-Theorie.
== Arten von Reaktionen ==
Reaktionen können in verschiedene Arten eingeteilt werden, die sich in der Art des übertragenen Teilchens und den entstehenden Produkten unterscheiden.
=== Oxidation und Reduktion ===
Werden bei einer Reaktion zweier Atome Elektronen übertragen, ändern sich die Oxidationsstufen der beteiligten Atome. Das Atom, das ein oder mehrere Elektronen abgibt (Reduktionsmittel genannt), wird oxidiert, das andere, das Oxidationsmittel, entsprechend reduziert. Da beide Reaktionen stets zusammen auftreten, spricht man auch von einer Redoxreaktion.
Welcher der beteiligten Reaktionspartner Reduktions- beziehungsweise Oxidationsmittel ist, lässt sich anhand der Elektronegativitäten der beteiligten Elemente vorhersagen. Elemente mit niedrigen Elektronegativitäten, wie die meisten Metalle, geben leicht Elektronen ab und werden dementsprechend oxidiert, Nichtmetalle mit hohen Elektronegativitäten werden dagegen leicht reduziert. Sind Ionen an einer Redoxreaktion beteiligt, ist auch die Oxidationsstufe des Ions zu beachten. So sind Chromate oder Permanganate, bei denen die Elemente in hohen Oxidationsstufen vorliegen, starke Oxidationsmittel.
Wie viele Elektronen ein Element in einer Redoxreaktion abgibt beziehungsweise aufnimmt, lässt sich häufig durch die Elektronenkonfiguration der Edukte vorhersagen. Elemente versuchen, die Edelgaskonfiguration zu erreichen und geben darum häufig eine dementsprechende Anzahl Elektronen ab oder nehmen sie auf. Dies gilt insbesondere für viele Hauptgruppenelemente wie die Alkalimetalle, Erdalkalimetalle oder Halogene. Für Übergangsmetalle und insbesondere schwere Atome gilt dies auf Grund der notwendigen hohen Ladung zum Erreichen der Edelgaskonfiguration und dem zunehmenden Einfluss relativistischer Effekte jedoch vielfach nicht. Die Edelgase, die schon Edelgaskonfiguration besitzen, haben dementsprechend keine Neigung, weitere Elektronen aufzunehmen und sind sehr reaktionsträge.
Eine wichtige Klasse der Redoxreaktionen sind die elektrochemischen Reaktionen. In der Elektrolyse dienen die Elektronen des elektrischen Stroms als Reduktionsmittel. Elektrochemische Reaktionen finden in galvanischen Zellen statt, bei denen Reduktion und Oxidation räumlich getrennt stattfinden. Besonders wichtig sind diese Reaktionen für die Gewinnung vieler Elemente wie Chlor oder Aluminium. Auch die umgekehrte Reaktion, bei der in Redoxreaktionen Elektronen frei werden und als elektrische Energie genutzt werden können, ist möglich. Dies ist das Prinzip der Batterie, in der Energie chemisch gespeichert und in elektrische Energie umgewandelt wird.
=== Komplexbildungsreaktion ===
Bei der Komplexbildungsreaktion reagieren mehrere Liganden mit einem Metallatom zu einem Komplex. Dies erfolgt dadurch, dass freie Elektronenpaare der Liganden in leere Orbitale des Metallatoms eindringen und eine koordinative Bindung bilden. Bei den Liganden handelt es sich um Lewis-Basen, die freie Elektronenpaare besitzen. Dies können sowohl Ionen als auch neutrale Moleküle (etwa Kohlenstoffmonoxid, Ammoniak oder Wasser) sein. In welcher Anzahl Liganden mit dem zentralen Metallatom reagieren, lässt sich häufig mit Hilfe der 18-Elektronen-Regel voraussagen, durch die besonders stabile Komplexe bestimmt werden können. Nach der Kristallfeld- und Ligandenfeldtheorie spielt auch die Geometrie des Komplexes eine wichtige Rolle, besonders häufig bilden sich tetraedrische oder oktaedrische Komplexe.Auch innerhalb eines Komplexes können Reaktionen stattfinden. Dazu zählen etwa der Ligandenaustausch, bei der ein oder mehrere Liganden durch einen anderen ersetzt werden, Umlagerungen sowie Redox-Vorgänge, bei denen sich die Oxidationsstufe des zentralen Metallatoms ändert.
=== Säure-Base-Reaktionen ===
Säure-Base-Reaktionen sind – bei der Säuredefinition nach Brønsted – Reaktionen, bei denen Protonen von einem Molekül zum anderen übertragen werden. Dabei wird das Proton immer von der Säure (Protonendonator) auf die Base (Protonenakzeptor) übertragen (Protolyse).
H
A
+
B
⇌
A
−
+
H
B
+
{\displaystyle \mathrm {HA+B\rightleftharpoons A^{-}+HB^{+}} }
Säure-Base-Reaktion, HA: Säure, B: Base, A−: korrespondierende Base, HB+: korrespondierende SäureDa bei der Übertragung des Protons von der Säure zur Base wiederum eine Base und eine Säure entstehen, die sogenannten korrespondierenden Säuren bzw. Basen, ist auch die Rückreaktion möglich. Säure/Base und korrespondierende Base/Säure stehen daher immer im Gleichgewicht. Auf welcher Seite der Reaktion das Gleichgewicht liegt, lässt sich durch die Säurekonstanten der beteiligten Stoffe bestimmen. Je stärker eine Säure bzw. Base ist, desto leichter gibt sie das Proton ab bzw. nimmt es auf. Ein Spezialfall der Säure-Base-Reaktion ist die Neutralisation, bei der eine Säure und eine Base in exakt dem Verhältnis reagieren, dass eine neutrale Lösung, also eine Lösung ohne Überschuss an Hydroxid- oder Oxoniumionen entsteht.
=== Fällung ===
Die Fällung ist eine Reaktion, bei der sich vorher gelöste Teilchen verbinden und zu einem neuen, wasserunlöslichen Stoff werden, dem Niederschlag. Dies findet vor allem bei gelösten Ionen statt, die sich bei Überschreitung des Löslichkeitsproduktes zusammenfinden und ein unlösliches Salz bilden. Dies kann beispielsweise durch Zugabe eines Fällungsmittels mit geringem Löslichkeitsprodukt zu einem schon gelösten Salz oder durch Entfernen des Lösungsmittels erfolgen. Je nach Bedingungen kann ein Stoff sehr unterschiedlich aus einer Lösung ausfallen. Erfolgt die Fällung schnell, haben die Ionen keine Zeit sich zu ordnen, es bildet sich ein amorpher oder mikrokristalliner Niederschlag. Beim langsamen Überschreiten des Löslichkeitsproduktes und einer Übersättigung erfolgt die Fällung dagegen nur langsam. Die Ionen haben daher Zeit, sich zu ordnen und es bilden sich regelmäßig aufgebaute Kristalle. Dies kann auch durch Umkristallisation aus dem mikrokristallinen Niederschlag erfolgen.
=== Festkörperreaktionen ===
Reaktionen können auch zwischen zwei festen Stoffen stattfinden. Jedoch ist die Diffusion, die die Reaktionsgeschwindigkeit hierbei maßgeblich bestimmt, sehr klein, Festkörperreaktionen sind dementsprechend langsame Reaktionen. Dies bewirkt, dass Festkörperreaktionen in der Regel bei hohen Temperaturen durchgeführt werden müssen. Gleichzeitig sollten die Reaktanten möglichst fein verteilt vorliegen, da so eine möglichst große Oberfläche, an der die beiden Stoffe reagieren können, geschaffen wird.
=== Photochemische Reaktionen ===
In photochemischen Reaktionen spielt elektromagnetische Strahlung eine entscheidende Rolle. Von besonderer Bedeutung sind hierbei Licht und UV-Strahlung von etwa 200 bis 800 nm Wellenlänge. Durch diese Strahlung werden Elektronen in Atomen und Molekülen angeregt, es bilden sich angeregte Zustände. Diese sind durch die absorbierten Photonen sehr energiereich und können die Energie über verschiedene Prozesse abgeben. Neben physikalischen Prozessen wie Fluoreszenz und Phosphoreszenz sind hier auch Reaktionen möglich. Häufig erfolgen homolytische Bindungsbrüche, so dass Radikale entstehen. So können durch photochemische Reaktionen beispielsweise Kettenreaktionen wie die Knallgasreaktion von Wasserstoff und Sauerstoff ausgelöst werden. Aber auch Ionisierungen, Elektronentransferreaktionen, Isomerisierungen oder Umlagerungen können durch photochemische Reaktionen verursacht werden.Eine biologisch sehr wichtige photochemische Reaktion ist die Photosynthese, bei der mit Hilfe von Licht organische Verbindungen aus Kohlenstoffdioxid und Wasser synthetisiert werden. Auch in der Atmosphärenchemie, etwa beim Auf- und Abbau von Ozon spielen photochemische Reaktionen eine wichtige Rolle.
== Katalyse ==
Bei einer Katalyse findet die Reaktion zweier Stoffe nicht direkt, sondern über einen Umweg statt. Es ist immer ein dritter Stoff, der sogenannte Katalysator, beteiligt, der in die Reaktion eingreift, aber am Ende stets unverändert aus der Reaktion hervorgeht. Durch die Katalyse können Reaktionen, die durch eine hohe Aktivierungsenergie kinetisch gehemmt wird, unter Umgehung dieser Aktivierungsenergie stattfinden. Dadurch ist häufig nur noch ein geringer Energieeinsatz und damit eine wirtschaftliche Durchführung einer Reaktion möglich. Mitunter werden Reaktionen durch Katalysatoren auch erst ermöglicht, wenn etwa bei sonst nötigen Temperaturen Konkurrenzreaktionen bevorzugt ablaufen.
Katalysatoren können sowohl in einer anderen Phase (heterogen) als auch in gleicher Phase (homogen) vorliegen. Heterogene Katalysatoren sind meist Festkörper, an deren Oberfläche die Reaktionen stattfinden. Dementsprechend sollte die Oberfläche des Katalysators für eine effektive Katalyse möglichst groß sein. Katalytische Reaktionen an Oberflächen sind häufig mit Chemisorption verbunden, bei der ein Molekül chemisch an die Oberfläche gebunden und daher die Bindungen innerhalb des Moleküls geschwächt werden. So ist eine leichtere Reaktion möglich.
Von besonderer Bedeutung in der heterogenen Katalyse sind die Platinmetalle und weitere Übergangsmetalle, die in vielen technisch wichtigen Reaktionen wie Hydrierungen, Katalytisches Reforming oder der Synthese von Grundchemikalien wie Salpetersäure oder Ammoniak verwendet werden. Katalysatoren der Homogenen Katalyse können etwa Säuren sein, die die Nukleophilie einer Carbonylgruppe erhöhen und so eine Reaktion mit sonst nicht reagierenden Elektrophilen ermöglichen, oder lösliche Komplexe wie bei der Hydroformylierung.
Homogene Katalysatoren haben den Vorteil, dass es keine Probleme mit der Erreichbarkeit des Katalysators und zu kleinen Oberflächen gibt, die Reaktanten und der Katalysator können durch Vermischen und Rühren leicht zusammengebracht werden. Zudem kann der Katalysator, etwa ein Komplex, speziell und reproduzierbar für eine Reaktion synthetisiert werden. Ein Nachteil ist jedoch die schwierige Abtrennung des Katalysators vom Produkt, was zu Verunreinigungen und Verlust des meist teuren Katalysators führen kann. Darum werden in vielen technischen Prozessen heterogene Katalysatoren bevorzugt.
== Reaktionen in der organischen Chemie ==
In der organischen Chemie gibt es neben den auch bei anorganischen Stoffen ablaufenden Reaktionen wie Oxidationen, Reduktionen oder Säure-Base-Reaktionen eine Vielzahl weiterer Reaktionen, bei denen kovalente Bindungen zwischen Kohlenstoffatomen oder Kohlenstoff- und Heteroatomen (beispielsweise Sauerstoff, Stickstoff, Halogene) gebildet werden. Diese werden neben der Unterscheidung zwischen homolytischen und radikalisch ablaufenden Reaktionen, vor allem nach der Art der Strukturänderung eingeteilt. Viele spezielle Reaktionen in der organischen Chemie sind als Namensreaktionen nach ihren Entdeckern benannt.
=== Substitution ===
Bei der Substitution wird ein Atom, Molekülteil oder Ligand (in der Komplexchemie, in der Substitutionen ebenfalls möglich sind) gegen einen anderen ausgetauscht. Ein angreifendes Atom oder Molekül nimmt dabei den Platz eines anderen, als Abgangsgruppe abgespaltenen Atoms oder Moleküls ein. Die Bindigkeit des Kohlenstoffatoms ändert sich nicht.
Substitutionsreaktionen können je nach angreifendem Teilchen in drei Arten eingeteilt werden. Bei nukleophilen Substitutionen greift ein Nukleophil, also ein Atom oder Molekül mit einem Elektronenüberschuss und damit einer negativen Ladung oder Partialladung, an ein geeignetes Kohlenstoffatom an und ersetzt ein anderes Atom oder Teilmolekül. Typische Nukleophile sind Atome, Ionen oder Atomgruppen mit elektronegativen Nichtmetallen wie Amine, Halogenide, Thiole, Hydroxide oder Alkoholate. Neben dem Nukleophil spielt auch die Abgangsgruppe eine Rolle, ob eine Substitution stattfindet. Gute Abgangsgruppen sollten leicht abzuspalten sein und möglichst stabile Moleküle oder Ionen bilden. Beispiele sind die schweren Halogenide Bromid und Iodid oder Stickstoff. Diesen Reaktionstyp findet man vorwiegend bei aliphatischen Kohlenwasserstoffen, bei Aromaten ist er – da Aromaten eine hohe Elektronendichte besitzen – eher selten und kann nur unter speziellen Umständen bei sehr stark elektronenziehenden Gruppen am Aromaten stattfinden (Nukleophile aromatische Substitution). Nukleophile Substitutionen können nach zwei verschiedenen Mechanismen, als SN1 und SN2 bezeichnet, ablaufen. Die Bezeichnungen leiten sich von den Reaktionsordnungen ab, nach denen die geschwindigkeitsbestimmenden Schritte der beiden Reaktionsarten ablaufen.
Im SN1-Mechanismus wird zunächst die Abgangsgruppe abgespalten, es entsteht ein Carbokation. Anschließend erfolgt eine schnelle Reaktion mit dem Nukleophil.
Beim SN2-Mechanismus greift zunächst das Nukleophil unter Bildung eines gemeinsamen Übergangszustandes an, erst danach wird die Abgangsgruppe abgespalten. Die beiden Mechanismen unterscheiden sich in der Stereochemie der erhaltenen Produkte, bei SN1 tritt auf Grund des dreibindigen Carbokations eine Racemisierung ein, während bei SN2 eine Umkehr der vorher vorhandenen Stereochemie (Walden-Umkehr) beobachtet wird.
Das Gegenstück zur nukleophilen Substitution ist die Elektrophile Substitution. Bei dieser ist ein Elektrophil, also ein Atom oder Molekül mit einer geringeren Elektronendichte, also einer positiven Ladung oder Partialladung, das angreifende Teilchen. Typische Elektrophile sind beispielsweise Carbokationen, das Kohlenstoffatom in Carbonylgruppen, Schwefeltrioxid oder Nitronium-Kationen. Diese Reaktion findet fast ausschließlich bei aromatischen Kohlenwasserstoffen statt, man spricht darum auch häufig von einer elektrophilen aromatischen Substitution. Im Mechanismus bildet sich durch den Angriff des Elektrophils zunächst der sogenannte σ-Komplex, ein Übergangszustand, bei dem das aromatische System aufgehoben ist. Anschließend wird die Abgangsgruppe, in der Regel ein Proton, abgespalten und das aromatische System wiederhergestellt.
Bei der dritten Substitutionsart ist das angreifende Teilchen ein Radikal, es wird darum auch von einer radikalischen Substitution gesprochen. Diese verläuft in Form einer Kettenreaktion und findet beispielsweise bei der Reaktion von Alkanen mit Halogenen statt. Im ersten Schritt werden etwa durch Licht, Hitze oder den Zerfall von sehr instabilen Molekülen wenige Startradikale gebildet. In der Kettenreaktion verläuft die Reaktion durch Übertragung des Radikals weiter, bis es durch die Rekombination zweier Radikale zu einem Kettenabbruch kommt.
X
⋅
+
R
−
H
⟶
X
−
H
+
R
⋅
{\displaystyle \mathrm {X{\cdot }+R{-}H\longrightarrow X{-}H+R{\cdot }} }
R
⋅
+
X
2
⟶
R
−
X
+
X
⋅
{\displaystyle \mathrm {R{\cdot }+X_{2}\longrightarrow R{-}X+X{\cdot }} }
Reaktionen während der Kettenreaktion einer radikalischen Substitution
=== Addition/Eliminierung ===
Die Addition und das Gegenstück, die Eliminierung, sind Reaktionen, bei denen sich die Anzahl der Substituenten am Kohlenstoffatom ändert und Mehrfachbindungen gebildet oder gespalten werden. Bei Eliminierungsreaktionen werden Doppel- und Dreifachbindungen aufgebaut, indem an jedem Kohlenstoffatom der Bindung jeweils ein Substituent entfernt („eliminiert“) wird. Für eine Eliminierung muss sich an einem Kohlenstoffatom der fraglichen Bindung eine geeignete Abgangsgruppe befinden, die relativ leicht abgespalten werden kann. Ähnlich wie bei der nukleophilen Substitution gibt es mehrere mögliche Mechanismen, die je nach Molekül und Bedingungen ablaufen und wiederum nach der jeweiligen Reaktionsordnung benannt sind. Im E1-Mechanismus findet zunächst die Abspaltung der Abgangsgruppe unter Bildung eines Carbokations statt. Im nächsten Schritt erfolgt dann die Ausbildung der Doppelbindung unter Abspaltung eines Protons. Auf Grund der ähnlichen Bedingungen beider Reaktionen steht die E1-Eliminierung immer in Konkurrenz zur SN1-Substitution.
Ebenfalls erster Reaktionsordnung ist der E1cb-Mechanismus, bei dem mit Hilfe einer Base zunächst das Proton abgespalten wird und sich ein Carbanion bildet. Im nächsten Schritt bildet sich unter Abspaltung der Abgangsgruppe die Doppelbindung.
Der E2-Mechanismus erfordert ebenfalls eine Base. Bei diesem laufen jedoch der Angriff der Base und die Abspaltung der Abgangsgruppe konzertiert ab und es wird kein ionisches Zwischenprodukt gebildet. Im Gegensatz zu den E1-Eliminierungen ist hier die Festlegung der Stereochemie im Produkt möglich, da eine Reaktion der Base in anti-Stellung zur Abgangsgruppe bevorzugt abläuft. Durch ähnliche Bedingungen und Reagenzien steht die E2-Eliminierung immer in Konkurrenz zur SN2-Substitution.
Das Gegenstück zur Eliminierung ist die Additionsreaktion. Bei dieser lagern sich Atome oder Moleküle an Doppel- oder Dreifachbindungen an und bilden Einfachbindungen. Additionsreaktionen können sowohl an C-C-Mehrfachbindungen, also Alkenen oder Alkinen, als auch an Kohlenstoff-Heteroatom-Mehrfachbindungen wie Carbonylgruppen, Thiocarbonylgruppen oder Nitrilen stattfinden. Wie die Substitutionen lassen sich auch die Additionen je nach angreifendem Teilchen in mehrere Gruppen einteilen. Bei der elektrophilen Addition greift ein Elektrophil, häufig ein Proton, an der Doppelbindung unter Bildung eines Carbeniumions an. Dieses reagiert mit Nukleophilen unter Bildung des Produktes.
Für die Bildung des Carbeniumions gibt es zwei Möglichkeiten – auf welcher Seite der Doppelbindung es bevorzugt gebildet wird, hängt bei asymmetrischen Alkenen von der Stabilisierung durch unterschiedliche Reste ab. Eine Regel, welches der Produkte bevorzugt gebildet wird, bietet die Markownikow-Regel.
Soll die Addition einer funktionellen Gruppe am weniger substituierten Kohlenstoffatom der Doppelbindung stattfinden, ist die elektrophile Substitution mit Säuren nicht möglich. Eine Möglichkeit bietet die Hydroborierung, bei der das Boratom als Elektrophil wirkt und daher entsprechend der Markownikow-Regel am weniger substituierten Kohlenstoffatom angreift. Durch Oxidation oder Halogenierung können in einem weiteren Schritt dann andere funktionelle Gruppen gebildet werden.Während bei den elektronenreichen Alkenen und Alkinen vor allem die elektrophile Addition auftritt, spielt bei den Kohlenstoff-Heteroatom-Mehrfachbindungen und vor allem deren wichtigstem Vertreter, der Carbonylgruppe, die nukleophile Addition eine wichtige Rolle. Diese ist häufig mit einer Eliminierung verbunden, so dass nach der Reaktion die Carbonylgruppe wieder vorliegt. Dieses kann bei Carbonsäurederivaten wie Carbonsäurechloriden, -estern oder -anhydriden erfolgen, die eine geeignete Abgangsgruppe an der Carbonylgruppe tragen. Es wird dabei häufig vom Additions-Eliminierungs-Mechanismus gesprochen. Dieser wird häufig durch Säuren oder Basen katalysiert, die (bei Säuren) durch Anlagerung an das Sauerstoffatom die Elektrophilie der Carbonylgruppe oder (bei Basen) die Nukleophilie des angreifenden Nukleophils erhöhen.
Ein Angriff durch eine nukleophile Addition kann gemäß dem Vinylogie-Prinzip auch an die Doppelbindung von α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen wie Ketonen oder Estern stattfinden. Ein wichtiger Vertreter dieser Reaktionsart ist die Michael-Addition.Additionen können wie Substitutionen nicht nur durch Nukleophile und Elektrophile, sondern auch durch Radikale ausgelöst werden. Wie bei der radikalischen Substitution verläuft auch die radikalische Addition in Form einer Kettenreaktion. Diese Reaktion ist die Grundlage der radikalischen Polymerisation.
=== Weitere organische Reaktionsmechanismen ===
Umlagerungen sind Reaktionen, bei denen die Atome oder Molekülteile einer organischen Verbindung erhalten bleiben, aber neu angeordnet werden. Hierzu zählen Hydridverschiebungs-Reaktionen wie die Wagner-Meerwein-Umlagerung, bei der zunächst ein Carbokation gebildet wird, das sich anschließend unter Verschiebung eines Hydrid-Iones zu einem stabileren Carbokation umlagert. Meist sind Umlagerungen jedoch mit dem Brechen und Neubilden von C-C-Bindungen verbunden. Typische Beispiele hierfür sind sigmatrope Umlagerungen wie die Cope-Umlagerung, bei der in einer cyclischen Reaktion gleichzeitig eine C-C-Bindung gebrochen und eine andere gebildet wird.Wie die sigmatropen Umlagerungen gehören auch Cycloadditionen zu den pericyclischen Reaktionen. Bei dieser Reaktion wird aus mehreren, meist zwei, Doppelbindungen enthaltenden Molekülen ein cyclisches Molekül gebildet. Die wichtigste Cycloaddition ist die Diels-Alder-Reaktion, eine [4+2]-Cycloaddition, bei der ein Dien und ein Alken (auch als Dienophil bezeichnet) zu einem Cycloalken reagieren.
Neben der Diels-Alder-Reaktion gibt es auch die [2+2]-Cycloaddition, bei der zwei Alkene oder andere Verbindungen mit Doppelbindungen wie Ketone miteinander reagieren. Mit 1,3-Dipolen wie Ozon, Diazomethan oder Nitriloxiden sind ebenfalls Cycloadditionen möglich. Ob und wie eine Cycloaddition abläuft, hängt von der Anordnung der p-Orbitale der beteiligten Doppelbindungen ab.
Diese müssen so gegeneinanderstehen, dass jeweils Orbitale mit dem gleichen Vorzeichen der Wellenfunktion überlappen und damit konstruktiv wechselwirken können und die energetisch günstigeren Einfachbindungen bilden. Cycloreaktionen können sowohl thermisch als auch photochemisch durch Bestrahlung mit Licht induziert werden. Da bei der Bestrahlung Elektronen in Orbitale gebracht werden, die eine andere Anordnung und Symmetrie besitzen, sind photochemisch andere Cycloadditionen möglich als thermisch. So sind Diels-Alder-Reaktionen thermische Cycloadditionen, während [2+2]-Cycloadditionen durch Bestrahlungen induziert werden müssen.Durch die Orbitalanordnungen werden die möglichen entstehenden Produkte und -bei stereoisomeren Edukten- auch deren Stereoisomerie eingeschränkt. Wie dies stattfindet, wird durch die Woodward-Hoffmann-Regeln beschrieben.
== Biochemische Reaktionen ==
In biochemischen Reaktionen sind Enzyme von zentraler Bedeutung. Diese Proteine katalysieren meist speziell eine einzelne Reaktion, so dass Reaktionen sehr exakt gesteuert werden können. Es sind aber auch Enzyme bekannt, die mehrere spezielle Funktionen katalytisch beschleunigen können. Die Reaktion findet in einem kleinen Teil des Enzyms, dem Aktiven Zentrum statt, während der Rest des Enzyms überwiegend zur Stabilisierung dient. Das aktive Zentrum liegt in einer Grube oder Furche des Enzyms. Für die katalytische Aktivität sind unter anderem Bindungen an das Enzym, die veränderte, hydrophobe, chemische Umgebung und die räumliche Nähe der Reaktanten verantwortlich, während die spezielle Form des aktiven Zentrums für die Selektivität verantwortlich ist.Die Gesamtheit der biochemischen Reaktionen im Körper bezeichnet man als Stoffwechsel. Zu den wichtigsten Mechanismen zählt der Baustoffwechsel, bei dem in unterschiedlichen durch die DNA und Enzyme gesteuerten Prozessen wie der Proteinbiosynthese aus einfachen Vorläufersubstanzen komplexe Naturstoffe wie Proteine oder Kohlenhydrate synthetisiert werden. Daneben existiert der Energiestoffwechsel, durch den mit Hilfe chemischer Reaktionen die für eine Reaktion, etwa des Baustoffwechsels, notwendige Energie bereitgestellt wird. Ein wichtiger Energielieferant ist die Glucose, die durch Pflanzen in der Photosynthese hergestellt werden kann oder mit der Nahrung aufgenommen wird. Diese ist jedoch nicht direkt nutzbar, stattdessen wird über die Zellatmung und die Atmungskette mit Hilfe von Sauerstoff ATP erzeugt, das als Energielieferant für die weiteren Reaktionen dient.
== Technische Anwendung ==
Chemische Reaktionen und ihre Durchführung sind zentral für die technische Chemie. Sie werden in großer Zahl zur Synthese neuer Verbindungen aus natürlich vorkommenden Grundstoffen wie Erdöl, Erzen, Luft oder nachwachsenden Rohstoffen eingesetzt. Häufig werden zunächst einfache Zwischenprodukte synthetisiert, aus denen dann die Endprodukte wie Polymere, Waschmittel, Pflanzenschutzmittel, Pharmaka oder Farbstoffe hergestellt werden. Technische Reaktionen finden in Reaktoren wie Rührkesseln oder Strömungsrohren statt.
Für die Technik ist es besonders wichtig, die Reaktionsführung so wirtschaftlich wie möglich zu gestalten. Dazu zählen etwa ein minimaler Rohstoff- und Energieeinsatz, hohe Reaktionsgeschwindigkeiten und hohe Ausbeuten mit möglichst wenigen Abfallprodukten. Von großer Bedeutung ist daher der Einsatz von Katalysatoren, die sowohl die Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen als auch den Energieeinsatz verringern. Um geringe Abfallmengen zu gewährleisten, werden in technischen Anwendungen häufig Reaktionen gewählt, die eine hohe Atomökonomie aufweisen, bei denen also ein Großteil der Edukte sich im gewünschten Produkt wiederfindet.
== Beobachtung ==
Wie chemische Reaktionen beobachtet und verfolgt werden können, hängt stark von der Reaktionsgeschwindigkeit ab. Bei langsamen Reaktionen können während der Reaktion Proben entnommen und analysiert werden. Dabei werden die Konzentrationen der einzelnen Inhaltsstoffe der Reaktionsmischung bestimmt und so der Konzentrationsverlauf während der Reaktion verfolgt. Ändern sich die Konzentrationen nach einiger Zeit nicht mehr, ist die Reaktion abgeschlossen und im Gleichgewicht angekommen. Damit die Reaktion während der Messung nicht zu sehr voranschreitet, werden vor allem schnelle und einfach durchzuführende Analyseverfahren wie die Dünnschichtchromatographie oder Massenspektrometrie eingesetzt. Auch eine kontinuierliche Beobachtung während der Reaktion ist durch spektroskopische Methoden möglich, wenn damit beispielsweise die Konzentration einer farbigen Substanz in der Mischung bestimmt werden kann. Ist dies nicht möglich, kann mitunter auch ein spezieller Marker, etwa ein radioaktives Isotop eingesetzt werden, dessen Konzentration dann gemessen wird. Dies wird beispielsweise in der Szintigrafie für die Beobachtung von Stoffwechselvorgängen eingesetzt, bei denen sich bestimmte Elemente in einzelnen Organen anreichern. Oberflächenreaktionen können unter günstigen Voraussetzungen direkt mit einem Rastertunnelmikroskop auf molekularer Ebene beobachtet werden.Bei Nachweisreaktionen spielen sogenannte Indikatoren eine wichtige Rolle, das sind Stoffe, die sich beispielsweise in ihrer Farbe verändern, wenn ein bestimmter Punkt der Reaktion erreicht ist. Bekannt sind vor allem Säure-Base-Indikatoren, die ihre Farbe ändern, sobald eine Lösung neutralisiert wurde und der pH-Wert vom Sauren ins Basische wechselt oder umgekehrt. Auch selektive Fällungsreaktionen können zum Nachweis von Stoffen oder etwa im Kationentrennungsgang zur Auftrennung vor dem genauen Nachweis genutzt werden.
Je schneller eine Reaktion abläuft, desto schwieriger wird es, sie zu beobachten. Für kinetische Untersuchungen schneller Reaktionen wird die Ultrakurzzeit-Spektroskopie verwendet, die mit Hilfe von Femtosekundenlasern eine Zeitauflösung im Bereich von Piko- oder Femtosekunden ermöglicht. So lassen sich auch kurzlebige Übergangszustände während der Reaktion beobachten.
== Literatur ==
Eintrag zu Reaktion. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 20. Juni 2014.
Peter W. Atkins, Julio de Paula: Physikalische Chemie. 4. Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 978-3-527-31546-8.
A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 102. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-017770-1, S. 186–258.
Reinhard Brückner: Reaktionsmechanismen. 3. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-1579-9.
== Weblinks ==
Eintrag zu chemical reaction. In: IUPAC (Hrsg.): Compendium of Chemical Terminology. The “Gold Book”. doi:10.1351/goldbook.C01033.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Reaktion |
Manga | = Manga =
Manga [ˈmaŋɡa] (japanisch 漫画) ist der japanische Begriff für Comics. Außerhalb von Japan bezeichnet er meist ausschließlich aus Japan stammende Comics, wird aber auch für nichtjapanische Werke verwendet, die visuell und erzählerisch stark an japanische Vorbilder angelehnt sind. Eine klare Abgrenzung von Manga durch Stilmerkmale ist wegen der großen formalen und inhaltlichen Vielfalt des Mediums in Japan nicht möglich. Zu den wichtigsten vom Manga beeinflussten Comickulturen gehören die koreanischen Manhwa sowie Manhua aus dem chinesischen Raum. Viele als typisch angesehene Stilelemente von Manga finden sich auch im japanischen Animationsfilm, dem Anime, wieder.
In Japan stellen Manga einen bedeutenden Teil der Literatur sowie der Medienlandschaft dar. Der Mangamarkt ist der weltweit größte Comicmarkt. Die Wurzeln des japanischen Comics reichen bis ins Mittelalter zurück. Seine heutige Form ist jedoch wesentlich durch die westlichen Einflüsse im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Seit den 1990er Jahren sind Mangas neben Animes und Computerspielen ein erfolgreiches kulturelles Exportgut Japans.
== Definition, Begriffsabgrenzung und Begriffsgeschichte ==
Ähnlich wie der westliche Begriff „Comic“ ist auch „Manga“ in seiner Bedeutung eher unscharf und stark abhängig von Kontext, Motiven der Verwendung und Adressaten des Begriffs. Im westlichen Sprachgebrauch versteht man unter Manga in erster Linie Comics, das heißt in Bildfolgen erzählte Geschichten oder Vorgänge, japanischen Ursprungs. Im erweiterten Sinne werden auch Werke aus anderen Ländern vom Begriff erfasst, die sich der japanischen Zeichentradition zuordnen lassen und typische Stilelemente des Mangas aufweisen. Da diese jedoch breit gefächert sind, einer zeitlichen Veränderung unterliegen und sich mit anderen Comickulturen überschneiden, ist diese Zuordnung stets subjektiv. So bürgerte sich im englischen Sprachraum der Begriff OEL Manga (Original English Language Manga) für japanisch beeinflusste Werke ein. Als allgemeinere Bezeichnung gibt es den „global manga“, zu dem selbst Manhwa aus Korea gezählt werden können. Während dieses – vor allem von Fans vertretene – Verständnis von Manga ausländische Produktionen einschließt, werden experimentelle oder europäisch aussehende japanische Werke oft davon ausgeschlossen, da sie nicht dem erwarteten Stil entsprechen. Des Weiteren wird der Begriff Manga von Verlagen unter Marketinggesichtspunkten immer wieder anders eingesetzt. Beispielsweise etablierte sich unter amerikanischen Verlegern ein Verständnis von Manga als „Comic-Taschenbücher einer gewissen Größe und Preisklasse, die sich vor allem an Mädchen und Frauen richten“. Die genaue Definition und Abgrenzung von Manga ist Gegenstand stetiger Debatten sowohl unter Fans als auch im wissenschaftlichen Diskurs.
Als kennzeichnende Merkmale einer Definition von Manga nach Stilmerkmalen werden eine niedliche bis kindliche Darstellung der Figuren, oft mit großen Augen, eine hochgradig kodifizierte Bildsprache und lange, filmartig erzählte Geschichten sowie dafür eingesetzte Erzählstrategien, Bild- und Seitengestaltungen verwendet. Für die Kombination dieser Merkmale – insbesondere die des Charakterdesigns – wird auch die Bezeichnung Japanese Visual Language (JVL, dt. „japanische visuelle Sprache“, nach Neil Cohn) verwendet, ohne dass diese dabei per se als Definition von Manga herangezogen werden. Die Merkmale treffen auch nur auf einen Teil der japanischen Comickultur zu, der jedoch außerhalb Japans besonders präsent ist und daher das Bild prägt. Oft werden sie auch mit der Veröffentlichungsform als Serien kleinformatiger Taschenbücher identifiziert und so beispielsweise gemeinsam mit Comics als serielle Veröffentlichungen zu Bilderbüchern abgegrenzt. Auch speziell in Japan verbreitete Veröffentlichungsformen wie Magazine und dortige Produktionsprozesse werden als Merkmal herangezogen, wobei diese und das Format bereits wieder einen besonderen Japanbezug aufweisen. Ebenso werden viele der stilistischen Merkmale bisweilen auf japanische Kulturmerkmale zurückgeführt, sodass auch eine Definition von Manga nach Stilmerkmalen indirekt auf eine Definition nach japanischem Ursprung zurückgeführt werden kann. In einem Überblick über verschiedene Definitionsversuche stellt Zoltan Kacsuk fest, dass sich alle direkt oder indirekt auf Japan beziehen. Bei einer Definition nach Stil folgt dieser den Veränderungen in Japan, während stilistische Änderungen außerhalb Japans eher als Abrücken vom Manga selbst betrachtet werden. Die Kombination der üblichen Stil-, Genre- und Erzählmerkmale, die Veröffentlichungsform in Magazinen und der damit fast zwangsläufig verbundene japanische Ursprung ergeben ein Verständnis von Manga im engeren beziehungsweise engsten Sinne („Manga Proper“ nach Jaqueline Berndt). Frederik L. Schodt fasst Manga zusammen als „eine japanische Erzählkunst mit langer Tradition, die eine aus dem Westen importierte physische Form angenommen hat“.In Japan selbst wird der Begriff „Manga“, wie auch „Comic“ (コミック komikku), für alle Arten von Comics verwendet, unabhängig von ihrer Herkunft. So allgemein verwendet, wird er oft in Katakana geschrieben. Neben Bildgeschichten werden auch Einzelbilder im üblichen Stil von Comics und Karikaturen als Manga bezeichnet. In Japan ist das Bild vom Manga im Gegensatz zum Westen statt nur von langen Geschichten auch durch Comicstrips geprägt. Jedoch ist das Wort „Manga“ lange Zeit als umgangssprachlich wahrgenommen worden, so dass von Seiten der Verleger „komikku / komikkusu“ häufiger verwendet wird, da das Wort kultivierter klinge. Die japanische Comicforschung begreift Manga vorrangig als in Magazinen erscheinende, serielle grafische Erzählform. In der öffentlichen Wahrnehmung Japans und in der Forschung auch über Japan hinaus bestehen zwei Begrifflichkeiten vom Manga: die japanische Comickultur nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Gesamtheit aller in Japan entstandenen Comics und Bildgeschichten seit dem frühen Mittelalter. Während ihrer Entstehung und noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden auch japanische Animationsfilme als „Manga“, später „Manga Eiga“ (漫画映画, „Manga-Filme“) bezeichnet. Ab den 1970er Jahren setzte sich dann der Begriff Anime durch und Manga Eiga wird heute nur noch wenig verwendet, insbesondere aber vom Studio Ghibli.Für das Wort „Manga“ finden sich verschiedene direkte Übersetzungen. Darunter sind „spontan“, „impulsiv“, „ziellos“, „unwillkürlich“, „bunt gemischt“, „ungezügelt / frei“, „wunderlich / skurril“ und „unmoralisch“ für die erste Silbe, die zweite bedeutet „Bild“. Das Wort bzw. die Kombination der Zeichen 漫画, die wie alle japanischen Sinnzeichen aus China stammen, ist seit dem 12. Jahrhundert in Japan in Gebrauch, doch änderte sich die Bedeutung danach häufig und drastisch. So ordnet Hirohito Miyamoto als erste Verwendung die Bezeichnung eines Löffler-Vogels (漫画, hier in der Lesung mankaku) zu, später eine Bezeichnung für chaotisches Schreiben oder Zeichnen, in der der Vogel als Metapher dient, und schließlich für „Produktion und Sammlung großer Mengen von Zeichnungen unterschiedlicher Motive in verschiedenen Stilen“. Die Einführung der heutigen Bedeutung oder sogar die Erfindung wird oft dem Künstler Katsushika Hokusai zugeschrieben, jedoch verwendete er es weder als erster noch in der heutigen Bedeutung, sondern noch im Sinne von „Sammlung von Zeichnungen“. Wahrscheinlich machte er es jedoch als Bezeichnung für seine Holzschnitte populärer, sodass es Ende des 19. Jahrhunderts in neuem Begriffsinhalt wieder aufgegriffen wurde: „Manga“ bezeichnete nun Karikaturen, einfache humoristische Zeichnungen sowie Zeichenkunst allgemein. Dabei war im Kontext mit politischen Karikaturen die Bedeutung als „ungezügelt/frei“ besonders wichtig. Schließlich wurde das Wort von Kitazawa Rakuten für seine Comicserien aufgegriffen. In der Bezeichnung für diese festigte sich der Begriff in der folgenden Zeit und setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig durch. In jüngerer Zeit gab es mehrere Versuche, das Wort umzudeuten beziehungsweise umzuschreiben, um seine unmittelbare Bedeutung dem Medium entsprechend neutraler zu halten. Darunter waren eine Schreibweise als MAN画, „MAN“ im Sinne von engl. „Menschheit“ und „erwachsen“, oder eine Änderung des ersten Zeichens in das ebenfalls als „man“ ausgesprochenes Zeichen „万“ für „Zehntausende, Alles“.In den westlichen, das heißt zunächst den englischen, Sprachgebrauch eingeführt wurde der Begriff durch Frederik L. Schodt durch sein Buch Manga! Manga! The World of Japanese Comics von 1983 als Bezeichnung für japanische Comics. In den 1990er Jahren etablierte sich der Begriff in diesem Sinne – auch in Europa. Seit zunehmend außerhalb Japans Comics entstehen, die sich stark an japanischen Vorbildern orientieren, und das Bild vom Manga durch die über längere Zeit international erfolgreichen Serien geprägt wird, wird der Begriff auch im weiteren Sinne oder bezogen auf Stilmerkmale verwendet.
== Entwicklung der japanischen Comics ==
=== Wissenschaftliche Kontroverse ===
In der Kulturwissenschaft ist umstritten, zu welcher Zeit der Manga entstand beziehungsweise ab wann man bei japanischen Comics von Manga sprechen kann. Die Ansichten reichen von einer Ursprungssuche in der mittelalterlichen japanischen Kultur mit ihren Karikaturen und Bildrollen über die Satiren, Drucke und Skizzen der Edo-Zeit, deren heute bekanntester Künstler Katsushika Hokusai ist, über die Umbrüche in der japanischen Kultur und die Einflüsse des Westens um 1900, als Kitazawa Rakuten das Medium prägte, bis zu Osamu Tezuka, der nach dem Zweiten Weltkrieg neue Erzählformen und Themen fand. Die Auffassung einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Geschichte des Mangas gerät zunehmend in Kritik. Sie ignoriere Brüche in der japanischen Kulturgeschichte und diene dazu, Manga als Kulturgut gegen Vorurteile gegenüber Massenmedien zu verteidigen, sowie Manga aus politischen Gründen als urjapanisches Kulturgut auszuweisen. Dabei würden die starken westlichen Einflüsse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die für den heutigen Manga von großer Bedeutung sind, verschwiegen oder durch bewusste Wahl der historischen und modernen Beispiele ausgeblendet. Es bestehen erzählerisch wie stilistisch große Differenzen zwischen heutigem Manga und der japanischen Kunst bis ins 19. Jahrhundert. Als deutlichen Unterschied nennt Neil Cohn die Erzählstrategien und das Vokabular an Symbolen. Manche japanische Tradition wurde auch über japanisch beeinflusste westliche Bewegungen wie den Jugendstil reimportiert. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten, so nennt Jean-Marie Bouissou beispielhaft den absurden und Fäkalhumor sowie die Verbindung von Menschlichem und Übermenschlichem als inhaltliche Konstanten vom Mittelalter bis heute. Bezüglich der erzählerischen Tradition wird darauf verwiesen, dass das Erzählen in Bildern in Japan in unterschiedlicher Form immer präsent war, während es in der Comicgeschichte anderer Länder starke Brüche und Lücken gibt. Auf diese Weise gab es stets eine hohe Akzeptanz für das Medium, auch ohne dass eine lineare Entwicklung stattgefunden hätte.Umstritten ist auch die Bedeutung Osamu Tezukas, dessen Person und Leistung seit den 1990er Jahren in der Mangaforschung ein zentrales Thema sind. Auf der einen Seite wird er als Schöpfer eines „neuen und ureigen japanischen“ Mediums Manga angesehen. Andere weisen darauf hin, dass manche von Tezukas vermeintlich neuen Erzähltechniken bereits früher in Japan ausprobiert wurden, jedoch noch keinen großen Erfolg hatten, und dass er nicht in allem die Vorreiterrolle hatte, die ihm zugesprochen wird. Dass Osamu Tezuka mit seinen Werken erheblich zur Popularisierung des Mediums beigetragen hat, ist unstrittig. In der Hervorhebung Tezukas als Schöpfer des Mangas vor allem in den 1990er Jahren lag auch das Interesse, das Medium als besonders modern darzustellen – im Gegensatz zur Behauptung einer langen Manga-Tradition durch diejenigen, die die Ursprünge im Mittelalter oder der Edo-Zeit suchten.
=== Vorgeschichte ===
Die ältesten bekannten Vorläufer der japanischen Comic-Kunst sind Zeichnungen und Karikaturen aus dem frühen 8. Jahrhundert, die im Jahr 1935 bei Restaurierungsarbeiten am Hōryū-Tempel in Nara auf der Rückseite von Deckenbalken entdeckt wurden. Buddhistische Mönche begannen schon früh, Bildergeschichten auf Papierrollen zu zeichnen. Diese werden Emakimono genannt. Das bekannteste dieser Werke ist die erste von insgesamt vier chōjū jinbutsu giga (鳥獣人物戯画, Tier-Person-Karikaturen), die dem Mönch Toba Sōjō (1053–1140) zugeschrieben werden: Dabei handelt es sich um eine Satire, in der sich Tiere wie Menschen verhalten und auch buddhistische Riten karikiert werden. Diese wurden so erfolgreich, dass derartige Werke bald allgemein als „Toba-e“ (Toba-Bilder) bezeichnet wurden. Im 13. Jahrhundert begann man, Tempelwände mit Zeichnungen von Tieren und vom Leben nach dem Tod zu bemalen. In der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert kamen Holzschnitte auf, die in Hefte gebunden und vor allem an die wohlhabende Mittelschicht verkauft wurden. Auch Zeichnungen aus dem Alltagsleben bis hin zu erotischen Bildern kamen hinzu. Seit der Zeit der ersten noch religiösen Zeichnungen war die Kunst oft von einem absurden Humor bis hin zum Fäkalhumor geprägt. Die ersten auch breitere Schichten erreichenden Werke waren die Ōtsu-e Mitte des 17. Jahrhunderts.
Ab dem späten 17. Jahrhundert folgten ihnen Ukiyo-e genannte Holzschnittbilder, die das unbeschwerte Leben, Landschaften und Schauspieler bis hin zu sexuellen Ausschweifungen zum Inhalt hatten und rasch massenhafte Verbreitung in der Mittelschicht der Edo-Zeit fanden. Einer der Künstler dieser Holzschnitte war Katsushika Hokusai (1760–1849), der dafür den bereits zuvor anderweitig gebräuchlichen Begriff „Manga“ aufgriff. Auch andere Künstler, so Aikawa Minwa noch etwas früher als Hokusai, verwendeten das Wort für ihre Werke. Die Hokusai-Manga sind Skizzen, die in insgesamt 15 Bänden veröffentlicht wurden und keine zusammenhängende Geschichte erzählen, sondern Momentaufnahmen der japanischen Gesellschaft und Kultur zeigen. In der Rückschau fiel Hokusai durch die Perspektive des Japonismus eine übergroße Rolle als Ukiyo-e-Künstler zu, sodass er zeitweise auch als Erfinder des Wortes Manga galt.Ein weiterer Teil der Edo-Kultur waren die Kusazōshi (Allerlei-Bücher), die in einer Mischung aus Bildern und Texten Geschichten erzählen und je nach Farbe ihres Umschlags als Akahon (rot), Aohon (grün) und Kurohon (schwarz) bezeichnet wurden, sowie die in großen Auflagen verbreiteten Kibyōshi (Schriften mit gelbem Umschlag). Sie thematisierten das zeitgenössische Leben und entwickelten sich zu einem beliebten Massenmedium. Bild und Text waren in ihnen eng verzahnt und es traten bereits einige Formen von Sprechblasen und ähnlichen Integrationen von Text in Bildern auf. Daneben gab es weiterhin sogenannte Toba-e, die nun vor allem Karikaturen und Satiren des täglichen Lebens zeigten.
=== Westlicher Einfluss und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ===
Nach Ende der Abschließung Japans und der damit einhergehenden zunehmenden Öffnung des Landes gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das westliche Verlagswesen an Einfluss. Neben neuen verbesserten Drucktechniken ließ man sich vom Stil europäischer Karikaturen inspirieren, zu dessen Verbreitung in Japan die Satiremagazine The Japan Punch (1862–1887, gegründet von Charles Wirgman) und Tôbaé (ab 1887, gegründet von Georges Bigot, benannt nach dem Mönch Sōjō Toba) beitrugen, sowie von den in den USA neu entstehenden comic strips in den Zeitungen. Es folgten weitere Karikaturenmagazine nach ihrem Vorbild und einige der entstehenden japanischen Zeitungen hatten Comic-Beilagen. Diese hatten satirischen Charakter und richteten sich ausschließlich an Erwachsene, einige der Publikationen und Künstler waren ständig von Zensur und Verhaftungen bedroht. Um 1900 entstanden die ersten Magazine für Kinder, bereits nach Geschlechtern getrennt: Das Shōnen Sekai für Jungen 1895 und 1902 Shōjo kai für Mädchen. Diese enthielten zunächst aber nur wenige Comics oder Karikaturen.Als erster Vorläufer von Manga in heutigem Sinne gilt die 1902 von Rakuten Kitazawa (1876–1955) gezeichnete Geschichte Tagosaku to Mokubē no Tōkyō Kembutsu („Tagosakus und Mokubes Besichtigung von Tokio“). Kitazawa griff „Manga“ wieder auf, verwendete es in Abgrenzung zu den älteren Kunstformen und setzte es schließlich als Bezeichnung für die Erzählungen in Bildern durch. Er gründete 1905 das Satiremagazin Tōkyō Puck – benannt nach dem britischen (später amerikanischen) Satiremagazin Puck – und 1932 die erste japanische Schule für Karikaturisten. 1935 startete mit Manga no Kuni das erste Fachmagazin für Zeichner. Rakutens Publikationen für Erwachsene folgten bald erste Magazine mit Mangas für Kinder und Jugendliche, so 1907 das Shōnen Puck und für Mädchen 1908 das Shōjo no Tomo sowie viele weitere. In den 1920er Jahren erscheinen vermehrt amerikanische Comic-Strips in Japan, die Vorbild für japanische Künstler werden. In der Folge findet auch die Sprechblase deutlich stärker Verwendung als früher. Der in dieser Zeit entstandene Yonkoma-Manga, Comicstrips aus vier Bildern, ist noch heute in Japan verbreitet. Mit ero-guro-nansensu (erotisch, grotesk, nonsens) entstand ein den Experimenten in anderen Kunstrichtungen und dem Lebensgefühl der 1920er Jahre entsprechendes Genre für Erwachsene.In den 1930er Jahren und insbesondere während des Zweiten Weltkriegs wurde auch der Manga von der Regierung für Propaganda genutzt. Zeichner waren gezwungen, harmlose Alltagsgeschichten, Durchhalte- und Heldengeschichten oder direkte Propaganda zum Einsatz in der Armee oder beim Gegner zu produzieren. Auch Anleitungen oder Erläuterungen in Form von Mangas erschienen häufiger. Der Druck führte dazu, dass sich einige Zeichner auf Geschichten für Kinder verlegten und dabei im Gegensatz zu den bis acht Panel umfassenden Strips der Zeit davor erstmals Erzählungen in vielen Kapiteln und mit über 100 Seiten Gesamtumfang entstanden. Diese erschienen in stärker den Comics gewidmeten Magazinen wie dem Yōnen Club, das 1931 seine höchste Auflage von fast 1 Million erreichte. Die japanische Regierung initiierte 1940 die staatliche Dachorganisation Shin Nippon Mangaka Kyōkai („Neue Vereinigung der Manga-Zeichner Japans“). Doch eine vollständige Kontrolle des bis Ende des Krieges weitverbreiteten Mediums gelang nicht und der Umgang mit populären, aber dem Feind zugeordneten Figuren wie Micky Maus blieb ambivalent: mal waren sie in den Geschichten Symbole des Feinds, mal willkommene Gäste. Die erfolgreichsten Serien in der zunehmend militaristischen Gesellschaft waren Norakuro über die Militärkarriere eines Soldaten in Hundegestalt und Tank Tankuro, Geschichten über einen Panzer mit beliebigen Waffen, sonstiger Ausstattung und Verwandlungsmöglichkeiten. Beide Serien wurden von der erfolgreichen Vermarktung von Spielzeugartikeln und ähnlichem begleitet. In den letzten Jahren des Kriegs wurden die Publikationen auf Grund der Rohstoffknappheit immer stärker eingeschränkt und Mangas als Zeitverschwendung diskreditiert.
=== Nachkriegszeit ===
Nach der japanischen Kapitulation war während der Besatzungszeit das japanische Verlagswesen zunächst strengen Vorgaben der Vereinigten Staaten unterworfen, die das Ziel hatte, dem Militarismus in Japan ein Ende zu bereiten – jedoch waren deren Vorgaben lockerer als die der japanischen Regierung während des Krieges. Zugleich war leichte und erschwingliche Unterhaltung, die Flucht aus dem tristen Alltag bot, sehr gefragt. Es gründeten sich zahlreiche neue Kleinverlage, Mangas erschienen wieder in den Zeitungen und in eigenen Magazinen, aber viele auch in Form von sehr billig produzierten Akahon Manga („Rotbuchmanga“ nach dem roten Einband). Der einflussreichste Wegbereiter des modernen Manga war Osamu Tezuka. Beeinflusst vom Stil der frühen Disney-Zeichentrickfilme und von expressionistischen deutschen und französischen Filmen schuf er nach seinen ersten Zeitungsstrips 1947 Shintakarajima. Die Geschichte basierend auf Die Schatzinsel war erstmals eine lange Erzählung mit filmischer Inszenierung, die den Story-Manga begründete. Diese Strömung wurde für den modernen Manga prägend und macht den Großteil der international erfolgreichen Werke aus. Osamu Tezuka prägte durch weitere erfolgreiche Serien und seinen Einfluss auf andere Künstler die Entwicklung des Mediums. Im gleichen Jahrzehnt erschienen von ihm unter anderem Astro Boy und Kimba, der weiße Löwe, die das Segment für Jungen beeinflussten, und mit Ribbon no Kishi die erste Abenteuerserie für Mädchen. Ab den 1960er Jahren war er mit den Verfilmungen seiner Serien, an deren Produktion er maßgeblich beteiligt war, auch für den Anime prägend. Später widmete sich Tezuka mit ernsthafteren, sozialkritischen Serien einem älteren Publikum. Bis zu seinem Tod 1989 schuf er über 700 Geschichten in unterschiedlichsten Genres. Etwa 70 Prozent der Manga-Publikationen seiner Zeit orientieren sich an den von Tezuka popularisierten Darstellungskriterien, so eine Schätzung von Megumi Maderdonner.Das von Tezuka und anderen jungen Nachkriegskünstlern umgestaltete Medium Manga erreichte in den 1950er Jahren große Popularität, begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung. Vorherrschend waren Alltagsthemen sowie Science-Fiction und klassische Abenteuer-Geschichten, daneben das aufkommende Angebot an romantischen bis abenteuerlichen Geschichten für Mädchen. Parallel entwickelte sich ein florierender Leihbüchereimarkt, da der Kauf von Büchern für viele noch zu teuer war, und in diesem ein Segment von gewalt- und sexhaltigen, erzählerisch experimentelleren Comics. Auch das japanische Papiertheater Kamishibai, das in den 1950er Jahren mit Aufkommen des Fernsehens ausstarb, hatte Einfluss auf diese Strömung. Die Bewegung grenzte sich vom Manga der an Kinder gerichteten Magazine ab und formierte sich 1959 als Gekiga. Dessen Höhepunkt lag in den 1960er Jahren, als im Kontext der Studentenproteste sozialkritische, gewalthaltige aber auch in der Alltagsumgebung angesiedelte Geschichten für Erwachsene ein größeres Publikum fanden. Diese Themen kamen auch stärker in die großen Magazine. Sport-Manga, teils auch mit sozialkritischer Handlung, wurden beliebter und 1968 kam mit Harenchi Gakuen der erste erotische Manga heraus – im Shōnen Jump, einem großen Magazin für männliche Jugendliche. Mit dem Niedergang des Leihbüchereimarkts Anfang der 1960er Jahre gingen die dort verbliebenen Künstler zu den großen Verlagen oder gründeten neue, an ein erwachsenes Publikum gerichtete Magazine. Aus dem Gekiga und den an erwachsenes männliches Publikum gerichteten Magazinserien ging der Seinen-Manga hervor, geprägt von Kriminal- oder Abenteuergeschichten und kantigeren, realistischeren Zeichenstilen. Zugleich fand Anfang der 1970er Jahre ein derberer Humor sowie allgemein mehr Sex- und Gewaltdarstellungen Verbreitung.
=== Entwicklung zum kulturellen Exportgut ===
Nachdem in der Nachkriegszeit eine weibliche Leserschaft mit Geschichten fast ausschließlich männlicher Künstler aufgewachsen war, drängten in den 1970er Jahren zunehmend Frauen in den Manga. Die Gruppe der 24er und andere griffen Elemente aus bereits erfolgreichen Geschichten wie denen Tezukas sowie aus Kabuki und Takarazuka-Theater auf, schufen neue Erzähl- und Gestaltungsmittel und widmeten sich in ihren Geschichten Abenteuer, Liebe und Sexualität. Geschichten spielten oft an exotischen Schauplätzen mit authentischer oder aktueller japanischer Mode. Auch Homosexualität wird erstmals behandelt und das Genre Shōnen-ai begründet, in dem Liebe zwischen Männern im Mittelpunkt steht. Etwas später entstand mit Josei auch eine Gattung für erwachsene Frauen. Die siedelte nun Serien für Mädchen und Frauen stärker in der japanischen Gesellschaft an, die Geschichten wurden kritischer und nahmen sich größere Freiheiten.
Zur gleichen Zeit entwickelten sich erste Magazine für erotische Manga. In den an Jugendliche gerichteten Magazinen wurde in den 1970er Jahren Science Fiction wieder populärer, darunter vor allem Mecha-Serien mit riesigen Robotern, die von in ihnen sitzenden Menschen gesteuert werden, und Space Operas. Bedeutende Serien dieser Entwicklung waren Mazinger Z von Go Nagai und die Werke von Leiji Matsumoto.
Zugleich begann sich eine organisierte Fanszene mit eigenen Veranstaltungen und Publikationen zu entwickeln, die wiederum auf die professionelle Szene wirkte.
In den 1980er Jahren wurden Science-Fiction-Serien tiefgründiger, nahmen mehr Bezug auf die Welt ihrer Leser und stellten sich häufiger philosophischen Fragen. Unter diesen waren auch Akira und Ghost in the Shell, die zusammen mit ihren Anime-Verfilmungen als erste Mangas einen Erfolg in der westlichen Welt erreichen konnten. Der erfolgreichste Manga des Jahrzehnts war jedoch Dragon Ball, der etwas später, aber umso erfolgreicher nach Europa und Nordamerika kam. Auf die Popularität sowohl von unterhaltsamen als auch anspruchsvollen Mangas in diesen Ländern folgte in den 1990ern schnell auch die Entstehung einer Fanszene dort.
Nachdem das Medium populärer wurde und in den 1980er Jahren zunehmen sexualisierte und gewalthaltige Inhalte auch in Publikationen für Jugendliche und Kinder erschienen, wuchs die gesellschaftliche Kritik in Japan. Auf den Fall des sogenannten Otaku-Mörders Tsutomu Miyazaki, der 1989 vier Mädchen tötete und Anime- und Manga-Fan war, folgte eine gesellschaftliche Debatte um einen Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt. Sie führte zunächst zur zeitweisen Stigmatisierung von Mangalesern als generell gemeingefährlich sowie 1991 zu Verhaftungen von Redakteuren, Verlegern und Zeichnern. In der Folge entwickelte sich eine Selbstzensur der großen Verlage und eine stärkere inhaltliche Differenzierung nach Altersgruppen sowie entsprechende Markierungen von Publikationen für Erwachsene, aber auch eine Bewegung von Künstlern gegen die Einschränkung ihrer Freiheit.Bis zu den 1990ern wurden in Japan mit Serien zu Hobbys wie Pachinko und für Otaku oder mit Boys Love auch Nischenmärkte besetzt. Aus der in den vorherigen beiden Jahrzehnten entwickelten Genrevielfalt wurde nun eine zunehmende Vielfalt an Titeln nach einem Anfangserfolg in Japan auch weltweit herausgebracht. Auch alternative beziehungsweise Underground-Manga kamen im westlichen Ausland heraus. Außerhalb Japans inspirierten die Veröffentlichungen lokale Zeichner zur Nachahmung der Stilmittel und Themen, auch durch Mischung mit traditionell amerikanischen Genres und Figuren wie Superhelden. So brachten die großen Verlage DC und Marvel zeitweise Manga-Versionen einiger ihrer Helden heraus. 2001 wurde in Frankreich die Bewegung Nouvelle Manga proklamiert, die frankobelgische und japanische Comictraditionen verbinden will. In Japan selbst erschien ab 1997 mit dem Piraten-Abenteuer One Piece die kommerziell erfolgreichste Serie, die auch international populär wurde – ähnlich wie weitere an Jugendliche gerichtete Abenteuer- und Actionserien, darunter Naruto und Bleach. Zugleich gehen seit 1995 die Verkaufszahlen der Manga-Magazine zurück. Die Tradition der japanischen Comicstrips erlebte in den 1990ern durch sogenannte Moe-Yonkoma, die sich auf humoristische Weise den Alltag schöner junger Mädchen widmen, eine neue Richtung. Nach 2000 kamen Webmanga auf, ebenfalls als Comicstrips, jedoch nicht unbedingt im klassischen Vier-Bild-Schema. Zugleich kamen sowohl illegale wie legale digitale Verbreitungswege für Mangas auf, insbesondere wurden Plattformen zum Lesen auf Handys entwickelt. Der Konsum von Serien über unlizenzierte Scanlations wird als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen.Im Laufe der 1990er Jahre erhielt der Manga als allgemeines Medium und Kunstform immer mehr Anerkennung. Im Herbst 2000 erkannte die japanische Regierung Manga und Anime offiziell als eigenständige, förderungswürdige Kunstform an und das Medium wurde zum Pflichtstoff im Kunstunterricht, wobei man auf eine Darstellung des Mangas als traditionelle japanische Kunst Wert legte. Um die Popularität japanischer Kultur international zu stärken und auch wirtschaftlich und politisch zu nutzen, wurden besonders ab 2008 Fördermaßnahmen in Form von Stipendien und Auszeichnungen geschaffen. Für diesen Ansatz prägte sich der Begriff Cool Japan. Jedoch gab es sowohl 2002 als auch ab 2010 auch staatliche Bemühungen, sexuelle Darstellungen von unter 19-Jährigen zu beschränken und die Jugendschutzgesetze wieder strenger auszulegen, was zu großen Protesten in Teilen der Zeichner- und Fanszene führte. Auch Debatten um die Wirkung von Gewaltdarstellungen auf Jugendliche und Kinder kamen nach Gewalttaten immer wieder auf. 2015 kam es zu Kritik an sexuellen Darstellungen vor allem Minderjähriger in einigen Mangas, nun vor allem von außen mit der Motivation, international gegen Kinderpornografie vorzugehen. Im gleichen Jahr gab es eine Initiative japanischer Abgeordneter, das Medium als wichtiges kulturelles Exportgut mit einem Nationalen Manga-Zentrum noch stärker zu fördern.
== Erzählformen und Stilelemente ==
Mangas sind meist in Schwarz-Weiß gehalten und werden entsprechend der traditionellen japanischen Leserichtung von „hinten“ nach „vorne“ und von rechts nach links gelesen. Die außerhalb Japans bekannteste Form von Manga sind die Story-Manga, die eine lange, oft detailreiche Geschichte erzählen und viele Tausend Seiten umfassen können. Daneben gibt es Comic-Strips, sogenannte Yonkoma (Vier-Bilder-Comic). Darüber hinaus gibt es die Bezeichnung Koma-Manga für Comicstrips, die sich nicht an die klassische, in vier Bildern abgeschlossene Form halten.Für den Story-Manga – und damit für das Bild von Manga außerhalb Japans allgemein – prägend ist eine filmische, das heißt inhaltlich ausgebreitete Erzählweise. Bewegungen, Handlungen und Szenerie werden in vielen Details gezeigt, auf viele Bilder kommt nur wenig Text. Der Erzählrhythmus ist auf eine Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit ausgerichtet, sodass das Gefühl „dabei zu sein“ gefördert wird. Zur Rhythmisierung wird sowohl die Komposition der Einzelbilder, so die gewählten Blickwinkel, als auch die Gesamtkomposition der Seiten eingesetzt. Ein im Manga im Gegensatz zu anderen Comic-Kulturen oft auftretendes Erzählmittel ist die Darstellung von Bewegungen in kleinen Schritten. Zusammen mit dem starken Gebrauch von Lautmalereien, die in die Bildkompositionen integriert werden, und Symbolen ermöglicht dies einen schnellen Lesefluss. Durch die ausgebreitete Erzählweise werden die Geschichten oft hunderte oder tausende Seiten lang und bieten Raum für inhaltliche Tiefe und differenzierte Charakterzeichnung. Szenenbilder werden oft in mehreren Bildern einzelner Details stückweise zusammengesetzt und es finden sich vergleichsweise viele Bilder ohne unmittelbare Handlung oder handelnde Figur. Auch die Gesamtgestaltung einer Seite, das heißt die Zusammenwirkung der Panel zu einem Metapanel sind von großer Bedeutung. Entsprechend werden im Vergleich zu amerikanischen Comics häufiger Nahaufnahmen und einzelne Personen statt Personengruppen in einem Panel gezeigt. Der Vergleich zeigt auch, dass japanische Comics weniger Text beinhalten und sich stärker auf die visuelle Umsetzung des Erzählten konzentrieren.
Als Form des Comics stehen dem Manga zunächst alle Stilmittel des Comics zur Verfügung. Dazu zählen die Vereinfachung und Übertreibung von Figuren, Bewegungen und Posen, der Einsatz von Symbolen, Lautmalerei und Typografie. Einige Elemente sind für den Manga von besonders großer Bedeutung, wie etwa der Einsatz von Posen, was auch durch den Einfluss des Kabuki-Theaters erklärt werden kann. Bewegungslinien und Überblendungen werden nicht nur für sich bewegende Objekte verwendet, sondern auch in Form von „subjektiver Bewegung“ für die statische Umgebung, gesehen aus der Perspektive der Bewegung. Die Vermittlung von Emotionen geschieht in erster Linie über die Augen, die dazu auch symbolhaft verzerrt werden. Seit dem Shōjo-Manga der 1970er Jahre werden besonders große Augen und darüber hinaus abstrakte Hintergründe verwendet, um Emotionen und Stimmungen zu vermitteln. Erstmals verwendete Osamu Tezuka größere, vor allem in den Pupillen detaillierter ausgearbeitete Augen, um Charakter und Gefühle der Figuren darzustellen. Eine Steigerung der Stilisierung ist Super Deformed, wobei eine Figur spontan in eine kindliche Form schlüpft, die einen Emotionsausbruch oder eine komische Situation überzeichnet zeigt, um dann wieder in ihr normales, realistischeres Erscheinungsbild zu wechseln. Das Charakterdesign entspricht bisweilen, aber nicht zwangsläufig dem japanischen Niedlichkeitskonzept Kawaii, weitere ästhetische Konzepte zur Darstellung von Schönheit und Attraktivität sind Bishōjo (weiblich) und Bishōnen (männlich). Neil Cohn nennt als prägende Merkmale „große Augen, große Frisuren, kleine Münder und ein spitzes Kinn sowie kleine Nasen“. Zur Verbreitung und Bekanntheit gerade dieser Merkmale trugen ab den 1990er auch viele Manga-Zeichenanleitungen bei, die diesen Stil stets reproduzierten.Den Ursprung der übergroßen Augen vermutet Frederik Schodt in einem während der Öffnung Japans nach Westen um 1900 entstandenen Schönheitsideal, europäisch auszusehen. Dieses habe sich verselbstständigt, zugleich sei für die Vermittlung von Emotionen besonders geeignet. Ähnlich verhält es sich mit oft anzutreffendem, scheinbar „weißem“ Äußeren auch japanischer Figuren, insbesondere den hellen Haaren und Augen. Eine weitere Herkunft dieser Stilmittel ist die in der Regel fehlende Farbe und die vereinfachten Gesichtsformen, sodass unterschiedliche Haar- und Augenfarben zur Unterscheidung der Charaktere eingesetzt werden.Durch die eigene Geschichte des Mangas konnte sich ein eigenständiges, umfangreiches Vokabular an Symbolen entwickeln, die für nicht-japanische Leser zunächst schwer verständlich sein können. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von Typografie und Lautmalereien, wobei diese meist allgemeinverständlicher sind. Die Summe dieses Vokabulars zusammen mit der Erzählweise des Story-Mangas als Grammatik nennt Neil Cohn „Japanese Visual Language“ (JVL), „japanische visuelle Sprache“. Ihre als typisch wahrgenommenen Erscheinungsformen seien wie ein „Standard-Dialekt“, neben den sich viele abweichende und von ihm abstammende „Dialekte“ gesellen – in Japan wie international – und der sich mit der Zeit verändere. Die etablierten Stilmittel und verwendeten Symbole sowie die Möglichkeit der ausführlichen Darstellung der Inhalte über mehrere Seiten anstatt dicht gepackter Panel ermöglichen eine sehr schnelle Rezeption der Seiten – wie Frederik Schodt schon 1983 feststellte. Laut der Redaktion des Shōnen Magazine wende der Leser nur durchschnittlich 3,75 Sekunden pro Seite auf. Der hohe Symbolgehalt der Seiten ermögliche aber dennoch die Vermittlung vergleichsweise vieler Informationen und bedarf zugleich einer hohen Lesekompetenz.
== Inhalte und Genres ==
Das Medium Manga ist in Japan inhaltlich stark differenziert und deckt jede Altersgruppe und jedes literarische Genre ab. Mit der Zeit haben sich für Manga in Japan mehrere Untergruppen herausgebildet, die je eine demografische Zielgruppe ansprechen. Dies rührt insbesondere aus den Magazinen, die sich je einer Zielgruppe verschreiben. Diese sind:
Kodomo für kleine Kinder
Shōnen für männliche Jugendliche
Shōjo für weibliche Jugendliche
Seinen für (junge) Männer
Josei oder „Ladies Comic“ für (junge) FrauenTeils wird auch von Kazoku Manga für Kinder und Familien und Silver Manga für das ältere Publikum gesprochen. All diese an Zielgruppen orientierten Gattungen sind jedoch nicht mit der tatsächlichen Leserschaft gleichzusetzen. Diese ist für jede der Gattungen oft vielfältig. Die Gattungen geben stattdessen einen Hinweis auf den Inhalt: So sind Shōnen-Manga eher actionhaltig, während bei Shōjo-Serien Romantik im Mittelpunkt steht. Ursprünge für die Teilung der Gattungen nach Geschlechtern liegen in der in Japan seit dem Mittelalter starken Trennung der Lebensbereiche von Männern und Frauen, besonders im kulturellen Bereich. Daneben besteht die klassische Einteilung nach Genres wie Thriller, Science-Fiction und Romantik, die die inhaltliche Vielfalt des Mediums abbilden. Es haben sich auch Genres herausgebildet, die für das Medium bzw. für Japan spezifisch sind und die es so in anderen Comickulturen nicht gibt. Dazu gehören Geschichten über Spiele, Hobbys oder andere Freizeitbeschäftigungen, zum Beispiel Serien, die Jugendlichen traditionelle japanische Kultur wie Kalligrafie und Teezeremonie nahebringen, Serien des Sport-Genres, Pachinko- und Mah-Jongg-Mangas. Rekishi-Manga und speziell Jidai-geki beschäftigen sich mit japanischer Geschichte. Einige Genres beschäftigen sich mit Aspekten des Alltags, so geht es in Ikuji-Manga um die Erziehung von Kindern und im Gourmet-Genre um Essen und Kochen. Salaryman-Manga beschäftigen sich in Form von Komödien und Dramen mit dem Berufsalltag des Durchschnittsjapaners, der auch die Zielgruppe des Genres ist, und eine Gruppe anderer Serien verschreibt sich in ähnlicher Weise handwerklichen, traditionellen oder ungewöhnlichen Berufen. Oft steht dabei, wie bei Geschichten über Hobbys, die Karriere eines Anfängers und der Wettbewerb mit Kollegen und Konkurrenten im Zentrum. In den fantastischen Genres haben sich spezifische Untergenres wie Magical Girl über Mädchen(gruppen), die sich in Kämpferinnen gegen das Böse verwandeln können, oder Mecha als Untergenre von Science-Fiction mit Fokus auf riesige Kampfroboter herausgebildet. Fantasy-Serien sind oft beeinflusst durch die japanische Shintō-Religion mit ihren zahllosen Göttern und Dämonen, aber auch durch die Mythologien und Sagenwelten anderer asiatischer Länder und Europas. Auch Elemente, wie man sie in Abenteuer- und Rollenspielen findet, sind verbreitet.Das Feld erotischer Geschichten unterteilt sich in pornografische Hentai und eher erotische Etchi-Manga, wobei die Verwendung der Begriffe in Japan und dem Ausland unterschiedlich ist. Erotische Geschichten und der relativ freizügige Umgang mit Sexualität in der Populärkultur haben in Japan eine lange Tradition, so gab es in der Edo-Zeit viele solche Ukiyo-e, Shunga genannt. Jedoch gab es auch Zeiten, in denen solche Themen im Manga nicht vorkamen, was sich erst ab den 1950er Jahren änderte, sodass keine direkte Verbindung von Shunga zu modernen erotischen Manga gezogen werden kann. Spezielle Untergenres sind Yaoi und Yuri mit homoerotischen Geschichten mit Männern bzw. Frauen. Yaoi bildet auch zusammen mit dem romantischen Shōnen Ai den Boys-Love-Manga, wobei letzterer der in Japan gebräuchliche Begriff ist, während sich die beiden anderen im westlichen Markt erhalten haben. Zielgruppe der homoerotischen Geschichten sind in der Regel nicht homosexuelle Leser, sondern das jeweils andere Geschlecht. In Hentai als auch in Etchi-Manga sind, wie in der japanischen Erotik allgemein üblich, Sexszenen oft in eine humoristische oder parodistische Erzählung eingebettet. Sexuelle Gewalt und Fetische werden vergleichsweise häufig thematisiert. Erotische und pornografische Geschichten sind in Japan stark geprägt von der unter der amerikanischen Besatzung entstandenen Gesetzgebung, die die Darstellung des erwachsenen Genitalbereichs und andere „anstößige“ Inhalte unter Strafe stellte (§ 175 des jap. Strafgesetzbuchs). Dies wurde von vielen Künstlern umgangen, indem die Figuren und ihre Genitalien kindlich gezeigt wurden. Zusammen mit einem Ideal von erstrebenswerter Jugend, Naivität und Unschuld (Kawaii) beförderte das die Entstehung vieler erotischer und pornografischer Geschichten mit kindlichen Figuren und die Etablierung der Genre Lolicon und Shotacon. Auch wenn die Auslegung der Gesetze gelockert wurde, blieb diese Strömung erhalten. Andere Wege, die Zensurgesetzgebung zu umgehen, sind die Verwendung von Balken oder Verpixelung wie im Film, Auslassungen oder von Symbolbildern mit Früchten, Tieren und anderem.Außer den in großen Magazinen veröffentlichten Serien gab es seit dem Zweiten Weltkrieg auch alternative Manga, in denen Stile, Erzählmittel und Themen erprobt werden, die kein großes Publikum finden. So begründete Yoshihiro Tatsumi Ende der 1950er-Jahre den Gekiga, der sich an eine erwachsene Leserschaft richtete. Dieser ging später jedoch in dem größeren Genre Seinen auf. Ab den 1960er Jahren waren die Magazine Garo und COM Plattformen unabhängiger Künstler, allerdings konnte sich nur Garo längere Zeit halten – bis 2002. Auch darüber hinaus gibt es Werke ähnlich dem Underground Comix im Westen. Jedoch verwischen die Grenzen zwischen „Underground“ und „Mainstream“ in Japan stärker, weil der Markt sehr groß ist und auch ungewöhnlichen Werken und Künstlern kommerziellen Erfolg ermöglichen kann.Neben den rein fiktiven Geschichten gibt es Mangas mit Sachgeschichten sowie fiktive Erzählungen mit Bildungs- und Aufklärungsinhalten, beispielsweise in Form von eingeschobenen Erläuterungen. Im japanischen Alltag finden sich sogar Mangas als Gebrauchsanweisungen oder als Hinweise im öffentlichen Raum. Mangas greifen auch immer wieder aktuelle gesellschaftliche und politische Themen und Ereignisse auf. So reagierten viele Künstler und Verlage auf das Erdbeben von Kōbe 1995 und das Tōhoku-Erdbeben 2011, den folgenden Tsunami und das Reaktorunglück. Alte Serien zu Erdbeben und Nuklearkatastrophen wurden wieder aufgelegt und neue geschaffen, die sich mit dem plötzlich veränderten Alltag und den Gefahren des Unglücks auseinandersetzten. Die Beschäftigung mit Politik und insbesondere mit dem Militär – zu dem sich ein eigenes Genre etablierte – ist jedoch ambivalent. Während um 1970 mehrere Serien auch Auswirkungen auf den politischen Diskurs hatten, ist konkrete politische Kritik in Mangas jenseits allgemeiner pazifistischer oder ökologischer Botschaften heute selten. Manche Serien folgen aber dem Werdegang von Politikern, wie dies ähnlich bei der Porträtierung anderer Berufe geschieht. Und während manche Mangas kritisch mit Krieg und Militär umgehen, gibt es auch Magazine, deren Serien sich technischen oder strategischen Perspektiven widmen und ein Publikum von Technik- und Militär-Fans bedienen.
== Künstler und Entstehungsprozesse ==
Autoren von Manga werden Mangaka genannt. Der Begriff wurde 1909 von Kitazawa Rakuten geprägt. Schätzungen zufolge gibt es in Japan etwa 2500 Mangaka. Von diesen können jedoch nur etwa 20 % als professionelle Zeichner von ihrer Tätigkeit leben. Darüber hinaus gibt es eine große Zahl an Amateurzeichnern, die außerhalb der Verlage veröffentlichen. Während bis in die 1960er Jahre fast ausschließlich Männer als Manga-Zeichner tätig waren, sind in dem Beruf heute auch viele Frauen tätig und ähnlich erfolgreich wie ihre männlichen Kollegen. Dabei schaffen häufiger Frauen Mangas für weibliches Publikum und Männer für männliches Publikum. Redaktionen sind in allen Sparten vor allem von Männern besetzt. Die Einstiegshürden für einen Künstler sind verglichen mit anderen Medien gering, da er allein, ohne formelle Ausbildung und mit wenig materiellem Aufwand tätig werden kann. Der Weg in den Beruf führt häufig über Wettbewerbe und Einreichungen bei den Magazinen oder Künstler werden durch Dōjinshi – Fanpublikationen im Selbstverlag – bekannt genug, dass ein Verlag auf sie aufmerksam wird. Auch die Arbeit als Assistent bei etablierten Mangaka vermittelt Erfahrung und Übung, um danach eigene Serien zu schaffen. Nicht wenige der Assistenten bleiben bei dieser Tätigkeit jedoch ein Leben lang. Die Bezahlung wird üblicherweise an die Seitenzahl gebunden. In den 1980er Jahren erhielt ein Zeichner 15 bis 250 US-Dollar pro Seite, bei etwa gleicher Bezahlung von Männern und Frauen. In dieser Zeit gehörten auch erstmals einige Zeichner mit über 1 Million Dollar Jahreseinkommen zu den bestverdienenden Japanern: Shinji Mizushima, Fujio Fujiko und Akira Toriyama. Weitere Einnahmen entstehen den Künstlern aus dem Rechteverkauf, da sie im Gegensatz zu US-Comickünstlern die Rechte üblicherweise behalten und nicht an Verlage verkaufen, sowie durch Auftragsarbeiten und bei besonders bekannten auch durch Werbeauftritte. Der Verbleib der Rechte bei den Künstlern führt auch dazu, dass nur sehr selten eine Serie von anderen Künstlern fortgeführt wird und dass die meisten Autoren im Laufe ihrer Karriere viele Serien und Figuren schaffen.
Die Arbeit der meisten Zeichner findet unter großem Zeit- und Erfolgsdruck statt, da die Magazine in festem, teils wöchentlichem Rhythmus erscheinen und für jede Ausgabe ein neues Kapitel fertiggestellt sein muss. Da über die Magazine schnell und viele Rückmeldungen der Leser den Verlag erreichen, kann dieser auch zeitnah über die Absetzung einer Serie entscheiden. So ist es üblich, dass 10 Wochen nach Start der Serie über die Fortführung entschieden wird. Die Künstler nehmen teils große persönliche und gesundheitliche Einschränkungen in Kauf. Längere Unterbrechungen der Arbeit sind kaum möglich. Erfolgreiche Künstler arbeiten oft an mehreren Serien, die Wochenenden durch und schlafen nur vier oder fünf Stunden pro Tag. Wenn Termine gehalten werden müssen, werden auch Nächte durchgearbeitet. Neben dem Druck der Verlage führt auch der allgemeine gesellschaftliche Druck zu hoher Arbeitsmoral in Japan sowie das Prestige, möglichst viele Serien gleichzeitig zu veröffentlichen, zu diesem Arbeitspensum. In der Regel beschäftigt ein Künstler daher mehrere Assistenten, die Hilfsarbeiten ausführen wie das Zeichnen von Hintergründen, das Tuschen der Zeichnungen oder den Einsatz von Rasterfolien. Die Interaktion beziehungsweise Einbeziehung der Assistenten variiert jedoch stark: während manche Zeichner sie nur Nach- und Detailarbeiten übernehmen lassen und alle kreativen Arbeiten selbst erledigen, arbeiten andere ähnlich wie bei Filmproduktionen mit einem Team, dessen Ideen in das Werk einfließen und das selbstständig Teile übernimmt. Die Assistenten sind nicht immer angestellte Zeichner, sondern bisweilen auch Freunde oder Familienangehörige der Künstler. Erfolgreiche Künstler beschäftigen außerdem neben oft zehn oder mehr Assistenten auch einen Manager. Durch die geforderte Arbeitsgeschwindigkeit ist die Verwendung von Hilfsmitteln wie Rasterfolie zur Flächenfüllung oder vorgefertigter Hintergründe üblich.Die Aufteilung der Hauptarbeit in einen Zeichner (mangaka) und einen Szenaristen ((manga) gensakusha) ist selten, kommt aber eher bei Serien für Jugendliche vor. Die Szenaristen erreichen dabei selten die gleiche Popularität wie die Zeichner. Sie werden vor allem von Künstlern engagiert, auf denen nach einem ersten Erfolg die Erwartung liegt, weitere beliebte Serien zu schaffen. Vor allem jüngeren Künstlern fehlt dazu jedoch der Erfahrungsreichtum, sodass sie auf Szenaristen oder andere Ideengeber zurückgreifen. Das sind nicht selten auch die Redakteure der Magazine, für die die Künstler arbeiten. Diese wählen die Inhalte – Themen, Stimmungen und Stile – der Geschichten für das Magazin aus und suchen entsprechende Künstler, um die gewünschte Mischung im Magazin zu erreichen und damit die Zielgruppe ansprechen zu können. Darüber hinaus greifen die Redakteure nicht selten auch in die Entwicklung der Geschichten ein, halten engen Kontakt mit den Zeichnern, achten auf Einhaltung von Terminen. So hat das Magazin und dessen Redaktion oft erheblichen Einfluss auf den Inhalt einer Mangaserie, die darin erscheint.
== Verbreitungswege ==
=== Veröffentlichungsformen ===
In Japan erscheinen Mangas in unterschiedlichen Formen:
In Zeitungen und Zeitschriften erscheinen zwischen den sonstigen Inhalten vor allem Yonkoma und ähnliche Comicstrips.
Überwiegend in wöchentlichem oder monatlichem Rhythmus erscheinen telefonbuchdicke Manga-Magazine, in denen auf 400 bis über 1000 Seiten einzelne Kapitel mehrerer Serien zusammengefasst werden. Sie sind für umgerechnet rund drei bis fünf Euro am Zeitungsstand erhältlich, haben eine schlechte Papier- und Druckqualität und werden nach dem Lesen meist weggeworfen oder verschenkt. Die Magazine werden von den Verlagen genutzt, um die Beliebtheit der darin neu erscheinenden Serien bzw. Kapitel beim Publikum und andere Trends zu ermitteln. Dazu werden Fragebögen beigelegt, die der Leser zurücksenden kann. Zwischen den Kapiteln von Fortsetzungsserien erscheinen auch abgeschlossene Kurzgeschichten oder Comicstrips. Darüber hinaus gibt es Magazine, die sich vorrangig oder ausschließlich diesen kurzen Erzählformen widmen.
Jeweils im Abstand von mehreren Monaten erscheinen Taschenbücher mit Schutzumschlag (Tankōbon), in denen mehrere vorher in den Magazinen erschienene Kapitel einer erfolgreichen Serie in sehr guter Druckqualität zum Sammeln und Aufbewahren neu aufgelegt werden. Die Bücher fassen etwa 200 bis 300 Seiten. Oft enthalten sie Bonus-Kapitel, die nicht vorher in den Magazinen abgedruckt wurden. Neben der normalen Auflage werden auch limitierte Sonderausgaben veröffentlicht, denen exklusive Figuren oder Merchandising-Artikel zur jeweiligen Serie beiliegen.
Seit den frühen 2000er Jahren gibt es in zunehmendem Maße die Möglichkeit, Mangas in digitaler Form kostenpflichtig auf mobilen Geräten zu lesen. Die Bildfolgen sind dafür bildschirmgerecht aufgeteilt und teilweise auch durch technische Effekte (z. B. Einsatz der Pager-Funktion bei Actionszenen) aufbereitet, einige Manga-Serien werden exklusiv für Mobiltelefone angeboten. Aufgrund der geringen Downloadkosten von 40 bis 60 Yen (etwa 25 bis 40 Cent) pro Geschichte und der ständigen Verfügbarkeit entwickelte sich der Markt schnell. 2009 verkaufte einer der Anbieter bereits über 10 Millionen einzelne Kapitel pro Monat und seitdem wurden die Angebote auch auf Märkte außerhalb Japans ausgeweitet.Verkaufsorte sind sowohl Kioske als auch Buchläden und Spezialgeschäfte sowie rund um die Uhr geöffnete Konbini. Außerdem gibt es Automaten, die Magazine verkaufen. Seit Anfang der 1990er Jahre existieren Manga Kissa – Cafés mit zum Lesen ausliegenden Mangas.Als Dōjinshi bzw. Dōjin bezeichnet man von Fans gezeichnete inoffizielle Fortsetzungen oder Alternativgeschichten zu bekannten Anime bzw. Manga oder Spielen. In Japan werden sie oft von spezialisierten Kleinverlagen oder in Eigeninitiative veröffentlicht. Obwohl sie als Verwertung des geschützten Original-Materials fast immer Urheberrechte verletzen, gehen Verlage und Künstler fast nie dagegen vor. Stattdessen ist die Interaktion der Fans mit den Werken wesentlicher Bestandteil der Mediennutzung. Daneben werden auf dem Dōjinshimarkt auch viele Eigenschöpfungen veröffentlicht.
=== Auflagenzahlen ===
Während im Jahr 1967 in Japan von weniger als 50 Manga-Magazinen insgesamt 78 Millionen Exemplare verkauft wurden, waren es im Jahr 1994 von 260 Manga-Magazinen 1.890 Millionen Exemplare und 2006 1.260 Millionen verkaufte Exemplare. Shōnen Jump, das erfolgreichste Magazin, erlebt wie die meisten anderen seit 1997 einen stetigen Rückgang des Absatzes: Mitte der 1990er-Jahre lag er noch bei sechs Millionen Exemplaren pro Woche – 2015 waren es 2,4 Millionen. In den Jahren zuvor verloren die großen Magazine häufiger 10 % und mehr ihrer Auflage pro Jahr. An zweiter Stelle nach Shōnen Jump steht das Weekly Shōnen Magazine mit etwa 1 Million verkauften Exemplaren pro Woche. Hohe Verkaufszahlen in ihren Sparten hatten 2017 das Kindermagazin CoroCoro Comic (780.000), die Seinen-Magazine Young Jump und Big Comic (je etwa 500.000), das Shōjo-Magazin Ciao (450.000) und die Josei-Magazine For Mrs. und Elegance Eva (150.000).Einzelbände erfolgreicher Serien haben üblicherweise Erstauflagen von 300.000 bis 500.000. Den Rekord hält gegenwärtig Band 56 der Serie One Piece: Anfang Dezember 2009 wurde er in einer Erstauflage von 2,85 Millionen Exemplaren ausgeliefert, wofür der Shueisha-Verlag mit einer neunseitigen Zeitungsanzeige warb. Bis zum Jahr 2017 verkauften folgende Serien in Japan über 100 Millionen Exemplare (Summe der Verkaufszahlen aller Bände):
One Piece (laufend): 360 Millionen Exemplare
Detektiv Conan (laufend): 200 Millionen Exemplare
Golgo 13 (laufend): 200 Millionen Exemplare
Dragonball (abgeschlossen, 42 Bände): 157 Millionen Exemplare
Kochira Katsushika-ku Kameari-kōen Mae Hashutsujo (Kurzform Kochikame, abgeschlossen, 200 Bände): 156 Millionen Exemplare
Naruto (abgeschlossen, 72 Bände): 135 Millionen Exemplare
Oishimbo (laufend): 130 Millionen Exemplare
Slam Dunk (abgeschlossen, 31 Bände): 120 Millionen Exemplare
Doraemon (abgeschlossen, 45 Bände): 100 Millionen Exemplare
Astro Boy (abgeschlossen, 23 Bände): 100 Millionen Exemplare
JoJo no Kimyō na Bōken (laufend): 100 Millionen Exemplare
Touch (abgeschlossen, 26 Bände): 100 Millionen ExemplareGolgo 13 (gestartet 1968) und Kochikame (1976–2016) gehören zugleich auch zu den am längsten ununterbrochen laufenden Manga-Serien und zu denen mit der größten Anzahl an Sammelbänden.
=== Zusammenspiel mit anderen Medien ===
Die Vermarktung von Manga findet oft im Zusammenspiel mit Anime-Serien und Kinofilmen, Videospielen, Spielzeugen, Hörspielen und weiteren Medien statt. Dabei kann eine erfolgreiche Mangaserie über die Adaptionen an Reichweite und damit an weiterer Popularität gewinnen oder sogar inhaltlich verändert werden, um andere Teile des Medienverbunds zu unterstützen, die erfolgreicher waren. Auch erscheinen wiederum Manga als Adaptionen anderer Medien. Die Wechselwirkungen in der Vermarktungskette ermöglichen es den Verlagen Risiken zu reduzieren. Zugleich drängen sie zur Konformität und können Innovationen bremsen, da diese noch nicht am Markt erprobt sind. Bei erfolgreichen Serien wird die Adaptionskette manchmal mehrfach wiederholt, das heißt sowohl erneut adaptiert als auch die Adaptionen erneut als Manga – zum Beispiel als Spin-off – umgesetzt, dem wiederum Umsetzungen in anderen Medien folgen. Im Laufe der Zeit wurde die Vermarktung immer schneller. Bei den ersten Verfilmungen in den 1960er Jahren vergingen zwischen Erstveröffentlichung des Mangas und der Adaption noch Jahre. Bereits bei Dr. Slump 1980 lagen zwischen dem ersten Kapitel des Mangas und der Premiere des ersten Films nur sechs Monate. Durch die zahlreichen Adaptionen haben Mangas einen erheblichen Einfluss auf das japanische Kino und Fernsehen.Vergleichbar mit US-amerikanischen Comic-Verfilmungen gibt es in der japanischen Filmindustrie seit der Jahrtausendwende zunehmend Bestrebungen, Mangas als Realfilme oder -serien umzusetzen; Beispiele hierfür sind Touch, Ichi the Killer, Oldboy oder Uzumaki. Immer mehr japanische Regisseure sind mit Manga aufgewachsen, und der Fortschritt der Tricktechnik ermöglicht mittlerweile die Adaption selbst komplexester Szenen. Zudem können bei einer Manga-Umsetzung die Fans des Originalwerkes auch ohne großen Werbeaufwand erreicht werden. Zu den erfolgreichsten Realverfilmungen von Manga zählen unter anderem die Fernsehserie zu Great Teacher Onizuka (1998), deren letzte Folge die höchste jemals erreichte Einschaltquote eines Serienfinales im japanischen Fernsehen hatte, und der Kinofilm zu Nana (2005), der mit einem Einspielergebnis von umgerechnet ungefähr 29 Millionen Euro auf Platz 5 der erfolgreichsten japanischen Kinofilme des Jahres kam. Mit Death Note (2006) war eine Manga-Umsetzung erstmals von vornherein als zweiteilige Kinofassung ausgelegt.
Auch jenseits von Adaptionen hatten Mangas Einfluss auf die japanische Spieleindustrie. Viele Spiele greifen Stilelemente aus dem Manga auf und textbasierte Adventure-Spiele sind üblicherweise mit Illustrationen ähnlich einem Manga versehen, sodass sie als technische Weiterentwicklung des grafischen Erzählmediums verstanden werden können. Auch hinsichtlich Inhalt und Genre nehmen japanische Spiele immer wieder Anleihen beim Manga.Seit den 1990er Jahren setzt sich die japanische Gegenwartskunst verstärkt mit der Ästhetik von Mangas auseinander, auch bestärkt durch deren anhaltende und internationale Popularität. Zu Beginn der 2000er Jahre kam es zeitweise zu einem Boom dieser Auseinandersetzung, die das japanische Kunstgeschehen, große Ausstellungen und Kataloge dominierte. Es werden Bezüge zu bekannten Mangaserien oder deren Figuren, typische Designs, Vereinfachung und Niedlichkeit oder sequenzielle Elemente aufgegriffen. Im Rahmen dessen erschien auch das Super Flat Manifesto von Takashi Murakami, in dem dieser eine Tradition „abgeflachter“ japanischer Pop-Art mit Wurzeln in der Edo-Zeit postuliert. Dieser Manga-bezogene Trend löste die vorhergehende Auseinandersetzung mit Zen-Minimalismus, Abstraktion und Aktionskunst in der japanischen Kunst ab.Auch unter den Künstlern gibt es Verbindungen zu anderen Medien. Viele Mangaka begeistern sich für Filme oder schauen schon zum Sammeln von Inspirationen viele Filme. Manche von ihnen sagen auch, dass sie zunächst in die Filmbranche gehen wollten. In der Vergangenheit sind auch viele weniger erfolgreiche – und manche erfolgreiche – Mangazeichner später zum Film oder zur Prosa gewechselt. Einige sind auch in beiden Feldern tätig. So ist Hayao Miyazaki zwar als Anime-Regisseur bekannter, schuf jedoch auch einige Manga-Serien. Zuletzt kommt es auch häufiger vor, dass Schriftsteller Szenarien für Mangas schreiben oder ihre Werke als Manga adaptiert werden. Darüber hinaus haben Mangas Einfluss genommen auf die japanische Literatur, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Schließlich entstand aus der Mischung von Manga und Prosa in Japan die Light Novel: Unterhaltungsromane für eine jugendliche Zielgruppe mit einigen Illustrationen im typischen Manga-Stil.
== Manga in Japan ==
=== Markt und Wirtschaftsfaktor ===
Manga sind eine der Hauptsäulen des japanischen Verlagswesens. Die Sparte macht seit vielen Jahren gut ein Drittel aller Druckerzeugnisse in Japan aus. Der Comic-Markt besteht in Japan, anders als in anderen Ländern, fast ausschließlich aus einheimischen Produktionen. Neben dem Markt der Verlage existiert auch ein Markt für Fanpublikationen, zu dem keine genauen Zahlen erhoben werden können, auf dem aber ebenfalls große Summen umgesetzt werden. Dagegen ist der Sammlermarkt von geringerer Bedeutung als in anderen Ländern.1978 erreichte der Umsatz der Manga-Branche 184,1 Milliarden Yen. Auf dem Höhepunkt des Manga-Magazin-Markts 1995 setzte die Branche 586 Mrd. Yen um. Statistisch gesehen kaufte jeder Japaner pro Jahr 15 Manga. Während lange Zeit die Magazine den Großteil der Umsätze erwirtschafteten – 2002 noch zwei Drittel der Verkäufe – zeigte sich ab der Jahrtausendwende ein neuer Trend: Während im Jahr 2004 die Gesamteinnahmen bei Magazinen noch bei ca. 255 Milliarden Yen und bei Taschenbüchern bei ca. 250 Milliarden Yen lagen, gingen im Jahr 2005 die Einnahmen bei Magazinen auf 242 Milliarden Yen zurück (und lagen damit nur noch bei etwa 70 % der Einnahmen des Jahres 1995), während die Einnahmen bei Taschenbüchern auf 260,2 Milliarden Yen stiegen. 2016 machten Taschenbücher mit 194,7 Mrd. Yen dann etwa zwei Drittel des Print-Manga-Marktes von 296,3 Mrd. Yen aus. Zugleich waren Magazine, selbst die mit dem größten Umsatz, nie besonders profitabel, sondern stets Instrumente zum Testen der Serien. Gewinne erzielen die Verlage erst mit Taschenbüchern und weiterer Vermarktung. In dieser Kombination von Magazinen als Marktöffner und Taschenbüchern als Gewinnbringer wird ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg des Mediums in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Gründe für den Rückgang der Verkäufe seit den 1990er Jahren sind die lange andauernde wirtschaftliche Krise und die Konkurrenz durch neue Unterhaltungsprodukte wie Computerspiele, Internet und Smartphones. Außerdem altert und schrumpft die japanische Bevölkerung insgesamt, wodurch die für Manga besonders wichtige Gruppe der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kleiner wird. Darüber hinaus werden wieder mehr Mangas geliehen oder gebraucht gekauft als in den 1990er Jahren, sodass bei gleicher Leserzahl weniger Exemplare abgesetzt werden.Zwar verliert der Print-Markt weiter an Bedeutung, allerdings wird dies seit 2014 durch den stark wachsenden Digitalmarkt wie Manga-E-Books abgefangen, so dass der Manga-Markt sich insgesamt auf etwa 450 Mrd. Yen stabilisiert hat. 2017 überstieg der Umsatz von digital verkauften Serien erstmals den von Taschenbüchern.Die Darstellung von Grafiken ist aktuell auf Grund eines Sicherheitsproblems deaktiviert.
Quelle: The All Japan Magazine and Book Publisher’s and Editor’s Association (AJPEA),
1978–2011 (Daten grafisch abgelesen mit Genauigkeit ±1%),
2011,
2012,
2013,
2014–2017. Daten für digital vor 2014 nicht abgebildet.
Der Markt wird von wenigen großen Verlagen dominiert; Kōdansha, Shōgakukan und Shūeisha (eine 50%ige Tochter Shōgakukans) erwirtschaften etwa 70 % des Umsatzes, während sich viele kleine und mittlere Verlage den Rest aufteilen. Zu den bedeutenderen mittleren Verlagen zählen Hakusensha, Akita Shoten, ASCII Media Works (seit 2013 Teil von Kadokawa), Square Enix, Kadokawa Shoten, Ōzora Shuppan, Futabasha und Shōnen Gahōsha. Kleinere Verlage spezialisieren sich oft auf bestimmte Genres oder Zielgruppen.Seit dem verstärkten Aufkommen digitaler Verbreitung in den 2000er Jahren werden auch Mangas häufiger und international illegal verbreitet. Dies wird durch Künstler und Verlage zunehmend als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Neue Geschäftsmodelle wie verstärkte Angebote von legalen digitalen Mangas wie auch kostenlose Bereitstellung bei Finanzierung über Werbung oder Verkauf von Merchandising werden dem entgegengesetzt, jedoch ohne dass immer zufriedenstellende finanzielle Ergebnisse erzielt werden können. Die Künstler selbst haben, im Gegensatz zu Musikern, kaum die Möglichkeit, Geld durch Live-Auftritte zu verdienen. Befördert wird die digitale, illegale Verbreitung auch durch Leser, die ihre Mangas zur besseren Lagerung für den Eigenbedarf scannen, dann aber auch anderen zugänglich machen.
=== Gesellschaftliche Bedeutung ===
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen Comics als reine Kinder- und Jugendliteratur bzw. nur als Unterhaltungsmedium gelten, sind Comics in Japan als gleichberechtigtes Medium und Kunstform anerkannt. Sie werden von Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen konsumiert. Comic lesende Pendler oder Geschäftsleute sind nichts Ungewöhnliches, auch Politiker bis zu Premierministern geben Mangalesen als Hobby an oder nutzen Mangas als Medium. Der öffentliche Raum ist besonders während der Fahrt zur Arbeit ein üblicher Ort zur Rezeption von Manga-Magazinen oder Sammelbänden. Außerdem besteht eine große Tauschkultur („mawashiyomi“), sodass viele Bände durch mehrere Hände gehen, und Manga Kissa – Cafés mit ausliegenden Mangas – sind als Orte zur preiswerten Lektüre beliebt. Von Verkäufern verboten, aber dennoch verbreitet ist tachiyomi („im Stehen lesen“) – das Lesen von Mangas in der Auslage der Läden, ohne sie zu kaufen.Manga spiegeln in Japan wie andere Medien auch gesellschaftliche Werte und Entwicklungen wider. So haben die Samurai-Traditionen des Bushidō im Shōnen-Manga Niederschlag gefunden. Zugleich erfährt der Umgang mit diesen Werten immer wieder Veränderung – von der Glorifizierung des Krieges bis zur Darstellung persönlicher Dramen vor historischem Hintergrund oder die Übertragung der Werte in Sport und Beruf. Auf der anderen Seite haben Manga-Serien durch die allgemeine Anerkennung als Kunstform und starke Verbreitung seit vielen Jahrzehnten auch selbst Einfluss auf andere Medien, Kunstformen und die japanische Kultur.Die Ästhetik von Manga ist in der japanischen Kultur so weit akzeptiert und verbreitet, dass sie oft nicht nur für Manga selbst, sondern auch für Schilder, Illustrationen und Werbefiguren verwendet wird. Als Werbeträger dienen sowohl etablierte Figuren aus bekannten Mangaserien als auch eigens für die Werbung geschaffene Figuren. Dazu kommen Produkte, die aus der Vermarktung erfolgreicher Serien entstehen. Die Strategie hinter dem Einsatz der Manga-Ästhetik außerhalb der Serien und insbesondere in Anleitungen und Schildern liegt darin, über ikonische Zeichen und Figuren Orientierung zu vermitteln und komplizierte Abläufe verständlich zu machen. Um die Überwindung von Sprachbarrieren geht es in der Regel nicht, da die Illustrationen fast nur von Japanern angeschaut werden und mit japanischem Text versehen sind.Der Erfolg von Manga in Japan wird gern damit erklärt, dass die Alphabetisierung schon lange hoch war, das Fernsehen relativ spät eingeführt wurde oder es in den großen Städten viele Pendler gibt, die Manga auf der Fahrt lesen. Jason Thompson erklärt den Erfolg eher mit der Fähigkeit der Autoren, sehr lange Geschichten zu erzählen, die ihre Leser mitreißen sowie mit einem größeren Fokus der Aufmerksamkeit und der Urheberrechte auf den Künstlern statt auf Franchises, der zugleich zu einem starken Wettbewerb unter den Künstlern führt. Frederik Schodt sieht einen Grund für den Erfolg der Comics in dem in Japan herrschenden Leistungsdruck ab der Mittelschule sowie dem Leben in dicht besiedelten Städten. Dies führe dazu, dass sich viele eine Freizeitbeschäftigung suchen, die schnell und kurz sowie ohne Störung von anderen konsumiert werden kann, überallhin mitgenommen werden kann und zugleich die Möglichkeit bietet, aus dem anstrengenden, wenig motivierenden Alltag zu entfliehen, wie es ähnlich auch Paul Gravett beschreibt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten sei es der Comicszene in Japan außerdem gelungen, die seit den 1950er Jahren immer wieder bestehenden Zensurbestrebungen – vor allem von Lehrer- und Elternverbänden – sowohl politisch wie wirtschaftlich zu überstehen. Von anderen wird der Erfolg des Mediums auch japanischen Besonderheiten zugeschrieben: So gebe es in Japan durch die aus einer großen Zahl ursprünglich bildhafter Symbole bestehenden Schrift und die lange Tradition stilisierender beziehungsweise karikierender Malerei eine Affinität zu entsprechend symbolhaften Darstellungen und bildlichem Erzählen. Insbesondere direkt nach dessen Tod wurde auch Osamu Tezuka persönlich, seinem Engagement und dem großen Umfang und der Vielfalt seines Werks ein großer Anteil am Erfolg des Mediums zugeschrieben. Der Kulturhistoriker Tomafusa Kure nahm an, Mangas hätten in Japan den Platz der Literatur ausgefüllt, nachdem diese im 20. Jahrhundert immer intellektueller geworden sei, sich auf psychologische Zustände konzentriert habe und damit viele Leser verloren hatte.
=== Gesellschaftliche Kritik ===
Kritik am Medium Manga gibt es in Japan seit den 1950er Jahren, als auch in den USA und Europa Comics im Zentrum gesellschaftlicher Medienkritik standen. Dabei wurde die in westlichen Ländern verbreitete Kritik, Mangas würden verhindern, dass Kinder richtig lesen lernen, nur selten erhoben. Ihr gegenüber steht die in Japan sehr hohe Alphabetisierung von etwa 99 %. Und wegen der bereits früh ausgeprägten Differenzierung nach Zielgruppen verschiedenen Alters hatte die Kritik von Eltern und Pädagogen in Japan wenig Widerhall gefunden. Erst nachdem in den 1980er Jahren sexuelle Darstellungen auch in Publikationen für Jugendliche und Kinder zunahmen, verstärkte sich die Kritik. Sie gipfelte in der Debatte nach dem Fall des sogenannten Otaku-Mörders Tsutomu Miyazaki, der 1989 vier Mädchen tötete und Anime- und Manga-Fan war. Daraus entstand eine Diskussion um einen Zusammenhang zwischen den Medien und Gewalt. In dieser wird jedoch auch angeführt, dass es in Japan mit seinem sehr hohen Manga-Konsum eine der geringsten Raten an Verbrechen, insbesondere Gewaltverbrechen gibt und daher eine Verbindung zwischen beidem nicht ersichtlich sei. So wird auch argumentiert, dass die unter anderem durch Manga große Verfügbarkeit von sexuell wie an Gewalttaten freizügigen Inhalten eher dazu führt, dass weniger Gewalttaten begangen werden. Das Verhältnis der japanischen Medien und Gesellschaft zu sexualisierten und gewalthaltigen Darstellungen, die Auslegung der diesbezüglichen Gesetze und deren Abwägung mit der Kunstfreiheit ist nach wie vor ungeklärt. Ähnliche Diskussionen gab es um die Verbindung von Manga zur Sekte Ōmu Shinrikyō, die in Japan einen Giftgasanschlag verübte und deren Begründer in seiner Ideologie von Science-Fiction-Serien beeinflusst war.Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre gab es eine Kampagne gegen die stereotype Darstellung von Afrikanern und Afroamerikanern in Mangas. Die Stereotype mit Ursprüngen in Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus wurden bis dahin kaum bemerkt oder unbedacht humoristisch eingesetzt. Diese wurden nun international von Minderheitenvertretern stärker wahrgenommen, jedoch wegen Auswahl und mangelnder Sprachkenntnis teils in wiederum verzerrter Form. In Folge der Debatte wurden einige Geschichten umgezeichnet oder ältere Werke kommentiert und bei Redaktionen und Zeichnern herrschte danach ein größeres Problembewusstsein, aber auch die Sorge, unberechtigter Kritik ausgesetzt zu werden, und daher das gänzliche Vermeiden afrikanischer oder afroamerikanischer Figuren.
=== Fanszene und Forschung ===
Paul Gravett beobachtete in der Leserschaft von Mangas mehrere Gruppen: neben den meisten Lesern, die nur gelegentlich lesen und nur einige wenige Serien verfolgen, gibt es eine deutlich kleinere Gruppe von Fans des Mediums sowie innerhalb diesen die besonders aktive Gruppe der Otaku, wie besonders besessene Fans teilweise genannt werden. Daneben gibt es einen Markt von Sammlern seltener Manga-Ausgaben, der jedoch deutlich kleiner als die Sammlerszene in den USA ist – auch weil die meisten Serien immer wieder neu aufgelegt werden. Otaku wurden seit Aufkommen der Szene in den 1980er Jahren von der Gesellschaft und Medien als gestörte Stubenhocker gebrandmarkt und grenzten sich – auch als Reaktion darauf – bewusst von der Gesellschaft ab. Für Fans, die besonders viele Serien sammeln und nicht mehr alle Bücher lagern können, wird zunehmend eine Dienstleistung namens jisui angeboten: ein Unternehmen scannt für den Kunden dessen Bücher, die er dann nur noch als digitale Kopie aufbewahrt.Seit den 1970er Jahren entwickelte sich eine starke Fanszene, die wesentliche Überschneidungen zu der von Animes aufweist. Fans sind oft selbst kreativ tätig. Beliebte Formen sind Fanart, Fanfiction und Dōjinshi, wobei die Verlage in Japan dabei meist dulden, dass bei den selbstverlegten Fortsetzungen oder Alternativerzählungen der Fans Urheberrechte verletzt werden. Auch werden von Fans Veranstaltungen organisiert: Der zwei Mal jährlich seit 1975 in Tokio stattfindende Comic Market (auch ‚Comiket‘ genannt) ist nicht nur die größte Dōjin-Messe Japans, sondern mit 35.000 Ausstellern und über 500.000 Besuchern sogar die größte Comic-Veranstaltung der Welt. Die kreative Fanszene, in der neben Adaptionen bekannter Werke auch Eigenschöpfungen entstehen und angehende Künstler ihre ersten Werke publizieren, wird von jungen Frauen dominiert. Das rührt auch daher, dass in der japanischen Gesellschaft der Druck auf Männer größer ist, schnell zu studieren und berufstätig zu werden, sodass sie seltener Gelegenheit für zeitaufwändige Hobbys haben. Cosplay – das Verkleiden als Figur aus einer Mangaserie – ist ein beliebtes Hobby in der Fanszene. Dies reicht bis zu Cosplay-Cafés, in denen die Bedienung kostümiert ist.
Forschung zum Manga und eine Szene von Kritikern konnte sich trotz weiter Verbreitung und gesellschaftlicher Anerkennung bis in die 1990er Jahre nicht entwickeln. Allein den Comicstrips war ab den 1960er Jahren bereits einige Aufmerksamkeit von Forschern und Kritikern zuteilgeworden. Das erste Museum, das sich umfangreich mit Manga beschäftigte und gezielt sammelte, war das 1989 eröffnete Kawasaki City Museum. Ein erstes Symposium zum Manga veranstaltete die Japanische Gesellschaft für Kunstgeschichte im Jahr 1998; 2001 wurde die Japanische Gesellschaft für Manga-Studien (Nihon Manga Gakkai) gegründet, die jährliche Konferenzen veranstaltet. Ein erster Studiengang entstand 2006 an der Seika-Universität Kyōto, weitere folgten. Im gleichen Jahr eröffnete das Kyōto International Manga Museum. Das Forschungsfeld konzentriert sich bisher auf historische Betrachtungen des Mediums sowie spezifische Aspekte der visuellen Sprache und des Erzählens. Außerdem wurden soziologische Themen wie die Verbindung von Genres und Gender oder Subkulturen untersucht.
=== Preise und Auszeichnungen ===
Zu den bedeutendsten im Manga-Bereich verliehenen Preisen gehören als älteste Auszeichnung der vom gleichnamigen Verlag 1956 ins Leben gerufene Shōgakukan-Manga-Preis für die besten Mangas, sowie der seit 1977 verliehene Kodansha-Manga-Preis und der seit 1997 von der Zeitung Asahi Shimbun jährlich in vier Kategorien vergebene Osamu-Tezuka-Kulturpreis für herausragende Zeichner und Personen oder Institutionen, die sich um die Mangas besonders verdient gemacht haben.
In jüngerer Zeit werden auch Auszeichnungen von politischen und Kulturinstitutionen vergeben. Dies sind der Internationale Manga-Preis des japanischen Außenministeriums, der Japan Media Arts Award des japanischen Kulturamts und der von mehreren Museen vergebene GAIMAN Award. Darüber hinaus werden Mangas in Japan immer wieder auch mit Literaturpreisen ausgezeichnet.
== Internationale Verbreitung ==
=== Allgemeine Entwicklung und Wirkung ===
Die internationale Verbreitung von Manga wurde durch den vorhergehenden Erfolg von Anime, japanischen Animationsfilmen, gefördert. Auch dabei spielte, wie bei der Geschichte des Mangas selbst, Osamu Tezuka eine bedeutende Rolle, da gerade die von ihm produzierten Verfilmungen seiner Manga-Serien im Ausland großen Erfolg hatten. Die Verbreitung von Anime-Serien insbesondere in den 1990er Jahren führte schließlich dazu, dass die Stilmerkmale von Manga einem jungen Publikum vertraut wurden und sie dem Medium offener gegenüber standen. Darüber hinaus waren diese Serien stark mit Merchandisingprodukten wie Spielzeug verknüpft, in deren Gefolge auch die Mangaserien vermarktet wurden. Die vorhergehende Popularisierung von Anime hatte insbesondere in den 1990er Jahren jedoch auch die Folge, dass nach der selektiven Wahrnehmung einiger pornografischer Anime als „der Anime“ das Vorurteil eines sexualisierten, potentiell gefährlichen Mediums auch auf Manga übertragen wurde. Auch die Verwendung der Manga-Ästhetik in Werbung für erotische Angebote im nächtlichen Fernsehprogramm leistete dem Vorschub. Das Vorurteil eines von Gewalt und Sex durchdrungenen und zugleich kindischen Mediums bestand bereits seit den 1960er Jahren, als es im Westen erste Berichte über japanische Comics gab, die Aufsehen erregende Beispiele herausgriffen. Paul Gravett führt diese auch auf das allgemeine Vorurteil eines unreifen, der Führung bedürftigen Japans zurück, das in der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten verbreitet war. Auch während der beginnenden internationalen Popularisierung in den 1990er Jahren wurden Vorurteile durch selektive Darstellung der entweder besonders kinderfreundlichen oder avantgardistischen, verstörenden Werke noch bestärkt. Auch unter japanophilem Publikum war Manga wenig beliebt, da das Medium als Gegensatz zur japanischen Hoch- und Hofkultur wie Teezeremonie und Gartenkunst wahrgenommen wurde, als hedonistische, rebellische Popkultur. Begünstigt wurde die Wahrnehmung als gefährliches Medium auch dadurch, dass die früh international erschienenen, positiv angenommenen Verfilmungen für ein jüngeres Publikum nicht als japanisch beziehungsweise als Anime wahrgenommen wurden. Durch Synchronisation und Genreauswahl – bevorzugt wurden kulturell neutrale Science-Fiction- und Fantasy-Inhalte – blieb die japanische Herkunft weitgehend verborgen. Dies trug auch zum schnellen Erfolg von Anime bei, dagegen war die Leserichtung für Manga eine Hürde. Daher wurden die lizenzierten Ausgaben zunächst oft gespiegelt. Die spezifische Dominanz von Bildern gegenüber Text, archetypisch-symbolische Gestaltung der Figuren und der filmische Erzählstil dagegen machen das Medium Manga international leicht verständlich. Ähnliches gilt für die stark stilisierten und nicht als japanisch erkennbaren Charakterdesigns und die inhaltliche Vielfalt, die auch eine Vielzahl an Werken ohne Bezüge zur japanischen Kultur bietet. Jedoch ist international – im Gegensatz zur Situation in Japan selbst – fast nur der Story-Manga bekannt und verbreitet.Der Erfolg von Manga außerhalb Japans und insbesondere bei der Generation der 1980er und 1990er Jahre wird gern mit seiner Andersartigkeit erklärt, die der Abgrenzung zu anderen Kulturprodukten und der Elterngeneration diene. Jedoch war dieser Generation der Stil von Manga gar nicht so fremd, da sie bereits über Animeserien damit vertraut wurden. Außerdem sind die in den 1990er Jahren erfolgreichen Serien für ein jüngeres Publikum entstanden, bieten Charaktere, mit denen sich die Leser leicht identifizieren können, und laden zur kreativen Auseinandersetzung in Form von Fanart ein. Auch die schnell gewachsene Fanszene trug zur Attraktivität des Mediums bei. Die Ästhetik von Manga und Anime fand mit der internationalen Popularisierung der Medien auch über die Konsumenten der japanischen Werke hinaus Verbreitung, Akzeptanz und Gefallen, sodass sie auch in nicht-japanischen Produktionen aufgegriffen wurde. Besonders in der Fanszene, aber auch darüber hinaus, entstand außerdem ein größeres Interesse an anderen Aspekten der japanischen Kultur. In einigen Jugendkulturen entstand seit den 2000er Jahren eine Japan-Mode, sodass Japan hier größeren Einfluss als die früher Vorbild gebenden Vereinigten Staaten hat. Manga wurde zusammen mit Anime unter dem Schlagwort Cool Japan zu einem kulturellen Botschafter Japans, in deren Kontext auch andere Aspekte der japanischen Kultur vermittelt werden sollen und die zu einem Gegenstand und Mittel japanischer Außenpolitik wurden. Dem dient auch der 2007 vom japanischen Außenministerium ins Leben gerufene Internationale Manga-Preis.Ein für die Verbreitung wichtiger Weg war das Internet, über das zunächst Informationen über das Medium und dann zunehmend auch übersetzte Serien leicht zugänglich wurden. Diese sogenannten Scanlations waren wie zuvor schon die in der Fanszene kursierenden Kopien illegal, dennoch hatte diese Verbreitung großen Anteil an der Popularisierung und schließlich auch dem kommerziellen Erfolg von Mangas außerhalb Japans. Die im Laufe der 2000er Jahre immer einfachere Zugänglichkeit und Umfang der illegalen Kopien wird jedoch auch für einige Marktschwankungen, wie in den USA, mitverantwortlich gemacht und nimmt anders als in Japan einen erheblichen Anteil des Konsums ein. Dem gegenüber steht, dass viele Serien nur sehr spät, langsam oder nie außerhalb Japans veröffentlicht werden und daher illegale Kopien oft der einzig mögliche Zugang sind. Viele Scanlationgruppen werden außerdem von den Verlagen toleriert, da sie ihre Fanübersetzungen zurückziehen und zum Kauf aufrufen, sobald die Serie für das Zielpublikum offiziell veröffentlicht wurde. Scanlations haben auch Druck auf die Verlage ausgeübt, Manga möglichst originalgetreu zu veröffentlichen und waren Vorbild beispielsweise bei der unveränderten Übernahme von Lautmalereien und japanischen Anreden in Übersetzungen. Das trug dazu bei, vielen Manga-Veröffentlichungen im Westen einen eher exotischen Charakter zu verleihen, anstatt dass sie an das heimische Publikum angepasst wurden.Manga hat Comics im Westen, die hier zuvor fast ausschließlich an männliche Leser gerichtet waren, für ein weibliches Publikum attraktiv gemacht und dem Medium so eine wesentlich größere Leserschaft erschlossen. Der weibliche Teil der Fanszene ist oft auch deutlich stärker selbst kreativ in Form von Fanart. Teils im Westen geäußerter Kritik, Mangas seien sexistisch, würden Frauen herabsetzen oder Vergewaltigung verherrlichen, traten Timothy Perper und Martha Cornog 2002 in einer Studie entgegen. Nach Auswertung aller in drei Jahren auf Englisch erschienenen Werke stellten sie fest, dass Mangas keinesfalls frauenfeindlich seien, sondern im Gegenteil vielfältige feministische Qualitäten besäßen und der Sexualität gegenüber zwar positiv eingestellt seien, dabei aber Widerstand gegen sexuelle Übergriffe übten, die sie darstellen. Die interkulturell anschlussfähigen und übertragbaren Stilmerkmale und Erzählstrategien des Manga wurden in den etablierten internationalen Fanszenen aufgegriffen, in denen Werke entstanden, die von den japanischen Vorbildern inspiriert waren. Auf diese Weise entstanden diverse internationale „Ableger“, die sich oft stärker mit Manga identifizieren als mit der jeweils nationalen Comickultur. Eng mit der japanischen Kultur verbundene Aspekte des japanischen Comics gingen dabei verloren, die Stilmerkmale wurden globalisiert. Unterstützt wurde dies durch den Erfolg von How-to-Draw-Manga-Anleitungen, die diese Merkmale außerhalb Japans verbreitet und standardisiert haben.Allgemein kann Manga zusammen mit Anime als ein Beispiel kultureller Globalisierung gelten, das nicht vom Westen ausging. Im Prozess der Verbreitung von Mangas zeigen sich sowohl globale Homogenisierung als auch Heterogenisierung, indem Teile der japanischen Kultur weltweit wirken, dabei aber selbst oft von ihrem Ursprung entfremdet und kulturell angepasst werden. In einem zweiten Schritt werden diese importierten Aspekte in lokale Comickulturen integriert. Darüber hinaus wirkt Manga einer kulturellen Dominanz der Vereinigten Staaten entgegen, wobei sich diese Wirkung kaum über den Kulturbereich von Comics hinaus erstreckt.
=== Ostasien ===
Im Vergleich zu Amerika und Europa hatten japanische Comics in Ostasien bereits früh Erfolg und fanden insbesondere in Südkorea, Taiwan und Hongkong schnell Verbreitung. Jedoch waren viele der Veröffentlichungen zunächst nicht lizenziert, sodass kein Geld an die Urheber gezahlt wurde. Erst mit dem Rückgang der Verkäufe in Japan übten die japanischen Verlage und die Regierung Druck in den Nachbarländern aus, auf dass die illegalen Veröffentlichungen bekämpft und Lizenzen erworben wurden. Die Serien waren weiterhin populär und ermöglichten den Verlagen zusätzliche Einnahmen. Als Gründe für den schnellen Erfolg von Mangas in den Nachbarländern Japans – meist gegen die dortige Zensur und gesellschaftliche Widerstände – werden die gute Lesbarkeit und Überlegenheit von Layout und Erzähltechniken und die kulturelle Nähe genannt. Mit dieser Nähe gehe eine leichtere Identifizierung mit Inhalten und Figuren einher. Dazu komme die oft größere inhaltliche Freiheit als bei einheimischen Produktionen, gerade in Hinblick auf Humor, Sex und Gewalt, und damit ein höherer Unterhaltungswert. Außerdem ist die Übersetzung einfacher, da das Spiegeln meist nicht nötig ist.In Taiwan sind Manga so erfolgreich, dass die meisten großen japanischen Magazine auch hier erscheinen. Zugleich war das Land lange Zeit eines derjenigen mit den meisten illegalen Kopien – der größte dieser Verlage war Tong Li Publishing, der über 1000 Werke ohne Lizenz herausbrachte. Manga war wegen der japanischen Kolonialherrschaft über Taiwan politisch nicht erwünscht und daher Zensur unterworfen. Diese griff wegen der illegalen Kopien jedoch kaum und Taiwan war trotz der Einschränkungen Sprungbrett für die Weiterverbreitung von Mangas in andere Länder Ostasiens. So konnten Mangas seit den 1950er Jahren den Comicmarkt in Taiwan und die lokale Comickultur prägen. Zeitweise wurde dies von den Zensurbehörden hingenommen, später wurden anti-japanische Strömungen genutzt, um den einheimischen Comic zu fördern. In den 1990ern entwickelte sich ein Lizenzmarkt, in den die meisten der vorherigen Piratenverlage einstiegen.Auf Korea hatten die japanischen Comics bereits früh Einfluss, da während der japanischen Kolonialherrschaft viele japanische Produkte in das Land kamen und ein reger Austausch stattfand. Nach der Befreiung 1945 waren japanische Produkte dagegen geächtet und lange Zeit deren Import und Verbreitung gesetzlich verboten. Dennoch gelangten ab den 1950er Jahren immer mehr Mangaserien als unlizenzierte Kopien nach Südkorea, wo sie häufig ohne Herkunfts- und Autorangabe oder mit koreanischen Autoren versehen verbreitet wurden. Die offiziell durch die koreanische Zensur gelangten Kopien waren oft durch koreanische Zeichner von der japanischen Vorlage abgezeichnet. Den Höhepunkt erreichte der nicht-lizenzierte Markt in den 1980er Jahren, ehe ab 1990 das Verbot japanischer Produkte gelockert und Lizenzverträge abgeschlossen wurden. So wurde erstmals überhaupt bekannt, dass viele der beliebten Serien japanischen Ursprungs waren, was zu nationalistisch motivierter Kritik und Sorge um zu großen japanischen Einfluss führte. Mangas wurden für die Darstellung von Gewalt und Sexualität kritisiert und als schlechter Einfluss auf die koreanischen Kinder dargestellt. Zugleich entwickelte sich ein Magazin- und Taschenbuchmarkt nach japanischem Vorbild, auf dem zunehmend auch die einheimischen Künstler Fuß fassen konnten. Als Folge der Kritik an Mangas fördert die südkoreanische Regierung seitdem stärker die nationale Comicbranche, den Manhwa. Die starken japanischen Einflüsse auf diese sind wegen der Ablehnung japanischer Kultur gesellschaftlich umstritten oder werden sogar verleugnet.Nach China kamen Mangas über Kopien aus Taiwan und Hongkong. Doch erste Einflüsse der japanischen Comics gab es bereits in den 1920er Jahren. Aus diesen und japanischen Einflüssen in Hongkong in den 1960ern entstand der Manhua, der chinesische Comic. Der zur gleichen Zeit in der Stadt florierende Markt illegaler Kopien funktionierte ähnlich wie in Taiwan und Korea und wurde in den 1990ern durch einen Lizenzmarkt abgelöst. Parallel dazu wurden aus Japan einfache Arbeiten in der Manga-Branche an Zeichner in China ausgelagert, was zu einem erneuten Einfluss des Mangas auf die lokale Comickultur führte, einschließlich einer größeren Genrevielfalt nach japanischem Vorbild. Der größte Verlag im Markt, sowohl bei Importen als auch Eigenproduktionen, ist Jade Dynasty Group. Die ersten offiziell in China veröffentlichten Mangas waren ab 1981 Astro Boy und Kimba. Auf die Verbreitung von Mangas in China und Taiwan folgten auch die Staaten Südostasiens. In Singapur waren Mangas Ende der 1990er Jahre die beliebtesten Comics. Dort, in Thailand, den Philippinen und Malaysia verbreiteten sich wie in den Nachbarländern Japans zunächst illegale Kopien in großem Maße, ehe lizenzierte Veröffentlichungen folgten. In jedem der Länder dominieren Mangas die Comicmärkte.
=== Vereinigte Staaten ===
In den Vereinigten Staaten hatte der Import von Mangas lange Probleme mit der etablierten Comickultur. Es musste nicht nur Verständnis für die anderen Stile und Erzählweisen entstehen, sondern Comics waren fest mit Superhelden und der Zielgruppe von Sammlern und männlichen Jugendlichen verknüpft und zwei Verlage dominieren den Markt. So bedurfte es vieler Versuche, ehe erfolgreiche Vermarktungswege und Zielgruppen für Mangas gefunden waren. Japanische Comics wurden daher in den Vereinigten Staaten ab den 1970er Jahren zunächst nur einer kleinen Gruppe bekannt: Fans japanischer Animationsfilme oder Japanischstämmige. Der erste in den USA veröffentlichte übersetzte Manga war Barfuß durch Hiroshima, der 1978 von einer in San Francisco und Tokio tätigen Fan-Übersetzergruppe privat verlegt, aber nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurde. Größere Verbreitung fanden bald darauf zwei Kurzgeschichten von Shinobu Kaze: Seine zehnseitige Geschichte Violence Becomes Tranquility erschien im März 1980 im Comicmagazin Heavy Metal, und die sechsseitige Geschichte Heart And Steel im Februar 1982 im Magazin epic. 1982 folgte ein Versuch, die auch vom Barfuß-durch-Hiroshima-Schöpfer Keiji Nakazawa stammende Kurzgeschichte I Saw It herauszubringen und in dem von Art Spiegelman herausgegebenen Avantgarde-Magazin RAW wurden im Mai 1985 mehrere Kurzgeschichten von Zeichnern des japanischen Magazins Garo veröffentlicht. Im gleichen Jahr erschien mit dem Mangazine erstmals ein amerikanisches Magazin, das Fancomics im Stil von Mangas gewidmet war. Mit zunehmender Popularität des Mangas entwickelte sich mit dem OEL Manga („Original English Language Manga“) ein eigenes Marktsegment. Auch darüber hinaus nahmen Mangas seit den 1980er Jahren Einfluss auf die amerikanische Comicszene – so ließen sich Art Spiegelman und Frank Miller vom Medium inspirieren. Ab Mai 1987 erschien bei First Comics die Manga-Serie Lone Wolf & Cub, deren erste Bände aufgrund des großen Verkaufserfolges bereits nach kurzer Zeit nachgedruckt werden mussten. Noch im gleichen Jahr brachte Eclipse Comics zusammen mit Viz die Manga-Serien Kamui, Mai the Psychic Girl und Area 88 als zweiwöchentlich erscheinende Comichefte heraus. Viz war als Ableger des japanischen Verlags Shogakukan gegründet worden und ist als Viz Media noch immer im Markt aktiv. Im Jahr 1988 folgte Marvel Comics mit der Veröffentlichung von Akira, das zu einem Wegbereiter für Manga- und Anime weltweit wurde. In der folgenden Zeit wurde Dark Horse zum größten Manga-Verlag in den USA neben Viz.Die ersten Mangas in den USA waren zur Anpassung an die übrigen Comicpublikationen auf Albenformat vergrößert und auf westliche Leserichtung gespiegelt worden. In dieser Phase waren die meisten Manga-Figuren daher scheinbar Linkshänder und japanische Schriftzeichen auf Schildern und Plakaten wurden seitenverkehrt abgedruckt. Mitte der 1990er Jahre erschienen erste Fan- und Fachmagazine sowie vermehrt auch Mangas für Japan-Interessierte oder Studierende, deren Zahl zugleich durch die Verbreitung von Anime und Manga zunahm. Der Verkauf lief noch über Comicläden. Das änderte sich erst mit dem Erfolg von Sailor Moon ab 1997, der zudem zur Veröffentlichung weiterer Mangas für ein weibliches Publikum führte. Der Verlag Mixx Entertainment hatte daran, unter seinem neuen Namen Tokyopop, großen Anteil und wurde zu einem der größten Manga-Verlage der USA. 2004 kam Del Rey Manga hinzu, die eine Partnerschaft mit Kōdansha eingingen. Als erster Manga-Band in original japanischer Leserichtung in den USA erschien zwar bereits 1989 Panorama of Hell bei Blast Books, doch erst Tokyopop brachte ab 2002 Manga-Serien konsequent ungespiegelt heraus. Statt der Spiegelung finden jedoch immer wieder andere Anpassungen statt, wenn die Darstellungen nach amerikanischen Vorstellungen zu gewalthaltig oder zu stark sexualisiert sind. Dies hängt immer wieder auch damit zusammen, dass in den USA auf ein jüngeres Publikum abgezielt wird als in Japan.Im Jahr 2005 betrug der Umsatz des nordamerikanischen Manga-Marktes etwa 125 bis 145 Millionen Euro, und unter den 100 meistverkauften Comicbänden in den USA waren 80 Manga-Bände. Mangas waren das am stärksten wachsende Segment des amerikanischen Verlagswesens. Ende der 2000er Jahre jedoch gingen die Verkäufe in den USA wieder zurück: Von 2007 bis 2009 schrumpfte die Zahl der Verkäufe um 30 bis 40 %. Das wird als Konsolidierung eines überstrapazierten Marktes und Folge eines Überangebots gesehen – das Medium Manga selbst blieb beliebt und verschwand dadurch nicht, die Fanszene ist seither eher noch gewachsen.
=== Europa ===
Als erster Manga in Europa erschien Bushido Muzanden von 1969 bis 1971 in Fortsetzungskapiteln in einem französischen Kampfsportmagazin. Ab 1978 erschien mit dem französischsprachigen Magazin Le Cri Qui Tue aus der Schweiz das erste europäische Manga-Magazin. Der erste auf Spanisch veröffentlichte Manga war die Gekiga-Kurzgeschichte Good-Bye von Yoshihiro Tatsumi im Jahr 1980 in Ausgabe Nr. 5 der Underground-Comiczeitschrift „El Víbora“. Die Zeitschrift veröffentlichte im Laufe der nächsten Jahre weitere Geschichten dieses Zeichners. Als erste Serie auf Spanisch erschien ab 1984 Candy Candy Corazón, die auch in Italien mit großem Erfolg veröffentlicht wurde. Es folgten Science-Fiction-Serien von Go Nagai und Leiji Matsumoto in Frankreich, Spanien und Italien. Generell waren es der italienische und der spanische Comicmarkt, die sich in Europa als erste in größerem Maße dem Manga öffneten. Den ersten Erfolg hatten Mangas in Spanien, wo sie schnell dem Erfolg von Anime-Fernsehserien in den 1980er Jahren folgten. In rascher Folge erschienen vor allem Shōnen und Seinen-Serien wie Crying Freeman und City Hunter. Mehrere neue Verlage und kurzlebige Fanmagazine entstanden. Heute wird der Markt von drei großen sowie mehreren kleinen, stark spezialisierten Verlagen bedient. Auch in Italien nahm der Vertrieb von Mangas im Laufe der 1990er Fahrt auf. Es erschienen die Magazine Mangazine und Zero, die mehrere Serien herausbrachten, später folgten weitere Magazine. Auch hier dominierten nun Mangas für das männliche Publikum und neue, spezialisierte Verlage entstanden. Ende des Jahrzehnts kam die Veröffentlichung im japanischen Taschenbuchformat auf sowie eine größere inhaltliche Vielfalt. Italien war der größte europäische Absatzmarkt für Manga, ehe es etwa 2000 von Frankreich abgelöst wurde. 10 bis 13 Verlage veröffentlichen Mangas in Italien und setzten bei Bestsellern bis zu 150.000 Exemplare (Dragon Ball) oder 75.000 Exemplare (Inu Yasha, One Piece) pro Band ab.1990 begann Glénat mit der französischsprachigen Veröffentlichung von Akira. Doch in den folgenden Jahren hielten sich die großen Verlage noch zurück, da es gesellschaftlich und in der Branche noch Vorbehalte gegenüber dem als gewalthaltig geltenden Manga gab. Das änderte sich ab 1993 langsam, als die Nachfrage in Folge der schon mehrere Jahre im französischen Fernsehen laufenden Anime-Serien immer größer wurde. Édition Tonkam und Pika brachten ab 1994 und 1995 als spezialisierte Verlage eine größere Vielfalt in das französische Manga-Angebot. Versuche, Manga-Magazine nach japanischem Vorbild zu etablieren, scheiterten nach kurzer Zeit. Dennoch stieg der Manga-Anteil am französischen Comicmarkt von 10 % im Jahr 2001 auf 37 % im Jahr 2008 und das Land wurde zum größten Markt für Manga in Europa mit zeitweise 37 Manga-Verlagen. Der Bestseller Naruto verkaufte 220.000 Exemplare pro Band. Auch der Markt im benachbarten Belgien ist seit den 1990er Jahren stetig gewachsen. Hier werden, ähnlich wie in Frankreich, auch sehr viele anspruchsvollere Titel für ein erwachsenes Publikum, beispielsweise von Jirō Taniguchi, verlegt. Seit 2003 haben Mangas im frankobelgischen Raum so viel Akzeptanz, dass sie regelmäßig mit Comicpreisen ausgezeichnet werden.In allen westeuropäischen Ländern ging der Erfolg von Manga einher mit Krisen der nationalen Comicmärkte in den 1980er und 1990er Jahren, ausgelöst durch das aufkommende Privatfernsehen oder inhaltliche und verlegerische Stagnation. Der Manga-Markt in Großbritannien entwickelte sich später als in den meisten übrigen europäischen Ländern. Während im Jahr 2001 etwa 100.000 Manga-Bände mit einem Gesamtumsatz von umgerechnet 2 Millionen Euro verkauft wurden, waren es im Jahr 2005 knapp 600.000 Bände mit einem Gesamtumsatz von umgerechnet 7,6 Millionen Euro. Die meisten Mangas in Großbritannien werden nach wie vor aus den USA eingeführt, der erste britische Manga-Verlag wurde im August 2005 gegründet, der zweite 2006. Jedoch gab es schon seit 1991 mit Manga Entertainment einen Anime-Vertrieb im Vereinigten Königreich, der auch Mangas veröffentlichte.Nach Russland kamen Mangas bereits in den 1980er Jahren durch sowjetische Diplomaten und es entstand eine kleine Fanszene, die sich über oft illegale Wege Kopien japanischer Comics beschaffte. Erst 2005 erschien beim Verlag Sakura Press mit Ranma ½ der erste lizenzierte Manga in Russland. Im gleichen Jahr kamen erste Mangas in Polen heraus, die dort großer gesellschaftlicher Kritik ausgesetzt waren. 2010 machte das Segment 70 % des polnischen Comicmarkts aus und wird von zwei polnischen Verlagen und Egmont bedient. In den Ländern Nordeuropas entstanden vereinzelt eigene Verlage, die sich jedoch nicht alle lange halten konnten. Die Märkte werden daher auch von internationalen Verlagen und deren lokalen Töchtern bedient.Ab 2000 nahm der künstlerische Einfluss des Mangas auf die europäischen Zeichner zu. Frederic Boilet, der bereits mit japanischen Zeichnern gearbeitet hatte, proklamierte 2001 die Bewegung des Nouvelle Manga. Der Austausch mit den japanischen Künstlern sollte verstärkt werden, von den japanischen Erzähltechniken und der Vielfalt der Inhalte und Zielgruppen gelernt und die Unterschiede zwischen den nationalen Comic-Traditionen beseitigt werden. Viele französische Künstler ließen seitdem Manga-Stilmittel in ihre Arbeiten einfließen. Es entstand der Begriff Euromanga für diese Werke.
=== Deutschland ===
Der Begriff „Manga“ als Name für die Werke Hokusais wurde in der deutschsprachigen Kunstliteratur bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, meist in der heute veralteten Schreibweise „Mangwa“. Die erste und zugleich negativ gefärbte Verwendung des Wortes „Manga“ für japanische Comics in deutschsprachigen Medien findet sich in einer Sonderbeilage der Zeitschrift stern von 1977: „(…) Höchste Auflagen haben die „Mangas“, Strip-Magazine mit Sadismen, bei deren Anblick vermutlich gar der alte Marquis de Sade noch Neues hätte lernen können“. Die ersten Manga-Veröffentlichungen in Deutschland, zuerst 1982 Barfuß durch Hiroshima – Eine Bildergeschichte gegen den Krieg von Keiji Nakazawa im Rowohlt Verlag, hatten wenig bis keinen Erfolg, obwohl sie hinsichtlich Leserichtung, Veröffentlichungsform und teils auch Farbe an westliche Lesegewohnheiten angepasst waren. So wurde Akira 1991 zwar gespiegelt und koloriert in Alben veröffentlicht, wurde aber nicht mehr als ein Achtungserfolg.Der Durchbruch für Manga in Deutschland kam Ende 1997 mit der ungespiegelten Serie Dragon Ball des Carlsen-Verlags. Die Veröffentlichung in originaler Leserichtung war vom Lizenzgeber vorgegeben worden, erwies sich aber als vorteilhaft und wurde zum Standard für Manga-Veröffentlichungen in Deutschland: Die japanische Leserichtung betont Authentizität, grenzt zum restlichen Comic-Angebot ab und senkt die Kosten für die Verlage, die dies in Form geringerer Preise an den Leser weitergeben. Den meisten Bänden ist seitdem auf der letzten bzw. der nach westlicher Leserichtung ersten Seite eine kurze Anleitung zum Lesen von rechts nach links beigeheftet. Mittlerweile erscheinen allein bei den größten deutschen Manga-Verlagen Carlsen Manga, Egmont Manga, Tokyopop, Planet Manga und Kazé Deutschland jährlich über 800 Manga-Bände.
Die Entwicklung des Manga-Booms in Deutschland lässt sich zum Beispiel an den Umsatzzahlen des Carlsen-Verlags ablesen: Während der Verlag 1995 Manga für knapp 400.000 Euro verkaufte, lag sein Manga-Umsatz im Jahr 2000 bei über vier Millionen Euro und 2002 bei über 16 Millionen Euro. Im Jahr 2005 lag der Manga-Bruttoumsatz in Deutschland bei 70 Millionen Euro. Egmont Manga und Anime (EMA) war mit einem Jahresumsatz von 15 Millionen Euro Marktführer, im Jahr 2006 lag laut GfK-Angaben Carlsen Comics mit einem Marktanteil von 41 % knapp vor EMA (38 %). Das Segment umfasste in dem Jahr etwa 70 % des deutschen Comicmarktes und wurde zum drittwichtigsten Markt für Manga in Europa. Dabei lief der Vertrieb ab den 2000er Jahren nicht nur über den Fach- und Zeitschriftenhandel, sondern auch über die meisten Buchläden. Das Angebot wird oft in der Nähe von Jugendbüchern platziert und der Erfolg verhalf auch anderen speziell japanischen Erzählformen wie Light Novel nach Deutschland. Die positive Entwicklung des Marktes hält auch über das Jahr 2010 hin an. So stiegen die Umsätze mit Manga von 2014 zu 2015 um fast 15 %, während der Buchmarkt insgesamt schrumpfte. Die deutsche Comicbranche ist wie keine andere in Westeuropa abhängig vom Manga.Die Veröffentlichungen geschehen zwar fast immer ungespiegelt, jedoch manchmal auf andere Weise verändert oder es wird bereits verändertes Material aus den USA übernommen, um anderen Vorstellungen über die Darstellbarkeit von Sex und Gewalt entgegenzukommen oder Kritik vorzubeugen. So werden meist auch Swastiken, die in Ostasien ein verbreitetes Glückssymbol sind, entfernt, weil sie in Deutschland mit dem Nationalsozialismus assoziiert werden. Mangas werden in Deutschland fast ausschließlich in Form von Taschenbüchern (meist im japanischen Tankōbon-Format) veröffentlicht. Der Versuch, auch monatlich erscheinende Manga-Magazine nach japanischem Vorbild in Deutschland zu etablieren, scheiterte Anfang des 21. Jahrhunderts nach einigen Jahren: Die Magazine Manga Power und Manga Twister wurden wegen unzureichender Verkaufszahlen und Banzai! wegen Lizenzproblemen wieder eingestellt. Das Magazin Daisuki hielt sich noch bis Mai 2012.
Die Manga-Leserschaft war laut einer großangelegten Umfrage von 2005 im Wesentlichen zwischen 14 und 25 Jahren alt, nur 12 % älter als 25. Dieser kleine Teil älterer Fans spielte jedoch eine große Rolle in der Etablierung der Szene, so in der Gründung von Magazinen, Veranstaltungen und Plattformen. 70 % der Befragten waren weiblich. Frauen machen auch die überwiegende Mehrheit des selbst kreativen Teils der Fanszene aus. Die thematischen und ästhetischen Interessen sind außerordentlich breit gestreut, auch wenn fantastische Stoffe vorherrschen, und es wird von den Befragten eine große Bandbreite an Lieblingswerken genannt. Allein bei der Frage nach dem ersten gelesenen Manga stechen Dragonball und Sailor Moon hervor.Nachdem der Comicmarkt in Deutschland seit den 1980er Jahren rückläufige Verkäufe bei stetig steigenden Preisen verzeichnete, wurde dieser Trend durch den Erfolg von Manga in den 1990er Jahren gebrochen. Die günstige Veröffentlichungsform und die neuen Inhalte sprachen nun wieder ein breiteres, jüngeres und erstmals weiblicheres Publikum an. Seit der Jahrtausendwende haben Manga auf etablierten deutschen Literaturveranstaltungen wie der Frankfurter Buchmesse und der Leipziger Buchmesse eigene Messebereiche. Das Segment wurde – in Verbindung mit Cosplay – zu einem der Publikumsmagneten der Messen und bringt ihnen viele junge Besucher. Beim Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse gab es zeitweise zwei Kategorien für Manga – national und international – und es entstanden Manga-Zeichenwettbewerbe, die vom Manga inspirierte deutsche Künstler suchen. Seit Anfang der 2000er etablierten sich so auch einige deutsche Künstler, die aus der Manga-Fanszene stammen und Manga-typische Stile, Erzählstrategien, Themen und Genres in ihren Werken aufgreifen.
== Siehe auch ==
Liste der Manga-Titel
Liste der auf Deutsch veröffentlichten Mangas
Liste der Manga-Magazine
Liste der Mangaka
== Literatur ==
Osamu Tezuka (Vorwort), Frederik L. Schodt: Manga! Manga! The World of Japanese Comics. Kodansha America, 1983, ISBN 0-87011-752-1 (englisch).
Frederik L. Schodt: Dreamland Japan: Writings on Modern Manga. Diane Pub Co., 1996, ISBN 0-7567-5168-3 (englisch).
Sharon Kinsella: Adult Manga: Culture and Power in Contemporary Japanese Society. University of Hawaii Press, 2000, ISBN 0-8248-2318-4 (englisch).
Masanao Amano, Julius Wiedemann (Hrsg.): Manga Design. Taschen Verlag, 2004, ISBN 3-8228-2591-3.
Stephan Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Harrassowitz Verlag, 2005, ISBN 3-447-05213-9.
Paul Gravett: Manga – Sechzig Jahre japanische Comics. Egmont Manga & Anime, 2006, ISBN 3-7704-6549-0.
Miriam Brunner: Manga – Faszination der Bilder: Darstellungsmittel und Motive. Wilhelm Fink, München 2009, ISBN 978-3-7705-4879-8.
== Weblinks ==
Virtuelles Manga-Museum (Memento vom 30. Mai 2013 im Internet Archive)
Deutschsprachige Manga-Datenbank aniSearch
The Incomplete Manga-Guide – Verzeichnis für auf Deutsch veröffentlichte Manga
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Manga |
Ren | = Ren =
Das Ren [reːn], [rɛn] oder Rentier (Rangifer tarandus), vormals Renntier, ist eine Säugetierart aus der Familie der Hirsche (Cervidae). Es lebt zirkumpolar im Sommer in den Tundren und im Winter in der Taiga Nordeurasiens und Nordamerikas sowie auf Grönland und anderen arktischen Inseln. Es ist die einzige Hirschart, die domestiziert wurde. Der nordamerikanische Vertreter heißt Karibu.
== Namen ==
Das deutsche Wort Ren ist entlehnt aus schwedisch ren, das wie norwegisch rein und isländisch hreyn(dýr) auf altnordisch hreinn zurückgeht. Frühe deutsche Formen lauten rein, reyner, rainger. Neuenglisch rein(deer) aus altenglisch hrān und neufranzösisch renne aus mittelfranzösisch reen sind ebenfalls aus dem Nordgermanischen entlehnt, reen über deutsche Vermittlung 1552 aus der Kosmographie von Sebastian Münster. Das altnordische Ausgangswort gehört zu einer Gruppe von Bezeichnungen für horntragende Tiere wie Hirsch oder Hornisse. Vielleicht stellt sich hreinn wie griechisch krīós „Widder“ zu einer indoeuropäischen Wurzel *k̂er(ə)- „das Oberste am Körper, Kopf, Horn“. Das Kompositum Rentier (wie schwedisch rendjur, englisch reindeer und altnordisch hreyndýri) entstand später zur Verdeutlichung; deutsch Rennthier, seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts belegt, ist eine volksetymologische Anlehnung an rennen. Als Pluralformen von Ren sind Rens und Rene möglich. Fachsprachlich ist die Form Rener üblich.Zoologischen Bezeichnungen gehen auf neulateinisch rangifer und altgriechisch tárandos, beides „Ren“, zurück. Bei rangifer ist eine Herkunft aus ramus „Ast“ und ferre „tragen“ möglich. Albertus Magnus führt ihn in De Animalibus um 1260 auf, Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. den „tárandos“ in De partibus animalium.Das deutsche Karibu stammt vom Wort Qualipu, sprich „hal-lay-boo“, aus der Sprache des indigenen Volkes der Mi’kmaq in Ostkanada und dem US-Bundesstaat Maine. Es ist im Französischen als caribou erstmals 1606 belegt, im Englischen als cariboo erstmals 1665. Eingedeutscht führte Brehms Tierleben den Karibu 1865 an.
== Merkmale ==
Die Größe schwankt mit dem Verbreitungsgebiet. Die Kopf-Rumpf-Länge kann 120 bis 220 Zentimeter betragen, die Schulterhöhe 90 bis 140 Zentimeter, das Gewicht 60 bis 300 Kilogramm. Das Fell ist dicht und lang, dunkel-graubraun oder, besonders bei domestizierten Tieren, hell; im Winter ist es generell heller als im Sommer. Die auf hocharktischen Inseln Kanadas, vor allem auf der Ellesmere-Insel lebenden „Peary-Karibus“ tragen ganzjährig ein fast rein weißes Fell. Die Färbung dient als Tarnung vor Fressfeinden; die dichte Unterwolle schützt im arktischen Klima vor Kälte.
Die Geweihe sind stangenförmig, verzweigt und charakteristisch nach vorne gebogen; nur die tiefste Sprosse der männlichen, unkastrierten Tiere bildet am Ende eine Verbreiterung, auch als „Schneeschaufel“ bezeichnet, da man früher annahm, das Ren räume mit ihr den Schnee beiseite. Die Formgebung der Geweihe ist unregelmäßig, asymmetrisch und bei jedem Tier unterschiedlich. Das Ren ist die einzige Hirschart, bei der auch das Weibchen regelmäßig ein Geweih trägt. Das des Männchens ist mit einer Länge von 50 bis 130 Zentimeter ausladender gegenüber nur 20 bis 50 Zentimetern beim Weibchen. Männliche Tiere werfen ihr Geweih im Herbst ab, Weibchen erst im Frühjahr. Das Abwerfen erfolgt gewöhnlich nicht zugleich beidseitig, so dass das Ren vorübergehend eine Geweihstange trägt.
Die Hufe der Rentiere sind breit und durch eine Spannhaut weit spreizbar. Außerdem sind lange Afterklauen ausgebildet. Dies ermöglicht den Tieren im oft steinigen oder schlammigen Gelände sicheren Tritt.
== Verbreitung ==
Rentiere zählen zu den am weitesten nördlich lebenden Großsäugern. Sie bewohnen große Teile des nördlichen Nordamerika und Eurasien. Selbst auf hocharktischen Inseln wie Spitzbergen, der Ellesmere-Insel und Grönland kommen Rentiere vor. Um dem arktischen Winter zu entgehen, unternehmen die Renherden, wo dies möglich ist, große Wanderungen, manche bis zu 5000 Kilometern – die längste regelmäßige Wanderung von Landsäugern überhaupt.
Auf dem europäischen Festland gibt es in Südnorwegen noch etwa 25.000 wildlebende Rentiere in 23 getrennten Populationen, davon 10 bis 11.000 auf der Hardangervidda. Gut die Hälfte der Populationen sind aber gemischt mit teil-domestizierten Rentieren (laut IUCN-Angaben leben dort insgesamt rund 6000 reinrassige Wild-Rentiere). Bei den großen Rentierherden Lapplands und Nordostrusslands handelt es sich ausschließlich um (geringfügig) domestizierte, „halbwilde“ Rentiere, die etwa unter der Obhut der Samen stehen.In Nordkanada reicht das Verbreitungsgebiet der Rentiere (Karibus genannt) weiter in den Süden, also in die boreale Zone. Die weiteste Verbreitung hatte das Ren in der letzten Kaltzeit; damals drang es bis zu den Pyrenäen und an die heutige mexikanische Nordgrenze vor. Mit der Erwärmung am Ende der letzten Kaltzeit begann eine Habitatverlagerung nach Norden, wobei sich das Rentier noch lange in gemäßigteren Zonen aufhielt. Vermutlich waren Menschen für das Verschwinden der Tiere aus den gemäßigten Zonen mitverantwortlich; allerdings waren die Bestände ohnehin im Abnehmen begriffen.
Auf den britischen Inseln starb das Rentier vor rund 10.000 Jahren aus. 1952 wilderte der Same Mikel Utsi 29 Tiere in der schottischen Berggruppe Cairngorms aus; heute leben dort etwa 130 Rentiere. Eine Herde von rund 80 Tieren lebt auf dem Gelände der Glenlivet-Brennerei.
Als Neozoon wurde das Rentier auf den Kerguelen eingeführt. Dies war auch in Südgeorgien der Fall, wo die Tierart 2014 durch norwegische Scharfschützen, die von der südgeorgischen Verwaltung unterstützt wurden, jedoch erfolgreich wieder ausgerottet werden konnte, nachdem sie viel Schaden an der Pflanzendecke angerichtet hatte.
== Lebensweise ==
Rentiere sind Herdentiere. Sie finden sich zu den jahreszeitlichen Wanderungen zusammen und können gebietsweise mehrere 100.000 Tiere umfassen; aus Alaska ist eine Herde mit 500.000 Tieren bekannt. Die weltweit größte Rentierherde war zeitweise die George-River-Herde im Osten Kanadas, die inzwischen von ehemals rund 900.000 Tieren (1980er Jahre) auf 70.000 (2011) geschrumpft ist. Nach den Wanderungen lösen sich die Herden in kleinere Verbände zu zehn bis hundert Tieren auf. Diese Gruppen mit einer Hierarchie, die sich nach der Geweihgröße richtet, bestehen meistens entweder nur aus Männchen oder nur aus Weibchen. Gelegentlich wird die Hierarchie durch ritualisierte Kämpfe entschieden.
Zur Zeit der Paarung im Oktober versuchen Männchen, einen Harem um sich zu sammeln. Sie paaren sich mit so vielen Weibchen wie möglich. Nach einer Tragezeit von ungefähr 230 Tagen bringt das Weibchen ein einziges Junges zur Welt. Die Geburt erfolgt im Mai oder Juni. Das Jungtier ist, anders als die meisten Hirschkälber, nicht gefleckt und schon kurz nach der Geburt selbständig. So kann es bereits nach einer Stunde laufen. Sofern es trocken bleibt, wird das Junge durch sein aus luftgefüllten Haaren bestehendes Fell vor Kälte geschützt. Bei nasskaltem Wetter ist die Sterblichkeit der Kälber hoch, obwohl Rentierkälber ihre Wärmeerzeugung um das Fünffache beschleunigen können und damit über außergewöhnliche thermoregulatorische Fähigkeiten verfügen. Geschlechtsreif werden die Tiere nach zwei Jahren. Durchschnittlich werden sie etwa 12 bis 15 Jahre alt, gelegentlich auch mehr als 20 Jahre.
Rentiere sind vor allem Grasfresser; im Sommer nehmen sie fast jede pflanzliche Kost zu sich, die sie finden können. Im Winter sind sie durch Schnee und Eis überwiegend auf Rentierflechten, Moose und Pilze beschränkt.
Die natürlichen Feinde des Rens sind Wölfe, Vielfraße, Luchse und Bären. Gesunde Tiere wissen sich allerdings diesen Feinden durch ihre Laufstärke zu entziehen; so fallen den Raubtieren gewöhnlich nur kranke und geschwächte Rentiere zum Opfer. Die größte Plage stellen Innen- und Außenparasiten dar, vor allem die Myriaden von arktischen Stechmücken. Darüber hinaus hat auch die industrielle Erschließung ihres Weidelandes Auswirkungen auf ihr Überleben, wie am Beispiel der George-River-Herde vermutet.
== Unterarten ==
In verschiedenen Teilen der Welt ist das Ren durch die Bejagung zwischenzeitlich selten geworden. Heute gibt es weltweit etwa 4 Millionen wilde und 3 Millionen domestizierte Rentiere. Die Art gilt damit nicht als gefährdet. Drei Viertel der wilden Rentiere leben in Nordamerika, mehr als drei Viertel der domestizierten Rentiere in Sibirien.
Man unterscheidet je nach Lehrmeinung zehn bis zwanzig Unterarten des Rentiers. Traditionell unterscheidet man zwei Hauptformen, zum einen die Tundrarentiere, zum anderen die sogenannten Waldrentiere. Unter den Tundrarentieren unterscheidet man drei kleine hocharktische Inselformen, die aber nicht alle nah verwandt sind, sowie drei Festlandformen, die aber teilweise auch auf Inseln vorkommen. Eine weitere Inselform, das ausgestorbene Queen-Charlotte-Karibu, scheint genetischen Befunden zufolge keine eigene Unterart zu repräsentieren, sondern stand den Formen des Kanadischen Festlands nahe. Die Eurasischen Waldrentiere werden traditionell in drei Formen unterteilt.
=== Tundrarentiere ===
Eurasisches Tundraren (R. t. tarandus) in Lappland und Nordrussland westlich des Ural; heute in Europa fast nur noch in seiner domestizierten Form vorhanden; umfasst auch die als Sibirisches Tundraren (R. t. sibericus) beschriebenen Formen im Norden Sibiriens sowie die Population Nowaja Semljas
Grant's-Karibu (R. t. granti), Alaska sowie Yukon
Barrenground-Karibu (R. t. groenlandicus), West-Grönland, kanadische Nordwest-Territorien und Territorium Nunavut sowie Yukon
Peary-Karibu (R. t. pearyi), kanadische arktische Inseln; von der IUCN als „stark gefährdet“ eingestuft; diese Unterart ist wegen ihres nahezu rein weißen Fells bekannt
Spitzbergen-Ren (R. t. platyrhynchus), Spitzbergen, Bestand etwa 11.000 Tiere
Ostgrönland-Rentier (R.t. eogroenlandicus), Ostgrönland, seit 1900 ausgestorben.
=== Waldrentiere ===
Sibirisches Waldren (R. t. valentinae) in verschiedenen russischen Gebirgen, zum Beispiel im Ural und im Altai
Europäisches Waldren (R. t. fennicus), Finnland, Russland (Karelien)
Mandschurisches Ren (R. t. phylarchus), von der Mandschurei über Ostsibirien bis Kamtschatka und Sachalin
Kanadisches Waldkaribu (R. t. caribou), Kanada von British Columbia bis Neufundland, vor allem in den kanadischen Nordwest-Territorien und den Territorien Nunavut und Yukon; eine Herde gelangt bei ihren Wanderungen auch nach Idaho und Washington
Queen-Charlotte-Karibu (R. t. dawsoni), Queen-Charlotte-Inseln vor der westkanadischen Küste; ausgestorbenDie Unterarten unterscheiden sich in Fellfärbung und Größe. Beispielsweise ist das Kanadische Waldkaribu dunkelbraun, das Europäische Rentier eher graubraun. Die kleinsten Rentiere sind die inselbewohnenden Unterarten. So ist das Spitzbergen-Ren im Durchschnitt um 15 % kleiner als das Europäische Ren.
== Menschen und Rentiere ==
=== Nutzung der Wildtiere ===
Schon auf Höhlenzeichnungen der Steinzeit findet man Rentiere dargestellt. Sie waren schon den Neandertalern eine begehrte Jagdbeute. Bis heute werden Rentiere in vielen Teilen der Welt gehalten und gejagt, da man ihr mageres Wildbret und ihr Fell schätzt. In den Regionen, in denen Großwild, Faserpflanzen und Baustoffe spärlich sind oder fehlen, haben Menschen beinahe jeden Körperteil des Rentiers genutzt: die Haut für Pelze und Leder, das Blut als Heilmittel („Saina tjalem“), Geweih und Knochen zur Werkzeugherstellung.
Der Beginn der Nutzbarmachung der Rentierherden für die Naturweidewirtschaft (Pastoralismus#Rentier-Pastoralismus) liegt 5000 Jahre zurück und fand zuerst in Sibirien statt.Vor allem die traditionelle Lebensweise vieler indigener Völker des eurasischen Nordens ist durch das Zusammenleben mit Rentieren geprägt. Für die Nenzen in Sibirien beispielsweise sind sie ein bedeutender Lebensbestandteil und Teil ihrer Lebensgrundlage: „Das Rentier ist unsere Nahrung, unsere Wärme und unser Transportmittel.“ Das gilt auch noch für einen kleinen Teil der nordeuropäischen Samen.
=== Domestikation und Rentierwirtschaft ===
Nicht selten wird die Rentierwirtschaft als „Rentierzucht“ bezeichnet. Im Gegensatz zu allen anderen domestizierten Weidetieren war die Zuchtwahl durch den Menschen beim Rentier jedoch immer nur gering und der Mensch hat sich eher an die Lebensweise der Tiere angepasst als umgekehrt, sodass die Bezeichnung irreführend ist. Der Begriff Rentierhaltung soll dem Rechnung tragen.Es ist unbekannt, welches Volk zuerst Rentiere domestizierte. Die Nutzung des Rens verbreitete sich um 1000 v. Chr. von Sibirien nach Skandinavien. Das Vorbild dieser spätesten Domestikation eines Großsäugers lieferten offenbar nach Norden vorgedrungene Viehhalter aus bäuerlichen oder viehzüchterischen Kulturen. In Nordeuropa waren die Samen auf diesem Gebiet erfolgreich. Bis zum 17. Jahrhundert wurden Rentiere vor allem als Last- und Zugtiere genutzt, wie zum Teil heute noch von den Ethnien der sibirischen Taiga, die zudem Rentiermilch gewinnen. Die anschließende Ausweitung der Domestizierung auf ganze Herden fand erst durch den Zwang zu höheren Steuerzahlungen an die Kolonialherren statt. Noch heute wird in Lappland, Nordrussland und großen Teilen Sibiriens Rentierwirtschaft betrieben (vielfach halbnomadisch, sehr selten noch vollnomadisch). In Norwegen und Schweden ist sie ein Privileg der Samen, in Finnland wird sie hauptsächlich von Finnen ausgeübt. Die Herden wandern frei umher, die Menschen folgen ihnen. Die Rentiere werden zu festgelegten Zeiten zusammengetrieben, um die Kälber zu markieren oder ausgewählte Tiere zu schlachten. Das Zusammentreiben großer Herden wird heute teilweise mittels Hubschraubern und/oder Motorschlitten erledigt.
Da Rentiere Niedrigsttemperaturen ertragen, hat man noch im 20. Jahrhundert domestizierte europäische Rentiere in Grönland, Alaska und Kanada eingeführt, wo die einheimischen Völker zuvor nur Wildrene (Karibus) gejagt und nie selbst domestiziert hatten. In Alaska schlug der Versuch fehl, da die indigene Bevölkerung an der subsistenzwirtschaftlichen Jagd festhielt. Auch auf einigen subantarktischen Inseln wurden Rentiere, ursprünglich von Walfängern, als jederzeit verfügbare Frischfleischquelle eingeführt. Nachdem die Rentiere in Südgeorgien 2013 und 2014 wieder entfernt worden waren, weil die Verbissschäden an der Inselvegetation zu groß waren, befindet sich heute die südlichste und nunmehr einzige Rentierpopulation der Südhalbkugel auf den Kerguelen.
Sie ertragen jedoch höhere Temperaturen nicht gut. In den 2010er Jahren sind die Eisfelder auf Sommerweiden mongolischer Rentierzüchter stärker zurückgegangen als zuvor, so dass den Rentieren, die durch höhere Temperaturen ohnehin belastet sind, sogar die Möglichkeit einer Abkühlung fehlt. Zudem gedeihen blutsaugende Insekten besser in den höheren Temperaturen und setzen den ohnehin durch Hitzestress geschwächten Rentieren stärker zu. Die Tradition der rentierzüchtenden Nomaden in der Mongolei ist durch die Erhöhung der Temperatur gefährdet. Das größte Problem für die Zukunft der Rentiere bereitet der Klimawandel jedoch durch immer häufigere Regenfälle im Winter: Wenn das Wasser auf der Schneedecke gefriert, kommen die Rentiere nicht mehr an ihr Futter und müssen hungern. Dies hat in einigen Fällen bereits zum Verhungern hunderter Tiere geführt.Domestizierte Rentiere sind im Gegensatz zu wilden Renern nicht scheu; im nördlichen Finnland oder Schweden laufen oder stehen sie häufig auf den Landstraßen und verlassen sie auch nicht, wenn ein Auto kommt. Man kann daher auf etwa ein bis zwei Meter an sie heranfahren, ohne dass die Tiere fliehen. Zu Fuß ist ein Abstand von weniger als fünf bis zehn Metern allerdings nur bei Tieren möglich, die Menschen gewohnt sind.
Die Haltung in Tierparks außerhalb ihres Lebensraumes ist nicht ganz einfach, da neben Luzerne- und Grasheu immer auch Moose oder Flechten verfüttert werden müssen, deren Beschaffung aufwändig ist.
=== Rezeptionen ===
Dem populären Mythos vom Weihnachtsmann zufolge reist dieser mit einem vom Rentieren gezogenen Schlitten, um Geschenke zu verteilen. Einige der Tiere sind benannt, wobei uneinheitliche Namen verwendet werden. Als Kinderbuch erschien 1939 in den USA Rudolph, the Red-Nosed Reindeer, das auch vertont und verfilmt wurde. Aufbauend auf dem Buch erschienen mit dem gleichnamigen Lied, aufgenommen 1949 von Gene Autry, sowie dem Song Run Rudolph Run, aufgenommen 1959 von Chuck Berry, zwei bekannte Weihnachtslieder-Klassiker des amerikanischen Komponisten Johnny Marks.
Die finnische Kinder- und Jugendautorin Annikka Setälä (1900–1970) veröffentlichte 1956 den Jugendroman Karhunkierros, deutsch Irja tauscht Rentiere, der, 1957 übersetzt, 1958 auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises kam. Die Schriftstellerin Ann-Helén Laestadius, die aus einer mehrkulturellen samisch-tornedalfinnischen Familie aus Jukkasjärvi in Nordschweden, stammt, veröffentlichte 2021 den die Tierhaltung thematisierenden Roman Stöld, deutsch Das Leuchten der Rentiere, eigentlich „Diebstahl“.1775 benannte der Astronom Jérôme Lalande das Sternbild Rentier (Rangifer) in der Nähe des Polarsterns, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Mehrere Schiffe der Royal Navy und der United States Navy hießen Reindeer. Das Ren ist Motiv zahlreichen Wappen und Briefmarken, Sammlermünzen und Gemälde.
== Literatur ==
=== Monografien und Aufsätze ===
Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9 (englisch).
Ingrid Hemmer: Entwicklung und Struktur der Rentierwirtschaft in Finnmark und Troms (Nordnorwegen). Bamberg 1985. ISSN 0179-1672 (aktualisierte und leicht gekürzte Fassung der phil. Diss., Bamberg 1984)
Tom Walker: Caribou. Wanderer of the tundra. Graphic Arts Center Publishing Company, Portland 2000. ISBN 1-55868-524-3
John Sandlos: Caribou. In ders.: Hunters at the Margin. Native People and Wildlife Conservation in the Northwest Territories. UBC Press 2007, S. 139–230.
Jürg Endres: Rentierhalter. Jäger. Wilderer? Praxis, Wandel und Verwundbarkeit bei den Dukha und den Tozhu im mongolisch-russischen Grenzraum. Franz Steiner, Stuttgart 2015 ISBN 978-3-515-11140-9
Michael H. Weiler: Karibujagd und Pelzhandel: kultureller Wandel bei den Naskapi in Nord-Québec/Labrador. Mundus, Bonn 1986. Zugleich: Universität Bonn, Magisterarbeit 1982
Michael H. Weiler: Modernisierung der Karibujagd bei den Naskapi in Nordquébec, Kanada. Notorf 1986
=== Zeitschriften ===
Alle Rangifer-Volltexte sind online veröffentlicht:
Rangifer. Scientific journal of reindeer and reindeer husbandry. Harstad, 1.1981–27.2007 (ISSN 0333-256X), online unter gleichem Namen fortgesetzt (ISSN 1890-6729)
Rangifer Special Issues (ISSN 0801-6399); 19 Ausgaben 1986–2011
Rangifer Report (ISSN 0808-2359); 14 Ausgaben 1995–2010
== Weblinks ==
Rangifer tarandus (Linnaeus, 1758) Ren, Rentier, Karibu - Reindeer, Caribou (Memento vom 3. Dezember 2008 im Internet Archive)
Website des finnischen Rentierzüchtergenossenschafts-Verbands
Rangifer tarandus in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2006. Eingestellt von: Deer Specialist Group, 1996. Abgerufen am 18. Juni 2006.
Fotos der jährlichen Rentier-Wanderung in Skandinavien
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Ren |
Augsburg | = Augsburg =
Augsburg (im Dialekt Augschburg, lateinisch Augusta Vindelicum und Augusta Vindelicorum) ist eine kreisfreie Großstadt im Südwesten Bayerns und eine der drei bayerischen Metropolen. Sie ist Universitätsstadt und Sitz der Regierung des Bezirks Schwaben sowie des Landratsamtes des die Stadt im Westen umgebenden Landkreises Augsburg.
Die Stadt wurde 1909 zur Großstadt und ist mit rund 300.000 Einwohnern nach München und Nürnberg die drittgrößte Stadt Bayerns. Der Ballungsraum Augsburg steht bezüglich Bevölkerung und Wirtschaftskraft in Bayern ebenfalls an dritter Stelle und ist Teil der Planungsregion Augsburg, in der etwa 885.000 Menschen leben. Augsburg hatte im Jahr 2017 die zweitgeringste Rate aller Straftaten unter den deutschen Großstädten über 200.000 Einwohnern.Der Name der Stadt, die zu den ältesten in Deutschland gehört, geht auf das 15 v. Chr. gegründete römische Heerlager und die spätere römische Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum zurück. Im 13. Jahrhundert löste sich die Stadt von der Bischofsherrschaft, wurde spätestens 1316 zur Reichsstadt und häufiger Schauplatz von Reichstagen mit engen Verbindungen zu den Herrschern des Heiligen Römischen Reiches, die unter anderem von den Kaufmannsfamilien Welser und Fugger finanziert wurden („Fuggerstadt“). Nach der Reformation wurde Augsburg, in dem 1555 der Augsburger Religionsfriede geschlossen wurde, bikonfessionell.
Augsburg hat einen eigenen, auf das Stadtgebiet beschränkten gesetzlichen Feiertag, das Augsburger Hohe Friedensfest am 8. August. Damit ist Augsburg die Stadt mit der größten Anzahl gesetzlicher Feiertage in Deutschland.
== Geographie ==
Die Stadt liegt an den Flüssen Lech, Wertach und Singold. Der älteste Teil der Stadt sowie die südlichen Viertel liegen auf dem nördlichen Ausläufer einer Hochterrasse, die zwischen dem steilen Hügelrand von Friedberg im Osten und den hohen Riedeln des westlichen Hügelrandes entstanden ist.
Im Süden erstreckt sich das Lechfeld, eine nacheiszeitliche Schotterebene zwischen den beiden großen Flüssen Lech und Wertach, in der sich seltene Urlandschaften erhalten konnten. Der Augsburger Stadtwald und die Lechtalheiden zählen zu den artenreichsten mitteleuropäischen Lebensräumen.
An Augsburg grenzt der Naturpark Augsburg – Westliche Wälder, ein großes Waldgebiet. Daneben ist aber auch das Stadtgebiet selbst stark begrünt, weshalb die Stadt im europaweiten Wettbewerb Entente Florale Europe 1997 als erste deutsche Stadt als grünste und lebenswerteste Stadt ausgezeichnet wurde. Die Stadt ist der größte kommunale Waldbesitzer in Bayern und der drittgrößte in Deutschland.
=== Nachbargemeinden ===
Die Stadt wird im Osten vom Landkreis Aichach-Friedberg und im Westen vom Landkreis Augsburg umgeben. Durch das in Nord-Süd-Richtung langgestreckte Stadtgebiet grenzen viele Städte und Gemeinden an Augsburger Flur.
Den Ballungsraum bilden im Osten beginnend und dem Uhrzeigersinn folgend Friedberg (Landkreis Aichach-Friedberg), Königsbrunn, Stadtbergen, Neusäß und Gersthofen (alle Landkreis Augsburg), die alle mit ihrem Siedlungskern direkt an die bebaute Fläche Augsburgs angrenzen.
Daneben grenzen die Gemeinden Rehling, Affing, Kissing, Mering und Merching (alle Landkreis Aichach-Friedberg) sowie Bobingen, Gessertshausen und Diedorf (alle Landkreis Augsburg) an die Stadt (von Norden im Uhrzeigersinn).
=== Stadtgliederung ===
Das Stadtgebiet besteht aus 42 Stadtbezirken, die 17 Planungsräume bilden. Diese Art der Stadtgliederung besteht seit 1938. Die Gesamtfläche beträgt 147 Quadratkilometer (Platz 39 der deutschen Großstädte).
Die Stadtteile sind teilweise ehemals selbstständige Gemeinden, teilweise neu gegründete Wohngebiete. Einige Stadtteile haben räumlich getrennte Siedlungen (Wohnplätze) mit eigenem Namen. Nicht in der Verwaltungsgliederung genannte Stadtviertel sind die Augsburger Altstadt als Teil der Innenstadt und das Augsburger Textilviertel, das teilweise in Spickel-Herrenbach, teilweise in der Innenstadt liegt.
Die ehemaligen Kasernen- und Wohngebiete der US-Armee haben nach dem Truppenabzug 1998 ihre Namen behalten, darunter Centerville, Cramerton, Reese, Sheridan, Sullivan Heights und Supply-Center. Viele dieser Kasernen sind heute Wohngebiete.
=== Gewässer ===
Die Stadt liegt an drei Flüssen: Der Lech ist das größte fließende Gewässer und wird durch den Zufluss der Wertach, die nördlich des Landschaftsschutzgebietes Wolfzahnau einmündet, verbreitert. Der dritte Augsburger Fluss, die Singold, entspringt im Ostallgäu und mündet in der Stadt in das weit verzweigte künstliche Bach- und Kanalsystem. Die zahlreichen Kanäle in Augsburg – die meisten fließen durch das Lechviertel in der Altstadt – werden von 500 Brückenbauwerken überspannt. Sie sind Teil der am 6. Juli 2019 ins UNESCO-Welterbe aufgenommenen Stätte „Das Augsburger Wassermanagement-System“.
Der Fabrikkanal, in den die Singold mündet, wird in Göggingen von der Wertach abgeleitet, fließt als Wertachkanal, Holz- bzw. Senkelbach nach Norden und gelangt nach der Ballonfabrik Augsburg zurück in die Wertach.
Am Hochablass werden der Hauptstadtbach und der Neubach vom Lech abgeleitet, die sich nach wenigen hundert Metern wieder vereinigen, um kurz flussabwärts in den nach Norden fließenden Herrenbach (flussabwärts Proviantbach mit seinen Ab- und Zuleitungen Hanreibach und Fichtelbach) und den nach Westen geleiteten Kaufbach zu gabeln. Der Kaufbach speist den Schäfflerbach und die Stadtgräben und Innenstadtkanäle, die sich nach Norden fließend auf dem Gelände der UPM-Kymmene wieder vereinen und als Stadtbach im westlichen Bereich der Wolfzahnau wieder mit dem Proviantbach zusammenfließen, um wenige Meter vor der Wertachmündung in den Lech zu gelangen. Der Mühlbach fließt durch den Stadtteil Pfersee.
Der Brunnenbach, der Reichskanal und der Lochbach (ein Lechkanal) durchströmen den Stadtwald. Dabei verzweigen sie sich in weitere kleine Bäche, um sich kurz vor der Innenstadt wieder zu vereinen.
In dem Auwald, den der Lech durchfließt, befinden sich der Kuhsee und der kleinere Stempflesee. Im Norden Augsburgs befinden sich der Autobahnsee, der Kaisersee und der Europaweiher am Augsburger Müllberg. Im Süden Augsburgs befinden sich der Wertach-Stausee, der Lautersee und der Ilsesee (Naherholungsgebiet).
Die Naturschutzgebiete im Süden Augsburgs dienen der Augsburger Trinkwasserversorgung. Der Stadtwald und der Lechauwald bei Unterbergen sind daher als Trinkwasserschutzgebiet ausgewiesen. Das von dort bezogene Wasser mit Härtegrad 13,5 °dH (mittelhart) versorgt die Städte Augsburg, Neusäß, Friedberg und Stadtbergen.
=== Natur und Umwelt ===
Die Stadt gehört nach den großflächigen Eingemeindungen der 1970er Jahre mit ungefähr einem Drittel Grün- und Waldfläche zu den grünsten Großstädten in Deutschland.
Der Augsburger Stadtwald – mit etwa 21,5 Quadratkilometern der größte bayerische Auwald – bildet eine geschlossene Waldfläche im Südosten und besitzt einen hohen regionalen Stellenwert für den Naturschutz sowie als Naherholungs- und Freizeitgebiet. Auf dem Stadtgebiet befinden sich sieben Landschaftsschutz-, vier FFH- und zwei Naturschutzgebiete (Stand Mai 2016).
Der Südwesten der Stadt wird von Teilen des Naturparks Augsburg-Westliche Wälder bedeckt. Dieser 1.175 Quadratkilometer große Naturpark ist der einzige in Bayerisch-Schwaben. Begrenzt wird er im Norden von der Donau, im Osten von den Abhängen zur Wertach und Schmutter und im Westen von der Mindel. Im Süden reicht er bis an den Rand des Unterallgäus.
Die Stadt gilt bundesweit als Modellstadt für umweltfreundliche Beleuchtung. Durch Maßnahmen gegen die Lichtverschmutzung im Bereich der öffentlichen Beleuchtung konnte der Stromverbrauch und somit der Kohlenstoffdioxid-Ausstoß um 20 Prozent gesenkt werden, was zu einer jährlichen Ersparnis von 250.000 Euro führte.Bei einer Studie der Geers-Stiftung von 2011 wies Augsburg nach Münster den zweitniedrigsten Lärmpegel aller deutschen Städte über 250.000 Einwohnern auf – lediglich 17,0 Prozent der Stadtfläche waren im Tagesmittel einer Belastung von mehr als 55 Dezibel ausgesetzt.Augsburg wurde im November 2013 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis als „nachhaltigste Großstadt 2013“ ausgezeichnet.
=== Klima ===
Die Stadt liegt im Übergang zwischen dem feuchten atlantischen und dem trockenen Kontinentalklima auf der Ebene des Lechfeldes in leichter Tallage. Weitere wetterbestimmende Faktoren sind die Alpen als mitteleuropäische und die Donau als regionale Wetterscheide. Daher ist das Wetter relativ wechselhaft. Im Zeitraum 1950–2010 wurde für Augsburg ein Anstieg der Temperatur, eine Abnahme der Niederschläge sowie die Zunahme des Auftretens von Extremwerten gemessen. Dies hat sich in der letzten Dekade nochmals verstärkt.Die Witterungsperioden variieren zwischen gemäßigten, nicht zu kalten Wintern und warmen, nicht übermäßig heißen Sommern. Große Schneemengen, welche die Vegetation über die Frostperioden hinweg schützen, fallen meist erst ab Januar und halten sich bis Mitte März. Größere Niederschlagsmengen sind im Frühsommer zu verzeichnen, größtenteils bei Westwindlage. Längere Trockenperioden treten im Hochsommer und Frühherbst auf.
Der Föhn bringt das ganze Jahr hindurch aus südlicher Richtung warme und trockene Luftströmungen aus dem Alpenvorland nach Augsburg. Damit verbunden ist eine gute Fernsicht, so dass die Bayerischen und Allgäuer Alpen oftmals deutlich zu sehen sind.
Die Temperatur beträgt im Jahresmittel etwa 8,4 Grad Celsius, die jährliche Niederschlagsmenge etwa 850 Millimeter. Im Zuge des Hitzesommers 2003 wurde am 13. August eine Temperatur von 36,0 Grad gemessen, der Höchstwert seit Beginn der Temperaturbeobachtungen beträgt 37,1 Grad vom 27. Juli 1983. Die niedrigste registrierte Temperatur betrug −28,2 Grad, gemessen am 12. Februar 1929.
Augsburg ist durch seine Lage im gewitterintensivsten Bundesland Bayern des Öfteren von heftigen Unwettern betroffen, die zu enormen Lech- und Wertachhochwassern führen können. Die stärksten Auswirkungen hatte dies 1999, als ein Stauwehr an der Wertach brach und ganze Stadtteile unter Wasser standen.
An Herbsttagen ist es in Augsburg wegen der Lage im Lech- und Wertachtal häufig neblig. Nach München ist Augsburg die schneereichste Großstadt Deutschlands.
== Bevölkerung ==
=== Einwohnerentwicklung ===
Zur Zeit des Römischen Reiches lebten über 10.000 Menschen in Augsburg. Die Einwohnerzahl wuchs in den folgenden Jahrhunderten kaum an. Um 1500 war Augsburg mit einer Bevölkerung von etwa 30.000 Menschen nach Köln und mit Prag eine der größten Städte des Heiligen Römischen Reiches.
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert setzte in Augsburg ein starkes Bevölkerungswachstum ein. Lebten 1806 etwa 26.000 Menschen in der Stadt, so waren es 1895 über 80.000 und 180.000 Einwohner im Jahr 1939. Im Zweiten Weltkrieg verlor die Stadt etwa 20 Prozent ihrer Bevölkerung (38.958 Personen), so dass 1945 146.000 Menschen in Augsburg lebten. Ihren Vorkriegsstand erreichte die Einwohnerzahl fünf Jahre später, unter anderem durch die große Zahl an deutschen Flüchtlingen aus Mittel- und Osteuropa.
Die wohnberechtigte Bevölkerung stieg von 267.121 Personen am 1. Januar 2010 auf 290.743 am 30. Juni 2016 (+8,8 %) und erreichte 295.895 am 31. Dezember 2017. Seit Mai 2011 lag die Zahl immer über den Wert des Vormonats. Die Marke von 290.000 Einwohnern wurde im April 2016 überschritten. In den 2010er Jahren lag Augsburg auf Platz 23 der größten deutschen Städte. Eine 2012 veröffentlichte Prognose sieht für Augsburg bis 2025 eine Zunahme der Einwohnerzahl um 3,9 Prozent und damit das drittstärkste Bevölkerungswachstum aller deutschen Großstädte.Zwischen 1988 und 2018 wuchs die kreisfreie Stadt von 247.731 auf 295.135 um 47.404 Einwohner bzw. um 19,1 %.
=== Demographie ===
Augsburg hatte am 1. Januar 2008 267.836 Einwohner mit Haupt- und Nebenwohnsitz und 264.265 ohne die Zweitwohnsitze. Im November 2008 waren 9181 von 138.300 erwerbsfähigen Bürgern der Stadt ohne Arbeitsplatz, das entspricht einer Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent. Im Februar 2010 lag die Arbeitslosenquote in Augsburg bei 6,2 Prozent, im Kreis Augsburg bei 4,0 Prozent. Für die gesamte Region lag die Quote bei 5,4 Prozent. Im Ballungsraum Augsburg, der die direkt angrenzenden Vorstädte einschließt, wohnen knapp 500.000 Menschen.
Der Ausländeranteil war Ende 2017 mit 21,8 Prozent (64.627 Einwohner) im Vergleich der deutschen Großstädte eher hoch. Die meisten Bürger nichtdeutscher Herkunft wohnen in den Planungsräumen Oberhausen, Spickel-Herrenbach, Hochfeld und Lechhausen sowie der Jakobervorstadt und kommen vor allem aus der Türkei, aus Italien und aus dem ehemaligen Jugoslawien. Einen beachtlichen Anteil machen die Suryoye aus (auch bezeichnet als Aramäer, Assyrer oder Chaldäer). Die ersten Suryoye kamen aus der Südosttürkei (Tur-Abdin) als Gastarbeiter Mitte der 60er Jahre nach Augsburg. Als sich die Situation für diese semitisch christliche Minderheit in ihrem Ursprungsgebiet im alten Mesopotamien verschlechterte, kamen auch viele als Flüchtlinge nach Augsburg. Sie stammen aus der Türkei, Syrien, dem Iran, dem Irak und dem Libanon. Die meisten Suryoye, welche nach Augsburg gekommen sind, gehören der Syrisch-Orthodoxen Kirche an. In letzter Zeit kommen jedoch auch Suryoye, die der Chaldäisch-katholischen Kirche sowie der Assyrischen Kirche des Ostens angehören, als Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien nach Augsburg. Die Suryoye sprechen bis heute eine aramäische Sprache, und zwar das Neu-Ostaramäische. Diese Sprache wird in zwei Dialekten gesprochen, dem Surayt-Dialekt (auch bekannt als Turoyo) und dem Suret-Dialekt.
In Augsburg leben außerdem etwa 50.000 Spätaussiedler. Sie sind deutsche Staatsbürger, die mehrheitlich in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden. Insgesamt haben etwa 45 Prozent der Stadtbevölkerung einen Migrationshintergrund (einschließlich Ausländern, Stand 2018).Die Altersstruktur liegt im bundesdeutschen Durchschnitt, wobei 16,0 Prozent (43.213 Personen) der Einwohner mit Haupt- und Nebenwohnsitz unter 18 Jahre alt sind. 52,2 Prozent (140.592 Personen) aller Einwohner sind weiblichen, 47,8 Prozent (128.857 Personen) männlichen Geschlechts.Aufgrund der positiven Wanderungsbilanz wächst Augsburgs Bevölkerung. Die höchsten Anstiege gab es jeweils im Herbst durch den Zuzug von 18- bis unter 25-Jährigen. Zusammen mit dem Zuwachs der Altersgruppe der 25- bis unter 40-Jährigen stieg auch der Anteil der Kinder unter 10 Jahren seit dem Jahr 2011 an, wobei seit 2012 auch bei der Zahl der Geburten ein stetiger Anstieg zu verzeichnen ist. Das Bevölkerungswachstum ist auf einen steigenden Außenwanderungsüberschuss zurückzuführen. Die Zahl der zugezogenen Personen hat sich seit dem Jahr 2010 von 17.482 kontinuierlich auf 25.618 Personen (+45,5 %) im Jahr 2015 erhöht. Da die Zahl der Außenwegzüge in diesem Zeitraum weniger stark zunahm (um 25,0 % von 16.136 auf 20.169), stieg der jährliche Wanderungszuwachs seit dem Jahr 2010 von 1.346 auf 5.449 im Jahr 2015 an. Von 2.059 auf 5.665 mehr als verdoppelt hat sich die Zahl der Zuzüge aus EU-Ländern.Die jungen Zuwanderer bevorzugen innenstadtnahe Stadtbezirke, wo auch der höchste Anteil an Single-Haushalten zu finden ist. Vor allem aufgrund der Zunahme von Single-Haushalten sinkt die durchschnittliche Haushaltsgröße. Die Stadt Augsburg verliert am stärksten durch die Wegzüge der 30- bis unter 50-Jährigen, die (mit ihren Kindern) überwiegend ins Augsburger Umland abwandern. Die Zahl der Sterbefälle liegt in der Stadt Augsburg bereits seit 1968 über der Zahl der Geburten. Trotz des Geburtenrückgangs und der negativen Wanderungsbilanz bei den jungen Familien stieg die Zahl der Alleinerziehenden an.
Die Augsburger Bevölkerung altert durch die steigende Lebenserwartung und die Alterung der anteilsmäßig besonders großen Altersgruppen. Im Vergleich mit anderen Städten weist Augsburg aber einen geringen Anteil an den ab 65-Jährigen sowie einen geringen Altenquotienten auf. Aufgrund der überdurchschnittlich hohen Zuwanderung der 18- bis unter 30-Jährigen hat Augsburg den im Städtevergleich höchsten Anteil in dieser Altersgruppe. Augsburg weist nur eine relativ geringe Fruchtbarkeitsziffer auf, weshalb auch der Jugendquotient vergleichsweise niedrig ausfällt.
=== Religionen ===
Neben den christlichen, jüdischen und islamischen Gemeinden, die zusammen den Großteil des religiösen Lebens in Augsburg ausmachen, gibt es viele kleine Glaubensgemeinschaften. Daneben besteht mit dem Bund für Geistesfreiheit Augsburg seit 1911 eine Weltanschauungsgemeinschaft.
==== Konfessionsstatistik ====
Seit 1999 stehen jährliche Daten über die Religionszugehörigkeit aus dem städtischen Melderegister zur Verfügung. Bis 2003 war eine absolute Mehrheit der Augsburger Mitglied der katholischen Kirche: Zu diesem Zeitpunkt lebten in der Stadt 50,2 % Katholiken, 17,4 % Protestanten und 32,4 % Menschen mit anderer bzw. keiner Konfession oder Religion.Gemäß dem Zensus 2011 waren 46,0 % katholisch, 16,8 % der Einwohner evangelisch und 37,3 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Bei diesem Zensus wurden auch Zahlen zu anderen religiösen Gemeinschaften erhoben. Damals waren 4,1 % der Bevölkerung christlich-orthodox, 0,5 % jüdischen Glaubens, 0,5 % Mitglieder einer evangelischen Freikirche und weitere 6,1 % gehörten sonstigen in Bayern anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften an (darunter unter anderem die Alt-Katholische Kirche und die Zeugen Jehovas).
Der Anteil der muslimischen Bevölkerung in Augsburg lag gemäß Berechnungen basierend auf den Zahlen des Zensus von 2011 bei 8,8 %.Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem weiter gesunken. Mit Stand 31. Dezember 2021 hatte Augsburg 299.638 Einwohnern, davon 35,9 % Katholiken, 13,1 % Protestanten und 51,0 % Einwohner gehörten sonstigen oder keinen Glaubensgemeinschaften an. Im Jahr 2021 traten 2836 Einwohner (1 % der Gesamtbevölkerung) aus den Kirchen aus. Die Zahl der Kirchenaustritte in Augsburg im Jahr 2022 hat ein Rekordhoch erreicht.
==== Christentum ====
Erste Daten zur Glaubensrichtung der städtischen Bewohner wurden 1833 im Rahmen einer Volkszählung gewonnen. Dabei lebten 61 % Katholiken, 38 % Protestanten und 0,4 % Andersgläubige bzw. Atheisten in der Stadt. Dieses Verhältnis veränderte sich insbesondere durch Eingliederung von katholischen Vororten zugunsten der Katholiken, so dass der Anteil der protestantischen Bevölkerung um 1950 nur noch bei etwa 23 Prozent lag. Bei der Volkszählung 1987 waren 66,5 Prozent katholisch und 18,7 Prozent evangelisch.
Augsburg ist Bischofssitz der katholischen Diözese und Sitz des evangelischen Kirchenkreises Augsburg.
Die Stadt war wohl schon seit dem 4./5. Jahrhundert Sitz eines Bischofs. Um 738 wurde das Bistum Augsburg erneuert. Ab 1518 fand die Lehre Martin Luthers Anhänger in Augsburg. Die Lehre verbreitete sich immer mehr und führte schließlich zur offiziellen Einführung der Reformation durch den Rat der Stadt im Jahre 1534/1537. Es folgte anschließend die Teilnahme der Stadt am Schmalkaldischen Krieg, und 1548 wurde in Augsburg ein Reichstag abgehalten, der die Ausübung der Religion für eine Übergangszeit regelte (Augsburger Interim). Sieben Jahre später (1555) konnte im Augsburger Religionsfrieden die Gleichstellung beider Konfessionen endgültig erreicht werden. Im Andenken daran und an die Besuche Luthers in Augsburg ist die Stadt heute eine der deutschen Lutherstädte. Auch die reformatorischen Täufer konnten 1524 eine relativ starke Gemeinde in der Stadt etablieren. 1527 fand in Augsburg die überregionale sogenannte Augsburger Märtyrersynode statt.
Die katholische Bevölkerung gehörte danach weiterhin zum Bistum Augsburg, das seinerzeit dem Erzbistum Mainz zugeordnet war. Nach dem Übergang der Stadt an Bayern verblieb es zunächst bei der bisherigen Zuordnung. 1821 wurde das Bistum Augsburg und mit ihm seine Pfarrgemeinden dem neu errichteten Erzbistum München und Freising zugeteilt (siehe hierzu auch Liste der Bischöfe von Augsburg).
Die protestantischen Gemeindemitglieder erhielten spätestens nach dem Westfälischen Frieden die Kirchen St. Anna, St. Ulrich, Zu den Barfüßern und St. Jakob. Sie unterstanden dem Rat der Stadt. Nach dem Übergang Augsburgs an Bayern wurden die Gemeinden Teil der Protestantischen Kirche des Königreichs Bayern, die zunächst lutherische und reformierte Glaubensgemeinschaften umfasste.
Die Stadt wurde danach Sitz eines eigenen Dekanats, das 1827 zunächst dem Konsistorialbezirk Bayreuth, ab 1876 dann dem Konsistorialbezirk Ansbach und danach ab 1923 dem Kirchenkreis München angehörte. Seit 1971 ist es Teil des Kirchenkreises Augsburg. Das Dekanat Augsburg umfasst neben den Kirchengemeinden der Stadt auch Gemeinden außerhalb des Stadtgebiets, vor allem in den Landkreisen Augsburg und Aichach-Friedberg.
Der Westfälische Friede von 1648 bestätigte in Augsburg das durch die Stadtverfassung von 1548 eingeführte paritätische Regierungs- und Verwaltungssystem (endgültige Gleichberechtigung und exakte Ämterverteilung zwischen Katholiken und Protestanten). Diese Vereinbarung sollte bis zur Mediatisierung im Jahre 1805 Bestand haben und wird heute noch am Augsburger Hohen Friedensfest gefeiert.
Freikirchliche Gemeinden haben sich nach dem Ende der Täuferbewegung wieder im 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert in Augsburg konstituiert. Den Anfang machten die Mennoniten, die ab 1870 gottesdienstliche Versammlungen in Augsburg abhielten. 1863 erhielt die Evangelisch-methodistische Kirche die Rechte einer „Privatkirchengesellschaft“. Um 1925 nahmen – ausgehend von der Muttergemeinde in München – die Baptisten (im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden) ihre Arbeit auf. Seit 1968 gibt es in Augsburg zudem eine Freie evangelische Gemeinde mit inzwischen vier Gemeinden.
Auch die orthodoxen Kirchen Süd- und Osteuropas sowie des Nahen Ostens haben Gemeinden in Augsburg. Die Suryoye (auch bekannt als Assyrer oder Aramäer) haben 1998 ein eigenes Gotteshaus in Lechhausen eingeweiht, die Marienkirche an der Zusamstraße ist einer der ersten Syrisch-Orthodoxen Bauten in Deutschland. Die etwa 6000 syrisch-orthodoxen Christen (eigensprachlich als Suryoye bezeichnet) in Augsburg stammen vorwiegend aus dem Südosten der Türkei (Tur Abdin) und Syrien, sprechen die Sprache Jesu (Syrisch-Aramäisch) und haben ihre Wurzeln in Mesopotamien. Zunächst kamen diese Christen als Gastarbeiter nach Europa, dann ab 1980 meist als Asylbewerber, da sie in der Türkei diskriminiert und verfolgt wurden. Die griechisch-orthodoxe Kirchengemeinde mit über 6000 Gemeindemitgliedern konnte nach dem Abzug der amerikanischen Truppen die Gospel Church in der ehemaligen Flak-Kaserne kaufen und benannte diese nach dem Schutzpatron Agios Panteleimon um.
Die russisch-orthodoxe Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone „Freude aller Trauernden“, die der Russischen Orthodoxen Diözese des orthodoxen Bischofs von Berlin und Deutschland angehört, befindet sich im Stadtteil Pfersee. Die Gemeinde in Augsburg existiert seit den 1930er Jahren und zählt heutzutage um die 120 Mitglieder (2011).
Daneben gibt es eine große Zahl weiterer christlicher Religionsgemeinschaften, zum Beispiel, hierbei ebenfalls in Pfersee, die Apostelin-Junia-Kirche der Alt-Katholischen Gemeinde, ferner der Neuapostolischen Kirche, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage oder der Zeugen Jehovas.
==== Islam ====
Die Muslime bilden in Augsburg die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft. In der Stadt befindet sich eine Vielzahl von Gebets- und Vereinsräumen, die von unterschiedlichen Gemeinschaften mit eigenen Zielsetzungen und Schwerpunkten geführt werden.
Den Hauptanteil der islamischen Bürger machen Einwanderer aus der Türkei in erster bis dritter Generation aus (siehe Demographie). Daneben bestehen aber auch Vereine und dazugehörige Gebetsstätten der arabischen, bosnischen und irakischen Muslime sowie zwei alevitische Kulturzentren.
==== Judentum ====
Es ist anzunehmen, dass nach dem Jüdischen Krieg im ersten Jahrhundert und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer die ersten Juden nach Augsburg kamen. Aus dem 9. Jahrhundert gibt es urkundliche Erwähnungen. Die Juden hatten bereits 1241 eine eigene Straße bei der St.-Leonhards-Kapelle und bis 1433 ein eigenes Gericht. Am 22. November 1348 unternahmen zwei Mitglieder der einflussreichen Familie Portner einen Umsturzversuch, um die Macht in der Stadt zu erlangen. Da dieser Aufstand zeitlich mit einem Pogrom gegen die Juden zusammenfiel und die Portners sich zum Erwerb ihrer Besitzungen bei Augsburger Juden verschuldet hatten, ist vermutet worden, dass sie den Pogrom selbst mitgeschürt haben könnten, um das Chaos in der Stadt auszunutzen sowie ihre Gläubiger loszuwerden. Auch wenn der Umsturz scheiterte und die Rädelsführer auf ewig der Stadt verwiesen wurden, konnte oder wollte der amtierende Rat den Mord an den Juden nicht verhindern. Die Augsburger Judengemeinde war somit die erste große Gemeinde im römisch-deutschen Reich, die den Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes zum Opfer fiel. Auf Beschluss des Stadtrats vom 7. Juli 1438, dass man die Juden „nit länger hie in der Statt laußen sölle dann von hüt dem tag über zway Jare“, wurden sie aus der Stadt vertrieben und siedelten sich vor den Toren der Stadt im Dorf Kriegshaber an. Unter dem Schutz der Markgrafschaft Burgau bildete die Synagoge Kriegshaber über fast dreihundert Jahre lang das Zentrum der jüdischen Gemeinde. Auch ein großer jüdischer Friedhof ist in Kriegshaber aus dieser Zeit erhalten.
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Augsburg begann wieder 1803, als die Stadt erstmals drei Juden (die Bankiers Aron Elias Seligmann, später Freiherr von Eichthal, Jakob Obermayer und Henle Ephraim Ullmann) gegen eine jährliche Gebühr und eine erhebliche Darlehenssumme das Bürgerrecht verlieh, obwohl die städtischen Kaufleute dagegen erheblichen Widerstand geleistet hatten.
Die Zahl der jüdischen Familien stieg anschließend nur schwach (im Jahr 1840 79 Personen und 1852 128 Personen), da ihre Niederlassung weiterhin streng gehandhabt wurde. Eine entscheidende Wendung brachte die Niederlage der konservativen Katholiken bei den Gemeinderatswahlen von 1857, in deren Folge 1861 die erste Israelitische Kultusgemeinde in Augsburg gegründet werden konnte. Bis dahin wurde der Religionsunterricht vom Lehrer des damals noch eigenständigen Vorortes Pfersee erteilt, während das zuständige Rabbinat Kriegshaber war.
Schon drei Jahre vor Genehmigung der Gemeinde durch die Regierung wurde 1858 das Haus Wintergasse A 13 für 13.000 Gulden gekauft und zunächst zu einer reinen Synagoge ausgebaut und später durch Rabbiner- und Lehrerwohnungen erweitert; deren Einweihung erfolgte im April 1865.
Durch diese Entwicklung nahm die jüdische Bevölkerung in der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rapide zu, so dass 1895 1.156 Juden in Augsburg lebten. Inzwischen waren schon ein jüdischer Friedhof (1867) sowie ein reges Vereinsleben (ein Männer-, ein Frauen- und ein Speiseverein jeweils mit wohltätigen Zwecken) entstanden. Die jüdischen Industriellen, Bankiers, Handels- und Kaufleute nahmen im wirtschaftlichen Leben der Stadt eine bedeutende Rolle ein und gehörten nahezu vollständig der gehobenen Mittel- beziehungsweise Oberschicht an.
Schon zu dieser Zeit forderten immer mehr Gemeindemitglieder den Bau einer neuen Synagoge, der zudem durch das Drängen der Stadt nötig wurde: Das alte Gebäude befand sich in einem maroden Zustand. So wurde 1903 ein Gartengut an der Halderstraße erworben, für das 1912 ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben wurde. In den Jahren 1914 bis 1917 wurden schließlich die Pläne von Fritz Landauer und Heinrich Lömpel verwirklicht.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 litten auch die Augsburger Juden mehr und mehr unter Repressalien: Innerhalb von fünf Jahren wurden nahezu alle jüdischen Firmen geschlossen oder arisiert.
Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Unterdrückung der Juden während der Novemberpogrome 1938 am frühen Morgen des 10. November 1938: Etwa 30 NSDAP-Mitglieder zerstörten die Inneneinrichtung der Synagoge und legten Feuer, das allerdings wegen der umliegenden Wohn- und Kommunalbauten sowie einer Tankstelle wieder gelöscht wurde, so dass das Gebäude an sich erhalten blieb und während des Zweiten Weltkrieges als Kulissenlager des Stadttheaters zweckentfremdet wurde. Auf der Kuppel der Synagoge wurde ein Beobachtungsstand der Flugabwehrartillerie eingerichtet.
Obwohl seit 1933 viele Juden ausgewandert waren, war deren Zahl in der Stadt durch Zuzug jüdischer Bürger aus ländlichen Gemeinden nicht stark gesunken. 356 bis 450 Gemeindemitglieder wurden in sieben Transporten nach Auschwitz, Piaski, Riga und Theresienstadt deportiert. Nur wenige Augsburger Juden überlebten die Shoa.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten nur wenige ehemalige Augsburger Juden zurück in die Stadt, unter ihnen Ludwig Dreifuß, der von der amerikanischen Militärregierung zum ersten Nachkriegsbürgermeister ernannt wurde. 1946 wurde die Israelitische Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben gegründet, die über eine sehr lange Zeit nicht viel Zuwachs erfuhr. Von süddeutschen Problemen sprach Hans Erich Fabian, erster Vorsitzender der Berliner Gemeinde, bezüglich der Konflikte, die sich zwischen wenigen zurückgekehrten deutschen Juden und der überwiegenden Mehrheit der osteuropäischen Juden vor allem im Süden Deutschlands ergaben. Es wurde befürchtet, dass sich die deutsch-jüdischen Traditionen nicht behaupten könnten. Besonders vehement wurden die Auseinandersetzungen in Augsburg geführt, wo sich 32 deutsche Juden weigerten, den 60 Juden ohne deutsche Staatsangehörigkeit die Gemeindemitgliedschaft zu gewähren. Der Zentralrat nahm hierzu eindeutig Stellung, die Gemeindemitgliedschaft sei unabhängig von Staatsangehörigkeit und Geburtsort. Erst nach Jahren erhielten diese Juden zwei von neun Vorstandssitzen. 1987 hatte die Gemeinde 247 Mitglieder. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 änderte sich dies durch den Zuzug zahlreicher Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion rapide, so dass die Gemeinde – die allerdings für ganz Schwaben zuständig ist – heute etwa 1800 Personen umfasst.
==== Buddhismus ====
Mit der Gründung des Vereins Wat Buddha Augsburg (etwa 130 Mitglieder) wurde 2002 im Stadtteil Göggingen ein Tempel eingerichtet, der hauptsächlich von Migranten aus Thailand benutzt wird. Jeden ersten Sonntag im Monat wird die Zeremonie aus dem Tempel Maha Dhamma Kaya Cetiya in der Nähe von Bangkok per Internet übertragen. Zu diesem Termin reisen auch Gläubige von außerhalb an. Inzwischen ist der Verein nach Königsbrunn umgezogen.
Seit Januar 2000 trifft sich die buddhistische Gruppe Zen in Augsburg jeden Mittwoch und Sonntag zur regelmäßigen Meditation in Augsburg. Lehre und Praxis folgen dabei der traditionellen japanischen Rinzai-Zen-Tradition.
== Geschichte ==
=== Ortsname ===
Frühere Schreibweisen der Stadt aus diversen historischen Karten und Urkunden waren:
Antike Augusta Vindelicum
14. Jahrhundert Uschburk
=== Antike ===
Als Gründungsjahr Augsburgs gilt 15 v. Chr., da in diesem Jahr auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils Oberhausen ein Legionslager, das später auch als Nachschubdepot diente, errichtet wurde. Kaiser Augustus hatte seinen beiden Stiefsöhnen Drusus und Tiberius den Auftrag dazu erteilt. Diesem Gründungsdatum zufolge wäre Augsburg nach Trier die zweitälteste Stadt Deutschlands, wobei dies nach verschiedenen Kriterien gewertet werden kann (siehe Artikel Älteste Städte Deutschlands). Gesichert ist dagegen, dass sie nach Augusta Treverorum, dem heutigen Trier, eine der größten römischen Siedlungen nördlich der Alpen war.
Um das vor der Zeitenwende entstandene Lager bildete sich im ersten Jahrhundert die Siedlung Augusta Vindelicum (siehe Namensherkunft), der Kaiser Hadrian im Jahr 121 n. Chr. das römische Stadtrecht verlieh. Augsburg war ab etwa 95 n. Chr. Hauptstadt der römischen Provinz Raetien, die sich bis nach Oberitalien erstreckte. Es ist unbekannt, wann genau Augsburg Provinzhauptstadt wurde; einige archäologische Befunde deuten aber darauf hin, dass Kempten (Cambodunum) noch bis ins späte 1. Jahrhundert n. Chr. diese Funktion hatte.
Neuen Forschungen zufolge wurde der Neckar-Odenwald-Limes erst im Jahre 98 n. Chr. unter Kaiser Trajan angelegt, zeitgleich mit dem für dieses Jahr gesicherten Bau der römischen Fernstraße von Mainz über Bad Cannstatt nach Augsburg. Ein Zusammenhang dieser beiden strategischen Bauprojekte mit der Verlegung der Hauptstadt der Provinz Rätien von Kempten nach Augsburg liegt nahe, ist aber bisher nicht positiv belegt (vergleiche hierzu: Kinzig (Rhein)#Die historische Römerstraße).
Im Jahre 260 n. Chr. fielen die germanischen Juthungen in Italien und Raetien ein und verschleppten tausende Italiker. Auf ihrem Rückmarsch wurden sie jedoch in einer zweitägigen Schlacht vom römischen Statthalter bezwungen und in die Flucht geschlagen, wie der 1992 gefundene Augsburger Siegesaltar belegt. 271 kam es nach wiederholten Vorstößen der Juthungen und anderer Stämme zur Belagerung der Stadt.
Nach der Teilung der römischen Provinz Raetia im Jahr 294 wurde Augsburg Hauptstadt der Provinz Raetia Secunda, in die nach dem Ende der römischen Herrschaft um 450 die Alamannen einfielen. Die Siedlung bestand – wie die Überlieferung des 6. Jahrhunderts nahelegt – aber fort.
Schon in der Spätantike wurde Augsburg möglicherweise Sitz eines Bischofs, auch wenn es dafür keine schriftlichen und archäologischen Zeugnisse gibt. Überlieferungen über einen Bischof Narcissus von Girona um 300, in dessen Zeit das angebliche Martyrium der Afra von Augsburg fällt, sind unsicher. Der Mediävist Bernhard Schimmelpfennig hat herausgearbeitet, dass es sich hierbei sehr wahrscheinlich ursprünglich um einen männlichen römischen Heiligen namens Afer gehandelt haben wird, der wohl durch Verschreiben zu einer Frau namens Afra wurde.
=== Mittelalter ===
==== Frühe Entwicklung ====
Es ist ungeklärt, ob Augsburg als Verwaltungssitz ohne Unterbrechung zwischen Antike und Mittelalter fortbestand. Die Siedlung und das Christentum ihrer Bevölkerung sind aber für das 6. Jahrhundert bezeugt, wie sich aus der Erwähnung der Verehrung der Stadtheiligen Afra in der Vita sancti Martini des Venantius Fortunatus von 565 und aus archäologischen Funden ergibt.Augsburg war zur Zeit Karls des Großen von Kämpfen zwischen Bayern und Franken betroffen. Der von Karl eingesetzte Bischof Simpert machte sich um den Wiederaufbau der Stadt verdient. Die Bedeutung Augsburgs wuchs gegen Ende des Frühmittelalters wieder an, als König Otto I. mit Hilfe des Bischofs Ulrich von Augsburg die westwärts strebenden Ungarn in der im Jahre 955 geführten Schlacht auf dem Lechfeld südlich der Stadt besiegte.
Am 21. Juni 1156 erhielt Augsburg durch Kaiser Friedrich Barbarossa wieder das Stadtrecht, das knapp hundert Jahre später 1251 durch das Recht auf Führung eines Siegels und auf Besteuerung ihrer Bürger erweitert wurde. Barbarossas Augsburger Schied 1158 (zwei Jahre nach der Stadterhebung Augsburgs) markiert den offiziellen Stadtgründungstag Münchens.
==== Erhebung Augsburgs zur Reichsstadt ====
Den Höhepunkt dieser Entwicklungen bildete die Reichsunmittelbarkeit, die am 9. März 1276 von König Rudolf von Habsburg mit dem Privileg des eigenen Satzungsrechts verliehen wurde. Das Stadtrecht wurde im Stadtbuch von 1276 zusammengefasst. Die nun ausgeweitete Selbstständigkeit Augsburgs führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Hochstift als weltlichem Herrschaftsbereich des Fürstbischofs, die ihren Höhepunkt in der Verlagerung der bischöflichen Hauptresidenz nach Dillingen an der Donau im 15. Jahrhundert fanden. Die Entwicklung Augsburgs zur Reichsstadt wurde laut Eberhard Isenmann 1316 abgeschlossen, als Ludwig der Bayer die Unveräußerlichkeit der Stadt vom Reich garantierte.In der Folge übernahmen mehr und mehr Patrizierfamilien die Herrschaft über die Stadt, was jedoch nicht immer problemlos ablief: So gab es 1368 einen Aufstand der städtischen Handwerker, der zur Einführung einer Zunftverfassung führte. Elf Jahre später trat Augsburg dem Schwäbischen Städtebund bei, der 1388 wieder zerfiel.
Infolge der Zunftverfassung und der damit verbundenen Regulierung aller handwerklichen Tätigkeiten wuchs die Macht der Zünfte stetig an, und sie waren bis 1547 an der Stadtregierung beteiligt. Sieben Jahre zuvor, 1540, war die Augsburger Börse gegründet worden.
Die Stadt entwickelte sich aufgrund ihrer zentralen Lage an alten Fernstraßen, z. B. der Via Claudia Augusta, der Via Julia und der Via Imperii, zu einer bedeutenden Handelsstadt mit Beziehungen zu den Hansestädten an Nord- und Ostsee, sowie nach Italien.
=== Frühe Neuzeit ===
Den Höhepunkt dieser Periode stellt die Diktatur des Ulrich Schwarz dar, der das Bürgermeisteramt 1469 mit großen politischen Visionen übernommen hatte. Anfangs gelang es ihm unter anderem, den bis dato unterrepräsentierten niederen Zünften Mitsprache im Stadtregiment einzuräumen und Augsburg aus der Überschuldung zu befreien. Als sich ihm das Patriziat jedoch entgegenstellte, griff er zu brutalen Mitteln und ließ an den Patrizierbrüdern Vittel die Todesstrafe vollstrecken, was zu seinem eigenen Sturz und seiner Hinrichtung 1478 führte.
Mit dem Zuzug Günther Zainers begann das Aufblühen des Augsburger Buchdrucks. Im Jahr 1468 druckte er S. Bonaventurae meditationes vite domini. Neben geistlicher Literatur verkaufte der Typograf Volksbücher in deutscher Sprache, Erbauungsschriften, Arzneibücher und Kalender. Im Jahr 1471 schnitt Zainer mit der Type 3 eine der ersten deutschen Antiquaschriften. Erhard Ratdolt vervollkommnete aus Venedig bezogenes Antiqua-Design. Weitere entstandene Offizinen sorgten dafür, dass die Stadt an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zu den namhaftesten Verlagsorten in Europa zählte. Nicht zuletzt Johann Schönsperger trug dazu bei. Da die Reichsstadt über keine Universität verfügte und Absatzmöglichkeiten außerhalb des wissenschaftlichen oder kirchlichen Sektors allein das weltliche Publikum eröffnete, wurden zwischen 1480 und 1500 etwa 75 Prozent der hergestellten Bücher in Augsburg in Umgangssprache gedruckt. So brachte es der deutsche Äsop auf damals 22 Auflagen. Schönspergers Theuerdank wird den großartigsten Erzeugnissen im Buchdruck der Renaissance zugerechnet.
Nachdem schon im 13. Jahrhundert einzelne Städte des Reichs das Münzrecht erhalten hatten, versuchte auch der Augsburger Rat dieses Privileg zu erlangen. Der Augsburger Stadtschreiber Konrad Peutinger wurde als Leiter der Stadtverwaltung und als kaiserlicher Rat im Frühjahr 1521 auf den Reichstag zu Worms gesandt, der unter der Regierung des jungen Kaisers Karl V. abgehalten wurde. Er sollte dort nicht nur die alten Privilegien erneuern lassen, sondern auch das Ansuchen stellen, das Münzrecht für die Stadt zu erhalten, was ihm auch gelang. Am 21. Mai 1521 unterschrieb Kaiser Karl V. die entsprechende Urkunde, in der der Stadt Augsburg die Erlaubnis erteilt wurde, eigene Münzen zu prägen. Noch im selben Jahr wurde die Prägetätigkeit aufgenommen. Die reichsstädtischen Prägungen Augsburgs endeten im Jahr 1805, als Augsburg die Reichsfreiheit verlor und an Bayern fiel.Bereits vor dem endgültigen Niedergang der Zunftherrschaft im Jahre 1547 entwickelte sich Augsburg vom Beginn der Neuzeit bis zum Ende der Renaissance zu einem der bedeutendsten Handels- und Wirtschaftszentren der Welt, was vor allem auf den Einfluss der Kaufmannsfamilien Fugger und Welser zurückging. In dieser Zeit zählte Augsburg zusammen mit Köln, Prag und Nürnberg zu den größten Städten des Heiligen Römischen Reiches.
==== Reformationszeit ====
Die Stadt gehörte ab 1500 zum Schwäbischen Reichskreis. Nach dem Reichstag zu Augsburg musste sich Martin Luther 1518 in den Fuggerhäusern vor dem vom Papst beauftragten Kardinal Thomas Cajetan hinsichtlich seiner Thesen verantworten. Er traf am 7. Oktober in der Stadt ein und verließ sie am 20. des Monats. Am 12., 13. und 14. Oktober fanden die Verhandlungen mit Kardinal Cajetan statt. Luther wohnte während seines Aufenthaltes im Karmelitenkloster St. Anna, wo sich auch der Augsburger Bürgermeistersohn und Karmeliter Christoph Langenmantel aufhielt, der sich freundschaftlich um ihn kümmerte und ihn beriet. Als Martin Luther den Widerruf seiner Thesen verweigerte, bestand die dringende Gefahr seiner Verhaftung. Christoph Langenmantel führte ihn in der Nacht vom 19. zum 20. Oktober heimlich durch eine geheime Pforte in der Stadtmauer, so dass er entfliehen konnte. Mit Datum vom 25. November 1518 sandte ihm Luther aus Wittenberg einen Dankesbrief. Augsburg gehörte 1529 zu den Vertretern der evangelischen Minderheit beim Reichstag zu Speyer, beteiligte sich aber nicht an der Protestation. Ihre Bürgerschaft forderte die ungehinderte Ausbreitung des evangelischen Glaubens, die auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 mit dem Augsburger Bekenntnis von Philipp Melanchthon formuliert wurde. Die Confessio Augustana stellt die Bekenntnis- und Gründungsurkunde der Lutherischen Kirche dar.
In der Stadt Augsburg existierte zwischen 1524 und 1573 eine bedeutende Täufergemeinde, die vor allem durch die Augsburger Märtyrersynode im August 1527, eine internationale Zusammenkunft von Abgesandten unterschiedlicher Täuferkreise, Bekanntheit erlangte. Bedeutende Gestalten der Augsburger Täufer waren Jakob Dachser, Hans Leupold und Pilgram Marbeck. Die meisten der Synodalen starben später als Märtyrer für ihre Überzeugungen.Am 22. Juli 1534 beschloss der Große Rat der Stadt, dass nur von ihm „installierte“ Prädikanten in der Stadt predigen durften. Der katholische Gottesdienst wurde auf die acht Kirchen der Stifte eingeschränkt. Kleinere Kirchen und Klosterkirchen wurden geschlossen. Mit diesem Religionsmandat nahm der Rat formal die Kirchenhoheit der Stadt in Anspruch.
Im Jahr 1548 veranlasste Kaiser Karl V. eine neue patrizische Stadtverfassung und erließ das Augsburger Interim. Mit der neuen Stadtverfassung führte die Stadt ein paritätisches Regierungs- und Verwaltungssystem ein (Gleichberechtigung und exakte Ämterverteilung zwischen Katholiken und Protestanten – siehe Paritätische Reichsstadt). Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden 1555 beruhigte auch in der Stadt das Zusammenleben der Bürger. 28 Jahre später – am 14. Februarjul. / 24. Februar 1583greg. – wurde in Augsburg der Gregorianische Kalender eingeführt; dies führte zu einem heftigen Kalenderstreit, der im Juni 1584 mit der Ausweisung des lutherischen Theologen Georg Mylius seinen Höhepunkt erreichte.
==== Dreißigjähriger Krieg ====
Während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Fuggerstadt 1628 mit einer Garnison von acht Kompanien bayerischer Truppen belegt, was wöchentliche Kosten von 8950 Gulden verursachte. Unter der Besatzung wurde ab 1629 das Restitutionsedikt zu Lasten der Protestanten mit Zwang durchgesetzt, und aus dem Rat der Stadt und den Schulen wurden die Protestanten entfernt. Am 19. April 1632 stand das schwedische Heer unter König Gustav Adolf vor den Toren und forderte die Übergabe der Stadt. Am 20. April stimmte der Rat der Stadt der freiwilligen Übergabe gegen freien Abzug der bayerischen Besatzungstruppen zu. Neuer Kommandant wurde zunächst der Sohn des schwedischen Reichskanzlers Oxenstierna und nach ihm Johann Georg aus dem Winckel. Die protestantischen Bürger erhielten ihre alten Rechte zurück. Anfang 1634 gab es in der Stadt kaum noch Lebensmittel, weil die nähere Umgebung von durchziehenden Truppen völlig verwüstet und ausgeplündert war. Mitte des Jahres 1634 nutzen erneut zwei schwedische Heere unter Bernhard von Sachsen-Weimar und Gustaf Horn die Stadt und die Umgebung als Lager- und Ausgangsort für ihre Operationen bei den Kämpfen um Regensburg und Landshut. Nach der vernichtenden Niederlage der Schweden bei Nördlingen wurde Augsburg im Herbst 1634 von kaiserlichen und bayerischen Truppen eingekreist und abgeriegelt, in der Absicht, die Stadt auszuhungern. Alle Zufahrtswege wurden blockiert, und immer wieder wurde versucht, die Wasserzufuhr zu unterbinden. In der Stadt entstand eine Hungersnot mit grausamen Begleitumständen und 5000 Toten am Jahresende 1634. Danach wurden nur noch protestantische Bürger versorgt. Nachdem auch Versuche des schwedischen Kommandanten misslangen, heimlich Lebensmittel aus Ulm zu besorgen, kapitulierte die Stadt am 13. März 1635. Seit Beginn des Dreißigjährigen Krieges war die Bevölkerung Augsburgs um zwei Drittel gefallen. Unter dem neuen bayerischen Stadtkommandanten Otto Heinrich Fugger wurde der religiöse Zustand zur Zeit des Restitutionsediktes wiederhergestellt, und die Stadt musste Entschädigungszahlungen von 300.000 Gulden aufbringen. In den folgenden 12 Jahren war Augsburg nicht mehr so stark vom Krieg betroffen. Erst gegen Ende des Krieges im September 1646 wurde Augsburg wieder zum Ziel eines vereinigten schwedisch-französischen Heeres unter den Feldherren Carl Gustav Wrangel und Turenne. Die Stadt wurde so heftig beschossen, dass die Bürger wieder bereit waren, die Stadt an die Schweden zu übergeben. Die Schweden gaben aber die Belagerung auf, als sich ein bayerisches Entsatzheer unter dem Feldherrn Johann von Werth näherte. Auch von der letzten großen Feldschlacht des Krieges wurde Augsburg Mitte Mai 1648 noch am Rande betroffen. Nach der Schlacht bei Zusmarshausen zogen sich die vor den schwedisch-französischen Truppen flüchtenden kaiserlich-bayerischen Truppen bis vor die Mauern der Stadt zurück. Der in der Schlacht tödlich verwundete kaiserliche Feldherr Melander starb in Augsburg.An die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges erinnert heute der Schwedenturm mit dem Standbild des Stoinernen Ma sowie die Schwedenstiege, die beide Teile der Augsburger Befestigungsanlage waren.
==== Augsburg in der Barockzeit ====
Nach 1653 fand auch 1690 nochmals in Augsburg die Wahl des deutschen Königs statt.
Im 18. Jahrhundert erlebte die Instrumentenmacherkunst in Augsburg eine neue Blüte. Sie ist eng mit dem Namen Georg Friedrich Branders (1713–1783) verbunden, dessen Erzeugnisse in ganz Europa Anklang fanden. Auf Seiten der Musik machten sich Johann Andreas Stein und dessen Tochter Nannette Streicher einen bedeutenden Namen: Ersterer war einer der Lieblingsklavierbauer der Familie Mozart, Letztere erlernte diese Handwerkskunst von ihrem Vater, siedelte um 1800 aber nach Wien über, wo sie einen eigenen musikalischen Salon führte und u. a. einen regen Briefwechsel mit Ludwig van Beethoven führte, der ohne ihre Instrumente seine besten Werke wohl nie geschrieben hätte. Im 18. Jahrhundert war Augsburg zudem eines der bedeutendsten Druckerzeugniszentren Europas. Am 13. Dezember 1703 wurde Augsburg im Spanischen Erbfolgekrieg durch bayerische Truppen unter Kurfürst Maximilian II. Emanuel besetzt, die es 1704 allerdings wieder räumen mussten.
1784/1785 kam es zu Weberunruhen, die schließlich am 29. Januar 1794 im Weberaufstand gipfelten. Den Hintergrund des Streites bildete die aufkommende Textilindustrie mit ihren Kattunmanufakturen, welche das Weberhandwerk bedrohten. So hatte Johann Heinrich Schüle 1771 mit der Schüleschen Kattunfabrik in Augsburg die erste Fabrik auf dem europäischen Kontinent errichtet.
=== Augsburg im Königreich Bayern ===
Durch den Friedensvertrag von Pressburg (26. Dezember 1805) verlor Augsburg, das bereits am 21. Dezember von bayerischen Truppen besetzt worden war, die Reichsfreiheit und fiel an das Königreich Bayern. Bis dahin war es von sieben Patrizierfamilien beherrscht worden. Ab 1809 erhielt die Stadt einen eigenen Polizeidirektor und unterstand direkt der Kreisverwaltung. Deshalb bezeichnete man sie als „kreisunmittelbar“. Nach Umbenennung der Kreise in Regierungsbezirke und der Bezirksämter in Landkreise (1938) wurde daraus „kreisfrei“, weil diese Städte außerhalb der Landkreisverbände unmittelbar der Regierung unterstanden.
1839 ging eine erste Eisenbahnverbindung zwischen Augsburg und München in Betrieb. Im Rahmen des 1843 begonnenen Projekts Ludwig-Süd-Nord-Bahn mit der Strecke Augsburg–Nürnberg und Lindau–Augsburg wurde der erste Kopfbahnhof aufgegeben und ab 1846 ein neuer Durchgangsbahnhof benutzt: der bis heute in Betrieb stehende Hauptbahnhof Augsburgs. Die älteste Augsburger Bahnhofshalle dient heute als Teil eines Straßenbahndepots und ist das älteste erhaltene Empfangsgebäude einer deutschen Großstadt, während der Hauptbahnhof das älteste noch im Betrieb befindliche Empfangsgebäude einer deutschen Großstadt besitzt.
1862 entstand das Bezirksamt Augsburg, aus dem später der Landkreis Augsburg hervorging. Dieser wurde bei der Gebietsreform 1972 mit dem ehemaligen Landkreis Schwabmünchen, einem Teil des ehemaligen Landkreises Wertingen, und einigen Orten der Landkreise Donauwörth und Neuburg an der Donau vereinigt. Seine heutige Ausdehnung erhielt der Landkreis Augsburg mit der Ausgliederung der Gemeinde Baar zum Landkreis Aichach-Friedberg im Jahr 1994. Augsburg blieb Sitz des Landkreises, die Stadt selbst war stets kreisfrei.
Im 19. Jahrhundert erlangte Augsburg noch einmal Bedeutung als Zentrum der Textilindustrie und des Maschinenbaus.
Neben der heute nur noch unter dem Kürzel MAN bekannten Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg, in der Rudolf Diesel 1893 bis 1897 den Dieselmotor entwickelte, hatte zum Beispiel die Messerschmitt AG seit 1927 hier ihren Hauptsitz. Mit der Allgemeinen Zeitung von Johann Friedrich Cotta erschien in Augsburg außerdem die bedeutendste deutsche Tageszeitung dieser Zeit.
Zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts machte sich der technische Fortschritt auch in der Fuggerstadt bemerkbar: Nachdem 1881 bereits Pferdebahnen auf Schienen eingeführt worden waren, ging 1898 die elektrische Straßenbahn in Betrieb. Der Abriss des mittelalterlichen Weberhauses führte in einer Zeit des raschen Wachstums zu heftigen Protesten.
Im April 1919 gab es kurzzeitig im Zusammenhang mit der Münchner Räterepublik auch in Augsburg in Anlehnung an die Sowjets (russ. für „Räte“) eine Räterepublik, die jedoch am Ostersonntag unter dem militärischen Druck der nach Bamberg ausgewichenen bayerischen Regierung unter Johannes Hoffmann weichen musste.
=== Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg ===
Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erhielt die NSDAP in Augsburg 32,3 Prozent der Stimmen. Mit Beginn der „Nationalen Revolution in Bayern“ am 9. März begann der Terror gegen politische Gegner auch in Augsburg. Ende März 1933 wurde der 1929 gewählte Stadtrat aufgelöst und anhand der Ergebnisse der Reichstagswahl vom 5. März neu besetzt, jedoch ohne die Stadträte der KPD. Im Mai verließ die SPD, die schon vorher von fast allen städtischen Ausschüssen ausgeschlossen war, auf Druck der Nationalsozialisten den Stadtrat, am 5. Juli folgte die BVP. Die Abgeordneten der DNVP schlossen sich der Fraktion der NSDAP an.
In der Stadtratssitzung vom 28. April 1933 wurde der 2. Bürgermeister der SPD, Friedrich Ackermann, formell pensioniert und Josef Mayr, der das Amt schon vorher kommissarisch geführt hatte, zum neuen 2. Bürgermeister gewählt. Am 31. Juli wurde der Oberbürgermeister Otto Bohl (BVP) entlassen und in der Stadtratssitzung am 3. August durch Edmund Stoeckle (NSDAP), den Bürgermeister von Lindenberg im Allgäu, ersetzt. Stoeckle konnte offenbar das Vertrauen der Parteiführung nicht erlangen und wurde im Dezember 1934 durch Josef Mayr abgelöst. Die Machtübernahme in der Stadt war damit abgeschlossen. Mit der Neugliederung des Reiches 1933 wurde Bayern in sechs Gaue eingeteilt. Augsburg wurde Hauptstadt des Gaues Schwaben.
Schon am 9. März 1933 wurden kommunistische Funktionäre in „Schutzhaft“ genommen. Richteten sich die Verhaftungen zunächst gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, gerieten schnell auch Jüdisch-Deutsche und andere missliebige Personen, wie auch Abgeordnete der BVP, in Haft. Auch der Brand der Sängerhalle (im heutigen Wittelsbacher Park) am 30. April 1934 war Anlass einer Verhaftungswelle.
Anfang 1933 gab es in Augsburg 126 Betriebe in jüdisch-deutschem Besitz, darunter 20 der Industrie und 55 Großhandelsfirmen. Ihre Gesamtzahl ging durch die Repressalien bis 1938 auf 79 zurück. Bei den Novemberpogromen wurde am Morgen des 10. November 1938 die 1917 erbaute Synagoge in Brand gesteckt. In der Folge wurden jüdisch-deutsche Geschäfte und Privatwohnungen verwüstet und die männlichen jüdisch-deutschen Bürger in Konzentrationslager (KZ) verschleppt, um sie zur Emigration zu nötigen und ihr Vermögen zu konfiszieren (Arisierung). 1985 wurde die Synagoge nach langer Restaurierung wiedereröffnet und wird seither teilweise als Jüdisches Museum genutzt. Auf dem Jüdischen Friedhof erinnert ein Gedenkstein an die etwa 400 ermordeten Augsburger jüdisch-deutschen Opfer des Holocaust. Neben vielen anderen Widerstandskämpfern wie Bebo Wager wurde auch der SPD-Landtagsabgeordnete Clemens Högg während der NS-Zeit umgebracht.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden zur Dezentralisierung der Rüstungsproduktion der Flugzeugfabrik Messerschmitt AG in Augsburg und im näheren Umland mehrere Außenlager des KZ Dachau errichtet. Das KZ-Außenlager Haunstetten wurde im Februar 1943 in diesem Ortsteil im Bereich einer ehemaligen Kiesgrube gebaut, 2700 männliche KZ-Häftlinge dort inhaftiert und nach Zerstörung bei Bombenangriffen im April 1944 als KZ-Außenlager Augsburg-Pfersee in einer Luftnachrichtenkaserne neu eingerichtet, als Hauptlager des Außenlagerkomplexes Schwaben. Auch in Gablingen gab es ein Lager für 1000 Häftlinge, zudem das KZ-Außenlager Horgau. 235 Häftlinge wurden direkt in Augsburg von SS-Männern ermordet oder starben an den katastrophalen Lebensbedingungen und wurden auf dem Westfriedhof begraben, woran drei Gedenktafeln erinnern. 2000 Gefangene wurden im Frühjahr 1945 bei einem Todesmarsch aus der Kaserne Pfersee nach Klimmach getrieben, wobei viele von ihnen starben. Im Stadtteil Kriegshaber waren 500 ungarische Jüdinnen für die Arbeit in den Michel-Werken interniert.Augsburg erlitt im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe schwere Schäden, da die Stadt mit Produktionsstätten wichtiger Rüstungsunternehmen (unter anderem Messerschmitt und MAN) ein militärisches Ziel alliierter Bomberverbände war. Bis heute sind die Folgen spürbar, einmal durch den unwiederbringlichen Verlust wertvoller Kulturgüter, zum anderen durch die Gefahren, die von noch immer im Boden befindlichen Blindgängern ausgehen. Zuletzt musste im Dezember 2016 unter Evakuierung von 54.000 Menschen ein Blindgänger geräumt werden. Augsburg wurde über zehnmal bombardiert (siehe Luftangriffe auf Augsburg), davon zweimal in Angriffen von größerer Wirkung: am 17. April 1942 war das Ziel die U-Boot-Motoren-Produktion der MAN, am 25. und 26. Februar 1944 galt der Angriff im Rahmen der Area Bombing Directive der Innenstadt, den Messerschmitt-Werken und dem Hauptbahnhof als einem süddeutschen Eisenbahnknotenpunkt.
Am 28. April 1945 rückten Einheiten der 7. US-Armee – dank der erfolgreichen Augsburger Freiheitsbewegung ohne Kampfhandlungen – in Augsburg ein und befreiten damit Augsburg von der NS-Herrschaft. Sie errichteten hier einen Stützpunkt mit mehreren Kasernen, der erst 1998 durch den Abzug der letzten Truppen vollständig aufgegeben wurde (siehe US-Garnison Augsburg).
=== Nachkriegszeit ===
Die Altstadt mit ihren bedeutenden Bauten wurde nach Kriegsende größtenteils wieder aufgebaut, wobei einige Arbeiten bis in die heutige Zeit andauern. So konnte die Renovierung des 1985 anlässlich der 2000-Jahr-Feier der Stadt eröffneten Goldenen Saals erst 1996 abgeschlossen werden. Als Hauptstadt des Regierungsbezirks Schwaben fügte sich Augsburg in das politische System der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaats Bayern ein.
Durch den Bau des Rosenaustadions errang die Stadt in der Nachkriegszeit große Bedeutung für zahlreiche sportliche Veranstaltungen, unter anderem Austragungsort der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1953 und der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1963 sowie weitere Leichtathletik-Ländervergleiche. Den Höhepunkt dieser Ereignisse bildeten die Kanu- und Kajak-Wettbewerbe auf dem Eiskanal sowie einige Basketball-, Fußball- und Handball-Vorrundenspiele der Olympischen Spiele 1972, die in Augsburg ausgetragen wurden. Im Rosenaustadion wurde auch die Abschlussversammlung des Ökumenischen Pfingsttreffens veranstaltet, das im Juni 1971 in Augsburg stattfand und als erster gemeinsamer Kirchentag von evangelischen und römisch-katholischen Christen und damit als Vorläufer des Ökumenischen Kirchentags gilt.
Im Oktober 1970 wurde die Universität als Nachfolger mehrerer anderer Hochschulen eröffnet und nahm mit dem wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fachbereich ihre Arbeit auf. Durch die Einrichtung weiterer Fakultäten und den Bau eines Campus ab 1974 wuchs ihre Bedeutung stetig an, so dass dort heute ca. 20.200 Studenten eingeschrieben sind.Nachdem das städtische Gesundheitssystem über viele Jahrhunderte sehr dezentral und uneinheitlich organisiert gewesen war, markierte die Einweihung des Zentralklinikums, das mittlerweile Universitätsklinikum Augsburg heißt, im Jahr 1982 eine bedeutende Wende: Seitdem werden alle Notfälle und Operationen zentral in einem Krankenhaus behandelt; die kleineren Kliniken haben sich spezialisiert (siehe Gesundheitswesen in Augsburg).
Eine schwere Naturkatastrophe erlebte die Stadt mit dem Pfingsthochwasser 1999, als Lech und Wertach nach tagelangen Niederschlägen und der zugleich eintretenden Schneeschmelze in den Alpen über die Ufer traten. Als schließlich ein Stauwehr einbrach, wurden ganze Stadtteile überschwemmt, wodurch ein Millionenschaden entstand.
Nachdem Augsburg bereits im Jahr 1862 den 5. Deutschen Feuerwehrtag ausrichtete, fand vom 20. bis 25. Juni 2000 der 27. Deutscher Feuerwehrtag ebenfalls dort statt.
In der jüngsten Zeit wurde Augsburg mehrmals durch Insolvenzen bedeutender Firmen von Krisen geschüttelt und besitzt heute eine über dem bayerischen Durchschnitt liegende Arbeitslosigkeit. Verschiedene Rückschläge wie die fehlgeschlagene Erweiterung des Flugplatzes zu einem großen Regionalflughafen und die gescheiterte Ansiedlung eines BMW-Werkes trugen dazu bei. Durch kulturelle Großveranstaltungen wie das Mozart- oder das Brecht-Jahr hat sich Augsburg in den letzten Jahren Beachtung verschafft.
Im Jahr 2011 war Augsburg einer der Austragungsorte der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft.
=== Städtische Legenden ===
==== Stadtgöttin Cisa ====
Angeblich war Cisa (dea Ciza) die Stadtgöttin von Augsburg. In Randnotizen des aus dem Stift Ursberg stammenden Excerptum ex Gallica Historia (um 1135) wird ausführlich von der erfolglosen römischen Belagerung der von schwäbischen Stämmen zwischen Lech und Wertach errichteten Stadt Cisaris, dem späteren Augsburg, berichtet. Die Stadt war demnach nach einem Heiligtum der Göttin Cisa benannt. In diesem Text werden auch die Lokalnamen Kriegshaber von einem Griechen Avar, Hafnerberg von einem Militärpräfekt Habeno (auch: Hebeino) und Pfersee von einem Militärtribunen Verres (auch: Verus) abgeleitet (siehe auch: Ableitung des Namens Pfersee).
Der Text aus dem 12. Jahrhundert erweist sich als diffuse Kompilation mit deutlichem Schwerpunkt auf der, für die Sagenforschung nicht ungewöhnlichen, phantasievollen Ausdeutung nicht mehr verstandener, wohl voralemannischer Lokalnamen. In der Diskussion blieb allein die Göttin Cisa, sicherlich deswegen, weil Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie den „Werth der merkwürdigen Überlieferung“ ausdrücklich betonte.
Ob an der Stelle des heutigen Kitzenberges bei der Basilika St. Ulrich und Afra eine alemannische Ziuverehrung angenommen werden kann, ist ebenfalls wissenschaftlich nicht zu belegen. In Augsburg war zumindest seit dem späten Mittelalter ein provinzialrömisches Medusenhaupt bekannt, das in der heutigen Ulrichskirche eingemauert war und sich heute im Römischen Museum befindet. Eine Darstellung der Cisa ist auf der Wetterfahne des Perlachturms zu sehen; ferner sollen der Legende nach einige Darstellungen auf den Bronzetüren des Domes auf die Göttin hindeuten.
==== Der Stoinerne Ma ====
Der „Stoinerne Ma“ („Steinerner Mann“) ist eine lebensgroße Steinfigur an der östlichen Augsburger Stadtmauer im Bereich der sogenannten „Schwedenstiege“, die in unmittelbarer Nähe der Galluskirche liegt. Sie stellt wohl einen einarmigen Bäcker mit einem Laib Brot und einem Schild dar. Im Bereich der Füße befindet sich ein schneckenförmig gedrehtes Postament.
Der Sage nach handelt es sich um den Bäcker „Konrad Hackher“, der während einer langen Belagerung der Stadt aus Sägemehl Brote gebacken und für die Belagerer deutlich sichtbar über die Stadtmauer in den Graben geworfen haben soll. Der Eindruck, in Augsburg gäbe es noch so viel Brot, dass man es über die Mauer werfen könne, soll die Belagerer so demoralisiert haben, dass sie aus Wut nach ihm mit einer Armbrust schossen. Ein Treffer schlug ihm den Arm ab, bald darauf brachen sie die Belagerung ab. Historisch gehört das Ereignis in den Dreißigjährigen Krieg, genauer zur Belagerung Augsburgs während der Jahre 1634/35, als katholische bayerische Truppen unter Generalfeldmarschall von Wahl die von den protestantischen Schweden besetzt gehaltene Stadt zurückerobern wollten. Verlässlich belegt ist die Tat des Bäckers nicht.
Fakten jenseits dieser Legende gibt es allerdings: In seinem akribisch recherchierten Beitrag zur 1941 erschienenen Nr. 54 der „Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben“ definiert Eduard Lampart die damals noch an der Hausecke Pulvergäßchen/Unterer Graben stehende Figur als Bastelei aus einigen ursprünglich nicht zusammengehörigen Teilen. Es dürfte sich um Funde bei Erdarbeiten in der Stadt handeln, die über Generationen hinweg zum erwähnten Eckhaus gekarrt wurden, weil es bis 1810 der Sitz des amtierenden „Städtischen Bauwarts“ war. Einem der Bauwarte ist die wohl zwischen Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgte Aufstellung der Figur zu verdanken. Dass sie den historisch nicht belegbaren Bäcker-Helden Hacker darstellt, wurde ihr erst später angedichtet. Das Eckhaus erlitt im Zweiten Weltkrieg mehrere Bombentreffer und so versetzte man die Steinfigur nach dem Krieg an ihren heutigen Standort bei der Schwedenstiege. Dort wird sie gerne von Spaziergängern angesteuert, die an der Stadtmauer entlang flanieren. Da es Glück bringen soll, die Nase der Steinfigur zu berühren, ist dieser Brauch vor allem bei Liebespaaren beliebt.
==== Die sieben Kindeln ====
In der Hauswand des Anwesens Bei den Sieben Kindeln 3 (⊙) befindet sich ein eingelassenes Steinrelief aus der Römerzeit, das sechs spielende, nackte Kinder darstellt, die um einen Sarg versammelt stehen.
Der Legende nach soll die Gedenkplatte von einem römischen Offizier zur Erinnerung an das Ertrinken eines seiner Kinder in Auftrag gegeben worden sein (deshalb heißt es „sieben“ Kinder, obwohl die Platte nur sechs darstellt: Das siebte Kind sei ertrunken und liegt in dem Sarg). Nach heutigem Wissensstand stellt die Platte Eroten dar und bildete einmal die Längsseite eines sogenannten Erotensarkophags.
=== Eingemeindungen ===
Das Stadtgebiet war schon vorher immer wieder durch Eingliederungen umliegender Gemeinden erweitert worden, größere Ausmaße nahm es jedoch erst im 20. Jahrhundert an. Die Eingemeindungen sind zwei Wellen zuzuordnen: Einer ersten vor und während des Ersten Weltkrieges, einer zweiten 1972 im Zuge der Bayerischen Gemeindereform. Augsburgs damaliger Oberbürgermeister Hans Breuer hätte gerne noch mehr umliegende Städte eingegliedert, scheiterte aber am Widerstand der dortigen Bevölkerung. Zur Ansiedlung eines Postlogistikzentrums wurde am 1. Juli 1999 eine Flur mit der benachbarten Stadt Gersthofen getauscht.
=== Namensherkunft ===
Der Name der Stadt findet sich erstmals im 2. nachchristlichen Jahrhundert als Ael[ia] Augusta bezeugt (Kopie aus dem 11. Jahrhundert). Aus dem 3. Jahrhundert kennen wir ihn als Augusta Vindelicum (Kopie aus dem 7./8. Jahrhundert); zu ergänzen ist civitas ‚Stadt‘, sodass der Ortsname ‚Stadt des Augustus im Gebiet der Vindeliker‘ bedeutet. 826 ist der heutige deutsche Name als Augusburuc erstmals anzutreffen, 962 als Augustburg, 1238 schließlich als Augsburg.Der Name Augsburgs leitet sich vom römischen Namen der Stadt, Augusta Vindelicorum, ab. Den ersten Teil des Namens, Augusta, trägt die Stadt, weil sie auf Befehl von Kaiser Augustus von dessen beiden Stiefsöhnen Drusus und Tiberius 15 v. Chr. (zunächst als Militärlager) gegründet wurde. Der Erstbelegt zeigt mit dem Beinamen Aelius den Gentilnamen Kaiser Hadrians. Der zweite Teil des lateinischen Namens, Vindelicorum, ist der Genitiv Plural der lateinischen Bezeichnung für den Volksstamm der Vindeliker, die damals im Alpenvorland zwischen Bodensee und Inn siedelten. Das deutsche Grundwort -burg hingegen übersetzt das lateinische civitas ‚Stadt‘. An das /b/ von -burg wurde schon früh das auslautende /t/ von Aug(u)st- assimiliert, womit es zur heutigen Lautung kam.
== Politik ==
Am 23. September 2008 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“.
=== Stadtverwaltung ===
An der Spitze der Stadt Augsburg stand als Vorsitzender des Rates nachweislich seit 1266 der Stadtpfleger, der gelegentlich auch als Bürgermeister bezeichnet wurde, was dazu führte, dass teilweise beide Titel gleichzeitig in Gebrauch waren. Erst 1548 wurde der Titel endgültig auf Stadtpfleger festgesetzt. Diese amtierten über mehrere Jahre und wurden ab dann auf Lebenszeit gewählt, weshalb es auch mehrere Stadtpfleger gleichzeitig gab.
Nach dem Übergang an Bayern wurde in Augsburg ein Magistrat mit zwei Bürgermeistern eingesetzt, der ab 1818 durch ein zusätzliches Kollegium der Gemeindebevollmächtigten unterstützt wurde. 1919 wurde dieses Zweikammersystem zugunsten der Einrichtung eines „Stadtrates“ aufgegeben, dem seither der „Erste Bürgermeister“ vorsteht, der meist den Titel Oberbürgermeister führt (siehe Liste der Oberbürgermeister Augsburgs).
Am 16. März 2008 setzte sich Kurt Gribl (CSU, zum Zeitpunkt der Wahl allerdings parteilos) in einer Stichwahl gegen Amtsinhaber Paul Wengert (SPD) durch und übernahm am 2. Mai 2008 das Amt des Oberbürgermeisters. Bei der Kommunalwahl am 16. März 2014 trat Amtsinhaber Gribl erneut als Oberbürgermeisterkandidat für die CSU an. Er setzte sich ohne Stichwahl mit 51,8 % gegen seine Herausforderer durch und wurde damit im Amt bestätigt.Am 29. März 2020 wurde Eva Weber (CSU) als erste Frau der Stadtgeschichte zur Bürgermeisterin gewählt. Sie gewann mit 62,3 % die Stichwahl gegen Dirk Wurm (SPD), der 37,7 % der Stimmen erhielt.Am 28. Juni 2021 konstituierte sich der Digitalrat der Stadt Augsburg. Er war auf Initiative der Oberbürgermeisterin ins Leben gerufen worden und dient nun als Schnittstelle zwischen Verwaltung und Stadtgesellschaft.
=== Stadtrat ===
Der Stadtrat setzt sich aus 60 Stadträten und dem Oberbürgermeister zusammen.
1 2002 als PDS, bis 1984 ist die DKP aufgeführt. 2017 trat Alexander Süßmair aus der Partei unter Mitnahme seines Stadtratsmandats aus. 2 Freie Wähler 3, Augsburg in Bürgerhand 1, Generation AUX 1, Die PARTEI 1, V-Partei³ 1, WSA 1
=== Bundestagsabgeordnete ===
Augsburg befindet sich im Wahlkreis 252 Augsburg-Stadt, dem auch Königsbrunn im gleichnamigen Landkreis Augsburg angehört.
Bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag im September 2009 wurde Christian Ruck von der CSU mit 42,2 Prozent der Stimmen direkt gewählt. Über die Landesliste zogen außerdem Miriam Gruß für die FDP, Heinz Paula für die SPD, Alexander Süßmair für die Linkspartei und Claudia Roth für Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag ein.
Nachdem Christian Ruck und Heinz Paula bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag nicht mehr antraten, wurde nur Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen wiedergewählt. Volker Ullrich (CSU) gewann das Direktmandat, für die SPD wurde Ulrike Bahr über die Landesliste gewählt. Alexander Süßmair und Miriam Gruß wurden nicht wiedergewählt.Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Volker Ullrich (CSU) mit 28,1 % erneut das Direktmandat. Mit ihm zogen über die jeweiligen Landeslisten Ulrike Bahr für die SPD, Claudia Roth für Bündnis 90/Die Grünen sowie Maximilian Funke-Kaiser für die FDP in den Bundestag ein.
=== Bürgerentscheide ===
In Bayern gestattet Artikel 18a der Gemeindeordnung im Rahmen der direkten Einflussnahme auf kommunaler Ebene den Gemeindebürgern das Recht, Bürgerbegehren zu initiieren. Über erfolgreiche Unterschriftensammlungen kommt es zur Abstimmung im Wege des Bürgerentscheids. In Augsburg wurden die Bürger in folgenden Angelegenheiten zur Wahlurne gerufen:
Im Jahr 1995 beabsichtigte der Bauunternehmer Ignaz Walter unter der Fuggerstraße zentrumsnah eine Tiefgarage zu errichten. Ein Bürgerbegehren sprach sich für den Bau aus, ein anderes war ablehnend dazu eingestellt. Im Januar 1996 entschieden sich 63 Prozent der Abstimmenden für die Ablehnung der Tiefgarage, eine Minderheit von 37 Prozent wollte das Bauwerk realisiert wissen. Die Wahlbeteiligung lag bei 36,3 Prozent.
Wenige Monate später erregte der Bau der sogenannten „Schleifenstraße“ samt der Umfahrung am Roten Tor die Gemüter. Verschiedene Bürgerinitiativen, die Lärmbelästigungen durch den Verkehr und eine Beeinträchtigung des Wohnumfelds vortrugen, sammelten die nötigen Unterschriften für ein Bürgerbegehren. Der Augsburger Stadtrat stellte der Ablehnung der Initiativen das nachgebesserte Konzept einer „stadtverträglichen“ Tangente gegenüber. Es erhielt beim Bürgerentscheid im Juni 1997 80 Prozent „Ja“-Stimmen. 32,5 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung über die hinterher realisierte Schleifenstraße.
Im Jahr 2007 wurden konkret gediehene Überlegungen der Augsburger Stadtverwaltung und der städtischen Verkehrsbetriebe zur Umgestaltung des Königsplatzes Gegenstand eines Bürgerbegehrens. Im Rahmen der Planungen zur Mobilitätsdrehscheibe Augsburg sollte die zentrale Haltestellenanlage vergrößert und modernisiert werden. Es war ein Eingriff in die angrenzende Grünanlage, auch mit Rodung von Bäumen, beabsichtigt. Die Gegner verlangten vor einem Umbau zunächst einen Ideenwettbewerb über ein Gesamtverkehrskonzept. Am 25. November 2007 fand der Bürgerentscheid über den Umbau statt. 53,2 Prozent der abstimmenden Bürger entschieden sich für diesen Wettbewerb. Die Wahlbeteiligung lag bei 24,2 Prozent.
Die Stadtregierung aus CSU und Pro Augsburg entschied sich nach dem Wettbewerb für einen autofreien Königsplatz, erreicht durch Verlegung der Hauptverkehrsachsen. Gegen diese Planung machten Bürger mobil, die den Bau eines Tunnels am Königsplatz forderten. Im Bürgerentscheid am 21. November 2010 konnten die Wahlberechtigten über ein Ratsbegehren, das Bürgerbegehren sowie eine Stichfrage separat abstimmen. Die Stadtratsalternative, die im Bedarfsfall vorsorglich eine „Entlastungsstraße“ vorsieht, erhielt von den Wählern mit 73,9 Prozent „Ja“-Stimmen den Vorzug. Der Bau eines Tunnels scheiterte nicht nur am erforderlichen Quorum von 19.391 Stimmen, sondern wäre überdies mehrheitlich mit 68,1 Prozent der ausgezählten gültigen Stimmen abgelehnt geworden. Die Wahlbeteiligung lag bei 28,8 Prozent.Manchmal reagieren die Kommunalpolitiker bei Widerständen aus der Bevölkerung auch ohne Bürgerentscheid, wenn sich starke Unterschriftenunterstützung von Sympathisanten für ein Projekt abzeichnet. So wurde der Bau der neuen Stadtbücherei Augsburg nach zuvor jahrelangem Hinauszögern aus finanziellen Gründen in kurzer Zeit realisiert und durch Bürgerwillen der beabsichtigte Verkauf des Alten Stadtbades gestoppt.
Ein anderes Beispiel dafür ist der Radentscheid, der im Sommer 2021 durch einen Vertrag abgewendet wurde, in dem wesentliche Forderungen von der schwarz-grünen Stadtregierung übernommen wurden.
=== Wappen und Flagge ===
=== Städtepartnerschaften ===
Die erste Städtepartnerschaft ging Augsburg 1956 auf Anregung des britischen Generalkonsulats in München mit dem schottischen Inverness ein. Nach ersten gegenseitigen Besuchen offizieller Vertreter im selben Jahr kam es auf Dauer zu einem Kulturaustausch; die Städtepartnerschaft wurde nie vertraglich festgehalten.
Der erste deutsch-japanische Schwesternstadtbund geht auf die Initiative Magokichi Yamaokas zurück, der vor dem Zweiten Weltkrieg in München studiert und sich für Rudolf Diesel interessiert hatte, weshalb er öfter in Augsburg zugegen war. Nach dem Krieg, Yamaoka war inzwischen Firmenchef der Yanmar-Diesel-Werke, stiftete er den japanischen Rudolf-Diesel-Gedächtnishain im Wittelsbacher Park. Anschließend verwendete er seinen politischen und privaten Einfluss darauf, die Städte Amagasaki und Nagahama, in denen seine Firma Fabriken besaß, mit Augsburg zu verbinden, was zur doppelten Partnerschaft im Jahre 1959 führte.
1964 entstand die Verbindung zur amerikanischen Stadt Dayton (Ohio), die ihren Ursprung im von US-Präsident Eisenhower 1956 verkündeten Projekt „People to People“ hatte. Zudem hatte der Daytoner Konzern NCR seinen deutschen Hauptsitz in Augsburg gegründet.
Nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags kam 1964 aus dem Augsburger Stadtrat der Wunsch für eine Partnerschaft mit einer Stadt in Frankreich. In Absprache mit der Internationalen Bürgermeister-Union fiel die Wahl auf das zentral gelegene Bourges. Der Partnerschaftsvertrag wurde im April 1967 unterzeichnet.
31 Jahre später kam es am 1. Mai 2001 zur Unterzeichnung eines weiteren Partnerschaftsvertrags, deren Ursprung in der Nachkriegszeit liegt: 1955 hatte die Stadt Augsburg die Patenschaft für alle aus der tschechischen Stadt Liberec (Reichenberg) Vertriebenen übernommen, von denen ein Großteil in der Fuggerstadt eine neue Bleibe gefunden hatte. Nach dem Ende des Kalten Krieges nahmen zunächst die früher Vertriebenen einen kulturellen Kontakt auf, was zu regelmäßigen Austauschprogrammen führte.
Die letzte eingegangene Partnerschaft wurzelt in der Provinzpartnerschaft des Freistaats Bayern mit der chinesischen Provinz Shandong von 1987. In deren Folge interessierte sich die Provinzhauptstadt Jinan für die Aufnahme einer Partnerschaft mit einer bayerischen Stadt. Nach ersten gegenseitigen Besuchen und Kontakten unterzeichneten die Bürgermeister am 3. September 2004 die Partnerschaftsurkunde.
=== Patenschaften ===
1954 hatte die damalige Marktgemeinde Göggingen auf Anregung des Deutschen Städtetages eine „Patenschaft für den Landkreis Neudek“ (Sudetenland) übernommen, die von der Stadt Augsburg mit der Eingemeindung der Stadt Göggingen 1972 übernommen und auf die „Heimatvertriebenen aus der Stadt und dem Landkreis Neudek“ ausgedehnt wurde. Seit einigen Jahren bestehen auch freundschaftliche Kontakte zur Stadt Nejdek. Im selben Jahr wurde Augsburg selbst Pate über das schwäbische Illertissen, das in diesem Jahr zur Stadt erhoben wurde.
Nur ein Jahr später wurde die Patenschaft über alle aus der heute zur Tschechischen Republik gehörenden Region Reichenberg (tschech. Liberec) vertriebenen Deutschen übernommen, was schließlich nach dem Fall des Eisernen Vorhanges zu einer offiziellen Städtepartnerschaft im Jahr 2001 führte (siehe hierzu: Städtepartnerschaften).
Die Fuggerstadt ist außerdem Pate für etliche Verkehrsmittel. So trug bereits in der Kaiserzeit ab 1909 ein Kleiner Kreuzer den Namen SMS Augsburg und auch in der Bundesmarine wurden seit 1958 bereits zwei Fregatten auf den Schiffsnamen Augsburg getauft, die F 222 und die F 213. Im Jahr 2018 gab das Bundesministerium der Verteidigung bekannt, dass eine der fünf geplanten neuen Korvetten des 2. Bauloses K130 den Namen Augsburg tragen wird. Seit 2008 führt außerdem das Fahrgastschiff MS Augsburg der Ammersee-Flotte den Namen der Stadt. Daneben verkehren seit 2002 ein ICE 3 der Deutschen Bahn und seit 2008 ein LINT 41 der Bayerischen Regiobahn. Ein im Jahr 1990 auf den Namen Augsburg getaufter Airbus A320-211 der Lufthansa wurde im Juni 2020 außer Dienst gestellt.
=== Briefmarken ===
Mit Augsburg verbundene Ereignisse wurden in Briefmarken zum 1000. Jahrestag der Schlacht auf dem Lechfeld (1955), zum Ökumenischen Pfingsttreffen (1971), zu den olympischen Wettbewerben auf dem Augsburger Eiskanal (1972), zum 450. Jahrestag der Confessio Augustana (1980), zur 2000-Jahr-Feier der Stadt (1985), zum 450. Jahrestag des Augsburger Religionsfriedens (2005) oder zum 500-jährigen Jubiläum der Fuggerei (2021) festgehalten.
Am Tag der Briefmarke 1984 erschien zum Augsburger Posthaus des 16. Jahrhunderts eine Briefmarke. Zu Weihnachten 1995 wurden Motive aus dem Marienfenster des Augsburger Doms ausgegeben. Im Sommer 2017 erschien eine Serie mit Motiven der Augsburger Puppenkiste. Das private Zustellunternehmen Logistic-Mail-Factory mit Sitz in Augsburg brachte mehrere Briefmarkenserien mit Bezug zur Stadt heraus, unter anderem mit Motiven zur Familie Fugger, zum Zoo Augsburg oder zur Puppenkiste.
=== Welterbeliste ===
Der Stadt Augsburg als Antragstellerin ist es gelungen, ihr historisch jahrhundertelang zurückreichendes, fortschrittliches Wassermanagement-System in die Welterbeliste der UNESCO eingeschrieben zu bekommen. Die strenge Trennung zwischen Trink- und Nutzwasser war hier bereits 1545 eingeführt worden.
== Kultur und Sehenswürdigkeiten ==
Augsburg war in seiner Geschichte immer wieder ein kulturelles Zentrum und besitzt noch heute in verschiedenen Bereichen eine überregionale Bedeutung für Kunst und Kultur.
=== Architektur ===
In die vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege herausgegebene und betreute Denkmalliste sind derzeit 1.226 Augsburger Einzelbaudenkmäler eingetragen – diese machen damit etwa 1,6 Prozent des gesamten Gebäudebestandes der Stadt aus. Darüber hinaus hat Augsburg 20 eingetragene Ensembles sowie das großflächige Altstadtensemble, welches wiederum 65 geschützte Platz- und Straßenbilder aufweist.
==== Antike und Mittelalter ====
Aus der Zeit der römischen Besiedlung als Augusta Vindelicum sind heute nur noch wenige Fundstücke erhalten, die größtenteils in Museen ausgestellt werden. Am besten lässt sich das einstmalige Leben noch am Straßenverlauf der Via Claudia Augusta erahnen, der noch heute größtenteils vorhanden ist.
Im Mittelalter entstanden vor allem Sakralbauten, deren bedeutendste der Dom Mariä Heimsuchung und die Basilika St. Ulrich und Afra sind, die das Stadtbild auch heute noch entscheidend prägen. Die um 1140 entstandenen Prophetenfenster im südlichen Obergaden des Doms sind die weltweit einzigen erhaltenen Beispiele romanischer Glasmalerei. Weitere bedeutende kirchliche Kunstwerke aus dieser Zeit sind die Bronzetüren des Augsburger Domes aus den Jahren 1065, die im Jahr 2000 renoviert wurden. St. Ulrich und Afra wiederum bildet zusammen mit der vorgelagerten kleinen evangelischen Ulrichskirche eine prachtvolle Gebäudegruppe. Die romanische Kirche St. Peter am Perlach ist einer der ältesten Ziegelsteinbauten Süddeutschlands. Von den weiteren erhaltenen Kirchen des Mittelalters sind besonders auch die Bauten von St. Moritz, St. Jakob, Heilig Kreuz (kath. Kirche) und St. Georg stadtbildprägend. Sie stammen aus romanischer Zeit, wurden aber seit der Gotik immer wieder umgebaut und im Zweiten Weltkrieg teilweise stark getroffen. Dies gilt besonders auch für die Barfüßerkirche und St. Stephan. Um das Jahr 1320 bestand eine Dombauhütte, die auch gotische Formen in den Bau des Doms Unserer Lieben Frau einfließen ließ. Aus dieser Periode stammt der Chor.
Daneben umgab sich das mittelalterliche Augsburg mit großen Wehranlagen und der durchgehenden Stadtmauer, von der noch heute viele Teile erhalten sind, unter anderem der Fünfgratturm, das Rote Tor oder das Wertachbrucker Tor. Innerhalb dieser Mauern siedelten sich zur selben Zeit Gold- und Silberschmiede an, die sich über die Jahrhunderte einen hervorragenden Ruf erarbeiteten. Ihre Werke können heute in verschiedenen Museen und Ausstellungen betrachtet werden. Die Stadt selbst ist noch heute von einer auffällig hohen Zahl von Handwerkern dieser Richtung geprägt. Der Goldschmiedebrunnen auf dem Martin-Luther-Platz zeugt von ihrer Anwesenheit.
Um 1500 war Augsburg nach Köln, Prag und Nürnberg die viertgrößte Stadt des Reiches, weit vor Wien oder gar Berlin. Daher verfügt die Stadt über eine große Altstadt mit zahlreichen mittelalterlichen Kirchen.
==== Renaissance und Manierismus ====
Ihren absoluten Höhepunkt erlebte Augsburg zur Zeit der Renaissance, als hier Künstler wie Hans Holbein der Ältere oder Hans Burgkmair der Ältere wirkten und die Stadt zu einem der bedeutendsten kulturellen Zentren in Mitteleuropa werden ließen. In dieser Zeit entstanden einige der wichtigsten und bekanntesten Sehenswürdigkeiten, die nicht zuletzt durch die reichen Kaufmannsfamilien der Fugger und Welser finanziert wurden. In der Kirche St. Anna ließ die Familie Fugger sich eine Grabkapelle als ersten deutschen Renaissancebau errichten. Die Fuggerhäuser in der kunsthistorisch auch sonst bedeutsamen Maximilianstraße entstanden zwischen 1512 und 1515 als Residenz der Familie Fugger. Mit der Fuggerei entstand außerdem die älteste noch heute genutzte Sozialsiedlung der Welt.
1516/17 wurde die Katharinenkirche errichtet.
Ab 1574 entstand dann durch den Baumeister Johannes Holl die Kirche für das Kloster der Franziskanerinnen von Maria Stern, deren Zwiebelturm von Augsburg ausgehend weite Verbreitung fand. Johannes Holl errichtete auch das Köpfhaus. Sein Sohn Elias Holl erbaute später das Rathaus, das als bedeutendster profaner Renaissancebau nördlich der Alpen gilt und über den manieristischen Prachtbrunnen (Augustusbrunnen, Herkulesbrunnen und Merkurbrunnen) thront. Auch der Perlachturm erhielt damals sein heutiges Aussehen. Das Augsburger Zeughaus, der Stadtmetzg und der Neue Bau sowie das Heilig-Geist-Spital sind weitere bedeutende Bauten der späten Renaissance von Elias Holl und entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Von der 1609 bis 1613 errichteten ehemaligen Franziskanerkirche, der jetzigen Pfarrkirche St. Maximilian, hat nur die Fassade den letzten Krieg überdauert. Dagegen wurde die kurz zuvor entstandene Jesuitenkirche St. Salvator bereits 1872 ganz abgebrochen. Nur Teile des Kollegs, eine weitere Stiftung der Fugger, haben sich erhalten.
==== Barock, Rokoko und Klassizismus ====
Doch auch spätere Epochen haben in Augsburg ihre Spuren hinterlassen. Bedeutsame barock gestaltete Sakralbauten sind besonders Heilig Kreuz (evang. Kirche), St. Michael und St. Margareth. Auch einige ältere Bauten wie das Reichsstädtische Kaufhaus wurden damals umgebaut. Vor allem der Rokokostil, der auch Augsburger Geschmack genannt wurde, hat der Stadt seinen Stempel aufgedrückt: Aus dieser Zeit stammen vor allem die Bischöfliche Residenz und das Schaezlerpalais. Besonders prächtig gerieten die Innenräume. Auch das Roeck-Haus und das Martini-Palais sind Zeugnisse dieser Zeit. Die ehemalige Domkustodie des Bischöflichen Palais am Hohen Weg ist ein breitgelagerter Mansarddachbau von 1761 mit Rokokoportal. Die ehemalige Schülesche Kattunfabrik verfügt sogar über eine dem Schlossbau angenäherte Rokokofassade von 1770/72. Das Welserhaus in der Philippine-Welser-Straße, im Kern noch aus dem 16. Jahrhundert stammend, zeigt heute eine frühklassizistische Fassade vom Ende des 18. Jahrhunderts. Auch das benachbarte Bothmersche Palais wurde in der Zeit des Klassizismus umgestaltet.
==== Historismus und Jugendstil ====
Während der Industriellen Revolution entstanden nach der genannten Schüleschen Kattunfabrik noch weitere Fabrikanlagen wie zum Beispiel der Glaspalast oder das Fabrikschloss, die heute größtenteils anderen Zwecken (zumeist als Museen oder Kunstgalerien) dienen, und Industriellenvillen wie das bereits der Rokoko-Zeit entstammende Gignoux-Haus, die Villa Haag oder die Villa Silbermann. Repräsentative Bauten des Historismus sind in Augsburg vor allen das Große Haus des Stadttheaters und das Gebäude der Staats- und Stadtbibliothek (von Martin Dülfer, 1893). Diese bilden zusammen mit der St.-Anna-Grundschule und dem Justizpalast ein eindrucksvolles Ensemble aus dieser Zeit.
Der Jugendstil hinterließ in Augsburg mit der Synagoge, dem Kurhaus in Göggingen, der Herz-Jesu-Kirche im Stadtteil Pfersee und dem Alten Stadtbad ebenfalls außerordentliche Bauwerke.
==== Moderne ====
Nach dem Zweiten Weltkrieg prägten zunächst vor allem Bauten für Großveranstaltungen das Stadtbild, zu erwähnen sind vor allem das Rosenaustadion als modernstes Stadion seiner Zeit und viele in Sichtbeton-Bauweise errichtete Gebäude, so unter anderem die Erhard-Wunderlich-Sporthalle, das Kongresszentrum mit dem Hotelturm oder das Curt-Frenzel-Stadion. Das Haus der Moderne selbst wurde bereits 1929 als Wohn- und Ateliergebäude des Augsburger Architekten Thomas Wechs im Stil der Neuen Moderne errichtet. Von ihm stammt auch die Don-Bosco-Kirche.
=== Museen und Galerien ===
Das Maximilianmuseum wurde 1855 errichtet und zum Jahrtausendwechsel erstmals von Grund auf renoviert, wodurch es ein historisch-modernes Flair erhalten hat. Der Ausstellungsbereich erstreckt sich über mehrere Etagen und teilt sich auf in Dauerausstellungen, die unter anderem Skulpturen, Goldschmiedekunst, Bauentwürfe und stadtgeschichtliche Sammlungen darstellen, sowie in einen Teil für Wechselausstellungen.
Seit 2006 gibt es im Jüdischen Museum Augsburg Schwaben eine Dauerausstellung, die die Geschichte der Juden in Augsburg und Schwaben vom Mittelalter bis heute dokumentiert. Sie dokumentiert „religiöse Praxis im Wandel der Zeit“ und macht die „jüdische Geschichte als einen integralen Bestandteil“ der Augsburger und Schwäbischen Geschichte deutlich.Das Schwäbische Handwerkermuseum wird von der Schwäbischen Handwerkskammer betrieben und zeigt historische Werkstätten alter und zumeist ausgestorbener Handwerke wie zum Beispiel Bader, Sattler, Schuhmacher, Uhrmacher, Bäcker, Buchbinder oder Posamentierer. Zu sehen sind originale Einrichtungen, Werkzeuge und Arbeitsmaterialien. Daneben widmet sich eine eigene Ausstellung den Zünften.
Im Römischen Museum, das sich in den Räumen des ehemaligen Dominikanerklosters St. Magdalena befindet, sind archäologische Funde aus Augsburg und Umgebung von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Spätantike und dem frühen Mittelalter zu betrachten. Das Schwergewicht liegt jedoch auf Objekten aus der Zeit als römische Provinzhauptstadt.
Das nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen 2006 wiedereröffnete Schaezlerpalais ist einerseits als ein Glanzpunkt des Rokokobaustils sehenswert, beherbergt andererseits aber auch bedeutende Kunstsammlungen: Die Deutsche Barockgalerie, die Graphische Sammlung und die Karl und Magdalene Haberstock-Stiftung.
Von dort besteht auch Zugang zu einer weiteren Sammlung, der benachbarten Staatsgalerie in der Katharinenkirche – Altdeutsche Meister, sie befindet sich an dieser Stelle schon seit dem frühen 19. Jahrhundert. Hier sind unter anderem Werke von Albrecht Dürer zu betrachten.
Für Anhänger der modernen Kunst ist der Glaspalast mit dem Kunstmuseum Walter und der benachbarten Galerie Noah der richtige Ort, denn hier wird auf 5500 Quadratmeter Ausstellungsfläche die Privatsammlung des Unternehmers Prof. Ignatz Walter gezeigt. Schwerpunkt der Sammlung ist die zeitgenössische Kunst. Als Höhepunkt gilt die Glaskunst von Egidio Costantini, dessen zahlreiche Werke in Zusammenarbeit mit Künstlern wie Picasso, Miró und Braque entstanden. Außerdem sind hier auch die Staatsgalerie Moderne Kunst, eine Zweigstelle der Pinakothek der Moderne in München, und das H2 – Zentrum für Gegenwartskunst untergebracht.
Das Eishockeymuseum befindet sich neben dem Plärrer und stellt verschiedene Exponate berühmter Eishockeyspieler im In- und Ausland aus, so zum Beispiel den Nachlass von Gustav Jaenecke. Daneben führt es die Hall of Fame Deutschland, in die Spieler, Schiedsrichter, Trainer, Offizielle und Journalisten aufgenommen werden.
Das Museum Lutherstiege Augsburg zeigt Gegenstände und Räume aus der Zeit Martin Luthers.
Die Geburtshäuser von Bertolt Brecht und Leopold Mozart wurden nach selbigen benannt und beherbergen heute als Brecht- beziehungsweise Mozarthaus Ausstellungen über Leben und Wirken der beiden berühmtesten Söhne der Stadt.
Das Puppentheatermuseum Die Kiste der Augsburger Puppenkiste befindet sich im ehemaligen Heilig-Geist-Spital und zeigt die bekannten „Stars an Fäden“ wie das Urmel, Jim Knopf oder Kalle Wirsch.
Daneben bietet die Fuggerstadt eine große Zahl weiterer Museen und Galerien mit verschiedenen Themen und hat mit dem Bahnpark, dem Fugger und Welser Erlebnismuseum, dem Gaswerksmuseum und dem Staatlichen Textil- und Industriemuseum in der jüngsten Zeit weitere bedeutende Museen erhalten.
Administrativ wurden mehrere große Museen wie das Schaezlerpalais, das Maximilianmuseum und das Römische Museum in den Kunstsammlungen und Museen Augsburg zusammengefasst.
=== Theater und Bühnen ===
Das Staatstheater Augsburg, das bedeutendste der Stadt, besitzt ein Musiktheater-, Schauspiel- und Ballettensemble, das an mehreren Spielorten – im Großen Haus, in der brechtbühne, im hoffmannkeller, auf der Freilichtbühne am Roten Tor und in der Kongresshalle – auftritt.
Deutschlandweit bekannt ist die Augsburger Puppenkiste, ein Marionettentheater mit Produktionen wie Urmel aus dem Eis oder Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.
Mit dem Sensemble Theater besitzt Augsburg ein überregional bekanntes experimentelles Theater, das zunächst auf einer Freilichtbühne spielte und inzwischen eine eigene Spielstätte in der Kulturfabrik Augsburg unterhält. Die Stücke des S’ensemble Theaters reichen von Sprech-, Musik-, Improvisations- und Ausdruckstheater bis hin zu Performance und Installation.
Weitere Bühnen und Kulturhäuser widmen sich den verschiedenen Sparten des Theaters, etwa das städtische Kulturhaus Abraxas und das Romanistentheater der Universität.
Augsburg war bisher zweimal, 1985 und 2012, Veranstaltungsort der Bayerischen Theatertage, des größten bayerischen Theaterfestivals.
=== Kinos ===
Augsburgs Filmtheater haben eine lange Tradition. Die erste belegte Filmvorführung fand am 19. Oktober 1896 im Kaffeehaus Mercur am Judenberg statt, wo verschiedene Kurzfilme – zum Beispiel die Ankunft eines Zuges an einem Bahnhof – von einem Kinematographen vorgeführt wurden. In den Jahren danach kamen regelmäßig Schausteller mit ihren Wanderkinematographen auf verschiedene Volksfeste.
Das erste Kinogebäude zur Veranstaltung von Varieté meldete der Augsburger Lebensmittelhändler Fridolin Widmann im November 1906 behördlich an: Das Thalia-Theater darf sich damit als das älteste Kino der Stadt bezeichnen, auch wenn dieser Name erst 1909 sicher nachgewiesen ist.Viele frühe Kinos gibt es nicht mehr oder unter anderem Namen. Einen Einschnitt markierte um die Jahrtausendwende der Bau von zwei Multiplex-Kinos für Hollywood-Blockbuster, einem Cinestar am Hauptbahnhof und einem CinemaxX in der City-Galerie, die das Ende traditioneller Filmtheater wie Capitol, Dreimäderlhaus oder Filmpalast bedeuteten. Einige kleinere Kinos hielten sich größtenteils als Programmkinos, die auch andere Kulturveranstaltungen bieten (Liliom, Mephisto, Savoy und Thalia). Jeden Sommer findet das Augsburger Lechflimmern mit täglichem Freilichtkino im Freibad am Plärrer statt.
Im Sommer 2006 feierte der bayerische Film Wer früher stirbt ist länger tot seine Premiere im Mephisto.
=== Musik ===
==== Bands und Interpreten ====
Augsburg ist der Heimatort einiger deutschlandweit bekannter Musikinterpreten und -bands. Bekannt ist die Band The Seer, die 1990 gegründet wurde und eine Mischung aus hymnenhaftem Rock und Folk-Elementen spielt.
Schon zehn Jahre früher wurde die Band Impotenz gegründet, die anfangs vor allem durch provokative Liedtexte auffiel. So wurde das Lied Nutten an die Macht vom Bayerischen Rundfunk sogar auf die Verbotsliste gesetzt. 1984 hätten sie eigentlich eine Single mit Roy Black aufnehmen wollen, was dieser aber gesundheitsbedingt absagen musste.
Augsburg bot schon in den 1960er Jahren ein gutes Pflaster für Bands, die sich vor allem auf lokaler Ebene einen Namen gemacht haben – so zum Beispiel The Roughroads oder The Shotguns. Dagegen sind vor allem in jüngerer Zeit die Popbands Nova International und Anajo bekannt geworden. Letztere vertrat das Bundesland Bayern 2007 beim Bundesvision Song Contest und erreichte den neunten Platz. Überregionale Berühmtheit hat inzwischen auch die Gruppe Dear John Letter erreicht, deren Post-Rock vor allem über das Internet bekannt wurde. Vor allem der Song Auf uns, den die ARD zum WM-Song für die Berichterstattung von der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien machte, verhalf auch Andreas Bourani, der in Augsburg geboren und aufgewachsen ist, zu großer Popularität in Deutschland.
Roy Black, der als Beatsänger mit The Cannons begann, dann aber durch seine Schlager (zum Beispiel Du bist nicht allein) berühmt wurde, ist kein gebürtiger Augsburger, sondern stammt aus dem Dorf Straßberg wenige Kilometer südlich. Seine gesamte Jugend verbrachte er dennoch in der Fuggerstadt, da er am dortigen Holbein-Gymnasium das Abitur absolvierte.
Viele bekannte Augsburger Bands sind auf dem Album 2000 Töne zu hören, das anlässlich des 2000. Geburtstages der Stadt aufgenommen wurde.
==== Chöre ====
Als bedeutendster Chor Augsburgs gelten die Domsingknaben, ein reines Jungenensemble, das unter dem Patrozinium des Doms St. Mariä Heimsuchung steht, weswegen die Sänger früher auch Marianer genannt wurden. Der Chor besitzt eine lange Tradition: Eine erste urkundliche Erwähnung findet sich 1439. Neben der regelmäßigen Gestaltung der gottesdienstlichen Liturgie im Dom bestreiten seine Mitglieder ständig Konzerte und Auslandsreisen und wurden auch durch etliche Platten- beziehungsweise CD-Aufnahmen bekannt.
Ebenso bedeutend ist der Philharmonische Chor Augsburg. 2018 feierte er das 175-jährige Jubiläum. Er ist ein Zusammenschluss der Augsburger Liedertafel (1843) und dem Oratorienverein Augsburg (1866). Aus diesen beiden Chören gingen die Albert Greiner Sing- und Musikschule (heute Sing- und Musikschule Mozartstadt Augsburg, kurz SuMMA) und die Musikschule (heute Leopold Mozart Zentrum der Universität Augsburg (LMZ)) hervor. Der Philharmonische Chor agiert zweimal jährlich gemeinsam mit den Augsburger Philharmonikern (die aufgrund des Drängens beider Chöre vor über 100 Jahren gegründet wurden) und bekommt in Gegenleistung die Philharmoniker für ein Chorkonzert im Jahr, das meistens im Kongress am Park stattfindet. Besonders bekannt ist der Chor für seine Aufführungen der Carmina Burana, aber auch für deutsche Erstaufführungen wie z. B. das Requiem von Andrew Lloyd Webber. Das Augsburger Weihnachtssingen (von Otto Jochum und Albert Greiner) wird jährlich zur Adventszeit im Goldenen Saal des Rathauses aufgeführt. Der Chor hat über 100 aktive Mitglieder und wird seit 1982 von Wolfgang Reß geleitet.Das Staatstheater Augsburg besitzt in seinem Ensemble einen hauseigenen gemischten Chor, der bei großen Opern- oder Musical-Produktionen eingesetzt wird, daneben aber auch eigene Konzerte und Auftritte gibt.
Vor allem im Rahmen des Mozartjahres 2006 fand der Mozartchor Augsburg deutschlandweite Beachtung. Er wurde 1976 gegründet und besteht aus erfahrenen Laiensängern und -sängerinnen. Sein Repertoire umfasst dabei hauptsächlich Oratorien, die zusammen mit namhaften Solisten oder Orchestern aufgeführt werden.
Daneben besteht eine Vielzahl weiterer Chöre, die größtenteils zu christlichen Gemeinden oder Organisationen, Musik- und allgemeinbildenden Schulen gehören. Hierbei zeichnen sich vor allem die gemischten Chöre der ehemaligen Albert Greiner Sing- und Musikschule, seit 2010 Sing- und Musikschule Mozartstadt Augsburg, und des Gymnasiums bei St. Stephan aus, die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind.
Seit 2017 besteht das Augsburger Knabenchorarchiv zur Pflege der Knabenchorgeschichte.
==== Orchester ====
Die Bayerische Kammerphilharmonie stellt das bekannteste Orchester Augsburgs, obwohl sie erst 1990 gegründet wurde. Das Kammerorchester widmet sich vor allem der Interpretation klassischer und zeitgenössischer Musik und hat sich mittlerweile in der Musikwelt etabliert, was nicht zuletzt an zwei bedeutenden Auszeichnungen liegt, die ihm 1996 verliehen wurden: Der Förderpreis der europäischen Wirtschaft und der Kulturpreis der europäischen Regionen.
Die Augsburger Philharmoniker sind das größte Orchester der Stadt und Teil des Staatstheater Augsburg. Im Theater wirkt es an bis zu 120 Musiktheater-Vorstellungen im Jahr teil und hat eine eigene Sinfoniekonzert-Reihe im Kongress am Park. Die 70 Musiker treten daneben aber auch eigenständig oder in Zusammenarbeit mit anderen Chören auf.Weitere Orchester werden von vielen Schulen, Organisationen und Musikliebhabern gestellt, die in der Stadt für einen großen musikalischen Veranstaltungskalender sorgen.
=== Kulturelle Veranstaltungen ===
Augsburg kann über die Jahrhunderte auf etliche bedeutende Bürger zurückblicken, deren Jubiläen der Stadt Anlass zu großen Veranstaltungen gaben. So finden in regelmäßigen Abständen große Ereignisse mit der Thematik Bertolt Brecht statt, unter anderem Literaturprojekte oder Theateraufführungen. Seit 2010 findet jährlich das Brechtfestival statt.
Mit Beginn des Jahres 2006, dem sogenannten Mozart-Jahr, präsentierte sich Augsburg als deutsche Mozartstadt, da Wolfgang Amadeus Mozarts Vater Leopold Mozart und dessen Familie aus der Region stammten und selbst W. A. Mozarts (angebliche) Jugendliebe Maria Anna Thekla Mozart eine Bürgerin der Stadt war. In diesem Rahmen fanden zahlreiche Konzerte und Vorträge in Kooperation mit der Deutschen Mozart-Gesellschaft (DMG) und der 2011 mit der DMG fusionierten, seit 1937 bestehenden, Mozartgemeinde Augsburg statt.
Seit 1985 finden jedes Jahr im März die Internationalen Filmtage Augsburg statt, die sich in vier Unterveranstaltungen aufgliedern lassen: Das Augsburger Kinderfilmfest, die Tage des unabhängigen Films, das Augsburger Kurzfilmwochenende und das internationale Symposium Cinema of Tomorrow für junge Filmemacher und -studenten. 2006 fiel das Festival wegen Finanzierungsproblemen aus, die jedoch im Herbst desselben Jahres beseitigt werden konnten, so dass die Filmtage auch in Zukunft stattfinden werden.Seit 2007 gibt es in Augsburg das Jugend- und Popkulturfestival Modular, das jährlich stattfindet und rund 30.000 Besucher an drei Tagen anzieht.
Ab 2013 fand jährlich das STAC - das Show-Festival (Kurz: Stac Festival, oder STAC) im Reese Theater, das sich auf dem alten Kasernenareal des Kulturpark West im Augsburger Stadtteil Kriegshaber befindet, statt. Das STAC ist aus einer freien Künstlergruppe junger Erwachsener, der Street Academy entstanden. Seit 2013 agiert die STAC Festival gGmbH als gemeinnütziges Unternehmen. Ende Mai 2019 verlor das STAC Festival durch die Schließung und letztendlich Abriss des Reese Theaters seinen ursprünglichen, ortsfesten Austragungsort. Auf der Suche nach einer neuen Örtlichkeit zeigte sich die Vielfalt an möglichen Veranstaltungsorten im Großraum Augsburg, wodurch eine neue Konzeptidee entstand. Um neue Einzugsgebiete an Künstlern und Zuschauern zu erreichen und mit regionaler, darstellender Kunst mehr Menschen begeistern zu können, wählte man nun mehrere Veranstaltungsorte im kompletten Ballungsraum.Jährlich findet auch das Augsburger Medienkunstfestival lab.30 statt, seit es im Jahr 2003 gegründet wurde. Gezeigt werden experimentelle lokale, regionale und internationale Projekte, die mit digitalen und analogen Technologien arbeiten.
Daneben gibt es etliche weitere Veranstaltungen jeder Art und Kunstrichtung, angefangen von Konzerten bis zu Kunst- und Kabaretttagen. So ist die Stadt unter anderem auch Schauplatz des Honky-Tonk-Festivals.
=== Sonstige Veranstaltungen ===
Der Augsburger Plärrer ist mit etwa 1,2 Millionen Besuchern pro Jahr das größte Volksfest in Bayerisch-Schwaben und das drittgrößte in Bayern. Der Plärrer findet zweimal jährlich auf dem sogenannten Kleinen Exerzierplatz bei den städtischen Freibädern statt: Einmal im Frühjahr (beginnend am Ostersonntag) und einmal im Spätsommer (Ende August/Anfang September) – er dauert dabei jeweils etwa zwei Wochen. Die Schausteller kommen dazu hauptsächlich aus Süddeutschland. Dieses Volksfest kann auf eine mehr als tausendjährige Tradition zurückblicken und lockt jedes Mal Tausende Besucher pro Tag an. Bertolt Brecht hat es im Jahr 1917 in seinem Gedicht Das Plärrerlied gewürdigt.
Eine zweite große Veranstaltung bildet die Augsburger Dult, ein ehemaliges Kirchenfest. Hierbei entsteht eine fast einen Kilometer lange Budenstraße zwischen Jakobertor und Vogeltor (entlang der alten Stadtmauer), welche die typischen Waren eines Jahrmarktes anbietet. Die Dulten werden zweimal pro Jahr von Tausenden besucht: Einmal um Ostern (die sogenannte Frühjahrs- oder Osterdult) und um den 29. September, den St.-Michaels-Tag (die sogenannte Herbst- oder Michaelidult).
An diesem Tag besteht auch die einzige Möglichkeit im Jahr, das Turamichele, eine mechanisch bewegte Figur des Erzengels Michael, zu betrachten: Sie erscheint zu jeder vollen Stunde im untersten Westfenster des Perlachturms und verpasst dem Teufel jeweils so viele Stiche wie Glockenschläge. Auf dem Rathausplatz findet an diesem Tag zusätzlich ein großes Kinderfest statt.
Seit 2016 finden in der Augsburger Innenstadt einmal im Jahr die Augsburger Sommernächte statt. Dabei verwandeln sich Straßen, Plätze und Höfe in eine große Festzone mit unterschiedlicher Musik, exotischen und regionalen Leckereien und bunten Lichtkonzepten.Jährlich zur Adventszeit wird auf dem Rathausplatz der Augsburger Christkindlesmarkt aufgebaut, der schon 1498 in einem Protokoll erwähnt wird und somit zu den ältesten Weihnachtsmärkten Deutschlands gehört. Seit 1977 findet an den Adventswochenenden sowie zur Eröffnung und zum Abschluss des Marktes das „Engelesspiel“ statt, bei dem 24 Personen in Engelskostümen auf dem Balkon des Rathauses erscheinen.
Als Schauplatz des Augsburger Reichs- und Religionsfriedens von 1555, des ersten Vertrages für ein friedliches Zusammenleben von Katholiken und Protestanten, präsentiert sich Augsburg außerdem als „Friedensstadt“ und vergibt alle drei Jahre den Augsburger Friedenspreis, den unter anderem schon Michail Gorbatschow und Richard von Weizsäcker erhielten.
Auf dem Fischmarkt neben dem Rathaus befindet sich seit dem 1. Juli 2020 das bundesweit erste und immer noch bestehende „Klimacamp Augsburg“.
=== Nachtleben ===
Als Mittelpunkt des Nachtlebens gilt die Gegend um die Maximilianstraße mit einem breit gefächerten Angebot an Bars, Clubs und Cafés. Größere Diskotheken sind vor allem in den Außenbezirken der Stadt zu finden, ebenso kleinere Bars und Kneipen (in den Arbeitervierteln im Norden der Stadt vor allem sogenannte Boizen, im Süden der Stadt hauptsächlich studentisch geprägte Lokale).
=== Kulinarische Spezialitäten ===
Die bekannteste Augsburger Spezialität ist der als Zwetschgendatschi bekannte Blechkuchen, aus Hefe- oder Mürbeteig gebacken und mit halbierten Zwetschgen belegt, wurde angeblich in der Stadt erfunden. Der Kuchen ist in einem Augsburger Rezeptbuch von 1830 nachweisbar. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Spottbezeichnung Datschiburg für die Stadt und Datschibürger für die Einwohner belegt.Eine weitere in Augsburg verbreitete kulinarische Spezialität ist der Brätstrudel, ein aufgerollter Pfannkuchen mit einer Füllung aus Brät.
Typische Beilage zu Augsburger Gerichten sind Spätzle, teils auch als eigenes Gericht serviert – Kässpatzen werden mit Röstzwiebeln und Salat gereicht. Beliebt sind auch (Kraut-)Schupfnudeln und der Schweinsbraten, der nahezu überall in Bayern geschätzt wird.
=== Dialekt ===
Eine genaue Zuordnung des Augsburgerischen zu einer Sprachgruppe gestaltet sich schwierig, da die Stadt die Grenze verschiedener Verbreitungsgebiete von Mundarten bildet und somit die dortige Sprache von vielfältigen Einflüssen geprägt ist. Prinzipiell ist der Dialekt den ostschwäbisch-alemannischen Mundarten zuzuordnen, ist aber auch mit mittel- beziehungsweise südbairischen Dialektformen durchsetzt. Vor allem die jüngeren Generationen sprechen heutzutage einen stärker vom Hochdeutschen und Bairischen geprägten schwäbischen Dialekt.
Augsburgerisch liegt wie alle alemannischen Dialekte südwestlich der fest-fescht-Linie: historisches /s/ ist vor /t/ (und seltener /p, b/ und /k/) in allen Positionen zu /ʃ/ verschoben, zum Beispiel ist → isch; weißt → woisch; Augsburg → Augschburg; und dem standarddeutschen Satz „könntest du mir nicht einmal zeigen, wie ich das am besten zu tun habe“ entspricht dialektales kénndsch mr ned amol zoiga, wia i dés âm beschda zom dua hâb/hâo. Weitere Merkmale sind das (für ganz Bayern charakteristische) gerollte alveolare [r] und die /n/-Apokope; zum Beispiel entspricht standarddeutschem sprechen mundartliches schprecha, und „der steinerne Mann“ lautet in der Ortsmundart dr schtoinarne Mâ (oder dr schtoinerne Mo), die Straßenbahn ist die Schtrossabô.
=== Zoo ===
Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde 1937 der Augsburger Zoo eröffnet, der nach Kriegsende mit exotischen Tieren bestückt wurde und mit jährlich mehr als 500.000 Besuchern heutzutage die meistbesuchte kulturelle Einrichtung Bayerisch-Schwabens darstellt.
== Sport und Freizeit ==
=== Sportvereine ===
==== Fußball ====
Seit der Spielsaison 2011/12 besitzt die Fuggerstadt mit dem FC Augsburg einen Verein in der Bundesliga, der sich erstmals in der Saison 2015/16 für die Teilnahme an der Europa League qualifizierte. Zuvor war dem 1907 gegründeten Club 2006 der Meistertitel in der Regionalliga Süd und damit nach 23 Jahren die Rückkehr in die 2. Bundesliga gelungen. Der FCA, dessen Talentschmiede unter anderem Helmut Haller, Christian Hochstätter, Bernd Schuster und Armin Veh durchliefen, ist Rekordmeister der Bayernliga und hatte auch in der Mitte der 1970er Jahre Glanzzeiten, als zu den Heimspielen durchschnittlich 23.000 Fußballbegeisterte kamen.
Daneben besteht mit dem TSV Schwaben Augsburg ein zweiter Fußball-Traditionsverein, der mehrmals in der Bayernliga spielte. Bekannt geworden sind die Schwaben aber vor allem durch ihre anderen Sportabteilungen, allen voran das Kanu- und Kajakteam (siehe Wassersport). Die Frauenfußballmannschaft des TSV Schwaben spielt derzeit in der Regionalliga Süd, wo zeitweise auch die Damen des TSV Pfersee Augsburg zu finden waren, mittlerweile aber bis in die Landesliga Süd abgestiegen sind.
Die TSG Augsburg 85 spielte zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges in der damals höchsten Klasse, der Gauliga Südbayern, und war 1964 der erste Meister der neu eingeführten Landesliga Süd. Nach einer kurzen Zeit in der Bayernliga versank der Verein zunehmend in den unteren Ligen. Ein ähnliches Schicksal erlebte auch der TSV Göggingen Augsburg, der nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise in der zweithöchsten deutschen Liga spielte, inzwischen aber in der Kreisliga Augsburg zu finden ist.
Bis zu seiner Auflösung 1995 war der in den 1970er Jahren von Kroaten gegründete Fußballverein FC Enikon Augsburg einer der erfolgreichsten Migrantenvereine Deutschlands und spielte in seiner letzten Spielzeit in der Bayernliga, der zu der Zeit vierthöchsten Liga im deutschen Fußballsystem. In derselben, inzwischen aber fünftklassigen Liga spielt nach seinem Aufstieg in der Saison 2018/19 derzeit Türkspor Augsburg.
==== Eishockey ====
Als beständigste Profimannschaft der Stadt spielen die Eishockey-Erstligisten Augsburger Panther in der DEL, in der sie 2010 den Vizemeistertitel erreichten. Als Meister der Zweiten Eishockey-Bundesliga in der Saison 1993/94 gehören sie zu den Gründungsmitgliedern der DEL.
Hervorgegangen sind die Panther aus dem 1878 als erster Eislaufverein Deutschlands gegründeten Augsburger EV, der nach wie vor für den Nachwuchsbetrieb zuständig ist. Früher stelle der Verein die Amateurmannschaft des DEL-Teams und nahm auch mit der Dameneishockeymannschaft – den Icecats – am Spielbetrieb teil. Mit der EG Woodstocks gibt es noch eine dritte Eishockey-Mannschaft in Augsburg, die derzeit in der Bayerischen Bezirksliga spielt.
==== Tennis ====
Augsburg verfügt über zwei traditions- und erfolgreiche Tennisvereine: Die Herrenmannschaft des TC Schießgraben Augsburg spielte schon in der Bundesliga, war in den letzten Jahren aber nur auf der Ebene der Bayern- oder Landesliga zu finden. Die Damenmannschaft nahm von 2011 bis 2012 an der 2. Bundesliga teil, stieg dann aber in die Regionalliga ab.
Die Damenmannschaft des TC Augsburg Siebentisch spielt derzeit in der Regionalliga, nahm aber auch schon an der Bundesliga teil. Im Jahr 2011 wurde der TCA vom Bayerischen Tennis-Verband als „Bayerischer Tennisclub des Jahres“ ausgezeichnet. Der gebürtige Augsburger Philipp Kohlschreiber begann seine Tenniskarriere bei diesem Verein.
==== Alpinsport ====
Die Sektion Augsburg des Deutschen Alpenvereins ist der zweitgrößte Verein der Stadt und befindet sich auf Rang 36 der größten Sportvereine Deutschlands. Innerhalb des Deutschen Alpenvereins stellt sie die elftgrößte und zugleich eine der ältesten Sektionen. Mit der Augsburger Hütte, der Otto-Mayr-Hütte und der Otto-Schwegler-Hütte betreibt sie drei Alpenvereinshütten, das Augsburger Biwak sowie zwei Sektionshütten. Die Sektion Alpen.Net ist die erste Internet-Sektion des DAV, sie hat ihren Sitz ebenfalls in Augsburg.
==== Wassersport ====
Mit der Errichtung des Eiskanals als Wildwasserstrecke im Rahmen der Olympischen Sommerspiele 1972 wurde in Augsburg auch das Bundesleistungszentrum für Kanuslalom und Wildwasser eingerichtet, das seit 1992 zudem Olympiastützpunkt ist. Dementsprechend verfügt Augsburg über zwei erfolgreiche Vereine im Kanusport: Sowohl Sportlerinnen und Sportler des Kanu Schwaben Augsburg, einer Abteilung des TSV Schwaben Augsburg, als auch des Augsburger Kajak-Vereins konnten etliche nationale und internationale Titel, darunter auch drei olympische Goldmedaillen aus den Jahren 1992, 1996 und 2008, erringen.
Der SV Augsburg wurde 1911 als Schwimmverein gegründet, wurde aber vor allem durch seine Wasserballabteilung bekannt. Der SV war 1969 Gründungsmitglied der Deutschen Wasserball-Liga und spielte von da an bis 1979 mit kurzen Unterbrechungen erstklassig. Der Augsburger Segler-Club ist einer der ältesten Segelclubs auf dem Ammersee und richtet jährlich mehrere nationale und internationale Regatten aus. Daneben kann der Verein auch mehrere international sehr erfolgreiche Segler zu seinen Mitgliedern zählen.
==== Andere Sportarten ====
Der Turnverein Augsburg 1847 ist der zweitgrößte Sportverein der Stadt und in den verschiedenen Sportarten mit sehr großem Erfolg tätig: So wurden deutsche Meisterschaften im Faustball, in der Rhythmischen Sportgymnastik, in der Turnerjugend-Gruppenmeisterschaft und im Inline-Skaterhockey errungen. In letzterer Sportart war die Skater Union Augsburg Gründungsmitglied der Bundesliga im Jahr 1996 und war dort bis 2001 vertreten.Vor allem in den Sportarten Hand- und Volleyball hat sich die DJK Augsburg-Hochzoll, ein 1999 erfolgter Zusammenschluss zweier bis dahin eigenständiger Vereine des DJK-Sportverbandes, ein hohes Ansehen verschafft. Ihre Mannschaften stiegen teilweise bis in die Erste Bundesliga auf. Ebenfalls Mitglied im DJK-Sportverband ist die DJK Augsburg-Lechhausen, die vor allem durch ihre Softballabteilung, die mehrere Jahre in der Bundesliga spielte, Bekanntheit genießt.
In der Leichtathletik hat die TG Viktoria Augsburg viele teilweise international erfolgreiche Sportler hervorgebracht, gewann aber außerdem mit der Volleyball-Damenmannschaft in der Saison 1984/85 die deutsche Meisterschaft, den DVV-Pokal und den CEV Cup, den dritthöchsten Europapokal-Wettbewerb für Vereinsmannschaften.Der Post SV Augsburg war Gründungsmitglied der Tischtennis-Bundesliga 1966 und konnte diese Klasse sechs Jahre lang halten. Erst dann musste das Team absteigen und konnte seitdem nie mehr an die alten Erfolge anknüpfen. Bekannte Spieler in der Mannschaft waren Peter Stähle, Toni Breumair und Martin Ness. Der TSV Haunstetten spielte im Tischtennis ebenfalls teilweise in der höchsten deutschen Liga und besitzt daneben vor allem eine erfolgreiche Handballabteilung: Die Damenmannschaft spielt derzeit in der 2. Handball-Bundesliga.
Der Freiballonverein Augsburg betreibt seit 1901 Ballonsport in Augsburg und ist damit der weltweit älteste aktive Luftsportverein. Der SV Reha Augsburg hat sich als einziger Verein der Stadt dem Behindertensport verschrieben. Die Rollstuhlbasketballabteilung des Vereins spielte zeitweise in der Bundesliga und tritt derzeit in der Oberliga Süd an.Der BCA Augsburg tritt seit 2018 in der Schachbundesliga an.
=== Sportveranstaltungen ===
Das größte sportliche Ereignis in Augsburg ist der alljährlich im Sommer ausgetragene Augsburger Stadtlauf, der 2008 annähernd 5000 Profi- wie Freizeitsportler anlocken konnte. In vier Disziplinen können sich sämtliche Teilnehmer miteinander messen, wobei die vorderen Plätze mit Geldpreisen dotiert sind. Der Stadtlauf ist die größte Breitensportveranstaltung in Bayerisch-Schwaben.Eine zweite Großveranstaltung ist die RT.1 Skate Night Augsburg, die ebenfalls jährlich zu mehreren Terminen im Sommer stattfindet. Benannt ist sie nach dem Hauptsponsor, einem lokalen Radiosender. Dabei fahren durchschnittlich 4000 Inlineskaten-Begeisterte verschiedene Strecken über zu diesem Anlass abgesperrte Straßen und Plätze der Großstadt, die für einige Stunden nur ihnen gehören.Der Weltcup im Kanusport macht jährlich Halt in Augsburg, wo mit dem Eiskanal die älteste und eine der bekanntesten künstlichen Wildwasser-Anlagen der Welt existiert und ferner das Bundesleistungszentrum für Kanuslalom und Wildwasser seinen Sitz hat. Der mehrere Tage dauernde Weltcup zieht jährlich Tausende Sportbegeisterte an. 1985 und 2003 gastierten hier außerdem die Weltmeisterschaften im Kanusport, deren Austragung vom 26. bis 31. Juli 2022 erneut in Augsburg vorgesehen ist.Seit 2019 finden in Augsburg die „Schwaben Open“, ein Turnier im Herrentennis und Teil der ATP Challenger Tour, auf dem Gelände des TC Augsburg statt.
Daneben finden an verschiedenen Orten in der Stadt zahlreiche andere Sportveranstaltungen statt, die sich vor allem an junge Menschen wenden. Der Perlachturmlauf ist der älteste und bekannteste Treppenlauf in Deutschland und findet jedes Jahr am Tag der Deutschen Einheit statt. Eine Kuriosität ist der jährliche Augsburger Rückwärtslauf, der seit 2000 immer am Faschingsdienstag ausgetragen wird. Im Jahr 2007 fiel er aus.
Augsburg war mit der 2009 eröffneten impuls arena ein Austragungsort für Spiele der Frauen-Fußballweltmeisterschaft 2011 und für Spiele der U-20-Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2010.
=== Freizeit- und Sportanlagen ===
Als eine der bekanntesten Sportstätten in Augsburg darf das von 1949 bis 1951 erbaute Rosenaustadion bezeichnet werden, das nach seiner Eröffnung als eines der modernsten Stadien in Europa galt. Vor allem bis zur Einweihung des Münchener Olympiastadions hatte es eine immense Bedeutung für Sportveranstaltungen in Deutschland und war unter anderem Schauplatz der deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1953 und 1963, mehrerer Vorrundenfußballspiele der Olympischen Sommerspiele 1972 sowie einiger Leichtathletik-Ländervergleiche – so erwarb unter anderem Ludwig Müller seinen Ruf als „Held von Augsburg“. Heutzutage dient es einigen Frauen- und Nachwuchsmannschaften des FC Augsburg für die Austragung ihrer Heimspiele.
Die Vormachtstellung des Rosenaustadions als größte Augsburger Sportstätte ging 2009 mit der Eröffnung eines neuen Fußballstadions nach über fünfzig Jahren zu Ende. Das unter dem Projekttitel „Augsburg Arena“ geplante Stadion wird nach dem aktuellen Sponsor als WWK-Arena bezeichnet. Der Neubau dient als reines Fußballstadion für den Bundesligisten FC Augsburg, daneben fanden hier bereits Großveranstaltungen wie Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011 oder der U-20-Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2010 statt. Derzeit fasst das Stadion mit Stehplätzen 30.660 Zuschauer, bei internationalen Spielen aufgrund der dann ausschließlich vorhandenen Sitzplätze 28.367 Zuschauer.Das am 2. November 1963 eröffnete Curt-Frenzel-Stadion wird von den Augsburger Panthern für ihre Heimspiele in der DEL, der höchsten Eishockeyliga in Deutschland, benutzt. Das Bauwerk galt bei seiner Eröffnung als ein Meisterwerk der Sichtbeton-Bauweise und diente 1981 als einer der Spielorte der Eishockey-Weltmeisterschaft der Junioren. In den letzten Jahren wurde das Stadion modernisiert und vollständig zur Halle geschlossen.
Die Sporthalle Augsburg, heute Erhard-Wunderlich-Sporthalle, wurde 1965 als erstes großes Hallenbauwerk in Augsburg nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet und gilt wegen ihrer Hängedachkonstruktion aus Spannbeton als architektonische Meisterleistung, was 2003 durch eine Eintragung in die Denkmalliste gewürdigt wurde. Während sie bei den Olympischen Sommerspielen 1972 Schauplatz einiger Handball- und Basketball-Spiele war, wird sie heutzutage vor allem für Konzerte und Auftritte von Künstlern genutzt.
Als dritter Austragungsort von Wettbewerben der Olympischen Spiele von 1972 diente der eigens für diesen Zweck errichtete Augsburger Eiskanal, in dem sämtliche Kanusportdisziplinen stattfanden. Die erste künstliche Wildwasserstrecke der Welt besitzt eine Tribüne für 24.000 Zuschauer und ist nach wie vor für Weltcups im Kanuslalom in Betrieb sowie seit 2019 UNESCO-Weltkulturerbe als Teil des Augsburger Wassermanagement-Systems. Im Juli 2020 erfolgte der Spatenstich zur Generalsanierung der Anlage als Vorbereitung auf die Ausrichtung der Kanuslalom-Weltmeisterschaften 2022.Nach der WWK Arena und dem Rosenaustadion ist das Ernst-Lehner-Stadion das dritte große Fußballstadion der Fuggerstadt, in dem der TSV Schwaben Augsburg seine Heimspiele austrägt. Es befindet sich auf dem Gelände der Bezirkssportanlage Süd, einer großen Sportanlage am westlichen Rand des Siebentischwaldes mit vielen Sportplätzen und Laufwegen (unter anderem dem Max-Gutmann-Laufpfad).Daneben bestehen weitere Sportanlagen wie die Bezirkssportanlage Haunstetten (ein Stadion mit 400-Meter-Kampfbahn für Leichtathletik und 500-Meter-Sandbahn für Sandbahnrennen, in dem seit den 1970er Jahren internationale Rennen stattfinden), die Bezirkssportanlage Paul Renz (mit dem Nachwuchsleistungszentrum des FC Augsburg), die Karl-Mögele-Sportanlage in Göggingen und die Anton-Bezler-Sporthalle im selben Stadtteil. Im Stadtteil Lechhausen existiert seit 1988 die 200-Meter-Hallen-Radrennbahn der Radsportgemeinschaft Augsburg e. V.
Augsburg bietet fünf Hallen-Schwimmbäder, das Alte Stadtbad, das Spickelbad sowie die Hallenbäder Haunstetten und Göggingen. Das Plärrerbad steht derzeit nur Vereinen zur Verfügung. Sie werden ergänzt von fünf Freibädern, dem Familienbad, dem Bärenkeller- und dem Lechhauser-Bad sowie dem „Fribbe“ und dem Naturfreibad Haunstetten.
=== Grünanlagen und Parks ===
Schon vor der 1997 erlangten Auszeichnung als Grünste und lebenswerteste Stadt Europas stand Augsburg in dem Ruf, eine außerordentlich hohe Zahl an Grünflächen, Parks und Gärten zu besitzen. Diese lockern die eng bebauten urbanen Räume vielerorts auf und bieten den Bewohnern eine Möglichkeit zur Ruhe und Entspannung.
Als bekanntester Park gilt die Anlage am Königsplatz im Herzen der Stadt. Die baumbestandene Grünfläche mit einem Brunnen in ihrer Mitte liegt direkt neben dem gleichnamigen Haltestellendreieck, das dem Öffentlichen Nahverkehr als Hauptknotenpunkt von Straßenbahnen und Bussen dient. Der Park wurde ab 1911 im Zuge der Neugestaltung des Bahnhofsviertels angelegt und besitzt heute den zweifelhaften Ruf, nachts vor allem Alkoholikern und Drogensüchtigen als Treffpunkt und Umschlagsplatz zu dienen. Mit dem Umbau des Königsplatzes 2013 wurde er deutlich kleiner, ein Teil der früheren Fläche ist nun gepflastert.
Gegen einen geringen Eintrittspreis bietet der Botanische Garten am nördlichen Ende des Siebentischwaldes dem Besucher auf einer Fläche von etwa zehn Hektar vielfältige Gartenanlagen wie den Japanischen oder den Bauern- und Apothekergarten. Insgesamt sind auf dem Gelände mehr als eine Million Zwiebelpflanzen, über 1200 Sorten Farne, Gräser, Stauden und Wildkräuter, 280 Rosen- und 450 Gehölzarten sowie in Glashäusern weitere 1200 Pflanzenarten zu betrachten.
Der Wittelsbacher Park ist mit einer Fläche von 20,8 Hektar die größte Grünanlage im bebauten Stadtgebiet und seit 1980 ein Landschaftsschutzgebiet, das neben dem eigentlichen Park auch den nordöstlich gelegenen Stadtgarten und den Abhang zum Wertachtal umfasst. Den Namen des Adelsgeschlechtes Wittelsbacher erhielt die Anlage erst 1906, die Vorläufer existierten aber schon erheblich früher. Bis zum Bau des Messegeländes fand auf diesen Freiflächen die jährliche Augsburger Frühjahrsausstellung statt. Unter dem Wittelsbacher Park wurde 1944 ein kilometerlanges Luftschutzstollen-System gegraben, das noch in Teilen erhalten ist.
Obwohl der Hofgarten schon von 1739 bis 1744 angelegt wurde, ist er erst seit 1965 für die Öffentlichkeit zugänglich, da er sich auf dem Grundstück der Bischofsresidenz befindet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diente der Park lange Zeit als Obstgarten. Erst während seiner Renovierung in den 1960er Jahren wurden hier verschiedene Bäume, Sträucher, Blumenbeete, Buchshecken und -pyramiden gepflanzt, die dort heute ebenso zu bewundern sind wie ein Seerosenteich und ein großer Springbrunnen.
Der geschichtsträchtige Stadtpflegeranger ist der Rest des ursprünglich wesentlich größeren Angers von etwa 1820 vor dem Alten Einlaß am westlichen Altstadtrand und heute eine kleine Grünanlage inmitten des Bauensembles Justizpalast, Staats- und Stadtbibliothek, St.-Anna-Grundschule und Stadttheater (Staatstheater). Eine „Geschichtssäule“ aus den 1970ern informiert über zweitausend Jahre Stadtgeschichte.
== Wirtschaft und Infrastruktur ==
=== Verkehr ===
==== Straßenverkehr ====
Die wichtigste Fernverkehrsstraße im Stadtgebiet stellt die Bundesautobahn 8 in Richtung München und Stuttgart dar, an die Augsburg mit zwei direkten Anschlussstellen in Kleeblattform angebunden ist (Augsburg-Ost und Augsburg-West). Drei weitere Anschlussstellen befinden sich in den Vorstädten Dasing, Friedberg und Neusäß.
Daneben ist Augsburg an drei Bundesstraßen angebunden: Die B 2 und B 17 führen in Nord-Süd-, die B 300 in Ost-West-Richtung durch die Stadt.
Die „Gelbe Autobahn“ B 2 erreicht Augsburg von Norden und geht im Bereich der nördlichen Stadtgrenze in die ebenfalls autobahnähnliche B 17 (Westtangente) über, die im Stadtgebiet mehrspurig ausgebaut, teilweise tiefer gelegt und ausschließlich kreuzungsfrei mit Ausfahrten versehen ist. Die B 17 verlässt Augsburg dann in Richtung Süden und ist bis zur A 96 autobahnähnlich ausgebaut. Der Ausbau des Teilstückes zwischen Klosterlechfeld und der A 96 wurde im Jahre 2009 fertiggestellt. Die B 17 bekam im Abschnitt von Stadtbergen bis Oberhausen den Namen der Augsburger Partnerstadt Dayton zugeteilt und heißt dementsprechend Dayton-Ring. Die B 300 ist nur im direkten Stadtgebiet und den Vororten mehrspurig ausgebaut, anschließend verengt sie sich auf eine Spur pro Fahrtrichtung.
Mit der Schleifenstraße wurde in über zehn Jahren Bauzeit von 1993 bis 2004 (Planungen gehen bis in die 1930er Jahre zurück) eine Süd-Ost-Verbindung von der Blücherstraße in Lechhausen bis zur B 300 (Haunstetter Straße im Hochfeld) geschaffen. Die Trasse ist durchgehend vierspurig ausgebaut und führt von Lechhausen über eine vierte, neu gebaute Lechbrücke weiter durch das Textilviertel, taucht in Höhe der Provinostraße in einem 480 Meter langen Tunnel, erscheint nach Unterfahrung der B 300 (Friedberger Straße) wieder an der Oberfläche, umfährt das Rote Tor weitläufig und mündet im Hochfeld in die B 300. Der Name Schleifenstraße kommt daher, dass durch die Straße eine schleifenförmige Umfahrung der Innenstadt mit ost- und westseitigem Anschluss an die Autobahn entstanden ist, wobei die südöstliche Innenstadt rund um das Rote Tor vom Durchgangsverkehr entlastet wurde. Wie auf der B 17 wurden die einzelnen Straßen nach den Augsburger Partnerstädten benannt und die Namen Inverness-, Nagahama- oder Amagasaki-Allee.
Die Umweltzone, die das innere Stadtzentrum umfasst, wurde am 1. Juli 2009 aktiviert. Zum 1. Juni 2016 trat die dritte Stufe in Kraft. Es dürfen nur noch Autos mit grüner Plakette in die Umweltzone einfahren.Der Anteil des Fahrradverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen in Augsburg nach dem Modal Split lag 2003 bei 16,7 %. 2008 lag der Wert bei 13,4 %. Das entspricht dem Durchschnittswert der untersuchten Städte 2008. 87,5 % aller Augsburger besitzen laut der Verkehrserhebung 2008 „Mobilität in Städten“ ein Fahrrad. Augsburg ist Sitz des Kreisverbandes Augsburg des ADFC mit der Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt Bikekitchen Augsburg.
==== Öffentlicher Personennahverkehr ====
Das gesamte Stadtgebiet ist Teil des Augsburger Verkehrsverbunds (AVV), der sich über ganz Mittelschwaben erstreckt, und wird von der Augsburger und der Gersthofer Verkehrsgesellschaft durch fünf Straßenbahn-, 27 Stadtbus- und sechs Nachtbuslinien sowie verschiedene Taxisammeldienste erschlossen.
In den vergangenen Jahren wurde das Straßenbahnnetz durch Neubaustrecken zur Universität (1996), zur nördlichen Stadtgrenze (2001), zum Universitätsklinikum (2002), nach Friedberg (2010) und Königsbrunn (2021) auf mittlerweile 49,8 Kilometer erweitert. Ferner befindet sich eine weitere Straßenbahnlinie in Planung. Von 1943 bis 1959 ergänzte außerdem der Oberleitungsbus Augsburg den städtischen Schienenverkehr.
Daneben werden alle sieben Bahnhöfe der Stadt von sechs AVV-Regionalbahnen von der Deutschen Bahn und der Bayerischen Regiobahn zu regelmäßigen Taktzeiten bedient, die in Zukunft auf ein S-Bahn-ähnliches System erweitert werden sollen. Dabei sollte mit der Wiederinbetriebnahme des Bahnhofes Hirblingerstraße ein achter Haltepunkt eingerichtet werden, diese Planungen wurden allerdings wieder aufgegeben.
Den Regionalverkehr übernimmt eine große Zahl an Omnibusunternehmen im Auftrag des Augsburger Verkehrsverbundes (AVV), wobei viele Buslinien bis zum Augsburger Hauptbahnhof verkehren und so teilweise für den innerstädtischen Nahverkehr genutzt werden können.
Als Hauptknotenpunkt für die städtischen Straßenbahn- und Buslinien dient der Königsplatz („Kö“). Nachdem ein 1914 östlich der Konrad-Adenauer-Allee errichteter Pavillon, von der Bevölkerung Pilz genannt, seine Kapazitätsgrenzen erreicht hatte, wurde 1977 nach zweijähriger Bauzeit ein größeres Haltestellendreieck auf der anderen Straßenseite eröffnet. Ein weiterer Umbau sollte bis zum Jahre 2009 durch zusätzliche Bahnsteige und Straßenbahngleise die Kapazitäten erweitern. Am 25. November 2007 gab es zunächst einen Bürgerentscheid gegen den geplanten Umbau, dem mit 53,2 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 24,2 Prozent) entsprochen wurde, so dass sich der Umbau verzögerte und erst 2011 (nach einem nun positiven Votum der Bürger) begonnen werden konnte. Im Rahmen der Mobilitätsdrehscheibe Augsburg wurde der neue Königsplatz am 15. Dezember 2013 eröffnet. 2016 wurde am Königsplatz nach lauter Kritik über Raucher ein selbstfahrender Roboter eingeführt, der Raucher mit Hilfe eines Schildes auffordert, den Kö rauchfrei zu halten und das Rauchen einzustellen. Der Roboter wurde auf den Namen Swa*lly getauft, einem Kofferwort aus SWA und der fiktiven Kinofigur Wall-E. An jedem 7. eines Monats ist der Roboter anzutreffen. Gesteuert wird der Roboter verdeckt von einem swa-Mitarbeiter via App. Entwickelt und gebaut wurde Swa*lly von Mitgliedern des Open-Lab Augsburg.Im April 2016 installierten die Stadtwerke Augsburg in einem Pilotprojekt an den Straßenbahnhaltestellen Haunstetter Straße und der Von-Parsewal-Straße sogenannte Bompeln um die Verkehrssicherheit an viel frequentierten Stationen zu erhöhen. Diese warnen Fußgänger, insbesondere Smombies, mit zusätzlich in der Straße eingelassenen LED-Lichtern. Wenn sich eine Straßenbahn nähert, blitzen die Lichtstreifen rot, so dass Fußgänger alarmiert werden. Zwar gab es 2010 in Frankfurt am Main bereits ein ähnliches Projekt, das aber kaum Beachtung fand. Erst das Projekt in Augsburg erfuhr weltweites Interesse. Die internationale Presse, darunter die Washington Post und Yomiuri Shimbun (größte Tageszeitung Japans), berichteten von dem Projekt. Die Idee wurde, teilweise noch im selben Jahr, in anderen Städten wie beispielsweise Sydney in Australien oder San Cugat del Vallès in Spanien ebenfalls übernommen. Die Bodenampeln sind nach wie vor bei den beiden Haltestellen angebracht, jedoch werden keine zusätzlichen mehr geplant. Das Projekt kam zu dem nüchternen Ergebnis, dass die Verkehrssicherheit durch Bompeln nicht erhöht werden kann. Jürgen Fergg, Stadtwerke-Sprecher sagte diesbezüglich: „Die Menschen sind aufmerksamer, gehen aber trotzdem bei Rot.“Seit Januar 2020 gibt es in Augsburg eine kostenfreie City-Zone, die 9 von 281 Haltestellen umfasst. Strecken von bis zu drei Stationen können so im Innersten der Innenstadt kostenlos mit Bus oder Tram zurückgelegt werden.
==== Das Projekt Mobilitätsdrehscheibe ====
Unter dem Begriff Mobilitätsdrehscheibe versteht man mehrere Einzelprojekte der Stadt Augsburg, durch die der Nahverkehr in der Stadt moderner und attraktiver gestaltet werden soll. Dabei sind die Schaffung neuer Straßenbahnlinien, der Ausbau der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Königsplatz und Hauptbahnhof sowie die Einrichtung eines S-Bahn-ähnlichen Systemes, des Regio-Schienen-Takts Augsburg, vorgesehen.Der Baubeginn für den ersten Teil des Großprojekts erfolgte am 28. Juni 2007 mit dem Spatenstich für die neue Tramlinie 6 zwischen dem Hauptbahnhof und Friedberg-West. Dieses Projekt konnte mit Eröffnung im Dezember 2010 abgeschlossen werden. Ein weiteres Teilprojekt war der Ausbau des Königsplatzes, es wurde 2013 abgeschlossen.
Weitere, aufeinander abgestimmte Einzelprojekte sind unter anderem:
Umbau des Hauptbahnhofs zu einer modernen Drehscheibe, die alle Schienenverkehre miteinander verbindet
Neubau der Straßenbahnlinie 5 vom Hauptbahnhof zum Klinikum
Verlängerung der Straßenbahnlinie 1 vom Neuen Ostfriedhof bis zum Regionalbahnhof Augsburg-HochzollAufgrund der Komplexität und Auswirkungen in unterschiedlichen Interessensbereichen sind in den Projektarbeiten diverse Fachstellen, Gremien und Interessensgruppen involviert.
==== Güterverkehrszentrum Region Augsburg ====
Das Güterverkehrszentrum Augsburg (GVZ) ist ein Logistik-Zentrum im Dreieck der Städte Augsburg, Gersthofen und Neusäß. Dort werden Güter zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern umgeladen, für Ladungen zusammengestellt und für Transportfahrten vorbereitet. Am GVZ werden unterschiedliche Verkehrsträger (Straßenverkehr, Schienenverkehr und Luftfracht), Verkehrsunternehmen (Speditionen, Lagereien), verkehrsergänzende Dienstleistungsbetriebe (Fahrzeugservice, Beratungsdienste) sowie logistikintensive Industrie- und Handelsbetriebe zusammengeführt und vernetzt. Die räumliche Nähe fördert die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung der angesiedelten Unternehmen. Das Augsburger Güterverkehrszentrum hat eine zentrale Lage an Bahn- und Straßenverbindungen. So ist es zur Güterdrehscheibe in der Region Schwaben, zum Verteilungszentrum im alpenquerenden Verkehr, zum Zugangskorridor nach Süd- und Osteuropa und zum Hinterlandstandort für Seehafenverkehre geworden.Herzstück ist ein Umschlagterminal für den kombinierten Verkehr, das die Verkehrsträger Schiene und Straße verknüpft. Dieses Umschlagterminal wurde von der Augsburger Localbahn, der Spedition Roman Mayer und der Spedition Nuber als TIA – Terminalinvestitionsgesellschaft mbH in Kooperation mit der Bahn-Tochter DUSS geplant. Zum Jahreswechsel 2011/2012 war das etwa 20 Mio. Euro teure Terminal fertig.
==== Schienenverkehr ====
===== Allgemeines =====
Der Hauptbahnhof wurde von 1843 bis 1846 erbaut und ist Deutschlands ältester Bahnhof einer Großstadt, der noch im architektonischen Originalzustand in Betrieb ist. Unter dem Projektnamen Mobilitätsdrehscheibe Augsburg wird momentan eine komplette Modernisierung des Bahnhofs umgesetzt, die unter anderem die Errichtung einer unterirdischen Straßenbahnhaltestelle beinhaltet.Augsburg liegt auf der Magistrale für Europa. Eine europaweite geplante, durchgehende Schnellzugverbindung von Paris nach Bratislava, bzw. Budapest.Die Stadt besitzt derzeit sieben Bahnanlagen mit Bahnsteigen und etlichen sonstigen Bahnanlagen, unter anderem auch drei auf der Infrastruktur der Augsburger Localbahn (Augsburg Ring, Augsburg West, Augsburg AL-Messe). Der Hauptbahnhof ist die bedeutendste Bahnanlage. Er bildet das eine Ende der Schnellfahrstrecke Augsburg–München, der ehemals meistbefahrenen Eisenbahnstrecke Deutschlands (mittlerweile S-Bahn Stammstrecke in München), und ist ICE-, IC-, EC- und TGV-Station an den Strecken von München nach Berlin, Dortmund, Frankfurt am Main, Hamburg, Stuttgart, sowie nach Zürich, Paris (2× täglich durch den TGV umsteigefrei zu erreichen), Klagenfurt und Brüssel.
Weitere wichtige Betriebsstellen der Stadt sind Augsburg-Hochzoll, Augsburg-Oberhausen und Augsburg Haunstetterstraße, die halbstündlichen Anschluss an umsteigefreie Eisenbahnlinien in andere süddeutsche Städte wie Nürnberg, Weilheim, Ingolstadt oder Ulm besitzen. Die anderen Betriebsstellen Augsburg Morellstraße, Augsburg Messe und Augsburg-Inningen erfüllen vor allem Funktionen im Nahverkehr und werden nur von Regionalbahnen, selten von Regional-Expressen, bedient. Personenbahnhöfe im Sinne der EBO sind nun lediglich noch Augsburg Hochzoll und Augsburg Hbf. Der Hauptbahnhof hat als Bahnhofsteil noch Augsburg-Oberhausen, Augsburg Haunstetterstraße und Augsburg Morellstraße. Die übrigen Halte werden mittlerweile als Haltepunkt geführt. Seit Anfang 2020, mit Inbetriebnahme des Elektronischen Stellwerks (ESTW) Inningen, wird die frühere Haltestelle (Definition laut EBO) Augsburg-Inningen wieder als Bahnhof geführt.Erwähnenswert ist der ehemalige Bahnhof Augsburg Hirblingerstraße. Die Bahnsteige und Gleiskörper der Station blieben auch nach der Außerbetriebnahme Anfang der 1990er Jahre erhalten und werden regelmäßig befahren. Diese Tatsache ist neuerdings wieder von Bedeutung, da der Haltepunkt im Zuge der Einrichtung des Regio-Schienen-Taktes Augsburg wieder in Betrieb genommen werden soll. Dafür wären vor allem Renovierungsarbeiten an den Bahnsteigen, die Errichtung einer zeitgemäßen Zugangstreppe und die Anbringung einer Beleuchtung und Beschilderung vonnöten.
===== Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) =====
Augsburg hat als eine von wenigen Städten fünf eigenständige Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU). Das größte EIU ist die DB Netz. Es folgt die Augsburger Localbahn, die ebenfalls als Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) auftritt. Beim 2017 neu gegründeten Güterverkehrszentrum agiert ein Konsortium als Zweckverband Güterverkehrszentrum. Die DB Regio, sowie der meridian betreiben jeweils eigene Abstellanlagen und gelten damit nicht nur als EVU, sondern in dem Bereich auch als EIU. Diese befinden sich bei DB Regio links von der Hauptstrecke Augsburg – Buchloe (KBS 987) zwischen dem Haltepunkt Augsburg Messe und Augsburg Morellstraße. Beim meridian rechts vom Gleis auf selber Höhe.
===== Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) =====
Augsburg wird derzeit (Stand 03/2020) von folgenden Eisenbahnverkehrsunternehmen im Personennahverkehr bedient:
DB Regio Bayern (Zum Beispiel mit dem E-Netz Augsburg)
Bayerische Regionalbahn (Zum Beispiel mit dem Dieselnetz Allgäu I)
Augsburger Localbahn
Go Ahead (ab voraussichtlich 12/2022)Augsburg wird derzeit (Stand 03/2020) von folgenden Eisenbahnverkehrsunternehmen im Personenfernverkehr bedient:
DB Fernverkehr mit dem IC, ICE und teilweise dem EC.
ÖBB (Österreichische Bundesbahnen) mit EC, IC und ÖBB Nightjet.
SNCF (Société nationale des chemins de fer français / deutsch: Nationale Gesellschaft der französischen Eisenbahnen), mit der man jeweils 2× täglich mit dem TGV nach Paris bzw. nach München fahren kann.
===== Personenverkehr =====
Daneben verkehren sternförmig vom Hauptbahnhof aus sieben AVV-Regionalbahnlinien nach Mammendorf, nach Aichach/Kühbach-Radersdorf, nach Donauwörth, nach Dinkelscherben, nach Schwabmünchen, nach Klosterlechfeld sowie nach Schmiechen in Richtung Ammersee. Der Regionalbahnverkehr im E-Netz Augsburg wird seit 2008 zu S-Bahn-ähnlichen Taktzeiten betrieben und soll auf Dauer zum Regio-Schienen-Takt Augsburg ausgebaut werden. Betrieben werden die Regionalzuglinien von der DB Regio AG und seit Ende 2008 auch von der Bayerischen Regiobahn (BRB). Des Weiteren ist geplant, die Bahnstrecke Gessertshausen–Türkheim bis Langenneufnach zu reaktivieren und die Züge bis Augsburg durchzubinden. Betreiber wird die BRB im Auftrag der BEG durch den Vertrag „Augsburg Dieselnetz II“. Der Betriebsbeginn wurde auf Dezember 2022 verschoben.
===== Güterverkehr =====
Im Eisenbahngüterverkehr war Augsburg während der Stilllegung des Rangierbahnhofes durch die Deutsche Bahn zwischen dem 1. April 2005 und dem Neubau des Güterverkehrszentrum im Städtedreieck Augsburg/Gersthofen/Neusäß, das 2017 eröffnet wurde, kein Knotenpunkt. Zwischen 2007 und 2017 entstand ebendieses Güterverkehrszentrum zur Verlagerung des Straßengüterverkehrs auf die Schiene. Als Investoren treten örtliche Partner sowie die Deutsche Umschlaggesellschaft Schiene-Straße mbH (DUSS) auf. Dadurch ist seit 2017 der Anteil am Eisenbahngüterverkehr wieder stetig gestiegen. Mittlerweile ist Augsburg einer der Hauptknotenpunkte im süddeutschen Schienengüterverkehr. Auf der Nord-Süd-Achse bindet es die Nord- und Ostseehäfen und in Richtung Süden die Neue Eisenbahn Alpen Transversale (NEAT) Richtung Schweiz, Mailand und Ligurien an. Zugang zu den westlichen Häfen in Frankreich und Spanien bietet es via Stuttgart und Paris / Toulouse. Über den Brennerbasistunnel (BBT) bindet es Italien und über die Tauernroute Südosteuropa und die Adriahäfen an. Für den Zugang zum Schienennetz besteht heute bereits ein bimodales Umschlagterminal für den Kombinierten Verkehr. Das Terminal mit einer Kapazität von 24.000 Ladeeinheiten pro Jahr liegt im Augsburger Stadtteil Oberhausen. Die gesamte Nutzfläche der Bahnanlage liegt bei 10 Hektar.
===== Localbahn =====
Eine Besonderheit der Schwabenmetropole ist die 1898 gegründete Augsburger Localbahn, eine quer durch die Stadt verlaufende Eisenbahn, die großen Industrieunternehmen (zum Beispiel: MAN, Weltbild Verlag, AVA Abfallverwertung, MT Aerospace, PCI, BASF, BÖWE, Premium Aerotec) einen Anschluss an das Schienennetz verschafft. Teilweise verläuft die Trasse direkt neben Lech und Wertach. Am nördlichen Ende der Trassenführung bildet die Trasse die Grenze zur Wolfzahnau – einem Landschaftsschutzgebiet zwischen Lech und Wertach mitten in der Stadt.
Eine weitere Besonderheit ist, dass die Localbahn sowohl als Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), als auch als Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) innerhalb des Stadtgebietes auftritt. 2015 hatte die Localbahn ein Transportvolumen von rund 1 Million Tonnen und ist inzwischen auch auf Eisenbahnstrecken außerhalb der Stadt aktiv.
==== Luftverkehr ====
Im Nordosten der Stadt befindet sich der Flugplatz Augsburg (IATA: AGB), der 1968 neu eröffnet wurde, da die anderen Flugplätze der Stadt anderweitig genutzt wurden. Von 1980 an diente er als Regionalflugplatz mit etlichen innerdeutschen Zielen, bis 2005 der Linienverkehr eingestellt und der Flugplatz zu einem Verkehrslandeplatz herabgestuft wurde. Der Verkehrslandeplatz besitzt nur eine 1594 Meter lange Start- und Landebahn (07/25) in südwestlich/nordöstlicher Ausrichtung.Aufgrund der über die Jahre sehr stark gestiegenen Passagierzahlen war geplant, den Flugplatz auszubauen, was jedoch am Protest der Bewohner in den umliegenden Orten scheiterte. Da somit nur Passagiermaschinen mit bis zu 100 Personen landen können, stand die zivile Mitbenutzung des NATO-Fliegerhorstes Lechfeld in der Diskussion. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an den hohen zusätzlichen Kosten, welche die Bundeswehr für die Verlagerung der Munitionsdepots in Rechnung stellen wollte.
Zwischen 2003 und 2005 war Denim Airways als virtuelle Fluggesellschaft auf dem Flugplatz Augsburg beheimatet.
Durch die Einstellung des Linienflugverkehrs im Jahre 2005 war die Zukunft des defizitären Flugplatzes lange Zeit ungewiss, da die Stadt Augsburg als Mitgesellschafter die Flughafen Augsburg GmbH jährlich mit einer Million Euro bezuschussen musste, was in keiner Relation zum nunmehr erbrachten Nutzen stand.
Im April 2006 entschied man sich, den Verkehrslandeplatz in einen modernen City-Airport umzubauen, der hauptsächlich durch Geschäftsflieger angeflogen wird. Der Flugplatz Augsburg ist ein ständiger Zollflugplatz und somit auch für internationale Flugzeuge geeignet. Daneben entsteht ein 80.000 Quadratmeter großes Gewerbegebiet, das hauptsächlich für Betriebe, die Bezug zur Luftfahrt haben, erschlossen wird.
Auf dem Gelände gibt es eine Flugschule. Dort können sich Privat-, Berufs- und Hubschrauberpiloten sowie Segelflieger ausbilden lassen.Einmalig in Augsburg ist das ortsansässige Luftfahrtunternehmen 'Ballonfahrten Augsburg', welches für die Beförderung von Gästen in Heißluftballonen gegründet wurde. Die Firma wurde im Dezember 2013 vom Luftamt Südbayern und der Regierung von Oberbayern gemäß § 20 des Luftfahrtgesetzes genehmigt.
=== Wirtschaft ===
Die schwäbische Universitätsstadt bildet eine der drei Metropolen des Freistaates Bayern und liegt innerhalb der Metropolregion München. Sie ist einer der wichtigsten Industriestandorte Süddeutschlands.
Im Jahre 2016 erbrachte Augsburg, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 14,060 Milliarden € und belegte damit Platz 24 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 48.824 € (Bayern: 44.215 €/ Deutschland 38.180 €) und damit deutlich über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. In der Stadt gibt es 2017 ca. 195.100 erwerbstätige Personen. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 4,6 %.Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Augsburg Platz 68 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „hohen Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2019 lag sie auf Platz 49 von 401.
==== Großunternehmen ====
Augsburg ist durch seine gute Lage historisch bedingt ein bedeutender Industriestandort und war früher außerdem die Welthauptstadt der Textilindustrie, wobei die Unternehmen dieser Sparte inzwischen fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden sind.
Geprägt wird die Stadt vor allem durch die großen Werke der Industrieunternehmen. So befinden sich am Rande der Altstadt die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN), der Druckmaschinenhersteller manroland, der Getriebeproduzent Renk, die MT Aerospace als Unternehmen der Luft- und Raumfahrt, der zum chinesischen Beleuchtungsunternehmen MLS gehörende Leuchtmittelhersteller Ledvance (ehemals Osram), der seine Produktion in Augsburg jedoch Ende 2018 einstellte und bis Ende 2019 auch die Logistikbereiche aufgab und die Papierfabrik UPM-Kymmene (ehemals Haindl). Die Walter Bau AG, einst Deutschlands drittgrößter Baumanagement- und Bautechnologiekonzern, hatte im Textilviertel ihren Hauptsitz, ehe sie 2005 Insolvenz anmelden musste.
Den zweiten großen Industriestandort bildet Haunstetten im Süden Augsburgs, wo sich die Premium Aerotec, ein Tochterunternehmen der Airbus Group (ehemals Messerschmitt AG) und Fujitsu Technology Solutions GmbH im Bereich Computerentwicklung und -fertigung, die den Standort Augsburg jedoch im Jahr 2020 aufgrund einer Verlagerung nach Asien komplett schließen wird, sowie Siemens mit einem eigenen Technopark niedergelassen haben. Auch die BMK Group, Hersteller von elektronischen Baugruppen und Geräten, sowie PCI Augsburg GmbH als Hersteller von Dispersions- und Pulverprodukten für die Bauchemie sind in Haunstetten angesiedelt, genauso wie das Unternehmen Weltbild, bis 2014 der größte katholische Verlag und Versandhandel der Welt.
In Lechhausen im Osten Augsburgs sind der Industrieroboter- und Schweißanlagen-Hersteller KUKA und die NCR, die SB-Geräte für den Finanzbereich, Kassen- und Datenbanksysteme herstellt, zu finden.
Daneben bestehen als weitere Großunternehmen Böwe Systec, das Kuvertiersysteme und Komplettlösungen für Mailrooms entwickelt, Faurecia (ehemals Zeuna Stärker), das als Kfz-Zulieferer Abgassysteme für PKW, Motorräder und Nutzfahrzeuge herstellt, Kontron, das eingebettete Rechnertechnologie herstellt, und WashTec (ehemals Kleindienst), das Autowaschanlagen produziert.
==== Traditionsunternehmen ====
Entsprechend dem hohen Alter und der einstmals herausragenden Bedeutung der Stadt finden sich in Augsburg zahlreiche Betriebe mit teilweise jahrhundertelanger Tradition.
So gibt es mit der Augusta-Brauerei (seit 1488), der Brauerei zur Goldenen Gans (seit 1346), Hasen-Bräu (seit 1463), Thorbräu (seit 1582) und dem Brauhaus Riegele (seit 1884) allein fünf alteingesessene Brauereien, die zum Großteil noch heute für den lokalen Markt produzieren. Aus dem Hause Riegele stammt außerdem das bekannte Cola-Mischgetränk Spezi.
Die vor allem durch die Fugger und Welser entstandene Bedeutung im Finanzwesen spiegelt sich auch in den heute noch tätigen Kreditinstituten der Stadt wider: Die Fürst Fugger Privatbank entstand aus dem Handelshaus Fugger, das 1468 erstmals als „Bank“ bezeichnet wurde. Die Stadtsparkasse wurde 1822, die Kreissparkasse 1855 gegründet. 1914 gründete Anton Hafner das Bankhaus Hafner in der Maximilianstraße und mit der Augsburger Aktienbank entstand erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weitere bedeutende Bank.
Im Buch- und Verlagswesen bestehen mit der Schlosser’schen J. A. Buch- und Kunsthandlung (seit 1719), Rieger & Kranzfelder (seit 1731) und Anton Böhm & Sohn (seit 1803) ebenfalls traditionsreiche Unternehmen.
Weitere Traditionsfirmen sind unter anderem Dierig (seit 1805), die Parfümerie Naegele (seit 1835), J. N. Eberle & Cie. GmbH (seit 1836), die Eisenhandlung Siller und Laar (seit 1836), das Möbeltransportunternehmen H. Weissenhorn & Cie. (seit 1839), die Augsburger Turngerätefabrik Wallenreiter (seit 1858 – jetzt Wallenreiter Sportgeräte), die Hutfabrik Lembert (seit 1861), der Getriebehersteller Renk AG (seit 1873), Pfister Waagen (seit 1894), das Möbelspeditions- und Reiseunternehmen Domberger (seit 1897), die Ballonfabrik August Riedinger (seit 1897 – jetzt Augsburger Ballonfabrik) und die Hosokawa Alpine AG (seit 1898). Eines der ältesten Traditionsunternehmen, der Stadtfischer Schöppler (seit 1650), beendete 2014 seine Geschäftstätigkeit.
==== Weitere bedeutende Unternehmen ====
Außer den Groß- und Traditionsunternehmen sind folgende Unternehmen von hoher Bedeutung:
Amann Nähgarne, eines der wenigen noch vorhandenen Textilunternehmen, das Industrie-Garne produziert und nach der Übernahme der früheren Ackermann-Göggingen AG am Standort verblieben ist
VR Bank Augsburg-Ostallgäu eG, eine der hundert bilanzstärksten Genossenschaftsbanken Deutschlands mit starker Präsenz im regionalen Markt
Betapharm, ein bedeutsamer Generika-Hersteller
die Unternehmensgruppe Freudenberg, welche in ihrem Augsburger Betrieb Vileda-Haushaltsprodukte herstellt
die Hosokawa Alpine AG, ein im Maschinen- und Anlagenbau tätiges Unternehmen
die Patrizia AG, ein Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Wohnungsverwaltung und damit in Zusammenhang stehender Tätigkeiten
Grandel, ein bedeutender Kosmetikhersteller, dessen Gründungsstandort und Hauptsitz in Augsburg ist.
PCI Augsburg GmbH, ein führender Hersteller von Baustoffen und Systemlösungen, der seit 2007 zur BASF-Gruppe gehört.
Infineon, ein Halbleiterhersteller, der in Augsburg ein Entwicklungszentrum betreibt.
Synlab Holding Deutschland GmbH - Die Deutschlandzentrale und Gründungsort des Labor-Dienstleisters, dessen Dachgesellschaft, die SYNLAB AG mit Sitz in München an der Frankfurter Börse gelistet ist.
=== Tourismus ===
Augsburg ist vor allem durch die Fuggerei, das Rathaus und die Puppenkiste ein attraktives Ziel für Touristen aus dem In- und Ausland. Insgesamt 12.500 Menschen waren im Jahr 2010 in diesem Sektor in der Stadt beschäftigt und erwirtschafteten dabei einen Umsatz von 820 Millionen Euro – das entspricht etwa fünf Prozent des Volkseinkommens der Stadt.Im Jahr 2010 wurden 610.000 Übernachtungen registriert, was einen Zuwachs von fast 20 Prozent zum Vorjahr bedeutet – damit wies Augsburg in diesem Jahr den größten Zugewinn aller Großstädte in Deutschland auf. Durchschnittlich verblieb ein Gast für 1,9 Tage in der Region und hatte dabei im Stadtgebiet 3800 Hotelbetten zur Verfügung – 400 Betten mehr als noch im Jahr 2009. Etwa 400.000 Übernachtungen fallen auf Deutsche, unter den Ausländern sind Italiener am stärksten vertreten. Den größten Zuwachs verzeichneten von 1998 bis 2010 die Niederländer mit 154 Prozent und die Österreicher mit 81 Prozent.Auch in der umliegenden Region waren im Jahr 2010 Zuwächse zu verzeichnen: Der Landkreis Augsburg wies 392.000 Übernachtungen (ein Zuwachs von 3,6 Prozent), der Landkreis Aichach-Friedberg 171.000 Übernachtungen (ein Zuwachs von 5,9 Prozent) auf.Verschiedene Fernrouten berühren Augsburg. So die Romantische Straße, die Via Claudia und der Bayerisch-Schwäbische Jakobusweg.
=== Messen und Kongresse ===
Obwohl Augsburg eine lange Tradition als Messestadt besitzt, wurde das heutige Gelände der Messe Augsburg erst 1988 eröffnet. Bis dahin fanden derartige Veranstaltungen in Zelthallen auf Flächen des Wittelsbacher Parks statt.
Die Messe ist heute nach München und Nürnberg die drittgrößte in Bayern. Das Messegelände umfasst zwölf Hallen mit insgesamt 48.000 m² Ausstellungsfläche, 10.000 m² Freifläche und ein Kongress- und Tagungszentrum mit 3500 m². Die Schwabenhalle bietet bis zu 8.200 Besuchern Platz und dient regelmäßig als Veranstaltungsort für große Konzerte und Auftritte.Die wichtigsten Augsburger Messen sind die Augsburger Frühjahrsausstellung (afa), die Americana (internationale Ausstellung für Reitsport und Westernkultur), die interlift (internationale Fachmesse für Aufzugtechnik), die Intersana (internationale Gesundheitsmesse), die Jagen und Fischen (Internationale Ausstellung für Jäger, Fischer und Naturliebhaber), die RENEXPO (internationale Fachmesse für Regenerative Energien und Regeneratives Bauen und Sanieren) und die GLORIA Kirchen-Messe. Zu den wichtigen Kongressen zählt zum Beispiel die Konferenz Mobile Commerce Technologien und Anwendungen (MCTA).
Die Kongresshalle Augsburgs befindet sich im Stadtteil Antonsviertel unterhalb des Hotelturms und dient für Konzerte, Kultur- und Kongressveranstaltungen sowie für Verkaufsausstellungen jeglicher Art. Das 1972 eröffnete Gebäude in Sichtbeton-Bauweise bildet zusammen mit dem Hotelturm das Kongresszentrum Augsburg und bietet vier Säle und drei Foyers. Der Kongresssaal als größter Raum kann bis zu 1400 Besucher aufnehmen. Bei Veranstaltungen mit etwas größeren Besucherzahlen wird die Erhard-Wunderlich-Sporthalle, unweit des Kongresszentrums am Rand des Wittelsbacher Parks gelegen, genutzt. Sie kann bei vollständiger Bestuhlung bis zu 4000 Gäste aufnehmen, weshalb hier vor allem Konzerte und Auftritte von bekannten Künstlern stattfinden.
=== Medien ===
==== Zeitungen ====
Die einzige örtliche Tageszeitung ist die Augsburger Allgemeine, welche bei der Presse Druck- und Verlags-GmbH erscheint. Zusammen mit ihren Heimatausgaben (die denselben Zeitungsmantel besitzen und sich lediglich beim eigenen Lokalteil unterscheiden) erreicht sie täglich eine Auflage von rund 217.892 Exemplaren (IVW 2015) und ist damit die drittstärkste Regionalzeitung Deutschlands. Hauptsächlich gelesen wird sie im Stadtgebiet Augsburg sowie in Teilen von bayerisch Schwaben und Oberbayerns. Entscheidend geprägt wurde die Zeitung von den verstorbenen Herausgebern Curt Frenzel und Günter Holland sowie als Verlegerin dessen Frau Ellinor Holland, geborene Frenzel.
Tagesaktuell bietet seit 2008 auch Die Augsburger Zeitung (DAZ) online Lokalnachrichten, in erster Linie aus den Bereichen Politik und Kultur.Außerdem erscheint jeden Sonntag die Augsburger Sonntagspresse, die sich sowohl lokalen als auch deutschlandweiten Neuigkeiten widmet und an vielen Bus- und Straßenbahnhaltestellen, Bahnhöfen und Tankstellen der Stadt erhältlich ist. Wegen der vor allem auf Bilder und nur kurze Texte reduzierten Themen darf sie zu den Boulevardmedien gezählt werden.
Meistgelesene kostenlose Wochenzeitung mit redaktioneller lokaler Berichterstattung ist die 1978 gegründete StadtZeitung, die den Ballungsraum Augsburg (das Stadtgebiet mit den umliegenden Landkreisen Augsburg, Landkreis Dillingen und den Landkreis Aichach-Friedberg) in fünfzehn Lokalausgaben aufgeteilt hat (davon allein fünf im Stadtgebiet) und von der Mediengruppe Mayer & Söhne herausgegeben wird.Zum selben Verleger gehört auch das Stadtmagazin Augsburg Journal, das sich hauptsächlich den typischen Themen des Boulevardjournalismus widmet und einmal im Monat erscheint. Im Gegensatz zur StadtZeitung ist es allerdings kostenpflichtig.
Vor allem für junge Leute erscheint monatlich die Neue Szene Augsburg, die ihren Schwerpunkt vor allem in Lifestyle, Musik, Nachtleben und Veranstaltungshinweisen besitzt und mit jeder Ausgabe etwa 25.500 Leser im eigentlichen Stadtgebiet sowie den umliegenden Landkreisen erreicht. Damit ist sie eines der größten bayerischen Stadtmagazine.Monatlich erscheint die kostenlose Kulturzeitung a3kultur. Das Feuilleton für Augsburg Stadt/Land und das Wittelsbacher Land bietet Nachrichten, Termine und Positionen. Dabei wird die komplette kulturelle Bandbreite der Region abgedeckt. a3kultur ist der Nachfolger des Magazins a-guide, das bis 2011 mit einer jährlichen Auflage von 120.000 Exemplaren (auf sechs Ausgaben verteilt) eines der größten Magazine in Augsburg darstellte.Seit 2014 existiert das kostenfreie Online-Nachrichtenportal Presse Augsburg mit Nachrichten für die Region Augsburg, Bayerisch-Schwaben und überregionalen Meldungen.Seit 1977 gibt es das monatlich erscheinende farbige Monatsmagazin Augsburger Süd-Anzeiger, das sich vor allem lokalen Themen der 1972 eingemeindeten Stadtteile Göggingen, Bergheim, Inningen und Haunstetten widmet.
Weitere Publikationen erscheinen an den Hochschulen: An der Universität erscheinen das von der Universitätsleitung herausgegebene UniPress, das von der Studentenschaft verantwortete Universum und das ehemals von der Katholischen Hochschulgemeinde, jetzt von einem eigenen Verein herausgegebene presstige.
==== Hörfunk ====
Es gibt zwei Augsburger Lokalsender:
Hitradio RT1, der zur Mediengruppe Presse & Druck gehört, die auch die Augsburger Allgemeine herausgibt. RT1 ist offizieller Rundfunkpartner der Augsburger Panther und des FC Augsburg.
Radio Fantasy, der sich vor allem auf Musik und Comedy spezialisiert hat und tendenziell die etwas jüngere Zielgruppe anspricht.Sowohl Hitradio RT1 als auch Radio Fantasy können mittels UKW (Hitradio RT1 über 96,7 MHz und Radio Fantasy über 93,4 MHz), DAB+, Internetradio als auch Smartphone-Apps empfangen werden.
Daneben betreiben jeden Montag von 22 bis 1 Uhr (am folgenden Dienstag) Studenten der Universität ehrenamtlich ein eigenes Programm für ihre Kommilitonen, den Kanal C.
Beide Lokalsender sind über eigene terrestrische Frequenzen sowie weitere Kabelfrequenzen zu empfangen und machen zusammen einen großen Anteil an den Hörerzahlen im Stadtgebiet aus.
Der Sankt-Ulrich-Verlag, der Verlag der Diözese Augsburg bietet mit Radio Augsburg ein weiteres Radioprogramm an. Es wird nur über DAB+, Kabelradio und eine Smartphone-App übertragen.
Die auf Rockmusik spezialisierte Rock Antenne ist auf der Frequenz des ehemaligen Radio Kö (87,9 MHz) zu hören. Rock Antenne ist ein Tochterunternehmen von Antenne Bayern.
Seit Ende 2008 richtet sich in Augsburg außerdem der Sender egoFM, der nur in den größten bayerischen Städten zu empfangen ist, an Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14–30 Jahren.
Hauptsächlich Lieder aus der Musikrichtung des Jazz spielt der Sender Smart Radio auf DAB+, dessen Programm von keinem Radiomoderator begleitet wird, sondern sich rein auf die Musik beschränkt. Mit Frozen-Radio und Radio Cisaria International (RCI) bestehen daneben drei weitere lokale Radiosender.
Bis vor einigen Jahren sendete das American Forces Network (AFN) in Augsburg unter anderem auf der Mittelwellenfrequenz 1485 kHz. Mit dem Abzug der letzten amerikanischen Truppen aus der Stadt 1998 wurde auch der Radiosender aufgegeben, die hierfür eingesetzte Anlage wurde vollständig abgebaut.
Der Augsburger Unternehmer Ulrich R. J. Kubak erwarb die Mehrheitsanteile an Klassik Radio und brachte es 2004 an die Börse. Klassik Radio ist ein privates Hörfunkprogramm für klassische Musik. Die Klassik Radio GmbH & Co. KG ist ein Tochterunternehmen der Klassik Radio AG mit Sitz im Augsburger Hotelturm. Das Sendezentrum befindet sich momentan in Hamburg. Im September 2018 wurde jedoch bekannt, dass Klassik Radio auch sein komplettes Sendezentrum Anfang 2020 nach Augsburg verlegen möchte.Einige Musikprogramme werden aber auch über laut.fm und andere Portale übertragen, die man ausschließlich über das Internet hören kann.
==== Fernsehen ====
Als einziger lokaler Fernsehsender sendet augsburg.tv (kurz: a.tv) für die Stadt Augsburg sowie für die Landkreise Aichach-Friedberg, Donau-Ries, Dillingen und Günzburg (vom 16. März 1994 bis 31. Dezember 2006 als TV Augsburg, danach kurzzeitig als augsburg.tv) täglich ein 24-Stunden-Programm mit vor allem lokalen und regionalen Themen, die für die Bewohner des Ballungsraumes Augsburg von Bedeutung sind.
a.tv ist über den Satelliten Astra 1M (19,2°Ost, Transponder 21, 11523 MHz horizontal) in ganz Europa sowie Teilen Nordafrikas und des Mittleren Ostens unverschlüsselt und rund um die Uhr zu empfangen.
Weitere Verbreitungswege sind digitales und analoges Kabelfernsehen auf dem eigenen Kanal S18, außerdem im Regionalfenster von RTL (werktags Montag bis Freitag von 18:00 Uhr bis 18:30 Uhr), sowie über IPTV im T-Entertain-Paket der Telekom und als durchgängiger Livestream im Internet.Auf seiner Homepage bietet der Sender außerdem eine Mediathek an, die derzeit (Stand: Februar 2015) bis zu 150000 Mal im Monat abgefragt wird und alle Sendungen der vergangenen Jahre vorhält.Daneben diente Augsburg als Spielplatz und Drehort für die ZDF-Serie Samt und Seide, die von einer in der Textilindustrie tätigen Familie handelte und typische Elemente der Seifenoper besaß. Am 10. Februar 2005 wurde die vorerst letzte Sendung ausgestrahlt. Auch der Film Harte Jungs mit Axel Stein spielt in Augsburg und wurde auch dort gedreht.
=== Öffentliche Einrichtungen ===
Augsburg ist einerseits wegen seiner historischen Bedeutung, andererseits wegen seiner politischen Stellung in Bayerisch-Schwaben Sitz etlicher Behörden, Verbände und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts. Eine besondere Situation ergibt sich außerdem dadurch, dass mit der Stadt und dem Landkreis zwei Kreise ihre Ämter in Augsburg besitzen.
Im Augsburger Süden ist mit dem Bayerischen Landesamt für Umwelt eine Landesbehörde angesiedelt, die unter anderem auch den Hochwassernachrichtendienst Bayern betreibt und sich ihre Aufgaben mit einem kleineren Sitz im nordbayerischen Hof teilt. Dem Landesamt angegliedert ist das Josef-Vogl-Technikum im Stadtteil Lechhausen. Darüber hinaus ist in Augsburg eine Dienststelle des Landesamtes für Finanzen angesiedelt.
Die Regierung von Schwaben als allgemeine Aufsicht über die staatlichen Behörden im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben sowie der Bezirk Schwaben als dritte kommunale Ebene des Freistaats Bayern hat hier ebenso wie die Finanzämter Augsburg-Stadt und -Land, das Verwaltungszentrum der Stadt Augsburg und das Landratsamt Augsburg ihren Sitz.
Im Banken- und Versicherungswesen haben sich die Deutsche Bundesbank und die Deutsche Rentenversicherung Schwaben mit ihren Auskunfts- und Beratungsstellen niedergelassen. Ferner besteht ein Standort der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG). Die Stadt Augsburg verfügt mit dem Städtischen Leihamt über das älteste kommunale Leihamt in Deutschland. Seit 1603 hilft diese Einrichtung in Geldnöten steckenden Bürgern vorübergehend gegen Verpfändung wertvoller Habe mit Bargeld aus. Am 31. Dezember 2018 schließt das Amt nach 415 Jahren, es ist das Vorletzte in kommunaler Hand in Deutschland.
Ebenfalls als Vertreter für den Bezirk Schwaben haben hier die Handwerkskammer (HWK) und die Industrie- und Handelskammer Schwaben (IHK) sowie das für die Stadt Augsburg, die Landkreise Augsburg, Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries zuständige Polizeipräsidium Schwaben Nord ihren Sitz. Ferner befinden sich in Augsburg das zuständige Finanz- und Hauptzollamt, eine Justizvollzugsanstalt und der Stadtjugendring.
Verschiedene Verbände und Vereinigungen wie zum Beispiel das Bayerische Rote Kreuz, der Bayerische Fußballverband oder die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di haben ihre Zentrale für ganz Schwaben, teilweise gar für Süddeutschland, in Augsburg.
=== Trinkwasserversorgung ===
Die Gewinnung, Aufbereitung und Verteilung des Trinkwassers wird von den Stadtwerken Augsburg übernommen. Das Trinkwasser für Augsburg wird ausschließlich aus Grundwasser gewonnen. Dazu stehen acht Wasserwerke zur Verfügung (in Klammern das Jahr der Inbetriebnahme): das neue Wasserwerk am Hochablass (2007), das Wasserwerk am Lochbach (1912), Lochbach II, Meringerau Nord (1948), Meringerau Süd I (2003) und II (2007), Leitershofen (1972) und Siebenbrunn (2000). Insgesamt gibt es 60 Brunnen, zumeist Filter- und Schachtbrunnen, die eine Tiefe von ca. 10 m haben. Tiefenwasser wird bislang kaum genutzt, um künftig eine Notreserve zu erhalten. Seit dem 1. Juli 2021 ist die Trinkwasserversorgung durch die Nutzung von Wasserkraft klimaneutral.Das Trinkwasser stammt aus dem Grundwasserstrom in den westlichen Lechauen südlich von der Stadt. Bedeutende Trinkwasserschutzgebiete liegen im Augsburger Stadtwald und im Naturschutzgebiet Lechauwald bei Unterbergen. Mit einer Gesamthärte von 2,41–2,48 mmol/l (13,5–13,9 °dH) ist das Wasser dem Härtebereich „mittel“ zuzuordnen.Nach der Aufbereitung gelangt das Trinkwasser in das 1.000 km lange Leitungsnetz. Hier sind vier Wasserspeicher mit einem Gesamtvolumen von 48.300 m³ eingebaut, die Verbrauchsspitzen abdecken und auch der Druckerhaltung im Netz dienen. Aufgrund der verschiedenen Höhenlagen im Versorgungsgebiet wurden vier Druckzonen im Bereich von 2 bis 7 bar eingerichtet.Der Brutto-Verbrauchspreis liegt 2021 je nach Verbrauch bei 1,86 bis 2,42 Euro je Kubikmeter.
=== Abwasserentsorgung ===
Die Ableitung und Reinigung des anfallenden Abwassers fällt in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Augsburg. Das Kanalnetz hat eine Länge von 640 Kilometern (627 Kilometer Freispiegelleitungen). 70 % davon sind Steinzeugrohre, 21 % Beton und 5 % Klinker. Der Anschlussgrad an die Kanalisation liegt bei 99,7 %. Aufgrund der günstigen Topographie sind nur neun Pumpwerke im Kanalnetz nötig.Die Abwasserreinigung geschieht im Hauptklärwerk . Es wurde 1957 erbaut, ist auf 800.000 Einwohnerwerte ausgelegt und momentan etwa zu 81 % ausgelastet. 1976 und 1994 wurden zusätzliche biologische Reinigungsstufen in Betrieb genommen. Jährlich werden 50 Mio. m³ Abwasser behandelt, bei Trockenwetter 120.000 m³ täglich. Das gereinigte Abwasser wird in den Lech geleitet. Der Schlamm wird in drei Faultürmen verfault, anschließend entwässert und mit LKW zu verschiedenen Verbrennungsanlagen im Bundesgebiet gefahren.Wie auch bei der Trinkwasserversorgung ist das Klärwerk Augsburg inzwischen energieautark. 2019 standen einem Stromverbrauch von 13 Mio. kWh eine Energieerzeugung von 18 Mio. kWh gegenüber. Die Energieerzeugung geschieht zum einen in drei Blockheizkraftwerken, die das anfallende Klärgas verstromen und auch Wärme zur Beheizung erzeugen, zum anderen durch Photovoltaik und durch Turbinen im Ablauf des Klärwerks.
=== Gesundheitswesen ===
Augsburg besitzt nach umfangreichen Umstrukturierungen seit 2006 zwei Krankenhäuser der Maximalversorgung (III. Versorgungsstufe) sowie etliche kleinere, teilweise spezialisierte Kliniken. Daneben bestehen zwei Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns sowie ein Bezirkskrankenhaus für die psychiatrische Versorgung.
Das größte Krankenhaus und die zentrale Notaufnahme für den Ballungsraum stellt das Universitätsklinikum Augsburg dar, das seit 1982 in kommunaler Hand zunächst als Zentralklinikum und ab der oben genannten Neustrukturierung als Klinikum firmierte. Zum 1. Januar 2019 wurde es nach jahrelanger vorhergehender Planung zum Universitätsklinikum erhoben und in die Trägerschaft des Freistaats Bayern überführt. Parallel wurde es der schon im Vorfeld neugegründeten medizinischen Fakultät der Augsburger Universität angegliedert. Das Universitätsklinikum liegt im Stadtteil Kriegshaber im Westen der Stadt und ist über die Bundesstraßen 17 und 300 schnell zu erreichen.
Direkt nebenan befindet sich die Kinderklinik Augsburg, die schon im Krankenhauszweckverband Augsburg eng mit dem Klinikum verzahnt war und inzwischen Teil des Universitätsklinikums ist. Schon zuvor war es durch eine enge Zusammenarbeit zum Beispiel möglich, dass nahezu alle pädiatrischen Notfälle nach der Erstbehandlung in das zur Betreuung besser geeignete Kinderkrankenhaus verlegt wurden.
Beim zweiten Krankenhaus der Maximalversorgung handelt es sich um das zuvor „Krankenhaus Haunstetten“ genannte Klinikum Augsburg Süd, das inzwischen ebenfalls Teil des Universitätsklinikums geworden ist. Durch umfangreiche Umstrukturierungen und die Verlegung ganzer Abteilungen aus dem bisherigen Zentralklinikum nach Haunstetten erfüllt es mittlerweile alle im Krankenhausbedarfsplan gestellten Anforderungen der IV. Versorgungsstufe. Klinische Spezialgebiete bilden neben den schon vorhandenen Schwerpunkten der Chirurgie und Inneren Medizin die Dermatologische und die HNO-Klinik.Das Bezirkskrankenhaus Augsburg wird vom Bezirk Schwaben getragen und stellt als Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik die psychiatrische Versorgung aller im Stadtgebiet und im Landkreis Augsburg lebenden Bürger sicher. Es befindet sich im Stadtteil Kriegshaber unweit des Universitätsklinikums und übernimmt die psychiatrische Ausbildung der Medizinstudierenden der Universität Augsburg.Daneben bestehen mit dem Diakonissenkrankenhaus, der Hessing-Klinik, dem Josefinum und dem Vincentinum vier weitere Krankenhäuser, die sich allesamt auf Teilgebiete der medizinischen Versorgung (zum Beispiel Gynäkologie oder Orthopädie) spezialisiert haben und teilweise mit Belegärzten arbeiten. Eine weitere Notversorgung erfolgt durch die Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, die sich direkt am Vincentinum und am Universitätsklinikum Augsburg befinden.
=== Friedhöfe ===
Augsburg besitzt insgesamt vierzehn Friedhöfe, von denen neun von der Stadt unterhalten werden: Der Nordfriedhof, der Alte und der Neue Ostfriedhof, der Alte und der Neue Haunstetter Friedhof, der Westfriedhof, der Gögginger Friedhof, der Inninger Friedhof und der Bergheimer Friedhof.
Daneben gibt es drei christliche Friedhöfe: Den Katholischen Friedhof Kriegshaber, den Katholischen Friedhof an der Hermanstraße und den Protestantischen Friedhof. Es gibt zwei jüdische Friedhöfe: Den Jüdischen Friedhof in Kriegshaber und den Jüdischen Friedhof im Stadtteil Hochfeld.
== Bildung und Forschung ==
=== Hochschulen ===
Trotz des Alters und der historischen Bedeutung der Stadt gibt es in Augsburg erst seit 1970 eine Universität. Daneben sorgen auch die Fachhochschule, das Leopold-Mozart-Zentrum und die FOM Hochschule für Ökonomie und Management für eine breitgefächerte Auswahl an Studiengängen. Derzeit sind über 25.000 Studierende an den drei Hochschulen und dem Musikzentrum immatrikuliert.
==== Universität Augsburg ====
Die Universität Augsburg wurde 1970 gegründet. Über die 1971 aufgelöste und als Katholisch-Theologische Fakultät der Universität angegliederte Philosophisch-Theologische Hochschule Dillingen besteht eine gewisse Verbindung zu der 1549 bzw. 1551 gegründeten und 1802 aufgehobenen Universität Dillingen. Außerdem wurde die 1958 aus dem Institut für Lehrerbildung hervorgegangene Pädagogische Hochschule Augsburg 1972 als Erziehungswissenschaftlicher Fachbereich in die Universität integriert. 2008 nahm sie einige Bereiche der aufgelösten Musikhochschule Nürnberg-Augsburg als Leopold-Mozart-Zentrum (LMZ) auf. Sie ist die einzige Universität im Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben.
Zur Zeit gliedert sich die Universität in eine Philologisch-Historische, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche, Wirtschaftswissenschaftliche, Juristische, Mathematisch-Naturwissenschaftliche und Katholisch-Theologische Fakultät sowie die jüngst errichtete Fakultät für Angewandte Informatik. Die Universität Augsburg mit ihren etwa 20.100 Studierenden ist keine traditionelle Volluniversität, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.
Seit 1974 wurde im Süden der Stadt auf dem Gelände des alten Flugplatzes ein weitläufiger Campus errichtet, der bis heute zu einem eigenen Stadtteil (dem Universitätsviertel) gewachsen ist. Mittlerweile befinden sich nur noch kleinere Teile der Universität gemeinsam mit dem Betriebswirtschaftlichen Fachbereich der Hochschule Augsburg im Gebäude der ehemaligen Pädagogischen Hochschule in Lechhausen sowie am Standort „Alte Universität“.
==== Hochschule Augsburg ====
Die Hochschule Augsburg wurde zwar erst 1971 gegründet, kann aber auf eine weitreichende Geschichte ihrer Vorgängereinrichtungen zurückblicken. So bestand bereits um 1660 eine private Kunstakademie, die sich zuerst zu einer protestantischen und dann 1710 zu einer öffentlichen Reichsstädtischen Kunstakademie entwickelte, aus der schließlich über mehrere Stufen die Werkkunstschule Augsburg entstand. Der technische Zweig entstammt dem im 19. Jahrhundert entstandenen Rudolf-Diesel-Polytechnikum. Im Jahre 1971 schließlich wurde durch ihre Zusammenlegung die Fachhochschule Augsburg gegründet. Sie ist somit eine der ältesten Fachhochschulen in Deutschland, 2008 erfolgte die Umbenennung in Hochschule für angewandte Wissenschaften Augsburg, kurz Hochschule Augsburg.
Die Hochschule hat zwei Standorte, den Campus am Brunnenlech und den Campus am Roten Tor, die nur etwa 500 m auseinander liegen.
Angeboten werden zahlreiche Studiengänge der Bereiche Technik, Gestaltung und Wirtschaftswissenschaften. Seit dem WS 2018/19 wird auch Soziale Arbeit angeboten. Im Wintersemester 2017/18 waren rund 6.200 Studenten an der Hochschule Augsburg eingeschrieben.
==== Leopold-Mozart-Zentrum ====
Die Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg entstand 1998 durch die Zusammenlegung des Nürnberger Meistersinger-Konservatoriums mit dem Augsburger Leopold-Mozart-Konservatorium. Trotz heftiger Proteste aus den Reihen der Studenten und Dozenten beschloss das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus aus Kostengründen 2006 die Schließung des Augsburger Teils der Hochschule, der seitdem als Leopold-Mozart-Zentrum der Universität angegliedert ist und so als „Musikhochschule in der Hochschule“ geführt wird.
Das Angebot umfasst musikpädagogische und künstlerische Studiengänge (Gesang, Orchesterinstrumente, Tasteninstrumente). Daneben können auch Gitarre und Musiktherapie studiert werden. Einmalig in ganz Deutschland ist die Ausbildung der Blasorchesterleitung.
==== FOM Hochschule für Oekonomie und Management ====
Die FOM Hochschule für Oekonomie und Management mit Hauptsitz in Essen betreibt in Augsburg einen Standort, an dem berufsbegleitende Bachelor- und Masterstudiengänge mit einem Schwerpunkt auf den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern angeboten werden. So können an der FOM unter anderem „Business Administration“, „International Management“ und Wirtschaftsrecht sowie einige Masterabschlüsse studiert werden. Die Präsenzvorlesungen werden am Studienort in der Augsburger Innenstadt unter der Woche abends und am Wochenende gehalten.
=== Allgemeinbildende Schulen ===
Die grundlegende Allgemeinbildung für alle Augsburger Schüler vermitteln im Stadtgebiet derzeit zehn Gymnasien, neun Realschulen, 42 Grund- und Hauptschulen, 13 Förderschulen und eine Freie Waldorfschule.
==== Volks-, Förder- und Gesamtschulen ====
Die grundlegende Ausbildung der Schüler übernehmen insgesamt 42 Grund- und Hauptschulen im ganzen Stadtgebiet. Daneben bestehen insgesamt 13 Förderschulen, die sich der Kinder annehmen, die einer sonderpädagogischen Ausbildung bedürfen und deshalb an den allgemeinen oder beruflichen Schulen nicht oder nur unzureichend gefördert werden können. Wenn es sich mit den jeweils gegebenen Förderschwerpunkten vereinen lässt, vermitteln diese Schulen die gleichen Abschlüsse wie die vergleichbaren allgemeinbildenden Schulen.
Mit der Freien Waldorfschule und der International School Augsburg (mit Sitz in der Vorstadt Gersthofen) bestehen daneben zwei Gesamtschulen, die alle Altersstufen in einem Gebäude unterrichten.
==== Realschulen ====
Neun im Stadtgebiet und sechs im Ballungsraum befindliche Realschulen sorgen für eine zwischen den Angeboten von Gymnasium und Hauptschule liegende Bildungsmöglichkeit sowohl der Allgemeinbildung als auch der konkreten Berufsvorbereitung.
Alle drei unter Gymnasien genannten reinen Mädchenschulen besitzen jeweils eine angeschlossene Realschule; ebenso bietet die Freie Waldorfschule auch den Abschluss mit der mittleren Reife (Fachoberschulreife/Realschulabschluss) an. Somit existieren fünf „reine“ Realschulen im Stadtgebiet. Weil Realschulen vor allem in ländlichen Gebieten eher selten zu finden sind, haben sie eine enorme Anzugskraft auch auf Schüler aus weiter entfernten Landkreisen in Bayerisch-Schwaben.
==== Gymnasien ====
Augsburg besitzt insgesamt zehn Gymnasien mit teilweise jahrhundertelanger Tradition. Daneben ermöglichen das Bayernkolleg Augsburg (als Gymnasium des zweiten Bildungswegs) und die Freie Waldorfschule Augsburg den Abschluss mit Abitur.
Da sich in allen größeren Städten des Ballungsraumes (Friedberg, Gersthofen, Königsbrunn und Neusäß) eigene Gymnasien befinden, besuchen die Schüler dieser Orte hauptsächlich das dortige Gymnasium, so dass an den Augsburger Gymnasien vor allem Schüler aus dem Stadtgebiet zu finden sind. Wegen ihrer teilweise besonderen Bildungswege (zum Beispiel musische oder humanistische Zweige) besitzen sie dennoch darüber hinaus Einzugsgebiete bis nach ganz Bayerisch-Schwaben. Mit dem A. B. von Stettenschen Institut, dem Maria-Stern- und dem Maria-Ward-Gymnasium bestehen drei Gymnasien nur für Mädchen; das Gymnasium bei St. Stephan war bis zum Herbst 1995 nur Knaben vorbehalten, erfreut sich seither steigenden Interesses insbesondere seitens musisch orientierter Mädchen.
Nahezu alle Schulen können auf Berühmtheiten zurückblicken, die in ihrer Einrichtung das Abitur erlangten. So waren hier unter anderem Napoleon III., Werner Egk, Bertolt Brecht, Rudolf Diesel, Gerhard Höllerich (alias Roy Black), Andreas Bourani oder der Nobelpreisträger Johann Deisenhofer Schüler.
==== Berufliche Oberschulen ====
Die Staatliche Fachoberschule und Berufsoberschule und die Städtische Berufsoberschule in Augsburg führen Schüler mit abgeschlossener mittlerer Reife oder abgeschlossener Berufsausbildung im Rahmen der Beruflichen Oberschule Bayern entweder zur Fachhochschulreife oder zur fachgebundenen beziehungsweise allgemeinen Hochschulreife. Für den letztgenannten Abschluss ist der Nachweis von Kenntnissen in einer zweiten Fremdsprache (neben dem Englischen) erforderlich.
=== Berufsbildende Schulen und Akademien ===
Wegen seiner zentralen Bedeutung für den Bezirk Bayerisch-Schwaben besitzt Augsburg nahezu alle Richtungen der berufsbildenden Schulen: So finden sich eine private staatlich anerkannte und sieben städtische Berufsschulen, 18 Berufsfachschulen, jeweils vier Fachakademien und Fachschulen sowie drei Wirtschaftsschulen. Während die meisten dieser Schulen einen Beruf entweder in Zusammenarbeit mit dem Ausbildungsbetrieb oder in Vollzeitform vermitteln, fordern die Fachschulen für eine Aufnahme eine bereits abgeschlossene Ausbildung, da sie weitergehende Berufsgrade (Meister, Techniker) ausbilden.
=== Sonstige Schulen ===
Neben den genannten Schulen und Akademien bestehen in Augsburg etliche weitere Bildungsmöglichkeiten, die von der Volkshochschule und dem Kolping-Bildungswerk über verschiedene Gesangs- und Musikschulen bis zu Sprachschulen reichen. Für viele ist kein besonderer vorheriger Abschluss nötig; sie haben sich vielmehr der Allgemeinbildung der Bürger verschrieben. Auch gibt es im nordöstlichen Teil der Stadt die Freie Waldorfschule Augsburg mit Kindergarten und Krippe. Sie befindet sich auf einen großen Kampus.
=== Forschung ===
Die Universität und die Hochschule besitzen eigene Institute, die zumeist einer Fakultät zugeteilt sind und auf deren Gebiet Forschung betreiben. Für größere oder interdisziplinäre Projekte schließen sich diese aber auch zusammen, um so eine weiter gestreute Thematik behandeln zu können. So befasst sich zum Beispiel das Institut für Materials Resource Management mit der technischen Entwicklung regenerativer Technologien.
Augsburg verfügt vor allem im Bereich der Forschung zu Umwelt und Umweltschutz über bedeutende Einrichtungen: So sitzt hier das vom Freistaat Bayern im Rahmen seiner High-Tech-Offensive geschaffene KUMAS – Kompetenzzentrum Umwelt, ein Netzwerk aus nahezu allen in diesem Sektor tätigen Forschungseinrichtungen und Unternehmen, das deren Kommunikation und Zusammenarbeit koordiniert. Der Hauptsitz des Umweltclusters Bayern wurde ebenfalls in Augsburg eingerichtet.
Das Bayerische Landesamt für Umwelt wurde in der Nähe der Universität angesiedelt, um bei seinen Projekten eng mit den Studenten und Wissenschaftlern des dortigen geplanten Forschungszentrums „Augsburg Innovationspark“ zusammenarbeiten zu können. Im Stadtteil Lechhausen befindet sich das dem Landesamt angegliederte Josef-Vogl-Technikum, das vor allem ökologische Daten für Gutachten erhebt.
In Augsburg befindet sich das Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik und eine Projektgruppe des Fraunhofer-Institutes für Angewandte Informationstechnik. Am Campus der Universität befindet sich ein Standort des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt.
Im Bereich der Osteuropastudien gilt das Bukowina-Institut als eine der führenden Einrichtungen. Es widmet sich der Dokumentation und Erforschung von Kultur, Geschichte und Landeskunde in Osteuropa in internationaler und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Benannt ist es nach der Region Bukowina („Buchenland“), mit der sich das Institut besonders beschäftigt. Die 1949 gegründete Schwäbische Forschungsgemeinschaft ist ebenfalls im Bereich der Landeskunde und -geschichte tätig.
Die Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg (KORA) ist eine international genutzte Forschungsplattform des Helmholtz-Forschungszentrums für Gesundheit und Umwelt, auf der Studien zur bevölkerungsbezogenen Gesundheitsforschung durchgeführt werden. Augsburg ist zugleich „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft.
=== Bibliotheken ===
Augsburg verfügt schon aus reichsstädtischer Zeit über eine bedeutende Tradition im Bibliothekswesen, die sich heute noch in einer großen Zahl von Einrichtungen widerspiegelt.
Die Staats- und Stadtbibliothek ist eine seit 1537 bestehende wissenschaftliche Bibliothek, die sich heute in der Schaezlerstraße befindet. Sie zählt zu den regionalen staatlichen Bibliotheken Bayerns und hat das Pflichtexemplarrecht für den Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben inne. War sie seit ihren Anfängen zunächst in städtischer Trägerschaft, so wurde sie im Zuge einer Verstaatlichung 2012 eine Behörde des Freistaats Bayern und ist organisatorisch der Bayerischen Staatsbibliothek unterstellt. Ihre Schwerpunkte liegen in der Betreuung des herausragenden Altbestands (ca. 100.000 Bände) sowie in der Versorgung der an wissenschaftlicher Literatur (insbesondere in den historischen Fächern sowie zum Thema „Bayerisch-Schwaben“) interessierten Bevölkerung. Ein Großteil des knapp 600.000 Bände zählenden Buchbestandes ist daher auch ausleihbar. Die Augsburger Staats- und Stadtbibliothek ist zugleich die Geschäftsstelle des im Jahr 1834 gegründeten Historischen Vereins für Schwaben, der in Wissenschaft, städtischem und regionalem Kulturleben vor allem mit den jährlich erscheinenden Zeitschriften des Historischen Vereins für Schwaben (ZHVS) Akzente setzen kann. Ebenso hat die städtische Brecht-Forschungsstelle hier ihren Sitz. Die im Zuge der Verstaatlichung bereits angekündigte Renovierung des in die Jahre gekommenen Bibliotheksbaus in der Schaezlerstraße wurde 2021 vom Bayerischen Landtag bewilligt, der für diese sowie einen Magazinneubau insgesamt 62,5 Mio. Euro bereitstellte. Die Arbeiten werden Dezember 2022 beginnen, die Wiedereröffnung ist 2025/26 geplant. Die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg wird dann eines der modernsten Bibliotheksgebäude ganz Europas besitzen. Der operative Bibliotheksbetrieb mit einem Teil der Bestände wird während des Umbaus in einem Interimsquartier in Räumlichkeiten im ehemaligen Bayernkolleg Lechhausen aufrechterhalten.Die Anfänge der zweiten wichtige Bibliothek Augsburgs, der Stadtbücherei, liegen im Jahr 1920, gegründet als Unterabteilung der heutigen Staats- und Stadtbibliothek (als „Volksbücherei“). Bereits 1953 hatte sich die Volksbücherei verselbstständigt und war Vertreterin des öffentlichen Bibliothekswesens in Augsburg. 1978 erfolgte die endgültige Umbenennung der Volksbücherei in Stadtbücherei. Mit den Stadtteilbüchereien in Göggingen, Haunstetten, Kriegshaber und Lechhausen sowie der Zentrale in der Innenstadt, verschafft sie allen Bürgern Augsburgs einen Zugang zu hauptsächlich belletristischer Literatur, Zeitschriften und anderen Medien. Sehr modern im Umgang mit Printmedien und Multimedia zeigt sich die Neue Stadtbücherei Augsburg, für die in einem Bürgerbegehren gut 14.000 Unterschriften gesammelt wurde und die nach langer Planung dann im Juni 2009 eröffnet wurde. Der 15 Millionen Euro teure Neubau am Ernst-Reuter-Platz in der Stadtmitte umfasst eine Fläche von 5000 m² und bietet neben der Ausleihe von Büchern, Hörbüchern, CDs und DVDs auch viel Raum für den kulturellen Austausch.
Die Universitätsbibliothek Augsburg befindet sich auf dem Campus der Universität Augsburg und ist in eine Zentralbibliothek sowie vier Teilbibliotheken (Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Medizin) gegliedert. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Versorgung der Studierenden und Lehrenden der Universität sowie der an wissenschaftlicher Forschung interessierten Bevölkerung mit Informationsressourcen und wissenschaftlicher Literatur. Ihr Sammelauftrag umfasst damit alle Fachbereiche, die an der Universität Augsburg gelehrt werden. Daraus ergeben sich insbesondere Schwerpunkte in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie seit Gründung der neuen Universitätsmedizin auch im Bereich medizinischer Fachliteratur. Obwohl die Bibliothek erst 1970 gegründet wurde, verfügt sie über einen bemerkenswerten Altbestand, der nebst zahlreichen Sondersammlungen insbesondere in der Oettingen-Wallersteinischen Bibliothek besteht, die 1980 vom Freistaat Bayern mit finanzieller Hilfe des Bundes angekauft wurde. Mit 2,8 Mio. Bänden ist die Universitätsbibliothek die mit Abstand größte Bibliothek des Regierungsbezirks Bayerisch-Schwaben sowie eine der größten Bibliotheken Bayerns.
Als weitere wichtige Bibliothekseinrichtungen Augsburg sind die Bibliothek der Hochschule Augsburg sowie die Pastoral- und Diözesanbibliothek zu nennen. In der Nähe der Universität befindet sich das Bukowina-Institut für osteuropäische Forschungen, das für interessierte Fachkundige eine große Bibliothek mit dem Schwerpunkt auf ostdeutscher und osteuropäischer Literatur, Geschichte und Kultur bietet.
Im Zeitalter der E-Texte hat sich die Bibliotheca Augustana, ein Projekt eines Professors der Fachhochschule, als digitale Bibliothek für Texte der Weltliteratur deutschlandweit hohes Ansehen verschafft.
Daneben bestehen viele weitere kleine und private Bibliotheken, die allerdings nur bedingt öffentlich zugänglich sind (zum Beispiel Kloster- oder Schulbibliotheken).
=== Archive ===
In Augsburg befinden sich einige Archive in staatlicher, kommunaler und kirchlicher Trägerschaft. Zu den bekanntesten Archiven gehören das Staatsarchiv Augsburg als das für den Regierungsbezirk Schwaben zuständige bayerische Staatsarchiv, das Stadtarchiv Augsburg als kommunales Archiv der Stadt Augsburg und das Universitätsarchiv Augsburg. Das Archiv des Bistums Augsburg in Augsburg-Oberhausen ist als kirchliches Archiv zuständig für die amtliche Überlieferung aus dem Schrift- und Dokumentationsgut der Dienststellen und Einrichtungen des Bischöflichen Ordinariats Augsburg und betreut zudem die Pfarr- und Dekanatsarchive des Bistums Augsburg.
=== Haus der Bayerischen Geschichte ===
Das Haus der Bayerischen Geschichte in der Zeuggasse wurde 1983 als Behörde des Freistaats Bayern ins Leben gerufen und hat seit September 1993 seinen Sitz in Augsburg. Es soll allen Bevölkerungsschichten, vor allem der jungen Generation, in allen Landesteilen die geschichtliche und kulturelle Vielfalt Bayerns zugänglich machen und besitzt ein derzeit 270.000 Materialien umfassendes Bildarchiv.
== Persönlichkeiten ==
Hier werden nur Personen aufgeführt, die deutlich mit Augsburg in Verbindung gebracht werden. Für genauere Informationen über die hier aufgeführten Namen und Personen, die im weiteren Sinne mit der Stadt verbunden werden können, existiert der Hauptartikel Liste von Persönlichkeiten der Stadt Augsburg.
St. Afra († 304 in Friedberg) war eine frühchristliche Märtyrerin, die 1064 heiliggesprochen wurde.
St. Tozzo († 16. Januar 778 in Augsburg) war Bischof von Augsburg
St. Simpert (* um 750; † wahrscheinlich 13. Oktober 807 in Augsburg) war Bischof von Augsburg und ist dritter Schutzpatron für Stadt und Bistum Augsburg (neben St. Ulrich und St. Afra).
St. Ulrich (* 890 in Wittislingen oder Augsburg; † 4. Juli 973 in Augsburg) war von 923 bis zu seinem Tod Bischof in Augsburg und hatte entscheidenden Anteil am Sieg über die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld. Er wurde 993 als erste Person überhaupt vom Papst persönlich heiliggesprochen.
St. Wolfhard bzw. St. Gualfardus (* um 1070 in Augsburg; † 30. April 1127 in Curte-Regia bei Verona)Die Gebeine des Heiligen Wolfhard sind in der Kirche St. Sebastian aufbewahrt.Johann I. von Langenmantel (* um 1275 in Augsburg; † 8. November 1337, in Augsburg) war ein Patrizier und Augsburger Stadtpfleger (Bürgermeister).
Agnes Bernauer (* um 1410 wohl in Augsburg; † 12. Oktober 1435 bei Straubing) war die Geliebte und vielleicht auch die erste Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht III.
Anna Rüger, eine Buchdruckerin, die erste Frau, die 1484 in der Kolophon eines Buches erscheint.
Lorenz Helmschmied (* zwischen 1450 und 1455 in Augsburg; † 1515 in Augsburg) war ein bedeutender Plattner.
Hans Holbein der Ältere (* um 1465 in Augsburg; † um 1524 in Augsburg) war ein deutscher Maler, dessen Werk den Übergang von der Spätgotik zur Renaissance bildet. Er schuf etliche Altar- und Andachtsbilder, Porträtdarstellungen und Glasgemälde.
Jakob Fugger der Reiche (* 6. März 1459 in Augsburg; † 30. Dezember 1525 in Augsburg) war seinerzeit Europas reichster und bedeutendster Kaufmann und Bankier. Er entstammte einer Handelsfamilie, die er innerhalb weniger Jahre zu einem der ersten frühkapitalistischen Unternehmen ausbaute und so die Grundlage für die Weltgeltung und den Reichtum der Familie Fugger legte.
Hans Burgkmair der Ältere (* 1473 in Augsburg; † 1531 in Augsburg) war ein bedeutender Maler, Zeichner und Holzschneider zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Burgkmair gilt neben Hans Holbein dem Älteren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation als wichtigster Augsburger Künstler zwischen Spätgotik und Renaissance.
Bartholomäus V. Welser (* 25. Juni 1484 in Memmingen; † 28. März 1561 in Amberg in Schwaben) war von 1519 bis 1551 Chef der Welser-Gesellschaft, einem der größten Handels-, Bank-, Reederei- und Minenunternehmen des 16. Jahrhunderts. Als Bankier Kaiser Karls V. sowie des französischen Königs Franz I. hatte er entscheidenden Einfluss auf die Mächtigen seiner Zeit.
Ägidius Rehm (1486–1535), Bischof von Chiemsee
Pilgram Marbeck (* um 1495 in Rattenberg (Tirol); † 16. Dezember 1556 in Augsburg) war ein bedeutender Führer der reformatorischen Täuferbewegung und geistlicher Leiter des nach ihm benannten Marbeck-Kreises. Für die Stadt Augsburg war er ab 1544 als Wasserbaumeister tätig und schuf unter anderem eine für den Ausbau der Stadt wichtige Holzflößerei.
Susanna Daucher (* 1495), Augsburger Täuferin
Hieronymus Sailer (1495–1559), Schweizer Kaufmann, Konquistador und Sklavenhändler
Hieronymus Meitting (1496–1557), Bischof von Chiemsee
Hans Holbein der Jüngere (* 1497 oder 1498 in Augsburg; † 29. November 1543 in London) war ein deutscher Maler. Auf einem Selbstbildnis, das er kurz vor seinem Tod malte, bezeichnet er sich selbst als Basler. Er zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Renaissance.
Adolf Occo (1524–1606), Mediziner und Numismatiker
Johannes Nysaeus (Niss) Augustanus, Magister, ab 1560 badischer Superintendent und Reformator des Hachberger Landes (1527–1599)
Adriaen de Vries (* um 1545 oder um 1560 in Den Haag; † vor 15. Dezember 1626 in Prag) war ein niederländischer Bildhauer, dessen Hauptwerk zwei der Augsburger Prachtbrunnen bilden: Der Merkur- und der Herkulesbrunnen, die sich beide durch Eleganz des Aufbaues und durch Feinheit der Einzelbildungen auszeichnen.
Elias Holl (* 28. Februar 1573 in Augsburg; † 6. Januar 1646 in Augsburg) war der bedeutendste Baumeister des deutschen Frühbarock. Sein Hauptwerk ist das Augsburger Rathaus (erbaut von 1615 bis 1620) mit dem Goldenen Saal im barocken Stil.
Caspar Stromayr (* 16. Jahrhundert höchstwahrscheinlich in Augsburg; † 1566 oder 1567 in Lindau), Augenarzt und Chirurg.
Leopold Mozart (* 14. November 1719 in Augsburg; † 28. Mai 1787 in Salzburg) war Komponist und Vater des weitaus bekannteren Wolfgang Amadeus Mozart. Er erschuf vor allem kirchenmusikalische Werke und Gelegenheitskompositionen, in denen er sich gern „realer Klangeffekte“ bediente (Glockengeläut, Hundebellen, Posthorn usw.). Daneben schrieb er eine beachtliche Zahl von Werken der Instrumentalmusik.
Jakob Wilhelm Benedikt Langenmantel von Westheim (* 16. März 1720 in Augsburg; † 17. April 1790, in Augsburg) war ein Patrizier und langjähriger Stadtpfleger (Bürgermeister); Jugendfreund Leopold Mozarts
Johann Heinrich Edler von Schüle (* 13. Dezember 1720 in Künzelsau; † 17. April 1811 in Augsburg) war ein deutscher Kaufmann, Erfinder, Techniker, Chemiker und Kattunfabrikant mit europäischer Bedeutung. Als erster Unternehmer in Deutschland bedruckte er in seiner Manufaktur Kattunstoff mit Kupferplatten und gilt als Begründer der industriellen Textilproduktion auf diesem Gebiet.
Johann Friedrich von Tröltsch (8. März 1728 in Nördlingen; 1. September 1793 in Augsburg), Jurist
Johann Gottlieb Freiherr von Süßkind (* 11. März 1767 in Nürtingen; † 21. Dezember 1849 in Augsburg) gründete ein eigenes Bankhaus in Augsburg und steigerte sein Vermögen durch Wertpapierspekulationen derart, dass er bis heute als reichster Mann Schwabens nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gilt.
Rudolf Diesel (* 18. März 1858 in Paris; † 29. September 1913 im Ärmelkanal) war ein deutscher Ingenieur und Erfinder. Er entwickelte ab 1893 in der Maschinenfabrik Augsburg, aus der 1906 MAN wurde, mit finanzieller Beteiligung der Friedrich Krupp AG den Dieselmotor und stellte 1897 das erste funktionstüchtige Modell dieses Motors der Weltöffentlichkeit vor.
Marie Louise von Larisch-Wallersee (* 24. Februar 1858 in Augsburg; † 4. Juli 1940 in Augsburg)
Bertolt Brecht (* 10. Februar 1898 in Augsburg; † 14. August 1956 in Berlin) wird als einflussreichster deutscher Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Er ist auch international für seine Werke angesehen und ausgezeichnet worden. Brecht gilt als Begründer des Epischen beziehungsweise „Dialektischen Theaters“.
Magda Schneider (* 17. Mai 1909 Augsburg; † 30. Juli 1996), Schauspielerin
Anna Lang (* 5. Mai 1911 Lechhausen; † 27. September 2019), Weberin, Mitglied der AWO, war mit 108 Jahren zweitälteste Augsburgerin
Günther Strupp (* 6. März 1912 in Johannisburg; † 14. November 1996 in Augsburg), deutscher Maler und Graphiker
Werner Haas (* 30. Mai 1927 in Augsburg; † 13. November 1956 bei Neuburg an der Donau durch Flugzeugabsturz) war ein deutscher Motorradrennfahrer und dreifacher Motorrad-Weltmeister auf NSU.
Gerd von Haßler (28. August 1928 in oder bei Augsburg; † 7. Januar 1989;), Autor, Regisseur, Hörspielsprecher, Komponist, Sänger, Journalist und Produzent, schuf das Augsburger Kasperle.
Helmut Haller (* 21. Juli 1939 in Augsburg; † 11. Oktober 2012 in Augsburg), Fußballspieler, Vize-Weltmeister 1966
Tilo Prückner (* 26. Oktober 1940 in Augsburg; † 2. Juli 2020 in Berlin) deutscher Schauspieler und Autor.
Roy Black (* 25. Januar 1943 in Straßberg bei Augsburg; † 9. Oktober 1991 in Heldenstein), bürgerlich Gerhard Höllerich, deutscher Schlagersänger
Hans Henning Atrott (* 12. Januar 1944 in Klaipėda, Litauen; † 2018), Initiator der Sterbehilfe
Wolf Blitzer (* 22. März 1948 in Augsburg), US-amerikanischer Journalist und Fernsehmoderator
Erhard Smutny (* 12. Januar 1949 in Aichach) - bekannt als Zauberkünstler „Hardy“. Lebt zuletzt in der Fuggerei zu Augsburg
Reinhard Kammler (* 17. Dezember 1954 in Augsburg), Domkapellmeister und Gründer der Augsburger Domsingknaben
Erhard Wunderlich (* 14. Dezember 1956 in Augsburg; † 4. Oktober 2012 in Köln), Handballspieler
Bernd Schuster (* 22. Dezember 1959 in Augsburg), Fußballtrainer und ehemaliger -spieler, 1980 Europameister und 1982 Europapokalsieger der Pokalsieger.
Armin Veh (* 1. Februar 1961 in Augsburg), Fußballtrainer, -funktionär und ehemaliger -spieler
Andreas Bourani (* 2. November 1983 in Augsburg), Sänger
=== Ehrenbürger ===
Die Stadt Augsburg hat seit 1820 39 Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Fünf dieser Personen wurde dieses Recht wieder aberkannt, da sie Würdenträger des Dritten Reichs waren.
Im Zuge der Eingemeindung der Stadt Göggingen, der Stadt Haunstetten, des Marktes Oberhausen und der Gemeinde Bergheim wurden die dort verliehenen Ehrenbürgerrechte von insgesamt weiteren neun Personen auf die Stadt Augsburg übernommen.
Derzeit sind der ehemalige Oberbürgermeister Peter Menacher, der ehemalige FCA-Präsident Walther Seinsch sowie der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer die noch lebenden Inhaber des Ehrenbürgerrechts.
Genauere Informationen über die Ehrenbürger der Stadt finden sich im Hauptartikel Liste der Ehrenbürger von Augsburg.
== Siehe auch ==
== Literatur ==
AllgemeinesPeter Dempf: Sagenhaftes Augsburg. 3. Auflage. Wißner, Augsburg 2005, ISBN 3-89639-498-3.
Gunther Gottlieb, Wolfram Baer, Josef Becker, Josef Bellot, Karl Filser, Pankraz Fried, Wolfgang Reinhard, Bernhard Schimmelpfennig (Hrsg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Theiss, Stuttgart 1984, ISBN 3-8062-0283-4.
Günther Grünsteudel, Günter Hägele, Rudolf Frankenberger (Hrsg.): Augsburger Stadtlexikon. 2. Auflage. Perlach, Augsburg 1998, ISBN 3-922769-28-4.
Rolf Kießling (Hrsg.): Neue Forschungen zur Geschichte der Stadt Augsburg. Wißner, Augsburg 2011, ISBN 978-3-89639-839-0.
Martin Kluger: Augsburg. Der Stadtführer durch 2000 Jahre Geschichte. Context, Augsburg 2012, ISBN 978-3-939645-47-4.
Wolfgang Kucera, Reinhold Forster (Hrsg.) Augsburg zu Fuß. 16 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. VSA, Hamburg 1993, ISBN 3-87975-628-7.
Hans Pletz: Mein Augsburg - Augsburger Heimatkunde für die Jugend. Zeichnungen von Arkad Gropper. Augsburg: Kieser 1956. [1. Auflage].
Bernd Roeck: Geschichte Augsburgs. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53197-0 (Vorschau).
Wolfgang Zorn: Augsburg – Geschichte einer europäischen Stadt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wißner, Augsburg 2001, ISBN 3-89639-319-7.
Ferdinand Frensdorff, Matthias Lexer, Friedrich Roth (Hrsg.): Die Chroniken der schwäbischen Städte.Band 1: Augsburg. Leipzig 1865; archive.org.
Carl Jäger: Geschichte der Stadt Augsburg, von deren Anfängen bis auf die neuesten Zeiten. Darmstadt 1837; archive.org.Einzelaspekte
Karl Ganser: Industriekultur in Augsburg. Pioniere und Fabrikschlösser. context, Augsburg 2010, ISBN 978-3-939645-26-9.
Maximilian Gloor: Politisches Handeln im spätmittelalterlichen Augsburg, Basel und Straßburg. Winter, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8253-5840-2 (Rezension).
Bernhard Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik: Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933 – 1945. Oldenbourg, München 2006, ISBN 3-486-57940-1 (Volltext).
Martin Kaufhold (Hrsg.): Augsburg im Mittelalter. Wißner, Augsburg 2009, ISBN 978-3-89639-715-7.
Frank Möller: Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790–1880. In: Lothar Gall (Hrsg.): Stadt und Bürgertum. Band 9. Oldenbourg, München 1998, ISBN 3-486-56387-4 (zugleich Dissertation, Universität Frankfurt am Main, 1993/94).
Gregor Nagler: Romantik, Realismus, Revolution – Das 19. Jahrhundert. (PDF) Stadt Augsburg, Referat 6, Hochbauamt, Bauordnungsamt / Untere Denkmalschutzbehörde (Hrsg.), Augsburg 2011.
Herbert Jäger: Reichsstadt und schwäbischer Kreis. Korporative Städtepolitik im 16. Jahrhundert unter der Führung von Ulm und Augsburg. In: Göppinger akademische Beiträge. Band 95. Kümmerle, Göppingen 1975, ISBN 3-87452-299-7 (zugleich Dissertation, Universität Tübingen, 1975).
Martin Kluger: Historische Wasserwirtschaft und Wasserkunst in Augsburg. Kanallandschaft, Wassertürme, Brunnenkunst und Wasserkraft. Hrsg. von der Stadt Augsburg. Context, Augsburg 2012, ISBN 978-3-939645-50-4.
Gernot Michael Müller (Hrsg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Frühe Neuzeit. Band 144. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-023124-3.
Eberhard Pfeuffer: Natur in Augsburg. Wißner, Augsburg 2012, ISBN 978-3-89639-879-6.
Markus Pöhlmann: „Es war gerade, als würde alles bersten …“. Die Stadt Augsburg im Bombenkrieg 1939–1945. SoSo, Augsburg 1994, ISBN 3-923914-27-X
Anke Joisten-Pruschke: Die Geschichte der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit 1750-1871. In: Neuere Forschungen zur Stadt Augsburg. Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens. Band 12, Wißner Augsburg 2011. S. 279–349.
Martin Kluger: Das Renaissancerathaus und der Goldene Saal in Augsburg. 1620-2020, context, Augsburg 2020, ISBN 978-3-946917-21-2.
== Weblinks ==
Website der Stadt Augsburg
Stadtlexikon-Augsburg.de, Online-Ausgabe von 2007 des Stadtlexikons Augsburg von 1985
Geographische und klimatische Daten zu Augsburg
Augsburg-Wiki
Virtuelle Tour durch Augsburg mit über 30 Kugelpanoramen
Augsburg: Amtliche Statistik des Bayerischen Landesamtes für Statistik
Literatur zu Augsburg im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Schreibsprachen im Spätmittelalter: Augsburgisch. Universität Bielefeld, Merkmalkatalog.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Augsburg |
Wasserbüffel | = Wasserbüffel =
Der Wasserbüffel (Bubalus arnee) gehört zu den Rindern (Bovinae) und ist die am weitesten verbreitete und bekannteste Art der Asiatischen Büffel (Bubalus). Er ist vielerorts zum Haustier geworden, wilde Wasserbüffel hingegen sind heute eine Seltenheit. Für wilde Büffel wird oft die indische Bezeichnung Arni verwendet; damit werden sowohl echte Wild- als auch verwilderte Hausbüffel bezeichnet.
== Taxonomie ==
Ursprünglich wurde der wilde Wasserbüffel als Bubalus arnee, der Hausbüffel aber als Bubalus bubalis geführt. Heute werden sie zu einer Art zusammengefasst, laut Entscheidung der International Commission on Zoological Nomenclature (ICZN) Opinion 2027 ist arnee der gültige Name.
Umstritten ist allerdings, ob wirklich alle Wasserbüffel einer Art angehören. So sehen manche in den chinesischen Büffeln, deren wilde Vorfahren vor etwa 3500 Jahren ausstarben, eine eigene Art Bubalus mephistopheles. Als Unterart des Wasserbüffels wird gelegentlich der philippinische Tamarau geführt, der heute häufig den Rang einer eigenständigen Art erhält.
== Merkmale ==
Ein Wasserbüffel bringt es auf eine Kopf-Rumpf-Länge von fast 3 Metern, eine Schulterhöhe von 180 Zentimetern und ein Gewicht von mehr als einer Tonne. Diese Maße werden fast nur von wilden Büffeln erreicht. Die domestizierten Exemplare sind für gewöhnlich sehr viel kleiner und selten schwerer als 500 Kilogramm. Die Farbe der wilden Tiere ist grau, braun oder schwarz. Bei domestizierten Büffeln gibt es auch schwarz-weiß gescheckte oder ganz weiße Tiere.
Der Rumpf ist rindertypisch tonnenförmig, der etwa 60 bis 80 Zentimeter lange Schwanz hat eine Endquaste. Die weit auseinander gespreizten Hufe geben den Tieren in ihrem sumpfigen Lebensraum sicheren Halt.
Der Kopf ist meist lang und nach vorne hin verhältnismäßig schmal, die Ohren sind vergleichsweise klein. Beide Geschlechter tragen Hörner, die entweder geradlinig zur Seite weisen oder sich halbkreisförmig nach innen krümmen. Sie erreichen eine Spannweite von 2 Metern, mehr als bei jedem anderen lebenden Paarhufer; die Hörner der Weibchen sind allerdings meist etwas kürzer. Daneben existieren aber auch Büffelrassen mit kleineren Hörnern.
Die Lebensdauer eines wilden Wasserbüffels beträgt 25 Jahre; in der Obhut des Menschen werden Wasserbüffel noch einige Jahre älter.
== Wilde Wasserbüffel ==
=== Lebensweise ===
Den Lebensraum des Wasserbüffels bilden offene Feuchtgebiete, Sumpfwälder und dicht bewachsene Flusstäler. Zum Schutz vor Insekten und zur Abkühlung hält er sich oft im Wasser oder im Schlamm auf. Anschließend ist die Haut von einer dichten Schlammschicht bedeckt, die kein blutsaugendes Insekt durchdringen kann.
Da es in Asien fast nur noch domestizierte Wasserbüffel gibt, hat man das Verhalten dieser Tiere vor allem bei ausgewilderten Büffeln im Norden Australiens studiert. Wie weit dies dem ursprünglichen Verhalten entspricht, ist unbekannt. Wasserbüffel leben hier in Familiengruppen von dreißig Individuen, die von einer alten Kuh angeführt werden. Die Herden bestehen aus Weibchen und ihren Jungen. Junge Weibchen bleiben für gewöhnlich bei der Herde; jüngere Männchen werden dagegen im Alter von zwei Jahren aus der Herde vertrieben.
Die Bullen werden nach einer Übergangszeit in Junggesellenverbänden, die jeweils etwa zehn Individuen umfassen, zu temporären Einzelgängern, schließen sich aber alljährlich zur Paarungszeit (in Nordindien im Oktober, weiter südlich zu keiner festgelegten Jahreszeit) einer Herde an. Die dominante Kuh behält auch in dieser Zeit die Führung der Gruppe und jagt nach dem Ende der Paarungszeit die Bullen davon. Alte Bullen, die sich nicht mehr paaren können, leben bis zu ihrem Tod als dauerhafte Einzelgänger. Meistens sondern sie sich freiwillig ab, gelegentlich werden sie von einem jüngeren Bullen gewaltsam vertrieben.
Eine Kuh trägt etwa alle zwei Jahre ein Junges aus. Dies wird nach einer Tragzeit von 333 Tagen geboren und wiegt zunächst etwa 40 Kilogramm. Es wird etwa ein halbes Jahr gesäugt, ehe es selbständig grasen kann. Im Alter von zwei bis drei Jahren erlangen die Tiere die Geschlechtsreife.
Die Nahrung des Wasserbüffels sind in erster Linie Gräser, daneben auch fast jede Art von Ufervegetation. Neben dem Menschen sind Tiger, Warane und Krokodile die einzigen Fressfeinde des Wasserbüffels. Tiger attackieren bevorzugt Jungtiere oder Einzelgänger, da eine geschlossene Herde durch koordiniertes Vorgehen oft in der Lage ist, die Raubkatzen zu vertreiben oder in Einzelfällen durch den Einsatz der Hörner sogar zu töten.
=== Bestände ===
Das Verbreitungsgebiet des wilden Wasserbüffels ist seit der Eiszeit kontinuierlich geschrumpft. Noch im späten Pleistozän gab es Wasserbüffel auch in Nordafrika. Zur Zeit der frühen Hochkulturen waren sie weit verbreitet: von Mesopotamien über Indien bis nach China und Südostasien.
Der wilde Wasserbüffel wird von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) in der Roten Liste gefährdeter Arten als „stark gefährdete“ Art (Endangered) geführt. Es ist heute jedoch bei den meisten Beständen schwierig zu bestimmen, welche Wasserbüffel echte Wildbüffel und welche bloß Nachkommen verwilderter Hausbüffel sind. Die Bestandsangaben schwanken deshalb zwischen 200 und 4000 Exemplaren.
Indien beherbergt heute mit über 3000 Exemplaren die meisten wilden Wasserbüffel. Aber ihre Reinblütigkeit steht fast überall im Zweifel. Sie kommen nur noch in kleinen Gruppen in wenigen Reservaten vor:
In Assam kommen wilde Wasserbüffel im Gebiet des Manas-Nationalparks, im Kaziranga-Nationalpark, im Laokhowa-Schutzgebiet und im Dibru-Saikhowa-Nationalpark vor. Im Manas-Gebiet bewohnen die Tiere auch angrenzende Teile Bhutans.
In Arunachal Pradesh leben wilde Wasserbüffel im Namdapha-Nationalpark-Gebiet.
In Chhattisgarh gibt es zwei Populationen: eine im Indravati-Nationalpark, die andere im Udanti-Reservat. Letztere könnte sich bis in angrenzende Gebiete Orissas ausdehnen.
Weitere kleine Gruppen gibt es in Madhya Pradesh und Meghalaya.Die einzige Population in Nepal lebt im Kosi-Tappu-Wildreservat im Südosten des Landes und besteht aus etwa 150 Tieren.In Südostasien existieren darüber hinaus nur noch winzige, versprengte Restbestände. Die einzige Population wilder Wasserbüffel in Thailand lebt im Huai-Kha-Kaeng-Reservat und besteht aus etwa 50 Tieren, die mit Hauswasserbüffeln vermischt sein könnten. Einige Dutzend halten sich in Kambodscha im Osten der Provinz Mondulkiri. In Vietnam und Laos sind die letzten Bestände erloschen. Für Myanmar liegen keine aktuellen Schätzungen vor.Die wildlebenden Wasserbüffel Sri Lankas tragen wahrscheinlich ein hohes Maß an Hausbüffelgenen in sich, da die Bestände in der jüngeren Vergangenheit durch den Ausbruch der Rinderpest am Ende des 19. Jahrhunderts stark zusammengeschmolzen sind und sich die überlebenden Populationen vor ihrer Erholung mit Hausbüffeln gekreuzt haben dürften.
== Domestizierte Wasserbüffel ==
Weltweit gibt es 150 Millionen domestizierte Wasserbüffel (Hausbüffel). Aufgrund der Umstellung auf maschinelles Pflügen ist der Einsatz und damit auch die Zahl dieser Arbeitstiere in den letzten ca. 25 Jahren drastisch zurückgegangen (besonders z. B. in Thailand).
=== Domestikation und Verbreitung ===
Wann der Wasserbüffel domestiziert wurde, ist umstritten, da sich die Knochen wilder und domestizierter Tiere nicht unterscheiden lassen. Eine genetische Studie aus dem Jahr 2008 deutet darauf hin, dass die erste Domestikation nicht in China stattfand. Wahrscheinlich wurden der Flussbüffel und der Sumpfbüffel – die beiden wichtigsten Typen der Wasserbüffel – unabhängig voneinander domestiziert: zuerst der Flussbüffel in Indien vor etwa 5000 Jahren, dann der Sumpfbüffel in China vor etwa 4000 Jahren.In der Indus-Kultur wurden Wasserbüffelknochen teilweise in großer Zahl gefunden (zum Beispiel an der Fundstätte Dholavira in Gujarat), man nimmt daher eine Herdenhaltung und die Nutzung für den Ackerbau an. Vom Industal aus kamen Hausbüffel nach Mesopotamien, von Indien und China gelangten sie nach Südostasien. Schon lange vor der Zeitenwende gab es in diesem gesamten Verbreitungsgebiet domestizierte Büffel. Heute ist Indien das Land mit den meisten Hausbüffeln, gefolgt von Pakistan und China.
In historisch jüngerer Zeit gelangten Wasserbüffel auch in andere Regionen: In Nordafrika (vor allem Ägypten), Südamerika (vor allem Brasilien), Süd- und Mitteleuropa, Mauritius, Australien, Hawaii und Japan werden heute in unterschiedlichem Maße Wasserbüffel gehalten. In Europa werden Büffel in Italien, Rumänien und Bulgarien in größerem Stil genutzt. In Ungarn leben noch etwa 200 Büffel, ein kleiner Restbestand von ehemals 100.000 Büffeln (siehe Büffelreservat am Kis-Balaton). In Australien, wo die Büffelhaltung weitgehend aufgegeben wurde, verwilderten die Tiere und besiedelten den Norden, wo sie heute in etwa 200.000 Exemplaren vorkommen. Verwilderte Wasserbüffel gibt es in kleinerer Zahl auch in anderen Ländern (siehe unten).
Domestizierte Büffel verhalten sich gegenüber Menschen friedlich und lassen sich sogar von Kindern dirigieren, während wilde Büffel in der Regel die Flucht vor dem Menschen ergreifen. Allerdings werden die einzelgängerischen alten Bullen gelegentlich sehr aggressiv und greifen dann Menschen und selbst Elefanten an. Sie sollen gelegentlich durch die Farben Gelb und Orange provoziert werden, weshalb z. B. die thailändischen Mönche mit ihrer orangen Robe oft einen größeren Bogen um sie machen.
=== Nutzen ===
Wasserbüffel werden zum Pflügen von Reisfeldern und als Lasttiere verwendet. Milch, Fleisch und Leder werden ebenfalls genutzt. Ein weiterer Vorteil des Wasserbüffels liegt darin, dass er von BSE nicht betroffen ist; Büffel in China erkranken gelegentlich an der Maul- und Klauenseuche.
==== Milch ====
Mit den heutigen Hausrindern können Wasserbüffel bei der Menge von Fleisch und Milch je Tier noch nicht mithalten. Büffelmilch hat verglichen mit Kuhmilch einen doppelt so hohen Fettgehalt (8 %) und längere Haltbarkeit. Jährlich werden in Asien 45 Millionen Tonnen Büffelmilch gewonnen. Durch gezielte Zucht immer ergiebigerer Büffelrassen konnte die Milchproduktion je Tier in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gesteigert werden. Noch 1970 wurde ein Wert von 3000 Litern je Tier und Laktationsperiode (etwa 300 Tage) für einen Rekord gehalten; heute gibt es hochgezüchtete Büffelrassen, die 5000 Liter Milch im gleichen Zeitraum abgeben. Der Murrah gilt als die Büffelrasse, die in der Milchwirtschaft am vielversprechendsten ist; Züchter gehen davon aus, in naher Zukunft mit Wasserbüffeln ebenso viel Milch produzieren zu können wie mit Milchkühen.
2015 hatte die Büffelmilch, mit 110 Milliarden Kilo, einen Anteil von 13 % an der weltweiten Milchproduktion.Büffelmilch enthält je Gramm 0,19 mg Cholesterin (Rindermilch: 0,14 mg). Sie ist außerdem reicher an Kalzium, Eisen, Phosphor und Vitamin A.
Mozzarella wurde ursprünglich aus Büffelmilch gewonnen – heute wird meistens aus Rindermilch hergestellter Mozzarella verkauft, der geschmacksärmer und von anderer Konsistenz ist. Echter Büffelmozzarella wird weiterhin aus Wasserbüffelmilch hergestellt.
==== Fleisch ====
Büffelfleisch ist in Europa bisher kaum bekannt, in Asien und Nordafrika dagegen jedoch traditioneller Bestandteil der Ernährung. Die globale Produktion von Büffelfleisch nahm zwischen 1970 und 2006 von 1.322.000 Tonnen auf 3.181.000 Tonnen um 140,8 % zu. Unter den führenden Ländern sind beispielsweise Indien, China, Ägypten, Nepal oder Indonesien.
Büffelfleisch weist nicht nur verhältnismäßig geringe Fett- und Cholesterinwerte auf, sondern enthält auch überproportional viel Eisen und Protein.Zudem wurde in wissenschaftlichen Analysen durch das Institut für Lebensmittelhygiene Leipzig und das argentinische Institut für Lebensmitteltechnologie des nationalen Landwirtschaftstechnologieinsitutes (INTA) ein sehr gutes Verhältnis von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren festgestellt. Büffelfleisch enthält durchschnittlich im Muskelfleisch auf 100 Gramm 24 % Protein, 1,5 % Fett, 35 mg Cholesterin, 2 % Eisen sowie 110 Kilokalorien.
==== Beweidung ====
Ein Beispiel aus dem Landkreis Mühldorf (Bayern) zeigt, wie Wasserbüffel als Habitatkonstrukteure wirken. Dort wurde eine seit 1996 mit Rindern beweidete Feuchtbrache 2011 zusätzlich mit Wasserbüffeln besetzt und die Raumnutzung sowie das Verhalten der Wasserbüffel untersucht sowie die Amphibienfauna beobachtet. Durch die Beweidung entwickelte sich die ursprünglich dichte und hohe Vegetation aus Hochstauden und Schilfröhricht zu einem Mosaik aus Weiderasen sowie höheren Gras- und Staudenbeständen. Röhricht in Gewässern wurde stark reduziert und die Besonnung der Uferzonen nahm zu. Im Gebiet hat der Bestand des Grasfroschs (Rana temporaria) seit Projektbeginn deutlich zugenommen. Auch bei der Gelbbauchunke (Bombina variegata) deutet sich ein Bestandsanstieg an. Sie laicht in den von Weidetieren offengehaltenen Uferbereichen eines Tümpels und seit 2011 in den von Wasserbüffeln neu geschaffenen Gewässern. Durch Suhlen, und indem die Büffel in nassen Bereichen der Weide Pfade bahnten, entstanden vegetationsfreie, besonnte Kleingewässer in zuvor dichter Vegetation. Es deutet sich an, dass eine Beweidung mit Wasserbüffeln eine Alternative zur maschinellen Entlandung oder Neuschaffung solcher Gewässer darstellen kann.
=== Rassen ===
74 Rassen von Hausbüffeln sind bekannt. Sie werden grob in Sumpf- und Flussbüffel unterteilt:
Sumpfbüffel sind vor allem Arbeitstiere, sie werden überwiegend in China und Südostasien gezüchtet. Sie helfen bei der Bewirtschaftung der Reisfelder. Erst wenn sie für die Arbeiten zu alt sind, werden sie geschlachtet und gegessen. Für die Milchproduktion spielen sie so gut wie keine Rolle.
Flussbüffel werden für Milch- und Fleischproduktion gezüchtet. Das Zentrum der Flussbüffelzucht liegt in Indien, wo es die meisten Rassen und die ergiebigsten Tiere gibt.Wichtige Rassen bei den Arbeitstieren sind:
Carabao (Philippinen und Guam): graues oder schwarzes Fell, halbmondförmige Hörner
Malaiischer Büffel (Südostasien): graues Fell, mittellange, halbmondförmige HörnerZu den Milchrassen gehören:
Murrah (Haryana und Punjab): gilt als ergiebigste aller Milchbüffelrassen, weltweit exportiert
Nili-Ravi (Punjab): schwarzes Fell mit weißer Zeichnung im Gesicht, sehr kurze Hörner
Pandharpuri (Maharashtra): schwarzes Fell, erkennbar an den schwertartigen, riesigen Hörnern (jeweils bis 150 cm lang)
Kundi (Sindh): schwarzes Fell, besonders schwer und massigEs gibt auch Rassen mit gemischter Nutzung, zum Beispiel Saidi in Oberägypten und Baladi in Unterägypten. Inzwischen wird die Zucht auch in Nordamerika und Europa fortgesetzt.
=== Büffelzucht in Deutschland ===
Es gibt einige Höfe, auf denen Wasserbüffel gezüchtet werden. Zum Beispiel eine Büffelzucht mit ca. 290 Tieren (Stand 2014) in Hohenstein-Meidelstetten auf der Schwäbischen Alb. Im Jahr 2008 lebten etwa 1800 Wasserbüffel in Deutschland. Anfang März 2010 waren es nach Angaben des Deutschen Büffelverbandes e. V. mit 2362 Büffel fast viermal so viele wie im Jahr 2000. Im September 2018 war in Bayern und Baden-Württemberg noch ein Züchter mit 20 Herdbuchkühen erfasst, in Sachsen im Februar 2020 noch ein Züchter mit zwei Bullen und 64 Kühen und in Sachsen-Anhalt gab es 2017 noch vier Haltungen mit insgesamt 34 Tieren.
=== Büffelzucht in der Schweiz ===
In der Schweiz wurden die ersten Wasserbüffel 1996 aus Rumänien importiert und in der Region Schangnau gehalten, u. a. in Eggiwil. Die Milch wird vorwiegend in Marbach LU zu Mozzarella verarbeitet. Ende 2021 lebten in der Schweiz über 2200 Wasserbüffel.
== Verwilderte Wasserbüffel ==
=== Vorkommen ===
Im Norden Australiens entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine sehr große verwilderte Population. Kleinere verwilderte Populationen existieren in Neuguinea, Tunesien und im Nordosten Argentiniens. Verwilderte Herden gibt es ferner in Kolumbien, Guyana, Suriname, Brasilien und Uruguay sowie auf den Inseln Neubritannien und Neuirland.
=== Population in Australien ===
Zwischen 1823 und 1840 wurden durch den Menschen 80 Wasserbüffel zur Fleischproduktion im Northern Territory in Australien eingeführt. Einzelne Tiere und Herden verwilderten und vermehrten sich unter ihren neuen Lebensbedingungen so schnell, dass nach Schätzungen der australischen Regierung zwischen 1880 und 1970 insgesamt 700.000 Tiere erlegt werden mussten. 1985 lebten mit einem Bestand von 350.000 Tieren mehr als die Hälfte der weltweit nicht als Haustiere gehaltenen Wasserbüffel in Australien.
Die verwilderten Wasserbüffel stellten in den Marschregionen an Australiens Nordküste ein gravierendes ökologisches Problem dar. Sie verstärkten durch ihre Trampelpfade und ihr Suhlen die Bodenerosion, veränderten durch ihr Fressverhalten die Zusammensetzung der lokalen Flora und erleichterten durch ihr Suhlen das Eindringen von Salzwasser in Süßwasserhabitate. Sie veränderten damit ihren Lebensraum so nachhaltig, dass die Anzahl der dort lebenden Australien-Krokodile, des australischen Süßwasserfisches Barramundi und ähnlicher einheimischer Arten drastisch zurückging. Zu diesen gravierenden ökologischen Auswirkungen trug wesentlich bei, dass sich in den Trockenzeiten auf einem Quadratkilometer Marschland bis zu 35 Tiere aufhielten.
Wasserbüffel sind außerdem Überträger von Rinderkrankheiten wie der Tuberkulose und der Rinderbrucellose. Besonders Letztere hat dazu beigetragen, dass der Wasserbüffelbestand sowohl von der Regierung als auch von der Mehrheit der australischen Bevölkerung als zu bekämpfende Plage angesehen wird.
Von 1979 bis 1997 wurde von der australischen Regierung ein Programm zum Abschuss verwilderter Wasserbüffel durchgeführt, wobei die Tiere, die im unzugänglichen Marschland lebten, zum Teil vom Helikopter aus abgeschossen wurden. Die Anzahl der verwilderten Wasserbüffel ist seitdem deutlich zurückgegangen. In dem zum Weltnaturerbe gehörenden Kakadu-Nationalpark beispielsweise wurde die Anzahl der dort lebenden Tiere von 20.000 im Jahre 1988 auf 250 im Jahre 1996 reduziert und damit erreicht, dass die Bestände einheimischer Pflanzen wie bestimmte Eukalyptus-Arten und die Rote Wasserlilie sich wieder erholten.
== Symbolik ==
=== Mythologie und Volksglaube ===
Ein so eng mit dem Menschen verbundenes Tier wie der Wasserbüffel taucht naturgemäß in vielen Märchen und Sagen der mit ihm assoziierten Völker auf.
In der indischen Mythologie verkörpert der Wasserbüffel unter anderem den Dämon Mahishasura, ein Mischwesen aus Büffel und Mensch, das von keinem der Götter besiegt werden konnte, bis die Kriegsgöttin Durga ihn zuletzt doch niederrang. Im Hinduismus erinnern das bengalische Durgapuja sowie das nepalesische Dashain-Fest an diesen Kampf zwischen Gut und Böse. In Nepal ist es ein staatlicher Feiertag. Zu diesem Fest wird in einer Prozession ein Büffelkopf durch die Straßen getragen, der Mahishasura symbolisieren soll.
Der Büffel taucht noch in einer anderen, ebenfalls nicht sehr positiven Rolle auf: Yama, im Hinduismus der Herr der Unterwelt, wird oft auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. Zu bestimmten Gelegenheiten nimmt der Gott selbst die Gestalt eines Büffels an.
Der chinesische Philosoph Laozi wird meistens auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. In der chinesischen Astrologie ist der Büffel eines der zwölf Sternzeichen. 2033 ist das nächste Jahr des Büffels.
In Osttimor ist der Wasserbüffel ein Symbol von Macht. Seinen Hörnern ist die Kaibauk, eine Art Krone und Herrschaftssymbol, nachempfunden. Obwohl die Bevölkerung nahezu vollständig katholisch ist, werden nach animistischer Tradition neben Kreuzen auch Büffelhörner und -schädel auf Gräbern aufgestellt.
=== Sonstiges ===
In dem berühmten Dschungelbuch von Rudyard Kipling wird Mogli nach seiner Rückkehr zu den Menschen zu einem Büffelhirten. Die Büffel sind es, die letztlich den bösartigen Tiger Shere Khan zu Tode trampeln.
„Büffel“ (khwaai) ist in Thailand eine der abfälligsten Bezeichnungen zur Charakterisierung eines Menschen, auch im Sinne einer Beleidigung, und in der Ausdrucksstärke vergleichbar mit „Schwein“ im Deutschen. Gemeint ist damit jemand, der stur, dumm, lernunfähig, stumpf oder unbeweglich ist.
Aufgrund ihrer Wasserkühlung und einer starken Leistung von bis zu 67 PS erhielt das Motorrad Suzuki GT 750 in den 1970er-Jahren schnell im deutschsprachigen Raum den Szenenamen „Wasserbüffel“, unter dem es heute noch bekannt ist.
== Literatur ==
Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Säugetiere Band 13. dtv, München 1970. ISBN 3-423-03207-3
Ronald Nowak: Walker’s Mammals of the World. Bd. 2. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999. ISBN 0-8018-5789-9
The Water Buffalo. New Prospects for an Underutilized Animal. Books for Business. Washington 1981, 2002. ISBN 0-89499-193-0
Tim Low: Feral future. The untold story of Australia's exotic invaders. Penguin Books Australia Ltd, Ringwood 2001. ISBN 0-14-029825-8 (Dieses Buch beschreibt u. a. die ökologischen Probleme, die die Verwilderung der Wasserbüffel in Australien nach sich zog.)
Dorian Fuller: An agricultural perspective on Dravidian historical linguistics, archaeological crop packages, livestock and Dravidian crop vocabulary. In: Peter Bellwood, Colin Renfrew: Examining the farming/language dispersal hypothesis. Macdonald Institute for Archaeological Research, Cambridge 2002, 191–213. ISBN 1-902937-20-1 (zur Domestikation)
== Weblinks ==
Prof. Dr. Zeigert und Peter Biel: Nutzung des Wasserbüffels bei extensiver Beweidung von Feucht- und Moorstandorten, Naturweiden und Brachland, auf der Homepage seiner Büffelfarm Hatten, 2012
Wasserbüffel in der Landschaftspflege (LEL BW)
Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Wasserbüffel in der Landschaftspflege, Projektbericht u. a. von Studenten der HTW Dresden, 2004 (pdf)
Zuchtverband Sächsischer Rinderzuchtverband e.G.: Zuchtprogramm für die Rasse Wasserbüffel (Februar 2020, pdf)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserb%C3%BCffel |
FC Arsenal | = FC Arsenal =
Der Arsenal Football Club – auch bekannt als FC Arsenal, Arsenal FC, (The) Arsenal, (The) Gunners (deutsche Übersetzung: „Schützen“ oder „Kanoniere“) oder im deutschsprachigen Raum auch Arsenal London genannt – ist ein 1886 gegründeter Fußballverein aus dem Stadtteil Holloway des Nordlondoner Bezirks Islington. Mit 13 englischen Meisterschaften und 14 FA-Pokalsiegen zählt der Klub zu den erfolgreichsten englischen Fußballvereinen.
1886 wurde der Verein von Arbeitern in Woolwich als Dial Square gegründet. Unter Trainer Herbert Chapman gewann der Verein 1930 erstmals den FA Cup, im Jahr darauf wurde man erstmals englischer Meister. Insgesamt wurden in den 1930er Jahren fünf nationale Meisterschaften und zweimal der FA Cup gewonnen. Das erste Double gewann der Verein unter Bertie Mee. In den 1980ern und zu Beginn der 1990er Jahre führte George Graham den Verein zu zwei Meisterschaften, einem Double aus den zwei heimischen Pokalen FA Cup und Ligapokal und einem Titelgewinn im Europapokal der Pokalsieger. Unter dem Trainer Arsène Wenger gewann Arsenal zwei weitere Doppelerfolge aus englischer Meisterschaft und FA Cup in einer Spielzeit und verlor dabei während der kompletten Meisterschaftssaison 2003/04 in der Liga kein einziges Spiel. In der Spielzeit 2005/06 zog Arsenal erstmals in seiner Geschichte in das Finale der Champions League ein. Mit 14 Siegen ist Arsenal Rekordsieger des FA Cups, zuletzt wurde der Pokal 2020 gewonnen.
Seine Heimspiele trägt der Verein seit 2006 im aktuell 60.704 Zuschauer fassenden Emirates Stadium aus. Zuvor war seit 1913 das Highbury im gleichnamigen Stadtteil die Heimstätte der Gunners.
== Geschichte ==
=== Frühzeit (1886–1910) ===
Arsenal wurde 1886 als Dial Square von einer Gruppe von Arbeitern gegründet, die in der gleichnamigen Werkstatt beim Rüstungsfabrikanten „Royal Arsenal“ in Woolwich im Südosten Londons beschäftigt waren. Angeführt wurde die Mannschaft von dem Schotten David Danskin, der auch für den Verein den ersten Ball erstand. Mit Fred Beardsley stieß zudem ein früherer Torhüter von Nottingham Forest zu der Mannschaft und besorgte später seiner neuen Mannschaft von seinem alten Verein einen Satz roter Trikots, wobei diese Farbe noch bis heute in der Spielkleidung Verwendung findet.
Dial Square absolvierte seine erste Partie am 11. Dezember 1886 gegen die Eastern Wanderers auf einem offenen Spielfeld auf der Halbinsel Isle of Dogs und gewann diese mit 6:0. Der Verein wurde kurze Zeit später in Royal Arsenal umbenannt, wobei dies gemäß den historischen Aufzeichnungen am 1. Weihnachtstag stattfand. Royal Arsenal spielte zunächst auf einem allgemein zugänglichen Platz in Plumstead und zog 1888 zum nahe gelegenen Manor Ground. Bereits 1890 zog der Verein weiter zu dem benachbarten Invicta Ground, bevor er drei weitere Jahre später zum Manor Ground zurückkehrte.
Royal Arsenal konnte in dieser Zeit bereits seine ersten Titel gewinnen, wie beispielsweise den „Kent Senior Cup“ im Jahr 1890 und den „London Senior Cup“ nur ein weiteres Jahr danach. Erstmals am FA Cup nahm Royal Arsenal 1889 teil, wo jedoch der große Leistungsunterschied zwischen dem Klub und den professionellen Mannschaften aus Nordengland deutlich wurde. Als weitere Gefahr kam zunehmend das aggressive Abwerben der eigenen Amateurspieler durch Profivereine hinzu, was schließlich dazu führte, dass Royal Arsenal selbst ein Profiverein wurde. Zur gleichen Zeit änderte der Verein seinen Namen in Woolwich Arsenal um.
Woolwich Arsenals Aufstieg zum Profiklub wurde von vielen Amateurklubs im Süden Englands missbilligt, was sich darin äußerte, dass der Verein von lokalen Wettbewerben ausgeschlossen wurde. Als man lediglich Freundschaftsspiele und Partien im FA Cup absolvieren konnte, versuchte der Klub ein südliches Pendant zur Football League ins Leben zu rufen. Dieses Vorhaben gelang nicht und führte dazu, dass der Verein einer ungewissen Zukunft entgegen sah. Die Football League rettete Woolwich Arsenal: Als erster südenglischer Verein überhaupt durfte er 1893 zunächst in der zweitklassigen Second Division am Profiligabetrieb teilnehmen.
In der Second Division absolvierte Woolwich Arsenal elf Spielzeiten und belegte dabei vor der Verpflichtung von Harry Bradshaw im Jahr 1899 zumeist einen Mittelfeldplatz. Durch einige spektakuläre Neuverpflichtungen – darunter der erste englische Nationalspieler Arsenals, Torhüter Jimmy Ashcroft, und Mannschaftskapitän Jimmy Jackson – konnte 1904 der Aufstieg in die First Division realisiert werden. Bevor der Verein jedoch auch nur eine Partie in der obersten Spielklasse absolviert hatte, war Bradshaw zum FC Fulham gewechselt. Trotz einiger Achtungserfolge im FA Cup, als man 1906 und 1907 jeweils das Halbfinale erreichen konnte, entwickelte sich der Klub fortan negativ.
Als Hauptgrund für den Niedergang galten die anhaltenden finanziellen Probleme, die den Verein trotz der Hochkonjunktur im englischen Fußball des frühen 20. Jahrhunderts begleiteten. Die Probleme waren auch auf die geographische Lage des Klubs zurückzuführen, die sich aufgrund der unterbevölkerten Region in Plumstead in geringen Zuschauerzahlen und -einnahmen auswirkten. Um liquide zu bleiben, musste Woolwich Arsenal seine besten Spieler wie beispielsweise Ashcroft, Tim Coleman und Bert Freeman verkaufen und platzierte sich dadurch immer weiter unten in der Tabelle, was wiederum die finanzielle Situation weiter verschlimmerte. Dies führte zu einer Situation, in der der Verein kurz vor einem Bankrott stand, der erst durch den Aufkauf des Geschäftsmannes Sir Henry Norris im Jahr 1910 abgewendet werden konnte.
=== Umzug nach Highbury (1910–1925) ===
Norris war sich über die Probleme und den Zusammenhang mit dem Standort von Woolwich Arsenal bewusst und agierte verzweifelt, um die Einnahmeseite des Vereins zu steigern. Zunächst beabsichtigte er eine Fusion mit dem FC Fulham, zumal er bei beiden Klubs in der Vereinsführung engagiert war. Nachdem dieses Vorhaben von der Football League verhindert worden war, gab Norris diesen Plan auf und suchte nach Möglichkeiten eines Umzugs. Im Jahr 1913, als der Verein als Tabellenletzter in die Second Division abstieg, zog Woolwich Arsenal vom Südosten Londons in das Highbury in den Norden der Stadt. Trotz großer Einwände von sowohl den in Woolwich ansässigen Vereinsanhängern als auch von Einwohnern des Stadtteils Highbury setzte Norris den Umzug hartnäckig durch, wobei dieser von einer Spende des Arsenal-Inhabers über vermutlich 125.000 Pfund für den Bau des neuen Stadions begleitet wurde. Als zusätzlicher Nebeneffekt führte der Umzug dazu, dass der ebenfalls im Südosten Londons beheimatete Verein Charlton Athletic zu einem Profiklub wurde.
Nachdem der Verein 1914 den Zusatz „Woolwich“ abgelegt hatte, trat er fortan als „The Arsenal“ auf und nahm 1919 wieder an der First Division teil, obwohl er in der letzten Spielzeit vor dem Ersten Weltkrieg 1914/15 in der zweiten Liga nur den fünften Platz belegt hatte. Der Grund dafür war die Erweiterung der First Division von 20 auf 22 Teilnehmer, die dazu führte, dass bei der Hauptversammlung der Football League zwei weitere Klubs für die First Division auserwählt wurden. Einer der zusätzlich vergebenen Plätze wurde an den FC Chelsea vergeben, der zuvor als Neunzehnter der First Division eigentlich hätte absteigen müssen. Als weiterer Kandidat für den zweiten Platz standen dann zunächst mit Tottenham Hotspur der ursprünglich Tabellenletzte und mit dem FC Barnsley und den Wolverhampton Wanderers die dritt- und viertplatzierten Vereine aus der Second Division zur Disposition.
Die Football League stellte jedoch historische Gründe über den sportlichen Erfolg und entschied sich deshalb für den nur fünftplatzierten Verein The Arsenal. Norris hatte argumentiert, dass Arsenal aufgrund der langjährigen Verdienste für den Ligafußball sowie als erster Ligaverein aus dem Süden den Aufstieg verdiente. Das zuständige Komitee der Football League schloss sich dieser Meinung an und votierte mit 18 Stimmen gegen nur acht Contra-Stimmen für die Bevorzugung von Arsenal gegenüber Tottenham, was in der weiteren Geschichte mitverantwortlich für die lang anhaltende Rivalität zwischen den beiden Klubs sein sollte. Dabei wurde Arsenal vorgeworfen, hinter den Kulissen gemauschelt und in der Person von Sir Henry Norris Bestechungen getätigt zu haben. Ebenfalls wurde bei dem Prozess kritisch beäugt, dass Norris eine persönliche Freundschaft zu John McKenna pflegte, der gleichzeitig Vorsitzender des FC Liverpool und der Football League war. Obwohl keine zuverlässigen Beweise ans Licht gekommen sind, führten doch weitere Aspekte diverser Finanztransaktionen von Norris, die nicht im direkten Zusammenhang mit der Streitfrage um den Aufstieg standen, zu zahlreichen Spekulationen in der Angelegenheit. Seit der Wiederaufnahme in der obersten Spielklasse blieb Arsenal fortan ohne Unterbrechung in dieser Liga und ist damit Rekordhalter bezogen auf die Zugehörigkeitsdauer zu der englischen Eliteliga.
Obwohl der Umzug nach Highbury einen größeren Zuschauerzuspruch zur Folge hatte und die finanziellen Perspektiven deutlich verbesserte, war Arsenals Rückkehr in die First Division nicht sofort von Erfolg gekrönt. Unter Leslie Knighton schloss Arsenal nie besser als auf dem neunten Platz ab und war in der Saison 1923/24 einem erneuten Abstieg bedrohlich nahe. Auch in der anschließenden Saison war trotz eines recht komfortablen Sieben-Punkte-Abstands zur Abstiegszone der 20. Tabellenplatz eine erneute Enttäuschung und Norris entließ Knighton im Mai 1925, um an seiner Stelle mit Herbert Chapman den vormaligen Trainer von Huddersfield Town zu verpflichten.
=== Die Ära Chapman (1925–1934) ===
Chapman führte bei Arsenal zahlreiche Reformen durch und modernisierte dabei vor allem das Training und den Bereich Physiotherapie. Des Weiteren war es auf ihn zurückzuführen, dass auf den Trikots erstmals Nummern hinzugefügt wurden und sich die Farben dahingehend änderten, dass sich zu den vormals rein roten Hemden die Ärmel nun weiß absetzten. Ebenfalls in Chapmans Amtszeit legte der Verein den „The“-Artikel ab und der Pionier stand mutmaßlich hinter der Umbenennung der London-Underground-Haltestelle „Gillespie Road“ in „Arsenal“. Chapman konnte nun über ein deutlich höheres Transferbudget für neue Spieler verfügen, das sich aus den gesteigerten Einnahmen nach dem Umzug und einer neuen Philosophie von Henry Norris begründete. Norris, vormals ein eher vorsichtiger Vereinsvorsitzender, wies nun an, verstärkt Investitionen zu tätigen.
Chapmans erste Spielerverpflichtung war der altgediente Charlie Buchan vom FC Sunderland, der sowohl auf als auch außerhalb des Spielfeldes eine wichtige Rolle spielte. Nach einer 0:7-Niederlage gegen Newcastle United im Oktober 1925 regte Buchan in Reaktion auf die veränderte Abseitsregel einen Wechsel in der taktischen Ausrichtung der Mannschaft an und empfahl dabei eine Umstellung auf das sogenannte „WM-System“, was unter anderem eine Verstärkung der Defensive nach dem Rückzug des Mittelläufers in die Abwehrformation und einen Schutz vor gegnerischen Angriffen über die Flanken durch die Außenverteidiger bedeutete. Im weiteren Verlauf entwickelte Chapman die Formation weiter und legte Schwerpunkte auf eine temporeiche Angriffsreihe mit Flügelspielern, die nach innen zogen, sowie einen kreativen Mittelfeldspieler, der sich für die Ballverteilung verantwortlich zeigen sollte. Chapmans Fähigkeit, diese Positionen mit adäquaten Spielern zu besetzen, sorgte dafür, dass sich langsam eine Mannschaft entwickelte, die begann, den Fußball in England zu dominieren.
In Chapmans erster Saison gewann Arsenal die Vizemeisterschaft, was zu diesem Zeitpunkt das beste Ergebnis in der Vereinsgeschichte darstellte. Dieser Aufwärtstrend konnte jedoch zunächst nicht fortgesetzt werden und Arsenal bewegte sich stets im Mittelfeld der Liga. Chapman baute die Mannschaft dabei fundamental um und verpflichtete neue Akteure, darunter den Flügelspieler Joe Hulme, den Stürmer Jack Lambert sowie die Verteidiger Tom Parker und Herbie Roberts, die er umgehend in seine neue Mannschaft einbaute. Im Jahr 1927 erreichte Arsenal erstmals das Endspiel im FA Cup und verlor unglücklich mit 0:1 gegen Cardiff City, nachdem Arsenals Torhüter Dan Lewis einen harmlos wirkenden Schuss durch seine Arme gleiten ließ. Cardiff gewann damit als bis heute einziger nicht-englischer Verein in der Geschichte diesen Pokal.
Chapman ließ sich davon nicht beirren und stockte die Mannschaft weiter auf mit dem zukünftigen Mannschaftskapitän Eddie Hapgood sowie mit den drei weiteren leistungsstarken Offensivspielern David Jack, Alex James und Cliff Bastin. Vor allem Alex James wurde als Spielmacher im Mittelfeld für seine Unterstützung der Flügelspieler und der Sturmreihe als Motor der Mannschaft gefeiert. Drei Jahre später gelangte Arsenal erneut ins FA Cupfinale, das für das Erscheinen des tief fliegenden deutschen Luftschiffes Graf Zeppelin bekannt wurde. Arsenal siegte gegen Chapmans alten Klub Huddersfield Town nach Toren von James und Lambert mit 2:0 und errang somit den ersten großen Titel in seiner Geschichte.
Dieser Sieg begründete den Anfang eines äußerst erfolgreichen Jahrzehnts, in dem Arsenal der dominierende Verein in England wurde. Unter Chapman gewann der Verein in der Saison 1930/31 erstmals die englische Meisterschaft und schoss dabei im Saisonverlauf 127 Tore. Im folgenden Jahr verlor Arsenal das FA-Cup-Endspiel umstritten gegen Newcastle United. Arsenal war bereits nach einem Treffer von Bob John mit 1:0 in Führung gegangen, bis ein Ball weit in die Spielhälfte von Arsenal geschossen wurde und die Torauslinie bereits überschritten hatte, was einen Abstoß zur Folge hätte haben müssen. Dennoch flankte Newcastles Flügelspieler Jimmy Richardson den Ball zurück auf das Spielfeld und Jack Allen konnte den Ball zum Ausgleich verwerten. Ein weiteres Tor von Allen sorgte für den letztendlichen 2:1-Sieg der „Magpies“. Einen weiteren Rückschlag musste Arsenal in der Meisterschaft hinnehmen, als der Verein zwar nach einem sehr schwachen Start in die Saison 1931/32 beständig aufholen konnte, am Ende aber mit zwei Punkten Abstand auf den neuen Titelträger FC Everton nur auf dem zweiten Platz landete.
Nur ein Jahr später gewann Arsenal in der Saison 1932/33 seine zweite Meisterschaftstrophäe. Auch diese Spielzeit war von einem schwachen Beginn Arsenals gekennzeichnet, sowie einer stetigen Aufholjagd, die im April 1933 mit dem 5:0-Heimsieg gegen den zweitplatzierten Verein Aston Villa und den damit sichergestellten Titel gekrönt wurde. Mittlerweile war die erste Generation von Chapmans Spielerverpflichtungen in die Jahre gekommen und der Erfolgstrainer begann, mit den Transfers von George Male für Tom Parker und Ray Bowden für David Jack in die Zukunft zu investieren. In diese Zeit fiel auch eine der größten Sensationen in der Geschichte des FA Cups, als Arsenal gegen den Drittligisten FC Walsall unterlag. Trotz des Ausfalls von fünf Spielern, die aufgrund einer Influenza hatten pausieren müssen, besaß die Mannschaft über genügend Spielerqualität, verlor aber dennoch mit 0:2. Tom Black, der den Elfmeter verschuldet hatte, der zum 0:2 führte, wurde von einem aufgebrachten Chapman binnen einer Woche an Plymouth Argyle verkauft.
=== Der „Meisterschafts-Hattrick“ (1934–1939) ===
Nach einem soliden Start in die Saison 1933/34 ereilte den Verein im Januar 1934 ein Schicksalsschlag, als Herbert Chapman plötzlich an einer Lungenentzündung verstarb. Der Interimstrainer Joe Shaw übernahm die Mannschaftsleitung und verteidigte mit dem Verein den Meistertitel, obwohl Hulme und James aufgrund von Verletzungen den Großteil der Spielzeit aussetzen mussten und Arsenal somit aufgrund des geschwächten Angriffs mit 75 Treffen zu verhältnismäßig wenig Toren kam. In der Vorsaison hatte Arsenal noch 118 Tore erzielt.
Zum neuen hauptamtlichen Cheftrainer wurde George Allison – ehemals in der Vereinsführung tätig – ernannt, der der Mannschaft mit den weiteren Neuverpflichtungen frisches Blut hinzufügte, darunter die Mittelfeldspieler Jack Crayston und Wilf Copping sowie der Torjäger Ted Drake. Mit diesen neuen Spielern konnte Arsenal in der Offensive wieder zu alter Stärke zurückfinden, wobei Drake 42 Tore in der Saison 1934/35 erzielte. Mit hohen Siegen wie zum Beispiel dem 7:0 gegen die Wolverhampton Wanderers, dem 8:1 gegen den FC Liverpool sowie den beiden 8:0-Siegen gegen Leicester City und den FC Middlesbrough erreichte Arsenal den dritten Meistertitel in Serie. Die außergewöhnliche Leistungsstärke zeigte sich auch darin, dass im November 1934 sieben Arsenal-Akteure in der englischen Nationalmannschaft beim Spiel gegen den amtierenden Weltmeister aus Italien standen. England gewann dieses Spiel mit 3:2, das als „Battle of Highbury“ in die Fußballgeschichte einging. Sieben Spieler bedeuten bis heute einen Rekord für die meisten Spieler aus einem Verein in der Startelf einer englischen Nationalmannschaft.Arsenals anhaltender Erfolg zog immer größere Zuschauermengen an, so dass die Heimspielstätte des Klubs kontinuierlich umgebaut wurde. Die ursprünglich von Archibald Leitch erbauten Tribünen wurden abgerissen und durch neue im modernen Art-déco-Stil ersetzt, die bis zum heutigen Tage existieren.
Auch die Nord- und „Clock-End“-Tribüne wurden überdacht. In dem neuen Stadion erreichte der Verein am 9. März 1935 mit 73.295 Zuschauern in der Partie gegen den FC Sunderland seine heute noch gültige Rekordbesucherzahl.
Die Zeit der großen Dominanz von Arsenal kam mit dem Pokalsieg im Jahr 1936 zu seinem Abschluss, als Sheffield United durch ein Tor von Drake mit 1:0 geschlagen wurde. Fortan entwickelten sich die sportlichen Leistungen rückwärtig, nachdem Alex James zurückgetreten war und Spieler wie Bastin ihren Zenit bereits überschritten hatten. Dennoch gewann Arsenal in der Saison 1937/38 noch den fünften Meistertitel in der Vereinsgeschichte.
=== Der Zweite Weltkrieg (1939–1945) ===
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 wurde der Spielbetrieb in den britischen Profiligen eingestellt. Das Highbury diente fortan als sogenannte ARP-Station zum Schutz der Zivilisten vor Luftangriffen, die hinter der Clock End-Tribüne einen Sperrballon betrieb. Während des Blitzkriegs traf eine rund 1,5 Tonnen schwere Bombe die Nordtribüne, zerstörte das Dach und verursachte an dieser Stelle einen Brand. Arsenal absolvierte während des Krieges seine Heimspiele in der White Hart Lane, wo normalerweise Tottenham Hotspur beheimatet ist. Die Spiele während des Krieges hatten keinen offiziellen Charakter, fanden zumeist nur im Rahmen von regionalen Wettbewerben statt und Vereine beendeten in der Regel die einmal begonnenen Spielzeiten nicht. Viele Fußballer dienten in der Armee als Trainer oder Ausbilder, standen somit ihren Vereinen langfristig nicht zur Verfügung und traten nur sporadisch als „Gastspieler“ anderer Vereine in Erscheinung. Arsenal gewann 1943 den sogenannten „Football League War Cup South“ und zudem regionale Meisterschaften in London und in Südengland in den Jahren 1941, 1943 und 1944.
Im November 1945 absolvierte Arsenal eines der außergewöhnlichsten und kontroversesten Spiele in der Vereinsgeschichte, als sich Dynamo Moskau auf einer Tournee im Land befand. Da noch viele Stammspieler in der Armee dienten und diese somit eine große Lücke in der Mannschaft hinterlassen hatten, ergänzte Arsenal seine Mannschaft um sechs Gastspieler, darunter Stanley Matthews und Stan Mortensen. Dies führte dazu, dass Dynamo den Gegner als eine englische Nationalmannschaft einstufte, obwohl sich in der Startelf von Arsenal auch drei Waliser befanden. Das Spiel selbst fand im dichten Nebel statt und die technisch geschicktere Dynamo-Mannschaft gewann die Partie mit 4:3, nachdem Arsenal zur Halbzeit bereits mit 3:1 geführt hatte. Obwohl über den Endstand weitestgehend Klarheit besteht, weichen weitere Detailinformationen über den konkreten Spielverlauf voneinander ab. Nach englischen Berichten setzte Dynamo zwischenzeitlich zwölf Spieler ein und versuchte zudem beim Schiedsrichter einen Spielabbruch zu erwirken, als sich der Verein im Rückstand befand. Im Gegenzug beschuldigten die Sowjets Arsenal, unfair gespielt zu haben. Der Vorwurf, George Allison habe auf den Spielausgang Geld gesetzt, wurde später fallen gelassen. Dadurch, dass der Nebel den Großteil der Aktionen auf dem Spielfeld verbarg – selbst die Identitäten der Torschützen sind umstritten – sowie aufgrund der vorhandenen Sprachbarrieren und der gegenseitigen Verdächtigungen – das Spiel fand während des gerade aufkommenden Kalten Krieges statt –, werden die genauen Geschehnisse vermutlich auch weiter im Verborgenen bleiben.
=== Die Nachkriegszeit (1945–1966) ===
Der Krieg beendete die Karrieren vieler wichtiger Spieler des FC Arsenal, darunter die von Bastin und Drake. Zudem trug der Verein aufgrund der Stadionbaukosten und der Reparaturen der Kriegsschäden eine große finanzielle Bürde, mit der Arsenal in der Folgezeit nach Wiederaufnahme des Spielbetriebs zu kämpfen hatte. In der dritten Runde des FA Cups verlor Arsenal in der Saison 1945/46 nach zwei Spielen mit insgesamt 1:6 Toren gegen West Ham United. Als die Meisterschaft wieder aufgenommen wurde, belegte Arsenal einen enttäuschenden 13. Abschlusstabellenplatz. George Allison erklärte zum Ende dieser Saison seinen Rücktritt und wurde von seinem Assistenten Tom Whittaker ersetzt, der auch schon unter Herbert Chapman gearbeitet hatte.
Der Wechsel zu Whittaker brachte dem Verein unmittelbaren Erfolg mit dem Gewinn der englischen Meisterschaft in der Saison 1947/48. Die Mannschaft wurde von dem Kapitän Joe Mercer angeführt und mit der Treffsicherheit der beiden Angriffsspieler Reg Lewis und Ronnie Rooke übernahm Arsenal im Oktober 1947 die Tabellenführung, die man bis zum Saisonende nicht mehr abgab. Mit langfristige Erfolg war zu diesem Zeitpunkt nicht zu rechnen, da die Arsenal-Mannschaft schon etwas überaltert war und mit Rooke und Mercer entscheidende Spieler besaß, die bereits über 30 Jahre alt waren. Die Reaktion darauf war, dass Whittaker mit Doug Lishman, Alex Forbes und Cliff Holton neue junge Spieler in die Mannschaft einbaute. Obwohl damit noch nicht genügend Qualität erreicht wurde, um erneut in einen Meisterschaftskampf einzugreifen, sorgte diese Kaderauffrischung dafür, dass im Jahr 1950 erneut der FA Cup gewonnen wurde. Reg Lewis erzielte die beiden Treffer zum 2:0-Finalsieg gegen den FC Liverpool.
In der Saison 1951/52 spielte Arsenal lange Zeit um das Double, beendete die Spielzeit jedoch letztlich enttäuschend, nachdem eine Verletzungsserie in der Spätphase der Saison die Ziele in weite Ferne rücken ließ. Arsenal verlor die letzten beiden Meisterschaftsspiele, darunter die Auswärtspartie beim späteren Meister Manchester United am letzten Spieltag, und schloss die Saison punktgleich mit Tottenham auf dem dritten Platz ab. Eine Woche später trat Arsenal mit vielen zuvor verletzten Spielern im FA Cupfinale gegen Newcastle an. Als sich Walley Barnes in der 35. Spielminute das Knie verdrehte und vom Platz genommen werden musste, spielte Arsenal fortan mit zehn Mann weiter, da Auswechselungen damals noch nicht erlaubt waren. Newcastle konnte diesen Vorteil ausnutzen und gewann die Partie mit 1:0.
Ungeachtet dieser Rückschläge gewann Arsenal in der Saison 1952/53 seine siebte Meisterschaft, nachdem in einem der spannendsten Entscheidungen Preston North End punktgleich und nur aufgrund des besseren Torquotienten, der damals anstatt der heute üblichen Tordifferenz verwendet wurde, auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Diese Meisterschaftstrophäe sollte der letzte Titelgewinn Arsenals für die nächsten 17 Jahre bleiben und die sportliche Entwicklungskurve zeigte fortan nach unten, als es nicht mehr gelang, neue spielstarke Akteure anzuheuern. Tom Whittaker verstarb unerwartet im Jahr 1956 und abgesehen von einem dritten Platz in der Saison 1958/59 belegte Arsenal nur noch Plätze im Mittelfeld der Liga. Auch im FA Cup feierte Arsenal in dieser Zeit nach dem Finaleinzug von 1952 keine Erfolge mehr und kam bis 1971 nicht mehr über das Viertelfinale hinaus.
Die beiden ehemaligen Spieler des Vereins Jack Crayston und George Swindin folgten Whittaker in dessen Amt nach, konnten jedoch nicht an seinen Erfolg anknüpfen. Im Jahr 1962 vollzog Arsenal mit der Verpflichtung der englischen Fußballlegende Billy Wright einen mutigen Schritt, da Wright noch nicht über Trainererfahrungen verfügte. Wie auch seine unmittelbaren Vorgänger führte Wright Arsenal nicht zu ähnlichen Erfolgen der Vergangenheit, obwohl unter seiner Ägide Arsenals Premiere in einem europäischen Vereinswettbewerb stattfand. Als Siebtplatzierter hatte sich Arsenal in der Saison 1962/63 für den Messepokal qualifiziert. In seiner letzten Trainerspielzeit wies Arsenal mit dem 14. Tabellenplatz die schlechteste Platzierung seit 36 Jahren auf und verzeichnete mit 4.554 den geringsten Zuschauerzuspruch in der Geschichte des Highbury. Der einzige Spitzenspieler bei Arsenal war damals George Eastham, der im Kader für die Fußball-Weltmeisterschaft 1966 im eigenen Land stand, aber dort in keinem Spiel zum Einsatz kam.
=== Das erste Double (1966–1976) ===
In einer überraschenden Entscheidung beförderte der Verein den Physiotherapeuten Bertie Mee in der Nachfolgerrolle Wrights. Dies sollte sich rasch auszahlen, wobei ihm dabei eine junge Spielergeneration half, die für den Verein im Jahr 1966 den FA Youth Cup gewonnen hatte. Dort hatten sich vor allem talentierte Angriffsspieler wie Charlie George, John Radford und Ray Kennedy für die erste Mannschaft empfohlen. Mee ergänzte diese Stärken in der Offensive durch einige erfahrene Kräfte, darunter der Mannschaftskapitän Frank McLintock, der in der zentralen Abwehrformation für Sicherheit sorgen sollte, sowie mit Peter Storey ein defensiver Mittelfeldspieler, der große Stärken im Tackling besaß. Mit diesem neu formierten Team erzielte Mee durch die Finaleinzüge der Jahre 1968 und 1969 im Ligapokal erste Achtungserfolge. In beiden Endspielen verlor Arsenal zunächst mit 0:1 gegen Leeds United, der damals von Don Revie trainiert wurde, und dann sensationell mit 1:3 gegen den Drittligisten Swindon Town.
Trotz dieser Pleite gegen Swindon Town endete die Saison mit einem Teilerfolg, als sich Arsenal aufgrund des vierten Platzes in der Meisterschaft erneut für den Messepokal qualifizierte. Arsenal entschied diesen Wettbewerb 1970 auch für sich, wodurch die erste europäische Trophäe und der erste Titel nach siebzehn Jahren eingefahren wurde. Dabei schlug der Verein im Halbfinale Ajax Amsterdam und nach einem zwischenzeitlichen 0:3 im Finalhinspiel beim RSC Anderlecht verkürzte Ray Kennedy kurz vor Ende der Partie noch auf 1:3. Durch das 3:0 im Rückspiel nach Toren von John Radford, Eddie Kelly und Jon Sammels wurde die Begegnung in einen Sieg umgedreht.
Der größte Erfolg in dieser Ära war der Gewinn des ersten Doubles aus FA Cup und englischer Meisterschaft in der Saison 1970/71. Obwohl Arsenal mit einer 0:5-Niederlage gegen Stoke City im September schwach in die Spielzeit gestartet war, agierte die Mannschaft fortan auf konstant hohem Niveau und lieferte sich mit Leeds United ein knappes Titelrennen. Um die Meisterschaft zu gewinnen und Leeds hinter sich zu lassen, musste Arsenal am letzten Spieltag in Tottenham gewinnen. Dies gelang mit einem 1:0-Sieg nach einem Tor von Ray Kennedy. Nur fünf Tage später schlug Arsenal im Pokalendspiel den FC Liverpool im Wembley-Stadion mit 2:1. Arsenal hatte in der Verlängerung den 0:1-Rückstand hinnehmen müssen, konnte jedoch durch den eingewechselten Eddie Kelly ausgleichen und durch den entscheidenden Treffer von Charlie George das Spiel für sich entscheiden.
Das Double stellte sich als eine vorgezogene Hochphase in einem Jahrzehnt dar, das sich als Kette von knapp verpassten Gelegenheiten erwies. Trotz der Verpflichtung des Weltmeisters Alan Ball begann Arsenal die Saison 1971/72 auf schwachem Niveau, verlor im August bereits drei Spiele und musste stark darum kämpfen, die Führungsgruppe noch einzuholen. Arsenal schloss die Spielzeit letztlich auf dem fünften Tabellenplatz ab. Das Debüt im Europapokal der Landesmeister begann vielversprechend, bis Arsenal im Viertelfinale an Ajax Amsterdam scheiterte, das sich angeführt von Johan Cruyff im Zenit seiner Leistungsstärke befand. Arsenal erreichte erneut das FA Cupfinale und verlor in einem teilweise unfair und undiszipliniert geführten Spiel gegen Leeds United mit 0:1.
Es folgte eine Vizemeisterschaft in der Saison 1972/73, aber die Mannschaft des Double-Gewinners war binnen eines Jahres auseinandergebrochen und Mee versuchte vergeblich, einen Neuaufbau durchzuführen. Die sportliche Entwicklung verschlechterte sich dramatisch und Arsenal lieferte in den anschließenden beiden Jahren mit dem 16. und 17. Tabellenplatz die schlechtesten Resultate seit mehr als 40 Jahren ab. Auf den gekündigten Mee folgte mit Terry Neill, ein ehemaliger Arsenal-Spieler, der Trainer von Tottenham, obwohl er die Spurs nie in das obere Mittelfeld hatte führen können.
=== Wechselhafte Zeiten unter Neill und Howe (1976–1986) ===
Mit Neill gelang die Rückkehr in die obere Tabellenhälfte, wobei der aufstrebende irische Spitzenspieler Liam Brady maßgeblichen Anteil an diesem Aufwärtstrend hatte. Brady war Teil einer großen irischen Fraktion im Kader, die außerdem Pat Rice, Frank Stapleton, Pat Jennings und den jungen David O’Leary umfasste. Obwohl die Dominanz des FC Liverpool zu dieser Zeit nicht durchbrochen werden konnte, unterstrich Arsenal zum Ende des Jahrzehnts weiterhin durch gute Resultate im FA Cup die Zeichen einer sportlichen Konsolidierung. Der Verein erreichte in den Jahren 1978 bis 1980 drei Endspiele in Serie, konnte aber nur das mittlere gegen Manchester United gewinnen. Durch ein erneut sehr gutes Spiel von Brady ging Arsenal nach Toren von Brian Talbot und Frank Stapleton mit 2:0 in Führung und sah fünf Minuten vor Ablauf der regulären Spielzeit bereits wie der sichere Sieger aus. United glich jedoch durch einen Doppelschlag zum 2:2 aus, worauf in der Nachspielzeit der Siegtreffer von Alan Sunderland zum 3:2 nach einer Flanke von Graham Rix folgte.
Die anschließende Saison 1979/80 wurde sehr kräfteraubend, als Arsenal durch das Erreichen von zwei Pokalfinalspielen auf eine Rekordzahl von 70 Pflichtpartien kam, in deren Anschluss Arsenal am Ende dennoch ohne zählbaren Erfolg blieb. Enttäuschend war dabei vor allem die 0:1-Niederlage gegen den Zweitligisten und Außenseiter von West Ham United im FA Cupfinale, die durch einen Kopfball von Trevor Brooking besiegelt wurde. In der Zwischenzeit hatte Arsenal auch das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger erreicht und stand dort durch das entscheidende Tor von Paul Vaessen im Halbfinalsieg gegen Juventus Turin dem spanischen Verein FC Valencia gegenüber. Das Finale endete in der regulären Spielzeit torlos, und Arsenal verlor die Begegnung nach Elfmeterschießen, in dem Brady und Rix ihre Strafstöße vergeben hatten.
Liam Brady verließ Arsenal im Sommer 1980 zu Juventus Turin, und Arsenal ging einer weiteren Phase der Stagnation entgegen. Der Verein befand sich zwar zu Beginn der 1980er Jahre unter den besten vier englischen Mannschaften, konnte aber nie ernsthaft in die Meisterschaft eingreifen oder vergangene Erfolge im FA Cup wiederholen. Die beste FA-Cup-Serie fand dabei in der Saison 1982/83 statt, als man sich erst im Halbfinale Manchester United geschlagen geben musste.
Während seiner Amtszeit hatte Neill stets Probleme mit der Mannschaftsführung und überwarf sich mit vielen seiner Spieler wie zum Beispiel mit Alan Hudson und Malcolm Macdonald und konnte das Alkoholproblem im Kader, wie es in vielen englischen Mannschaften auch heute immer noch vorherrscht, nicht in den Griff bekommen. Dazu kam, dass viele Neuverpflichtungen, darunter die von Charlie Nicholas, nicht unmittelbar zur Qualitätssteigerung beitrugen. Neill wurde nach einem schlechten Saisonstart – mit dem Tiefpunkt einer sensationellen Niederlage im Ligapokal gegen den unterklassigen FC Walsall – im Dezember 1983 entlassen.
Neuer Trainer beim FC Arsenal wurde Don Howe, der dem Verein bereits in mehreren Funktionen unter anderen auch als Spieler gedient hatte, aber mit Arsenal auch nicht in die Nähe eines Titelgewinns kam. Obwohl der Verein unter Howe mit dem sechsten und siebten Platz in der Meisterschaft keine übermäßig schlechte Bilanz aufzuweisen hatte, verlor er im FA Cup der Saison 1984/85 wiederum überraschend gegen einen Drittligisten – in diesem Fall gegen York City. Die Anhänger begannen damit, ihrer Enttäuschung über die ausbleibenden Erfolge Ausdruck zu geben, und die Zuschauerzahlen fielen unter die 20.000er-Grenze. Als Howe im März 1986 darüber Kenntnis erhielt, dass das Präsidium mit Terry Venables in Verhandlungen über das Traineramt des FC Arsenal stand, trat er zurück.
=== Die Jahre unter George Graham (1986–1995) ===
Im Sommer 1986 verpflichtete der Verein mit George Graham einen ehemaligen Arsenal-Spieler sowie den vormaligen Trainer des FC Millwall als Nachfolger für Howe. Damit wurde der Grundstein für die nächste erfolgreiche Ära gelegt, da Graham viele alte Spieler des Vereins aussortierte und durch Neuverpflichtungen sowie durch verstärkte Förderungen von jungen Arsenal-Talenten ersetzte. Auch eine Verschärfung der Disziplin sowohl auf als auch außerhalb des Spielfeldes gehörte zu den ersten Aufgaben Grahams. Arsenals Formkurve zeigte durch diese Maßnahmen direkt steil nach oben und der Verein stand an den Weihnachtstagen 1986 erstmals in diesem Jahrzehnt wieder an der Tabellenspitze, was auch symbolisch ein günstiger Zeitpunkt angesichts des hundertjährigen Vereinsjubiläums war.
Neben dem vierten Meisterschaftsplatz in Grahams erster Saison gewann er mit seinem neuen Verein auf Anhieb den Ligapokal 1986/87, wobei die Mannschaft viele schon verloren geglaubte Partien noch umgedreht hatte. Arsenal befand sich im Halbfinalrückspiel gegen die Spurs bereits mit insgesamt zwei Toren im Rückstand, bevor zwei eigene Treffer ein Entscheidungsspiel erzwangen. In diesem ging Tottenham erneut mit 1:0 in Führung, die Arsenal noch durch zwei späte Treffer von Ian Allinson und David Rocastle in einen Sieg umwandelte. Im Endspiel drehte Charlie Nicholas einen zwischenzeitlichen 0:1-Rückstand mit zwei Toren in einen Sieg um und sorgte somit dafür, dass Arsenal erstmals den Ligapokal gewann.
Obwohl Arsenal das nächste Ligapokalfinale durch eine überraschende Niederlage gegen Luton Town verlor, verbesserten sich die Darbietungen in der englischen Meisterschaft kontinuierlich. Grahams Mannschaft entwickelte eine außerordentlich disziplinierte Defensive, die von Tony Adams, Lee Dixon, Steve Bould und Nigel Winterburn verkörpert wurde und in dieser Form die Basis für die Verteidigungslinie über ein ganzes Jahrzehnt hinweg bildete. Trotz der anders verlauteten Meinung in der Öffentlichkeit war Grahams Mannschaft nicht ausschließlich defensiv orientiert und brachte leistungsstarke Mittelfeldakteure wie David Rocastle, Michael Thomas und Paul Merson, sowie den Stürmer Alan Smith hervor, der stets auf eine Torquote von über 20 Treffern pro Saison kam.
Zum Ende von Grahams dritter Saison gewann Arsenal 1989 auf dramatische Art seine erste Meisterschaft seit 1971. Nachdem Arsenal die Tabelle seit Weihnachten 1988 angeführt hatte, zog Liverpool nach einer Niederlage Arsenals gegen Derby County und einem Remis gegen den FC Wimbledon im Mai vorbei. Arsenal schien die Meisterschaft schon verspielt zu haben, als der Verein am letzten Spieltag am 26. Mai zum Showdown im Anfield-Stadion antrat. Arsenal benötigte einen Sieg mit zwei Toren Differenz und Liverpool war als frischgebackener FA-Cup-Sieger Favorit auf den Gewinn des Doubles. Nachdem Alan Smith früh in der zweiten Halbzeit das 1:0 erzielt hatte, konnte Arsenal den notwendigen zweiten Treffer auch nach Ablauf der 90 Minuten nicht nachlegen. Nur noch wenige Sekunden verblieben in der Nachspielzeit, als Smith den Ball zum jungen Michael Thomas abgab, der das Spielgerät anschließend ruhig über Bruce Grobbelaar ins Tor hob und somit Arsenal zur Meisterschaft verhalf.
Die Titelverteidigung gelang Arsenal in der nächsten Saison nicht und schloss die Spielzeit auf dem vierten Platz hinter dem neuen Meister Liverpool sowie Aston Villa und Tottenham Hotspur ab. Aufgrund der Sperre für englische Vereine im Nachgang der Heysel-Katastrophe durfte Arsenal zudem an europäischen Vereinswettbewerben nicht teilnehmen.
Graham verstärkte weiterhin den Kader und verpflichtete dabei den Torhüter David Seaman sowie den schwedischen Flügelspieler Anders Limpar. Beide Akteure fügten sich in die Mannschaft ein und holten mit Arsenal in der Saison 1990/91 erneut die Meisterschaft, obwohl der Klub im Verlauf zwei Rückschläge erlitten hatte. Im Oktober 1990 wurden Arsenal zwei Punkte abgezogen, nachdem zehn Spieler des Vereins in eine Rauferei mit Gegenspielern von Manchester United beteiligt gewesen waren. Zudem wurde Tony Adams im Dezember 1990 wegen Trunkenheit am Steuer zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt. Dies hinderte Arsenal jedoch nicht an konstant guten Leistungen in einer Saison, in der der Klub nur ein einziges Meisterschaftsspiel verlor. Arsenal erreichte auch das FA-Cup-Halbfinale und stand dort Tottenham Hotspur gegenüber. Bereits nach fünf Minuten erzielte Paul Gascoigne per Freistoß aus großer Distanz den Führungstreffer und Tottenham konnte durch den 3:1-Sieg das mögliche Double Arsenals frühzeitig verhindern.
Im Oktober 1991 verpflichtete Arsenal von Crystal Palace mit Ian Wright den fortan zweitbesten Torschützen in der Vereinsgeschichte und zog in dieser Spielzeit erstmals seit der Saison 1971/72 wieder in einen europäischen Landesmeisterwettbewerb ein. Dort verlor man in der zweiten Qualifikationsrunde der Champions League gegen Benfica Lissabon und verpasste den Zugang zu den Gruppenspielen. Die Spielzeit entwickelte sich weiter durchwachsen, nachdem Arsenal im FA Cup gegen den niederklassigen AFC Wrexham verlor und den vierten Platz in der Meisterschaft belegte.
Nach dieser Saison vollzog Graham einen Taktikwechsel und ließ defensiver spielen. Diese vorsichtigere Mannschaftsausrichtung hatte zur Folge, dass sich das Team fast ausschließlich auf Torerfolge von Wright verließ und die anderen Mannschaftsteile weniger offensiv orientierten. Nachdem Arsenal zwischen 1986 und 1992 durchschnittlich 66 Meisterschaftstore erzielt hatte – dabei alleine 81 in der Saison 1991/92 –, waren es zwischen 1992 und 1995 nur noch 48. Das Minimum stellen die 40 Treffer in der Spielzeit 1992/93 dar, als Arsenal in der ersten Premier-League-Saison nur auf dem zehnten Platz landete und weniger Treffer als jeder andere Verein in der Liga erzielte.
Arsenals Form in der Liga war zwar enttäuschend, aber in den Pokalwettbewerben zeigte der Verein deutlich bessere Leistungen, als er als erster Verein das „FA-und-Liga-Pokal-Double“ in der Saison 1992/93 gewann. Im Ligapokalendspiel trat Arsenal gegen Sheffield Wednesday an und gewann von Merson angeführt nach einem 0:1-Rückstand durch den entscheidenden Treffer von Steve Morrow mit 2:1. Im FA-Cup-Halbfinale gewann Arsenal gegen die Spurs und nahm somit Revanche für die Niederlage im Jahr 1991. Im Endspiel wartete erneut Sheffield Wednesday auf Arsenal, das einen Treffer von Wright durch Chris Waddle ausglich. Als auch nach 120 Minuten noch kein weiteres Tor gefallen war, entschied ein Kopfball von Andy Linighan nach einem Eckball die Partie und brachte dem FC Arsenal das Pokaldouble.
In der Saison 1993/94 gewann Arsenal seine zweite europäische Trophäe, wobei die Mannschaft im Finale des Europapokals der Pokalsieger mit den Verletzungen der Schlüsselspieler John Jensen und Martin Keown sowie der Sperre von Ian Wright zu kämpfen hatte. Dennoch wurde der Titelverteidiger und Favorit AC Parma mit 1:0 in Kopenhagen mit einer sehr defensiv geführten Vorstellung durch einen Volley-Linksschuss von Alan Smith in der 21. Minute besiegt. Dieser Erfolg sollte der letzte Titelgewinn von George Graham sein, da der Schotte im folgenden Februar nach neun Jahren für Arsenal entlassen wurde. Man hatte festgestellt, dass er 1992 eine illegale Zahlung über 425.000 britische Pfund von dem norwegischen Spieleragenten Rune Hauge im Zusammenhang mit dem Kauf der Spieler Pål Lydersen und vor allem John Jensen entgegengenommen hatte.
=== Bruce Rioch – Die Zwischenperiode (1995–1996) ===
Bis zum Ende der Saison 1994/95 übernahm mit Stewart Houston der ehemalige Co-Trainer vorübergehend die Mannschaftsleitung. Arsenal stand am Ende dieser Spielzeit auf einem enttäuschenden zwölften Tabellenplatz, erreichte jedoch nach einem Halbfinalsieg im Elfmeterschießen gegen Sampdoria Genua – beide Mannschaften hatten zuvor nach der jeweils regulären Spielzeit eine Partie mit 3:2 gewonnen – erneut das Finale im Europapokal der Pokalsieger. Dort stand man dem spanischen Vertreter Real Saragossa gegenüber, dessen Führungstreffer durch Juan Esnáider von John Hartson für Arsenal ausgeglichen wurde, bevor dann der Mittelfeldspieler Nayim mit der letzten Aktion in der 120. Minute per Weitschuss von der Mittellinie das Spiel für Saragossa entschied. David Seaman, der noch im Semifinale im gewonnenen Elfmeterschießen triumphiert hatte, konnte nicht schnell genug in sein Gehäuse zurückeilen und berührte den Ball nur noch leicht mit einer Hand, als dieser ins Tor fiel. Die Finalniederlage stellte somit einen Tiefpunkt in einer schwachen Gesamtsaison dar.
Im Juni 1995 verpflichtete Arsenal Bruce Rioch, der gerade die Bolton Wanderers in das Ligapokalendspiel und zurück in die oberste englische Spielklasse geführt hatte, als neuen Trainer. Der Kauf des niederländischen Stürmers Dennis Bergkamp von Inter Mailand für 7,5 Millionen Pfund brach den bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Ablöserekord im englischen Fußball. Bergkamp bildete fortan mit Wright den ertragreichen Angriff in einer Mannschaft, die sich durch das Erreichen des Halbfinals im Ligapokal rehabilitierte. Der fünfte Platz in der Meisterschaft berechtigte zudem zur Teilnahme an dem UEFA-Pokal-Wettbewerb und nährte die Hoffnung, künftig wieder im Titelrennen eingreifen zu können. Die „Ära Rioch“ endete im August 1996 vorzeitig, nachdem sich Rioch aufgrund der Transferpolitik mit der Vereinsführung zerstritt, was einen monatelangen Unruhezustand zur Folge hatte. Stewart Houston übernahm die Mannschaftsleitung erneut für einen Monat auf Interimsbasis, bevor er zurücktrat, um sich den Queens Park Rangers anzuschließen.
=== Die Ära Wenger (1996–2018) ===
==== Zwei weitere Doubles (1996–2003) ====
Bis zur Verpflichtung des Franzosen Arsène Wenger im September 1996 übernahm der Jugendtrainer Pat Rice für einige Spiele die Führung des Teams. Die Mannschaft verbesserte sich unter Wengers Führung schnell, belegte in der Meisterschaft den dritten Platz und qualifizierte sich für den UEFA-Pokal, wobei sie die Teilnahme an der Champions League nur aufgrund der schlechteren Tordifferenz verpasste. Wenger baute eine Reihe von zumeist wenig bekannten französischen Spielern in seinen Kader ein. Darunter befanden sich der talentierte Patrick Vieira, der noch am Anfang seiner fortan großen Laufbahn stand, sowie Nicolas Anelka und Emmanuel Petit. Außerdem verpflichtete Wenger im Sommer 1997 mit Marc Overmars einen hochtalentierten niederländischen Flügelstürmer. Diese neuen Akteure verschmolzen mit vielen arrivierten Spielern der „alten Garde“, darunter Adams, Dixon, Winterburn, Keown und Bould. Pat Rice wurde von Wenger zu seinem Co-Trainer bestimmt.
Seinen ersten Titel gewann Wenger mit Arsenal bereits in der anschließenden Saison, als er als erster ausländischer Trainer die englische Meisterschaft errang und diese zum zweiten Double in der Klubgeschichte ausbaute. Im Meisterschaftsrennen schien sich Arsenal im Dezember nach einer 1:3-Heimniederlage gegen die Blackburn Rovers bereits vorzeitig verabschiedet zu haben. Die Mannschaft holte letztlich einen 12-Punkte-Rückstand zum Tabellenführer Manchester United auf und stellte am Ende nach einem 4:0-Heimsieg gegen den FC Everton am 3. Mai die Trophäe bereits vor dem vorletzten Spieltag sicher. Am 16. Mai schlug Arsenal dann im FA-Pokalendspiel Newcastle United noch mit 2:0. Zudem übertraf Ian Wright den vormaligen Rekordvereinstorschützen Cliff Bastin und verließ den Klub nach 185 Toren im Sommer 1998.
Trotz des Kaufs von Freddie Ljungberg 1998 und Thierry Henry ein Jahr später erwartete den Verein in den weiteren Jahren eine erneute Periode ohne Titelgewinne, obwohl mehrere Gelegenheiten knapp verpasst wurden. In der Spielzeit 1998/99 führte Arsenal die Tabelle lange Zeit an, bis der Verein nach einer 0:1-Niederlage gegen Leeds United noch von Manchester United überholt wurde. Trotz eines Siegs am letzten Spieltag gegen Aston Villa führte der Sieg von United gegen Tottenham Hotspur dazu, dass dem FC Arsenal nur die Vizemeisterschaft blieb. Auch im FA-Cup-Halbfinale unterlag Arsenal dem Konkurrenten aus Manchester, wobei Bergkamp zunächst einen Elfmeter verschossen und Ryan Giggs in der Nachspielzeit nach einem Solo durch die gesamte Defensive Arsenals das entscheidende Tor erzielt hatte. Arsenals Rückkehr in die Champions League nach sieben Jahren endete ebenfalls in einer Enttäuschung, da der Verein die Gruppenphase nicht überstand.
Auch in der Spielzeit 1999/2000 wurde Arsenal Vizemeister, konnte Manchester United im Titelrennen nie ernsthaft gefährden und rangierte 18 Punkte hinter dem alten und neuen Meister. In der Champions League wurden die Erwartungen erneut nicht erfüllt, wobei der dritte Platz in den Gruppenspielen zumindest noch die weitere Teilnahme am UEFA-Pokal ermöglichte. Dort zog die Mannschaft bis ins Finale ein und traf in Kopenhagen auf Galatasaray Istanbul. Das Spiel endete aktionsarm mit einem 0:0 nach Verlängerung. Das Elfmeterschießen verlor Arsenal, nachdem Davor Šuker und Patrick Vieira ihre Strafstöße vergeben hatten.
Eine weitere Vizemeisterschaft wartete auf Arsenal in der Saison 2000/01, in diesem Fall nur zehn Punkte hinter Manchester United. Das Titelrennen war bis zum Februar 2001 offen gewesen, bis eine 1:6-Niederlage von Arsenal in Old Trafford eine Vorentscheidung brachte. Der Klub konzentrierte sich fortan mehr auf die Pokalwettbewerbe und besiegte im FA-Cup-Halbfinale die Spurs, um im Endspiel dem FC Liverpool in Cardiff gegenüberzustehen. Arsenal war meist spielbestimmend. Liverpools Stéphane Henchoz wehrte einen Ball, der zu einem Tor geführt hätte, mit der Hand ab, was jedoch vom Schiedsrichter nicht geahndet wurde. Dennoch ging Arsenal durch ein Tor von Ljungberg mit 1:0 in Führung, unterlag aber nach zwei späten Treffern von Michael Owen mit 1:2. In der Champions League gelangte der Verein bis ins Viertelfinale, wo man gegen den späteren Finalisten FC Valencia nur aufgrund der Auswärtstorregel verlor. Dennoch stellte der Einzug unter die letzten acht Mannschaften das beste Resultat in dem wichtigsten europäischen Vereinswettbewerb seit 1972 dar.
Wenger war nun dazu gezwungen, einen Großteil seiner Doublegewinner-Mannschaft von 1998 umzubauen, nachdem Anelka, Overmars und Petit für hohe Ablösesummen zu spanischen Vereinen gewechselt waren und die renommierte Abwehrformation deutlich in die Jahre gekommen war. Bould und Winterburn hatten den Verein bereits verlassen und Adams sowie Dixon sollten auch nur noch eine Saison bis zu ihrem Rücktritt agieren. Wenger besetzte die Positionen in der Defensive mit Spielern wie Sol Campbell und Lauren neu und beförderte Ashley Cole aus der eigenen Jugendabteilung in die erste Mannschaft. Das Mittelfeld verstärkte der Trainer mit Robert Pirès und verpflichtete dessen Landsmann Sylvain Wiltord für die Offensive, während sich Thierry Henry mittlerweile an die englische Spielweise gewöhnt und zu einem der besten Stürmer in der Premier League entwickelt hatte.
Die Offensive war nun zweifelsfrei Arsenals Prunkstück und die Mannschaft gewann in der Saison 2001/02 das dritte Double in der Vereinsgeschichte, womit der Rekord in dieser Hinsicht im englischen Fußball eingestellt wurde. Die „Gunners“ waren die einzige Mannschaft, die in jedem Spiel mindestens ein Tor schossen und in allen Auswärtsspielen ungeschlagen blieben. Bis zum Februar 2002 war der Kampf um die Meisterschaft spannend und die vier besten Mannschaften trennten insgesamt nur drei Punkte. Anschließend zog Arsenal mit einer elf Spiele andauernden Siegesserie davon und sicherte sich mit sieben Punkten Vorsprung vor dem FC Liverpool die Meisterschaft, wobei der 1:0-Auswärtssieg bei Manchester United am vorletzten Spieltag nach einem Tor von Wiltord die Entscheidung gebracht hatte. Am Wochenende zuvor hatte Arsenal bereits mit einem 2:0-Endspielsieg gegen den FC Chelsea seinen achten FA Cuptitel in der Vereinsgeschichte eingefahren, wobei Ray Parlour und Ljungberg für die Tore gesorgt hatten.
Arsenal verteidigte in der Saison 2002/03 als erster Verein seit über 20 Jahren den FA Cuptitel, nachdem man im Finale mit 1:0 gegen den FC Southampton durch ein Tor von Pirès gesiegt hatte. Die Freude darüber wurde durch die knapp verpasste Meisterschaft getrübt. Arsenal hatte bereits mit acht Punkten vor dem späteren Meister Manchester United die Tabelle angeführt, aber die Form ließ zum Ende der Spielzeit deutlich nach. Nach einer 2:0-Führung bei den Bolton Wanderers spielte Arsenal letztlich nur 2:2 und verspielte in der folgenden Heimpartie gegen Leeds United mit einer 2:3-Niederlage endgültig den Titel.
==== Die „Unbesiegbaren“ und ein Champions-League-Finale (2003–2006) ====
Diese Niederlage gegen Leeds sollte jedoch die letzte für Arsenal in der Meisterschaft für einen Zeitraum von über einem Jahr sein. Die Saison 2003/04 stellte mit 26 Siegen, 12 Unentschieden und keiner Niederlage einen Rekord dar. Zuletzt war Preston North End in der Saison 1888/89 ohne Niederlage geblieben. Arsenal rangierte elf Punkte vor dem Zweitplatzierten FC Chelsea, der sich wiederum im Champions-League-Viertelfinale revanchierte. Zudem verlor Arsenal im Halbfinale des FA Cups gegen Manchester United. Nach diesen Rückschlägen rehabilitierte sich Arsenal aber in dem anschließenden Spiel gegen den FC Liverpool nach einem zwischenzeitlichen 0:1- und 1:2-Rückstand, gewann mit insgesamt drei Toren von Henry noch mit 4:2 und sicherte sich die Meisterschaft anschließend durch ein 2:2 auswärts bei Tottenham Hotspur.
Arsenal konnte den Titel in der Saison 2004/05 nicht verteidigen und rangierte zwölf Punkte hinter dem FC Chelsea auf dem zweiten Platz. Dennoch erweiterten die Gunners den englischen Rekord ungeschlagener Spiele auf insgesamt 49 Partien. Zunächst wurde die Bestmarke durch einen spannenden 5:3-Sieg gegen den FC Middlesbrough nach einem 1:3-Rückstand zur Halbzeit eingestellt, dann mit einem 3:0-Erfolg gegen die Blackburn Rovers übertroffen und durch die 0:2-Niederlage gegen Manchester United beendet. Danach verschlechterte sich die Form, und Arsenal verlor entscheidenden Boden im Titelrennen, bis eine erneut positive Serie, besiegelt durch einen spektakulären 7:0-Sieg gegen den FC Everton, die Vizemeisterschaft sicherte. In der Champions League war Arsenal erneut glücklos und verlor nach der Gruppenphase gegen den FC Bayern München mit insgesamt 2:3 Toren nach Hin- und Rückspiel. Dennoch beendete Arsenal die Saison mit einem Titelgewinn, als die Mannschaft nach einer torlosen regulären Spielzeit das Elfmeterschießen gegen Manchester United mit 5:4 gewann und somit den dritten FA Cup innerhalb von vier Jahren errang.
Geschwächt durch den Verkauf von Mannschaftskapitän Patrick Vieira an Juventus Turin im Sommer 2005 entwickelte sich die Saison 2005/06 verhältnismäßig enttäuschend, und Arsenal feierte auch in den heimischen Pokalwettbewerben keine Erfolge. In der Meisterschaft sorgte die schwache Form bei Auswärtsspielen dafür, dass Arsenal trotz einiger guter Heimresultate – darunter ein 5:0 gegen Aston Villa sowie ein 7:0 gegen den FC Middlesbrough – zumeist nur auf dem fünften Platz oder gar schlechter in der Tabelle stand und es sah danach aus, dass erstmals seit 1997 die Qualifikation zur Champions League misslinge. Nachdem die Mannschaft die letzten drei Spiele gewann, darunter das 4:2 gegen Wigan Athletic beim letzten Spiel in Highbury, sorgte die Niederlage der Spurs bei West Ham United am letzten Spieltag dafür, dass Arsenal am Ende noch den vierten Platz erreichte und somit der Zugang zur Champions League gelang.
Im erheblichen Kontrast zur schwachen heimischen Form zeigte sich Arsenal in Europa deutlich leistungsstärker und erreichte 2006 erstmals in seiner Geschichte und als erster Londoner Verein überhaupt das Finale in der Champions League. Arsenal gewann seine Gruppe vor Ajax Amsterdam, dem FC Thun und Sparta Prag und schlug in den anschließenden Ausscheidungsspielen Real Madrid, wo sie als erstes britisches Team im Santiago-Bernabéu-Stadion gewannen, Juventus Turin und den FC Villarreal, um dann nach einem Rekord von insgesamt zehn Spielen ohne Gegentor dem FC Barcelona im Finale gegenüberzustehen. Arsenal spielte dort bereits früh mit nur noch zehn Mann, nachdem Torhüter Jens Lehmann nach einer Notbremse des Feldes verwiesen worden war. Trotzdem ging Arsenal durch einen Kopfballtreffer von Sol Campell in der 37. Minute in Führung und verteidigte über lange Zeit diesen Vorsprung, bis Samuel Eto’o und Juliano Belletti Barcelona mit zwei späten Toren zum 2:1-Sieg schossen.
Im Juni 2006 leitete die Football Association aufgrund einer Anfrage der FIFA eine Untersuchung ein, die Arsenals Beziehungen zum KSK Beveren zum Gegenstand haben sollten. Die Anfrage fand in Reaktion auf Anschuldigungen statt, die die BBC in der Sendung Newsnight erhoben hatte. Dort war spekuliert worden, ob die Zahlung von Arsenal in Höhe von einer Million Pfund an ein Konsortium, das für den Kauf des belgischen Vereins bot, möglicherweise gegen die FIFA-Statuten verstoßen hatte. Am 23. Juni 2006 sprach die FA Arsenal von dem Vorwurf frei und verkündete, dass man keinen Beweis einer Verletzung der FA- oder Premier-League-Regeln hinsichtlich einer unzulässigen Interessengemeinschaft oder Zusammenarbeit der beiden Vereine gefunden hatte.
==== Umzug in das Emirates Stadium, Rekordpokalsieger (2006–2018) ====
Trotz der zahlreichen Erfolge in den 1990er- und 2000er-Jahren war die Stadionkapazität insbesondere aufgrund der Beschränkungen durch den Taylor Report mit 38.500 Plätzen in Highbury stets sehr limitiert. Dadurch konnte der Verein die Einnahmenseite in diesem Segment nie maximieren. Nachdem sich ein Ausbau des Highbury-Stadions als unmöglich herausgestellt hatte, informierte Arsenal 1999 die Öffentlichkeit über die Pläne, ins benachbarte Ashburton Grove zu ziehen und dort ein neues Stadion zu errichten. Die Konstruktion des Stadions begann im Dezember 2002. Nach der Fertigstellung wurde das Emirates Stadium im Juli 2006 eröffnet und zur Nutzung ab der Saison 2006/07 freigegeben.
Obwohl die Mannschaft erfolgversprechend in die neue Spielzeit startete und lediglich einen Vier-Punkte-Abstand zur Tabellenspitze aufwies, äußerte Wenger bereits im November 2006, dass ein Eingriff in das Meisterschaftsrennen nicht möglich sei. Im weiteren Saisonverlauf befand sich der FC Arsenal zwar weiterhin unter den besten vier Mannschaften, aber Wenger setzte vor allem im Ligapokal verstärkt auf Spieler der Reserve- und Jugendmannschaft und erreichte damit sogar das Finale, in dem man aber dem FC Chelsea mit 1:2 unterlag. In den anderen Pokalwettbewerben war Arsenal mit weniger Erfolg unterwegs, unterlag im Achtelfinale der Champions League gegen die PSV Eindhoven nach Hin- und Rückspiel mit 1:2 Toren und scheiterte zudem in der fünften Runde des FA Cups an den Blackburn Rovers.
Im Jahr 2007 mehrten sich die Spekulationen bezüglich zweier möglicher Übernahmeszenarien. Zunächst übernahm der US-amerikanische Sporttycoon Stan Kroenke einen Großteil der Aktien und besitzt mit Stand von August 2007 12,2 % der Anteile, nachdem er den Hauptteil davon im April desselben Jahres von der ITV-Tochtergesellschaft Granada Ventures übernommen hatte. Dies führte dazu, dass sich David Dein, der 14,6 % der Anteile besaß und als Sympathisant Kroenkes galt, aufgrund „unüberbrückbarer Differenzen“ am 18. April aus dem Vorstand zurückzog. Dein verkaufte später seine Anteile an die „Red & White Holdings“, die sich im Besitz des russischen Milliardärs Alischer Usmanow und des Londoner Geschäftsmannes Farhad Moshiri befindet, und wurde im Gegenzug Präsident dieses Unternehmens. In einer Stellungnahme äußerte der Vorsitzende Peter Hill-Wood jedoch, dass kein weiteres Vorstandsmitglied bis mindestens April 2009 zum Verkauf der eigenen Aktienanteile, die insgesamt 45,45 % betragen, bereit sei. Zudem besäßen sämtliche Vorstandsmitglieder bis Oktober 2012 Optionen auf die jeweils anderen Anteile.
In sportlicher Hinsicht hatten bereits innerhalb der Spielzeit 2006/07 und unmittelbar danach mit Ashley Cole, Sol Campbell, Lauren, Freddie Ljungberg und vor allem dem langjährigen Kapitän und Toptorjäger Thierry Henry eine Reihe von erfahrenen Spielern den Verein verlassen. So ging die Mannschaft mit nur noch drei Akteuren in die Saison, die vier Jahre zuvor die letzte Meisterschaft gewonnen hatten. Mit einer neuen jungen Generation von Spielern, darunter Cesc Fàbregas, Robin van Persie, Emmanuel Eboué und Gaël Clichy, kam die umgebaute Mannschaft überraschend schnell in Tritt und blieb zwischen April und November 2007 ungeschlagen. Dies bedeutete zudem in Bezug auf alle Pflichtwettbewerbe einen neuen Rekord. Die Mannschaft führte lange die Premier League an und eliminierte im Champions-League-Achtelfinale den Titelverteidiger AC Mailand (sie wurde damit zur ersten englischen Mannschaft, die in San Siro siegreich war), bevor sie in der Liga noch Manchester United und den FC Chelsea passieren lassen musste.
In einem rein englischen Viertelfinale scheiterten die „Gunners“ zudem mit insgesamt 3:5 Toren am FC Liverpool. Auch in den Spielzeiten 2008/09, 2009/10 und 2010/11 war die junge Mannschaft noch nicht in der Lage, nach jeweils vielversprechenden Auftakten konstant um die vordersten Plätze zu spielen. Höhepunkte waren vielmehr wieder in der Champions League zu finden, als die Mannschaft 2009 und im Jahr darauf erst im Halb- bzw. Viertelfinale am jeweiligen Titelverteidiger Manchester United bzw. FC Barcelona scheiterte. Hoffnungen auf einen ersten Titel nach sechs Jahren wurden 2011 zudem im Ligapokal enttäuscht; hier scheiterten die „Gunners“ überraschend mit 1:2 im Finale am späteren Absteiger Birmingham City. Nach dem Weggang einiger Schlüsselspieler Mitte 2011 wie Cesc Fàbregas und Samir Nasri sowie unter dem Eindruck einer 2:8-Pleite gegen Manchester United am 28. August 2011 heuerte Wenger mit Per Mertesacker, Mikel Arteta, André Santos und Yossi Benayoun gleich vier Spieler am letzten Tag der Transferperiode an. Die Darbietungen stabilisierten sich schließlich und Arsenal belegte nach anfänglichen Platzierungen in der unteren Tabellenhälfte noch den dritten Rang. Weitere Umbauten folgten 2012 in Form des Abgangs des Torjägers Robin van Persie und der Verpflichtung von Akteuren wie Lukas Podolski, Olivier Giroud und Santi Cazorla. Ein Jahr später verpflichtete Arsenal Mesut Özil für eine neue vereinsinterne Rekordablösesumme. Die Resultate in der Premier League blieben mit dem jeweils vierten Abschlusstabellenplatz in der Spielzeiten 2012/13 und 2013/14 konstant. Der ersehnte Titelgewinn nach nun neun Jahren konnte hingegen im FA Cup bewerkstelligt werden, nachdem am 17. Mai 2014 im Finale der Außenseiter Hull City in der Verlängerung besiegt worden war. Durch den Cup-Gewinn qualifizierte sich Arsenal für den Community Shield, welchen sie am 10. August 2014 gegen den Ligagewinner Manchester City mit 3:0 gewannen. Nach einem schwachen Start beendete Arsenal die Saison 2014/15 dank einer starken Rückrunde auf dem dritten Tabellenplatz und erreichte die direkte und achtzehnte aufeinanderfolgende Champions-League-Qualifikation. Am 30. Mai 2015 folgte die erfolgreiche Titelverteidigung des englischen Pokals mit einem 4:0 gegen Aston Villa. Der FC Arsenal wurde damit kurzzeitig zum alleinigen Rekordgewinner dieser Trophäe, ehe Manchester United im Jahr darauf wieder nach Titeln gleichzog.
=== Gegenwart (seit 2018) ===
Zur Saison 2018/19 wurde der spanische Trainer Unai Emery, welcher bereits erfolgreich vier Jahre den FC Valencia, drei Jahre den FC Sevilla und zuletzt zwei Jahre lang Paris Saint-Germain trainierte als Nachfolger des nach 22 Jahren Amtszeit zurückgetretenen Arsène Wenger verpflichtet. In seiner ersten Saison erreichte er mit dem FC Arsenal den 5. Platz in der Premier League, somit wurde die Teilnahme an der UEFA Champions League erneut verpasst und musste sich wieder mit der UEFA Europa League zufriedengeben. In der Europa League erreichte er das Finale 2018/2019, welches er gegen den Rivalen FC Chelsea mit 4:1 verlor.
In Emerys zweiter Saison blieb der Verein hinter den Erwartungen zurück. In der Premier League stand man nur auf Platz 8 und hatte schon zehn Punkte Rückstand auf die Champions-League-Plätze. Durch eine 2:1-Niederlage in der UEFA Europa League gegen Eintracht Frankfurt und zuletzt schlechten Leistungen in der Premier League wurde er nach knapp eineinhalb Jahren im November 2019 wieder entlassen. Es übernahm für 6 Spiele als Interimstrainer der ehemalige Arsenal-Spieler Freddie Ljungberg. Doch auch unter dem Schweden kam der Erfolg nicht zurück und der Verein nicht in die Spur, somit wurde er nicht zur dauerhaften Lösung beim FC Arsenal.
Somit verpflichtete der FC Arsenal Ende Dezember 2019 den ehemaligen Co-Trainer von Pep Guardiola bei Manchester City, Mikel Arteta. Dieser spielte bereits als aktiver Fußballspieler für den FC Arsenal. Er wurde aber auch beim Traditionsverein FC Everton gehandelt, doch die Liverpooler entschieden sich für den ehemaligen AC-Mailand-Trainer Carlo Ancelotti (zuvor FC Bayern München und SSC Neapel).
Unter Arteta konnte man 2020 im Finale des FA Cup durch ein 2:1 gegen den Lokalrivalen FC Chelsea mit dem Gewinn des 14. Titels wieder zum alleinigen Rekordsieger aufsteigen sowie sich direkt für die Gruppenphase der Europa League qualifizieren, in der Liga dagegen erreichte man mit Platz 8 das schlechteste Ergebnis seit 1994/95.
Zu Saisonbeginn 2020/21 trennte sich der Klub nach einer Analyse der jüngsten Transferpolitik, die auch zum Abschied von Talentscout Sven Mislintat Anfang 2019 geführt hatte, vom bisherigen Sportdirektor Raul Sanllehi und Arteta wurde vom Head Coach zum First Team Manager befördert – ein Titel, den zuletzt Arsène Wenger innehatte. Er kam in der Europa League bis ins Halbfinale, wo gegen den angehenden Turniersieger Villarreal Endstation war. In der darauf folgenden Saison lag Arsenal mit vier Punkten Vorsprung auf dem vierten Platz, verlor dann jedoch in den letzten drei Runden gegen (den direkten Konkurrenten) Tottenham deutlich und gegen Newcastle United.
Bei der Saison 2022/23 gestaltete sich der Start vielversprechend, nachdem man in der Europa League die ersten vier und in der Liga neun von zehn Begegnungen gewann. International kamen die Engländer nach dem Gruppenaufstieg nicht allzu weit, national wurden sie Vizemeister.
== Vereinswappen ==
Der FC Arsenal enthüllte im Jahr 1888 sein erstes Wappen, auf dem drei nach Norden gerichtete Kanonen von oben betrachtet werden und in seiner Anordnung dem Wappen der Gebietskörperschaft Metropolitan Borough of Woolwich ähnelt. Die Kanonen werden manchmal mit Schornsteinen verwechselt, wobei der jeweils geschnitzte Löwenkopf sowie der Rückseitenknopf einer Kanone darauf hinweisen, dass es sich um Kanonen handelt. Im Jahr 1922 entwickelte der Verein sein erstes Wappen, das nur noch eine nach Osten weisende Kanone zeigte. Im Jahr 1925 wurde es durch eine Variante ersetzt, auf der die Kanone nach Westen wies. Zudem war der Kanonenlauf deutlich schmaler und auf der linken Seite erschien der Spitzname „The Gunners“. Im Jahr 1949 modernisierte der Verein dieses Wappen, behielt dabei den grundsätzlichen Kanonenstil bei, platzierte aber nun den Vereinsnamen darüber und ergänzte auf der Unterseite eine Spruchrolle mit dem neuen lateinischen Vereinsmotto „Victoria Concordia Crescit“ (sinngemäß „Erfolg entsteht aus Harmonie“, wörtlich: „Der Sieg wächst mit der Eintracht“). Unterhalb der Kanone ist das Wappen des Londoner Stadtbezirks Islington zu sehen. Erstmals entwickelte der FC Arsenal damit auch ein buntes Wappen in den Farben Rot, Grün und Goldfarben, das während seiner Verwendungszeit bis 2002 jeweils nur noch in Details verändert wurde.
Aufgrund der zahlreichen Änderungen im Wappen gelang es dem FC Arsenal lange Zeit nicht, ein Urheberrecht darauf zu errichten, obwohl der Klub versucht hatte, es als Marke schützen zu lassen und einen langen Rechtsstreit gegen einen lokalen Straßenhändler, der „inoffizielle“ Arsenal-Merchandisingartikel verkaufte, gewinnen konnte. Um einen umfangreicheren Rechtsschutz zu erlangen, führte der Verein im Jahr 2002 ein neues Wappen ein, dessen vereinfachter Stil – mit abgerundeten Rändern – für diesen Zweck geeigneter schien. Die Kanone wurde nun erneut nach Osten gerichtet und der Vereinsname in einer serifenlosen Schriftart darüber platziert. Zudem ersetzten die Designer die grüne Farbe durch ein Dunkelblau. Diese Änderungen führten zu sehr wechselhaften Reaktionen bei der Anhängerschaft des Vereins. Ein Großteil kritisierte dabei, dass die Geschichte und die Tradition des Klubs zugunsten eines radikalen modernen Designs ignoriert wurden und dass die Meinungen der Anhänger keine ausreichende Berücksichtigung fanden.
== Vereinsfarben ==
Die Mannschaften des FC Arsenal haben bei den Heimspielen zumeist rote Trikots mit weißen Ärmeln und ebenso weißen Hosen getragen, wobei diese Tradition aber durchaus Lücken im Laufe der Zeit aufwies. Die rote Farbe wurde bereits kurz nach der Vereinsgründung im Jahr 1886 festgelegt, quasi in Anerkennung für die Spende des ersten Trikotsatzes von Nottingham Forest. Mit Fred Beardsley und Morris Bates waren zwei der Gründungsmitglieder ehemalige Spieler dieses Vereins gewesen und später arbeitsbedingt nach Woolwich gezogen. Als sie eine Mannschaft zusammenstellten und keine Spielkleidung beschaffen konnten, erbaten die beiden schriftlich aus ihrer Heimat Hilfe und erhielten die gewünschten Trikotsätze und einen Ball. Die Farbe war zunächst Johannisbeerrot und ähnelte im Vergleich zu den heute bekannten Trikots einem burgunderfarbenen Dunkelrot. Dazu trugen die ersten Mannschaften weiße Hosen und blaue Strümpfe.Herbert Chapman strebte im Jahr 1933 eine Modernisierung an und plädierte dabei für eine prägnantere Farbgebung. An den roten Trikots setzten sich nun die Ärmel weiß ab und das Rot ähnelte fortan mehr dem, wie es für die Briefkästen der britischen Royal Mail verwendet wurde. Der Ursprung der Idee zu den weißen Ärmeln konnte bislang nicht vollständig rekonstruiert werden, wobei zwei mögliche Inspirationen zumeist spekuliert werden. Die erste Variante erzählt von einem Tribünenzuschauer, den Chapman erblickte und der unter einem ärmellosen roten Pullover ein weißes Hemd trug. Die andere Geschichte berichtet darüber, dass Chapman von einer ähnlichen Kleidung des berühmten Karikaturisten Tom Webster inspiriert wurde, mit dem der Trainer des FC Arsenal gelegentlich Golf spielte.Der FC Arsenal trug in der Folgezeit diese Kombination abgesehen von zwei Spielzeiten. Die erste Abweichung war in der Saison 1966/67, als die Mannschaft wieder reine rote Trikots trug, was aber von der Anhängerschaft stark kritisiert wurde und nach nur einem Jahr kehrte man im Trikotdesign zu den weißen Ärmeln zurück. Zuletzt trug der Verein in der letzten Saison im Highbury-Stadion 2005/06 komplett rote Trikots, die an das Outfit von 1913, dem ersten Jahr in dieser Spielstätte, erinnern sollten. Zur Saison 2006/07 kehrte der Klub zu seinen mittlerweile traditionellen Farben zurück.
Die Heimfarben des FC Arsenal stellten die Vorlage für zumindest zwei weitere bedeutende Vereine dar. Im Jahr 1909 übernahm der tschechische Verein Sparta Prag die dunkelrote Hemdfarbe, die Arsenal damals trug. In den 1930er Jahren schloss sich der schottische Klub Hibernian Edinburgh dem Konzept, weiße Ärmel abzusetzen, an und ergänzte dies zu den dort benutzten grünen Trikots. Beide Vereine verwenden diese Designs bis zum heutigen Tage.
Die Auswärtsfarben des Arsenal-Trikots sind traditionell Gelb und Blau, obwohl zwischen 1982 und 1984 ein grün-marineblaues Outfit gewählt wurde.
Seit Beginn der 1990er Jahre und der beginnenden Kommerzialisierung des Trikotverkaufs haben sich die Farben des Auswärtstrikots kontinuierlich geändert. Eine inoffizielle Regel besagt, dass die Trikots nach jeder Saison neu entworfen und die veralteten Spielkleidungen als Trikots „dritter Wahl“ benutzt werden. Der allgemeine Trend liegt jedoch in einem gelb-blauen oder einem mit zwei verschiedenen Blautönen versehenen Design, wobei in der Saison 2001/02 aber auch eine auffällig andere Farbgebung aus Metallicgold und Marineblau verwendet wurde.
Die Auswärtskleidung bestand zwischen 2005 und 2007 aus gelben Trikots und dunkelgrauen Shorts. Damit wurde die Eine-Saison-Regel durchbrochen, was als Ausgleich für die kurze Existenz des „Retro-Heimtrikots“ der Saison 2005/06 angesehen wurde. Zur Saison 2007/08 wich der Verein bei dem Auswärtstrikot erneut von seiner zuletzt üblichen Farborientierung ab und stellte weiße Shirts und kastanienfarbene Shorts vor.
Seit 1982 wirbt der FC Arsenal auf den Trikots mit seinem jeweils aktuellen Hauptsponsoren. Bis 1999 war dies zunächst das Unternehmen JVC. Im Anschluss folgten von 1999 bis 2002 SEGA Dreamcast und von 2002 bis 2006 O₂. Aktueller Sponsor ist seit 2006 die Fluggesellschaft Emirates; der aktuelle Vertrag läuft bis zum Ende der Saison 2018/19. Die Trikothemden werden seit 2019 von Adidas hergestellt. Zuvor hatten sich bis 1986 Umbro, bis 1994 Adidas, bis 2014 Nike und bis 2019 Puma für die Ausrüstung der Mannschaft verantwortlich gezeigt.
== Spielstätten ==
Als der Verein noch im Südosten Londons beheimatet war, spielte der FC Arsenal – mit Ausnahme der Jahre zwischen 1890 und 1893 im benachbarten Invicta Ground – zumeist im Manor Ground in Plumstead. Obwohl der Manor Ground ursprünglich nur ein Wiesenfeld umfasste, baute der Verein diese Heimspielstätte kontinuierlich aus. Noch bevor der erste Ligafußball im September 1893 gespielt wurde, hatte der FC Arsenal dort Tribünen und Terrassen erstellt. Bis zum Umzug im Jahr 1913 in den Norden der Stadt stellte der Manor Ground die sportliche Heimat des FC Arsenal dar.
Zwischen September 1913 und Mai 2006 war das Highbury, offiziell Arsenal Stadium, die Heimspielstätte des Vereins. Das Stadion wurde von dem berühmten Architekten Archibald Leitch entworfen und zeichnete sich durch ein Design aus, das typisch für britische Spielstätten zu dieser Zeit war: eine einzige überdachte Tribüne und drei Freiluft-Terrassen. In den 1930er-Jahren fand eine komplette Renovierung des Highbury mit einer Errichtung einer neuen West- und Osttribüne im Art-Déco-Stil statt. Die beiden Nord- und Südtribünen wurden überdacht, wobei letztere ihren Namen Clock End von der großen Uhr erhielt, die dort eingebaut wurde. Das Highbury besaß dadurch eine Kapazität für über 60.000 Zuschauer, die bis zu Beginn der 1990er-Jahre auf 57.000 reduziert wurde. Die Ergebnisse des Taylor-Reports zur Sicherheit in den Stadien nach der Hillsborough-Katastrophe gaben vor, dass in allen Fußballstadien die Steh- in Sitzplätze umgewandelt werden sollten. Und so reduzierte sich das Fassungsvermögen drastisch auf 38.419 Sitzplätze zu Beginn der Saison 1993/94. Diese Kapazität musste bei Champions-League-Spielen aufgrund von Vermarktungsvorgaben für Werbeflächen weiter reduziert werden, so dass der Verein die Spielzeiten 1998/99 und 1999/2000 in diesem Wettbewerb im Wembley-Stadion bestritt, das Platz für über 70.000 Personen bot.
Ein fundamentaler Ausbau des Highbury schied als Option aus, da zum einen die Osttribüne unter Denkmalschutz gestellt worden war und drei weitere Tribünen zu nahe an Wohnbereichen grenzten, deren Eigentümer sich strikt gegen Erweiterungspläne stellten. Diese Einschränkungen verhinderten somit, dass der Verein die Zuschauereinnahmen angesichts seiner Leistungsstärke maximieren konnte und nach der Prüfung alternativer Lösungen verkündete die Klubführung im Jahr 1999, dass ein neues reines Sitzplatzstadion für 60.000 Personen in Ashburton Grove – rund 500 Meter südwestlich des Highbury – gebaut werden sollte. Das Bauprojekt verzögerte sich aufgrund bürokratischer Probleme und gestiegener Kosten, konnte aber im Juli 2006 rechtzeitig vor Beginn der Saison 2006/07 fertiggestellt werden. Das Highbury Stadium wurde teilweise abgerissen (Nord- und Südtribünen), teilweise umgebaut (Ost- und Westtribünen). Auf dem alten Spielfeld wurde ein Garten mit Urnenfeldern für Arsenalfans angelegt. Die Fluggesellschaft Emirates unterzeichnete mit dem FC Arsenal einen Sponsorenvertrag über circa 100 Millionen Pfund, wobei dieses Volumen eines der umfangreichsten in der englischen Fußballgeschichte darstellt. Ein Teil des Abkommens war dabei die Umbenennung des Ashburton-Grove-Stadions in „Emirates Stadium“ bis mindestens 2012 – der Vertrag hinsichtlich der offiziellen Stadionbezeichnung wurde 2012 bis 2028 verlängert. In der Anhängerschaft – vor allem unter den Gegnern der Stadionumbenennung – wird das neue Stadion weiterhin als „Ashburton Grove“ oder kurz „The Grove“ bezeichnet. Gegnerische Fans bezeichnen das Emirates scherzhaft auch als The Library (die Bibliothek), da es nach ihrer Auffassung hier deutlich leiser zugeht als im Highbury.
=== Zuschauerschnitt seit der Saison 1975/76 ===
Der höchste Zuschauerschnitt der Gunners stammt aus der Premier-League-Saison 2012/13 mit 60.079 Besuchern. Der niedrigste Schnitt wurde in der First Division 1985/86 erzielt. Nur 23.813 Fans kamen pro Spiel in das Highbury.
== Anhängerschaft des Vereins ==
Der FC Arsenal verfügt über eine große und üblicherweise loyale Fanbasis, was sich vor allem darin äußert, dass in der Regel die Heimspiele ausverkauft sind. Bezogen auf die Saison 2006/07 hatte der FC Arsenal den zweithöchsten Zuschauerschnitt eines englischen Fußballvereins (60.045 Zuschauer, was einer 99,8%igen Auslastung des Emirates Stadium entsprach). Kumuliert über alle Spielzeiten in der Geschichte des englischen Fußballs erhielt der FC Arsenal den viertbesten Zuspruch, wobei berücksichtigt werden muss, dass vor allem die Vorkriegsangaben auf Schätzungen beruhen und nicht als genau angesehen werden können.Die Arsenal-Anhänger bezeichnen sich selbst in Abwandlung zu dem Spitznamen des Vereins „The Gunners“ als „The Gooners“. Aufgrund der geografischen Lage des Klubs entstammen die Fans sowohl aus den reichen Bezirken Canonbury und Barnsbury, Regionen mit gemischter Bevölkerungsstruktur aus Islington, Holloway und Highbury, als auch aus großen Arbeitergegenden, wie Finsbury Park und Stoke Newington. Mit etwa 7,7 % verfügt der FC Arsenal gemäß einem Bericht aus dem Jahre 2002 – bezogen auf alle englischen Erstligavereine zu dieser Zeit – über den höchsten Anteil an „nicht-weißen britischen“ („not white British“) Zuschauern, was im Vergleich zu dem Gesamtanteil von nur einem Prozent bezogen auf alle Vereine eine weit überdurchschnittliche Resonanz bei ethnischen Minderheiten nachweist.Wie viele der großen englischen Fußballvereine verfügt der FC Arsenal sowohl über eine Reihe von offiziellen Fanclubs, die mit dem Verein direkt in Verbindung stehen wie zum Beispiel der „Official Arsenal Football Supporters Club“ als auch über Anhängervereinigungen, die sich ihre völlige Eigenständigkeit beibehalten, wobei vor allem die „Arsenal Independent Supporters' Association“ zu nennen ist. Die Fanclubs veröffentlichen außerdem Zeitschriften zum Vereinsgeschehen („Fanzines“), darunter „The Gooner“, „Highbury High“, „Gunflash“ und „Up The Arse!“. Neben den üblichen englischen Fangesängen ist „One-Nil to the Arsenal“ zu der Melodie des Lieds „Go West“ und „Boring, Boring Arsenal“ bei den Arsenal-Fans häufig zu hören. Der zuletzt genannte Sprechchor wurde früher als Beleidigung von Seiten der gegnerischen Fans angesichts der häufig sehr defensiv orientierten Spielweise Arsenals ab den 1970ern bis zu Beginn der 1990er-Jahre benutzt, später jedoch ironisch von den eigenen Anhängern genau dann intoniert, wenn die Mannschaft besonders gut spielt.In der jüngeren Vergangenheit löste sich wie auch bei anderen Klubs die regionale Verankerung der Fans zu den jeweils einheimischen Vereinen immer deutlicher, was sich darin auswirkt, dass der FC Arsenal immer größere Anhängeranteile außerhalb Londons im gesamten Rest Englands und auch weltweit dazu gewinnt. Obwohl der Verein auch zuvor schon über kleinere auswärtige Fangemeinden verfügt hatte, konnte die Fanbasis seit der Verbreitung über das Satellitenfernsehen sprunghaft erweitert werden. Zudem sind weltweit einige bedeutsame Fanclubs neu entstanden. Die ITV-Tochtergesellschaft „Granada Ventures“, die zu diesem Zeitpunkt Vereinsanteile in Höhe von 9,9 % hielt, schätzte die globale Fanbasis des FC Arsenal auf 27 Millionen, dem dritthöchsten Zuspruch eines Fußballvereins überhaupt.Mit Tottenham Hotspur verbindet den FC Arsenal – auch aufgrund der geringsten regionalen Distanz – seine traditionsreichste und größte Rivalität. Die Spiele zwischen diesen beiden Teams werden als „North London Derby“ bezeichnet. Auch die Partien gegen andere Mannschaften aus London wie beispielsweise gegen den FC Chelsea und West Ham United werden als Derbys bezeichnet. Die Intensität ist in diesen Spielen deutlich geringer als bei Spielen zwischen Arsenal und Tottenham. Seit dem Ende der 1980er-Jahre entwickelte sich zudem auf dem Spielfeld eine große Rivalität zwischen Arsenal und Manchester United, die sich in der jüngsten Vergangenheit noch deutlich verstärkte, da sich die beiden Vereine häufig im direkten Wettstreit um den Gewinn der englischen Meisterschaft befanden.
== Finanzsituation/Eigentümerschaft ==
Der US-amerikanische Unternehmer Stan Kroenke besitzt seit April 2011 die Mehrheit der Anteile am Arsenal Football Club, nachdem er sein Engagement seit Mai 2007 ausgebaut hatte. Im August 2018 erlangte Kroenke durch einen Buy-out die vollständige Eigentümerschaft. Als Muttergesellschaft von Arsenal operiert die „Arsenal Holdings Limited“ als Limited company, wobei sich die Eigentumsverhältnisse vor dem Buy-out enorm von denen anderer Fußballvereine unterschieden hatte. Arsenal hatte lediglich 62.219 Aktienanteile ausgegeben, die zudem nicht an öffentlichen Börsen, sondern unregelmäßig auf dem Spezialistenmarkt „ICAP Securities and Derivatives Exchange (ISDX)“ (vormals: „PLUS“) gehandelt worden waren. Gemäß der Bewertung vor dem letzten Handel besaß das Unternehmen im Jahr 2018 einen Börsenwert von 1,867 Milliarden britischen Pfund. Die Gruppe „Arsenal Holdings Limited“ konsolidiert 19 Einzelunternehmen, wozu beispielsweise der Fußballklub selbst („The Arsenal Football Club plc“), die Betreibergesellschaft des Stadions („Arsenal (Emirates Stadium) Limited“) und die in Auslandsfragen zuständige „Arsenal Overseas Ltd“ zählen.Der Konzern erwirtschaftete im zum 31. Mai 2020 abgelaufenen Geschäftsjahr ein negatives Vorsteuerergebnis in Höhe von 54,0 Millionen Pfund bei einem Gesamtumsatz in Höhe von 334,5 Millionen Pfund. Das wirtschaftliche Eigenkapital lag bei 345,1 Millionen Pfund, die kurzfristigen Verbindlichkeiten bei 236,0 Millionen Pfund und die Personalaufwendungen bei 234,5 Millionen Pfund. Das Wirtschaftsmagazin Forbes taxierte den Wert des FC Arsenal im Jahr 2021 mit 2,8 Milliarden US-Dollar und stufte den Klub auf dem achten Rang der weltweit lukrativsten Fußballvereine ein. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte reihte den FC Arsenal im Jahr 2021 aufgrund der Umsatzerlöse in Höhe von 388,0 Millionen Euro in der zurückliegenden Saison 2019/20 in seiner Rangliste „Football Money League“ auf dem elften Platz ein.
== Arsenal in der Popkultur ==
Als eine der erfolgreichsten Fußballmannschaften Englands wurde Arsenal häufig zitiert, wenn sich das kulturelle Leben mit dem einheimischen Fußball beschäftigte. Nachdem am 22. Januar 1927 mit dem Heimspiel des FC Arsenal gegen Sheffield United erstmals ein englisches Meisterschaftsspiel live im Radio übertragen worden war, fand am 16. September 1937 zwischen Arsenal und seiner Reservemannschaft das erste direkt im Fernsehen übertragene Spiel statt. Auch in der ersten Ausgabe der BBC-Sendung Match of the Day war Arsenals Partie am 22. August 1964 beim FC Liverpool in Anfield als Zusammenfassung zu sehen.Der Film The Arsenal Stadium Mystery aus dem Jahre 1939 gilt zudem als einer der ersten seiner Art, die sich mit dem Thema Fußball auseinandersetzten. Dieser Film handelt von einem Freundschaftsspiel Arsenals gegen eine Amateurmannschaft, von der ein Spieler während der Partie vergiftet wird. Viele Arsenal-Akteure spielen sich selbst, nur George Allison besaß eine Sprechrolle.
In der jüngeren Vergangenheit gelangte vor allem der von Nick Hornby verfasste Bestseller Fever Pitch zu weltweiter Bekanntheit, in dem der Autor autobiografisch seine Beziehung zum Fußball und speziell zu Arsenal beschreibt. Das 1992 veröffentlichte literarische Werk war, nach der weitreichenden Ächtung durch weite Teile der Öffentlichkeit in den 1980er-Jahren aufgrund von Ereignissen wie der Katastrophe von Heysel, mitverantwortlich für die Rehabilitierung und Etablierung des Fußballs innerhalb der britischen Gesellschaft in den 1990ern. Das Buch wurde 1997 mit Colin Firth in der Hauptrolle verfilmt, wobei sich die Darstellung vorrangig auf den Gewinn der Meisterschaft in der Saison 1988/89 konzentrierte. Darüber hinaus inspirierte das Buch den US-amerikanischen Film „Ein Mann für eine Saison“ aus dem Jahre 2005, die sich mit dem Leben eines Anhängers des Major-League-Baseball-Teams Boston Red Sox beschäftigte.
Besonders in den 1970ern bis zum Beginn der 1990er-Jahre war der FC Arsenal im komödiantischen Bereich aufgrund der defensiven und als „langweilig“ empfundenen Spielweise Ziel von Spott. Besonders trat dabei der Komiker Eric Morecambe hervor. Sogar noch im Jahr 1997 verwies eine Szene im Film Ganz oder gar nicht auf eine Abwehrformation des FC Arsenal, als sich die Hauptcharaktere auf einer Linie bewegten, gemeinsam die Hand hoben und so das erfolgreiche Ergebnis ihrer Abseitsfalle reklamierten. Ein weiterer Bezug auf die Arsenal-Defensive nimmt der Film Plunkett & Macleane – Gegen Tod und Teufel, wo zwei Charaktere nach den langjährigen Außenverteidigern Lee Dixon und Nigel Winterburn benannt sind.Zusätzlich war der Verein Gegenstand von vielen Sketchen in „Monty Python’s Flying Circus“. In dem Buch Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams bemerkte der Barmann angesichts des drohenden Weltuntergangs „Glück für Arsenal, wenn’s stimmt.“ Im Jahr 2004 trugen die Hauptcharaktere in der Gangsterkomödie Ocean’s 12 Sportanzüge der Gunners, um so während eines Diebstahls in Europa aus einem Hotel zu entkommen.
Auch in der Popmusik war der FC Arsenal häufig vertreten. Joe Strummer schrieb beispielsweise in einer Widmung an den damaligen Mannschaftskapitän das Lied Tony Adams, das Teil seines 1999 veröffentlichten Albums „Rock Art and the X-Ray Style“ war. Strummer war zudem dafür bekannt, dass er einen Arsenal-Fanschal während seiner Auftritte trug – trotz der Tatsache, dass er Anhänger des FC Chelsea war. Gemeinsam mit Tottenham Hotspur wurde der FC Arsenal außerdem in dem Song Billy’s Bones von The Pogues aus dem zweiten Album Rum, Sodomy & the Lash erwähnt. Der Verein selbst war mehrfach zumindest in der britischen Hitparade vertreten. Es hat in Großbritannien eine gewisse Tradition, dass gerade auch die berühmten Vereine zeitweilig eine Schallplatte veröffentlichen. 1971 erreichte Good Old Arsenal Platz 16 der Charts, im Mai 1993 kam Shouting for the Gunners auf Platz 34. 1998 wurde der größte musikalische Erfolg gefeiert: Die Coverversion Hot Stuff, original von Donna Summer, gelangte mit verändertem Text unter die Top 10, auf Platz 9.
== Titel/Erfolge ==
=== National ===
Englische Meisterschaft: 13
1931, 1933, 1934, 1935, 1938, 1948, 1953, 1971, 1989, 1991, 1998, 2002, 2004Englischer Pokal (FA Cup): 14 (Rekord)
1930, 1936, 1950, 1971, 1979, 1993, 1998, 2002, 2003, 2005, 2014, 2015, 2017, 2020Englischer Ligapokal (League Cup): 2
1987, 1993Englischer Supercup (Charity Shield/Community Shield): 16
1930, 1931, 1933, 1934, 1938, 1948, 1953, 1991 (geteilt), 1998, 1999, 2002, 2004, 2014, 2015, 2017, 2020
=== International ===
Messepokal:
Sieger (1): 1970Europapokal der Pokalsieger:
Sieger (1): 1994
Finalist (1): 1995UEFA Champions League:
Finalist (1): 2006UEFA Europa League:
Finalist (2): 2000, 2019UEFA Super Cup:
Finalist (1): 1994
== Spieler ==
=== Aktueller Kader 2022/23 ===
Stand: 31. Januar 2023
=== Ehemalige Spieler ===
Die folgende Aufstellung zeigt jeweils die 20 Spieler mit den meisten Pflichtspieleinsätzen und -toren in der Geschichte des FC Arsenal.
== Trainerchronik ==
Stand: Ende der Saison 2013/14. Nur offizielle Spiele wurden berücksichtigt.(P,S,U,N=Anzahl Spiele/Siege/Unentschieden/Niederlagen; T+/T-=Anzahl Treffer/Gegentreffer)
== „Arsenal Reserves“, „Arsenal Academy“ und „Scouting“ ==
Die „Arsenal Reserves“ stellen die offizielle zweite Mannschaft des FC Arsenal dar. Sie spielen seit der Gründung der „Premier Reserve League“ im Jahr 1999 in der dazugehörenden Südabteilung („Southern Division“) und absolvieren dabei ihre Heimspiele im Underhill Stadium, das gleichzeitig die sportliche Heimat des FC Barnet ist. Üblicherweise besteht die Reservemannschaft des FC Arsenal aus jungen Nachwuchsspielern der eigenen Akademie, die das 21. Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Häufig wird dieses Team jedoch auch von etablierten Spieler aus der ersten Mannschaft vor allem dann genutzt, wenn sich diese beispielsweise nach einer Verletzungspause Spielpraxis besorgen wollen.
Momentan wird das Reserveteam von Neil Banfield trainiert, dem zusätzlich Mike Salmon als Assistent zur Seite steht. Für die grundsätzliche Entwicklung der zweiten Mannschaft zeichnet mit Liam Brady der Leiter der Jugendakademie „Arsenal Academy“ verantwortlich (sein Assistent ist wiederum David Court).
Schon seit den frühesten Tagen als „Royal Arsenal“ in Plumstead verfügte der Klub über eine Reservemannschaft, die im Jahr 1890 mit dem „Kent Junior Cup“ ihren ersten Titel holte. Als „Woolwich Arsenal“ – wie der Verein ab 1891 hieß – schloss man sich in der Saison 1895/95 der „Kent League“ an, gewann 1897 die Meisterschaft und verließ 1900 – oder kurze Zeit später – diese Liga wieder. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Arsenal-Reserveteam Teil der „London Combination“ (später: „Football Combination“) und war dort lange Jahre bis 1999 aktiv. Insgesamt konnte die Mannschaft 18 Meisterschaften gewinnen und fügte dem drei Pokalsiege im „Combination Cup“ hinzu. Danach war der Verein Mitbegründer der FA Premier Reserve League und spielt dort bis zum heutigen Tage. Nennenswerte Erfolge sind dort bislang ausgeblieben – abgesehen von dem Gewinn der Vizemeisterschaft am Ende der Saison 2001/02.
Die „Arsenal Academy“ besitzt seit 1998 den offiziellen Status einer Fußballakademie und beherbergt Jugendliche im Alter zwischen neun und 21 Jahren. Dabei werden normalerweise Jahrgangsauswahlen in den Jugendmannschaften von der U-9 bis hinauf zur U-16 gebildet, die momentan unter der gemeinsamen Kontrolle von Roy Massey stehen und im „Hale End Training Centre“ ansässig sind. Die früheren U-17- und U-19-Teams und die dazugehörenden Meisterschaftsrunden wurden nach Ablauf der Saison 2003/04 von der FA abgeschafft und stattdessen eine U-18-Liga eingerichtet, in der seitdem die Akademiemannschaften der einzelnen Vereine gegeneinander antreten. Gewöhnlicherweise trainiert die von Steve Bould betreute U-18-Auswahl des FC Arsenal an der gleichen Stelle wie das Profiteam.
Der wohl prominenteste Emporkömmling aus der Akademiearbeit ist Ashley Cole, der auf der linken Verteidigerposition Stammspieler in der ersten Mannschaft, zum Nationalspieler Englands wurde und heute für den AS Rom spielt. Mit dem dänischen Stürmer Nicklas Bendtner, der als 16-Jähriger der Arsenal Academy beigetreten war, brachte der Verein einen weiteren Spieler bis in die A-Nationalmannschaft seines Landes hervor. Zusätzlich befinden sich unter den Absolventen die (ehemaligen) englischen U-21-Nationalspieler Stuart Taylor, Jermaine Pennant, David Bentley, Steve Sidwell und Justin Hoyte. Zudem entstammt mit Jérémie Aliadière ein vormaliger französischer U-21-Auswahlspieler der Arsenal-Nachwuchsarbeit.
Im Bereich Scouting verfügt der FC Arsenal über eine weltweit operierende Struktur zur Sichtung von Spielern. Diese Abteilung wurde von 1996 bis 2017 von Steve Rowley († 63, 2022) geleitet, der seit 1980 im Verein aktiv war und vorher in einer Assistentenfunktion für die Sichtung von Jugendspielern zuständig gewesen war. Später fertigte er Expertisen zu kommenden Gegnern der Profimannschaft an. Im Jahr 1996 beförderte ihn Arsène Wenger zum „Chef-Scout“. Rowley stand vor allem einem Netz von 16 inländischen „Scouts“ vor, die ihm regelmäßig Berichte über erfolgreiche Sichtungen anfertigten.
Erfolge
(Es wurden nur die Titel der Reservemannschaft aufgezählt.)
Meister in der „Football Combination“ (früher: „London Combination“): 18 (1923, 1927, 1928, 1929, 1930, 1931, 1934, 1935, 1937, 1938, 1939, 1947, 1951, 1963, 1969, 1970, 1984, 1990)
Gewinner im „Football Combination Cup“: 3 (1953, 1968, 1970)
Gewinner im „London FA Challenge Cup“: 7 (1934, 1936, 1954, 1955, 1958, 1963, 1970)
Meister in der „Kent League“: 1 (1897)
Meister in der „West Kent League“: 3 (1901, 1902, 1903)
Meister in der „London League First Division“: 3 (1902, 1904, 1907)
Gewinner im „Kent Junior Cup“: 1 (1890)
== Arsenal Women FC ==
1987 wurde der Arsenal Women FC (Arsenal Women FC oder kurz Arsenal WFC, bis Juli 2017: Arsenal Ladies Football Club bzw. Arsenal LFC) gegründet. Gründer des Vereins war Vic Akers. Sie sind der erfolgreichste Frauenfußballverein in England. Die Spielstätte der Arsenal WFC ist der Meadow Park in Borehamwood, Hertfordshire.
=== Erfolge ===
==== International ====
UEFA-Women’s-Cup-Sieger: 2007
==== National ====
FA WSL: 32011, 2012, 2018/19FA Women’s Premier League National Division: 121992/93, 1994/95, 1996/97, 2000/01, 2001/02, 2003/04, 2004/05, 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10FA Women’s Cup: 141992/93, 1994/95, 1997/98, 1998/99, 2000/01, 2003/04, 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2010/11, 2012/13, 2013/14, 2015/16FA WSL Continental Cup: 52011, 2012, 2013, 2015, 2018FA Women’s Premier League Cup: 101991/92, 1992/93, 1993/94, 1997/98, 1998/99, 1999/2000, 2000/01, 2004/05, 2006/07, 2008/09FA Women’s Community Shield: 52000, 2001, 2005, 2006, 2007, 2008London County FA Women’s Cup: 101994/95, 1995/96, 1996/97, 1999/2000, 2003/04, 2006/07, 2007/08, 2008/09, 2009/10, 2010/11FA Women’s Premier League Southern Division: 11991/92Highfield Cup: 11990/91Reebok Cup: 21991/92, 1995/96AXA Challenge Cup: 11998/99
== Statistiken und Rekorde ==
Vereinsrekorde
Siege
Die meisten Meisterschaftssiege in einer Saison – 29 in 42 Spielen, First Division, Saison 1970/71
Die wenigsten Meisterschaftssiege in einer Saison – 3 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13
Niederlagen
Die meisten Meisterschaftsniederlagen in einer Saison – 23 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13
Die wenigsten Meisterschaftsniederlagen in einer Saison – 0 in 38 Spielen, Premier League, Saison 2003/04
Tore
Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftstore – 127 in 42 Spielen, First Division, Saison 1930/31
Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftstore – 26 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13
Die meisten in einer Saison kassierten Meisterschaftstore – 86 in 42 Spielen, First Division, Saison 1926/27, 1927/28
Die wenigsten in einer Saison kassierten Meisterschaftstore – 17 in 38 Spielen, Premier League, Saison 1998/99
Punkte
Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (2-Punkte-Regelung) – 66 in 42 Spielen, First Division, Saison 1930/31
Die meisten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (3-Punkte-Regelung) – 90 in 38 Spielen, Premier League, Saison 2003/04
Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (2-Punkte-Regelung) – 18 in 38 Spielen, First Division, Saison 1912/13
Die wenigsten in einer Saison erzielten Meisterschaftspunkte (3-Punkte-Regelung) – 51 in 42 Spielen, Premier League, Saison 1994/95
Spiele
Debüts
Erstes Spiel – Freundschaftsspiel gegen die Eastern Wanderers, 11. Dezember 1886 (6:0)
Erstes FA-PokalSpiel – erste Qualifikationsrunde gegen den FC Lyndhurst, 5. Oktober 1889 (11:0)
Erstes FA-Pokal-Hauptrundenspiel – Erstrundenspiel gegen Derby County, 17. Januar 1891 (1:2)
Erstes Meisterschaftsspiel – gegen Newcastle United in der Second Division, 2. September 1893 (2:2)
Erstes Erstligaspiel – gegen Newcastle United, 3. September 1904 (0:3)
Erstes Spiel in Highbury – gegen Leicester Fosse in der Second Division, 16. September 1913 (2:1)
Erstes Europapokalspiel – gegen Stævnet (Kopenhagen XI) im Messepokal, 25. September 1963 (7:1)
Erstes Ligapokalspiel – gegen den FC Gillingham, 13. September 1966 (1:1)
Erstes Spiel im Emirates Stadium – Freundschaftsspiel gegen Ajax Amsterdam, 22. Juli 2006 (2:1)
Rekordsiege
Höchster Meisterschaftssieg – 12:0 (im Heimspiel gegen Loughborough Town in der Second Division, 12. März 1900)
Höchster Sieg im FA Cup – 12:0 (im Heimspiel gegen Ashford United, 14. Oktober 1893)
Höchster Erstligasieg – 9:1 (im Heimspiel gegen Grimsby Town, 28. Januar 1931)
Höchster Premier-League-Sieg – 7:0 (in den Heimspielen gegen den FC Everton, 11. Mai 2005 und gegen den FC Middlesbrough, 14. Januar 2006)
Höchster Ligapokalsieg – 7:0 (im Heimspiel gegen Leeds United, 4. September 1979)
Höchster Auswärtssieg und Höchster Sieg in einem Europapokal-Auswärtsspiel – 7:0 (gegen Standard Lüttich im Europapokal der Pokalsieger, 3. November 1993)
Höchster Sieg im Highbury – 11:1 (gegen den FC Darwen im FA Cup, 9. Januar 1932)
Höchster Sieg im Emirates Stadium – 7:0 (gegen Slavia Prag in der Champions League, 23. Oktober 2007)
Höchster Sieg in einem Europapokalspiel – 7:0 (auswärts bei Standard Lüttich im Europapokal der Pokalsieger am 3. November 1993 und im Heimspiel gegen Slavia Prag in der Champions League am 23. Oktober 2007)
Rekordniederlagen
Höchste Meisterschaftsniederlage – 0:8 (im Auswärtsspiel gegen Loughborough Town in der Second Division, 12. Dezember 1896)
Höchste Heimniederlage – 0:6 (gegen Derby County im FA Cup, 28. Januar 1899)
Höchste Niederlage im FA Cup – 0:6 (im Heimspiel gegen Derby County im FA Cup, 28. Januar 1899 und im Auswärtsspiel gegen West Ham United, 5. Januar 1946)
Höchste Erstliganiederlage – 0:7, jeweils in Auswärtsspielen (gegen die Blackburn Rovers am 2. Oktober 1909, West Bromwich Albion am 14. Oktober 1922, Newcastle United am 3. Oktober 1925 und gegen West Ham United am 7. März 1927)
Höchste Premier-League-Niederlage – 2:8 (im Auswärtsspiel gegen Manchester United, 28. August 2011)
Höchste Ligapokalniederlage – 0:5 (im Heimspiel gegen den FC Chelsea, 11. November 1999)
Höchste Europapokalniederlage – 1:5 (im Auswärtsspiel gegen den FC Bayern München in der Champions League, 4. November 2015)
Höchste Heimniederlage im Highbury – 0:5, (gegen Huddersfield Town in der First Division, 14. Februar 1925 und den FC Chelsea im Ligapokal, 11. November 1999)
Höchste Heimniederlage im Emirates Stadium – 1:5 (gegen den FC Bayern München in der Champions League, 7. März 2017)
Remis-Rekorde
Das torreichste Unentschieden – 6:6 (im Auswärtsspiel gegen Leicester City in der First Division, 21. April 1930)
Serien
Siege
Serie gewonnener Spiele (alle Wettbewerbe) – 14 (12. September 1987 bis 11. November 1987)
Serie gewonnener Spiele (nur Meisterschaft) – 14 (10. Februar 2002 bis 18. August 2002)
Remis
Längste Remis-Serie (sowohl in allen Wettbewerben als auch nur auf die Meisterschaft bezogen) – 6 (3. März 1961 bis 1. April 1961)
Niederlagen
Serie verlorener Spiele (alle Wettbewerbe) – 8 (12. Februar 1977 bis 12. März 1977)
Serie verlorener Spiele (nur Meisterschaft) – 7 (12. Februar 1977 bis 12. März 1977)
Spiele ohne Niederlage
Serie ungeschlagener Spiele (alle Wettbewerbe) – 28 (9. April 2007 bis 24. November 2007)
Serie ungeschlagener Spiele (nur Meisterschaft) – 49 (7. Mai 2003 bis 16. Oktober 2004)
Zuschauerrekorde
Höchste Zuschauerzahl bei einem Heimspiel – 73.707 (gegen den RC Lens in der Champions League, 25. November, 1998 im Wembley-Stadion, wo Arsenal zwischen 1998 und 1999 seine Champions-League-Heimspiele austrug).
Höchste Zuschauerzahl im Highbury – 73.295 (gegen den FC Sunderland in der First Division, 9. März 1935)
Höchste Zuschauerzahl im Emirates Stadium – 60.161 (gegen Manchester United in der Premier League, 3. November 2007)
Spielerrekorde
Individuelle Vereinsrekorde
Spieler mit den meisten Pflichtspieleinsätzen – 722, David O’Leary zwischen 1975 und 1993
Jüngster eingesetzter Spieler – Cesc Fàbregas, 16 Jahre, 177 Tage (gegen Rotherham United, Englischer Ligapokal, 28. Oktober 2003)
Ältester eingesetzter Spieler – Jock Rutherford, 41 Jahre, 159 Tage (gegen Manchester City, First Division, 20. März 1926)
Rekordeinsätze ohne Unterbrechung – Tom Parker, 172 (3. April 1926 bis 26. Dezember 1929)
Die meisten Pflichtspieltore – 229, Thierry Henry zwischen 1999 und 2007 sowie 2012
Die meisten Tore in einer Saison – 44, Ted Drake (1934/35)
Die meisten Meisterschaftstore in einer Saison – 42, Ted Drake, (1934/35)
Die meisten Tore in einem Spiel – 7, Ted Drake (gegen Aston Villa, First Division, 14. Dezember 1935)
Die meisten Tore in einem Heimspiel – 5, Jack Lambert (gegen Sheffield United, First Division, 24. Dezember 1932)
Das schnellste Tor – 13 Sekunden, Alan Sunderland (gegen den FC Liverpool im FA Cup, 28. April 1980)
Länderspiele
Erster Nationalspieler – Caesar Jenkyns (für Wales gegen Schottland, 21. März, 1896)
Erster englischer Nationalspieler – Jimmy Ashcroft (gegen Irland, 17. Februar 1906)
Rekordnationalspieler – Patrick Vieira, 79 Einsätze für Frankreich (während seiner Zeit beim FC Arsenal)
Rekordnationalspieler für England – Kenny Sansom, 77 Einsätze (während seiner Zeit beim FC Arsenal)
Erster Teilnehmer an einer Fußballweltmeisterschaft – Dave Bowen und Jack Kelsey (für Wales gegen Ungarn, 8. Juni 1958)
Erster Teilnehmer für England an einer Fußballweltmeisterschaft – Graham Rix und Kenny Sansom (gegen Frankreich, 16. Juni 1982)
Erster Teilnehmer an einem Weltmeisterschaftsendspiel – Emmanuel Petit und Patrick Vieira (als Einwechselspieler) (für Frankreich gegen Brasilien, 12. Juli 1998)
== Literatur ==
Soar, Phil & Tyler, Martin: The Official Illustrated History of Arsenal 1886–2008. Hamlyn, 2008, ISBN 978-0-600-61889-8.
Spurling, Jon: Rebels For The Cause: The Alternative History of Arsenal Football Club. Mainstream, 2004, ISBN 0-575-40015-3.
Alex Flynn, Kevin Whitcher: The Glorious Game – Arsene Wenger, Arsenal and the Quest for Success. Orion, London 2003, ISBN 0-7528-6040-2.
Nick Hornby: Fever Pitch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, ISBN 3-462-02586-4.
Amy Lawrence: Proud to Say That Name: The Marble Hall of Fame. Mainstream, 1997, ISBN 1-85158-898-1.
Jem Maidment: The Official Arsenal 100 Greatest Games. Hamlyn, 2005, ISBN 0-600-61376-3.
Alan Roper: The Real Arsenal Story: In the Days of Gog. Wherry, 2003, ISBN 0-9546259-0-0.
David Tossell: Seventy-One Guns: The Year of the First Arsenal Double. Mainstream, 2002, ISBN 1-84018-589-9.
Graham Weaver: Gunners’ Glory: 14 Milestones in Arsenal’s History. Mainstream, 2005, ISBN 1-84018-667-4.
== Weblinks ==
Offizielle Website (englisch)
„Arsenal statistics“ (Arseweb)
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/FC_Arsenal |
Deuteronomium | = Deuteronomium =
Das Deuteronomium (abgekürzt Dtn) ist das fünfte Buch des Pentateuch. Dewarim oder Devarim, (hebräisch דְּבָרִים ‚Worte‘), ist der Name des Deuteronomiums in jüdisch-hebräischen Bibelausgaben. In den meisten evangelischen Bibelübersetzungen wird es als Fünftes Buch Mose bezeichnet.
Der Inhalt des Buches ist der letzte Tag im Leben seiner Hauptperson Mose. Mose verbringt diesen Tag mit Reden an das versammelte Volk Israel, das sich auf die Überquerung des Jordan und die Eroberung des von seinem Gott JHWH verheißenen Landes vorbereitet. Mose wird daran nicht mehr beteiligt sein, seine Reden werden ihn von nun an gewissermaßen vertreten. Diese Abschiedsreden beziehen sich auf Themen, die innerhalb des Pentateuch bereits in den Büchern Exodus (besonders Kapitel 20–23: Bundesbuch) und Levitikus (besonders Kapitel 17–26: Heiligkeitsgesetz) vorkommen. Am Ende des Deuteronomiums stirbt Mose.
Typisch für das Deuteronomium ist die Verbindung von Gesetzestexten und argumentierenden, werbenden oder warnenden Ausführungen des Mose (Paränese). Diese Mahnrede legt sich wie ein Rahmen als Prolog und Epilog um die juristischen Stoffe, die den Kern des Deuteronomiums (Kapitel 12 bis 26) bilden. In diesem zentralen juristischen Teil tritt Mose als Sprecher in den Hintergrund.
Die stofflichen Übereinstimmungen mit Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz werden mehrheitlich so erklärt, dass das Deuteronomium einen Kommentar zum Bundesbuch darstellt, das Heiligkeitsgesetz dagegen das Deuteronomium kommentiert. Das Deuteronomium enthält eine Neuerung, die auch im altorientalischen Kontext sehr ungewöhnlich ist: Es fordert ein Zentralheiligtum für JHWH anstelle vieler Lokalheiligtümer. Diese Kultzentralisation entspricht der Einheit JHWHs, die im Schma Jisrael proklamiert wird. Die Zehn Gebote sind dem Bundesbuch wie den Gesetzen des Deuteronomiums programmatisch vorangestellt. Diese Positionierung ist wohl als Leseanweisung gemeint, das Bundesbuch im Licht des Deuteronomiums zu verstehen.
Für die älteren Teile des Deuteronomiums wird eine Entstehung in Jerusalem (8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) vermutet. Die Verfasser setzen sich mit neuassyrischer Politik und deren ideologischer Begründung auseinander. Die eigentliche Ausarbeitung des Textes erfolgte aber nach Meinung vieler Exegeten etwas später, in exilischer und frühnachexilischer Zeit. Nun wurde die im Deuteronomium vorausgesetzte Situation zur Deutung der eigenen Existenz wichtig: außerhalb des Landes Israel ein künftiges Wohnen in diesem Land zu imaginieren und sich lernend in die Gebote zu vertiefen, die dann gelten sollen.
== Devarim – Deuteronomium – Fünftes Buch Mose ==
Beim hebräischen Buchtitel handelt es sich um eine Benennung nach den Anfangsworten (Incipit). Sie lauten: „Dies sind die Worte…“, אֵלֶּה הַדְּבָרִים ʾElleh haddevarim, dies wurde verkürzt zu: hebräisch דְּבָרִים Devarim „Worte.“In Alexandria übersetzten jüdische Gelehrte im 3. Jahrhundert v. Chr. das Buch in die Verkehrssprache des östlichen Mittelmeerraums, die Koine genannte hellenistischen Form des Altgriechischen. Dabei blieben sie eng an der hebräischen Vorlage. Ihre Übersetzung entstand im Kontext der Übersetzung der gesamten fünf Bücher der Tora ins Griechische, nach Meinung der meisten Fachleute nach dem Buch Exodus. Ob sie zeitlich vor Levitikus und Numeri anzusetzen ist, bleibt allerdings unsicher. Der Buchtitel lautet Δευτερονόμιον Deuteronómion, deutsch ‚Wiederholung des Gesetzes‘. Er soll den Inhalt des Buchs charakterisieren. Die Formulierung findet sich im Deuteronomium selbst: Die Übersetzer nahmen eine leichte Sinnveränderung in 17,18 vor. Im hebräischen Text geht es um die Anfertigung einer Kopie der Weisung, im griechischen Text dagegen um eine Kopie eines Textes, der „zweites Gesetz“, Deuteronómion, heißt. Damit meinten die alexandrinischen Gelehrten sehr wahrscheinlich das 5. Buch Mose, so Karin Finsterbusch. In der rabbinischen Literatur wird der gleichbedeutende Ausdruck מִשְׁנֵה תּוֹרָה Mishneh Torah manchmal für das Buch Deuteronomium gebraucht.Von der Septuaginta übernahmen die Übersetzer der Vulgata den Buchtitel: Deuteronomium. Diese latinisierte Schreibweise ist in der wissenschaftlichen Literatur vorherrschend.
Die im evangelischen Raum übliche Bezeichnung Fünftes Buch Mose steht ebenfalls in einer Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Bereits Flavius Josephus bezeichnete im 1. Jahrhundert n. Chr. die Tora als die „fünf Bücher Mose.“
== Sprache ==
Das Deuteronomium ist ein Prosatext. Er ist weniger zum stillen Lesen als zum Vortrag gedacht, wobei er durch rhetorische Mittel die Hörer beeindruckt: Weit gespannte Satzperioden, in Sprechzeilen gegliedert und mit Assonanzen geschmückt, erzeugen einen wogenden Rhythmus. Einerseits wird im Deuteronomium argumentiert und um die Zustimmung des Hörers geworben, andererseits hat das Buch ein pädagogisches Interesse. Leitworte und wiederkehrende Formulierungen prägen religiöse Inhalte ein bzw. rufen sie in Erinnerung. Diese „rhetorische Kunstprosa“ zeichnet sich durch einen hohen Wiedererkennungswert aus. Der hebräische Text des Deuteronomiums hat eine besondere ästhetische Qualität. So heißt es in der Encyclopedia Judaica: „Der Stil des Deuteronomiums zeichnet sich aus durch seine Einfachheit, Flüssigkeit und Klarheit und ist wiedererkennbar durch seinen Sprachgebrauch und besonders durch seinen rhetorischen Charakter.“
== Verfasser, Entstehungszeit und -ort ==
Das Deuteronomium gibt sich ein archaisches Aussehen, indem alte geographische und ethnische Bezeichnungen und Namen vorzeitlicher Riesen und legendarischer Völker verwendet werden. Doch es gibt Textsignale dafür, dass die Verfasser mit zeitlichem Abstand zu den dargestellten Ereignissen schreiben. Um etwa formulieren zu können, „Nie wieder erstand in Israel ein Prophet wie Mose“ (Dtn 34,10 ), musste man von einer langen Reihe von Propheten nach Mose Kenntnis haben. Darum wird eine Abfassung in der vorstaatlichen Zeit, sei es durch Mose oder durch Schreiber in seinem Umfeld, in der historisch-kritischen Forschung kaum vertreten.
Man nimmt an, dass das Buch jünger ist und auch nicht in einem Zug niedergeschrieben wurde. Der Text war quasi lebendig, veränderte sich im Lauf der Jahrhunderte, bis er schließlich eine verbindliche Fassung annahm. Nun wurde er zum Schlussteil eines größeren Werks, des Pentateuch, umgearbeitet. So sehr das Deuteronomium in seiner langen Entstehungsgeschichte ein selbständiges Werk war (diachrone Betrachtung), so sehr gilt auch: als jetzt vorliegender Endtext ist es das nicht mehr, sondern Abschluss des Pentateuch (synchrone Betrachtung).Das Zeitfenster für die Entstehung des Deuteronomiums lässt sich so bestimmen:
Zum ersten Mal wird das Deuteronomium für viele Exegeten in der Spätphase des Südreichs Juda erkennbar. Nacheinander regierten hier die Könige Hiskija, Manasse, Amon und Joschija. Im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts v. Chr. nahm die staatliche Administration und damit verbunden die Schreiberausbildung in Jerusalem einen Aufschwung. Ostraka belegen diese zunehmende Schriftlichkeit. Damit ist eine Voraussetzung für die Abfassung eines Gesetzbuchs gegeben.
Ein weiterer Hinweis auf die Datierung ist die Erwähnung von Astralkulten (Dtn 4,19 ; Dtn 17,3 ), die nur hier im Pentateuch thematisiert werden. Wahrscheinlich wurden Astralkulte durch aramäisch-assyrischen Einfluss im 8. Jahrhundert v. Chr. in Juda attraktiv.
Die älteste bekannte Pentateuchhandschrift ist 4Q17; sie wurde etwa 250 v. Chr. geschrieben. Davon ausgehend nimmt man an, dass der Pentateuch spätestens etwa 350 v. Chr. zusammengestellt wurde. Die im Deuteronomium enthaltenen Texte sind folglich älter.
=== Religiöse Veränderungen zur Zeit Hiskijas ===
Nach dem Ende des Nordreichs Israel 722/720 v. Chr. erlebte das Südreich Juda eine Zeit der Blüte und der territorialen Ausdehnung. Hiskija rechnete aber mit einem bevorstehenden Angriff der Neuassyrer auf Jerusalem und traf Sicherungsmaßnahmen. Die Schiloach-Inschrift ist ein epigraphischer Beleg für diese Kriegsvorbereitungen, denn es geht hierbei um die Wasserversorgung Jerusalems im Fall der Belagerung.
Israelische Archäologen sehen Hinweise auf kultische Veränderungen im Reich Juda bereits in der Regierungszeit Hiskijas. Ze’ev Herzog führt die Aufgabe der JHWH-Heiligtümer von Tel Arad und Tell Be’er Scheva auf die Religionspolitik dieses Königs zurück, was allerdings von Nadav Na’aman in Frage gestellt wird. Die Heiligtümer wurden nicht einfach zerstört (schließlich waren es JHWH-Heiligtümer), sondern quasi respektvoll geschlossen – so die Vertreter dieses Szenarios. Kultzentralisation ist ein zentrales Anliegen des Deuteronomiums. Eine solche Maßnahme war für die ländliche Bevölkerung zweifellos verstörend, auch wenn sie in einem zu dieser Zeit verfassten „Ur-Deuteronomium“ nachträglich legitimiert wurde. Georg Braulik versucht, die Kultzentralisation mit den Kriegsvorbereitungen Hiskijas zu verbinden: Der König siedelte die Landbevölkerung zu ihrem Schutz in befestigte Städte um. Dazu musste die Bindung der Menschen an die Lokalheiligtümer ihrer Großfamilien aufgelöst werden.Hiskijas Kriegsvorbereitungen waren berechtigt. Im Rahmen einer Strafexpedition zerstörte der assyrische König Sanherib mehrere Städte in der Schefela, darunter Lachisch III, und begann mit der Belagerung Jerusalems (2 Kön 18,17 ), die er aber aus unbekannten Gründen abbrach – für die Bibel ein von JHWH gewirktes Wunder. Hiskija schickte dem abziehenden Assyrerkönig seinen Tribut hinterher (2 Kön 18,14–16 , bestätigt durch assyrische Quellen) und nahm das Südreich Juda damit aus dem Visier künftiger assyrischer Angriffe.
=== Manasses Vasalleneid ===
Der von der Bibel negativ gewertete König Manasse verhielt sich als treuer Vasall der Neuassyrer, was den Untertanen während seiner langen Regierung (694–640 v. Chr.) eine stabile und prosperierende Zeit bescherte.Der assyrische König Asarhaddon ließ 672 einen Text verfassen, mit dem seine Vasallen auf die von ihm gewünschten Thronfolger verpflichtet wurden: Assurbanipal auf dem Thron Assurs und Šamaš-šuma-ukin auf dem Thron Babylons. Der Text, auf Keilschrifttafeln niedergelegt, wurde assyrisch als adê („Treueid“) bezeichnet. Britische Archäologen fanden 1955 über 350 Fragmente dieser Tafeln im Nabu-Tempel von Nimrud. Bei der Erstveröffentlichung 1958 interpretierte man adê als „Vasallenvertrag“, daher die Bezeichnung The Vassal-treaties of Esarheddon, abgekürzt VTE. Die Ähnlichkeit der bei Untreue angedrohten Flüche mit den Flüchen in Dtn 28 war auffällig. Aber erst 1995 konnte Hans Ulrich Steymans nachweisen, dass die Ähnlichkeiten nicht auf einer altorientalischen Tradition des Drohens und Fluchens beruhen, sondern dass Dtn 28 von den VTE literarisch abhängig ist. Ein Beispiel (Übersetzungen nach Steymans):
„Mögen alle Götter … euren Boden wie (aus) Eisen machen! Nichts möge daraus aufgehen! Wie es vom Himmel aus Bronze nicht regnet, so mögen Regen und Tau auf eure Felder und eure Fluren nicht kommen! Statt Regen … möge es Kohlen auf eurer Land regnen!“ (VTE §63, Zeile 526 – §64, Zeile 533)
„Und es wird dein Himmel, der über deinem Kopf (ist), Bronze, und die Erde, die unter dir ist, Eisen. JHWH gebe (als) Regen (für) deine Erde Staub und Asche, vom Himmel komme er herab auf dich bis zu deiner Ausrottung.“ (Dtn 28,23–24 )Exemplare der VTE wurden bisher nur in Tempeln gefunden, wo sie von den Vasallenkönigen anscheinend wie Götterbilder verehrt wurden. Man kann daher annehmen, dass auch König Manasse von Juda sein Exemplar im JHWH-Tempel von Jerusalem aufstellte. So wurde der Text in der Jerusalemer Oberschicht bekannt. Der Grundbestand von Dtn 28,20–44 ist nach Steymans Analyse bald nach 672 geschrieben worden, wobei zu bedenken ist, dass Ninive ab 612 in Trümmern lag und der Text der assyrischen Treueide das Ende des Neuassyrischen Reichs wohl nicht sehr lange überlebte.Eckart Otto weist auf eine weitere Parallele hin. Schon ein „übles, schlechtes, unpassendes Wort, das für Assurbanipal … nicht angemessen, nicht gut ist“, gilt in den Eidesformeln der VTE als Hochverrat (VTE §10). Hochverräter müssen angezeigt und an den Palast ausgeliefert werden, am besten ist es aber, „sie zu packen, sie zu töten“ (VTE §12). Es besteht eine auffällige Ähnlichkeit zu Dtn 13,2–10 , wo der Tatbestand eines religiösen Hochverrats geschaffen wird, der ebenfalls mit Lynchjustiz geahndet werden soll. „Die Forderung der Lynchjustiz … hat im gesamten Rechtssystem des Alten Testaments keinen weiteren Anhalt, wohl aber in den VTE.“ Sie widerspricht anderen Texten des Deuteronomiums, die ein ordentliches Gerichtsverfahren mit Anhörung von mindestens zwei Zeugen fordern (Dtn 17,2–13 ; Dtn 19,15–21 ), ein Indiz dafür, dass in Dtn 13,2–10 eine andere Rechtstradition zitiert wurde. Nach assyrischem Vorbild schafft Dtn 13,2–10 eine Art JHWH-Loyalitätsverpflichtung, mit Drohungen, die innerhalb des Deuteronomiums und innerhalb der Hebräischen Bibel befremdlich klingen. Otto meint, dass judäische Intellektuelle sich mit der absoluten Loyalitätsforderung der assyrischen Hegemonialmacht kritisch auseinandersetzten und einen ebenso hohen Loyalitätsanspruch für ihren Gott JHWH erhoben. Er sieht darin eine subversive Strategie. „Der Gedanke der Begrenzung staatlicher Macht durch die Macht des einen Gottes, der absolute Loyalität fordere, war eine Frucht der Traditionsgeschichte der Hebräischen Bibel“ und nahm, so Otto, mit den Zitaten aus den VTE ihren Anfang. Thomas Römer sieht in den VTE die „Vorlage und Inspirationsquelle“ des Ur-Deuteronomiums, legt sich aber nicht fest, ob diese Rezeption subversiv war „oder einfach dem Zeitgeist entsprach.“ Das heißt auch: „Ohne die Assyrer hätte es das Dtn nie gegeben!“Moshe Weinfeld und S. David Sperling weisen darauf hin, dass dem Leser im Deuteronomium die konventionelle Sprachform von Staatsverträgen des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr., nur eben auf die Gottheit und nicht auf den Herrscher bezogen, begegnet. So sei die Versicherung, man „liebe ihn mit ganzem Herzen“, die übliche Weise, wie man damals seine Loyalität zum Herrscher bekundet habe (vgl. Dtn 6,5 ).
=== Joschija und ein Buchfund im Tempel ===
In 2 Kön 22,9 ist von der Auffindung eines Tora-Buchs im Jerusalemer Tempel die Rede. Außerdem werden in 2 Kön 23,4ff. Kultreformen des Königs Joschija berichtet, die sich gegen nichtjahwistische Kulte richteten und Jerusalem zum einzig legitimen JHWH-Kultort machten. Die Erzählung vom Buchfund deutet Joschijas Maßnahmen als Restaurationsprogramm, man kehrt zu einer alten und ursprünglichen JHWH-Verehrung zurück. Die materielle Kultur der Region, wie sie archäologisch greifbar wird, zeigt indes, dass die Reformen ein Modernisierungsprogramm darstellten, wenn sie denn historisch stattgefunden haben. Das ist allerdings schwierig zu beurteilen, weil der Text redaktionell mehrfach bearbeitet wurde. Einen archäologischen Nachweis für religiöse Veränderungen in der Regierungszeit des Joschija gibt es nicht; kultische Praktiken der Bevölkerung wie die Verehrung von Pfeilerfigurinen wurden jedenfalls fortgeführt. Angelika Berlejung zieht daraus den Schluss: Falls historisch, war Joschijas Modernisierungsprogramm ohne Rückhalt in der Bevölkerung und blieb daher Episode.Michael Pietsch meint, dass es in Jerusalem unter Joschija eine religionsinterne Neuinterpretation des JHWH-Glaubens gegeben habe, die dann auch zu Veränderungen des Kultbetriebs am dortigen Tempel führte. Das Deuteronomium sei aber historisch nicht die Vorlage („blueprint“) für diese Reform gewesen. Erst im Nachhinein sei das so interpretiert worden, mit einem gewissen sachlichen Recht, denn das Deuteronomium stelle die Einheit JHWHs in den Mittelpunkt (Dtn 6,4 ), und die Kultreform unter Joschija habe einen Prozess der Selbstreflexion in Gang gesetzt, der dann später auf ein monotheistisches Gotteskonzept zugelaufen sei.Georg Braulik definiert das im Tempel zur Zeit Joschijas vorhandene Tora-Buch als relativ knappe Vorstufe des Deuteronomiums. Es habe noch keine Mosereden und keine Sozialgesetze enthalten, sondern vor allem Kultgesetze und Segen-Fluch-Sanktionen. Auch habe Joschija die Schwäche der Großmacht Assur nutzen und das Gebiet des Reiches Juda nach Norden und nach Westen erweitern wollen (vgl. 2 Kön 23,15–20 ). Mit einer „Landeroberungserzählung“ habe er seine Expansion auf das Territorium assyrischer Provinzen (bzw. des früheren Nordreichs Israel) propagandistisch begründet. Joschija beanspruchte demnach nur das Land, das Gott Israel längst zugeeignet habe. Diese Propagandaschrift wurde nach Braulik in den biblischen Büchern Deuteronomium und Josua verarbeitet. Ein Vorteil dieser Hypothese ist, dass sie die vom Deuteronomium in Aussicht gestellte, im Buch Josua beschriebene gewaltsame Landeroberung und Landverteilung plausibel machen kann, ein Motiv, das man sich bei Autoren der Exilszeit schwer vorstellen kann. Die Verfasserkreise des Ur-Deuteronomiums sucht Braulik in der Jerusalemer Führungselite, bei Personen mit höfischem Redestil wie auch Kenntnis neuassyrischer Rechtstexte. Das Ur-Deuteronomium sei für den öffentlichen Vortrag in der Volksversammlung bestimmt gewesen.
=== Deuteronomium als Exilliteratur ===
Im Gegensatz zur Mehrheit der Exegeten bestreitet Reinhard Gregor Kratz, dass ein Ur-Deuteronomium vor dem Ende des Südreichs Juda verfasst wurde. Die Kultzentralisation sei „so absonderlich und singulär in der altorientalischen Welt“, dass sie als Regierungsmaßnahme der Könige Hiskija oder Joschija nicht verständlich gemacht werden könne. Erst nach der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (586 v. Chr.), als alle JHWH-Heiligtümer ohnehin verloren waren, hätten exilierte Mitglieder der Jerusalemer Elite dieses Programm entwickeln können, und nun sei es auch plausibel: „Ersetzt wird die natürliche durch eine künstliche Mitte, an die Stelle des Staatskults tritt der kultische Anspruch der Gottheit selbst…“ Karin Finsterbusch stimmt insoweit zu, dass sie im Deuteronomium eine „exilische Komposition“ sieht, eine planvolle Gesamtstruktur, in die ältere Stoffe integriert worden seien. Die Situation des Exils wird im Deuteronomium mehrfach angesprochen: Dtn 4,25–31 , Dtn 28,63–67 , Dtn 29,21–27 . Erst hier im Exil erhielt das Deuteronomium – so Finsterbusch – sein Profil:
Tora, „Weisung“, ist ein Schlüsselwort des Deuteronomiums. Gemeint ist damit ein konkreter Text: Unter der Überschrift Dtn 4,44 wird das Textkorpus Dtn 5,1b–26,16 mitgeteilt, hinzu kommen Segen und Fluch als Abschluss.
Der Bundesschluss im Lande Moab ist eine Besonderheit des Deuteronomiums; er wird in der Hebräischen Bibel sonst nicht erwähnt. Laut Dtn 5,2–3 schloss JHWH selbst mit Israel einen Bund am Horeb, dessen Bundesdokument der Dekalog ist. Laut Dtn 28,69 schloss Mose mit Israel einen weiteren Bund im Lande Moab, dessen Bundesdokument die im Deuteronomium enthaltene Tora ist.
Lehren und Lernen sind Schlüsselworte des Deuteronomiums, in ähnlicher Konzentration begegnen sie wieder im Buch der Psalmen. Mose ist im Deuteronomium (und innerhalb des Pentateuch nur hier) Lehrer, sein Gegenüber, Israel, konstituiert sich als Lerngemeinschaft. Die Unterrichtung der nächsten Generation ist ein wichtiges Anliegen der Verfasser. Als „Du“ werden freie israelitische Männer und Frauen angesprochen, d. h. weder Kinder noch Unfreie.Zweck der Komposition ist, dass die Adressatenschaft exilierter Judäer sich mit dem Israel identifiziert, das von Mose im Land Moab unterrichtet wird: eine Identitätsschrift also. Dem dienen einerseits das eindringliche „Du/Ihr“, mit dem Mose sein Gegenüber anspricht, und das „Wir“ in den geschichtlichen Rückblicken, andererseits das für das Deuteronomium sehr kennzeichnende „Heute“. Es ist das „Heute“ von Moses Todestag, das aber so eingesetzt wird, dass es für ein späteres Heute, die Gegenwart der Adressaten, transparent bleibt.
== Inhaltsübersicht ==
Die folgende Gliederung des Deuteronomiums orientiert sich an der Darstellung von Jan Christian Gertz und Karin Finsterbusch:
== Erzählerischer Rahmen und Mosereden ==
=== Ort und Zeit der Handlung ===
In knapper, konzentrierter Form gibt der Bucherzähler Informationen zu Ort, Zeit und Anlass der Mosereden. Dieser Erzähler verortet sich selbst im Land Israel, denn von ihm aus gesehen befinden sich Mose und seine Hörer „jenseits des Jordan“ (Dtn 1,1 ) im Land Moab (Dtn 1,5 ). Die Erzählung des Deuteronomiums spielt also im heutigen Jordanien. Trotz mehrerer Ortsnamen in Dtn 1,1 ist nicht (mehr) deutlich, wo genau sich Mose und seine Zuhörer „in der Wüste“ aufhalten. Nach Dtn 3,29 lagern die Israeliten „im Tal gegenüber von Bet-Peor“. Und dort wird Mose nach Dtn 34,6 von Gott an unbekannter Stelle begraben.
Eine geographische Angabe, die im Deuteronomium Gewicht hat, lässt sich klar lokalisieren: das tief eingeschnittene Tal des Arnon (Wadi Mudschib). Seine Überquerung markiert den Wechsel von friedlicher Wanderung des Volkes Israel zu militärischer Eroberung des verheißenen Landes. Irgendwo hier, östlich des Toten Meeres, spielt die Handlung des Deuteronomiums.
Die erzählte Zeit, der letzte Lebenstag des Mose, ist „der 1.4.40 nach dem Auszug aus Ägypten“, wie Dtn 1,3 präzise feststellt.
=== Zweck der Mosereden ===
Das Verb hebräisch באר beʾer in Dtn 1,5 erklärt, was Zweck von Moses Reden ist; bei der Übersetzung dieses seltenen Worts fallen deshalb Vorentscheidungen für das Verständnis des Buches:
„[Hier] begann Moscheh die Erläuterung dieser Lehre“ (Rabbinerbibel);
„[Hier] fing Mose an, dies Gesetz auszulegen“ (Lutherbibel);
„[Hier] begann Mose …, diese Weisung aufzuschreiben“ (Unrevidierte Einheitsübersetzung 1980);
„[Hier] begann Mose …, diese Weisung bindend zu machen“ (Revidierte Einheitsübersetzung 2016).Hinter den ersten beiden Übersetzungen steht die rabbinische Auslegungstradition: die folgenden Mosereden sind ein Kommentar, eine Erläuterung der in den vorherigen Büchern des Pentateuch ergangenen Weisung. Hatte die unrevidierte Einheitsübersetzung die Stelle im Licht von Dtn 31,24–26 recht frei wiedergegeben, so ging die Revision davon ab. Inzwischen hatten nämlich Georg Braulik und Norbert Lohfink vorgeschlagen, die Bedeutung von hebräisch באר beʾer durch das akkadische Wort bâru(m) zu erhellen: „Rechtsgeltung verschaffen, bindend machen, Rechtskraft verleihen“. Der öffentliche Vortrag, zu dem Mose ab Dtn 1,6 ansetzt, sei der erste Schritt der mehrphasigen Inkraftsetzung (Promulgation) der Tora. „In der erzählten Welt bildet die Tora die Urkunde des Bundes/Vertrags, auf die Mose anlässlich des Führungswechsels und der Einsetzung Josuas in Moab Israel vereidigen muss. Was er, um diesen Rechtszustand herzustellen, Israel rechtskräftig präsentiert (1,5), ist die von JHWH empfangene Neuformulierung des schon bekannten göttlichen Rechtswillens (5–26). Er wird jetzt von Mose vermittelt, nicht ausgelegt.“Dem wurde allerdings von anderen Exegeten, voran Eckart Otto, widersprochen, so dass die traditionelle jüdische Auffassung, die Mosereden des Deuteronomiums seien ein Kommentar der Tora innerhalb der Tora, auch in der heutigen Exegese weit verbreitet ist.Inwiefern legen aber die Mosereden die Sinaigesetzgebung aus? Hier kommt nach Konrad Schmid den Zehn Geboten eine Schlüsselfunktion zu. Sie gehen sowohl dem Bundesbuch als auch dem Gesetzeskorpus des Deuteronomiums programmatisch voraus und sichern die sachliche Identität beider Gesetzgebungen.
=== Gottes und Moses Schreiben ===
Als einziges Buch des Pentateuch bezeichnet sich das Deuteronomium ausdrücklich als Niederschrift der Weisungen Moses. Hier bedeutet hebräisch תּוֹרָה Torah die autoritative und göttlich bestätigte Unterweisung. „Kurzum, die Tora ist faktisch Ersatz für Mose selbst in seiner Eigenschaft als der höchste Vermittler des göttlichen Wortes an Israel.“Dass Gott selbst einen Text aufschreibt, wird im Pentateuch mehrfach und exklusiv für den Dekalog ausgesagt, was diesem Text höchste Autorität gibt. Mose ist im Pentateuch mit dem Niederschreiben der Sinaigesetze beauftragt (Ex 24,4 ; Ex 34,27–28 ). Nachdem er seine Reden im Lande Moab beendet hat, schreibt er diese ebenfalls nieder (Dtn 31,9–13 ) und schließlich auch das Moselied (Dtn 31,24 ). Das heißt: Die antiken Endredaktoren des Pentateuch waren nicht der Meinung, Mose habe die erzählenden Stoffe des Pentateuch aufgeschrieben, darunter das gesamte Buch Genesis und umfangreiche Partien der anderen vier Bücher.
== Gesetzeskorpus ==
Das Gesetzeskorpus, das in den Kapiteln 12 bis 26 vorliegt, gilt als der älteste Teil des Deuteronomiums. Man unterscheidet einen Grundbestand, eine mehrstufige Bearbeitung und jüngere Nachträge. Relativ sicher hat man es mit dem Grundbestand zu tun, wo sich das Deuteronomium mit dem Bundesbuch auseinandersetzt. Der Grundbestand begann mit einer Buchüberschrift:
„Das sind … die Gesetze und die Rechtsentscheide, die Mose den Israeliten verkündet hat, als sie aus Ägypten zogen.“ (Dtn 4, 45*)Das heißt, bereits das Ur-Deuteronomium war als Rede des Mose nach dem Auszug aus Ägypten verfasst, Inhalt dieser Rede waren juristische Stoffe. Es folgte Dtn 5,1*:
„Mose rief ganz Israel zusammen. Er sagte zu ihnen…“So wurde der Grundtext jüdischen Glaubens eingeleitet, der erste Satz des Schma Jisrael (Dtn 6,4):
„Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig!“Der nächste Satz des Schma Jisrael mit dem Aufruf zur Gottesliebe (Dtn 6,5 ) ist demgegenüber nach der Analyse von Timo Veijola sekundär. Im Grundbestand des Deuteronomium folgte auf das „Höre Israel“ direkt das Gesetzeskorpus, und zwar – mindestens – diese Gesetzestexte:
Grundgebot der Kultzentralisation: es gibt nur ein legitimes JHWH-Heiligtum (Dtn 12,13–28 );
Zehnt (Dtn 14,22–29 );
Erlassjahr und Sklavenfreilassung (Dtn 15,1–18 );
Erstgeburt (Dtn 15,19–23 );
Festkalender (Dtn 16,1–17 );
Reformen der Rechtspflege (Dtn 16,18 ; Dtn 17,8–13 ; Dtn 19,1–13 ; Dtn 19,15–21 ; Dtn 21,1–9 ; Dtn 25,1–3 ).Zur Fortschreibung des Deuteronomiums in exilisch-frühnachexilischer Zeit werden grob skizziert zwei Ansätze vertreten: Timo Veijola und Eckart Otto rechnen mit durchgängigen Überarbeitungen des gesamten Gesetzeskorpus Dtn 12–25. Norbert Lohfink und Georg Braulik dagegen meinen, dass ein Ur-Deuteronomium aus der Zeit Hiskijas und ein „Bundesdokument“ aus der Zeit Joschijas blockweise ergänzt worden sei durch a) das exilische Ämtergesetz, b) die nachexilischen Gesetze in Dtn 19–25.Dtn 26,1–15 sind zwei Nachträge, mit denen das Gesetzeskorpus abschließt. Sie setzen voraus, dass die Israeliten im Land wohnen, und nennen zwei liturgische Texte, die beim Besuch im Zentralheiligtum rezitiert werden sollen. Der erste Text („Mein Vater war ein heimatloser Aramäer …“) ist bekannt unter dem Namen „Kleines geschichtliches Credo“ (Gerhard von Rad). Er ist nicht als uralter Text von den Verfassern des Deuteronomiums an dieser Stelle eingefügt worden, wie von Rad vermutete. Sie haben den Text nicht übernommen, sondern selbst formuliert. Als pädagogisch hilfreiche „Kurzformel des Glaubens“ bringt er die Geschichte Israels auf den Punkt – das ist typisch Deuteronomium. Zusammen mit dem Einleitungstext, der das eine Zentralheiligtum fordert, bilden die Nachträge einen Rahmen um das Gesetzeskorpus.
=== Auseinandersetzung mit dem Bundesbuch ===
Das deuteronomische Gesetz bezieht sich auf ein älteres Gesetzeswerk, das ebenfalls im Pentateuch enthalten ist: das Bundesbuch im Buch Exodus (Ex 20,22–23,33). Neu ist die Forderung der Kultzentralisation, die im Widerspruch zum Altargesetz des Bundesbuchs formuliert wird. Dabei bezieht sich die deuteronomische Formulierung des Altargesetzes zurück auf das Schma Jisrael: „So wie JHWH nicht an einer Vielzahl von Lokalheiligtümern geopfert werden soll, soll JHWH nicht in einer Vielzahl von lokalen Manifestationen, die mit JHWH-Heiligtümern verbunden sind, verehrt werden.“Der hebräische Text der beiden Altargesetze zeigt enge sprachliche Berührungen bei diametral verschiedenem Inhalt:
Bundesbuch: „Du sollst mir einen Altar aus Erde machen und darauf deine Brandopfer und Heilsopfer, deine Schafe, Ziegen und Rinder schlachten. An jedem Ort, an dem ich meinem Namen ein Gedächtnis stifte, will ich zu dir kommen und dich segnen.“ (Ex 20,24 EÜ)
Deuteronomium: „Nimm dich in Acht! Verbrenn deine Brandopfertiere nicht an irgendeiner Stätte, die dir gerade vor die Augen kommt, sondern nur an der Stätte, die der HERR im Gebiet eines deiner Stämme erwählen wird!“ (Dtn 12,13–14a EÜ)Was gilt denn nun? Die Helden der biblischen Erzählungen (sowohl des Pentateuch als auch der Geschichtsbücher) opfern an lokalen Heiligtümern, ohne dass dies problematisiert würde; einige Beispiele: Abraham baut einen Altar in Sichem (Gen 12,7–8 ), Jakob baut einen Altar in Bet-El (Gen 35,1–7 ), Samuel baut einen Altar in Rama (1 Sam 7,17 ), Elija baut den Altar JHWHs auf dem Karmel wieder auf (2 Kön 18,30–40 ). Bernard M. Levinson betont, dass die Verfasser des Deuteronomiums ihr Reformprogramm in einer Welt vertraten, in der alte, autoritative Texte wie das Bundesbuch fast unangreifbar waren. Sie tarnten deshalb die Radikalität ihres Projekts, indem sie Formulierungen des Bundesbuchs übernahmen und mit neuer Bedeutung füllten; Levinson nennt dies ein „gelehrtes Textrecycling.“ Ihr Ziel sei gewesen, das Bundesbuch zu verdrängen und das Deuteronomium an seine Stelle zu setzen.
Die Gegenposition nimmt Eckart Otto ein: „In der Perspektive der dtn Zentralisationsgesetze gelesen, definiert das Bundesbuch grundsätzlich die Legitimität eines JHWH-Heiligtums. Im Deuteronomium wird diese Definition auf die Erwählung des Zentralheiligtums appliziert. … Die Reformulierung durch das Deuteronomium nimmt dem Bundesbuch, das nun im Horizont des Deuteronomiums interpretiert werden will, nichts von seiner Autorität.“ Weil beide Gesetzeskorpora sich ergänzten, habe das Körperverletzungs- und Sachenrecht Ex 21,18–22,14 im Deuteronomium kein Pendant, während das Familienrecht (im Bundesbuch nur Ex 22,15f.) im Deuteronomium breit entfaltet werde. Indem die Sozialgesetzgebung des Dtn an das Bundesbuch anknüpft, ist dieser Teil des Gesetzeskorpus zugleich als spätvorexilisch erwiesen – hier besteht weitgehender Konsens. Daraus ergibt sich die zeitliche Abfolge der Gesetzeskorpora, die in den Pentateuch integriert wurden: Bundesbuch – Deuteronomium – Priesterschrift – Heiligkeitsgesetz.Die Kultzentralisation griff tief in das Alltagsleben der Bevölkerung ein. Bisher wurde z. B. für jede Fleischmahlzeit das Tier am lokalen JHWH-Heiligtum geschlachtet. Das Deuteronomium gab die profane Schlachtung frei und stellte dafür Regeln auf (Dtn 12,20–25 ). „Der radikale Bruch bei dieser Veränderung religiöser Routinen sollte nicht unterschätzt werden. Dass das Deuteronomium wiederholt die ‚Freude‘ betont, die man am Zentralheiligtum erlebe, mag sehr wohl als Versuch einer Kompensation für den Verlust der Lokalheiligtümer gemeint gewesen sein, wo die Menschen häufiger Zugang zur Gottheit haben konnten“, vermutet Levinson.Aber die Veränderungen, die die Verfasser des Deuteronomiums am Bundesbuch vornahmen, beschränken sich nicht nur auf die Kultzentralisation und die daraus folgenden praktischen Konsequenzen. Das lässt sich am Beispiel des Gesetzes der Sklavenfreilassung verdeutlichen (Dtn 15,12–28 gegenüber Ex 21,2–7 ). Es geht hier um Schuldsklaven, d. h. Israeliten, die sich aus Armut in die Sklaverei begeben mussten. Sie sollen nach sechs Jahren Dienst freigelassen werden. Das Deuteronomium nahm einige Präzisierungen vor: der Herr soll die Sklaven (die hier als seine „Geschwister“ bezeichnet werden) bei der Freilassung so ausstatten, dass sie sich eine eigene Existenz aufbauen können – eine Art Startkapital. Sklave und Sklavin sollen gleich behandelt werden. Es gibt keine Sonderregel mehr für eine in der Sklaverei geheiratete Frau und gemeinsame Kinder. Diese sozialen Forderungen begründet das Deuteronomium damit, dass JHWH die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten befreit habe. Der Sklavenbesitzer soll durch Argumente für die Neuerungen gewonnen werden, und für die Befolgung wird ihm göttlicher Segen verheißen.
=== Dekalog als Grundgesetz, Deuteronomium als Entfaltung ===
Der Text der Zehn Gebote (Dekalog) „trat erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Horizont des Dtn, prägte dann aber Theologie, Aufbau und Sprache des Dtn entscheidend“, so Georg Braulik. Er ist für die Verfasser ein einzigartiger Text, dadurch ausgezeichnet, dass Gott selbst ihn am Horeb Israel offenbart hat (Dtn 5,2–22 ). Norbert Lohfink schlug vor, den Dekalog im Deuteronomium als eine Art ewiges Grundgesetz zu sehen, das Mose in Dtn 12–26 mit konkreten, zeitbedingten Einzelgesetzen entfalte. Es ist allerdings nicht plausibel gelungen, in Dtn 12–26 eine Anordnung der Einzelgesetze nach den Zehn Geboten aufzuzeigen.Der Dekalog beginnt mit einer Selbstvorstellung des göttlichen „Ich“ als Israels Befreier aus ägyptischer Sklaverei. Fragt man, wer der Adressat der Gebote ist, so scheinen vor allem freie, wohlhabende israelitische Männer gemeint zu sein. Aber das Sabbatgebot (Dtn 5,12–15 ) macht deutlich, dass auch die Israelitinnen als „Du“ angesprochen sind. Sonst müsste man nämlich annehmen, dass der Hausherr, seine Söhne und Töchter, Sklaven und Sklavinnen, sogar auch die Haustiere die Sabbatruhe halten und die Hausfrau als einzige Person arbeitet. Das ist sehr unwahrscheinlich.
=== Deuteronomium als altorientalisches Rechtsbuch ===
Im Alten Orient waren Rechtsbücher nicht die Grundlage der Rechtsprechung. Prozessakten sind aus den Nachbarkulturen Israels erhalten, die Richter beriefen sich darin nicht auf ein Gesetzbuch. Sie entschieden nach Gewohnheitsrecht und Präzedenzfällen. Wahrscheinlich waren altorientalische Rechtsbücher Unterrichtstexte, an denen die angehenden Richter ihr Rechtsbewusstsein schulten. Auch für das Deuteronomium gilt: es war „kein Gesetzbuch, sondern Lehrbuch.“ Das zeigt sich in der Art, wie der Stoff disponiert wird. An sich werden die Gesetze zwar nach Sachgebieten geordnet vorgestellt, Grenzfälle markieren den Übergang zum nächsten Sachgebiet. Aber überall kann sich durch Stichwortassoziationen verwandtes Material anlagern, das dann exkursartig abgehandelt wird. Nach dieser Abschweifung wird das Hauptthema wieder aufgenommen. Diese für den heutigen Leser eher verwirrende Reihenfolge erleichterte das Auswendiglernen.
=== Vergleich mit griechischem und römischem Recht ===
Obwohl das Gesetzeskorpus so wenig aus einem Guss ist wie der Rest des Deuteronomiums, kann es theologisch und rechtshistorisch doch als geschlossener Sinnzusammenhang behandelt werden. Wie das Stadtrecht von Gortys und das Zwölftafelgesetz und im Gegensatz zu anderen altorientalischen Rechtskorpora handelt es sich um ein Gesetzeswerk für eine freie Bürgergemeinschaft.Das wenig durchstrukturierte oder systematisierte Material lässt sich grob in drei Teile gliedern:
Religiöse Gesetze (Kult, Feste, Abgaben, Reinheitsgebote, Verbot anderer Kulte);
Vorschriften staatsrechtlicher und rechtspflegerischer Natur;
Zivil-, Straf-, Sozial- und Familienrecht.Obwohl der Eindruck entsteht, hier werde das gesamte Recht Israels vorgelegt, ist dem nicht so. Im Fall des Diebstahlsrechts, das im Bundesbuch (Ex 22,1–4 ) thematisiert wird, sahen die Autoren des Deuteronomiums wohl keinen Reformbedarf und scheinen auf dieses ältere Recht zu verweisen. Das Erbrecht wird nur gestreift (Dtn 18,1–7 , Dtn 21,15–17 ).
Es handelt sich vor allem um materielles Recht, während zum Verfahrensrecht nur wenige Angaben gemacht werden. Verglichen mit dem Stadtrecht von Gortys und dem Zwölftafelgesetz fällt auf, dass es sich in Israel um von der Gottheit gesetztes Recht handelt, während in Gortys und in Rom das Recht eher etwas ist, was die Gesellschaften sich selbst geben. Beim Verfahrensrecht ist interessant, dass die Rechtspflege zwei Ebenen kennt: lokale Gerichte (Dtn 16,18–20 ) und eine Art Zentralgericht, an das schwierige Fälle überwiesen werden sollen. Es ist aber wohl keine Appellationsinstanz der streitenden Parteien, sondern wird vom lokalen Richter hinzugezogen, wenn er Schwierigkeiten bei der Urteilsfindung hat (Dtn 17,8–13 ). Dem Richter wird aufgetragen, einen Fall sorgfältig zu untersuchen, insbesondere den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen, dem wichtigsten Beweismittel. Er ist also Untersuchender und Urteilender in einer Person. Laut Dtn 25,1–3 hat er auch eine Rolle im Strafvollzug, er ist für die korrekte Durchführung der Prügelstrafe verantwortlich. Diese Kumulation von Kompetenzen beim lokalen Richter ist verglichen mit Gortys und Rom ungewöhnlich.Große Teile des materiellen Rechts im Deuteronomium sind ohne Parallele im Stadtrecht von Gortys sowie im Zwölftafelrecht: das gesamte Sakralrecht, das Asylgesetz, die Bestimmungen über den Zehnt, aber auch zivilrechtliche Vorschriften, die man als Sozialgesetzgebung bezeichnen könnte. Das Strafmaß reicht von der Todesstrafe über Körperstrafen bis hin zur Geldbuße, wobei letztere im Deuteronomium, verglichen mit Gortys und Rom, wenig entwickelt ist (nur Dtn 22,19 und Dtn 22,29 ). Ebenso wie das Zwölftafelgesetz unterscheidet auch das Deuteronomium (Dtn 19,4–6 ) zwischen Handeln mit und ohne Vorsatz. „Die individuelle Verantwortlichkeit für das eigene Tun wird aufgewertet, dem Willen hinter einer Handlung wird unabhängig von deren Folgen das entscheidende Gewicht bei deren Beurteilung – im Wortsinne – beigemessen.“
== Deuteronomium als Abschluss des Pentateuch ==
In der persischen Provinz Jehud wurde bis Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. der Pentateuch zusammengestellt. Das heißt: Die persische Regierung setzte den politischen Rahmen, in dem dieses geschah. Dass sie den Pentateuch quasi in Auftrag gab, um ihn als verbindliches Recht für ihre jüdischen Untertanen einzuführen (These der Reichsautorisation), wird heute weniger vertreten. Man sucht die Motive für die Komposition dieses Werks eher innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Die Provinz Jehud stand wirtschaftlich und im Blick auf die Bevölkerungsgröße völlig im Schatten der Nachbarprovinz Samaria. Eine wahrscheinlich in Jerusalem ansässige Pentateuchredaktion suchte daher den Kompromiss mit samaritanischen Traditionen und Interessen. Der Pentateuch ist im Ergebnis ein Konsensdokument der JHWH-Religion, das sowohl für Juden (mit dem Zentrum Jerusalem) als auch für Samaritaner (mit dem Zentrum Garizim) akzeptabel war. Auch in einem anderen Sinn findet man im Pentateuch einen Ausgleich von Interessen: Das Deuteronomium mit seinem Akzent auf staatlicher Unabhängigkeit in einem militärisch eroberten Land der Verheißung konnte nicht im Interesse der persischen Zentralregierung sein. Die Priesterschrift wird im Gegensatz dazu von Ernst Axel Knauf als universalistisch und pazifistisch gekennzeichnet – Kriege kommen in ihr nicht vor. Die Pentateuchredaktion nahm die „persisch-reichskonforme“ Priesterschrift als Rahmen (Gen 1 und Dtn 34), und die Priesterschrift prägte auch das Zentrum, die Sinai-Perikope (Ex 25 bis Num 10). Das „nationalreligiöse“ Deuteronomium wurde aber nicht etwa unterdrückt, sondern in diesen Rahmen integriert, seine aggressiv-militanten Anteile domestiziert.Das Deuteronomium hat als Schlussteil eine herausragende Bedeutung für die Komposition des Pentateuch. Das Schlusskapitel Dtn 34,1–12 bringt zwei Spannungsbögen zu Ende: Nicht nur stirbt hier die Hauptperson Mose, die seit ihrer Geburt im Buch Exodus (Ex 2,2 ) den Leser begleitet, Dtn 34,4 erinnert an die Landverheißung an die Väter und nimmt damit ein Motiv aus dem Buch Genesis auf (Gen 12,7 ). Absichtsvoll werden mit der Jordansenke und dem Ort Zoar Schauplätze der Abrahamerzählungen genannt.Meist nimmt man an, dass die Erzählung vom Tod des Mose von den Verfassern der Priesterschrift (oder ihnen nahestehenden Kreisen) stammt, aber von der Pentateuchredaktion „zugeschnitten“ und ergänzt wurde. Die Pentateuchredaktion setzte Mose in Dtn 34,4–12 ein literarisches Denkmal („Epitaph“): alle Propheten, die in den folgenden historischen Büchern auftreten, reichen nicht an ihn heran. Dass Mose mit 120 Jahren stirbt (Dtn 34,7 ), entspricht der maximalen menschlichen Lebenszeit von Gen 6,3 und lässt Mose als vollkommenen Menschen erscheinen. Während es in Dtn 31,2 hieß, Mose sterbe altersschwach, wird das im „Epitaph“ korrigiert. Trotz hohen Alters sei Mose jung geblieben (Dtn 34,7 ). Mose tritt am Ende des Deuteronomiums auf die Seite Gottes, zu dem er eine einzigartige Nähe hat.Die Zwischenstellung des Deuteronomiums als Abschluss des Pentateuch und Eröffnung des Deuteronomistischen Geschichtswerks lässt sich wie in einem Brennglas in Dtn 34 betrachten:
Dtn 34,8–9 : Das Volk trauert nicht mehr um Mose und hört auf Josua. Das ist nicht Abschluss, sondern Kontinuität bzw. Dynamik nach vorn. Die ersten Sätze im Buch Josua können gut als Fortsetzung gelesen werden.
Dtn 34,10–12 : Moses Tod bedeutet eine einschneidende Zäsur. So schließt die Pentateuchredaktion die Fünf Bücher Moses ab.Für verschiedene Texte wird diskutiert, ob sie erst von der Pentateuchredaktion in das Deuteronomium eingefügt wurden, z. B. die Liste reiner und unreiner Tiere in Dtn 14,1–21 , und gelehrte Glossen über Vorbewohner des Landes und geografische Notizen. Eine weitere Zugabe der Pentateuchredaktion ist der Segen des Mose über die Stämme Israels am Ende des Deuteronomiums (Dtn 33,1–29 ). Er hat seine Entsprechung im Jakobssegen am Ende des Buchs Genesis. Als Intention der Pentateuchredaktion vermutet Karin Finsterbusch: „Außerhalb des verheißenen Landes wird ‚Israel‘ zweimal von zentralen Figuren seiner Gründungsgeschichte gesegnet und ist damit für die Zukunft bestens gerüstet.“
== Wirkungsgeschichte ==
=== Berg Garizim oder Berg Ebal ===
In der Perserzeit lebten Juden und Samaritaner in benachbarten Provinzen halbwegs harmonisch nebeneinander, aber in der hellenistischen Zeit verschlechterten sich die Beziehungen drastisch. Das hinterließ Spuren im Buch Deuteronomium. Denn in der Zeit gutnachbarschaftlicher Beziehungen wurde formuliert, dass die Israeliten nach ihrem Einzug ins Land der Verheißung auf dem Berg Garizim mit Kalk bestrichene und mit Tora-Texten beschriftete Steine aufstellen sollten; außerdem sollte dort ein Altar für JHWH gebaut werden und ihm Opfer dargebracht werden (Dtn 27,4–8 ). Dass der Altar auf dem Garizim der Tora entspricht, wird durch die Schrift auf den Steinen eindrucksvoll unterstrichen.In der Hasmonäerzeit (2. Jahrhundert v. Chr.) kam dann der Bruch zwischen beiden Glaubensgemeinschaften. Darauf erfolgte ein Eingriff in den Text: „In Dtn 27,4 wird im Masoretischen Text und in der hebräischen Vorlage der Septuaginta … Garizim in Ebal umformuliert und damit dem auf dem Garizim situierten Altar die mosaisch-sinaitische Legitimation entzogen, indem sie umgelenkt wird.“ Im samaritanischen Pentateuch stand an dieser Stelle natürlich weiterhin Garizim. Dass Garizim die ursprüngliche Lesart ist und nicht Ebal, ist dadurch sehr wahrscheinlich, dass die „unverdächtigen“, da hier nicht polemisch engagierten Übersetzer der Vetus Latina (Codex Lugdunensis) Garizim lasen und damit eine unkorrigierte Version der Septuaginta bewahrten. Neuerdings wurde diese Vermutung durch ein Qumran-Textfragment bestätigt (4QDeutf).Im samaritanischen Pentateuch wurde dieser Abschnitt aus Dtn 27, weil er für die eigene Identität so wichtig war, als zehntes Gebot zum Dekalog hinzugefügt (Ex 20,17b = Dtn 5, 21b); damit es bei zehn Geboten bleibt, zählen Samaritaner das Fremdgötter- und Bilderverbot als ein Gebot. Die Textänderung legitimiert den samaritanischen Kult und Kultort, und der Abschluss der Zehn Gebote bot sich als „Textort“ an, weil der Dekalog für die samaritanische Glaubensgemeinschaft von zentraler Bedeutung ist und weil es im Kontext der Zehn Gebote um den Altarbau geht – das passte also recht gut.
=== Deuteronomium in Qumran ===
Unter den Schriftrollen vom Toten Meer gibt es je nach Zählung 33 bis 36 fragmentarische Exemplare des Buchs Deuteronomium. Es ist damit neben dem Buch der Psalmen (36 Exemplare) die häufigste biblische Schrift. Man geht davon aus, dass wichtige, oft gelesene Bücher häufiger kopiert wurden; außerdem gab es Luxus-Handschriften besonders geschätzter Schriften. So spiegelt die hohe Zahl an Exemplaren die große Beliebtheit des Deuteronomiums.
Die in Qumran mit mehreren Exemplaren vertretene Tempelrolle ist ein im antiken Judentum singuläres Werk, das sich kritisch mit dem Deuteronomium auseinandersetzt und es überbieten will. Sie ist damit ein klassisches Beispiel für Rewritten Bible. Während der Erstherausgeber Yigael Yadin 1976 die Tempelrolle für ein Werk der Essener hielt, wird diese Meinung heute kaum noch vertreten. Die Tempelrolle ist älter als die von antiken Autoren beschriebene Gruppe der Essener. Ihre Endredaktion fand im 3./2. Jahrhundert v. Chr. statt, in Kreisen, die dem späteren Jachad ideologisch nahestanden. Gott selbst wird in der Tempelrolle eine systematische Neufassung der Tora in den Mund gelegt, die Mittlergestalt des Mose ist überflüssig geworden. Ein weiterer Vorzug: nicht erst 40 Jahre später im Lande Moab, sondern direkt am Sinai gibt JHWH die in der Tempelrolle niedergelegte, verbindliche Interpretation seiner Tora. Die Tempelrolle ersetzt das Deuteronomium aber nicht, sondern verhält sich zu diesem wie eine Korrektur, Ergänzung oder Systematisierung. Darum enthält sie weder das Schma Jisrael noch die Zehn Gebote. Es reichte den Verfassern offenbar, dass diese Texte im Deuteronomium enthalten waren, das mit dem hermeneutischen Schlüssel der Tempelrolle gelesen werden sollte.In den Höhlen am Toten Meer fanden Beduinen antike Gebetsriemen (Tefillin); die ältesten Exemplare stammen aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Die Bewohner von Qumran haben demnach Dtn 6,8–9 befolgt, aber nicht in der Weise, wie diese Gebote später im rabbinischen Judentum interpretiert wurden. Die antiken Tefillin waren lederne Kapseln mit bis zu vier Fächern, die teilweise noch beschriftete Pergamentstücke enthielten, außerdem separate Lederriemen und Pergamentstücke ohne Kapseln. Einige davon hält man für Mesusot, wobei allerdings kein antikes Gehäuse einer Mesusa bekannt ist. Unter den Bibeltexten, die in Tefillin enthalten waren, ist auch der Dekalog, der im antiken Judentum eine sehr hohe Stellung hatte.
=== Deuteronomium im Neuen Testament ===
Nicht nur in Qumran, auch in der Urchristenheit war das Deuteronomium eine viel gelesene Schrift. Nach den Psalmen und Jesaja steht es an dritter Stelle der im Neuen Testament häufig zitierten alttestamentlichen Schriften.
Ein Beispiel aus der Logienquelle Q, das Matthäusevangelium (Mt 4,1–11 ) übernahm diesen Abschnitt fast unverändert: Jesus verbringt nach seiner Taufe 40 Tage fastend in der Wüste und wird vom Teufel in Versuchung geführt. Dreimal wehrt Jesus die Versuchung mit einem Zitat aus dem Deuteronomium ab (Dtn 8,3 ; Dtn 6,16 und Dtn 6,13 ). Der Verfasser der Jesus-Erzählung las das Deuteronomium in seiner griechischen Fassung und bezog aus dem Kontext weitere Stichworte: Nach Dtn 8,2–5 führte (ἤγαγεν ḗgagen) Gott das Volk Israel für 40 Jahre in die Wüste, indem er es versuchte (ἐκπειράσῃ ekpeirásē), ob es seine Gebote halte, und um es zu erziehen wie einen Sohn. Für den Evangelisten Matthäus ist Jesus Gottes Sohn, indem er das Grundgebot der Gottesliebe hält. Einen weitergehenden Bezug der Versuchungserzählung auf das Schma Jisrael sah Birger Gerhardsson: Die erste Versuchung zeige, dass man Gott von ganzem Herzen lieben solle, die zweite, mit dem ganzen Leben, die dritte, mit ganzer Kraft bzw. mit dem ganzen Eigentum.
Die Lebensweise der Jerusalemer Urgemeinde beschrieb der Verfasser der Apostelgeschichte (Apg 2–5) mit Motiven des Deuteronomiums. Insbesondere sollte es in der christlichen Gemeinde keine Armen mehr geben (vgl. Dtn 15,4 ), weil vorhandene Güter geteilt wurden. Die Freude, die das Deuteronomium mit den Pilgerfesten am Zentralheiligtum verbindet, wurde in der christlichen Mahlfeier erlebbar (Apg 2,44–46 ). Vermittelt durch die Apostelgeschichte, wirken Themen des Deuteronomiums auf die moderne christliche Pastoraltheologie ein.Paulus von Tarsus entwickelte seine Rechtfertigungslehre in Auseinandersetzung mit dem Deuteronomium. Ein Beispiel: Im Römerbrief (Röm 10,6–9 ) legte Paulus Dtn 30,12–14 für seine christlichen Leser aus. Paulus entnahm dem Deuteronomium einerseits, dass es für Israel wirklich auf das Tun der Gebote ankomme, und andererseits, dass Israel trotz seines Ungehorsams von Gott angenommen werde. Die Spannung zwischen „Gesetz und Evangelium“, kennzeichnend für paulinische Theologie, war also im Deuteronomium schon angelegt.
=== Pessach-Haggada ===
Der Sederabend, mit dem das jüdische Pessachfest beginnt, nahm Elemente des antiken Symposions auf; dazu gehört ein Tischgespräch mit pädagogischem Charakter. Die Mischna (Pesachim X4) legte fest, dass jeder verpflichtet sei, den Abschnitt Dtn 26,5–10 seinen Kindern ausführlich zu erklären und traditionelle sowie eigene Interpretationen anzuführen. Im Ablauf des Seder gibt es zunächst eine Beracha (Lobspruch: Gott, der seine Versprechungen hält), sodann den Abschnitt ze u-lemad: „Geh und lerne, was Laban, der Aramäer, unserem Vater Jakob antun wollte…“. Sodann folgt in der Pessach-Haggada, dem Textbuch für den Sederabend, eine traditionelle Auslegung von Dtn 26,5–10. Es ist eine Kompilation verschiedener Midraschim, die wohl im Frühmittelalter ihre abschließende Form erhielt.Eine Besonderheit der Pessach-Haggada ist die Interpretation des Verses Dtn 26,5 . Hier stellt sich auch für den heutigen Leser ein Problem: Auf welche biblische Gestalt passt die Aussage: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten…“? Am ehesten wohl auf Jakob, aber der ist im Buch Genesis nicht als Aramäer dargestellt.
Die Übersetzer der Septuaginta fanden eine elegante Lösung, indem sie die Worttrennung im hebräischen Konsonantentext änderten (ארם יאבד אבי statt ארמי אבד אבי), wodurch sich folgende Übersetzung ergibt: „Mein Vater gab Syrien auf, ging hinunter nach Ägypten…“
Der Kunstgriff des Midrasch besteht darin, die Vokalisierung des Konsonantentextes zu ändern: ʾArami ʾived ʾavi statt ʾArami ʾoved ʾavi. Mit dieser Vokalisierung hat der Satz folgende Bedeutung: „Ein Aramäer suchte meinen Vater zu vernichten.“ Nun ist klar: der „Vater“ ist der Patriarch Jakob, der „Aramäer“ ist Jakobs Schwiegervater Laban, der im Buch Genesis eine ambivalente Haltung gegenüber Jakob einnimmt. In der Pessach-Haggada wird Laban zum Schurken der Geschichte. Nach Louis Finkelstein ist dieses Textverständnis, das dann in der Pessach-Haggada Aufnahme fand, der älteste Midrasch in der rabbinischen Literatur. Er datiert ihn ins 3./2. Jahrhundert v. Chr. und damit in die Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Seleukiden und der Ptolemäer in Jerusalem. Beide Gruppen kann man hinter den Begriffen Aramäer/Syrien bzw. Ägypten vermuten.Die von der Pessach-Haggada vertretene Vokalisierung wird auch von den Übersetzern des Deuteronomiums ins Aramäische (Targum Onkelos) und ins Arabische (Saadja Gaon) geteilt. Aus philologischen Gründen lehnte Abraham ibn Esra dieses Textverständnis ab, ebenso Obadja ben Jacob Sforno und Samuel ben Meir. Damit war die Deutung auf Laban in der rabbinischen Exegese zwar weitverbreitet und durch die Haggada popularisiert, aber nicht unumstritten.
=== Deuteronomium und Halacha ===
Dtn 13,1 enthält die sogenannte Kanonformel. Sie wird aber, wie Hanna Liss erläutert, im Judentum nicht so verstanden, „als ob man nur das auszuführen habe, was die Tora gebietet (und nur auf diese Weise). Die Rabbinen haben stets Gebote an die Aktualität der Situation angepasst, Gesetze hinzugefügt oder Strafmaßnahmen uminterpretiert.“ Passagen und ganze Traktate der Mischna beziehen sich auf Abschnitte des Deuteronomiums. Günter Stemberger nennt folgende Beispiele:
Rezitation des Schma Jisrael (Dtn 6,4–9 ; Dtn 11,13ff. ): Mischna Brachot, Kapitel 1–2;
Zehnt (Dtn 14,22–27 ; Dtn 26,12–15 ): Mischna Maʿasrot und Mischna Maʿaser Scheni;
Erstlingsfrüchte (Dtn 26,1–11 ): Mischna Bikkurim;
Leviratsehe (Dtn 25,5–11 ): Mischna Jevamot;
Ausnahmen vom Militärdienst (Dtn 20,1–9 ) und Sühnung eines Mordes bei unbekanntem Täter (Dtn 21,1–8): Mischna Sota, Kapitel 8.Zu Mischna-Traktaten gibt es Parallelen in der Tosefta und eine weitere Entfaltung des Stoffes in den Talmudim.
Ein Beispiel für die Entfaltung einer biblischen Halacha ist בל תשחית Bal Taschchit („Vernichte nichts!“): Dtn 20,19–20 ist im Bibeltext bezogen auf Obstbäume, die unter Schutz gestellt werden. Heute versteht man das so, dass Obstbäume stellvertretend für alle Pflanzen genannt sind. Bal Taschchit steht heute für Schonung der natürlichen Ressourcen und Umweltschutz überhaupt.
=== Mose als Typus des Papstes ===
In keiner europäischen Stadt ist Mose visuell so präsent wie im Rom der Renaissance. Mose konnte nämlich als Bild für Christus (typus Christi) und als Bild für den Papst (typus papae) interpretiert werden. Die Grundlage für diese humanistische Beschäftigung mit der Figur des Mose war ein Werk der christlichen Spätantike: Gregor von Nyssas „Leben des Mose“ (De vita Moysis), das 1446 aus dem Altgriechischen ins Lateinische übersetzt worden war. Das Werk wurde am päpstlichen Hof gelesen und weckte das Interesse, die Autorität und das Prestige der Päpste mit Hilfe der Mose-Typologie zu fördern. Der umbrische Humanist Lilio Tifernate verehrte Papst Sixtus IV. 1480 eine lateinische Übersetzung von Philo von Alexandrias „Leben des Mose“. Das altgriechische Original des jüdischen Gelehrten Philo hatte schon Gregor von Nyssa als Quelle für viele Einzelheiten seiner Mose-Biografie gedient.Vor diesem Hintergrund wurde das Bildprogramm für die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle festgelegt. An den Wänden stehen Szenen aus dem Leben des Mose Szenen aus dem Leben Christi gegenüber. Sie sind so ausgewählt, dass Parallelen zwischen Christus und Mose als Herrscher, Priester und Gesetzgeber ihrer jeweiligen Gemeinschaften suggeriert werden. Über diesem Bilderzyklus sind Porträts der frühen Päpste zu sehen, so dass auch die Papst-Typologie beim Betrachter in Erinnerung gerufen wird.
Das Fresko „Testament und Tod des Mose“ malte Luca Signorelli 1482 für diesen Bilderzyklus. Hier sind die verschiedenen Ereignisse von Moses Todestag zu sehen und damit wesentliche Motive des Buchs Deuteronomium:
im Vordergrund links die Einsetzung des Josua durch Übergabe eines Stabes;
im Vordergrund rechts die Verlesung des Gesetzes, wobei Mose auf seinem Lehrstuhl die Volksmenge überragt;
im zentralen Hintergrund Moses Ausblick auf das Land der Verheißung.Tod und Begräbnis des Mose hat der Künstler in eine Felslandschaft links im Hintergrund verlegt, während im Vordergrund der lehrende Mose und die um ihn gescharte Volksmenge – Frauen und Männer, Greise und Kinder – den Blick des Betrachters auf sich zieht. Ein aufmerksam zuhörender junger Mann in der Bildmitte ist als Gegenüber des greisen Mose besonders hervorgehoben. Vielleicht repräsentiert er die Nichtjuden, die sich im Lager der Israeliten befinden (vgl. Dtn 29,11 ). Das Testament des Mose hat in der Sixtinischen Kapelle sein typologisches Gegenüber in der Jüngerbelehrung beim Letzten Abendmahl.
=== Calvins Deuteronomium-Predigten ===
In 200 Predigten legte Johannes Calvin vom 20. März 1555 bis zum 15. Juli 1556 seiner Genfer Gemeinde das Deuteronomium fortlaufend aus. Er hatte dieses biblische Buch wahrscheinlich ausgewählt, um sozialethische Themen ansprechen zu können. Die Hörerschaft lebte vorwiegend im Wohlstand.
Grundsätzlich galt für Calvin: Warum einige Menschen arm sind und andere reich, ist das Geheimnis Gottes. Die Christen würden von Gott durch ungleiche Güterverteilung vor verschiedene Aufgaben gestellt, an denen sich zeigen solle, wie sie sich ethisch bewährten. Calvin kombinierte Dtn 15,4 und Dtn 15,11 zu dem Grundsatz: Bettelei muss rigoros unterbunden werden; den Armen dagegen muss man helfen. Die spätmittelalterliche Almosenfrömmigkeit begünstige nur Betrüger. In seinen Deuteronomium-Predigten stellte Calvin allerdings kein neuartiges Konzept vor, wie die Armen besser unterstützt werden könnten. Bereits vor Calvins Ankunft hatte die Stadt Genf ihre Armenfürsorge reorganisiert.Calvin hatte insofern ein historisches Bewusstsein, dass er nicht versuchte, Sozialgesetze des antiken Israel auf das Genf seiner Zeit zu übertragen. Aber die Grundintention der Gesetze sei überzeitlich und exemplarisch. „Besonders fasziniert ihn die biblische Vorstellung, dass das Land von Gott seinen Besitzern nur als Leihgabe zur Verfügung gestellt worden ist. […] Wenn nämlich Arme die Reichen darum bitten, ihnen etwas von ihrem Besitz zu überlassen, fordern sie im Auftrag Gottes so etwas wie den Pachtzins,“ kommentiert Frank Jehle. Calvin analysierte auch, warum Reiche sich oft an ihren Reichtum klammerten, und machte dahinter Zukunftsangst aus. Jehle vergleicht Adam Smiths und Calvins Wirtschaftsethik und findet einen grundsätzlichen Unterschied: „Nach Adam Smith führt der egoistische Trieb des einzelnen unwillkürlich zum Wohl der Allgemeinheit. Nach Calvin ist der egoistische Trieb Ausdruck von Misstrauen und Glaubenslosigkeit und hat die verhängnisvolle Auswirkung, dass die Reichen immer reicher werden.“
=== Kontrastgesellschaft ===
Der Begriff Kontrastgesellschaft wurde durch die Brüder Gerhard und Norbert Lohfink geprägt. Gerhard Lohfink, Neutestamentler, sah die Kirche dazu berufen, Kontrastgesellschaft zu sein. Zwei Aspekte der Kontrastgesellschaft Kirche fand er 1982 im Deuteronomium:
eine strenge Trennung des Volkes Gottes von anderen Völkern (Dtn 7,6–8 ), und
die alternative Gesellschaftsordnung, worin sich das „heilige Volk“ von allen Völkern der Erde unterscheide (Dtn 7,11 ).Norbert Lohfink, einer der prägenden katholischen Alttestamentler im deutschen Sprachraum, verwendete den Begriff „Kontrastgesellschaft“ etwas später für das Gesellschaftsmodell des Deuteronomiums. Georg Braulik machte die Kontrastgesellschaft 1986 zum Leitmotiv seines Deuteronomium-Kommentars (Neue Echter-Bibel); die Bezugnahme auf die Ekklesiologie ist Programm: „Die im Dtn entworfene Gesellschaft gehört in die Vorgeschichte des Neuen Testaments. … Es ist ein besonderes Anliegen dieses Kommentars, die bis zu uns reichende ekklesiologisch-gesellschaftliche Weisungskraft des Dtn zum Sprechen zu bringen.“Das ekklesiologische Konzept Kontrastgesellschaft war ein Phänomen vor allem der 1980er Jahre. Kritiker merkten seinerzeit an, dass die „Welt“ durchgängig negativ bewertet werde. Die Vertreter des Konzepts riefen dazu auf, modellhafte christliche Alternativgesellschaften aufzubauen. Die Kritiker meinten, dies sei für die Ortsgemeinden als ganze keine realistische Option. Wolfgang Huber sprach von einer „Flucht in die Kontrastgesellschaft“, die in zwei Spielarten anzutreffen sei: Kirche als „heilige Kontrastgesellschaft“, die sich als Hüterin vermeintlich zeitloser Glaubensüberzeugungen und Werte verstehe, und Kirche als „prophetische Kontrastgesellschaft“, die für sich in Anspruch nehme, die Ursachen für Armut und Hunger und die Mittel zu ihrer Überwindung zu kennen. Beide Kontrastgesellschaften haben, so Huber, einen elitären Zug.
=== Paradigma kultureller Mnemotechnik ===
In mehreren Arbeiten hat der Ägyptologe Jan Assmann die Bedeutung des Deuteronomiums für die Begründung einer neuartigen kulturellen Mnemotechnik verdeutlicht. Diese habe in der Erzählung vom Fund des Tora-Buchs im Jerusalemer Tempel ihre Urszene oder Gründungslegende. Die Historizität sei fraglich, aber als „Erinnerungsfigur“ sei sie wichtig. Die Kultreform Joschijas machte den Tempel in Jerusalem zum einzigen legitimen Kultort: ein gewollter Traditionsbruch. Legitimiert werde dieser Umbruch durch ein plötzlich aufgetauchtes Buch, also eine „vergessene Wahrheit“. Das Thema Erinnerung werde dadurch dramatisiert. Vergessen und Erinnern sind Leitmotive im Deuteronomium.Das Deuteronomium stelle acht Verfahren kulturell geformter Erinnerung vor:
Beherzigung – Einschreiben ins eigene Herz;
Weitergabe an die nächste Generation, Kommunikation;
Sichtbarmachung durch Körperzeichen (Tefillin);
Einschreiben an den Grenzen des eigenen Bereichs (Mesusa);
Einschreiben auf gekalkten Steinen, die öffentlich aufgestellt werden sollen;
Drei jährliche Pilgerfeste (Pessach, Schawuot, Sukkot) als Feiern der kollektiven Erinnerung;
Poesie als zusätzliche Form der Erinnerung – Lied des Mose in Dtn 31;
Niederschrift der Tora und Verpflichtung auf ihre regelmäßige Verlesung.
„Von diesen acht Formen kollektiver Mnemotechnik ist die achte die entscheidende. Sie bedeutet einen Eingriff in die Tradition, der die in ständigem Fluß befindliche Fülle der Überlieferungen einer strengen Auswahl unterwirft, das Ausgewählte kernhaft verfestigt und sakralisiert, d. h. zu letztinstanzlicher Hochverbindlichkeit steigert und den Traditionsstrom ein für allemal stillstellt.“
== Forschungsgeschichte ==
Die mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren befassten sich intensiv mit dem Buch Deuteronomium. Folgende Stellen galten als besonders schwierig:
Dtn 1,1 : Der Ausdruck „jenseits des Jordan“ im Mund des Mose wirkt eigenartig, da Mose den Jordan ja nie überschreiten durfte.
Dtn 2,12 : Hier wird auf die Eroberung Kanaans zurückgeblickt, die für Mose in der Zukunft liegt.
Dtn 2,34 ; Dtn 3,4 : Die Formulierungen „zu jener Zeit“ und „bis zu diesem Tag“ implizieren, dass seitdem viel Zeit vergangen ist.
Dtn 3,11 : Das Bett des Riesen Og als Beweis für seine Riesengröße impliziert, dass Og schon lange verstorben ist.
Dtn 31,24 : Ein Buch kann nicht Aktionen des Autors nach dessen Fertigstellung beschreiben.Abraham ibn Esra vermutete deshalb im 12. Jahrhundert, im Buch Deuteronomium seien einige Sätze nach dem Tod des Mose hinzugefügt worden. Ibn Esra drückte sich jedoch unklar aus, wohl um Sanktionen zu vermeiden.Baruch de Spinoza vertrat 1670 im Tractatus theologico-politicus die Meinung, Esra habe ein großes Geschichtswerk verfasst, das die Zeit von der Weltschöpfung bis zur Zerstörung Jerusalems behandle, bzw. die biblischen Bücher von Genesis bis zum 2. Buch der Könige (sogenannter Enneateuch, „Neunbuch“). In kritischer Auseinandersetzung mit Spinoza entwickelte der Oratorianer Richard Simon 1678 seinerseits eine Enneateuch-Hypothese: „Öffentliche Schreiber“ und „öffentliche Redner“ hätten die Tora des Mose fortentwickelt, und Esra habe diese Texte gesammelt und überarbeitet.
Das 19. Jahrhundert begann mit einem Paukenschlag für die Deuteronomiumsforschung: Wilhelm Martin Leberecht de Wette stellte in seiner Jenaer Dissertation 1805 die These auf, das im Tempel gefundene Tora-Buch (2 Kön 22,8–10) sei eine frühe Form des Deuteronomiums und stehe in Zusammenhang mit den Reformmaßnahmen König Joschijas. Und – das war das eigentlich Neue – es sei auch erst in dieser Zeit, kurz vor seiner Auffindung, verfasst worden, folglich sei Mose nicht der Autor gewesen.
Von de Wettes These ausgehend, stellten sich der Forschung neue Fragen: Handelte es sich beim Ur-Deuteronomium um einen frommen Betrug – reformfreudige Hofbeamte schrieben ein Werk, das ihre Anliegen enthielt, und deponierten es im Tempel so, dass es bald gefunden werden musste? Oder war die Erzählung vom Buchfund eine Legende, um dem Deuteronomium ein hohes Alter, und das hieß: große Autorität, zu verschaffen? Darüber wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv diskutiert, woran auch jüdische Theologen und Historiker teilnahmen, die sich unterschiedlich positionierten. Heinrich Graetz z. B. konnte de Wettes Theorie in seine Geschichtskonzeption integrieren: „Ist das Buch uralt? Oder ist es erst kurz vor seinem Auffinden geschrieben worden? Müßige Fragen! Wenn auch nicht uralt, so kommt ihm kein Gesetzbuch der schriftkundigen Völker an Alter gleich, wie es auch alle Gesetzbücher an Erhabenheit und Schönheit übertrifft. Ein Gesetzbuch mit gewinnender Herzlichkeit und milder Innigkeit ist gewiß eine seltene Erscheinung.“
David Hoffmann dagegen verteidigte die mosaische Autorschaft in mehreren Kommentaren zum Pentateuch, weil hier aus seiner Sicht etwas Entscheidendes auf dem Spiel stand. Seinem Kommentar zum Buch Levitikus stellte er einige hermeneutische Grundsätze voran, die so beginnen: „Der jüdische Erklärer des Pentateuchs hat einen besonderen Umstand zu berücksichtigen, … der ihm gewissermaßen die Gesetze für seine Exegese vorschreibt. Dieser Umstand ist: unser Glaube an die Göttlichkeit der jüdischen Tradition.“Die Päpstliche Bibelkommission verwarf 1906 die Neuere Urkundenhypothese und lehrte verbindlich, dass Mose der Verfasser des Pentateuch sei. Dies müsse aber nicht als eigenhändiges Schreiben oder Diktat des Mose aufgefasst werden; möglicherweise hätten mehrere Schreiber unter Aufsicht des Mose den Text erstellt. Ältere Quellen und mündliche Traditionen könnten mit Billigung Moses eingearbeitet worden sein; Textänderungen und Überlieferungsfehler in der nachmosaischen Zeit seien möglich. Damit war für römisch-katholische Alttestamentler das Feld ihrer Pentateuchforschung verbindlich abgesteckt. (Mitte des 20. Jahrhunderts öffnete sich die römisch-katholische Kirche für die Bibelwissenschaften, zunächst in der Bibelenzyklika Divino afflante Spiritu und dann im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils.)
Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Schwäche der de Wetteschen These unübersehbar. Denn was stand in dem Ur-Deuteronomium aus der Zeit Joschijas? Jetzt wurde es methodisch schwierig. Die Abgrenzung des Ur-Deuteronomiums erfolgte anhand der Joschija in 2 Kön 22–23 zugeschriebenen Reformmaßnahmen. 2 Kön 22–23 ist aber selbst ein redaktionell (deuteronomistisch) bearbeiteter Text: ein Zirkelschluss. Gustav Hölscher kritisierte 1922 die Versuche, ein Ur-Deuteronomium zu rekonstruieren, indem man „hinüberschiele“, welche Texte im Deuteronomium auf die in 2 Kön 22–23 beschriebenen Reformen Joschijas passten. Hölscher selbst sah im Deuteronomium einen utopischen Gesellschaftsentwurf der nachexilischen Zeit. Er verwies z. B. auf den „weltfremden Idealismus des Gesetzgebers“, der sich in den Sozialgesetzen des Deuteronomiums zeige: „Man kann das Deuteronomium wohl als Appell an die milde Gesinnung begreifen, aber schwerlich als Staatsgesetz.“Für die Neuere Urkundenhypothese war eine Datierung des Deuteronomiums nach dem Jahwisten und vor der Priesterschrift aber unverzichtbar, deshalb musste der Zusammenhang des Deuteronomiums mit der Reform König Joschijas unbedingt gewahrt bleiben. Aus diesem Grund lehnten die namhaften deutschen protestantischen Alttestamentler eine Spät- wie auch Frühdatierung des Deuteronomiums einhellig ab. Zwei Wege standen der Deuteronomiumsforschung danach offen:
Analyse der literarischen Schichtung anhand des Wechsels der Anrede zwischen „du“ und „ihr“ (Carl Steuernagel). Als Faustregel galt: Formulierungen im Singular seien älter, pluralische Formulierungen seien später ergänzt.
Annahme sehr alter, vorstaatlicher Quellentexte, die in das Ur-Deuteronomium eingearbeitet seien (Gerhard von Rad).Indem er das Deuteronomium nicht als Teil des Pentateuch, sondern als Teil des deuteronomistischen Geschichtswerks (DtrG) verstanden wissen wollte, „immunisierte“ Martin Noth die Urkundenhypothese gegen mögliche Anfragen der Deuteronomium-Fachleute. So ging die alttestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert von der Annahme aus, dass ein tiefer Bruch zwischen den Büchern Numeri und Deuteronomium bestehe, während das Deuteronomium mit den nachfolgenden Geschichtsbüchern (Josua bis 2. Buch der Könige) vielfältig verbunden sei. „Das Dtn war zunächst Kopfstück des deuteronomistischen Geschichtswerks, bevor es dann im Zuge der Formierung der Tora dem Tetrateuch [= die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri] als dessen Ende zugeschlagen wurde.“ Hatte Noth eine Verfasserpersönlichkeit (den Deuteronomisten) hinter dem Deuteronomistische Geschichtswerk gesehen, so ging die Exegese bald davon ab und postulierte eine Deuteronomistische Schule, die über einen längeren Zeitraum die geschichtlichen Bücher der Hebräischen Bibel überarbeitet habe. Zunächst wurde vorausgesetzt, dass die Redaktoren das Deuteronomium (bis auf die Einleitungskapitel 1–3) en bloc übernommen hatten. Horst-Dietrich Preuß dagegen rechnete damit, dass sie auch im Deuteronomium selbst bearbeitend tätig geworden waren. Damit war in den 1980er Jahren die Untersuchung des „deuteronomistischen Deuteronomiums“ eröffnet. Irritierenderweise ließ sich die im Deuteronomium etwa von Dietrich Knapp (1987) ermittelte Schichtung nicht zu dem sogenannten Göttinger Schichtenmodell des Deuteronomistischen Geschichtswerks in Beziehung setzen.Das Deuteronomium hat eine eigenartige Zwischenstellung, mit der es sowohl in der Neueren Urkundenhypothese als auch in der Hypothese des Deuteronomistischen Geschichtswerks schwer zu integrieren war. „Doch nachdem sowohl die Neuere Urkundenhypothese als auch die These des DtrG ins Wanken geraten sind, ist die Partie wieder eröffnet“, schrieb Reinhard Gregor Kratz 2002. Beispielsweise nehmen Vertreter des Münsteraner Pentateuchmodells ein „Großes Nachexilisches Geschichtswerk“ an, das in der Grundidee nichts anderes ist als der Enneateuch, wie er schon von Spinoza und Simon im 17. Jahrhundert vertreten wurde.An der Wende zum 21. Jahrhundert war die diachrone, am historischen Wachstum des Textes interessierte Analyse in den Ruf geraten, dass sie mit ihrem Instrumentarium den Text in kleine und kleinste Fragmente zerlege, die aber hypothetisch bleiben und über die meist kein Konsens erzielt werden kann. Im Ergebnis nehme sie dem Exegeten das einzig Sichere, was er in Händen hält: den Text. Die synchrone Analyse wird etwa seit der Jahrtausendwende von vielen Exegeten bevorzugt, ist aber noch dabei, ihr Instrumentarium zu entwickeln. Sie befasst sich mit dem Text, wie er jetzt vorliegt. Im Hintergrund steht der Literary Turn in der Exegese des Alten Testaments: anstatt die Autoren und Redaktoren und ihre mutmaßlichen Interessen zu rekonstruieren, steht nun die Interaktion zwischen Text und Leser im Mittelpunkt. Aus der Fülle neuerer Arbeiten zwei Beispiele: Den ersten synchronen Gesamtentwurf zum Deuteronomium legte Jean-Pierre Sonnet 1997 vor. Sonnet untersucht das Motivs der Verschriftung durch Mose als selbstreflexiven Legitimationsmodus im Deuteronomium. Geert Johan Venema (2004) sieht die Hebräische Bibel als literarischen Text, in dem Texte auf andere Texte verweisen, aber nicht auf eine Realität außerhalb der Textwelt. Der Kanon setze den Rahmen, innerhalb dessen Texte aus verschiedenen biblischen Büchern, die ein gemeinsames Thema behandeln, miteinander ins Gespräch gebracht werden könnten.
== Literatur ==
=== Textausgaben ===
Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9.
Deuteronomy. אֵלֶּה הַדְּבָרִים. Hrsg. von Carmel McCarthy (= Biblia Hebraica Quinta. Faszikel 5). Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2005. ISBN 978-3-438-05265-0.
The Jerusalem Bible Edition of The Koren Tanakh. Hebräisch / Englisch. Koren Publishers, 3. Auflage Jerusalem 2015. ISBN 978-965-301-723-8. Standardausgabe der Hebräischen Bibel in Israel, englische Übersetzung (von Harold Fisch) genehmigt durch die Rabbiner Moshe Feinstein und Joseph B. Soloveitchik.
=== Hilfsmittel ===
Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Hrsg.: Herbert Donner. 18. Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-25680-6.
=== Überblicksdarstellungen ===
Georg Braulik: Das Buch Deuteronomium. In: Christian Frevel (Hrsg.): Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-17-030351-5, S. 152–182.
Jan Christian Gertz: Das Deuteronomium. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 248–260.
Hanna Liss: Das Buch Devarim (Deuteronomium). In: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien. Band 8). Universitätsverlag C. Winter, 4., völlig neu überarbeitete Auflage Heidelberg 2019, ISBN 978-3-8253-6850-0, S. 213–256.
S. Dean McBride Jr.: Art. Deuteronomium. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 8, 1981, S. 530–542.
Moshe Weinfeld, S. David Sperling: Art. Deuteronomy. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage, Band 5, 2007, S. 613–619.
=== Forschungsberichte ===
Eckart Otto: Perspektiven der neueren Deuteronomiumsforschung. In: Zeitschrift für die alttestamentlichen Wissenschaft. Band 119, 2007, S. 319–340.
Horst Dietrich Preuß: Deuteronomium. (= Erträge der Forschung. 164). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, ISBN 3-534-07266-9.
Udo Rüterswörden: Alte und neue Wege in der Deuteronomiumsforschung. In: Theologische Literaturzeitung. Band 132, 2007, Sp. 877–889.
=== Kommentare ===
Eckart Otto: Deuteronomium 1,1–34,12. In: (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament). 4 Bände, Herder, Freiburg im Breisgau 2012–2017, ISBN 978-3-451-26808-3, ISBN 978-3-451-34145-8, ISBN 978-3-451-25077-4, ISBN 978-3-451-25078-1.
Eduard Nielsen: Deuteronomium (= Handbuch zum Alten Testament. Band I,6). Mohr Siebeck, Tübingen 1995, ISBN 3-16-146253-X.
Udo Rüterswörden: Das Buch Deuteronomium (= Neuer Stuttgarter Kommentar: Altes Testament. Band 4). Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2006, ISBN 3-460-07051-X.
Timo Veijola: Das fünfte Buch Mose: Kapitel 1,1–16,17. (= Das Alte Testament Deutsch. Band 8,1 der Neubearbeitung). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-51138-8.
=== Artikel und Monographien ===
Ulrich Dahmen: Leviten und Priester im Deuteronomium. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Studien. (= Bonner biblische Beiträge. Band 110). PHILO, Bodenheim 1996, ISBN 3-8257-0039-9.
Karin Finsterbusch: Deuteronomium. Eine Einführung. UTB 3626. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8252-3626-7.
Georg Fischer, Dominik Markl, Simone Paganini (Hrsg.): Deuteronomium – Tora für eine neue Generation (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 17). Harrassowitz, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-447-06553-5.
Jan Christian Gertz: Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Band 165). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, ISBN 3-525-53847-2.
Bernard M. Levinson: Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation. Oxford University Press, New York 1998. ISBN 978-0-19-515288-3.
Norbert Lohfink: Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 5. (= Stuttgarter biblische Aufsatzbände. Band 38). Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2005, ISBN 3-460-06381-5.
Dominik Markl: Gottes Volk im Deuteronomium (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 18). Harrassowitz, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-447-06763-8.
Eckart Otto: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 2). Harrassowitz, Wiesbaden 2002, ISBN 3-447-04276-1.
Eckart Otto: Das Deuteronomium: Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien (= Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Band 284). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1999, ISBN 3-11-016621-6.
Eckart Otto: Das postdeuteronomistische Deuteronomium als integrierender Schlußstein der Tora. In: Die Tora: Studien zum Pentateuch: Gesammelte Aufsätze (= Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Band 9). Harrassowitz, Wiesbaden 2009, S. 421–446. (PDF)
Lothar Perlitt: Deuteronomium-Studien (= Forschungen zum Alten Testament. Band 8). Mohr (Siebeck), Tübingen 1994, ISBN 3-16-146154-1.
Hans Ulrich Steymans: Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons: Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel (= Orbis biblicus et orientalis. Band 145). Vandenhoeck & Ruprecht, Fribourg / Göttingen 1995, ISBN 3-525-53780-8. (Digitalisat)
== Weblinks ==
AnaBiDeut – Analytische Bibliografie zum Deuteronomium der Universität Wien
Udo Rüterswörden: Deuteronomium. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff.
Erklärungen zum 5. Buch Mose Jüdisches Bildungszentrum Karlsruhe
Parascha – Die Junge Tora – Eine deutsche Übertragung der Devarim zur religiösen Unterweisung von Kindern und Jugendlichen.
== Anmerkungen == | https://de.wikipedia.org/wiki/Deuteronomium |
Puma | = Puma =
Der Puma (Puma concolor) ist nach dem Jaguar die zweitgrößte Art der Katzen (Felidae) in Amerika. Unter den Kleinkatzen wird sie als deren größte Art weltweit angesehen. Der Puma ist in weiten Teilen Nord-, Mittel- und Südamerikas verbreitet und dort unter zahlreichen weiteren Namen bekannt; für viele davon gibt es auch im Deutschen eine Entsprechung: Silberlöwe, Berglöwe oder Kuguar (englisch cougar, aus französisch couguar). In den Vereinigten Staaten wird er auch panther genannt, ein Name, der im Deutschen hauptsächlich für Schwarze Panther, das heißt Leoparden und Jaguare mit Melanismus, verwendet wird. Der Name Puma ist dem Quechua entlehnt.
== Merkmale ==
Der Puma wird taxonomisch den Kleinkatzen zugeordnet, ist aber dennoch nach Tiger, Löwe und Jaguar gewichtsmäßig die viertgrößte Katze der Welt. Seine Schulterhöhe beträgt rund 60 bis 90 cm, die Kopf-Rumpf-Länge beträgt bei Männchen 105 bis 195 cm, bei Weibchen hingegen nur 95 bis 151 cm. Hinzu kommt der Schwanz mit einer Länge zwischen 60 und 97 cm. Die Körpermaße variieren allerdings regional stark und folgen dabei der Bergmannschen Regel, nach der die durchschnittliche Körpergröße bei Vertretern einer weitverbreiteten Art zu den Polen hin ansteigt. So sind die in der Äquatorregion verbreiteten Pumas die kleinsten, während jene im extremen Norden und Süden des Verbreitungsgebietes am größten sind. Die Unterschiede in den Körpergrößen etwa bei Messungen der Schädellänge von Tieren aus unterschiedlichen Regionen können dabei bis zu 25 % ausmachen.Das Gewicht der Männchen variiert ebenfalls, abhängig vom Lebensraum, meist zwischen 53 kg und 72 kg. In den nördlichen Teilen des Verbreitungsgebietes beträgt es bis zu 100 kg. Für ein extrem großes Männchen wurde darüber hinaus ein Rekordgewicht von über 125 kg berichtet. Weibchen wiegen in der Regel zwischen 34 kg und 48 kg.
Das Fell ist kurz, dicht und einfarbig, im Farbton allerdings variabel. Am häufigsten sind gelbbraune bis rötlichbraune und silbergraue Pumas; das Kinn und die Brust sowie die gesamte Unterseite sind stets weiß. Die Schwanzspitze ist dunkel. Neugeborene Pumas sind beigefarben und kräftig gefleckt; die Fleckenzeichnung verblasst noch während des ersten Lebensjahrs. Aus Südamerika sind auch Schwärzlinge dokumentiert. Pumas haben fünf Zehen an den Vorderpfoten und vier an den Hinterpfoten. Sie können ihre Krallen einziehen.
Pumas sind sehr beweglich und kräftig. Sie sind in der Lage, vom Boden aus bis zu 5,5 m hoch in einen Baum zu springen. Pumas geben ein großes Spektrum unterschiedlicher Laute von sich, die sich zwischen den Geschlechtern unterscheiden. So dienen zwitschernde Laute offenbar der Kommunikation zwischen Müttern und ihrem Nachwuchs, während Schreie offenbar zum Paarungsverhalten gehören. Anders als die Eigentlichen Großkatzen sind Pumas jedoch nicht in der Lage zu brüllen. Nordamerikanische Forscher wie Truman Everts beschreiben den Schrei des Pumas als menschenähnlich.
Pumas erreichen in der Wildnis ein Alter von 8 bis 13 Jahren. In Gefangenschaft werden sie über 20 Jahre alt; ein nordamerikanischer Puma namens Scratch ist fast 30 Jahre alt geworden.
== Verbreitung ==
Pumas waren früher über den größten Teil Nord- und Südamerikas verbreitet. Kein anderes Säugetier des amerikanischen Doppelkontinents hatte ein vergleichbar weit ausgedehntes Verbreitungsgebiet. Es reichte vom Süden Kanadas über Mittelamerika bis ins südliche Patagonien. Heute ist der Bestand stark ausgedünnt und auf von Menschen schwach besiedelte Gebiete reduziert. In den Vereinigten Staaten überlebten Pumas die Ausrottungswellen nur in den Rocky Mountains, der Cascade Range, den Coast Mountains, in den Wüsten und Halbwüsten des Südwestens und in den Sumpfgebieten der Everglades in Florida. Durch Schutzmaßnahmen hat sich das Verbreitungsgebiet wieder erweitert, inzwischen gibt es beispielsweise auch im Gebiet der Großen Seen wieder Pumas. In manchen Regionen des US-amerikanischen Westens scheuen Pumas auch die Nähe von Städten nicht mehr. In der kanadischen Provinz Québec tauchte der Puma nachweislich 2007 wieder auf, obwohl er dort seit 1938 als ausgerottet galt.Pumas sind in nahezu allen Habitaten zu finden: Die Prärie, boreale, gemäßigte und tropische Wälder, Halbwüsten und Hochgebirge gehören allesamt zu den Lebensräumen dieser Katze.
== Lebensweise ==
Der Puma ist ein Einzelgänger und meidet außer zur Paarungszeit seine Artgenossen. Die Größe des Streifgebietes hängt vom Nahrungsangebot und vom Zugang zu Geschlechtspartnern ab und reicht von 50 km² bis zu 1000 km². Die Reviere territorialer Männchen sind größer als die der Weibchen und überlappen sich in der Regel jeweils mit denen mehrerer Weibchen. Indem sie sich aus dem Weg gehen, sind Pumas untereinander friedlich. Eine intensive Markierung der Reviere durch Kot- oder Harnmarken und zusätzlich durch Kratzspuren an den Bäumen durch die Männchen ist dabei hilfreich.
Der Puma ist zwar in der Lage, auf kurzen Strecken schnell zu laufen, nutzt diese Fähigkeit jedoch nur selten. Dabei erreicht er Geschwindigkeiten von 55 km/h bis 72 km/h. Verfehlt er ein Beutetier, jagt er nicht hinterher. Wird er, zum Beispiel von Wölfen, verfolgt, flüchtet er eher auf einen Baum, als dass er größere Strecken läuft.
Pumas sind wichtige Schlüsselarten in den Ökosystemen der westlichen Hemisphäre, die zahlreiche unterschiedliche Arten auf vielen trophischen Ebenen miteinander verbinden. In einer umfassenden Literaturstudie von mehr als 160 Studien zur Ökologie des Pumas wurden ökologische Interaktionen mit 485 anderen Arten in den vom Puma bewohnten Ökosystemen nachgewiesen, die unterschiedliche Interaktionsbereiche betreffen. Dies reicht von der Nutzung von anderen Arten als Nahrungsquelle und Beute über Angstwirkungen auf potenzielle Beutetiere, Effekte durch zurückgelassene Kadaverreste bis zu Konkurrenzeffekten auf andere Raubtierarten im gemeinsam genutzten Lebensraum. Das häufigste Forschungsthema in der genutzten Literatur war dabei die Ernährung des Pumas und die Regulierung seiner Beutetiere.
=== Ernährung ===
Pumas sind Generalisten und erbeuten Säugetiere nahezu aller Größen. Das durchschnittliche Gewicht der Beutetiere des Pumas beträgt 39 bis 48 Kilogramm, wobei größere, ausgewachsene Männchen auch größere Tiere erbeuten als Weibchen und jüngere Männchen.In Nordamerika zählen Elche, Hirsche und Rentiere zu den Beutetieren des Pumas, aber auch Nabelschweine, Mäuse, Ratten, Hasen und Kaninchen, Erdhörnchen, Skunks, Waschbären, Biber und Opossums sowie Schafe und junge Rinder. Mit 65 bis 70 % Nahrungsanteil sind jedoch Hirsche, regional vor allem der Weißwedelhirsch und der Maultierhirsch, seine häufigste Beute. Auch andere Raubtiere wie Kojoten und Rotluchse kann der Puma überwältigen. Neben Säugetieren frisst der Puma auch Vögel und in manchen Gegenden Fische. Er ist jedoch kein Aasfresser und meidet meist auch Reptilien. In Florida, wo die Anzahl der Hirsche vergleichsweise gering ist, stellen diese nur etwa 30 % der Beute, und die Pumas weichen auf kleinere Beutetiere wie Wildschweine, Gürteltiere, Waschbären und auch Alligatoren aus.Ebenso wie in Nordamerika stellen auch in Südamerika Hirsche wie Weißwedelhirsche, Spießhirsche, Gabelhirsche und Sumpfhirsche den Großteil der Pumabeute. Daneben erlegen Pumas hier allerlei mittelgroße Säuger, wie Guanakos, Vikunjas, Viscachas, Capybaras, Agutis und Gürteltiere. Insgesamt schlagen Pumas in den tropischen Teilen des Verbreitungsgebietes meist kleinere Beutetiere als in den nördlichen und südlichen Teilen. Dies ist vermutlich damit zu erklären, dass in den Tropen meist der größere Jaguar neben dem Puma vorkommt und letzterer dann auf kleinere Beute ausweicht.Um ein größeres Beutetier zu erlegen, schleicht sich der Puma zunächst heran. Aus kurzer Distanz springt er dem Tier auf den Rücken und bricht ihm mit einem kräftigen Biss in den Hals das Genick.
=== Fortpflanzung ===
Als Einzelgänger kommen Pumas nur zur Paarungszeit, die meist, aber nicht ausschließlich, zwischen November und Juni liegt, für maximal sechs Tage zusammen, ehe das Männchen das Weibchen einige Wochen vor der Geburt der Jungen wieder verlässt. Die Tragzeit beträgt etwa drei Monate. Ein Wurf hat zwischen einem und sechs, in der Regel aber zwei bis drei Junge. Das Geburtsgewicht liegt zwischen 230 und 450 Gramm, die Größe der Neugeborenen 20 bis 30 Zentimeter. Die Jungen nehmen nach etwa sechs bis sieben Wochen feste Nahrung auf und trennen sich etwa nach 20 Monaten von der Mutter.
== Systematik ==
Der nächste Verwandte des Pumas ist der Jaguarundi, der eine Zeit lang in derselben Gattung (Puma) geführt wurde. Eine relativ enge Verwandtschaft besteht auch zum Gepard, der früher in einer separaten Unterfamilie innerhalb der Katzen geführt wurde und nach aktuellen Arbeiten als Schwesterart der Pumas betrachtet wird. Neuere Genuntersuchungen legen nahe, dass der Puma mit dem ausgestorbenen nordamerikanischen Gepard Miracinonyx relativ nah verwandt ist.Außerdem wurden Ende der 1890er Jahre Pumaparde gezüchtet, die einen Hybrid aus Puma und Leopard darstellen. Diese Hybride waren kleinwüchsig und hatten eine stark verkürzte Lebenserwartung.
Im Laufe der Zeit wurden bis zu 32 Unterarten des Pumas beschrieben. Nach molekulargenetischen Untersuchungen durch M. Culver und Kollegen gibt es allerdings nur sechs Unterarten, die mit den genetischen Befunden vereinbar sind. Alle Pumas Nordamerikas unterscheiden sich genetisch kaum voneinander und stellen eine weitgehend homogene Population dar. Die Populationen Mittel- und Südamerikas zeigen eine größere Variabilität. Diese Befunde werden darauf zurückgeführt, dass die Vorfahren der Nordamerikanischen Pumas erst vor rund 10.000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit aus Südamerika einwanderten. Da um dieselbe Zeit in Amerika etliche Großtierarten ausstarben, wird vermutet, dass den Puma in Nordamerika dasselbe Schicksal ereilte, er sich allerdings in Südamerika halten konnte und von dort aus wieder etwas nach Norden vorstieß. Mit dieser Studie geht auch eine Neubewertung der ausgestorbenen und bedrohten Unterarten einher. Die folgenden Unterarten wurden durch Culver und Kollegen anerkannt und sind im zoologischen Nachschlagewerk Mammal Species of the World gelistet:
Nordamerikanischer Puma (Puma concolor cougar), inklusive des im März 2011 für ausgestorben erklärten Östlichen Nordamerikanischen Pumas und des Florida-Panthers: Nordamerika, nördliches Mittelamerika
Mittelamerikanischer Puma (Puma concolor costaricensis): Mittelamerika von Panama bis etwa Honduras
Nördlicher Südamerikanischer Puma (Puma concolor concolor): Nordwesthälfte Südamerikas, nordwestlich der Mündung des Rio Tocantins, im Südwesten bis etwa zur Grenze Chiles und Argentiniens
Östlicher Südamerikanischer Puma (Puma concolor capricornensis): Osthälfte Südamerikas von der Mündung des Rio Tocantins im Norden bis zur Mündung des Río de la Plata
Mittel-Südamerikanischer Puma (Puma concolor cabrerae): Südöstliches Südamerika zwischen dem Rio de la Plata und etwa dem Rio Negro in Argentinien, landeinwärts bis ins Gran-Chaco-Gebiet
Südlicher Südamerikanischer Puma (Puma concolor puma): Chile und PatagonienZwei im östlichen Nordamerika beheimatete Unterarten galten bzw. gelten als ausgestorben.
Anthony Caragiulo und Mitarbeiter fanden in ihrer im Jahr 2014 veröffentlichten Analyse der mitochondrialen DNA verschiedener Pumas deutliche Anzeichen für eine nördliche und eine südliche Klade innerhalb der Art. In einer im Januar 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik durch die Cat Specialist Group der IUCN werden deshalb nur noch zwei Unterarten des Pumas anerkannt.
Puma concolor cougar, Nord- und Mittelamerika
Puma concolor concolor, Südamerika
Als besonders bedroht gilt der Florida-Panther (P. c. coryi), der in den Everglades die Ausrottungswellen überlebt hat. Obwohl er nach den neuesten Untersuchungen nicht als eigene Unterart gilt, werden große Anstrengungen unternommen, diese Population zu erhalten. Sie galt kurzzeitig sogar als ausgestorben, wurde jedoch 1972 wiederentdeckt. Untersuchungen ergaben damals, dass nur noch weniger als 30 Tiere dieser eher kleinen, rötlich gefärbten Pumas lebten. Sie wiesen zudem Erscheinungen auf, die auf Inzuchtprobleme schließen lassen (Cow-lips, Knickschwanz). Daher wurden 1995 mehrere weibliche Pumas aus Texas eingeführt, um die Population der Florida-Panther zu stützen. Sie gebaren mindestens 25 Nachkommen von männlichen Florida-Panthern. Auch genetische Untersuchungen bestätigten später den Erfolg der Aussetzungen. Die aus Texas eingeführten weiblichen Pumas wurden danach wieder aus der Population entfernt.Dank genetischer Untersuchungen wurde festgestellt, dass bereits vor den offiziellen Puma-Aussetzungen 1995 ein Teil der Florida-Panther mit südamerikanischen Pumas hybridisierte. Wie diese Pumas nach Florida kamen, konnte nicht geklärt werden. Es dürfte sich entweder um entlaufene oder illegal ausgesetzte Tiere gehandelt haben, da eine natürliche Zuwanderung kaum möglich ist.2013 lebten etwa 160 Pumas in Florida. 1995 waren es nur noch zwischen 30 und 50. Dies gilt als Erfolg des Umsiedlungsprogramms. Viele der Tiere tragen zu Forschungszwecken ein Senderhalsband.
== Gefährdung und Bedeutung für den Menschen ==
Pumas haben außer dem Menschen kaum Feinde zu fürchten. Lediglich Wölfe, Bären und Jaguare können gelegentlich junge oder kranke Pumas erbeuten. Obwohl sie unter Artenschutz stehen, werden Pumas von manchen Bauern gejagt, die um ihre Viehbestände fürchten. Der Gesamtbestand wird auf weniger als 50.000 erwachsene Tiere geschätzt. Die Art als Ganzes gilt laut der Roten Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN) als nicht gefährdet (Least Concern).
Der Puma ist eine scheue Katze, die menschliche Nähe für gewöhnlich meidet und vor Menschen meistens flieht; dennoch kommt es gelegentlich zu Angriffen und Konflikten, z. B. wenn ein Puma Haustiere angreift. In den Vereinigten Staaten soll es jährlich etwa vier solcher Vorfälle geben, die aber nur selten tödlich verlaufen. Opfer von Attacken gegen Menschen sind meistens Kinder; nur in Ausnahmefällen greift ein Puma Erwachsene an.
Im Februar 2019 wurde ein Jogger im Horsetooth Mountain Open Space Park in Colorado (USA) von einem 16 kg schweren Tier angegriffen; der Jogger überlebte mit einigen Verletzungen, ihm gelang es, das Tier mit bloßen Händen zu erwürgen. In den vergangenen 30 Jahren wurden in Colorado drei Menschen durch Puma-Angriffe getötet.Bei den indigenen Völkern Amerikas stand der Puma in hohem Ansehen. Sie schrieben ihm Eigenschaften wie Führungskraft, Stärke, Findigkeit, Treue, Engagement und Mut zu.
Das Irokesisch sprechende nordamerikanische Volk der Erie wurde mit dem Puma in Verbindung gebracht, weil sich der Name Erie von Erielhonan herleitet, was auf Deutsch ‚Langer Schwanz‘ bedeutet. Damit wurden eigentlich Waschbärfelle und die Indianerstämme, die mit ihnen handelten, bezeichnet. Die Franzosen bezogen das Wort aber fälschlich auf den Puma und nannten die Erie deswegen das Volk der Katze (Nation du Chat).
Die Kolonisten in Nordamerika bekämpften den Puma. Sie wollten nicht nur ihr Vieh vor ihm schützen, sondern jagten ihn auch, weil er eine beliebte Trophäe darstellte.
== Sonstiges ==
Ein Berglöwe war auch tierischer Hauptdarsteller des Disney-Films Die Flucht des Pumas (Run, Cougar, Run, 1972).
Auch in der Romanreihe Woodwalkers von Katja Brandis ist Carag, ein Puma, der Protagonist.
Der Puma hat sich in verschiedenen Disziplinen Rekorde eingeholt: So trägt er im Guinness-Buch der Rekorde den Titel des Tieres mit den meisten Namen (40), ist mit über fünf Metern das Säugetier mit den höchsten Sprüngen und hat das größte Verbreitungsgebiet in der gesamten westlichen Hemisphäre.
Das Computer-Betriebssystem Mac OS X 10.1 von Apple trug den Codenamen Puma. Einige Jahre später wurde OS X 10.8 auf den Namen Mountain Lion (‚Berglöwe‘) getauft.
Der Spitzname der argentinischen Rugby-Union-Nationalmannschaft lautet los Pumas.
== Literatur ==
H. Maurice, N. Sharon, L. Fred: Cougar: Ecology and Conservation. University of Chicago Press, Chicago 2010, ISBN 978-0-226-35344-9.
D. E. Brown, H. G. Shaw: Soul Among Lions. The Cougar As Peaceful Adversary. University of Arizona Press, Tucson 2000, ISBN 0-8165-2084-4.
R. H. Busch: The Cougar Almanac. Lyons & Burford, New York 1996, ISBN 1-55821-403-8.
H. P. Danz: Cougar! Ohio University Press, Athens (Ohio) 1999, ISBN 0-8040-1014-5.
J. Kobalenko: T. Kitchin, W. Hurst, Forest Cats of North America. Firefly Books, Willowdale 1997, ISBN 1-55209-172-4.
R. M. Nowak: Walker's Mammals of the World. Bd. 1. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, ISBN 0-8018-5789-9, S. 818 f.
M. Culver, W. E. Johnson, J. Pecon-Slattery, S. J. O'Brien: Genomic ancestry of the American puma (Puma concolor). In: The Journal of Heredity. 91(3) Oxford University Press, Oxford 2000, ISSN 0022-1503, S. 176 ff. (PDF).
== Filmdokumentationen ==
Der Löwe von Amerika. Deutsche TV-Dokumentation von Ronald Tobias, WDR 2003, 45 Minuten
== Weblinks ==
Artenprofil Puma; IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch
Puma concolor in der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN 2009. Eingestellt von: Caso, A., Lopez-Gonzalez, C., Payan, E., Eizirik, E., de Oliveira, T., Leite-Pitman, R., Kelly, M., Valderrama, C. & Lucherini, M., 2008. Abgerufen am 25. Januar 2010.
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Puma |
Bauchspeicheldrüse | = Bauchspeicheldrüse =
Die Bauchspeicheldrüse – fachsprachlich auch das Pankreas (latinisiert auch Pancreas, von griechisch: πάγκρεας, pánkreas, von πᾶν pân für „alles, ganz“, und κρέας kréas für „Fleisch“) – ist ein quer im Oberbauch hinter dem Magen liegendes Drüsenorgan der Wirbeltiere.
Die von ihr gebildeten Verdauungsenzyme („Pankreassäfte“) werden in den Zwölffingerdarm abgegeben. Sie ist daher eine exokrine Drüse (exokrin „nach außen abgebend“; in diesem Falle in den Verdauungstrakt). Die Enzyme der Bauchspeicheldrüse spalten Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette der Nahrung im Darm in eine von der Darmschleimhaut aufnehmbare Form. Darüber hinaus werden in der Bauchspeicheldrüse Hormone gebildet, die direkt in das Blut überführt werden. Damit ist sie auch eine endokrine Drüse (endokrin „nach innen abgebend“). Dieser endokrine Anteil der Bauchspeicheldrüse sind die Langerhans-Inseln, eine spezialisierte Gruppe endokriner Zellen, die vor allem für die Regulation des Kohlenhydrat-Stoffwechsels über den Blutzuckerspiegel (durch die Hormone Insulin und Glucagon) sowie von Verdauungsprozessen verantwortlich sind. Durch die Bildung von Somatostatin regeln die Langerhans-Inseln Wachstumsvorgänge.
Eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) führt durch die freiwerdenden Verdauungsenzyme zu einer Selbstverdauung des Organs. Bei einer nachlassenden Bildung der Verdauungsenzyme (exokrine Pankreasinsuffizienz) kann die Nahrung nicht mehr ausreichend aufgeschlossen werden. Die häufigste Störung des endokrinen Anteils ist die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).
== Anatomie beim Menschen ==
=== Lage und Gliederung ===
Die Bauchspeicheldrüse des Menschen ist ein etwa 16–20 cm langes, 3–4 cm breites und 1–2 cm dickes keilförmiges Organ. Ihr Gewicht beträgt zwischen 40 und 120 g. Das Organ ist in Läppchen gegliedert, welche auch die Oberfläche charakteristisch strukturieren.Die Bauchspeicheldrüse liegt im Retroperitonealraum, also hinter dem Bauchfell, zwischen Magen, Zwölffingerdarm, Milz, Leber und den großen Blutgefäßen des Bauchraums (Aorta und untere Hohlvene). Sie ist kaum atemverschieblich, d. h., im Gegensatz zu anderen Organen der Bauchhöhle wie der Leber verändert sich ihre Position bei der Ein- und Ausatmung nur wenig.
Makroskopisch (mit bloßem Auge) unterscheidet man drei Abschnitte der Bauchspeicheldrüse: den Pankreaskopf (Caput pancreatis), den Pankreaskörper (Corpus pancreatis) und den Pankreasschwanz (Cauda pancreatis). Der Pankreaskopf wird vom Zwölffingerdarm umfasst und trägt einen nach unten gerichteten Hakenfortsatz (Processus uncinatus). An der Pankreaseinkerbung (Incisura pancreatis) geht der Kopf nach links in den Pankreaskörper über. In dieser Einkerbung verlaufen die Arteria mesenterica superior und die Vena mesenterica superior. Der Pankreaskörper quert horizontal verlaufend auf Höhe des ersten bis zweiten Lendenwirbels die Wirbelsäule. Dort wölbt sich das Organ leicht nach innen in den Netzbeutel, was als Netzhöcker (Tuber omentale) bezeichnet wird. Schließlich läuft der im Querschnitt dreieckige Pankreaskörper ohne deutliche Grenze in den Pankreasschwanz aus, der sich bis zum Gefäßpol der Milz erstreckt.Der etwa zwei Millimeter weite Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse (Ductus pancreaticus, Wirsung-Gang) mündet gemeinsam mit dem Hauptgallengang (Ductus choledochus) oder nahe diesem in den Zwölffingerdarm. Diese Mündung stellt eine warzenförmige Erhebung dar (Papilla duodeni major oder Vatersche Papille). Bei manchen Individuen ist ein zweiter, kleiner Ausführungsgang vorhanden, der Ductus pancreaticus accessorius (Santorini-Gang), der dann auf der kleinen Zwölffingerdarmwarze (Papilla duodeni minor) in den Zwölffingerdarm mündet.
=== Feinbau ===
Das Pankreas ist eine zugleich exokrine und endokrine Drüse. Als exokrine Drüse produziert sie Verdauungsenzyme, als endokrine Drüse Hormone (siehe auch Abschnitt Funktion).
Der exokrine Anteil besteht aus mehreren Tausend locker zusammengefügten Läppchen mit einem Durchmesser von etwa drei Millimetern. Ein solches Läppchen enthält mehrere, von sekretproduzierenden Zellen umgebene Drüsengänge (Azini). Die von diesen Drüsenzellen gebildeten Verdauungsenzyme werden ohne Verlust von Zellbestandteilen (merokrine Sekretion) in Form eines wässrigen (serösen) Sekrets freigesetzt und über die Azini weitergeleitet und teilweise auch gespeichert. Die Azini werden von einer Basalmembran umgeben, die durch ein feines Netz von retikulären Fasern gestützt wird. Etwa drei bis fünf Azini sind zu einem Komplex oder „Drüsenbäumchen“ verschaltet und münden über sogenannte Schaltstücke in einen gemeinsamen Gang. Die Zellen dieser Schaltstücke werden als zentroazinäre Zellen bezeichnet. Die Ausführungsgänge vereinen sich und werden letztendlich zu den Hauptausführungsgängen. Im exokrinen Anteil der Bauchspeicheldrüse liegen zwischen den Azini auch Zellen, die als Pankreassternzellen bezeichnet werden. Sie spielen vor allem bei Reparaturvorgängen eine Rolle.
Der endokrine Anteil sind die Langerhans-Inseln (Insulae pancreaticae), die 1869 von Paul Langerhans entdeckt wurden. Es handelt sich um Anhäufungen von endokrinen Epithelzellen, die sich vorwiegend in Bauchspeicheldrüsenkörper und -schwanz befinden. Sie geben die von ihnen produzierten Hormone direkt in das Blut ab. Die Langerhans-Inseln machen ein bis zwei Prozent der Masse der Bauchspeicheldrüse aus. Abhängig vom produzierten Hormon unterscheidet man:
α-Zellen produzieren Glucagon (etwa 30 % der Inselzellen)
β-Zellen produzieren Insulin und Amylin (etwa 60 % der Inselzellen)
δ-Zellen produzieren Somatostatin (etwa 5 % der Inselzellen)
PP-Zellen produzieren pankreatisches Polypeptid (weniger als 5 % der Inselzellen)
ε-Zellen produzieren GhrelinMittels immunhistochemischer Methoden kann die Lokalisation der Zelltypen innerhalb einer Langerhans-Insel festgestellt werden, die beim Menschen kein bestimmtes Muster erkennen lässt.Die Bauchspeicheldrüse als Ganzes wird von einer dünnen Kapsel aus Bindegewebe umgeben, die Septen (Scheidewände) nach innen sendet. Diese Septen trennen die einzelnen Drüsenläppchen voneinander. Außerdem wird das Organ von einem dichten Kapillarnetz durchzogen, das eine gute Blutversorgung sicherstellt und damit die Sekretionstätigkeit erst ermöglicht.
=== Blutversorgung und Lymphabfluss ===
Die Versorgung der Bauchspeicheldrüse erfolgt über drei größere Gefäße: Die obere Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarmarterie (Arteria pancreaticoduodenalis superior), die große Bauchspeicheldrüsenarterie (Arteria pancreatica magna) und die untere Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarmarterie (Arteria pancreaticoduodenalis inferior) verzweigen sich in weitere kleinere Arterien, die zum Teil miteinander in Verbindung treten (anastomosieren).Das venöse Blut aus Körper und Schwanz der Bauchspeicheldrüse wird von kleinen Bauchspeicheldrüsenvenen (Venae pancreaticae) über die Milzvene (Vena splenica) in die Pfortader (Vena portae) geleitet. Das Blut aus dem Kopf der Bauchspeicheldrüse gelangt über die Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarm-Vene (Vena pancreaticoduodenalis) in die obere Gekrösevene (Vena mesenterica superior) und dann ebenfalls in die Pfortader.Die Lymphgefäße der Bauchspeicheldrüse ziehen in die Nodi lymphoidei (Nll.) pancreatici sowie die Nll. pancreaticoduodenales superiores et inferiores. Diese liegen dicht an der Bauchspeicheldrüse und leiten die Lymphe in den Truncus intestinalis weiter.
=== Innervation ===
Die Bauchspeicheldrüse wird, wie fast alle inneren Organe, durch beide Anteile des vegetativen Nervensystems (Sympathikus und Parasympathikus) versorgt. Die parasympathische Versorgung erfolgt durch den Nervus vagus. Über den M3-Rezeptor werden α- und β-Zellen stimuliert. Sympathische Fasern erreichen über den Nervus splanchnicus major das Ganglion coeliacum, wo sie auf das zweite sympathische Neuron umgeschaltet werden, welches dann in die Bauchspeicheldrüse zieht. Über α2-Adrenozeptoren wird die Sekretion der β- und δ-Zellen gesenkt und die der α-Zellen gesteigert. Über β2-Adrenozeptoren wird die Sekretion der β- und δ-Zellen gesteigert.
== Anatomie bei Tieren ==
Zellen, die Bauchspeicheldrüsenhormone und solche, die Verdauungsenzyme produzieren, sind bei einer Vielzahl von Wirbellosen nachgewiesen. Als eigenständiges Organ treten sie aber erst bei den Wirbeltieren auf. Bei der Schwarzbäuchigen Taufliege werden beispielsweise Insulin-ähnliche Peptide noch im Gehirn, Glucagon-ähnliche in den Corpora cardiaca (einem Neurohämalorgan) gebildet. Doch auch bei den Wirbeltieren gibt es strukturelle Differenzen, die durch unterschiedliche Lebensweise und Nahrung sowie Stoffwechselbesonderheiten bedingt sind.Bei den Manteltieren und Lanzettfischchen ist noch keine Bauchspeicheldrüse ausgebildet. Hier gibt es lediglich spezialisierte Zellen im Darmepithel, welche die entsprechenden Hormone bilden. Bei Rundmäulern sind endo- und exokriner Anteil getrennt: Während die Verdauungsenzyme herstellenden Zellen in die Darmschleimhaut eingestreut sind, bei Schleimaalen auch in die Leber, bilden die hormonproduzierenden Zellen ein separates Inselorgan an der Mündung des Gallengangs in den Darm. Das Inselorgan der Schleimaale und Neunaugen besteht aus β- und wenigen δ-Zellen, α-Zellen sind dagegen in der Darmschleimhaut lokalisiert. Knochenfische besitzen eine exokrine Bauchspeicheldrüse, während das endokrine Gewebe oft in davon unabhängigen Strukturen zusammengelagert ist. Diese auch als Brockmann-Körper bezeichneten Inselorgane entstehen aus der dorsalen Pankreas-Anlage und liegen im angrenzenden Mesenterium. Bei einigen Arten ist ein einzelner großer Brockmann-Körper (z. B. Grundeln), bei manchen sind mehrere Brockmann-Körper, bei anderen zusätzliches zerstreutes Inselzellgewebe ausgebildet. PP-Zellen sind bei den Knochenfischen im Regelfall noch nicht im Inselorgan lokalisiert. Bei einigen Fischarten ist das exokrine Pankreasgewebe in der Leber lokalisiert (Hepatopankreas). Knorpelfische besitzen eine endokrin-exokrine Bauchspeicheldrüse, bei den meisten Vertretern mit allen vier Hauptzelltypen (α, β, δ, PP), bei den Seekatzen bleiben die δ-Zellen jedoch im Darm angesiedelt. Trotz des Vorhandenseins eines Inselorgans bleiben bei den Knorpelfischen weiterhin viele α-, δ- und PP-Zellen auch im Darm lokalisiert.Bei Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren zeigt die Bauchspeicheldrüse prinzipiell denselben Aufbau.Schwanzlurche haben entweder diffus verteiltes oder in Inseln zusammengelagertes endokrines Gewebe, bei einigen Arten fehlen α-Zellen. Das Inselorgan der Froschlurche besitzt alle vier Hauptzelltypen und ähnelt dem der Säuger, allerdings gibt es Unterschiede in den Zellanteilen: α-, β- und PP-Zellen sind etwa in gleicher Menge vorhanden, hinzu kommen einige δ-Zellen. Bei Krallenfröschen scheinen erstmals auch Ghrelin produzierende ε-Zellen aufzutreten. Auch bei Reptilien gibt es beträchtliche Unterschiede in der Zellzusammensetzung. Bei Krokodilen machen β-Zellen etwa die Hälfte der Inselorganzellen aus, während bei Echsen vier- bis fünfmal so viele Glucagon-produzierende Zellen wie Insulin-produzierende auftreten. Bei der Zierschildkröte bestehen die Langerhans-Inseln nur aus α- und β-Zellen, während PP- und δ-Zellen in den exokrinen Anteil eingestreut sind. ε-Zellen sind bei Reptilien bislang nur bei wenigen Arten wie der Rotwangen-Schmuckschildkröte nachgewiesen. Bei einigen Schlangen bilden die Inselzellen eine Scheide um die Ausführungsgänge des exokrinen Anteils. PP-Zellen sind im Inselorgan bislang nicht nachgewiesen. Bei Vögeln ist die Bauchspeicheldrüse aus vielen Läppchen aufgebaut, die zwischen den beiden Schenkeln des Zwölffingerdarms liegen. Bei Vögeln gibt es neben gemischten auch Inseln, in denen nahezu ausschließlich α- beziehungsweise β-Zellen auftreten. Die Zahl der α-Zellen scheint bei Vögeln generell gegenüber der der anderen Zelltypen zu überwiegen. Ghrelin wurde beim Haushuhn nachgewiesen, bei anderen Spezies ist dies nicht untersucht.
Bei den Säugetieren ist der Aufbau der Bauchspeicheldrüse prinzipiell ähnlich, in den Langerhans-Inseln sind alle fünf Zelltypen ausgebildet. In der Veterinäranatomie gliedert man die Bauchspeicheldrüse makroskopisch in einen Körper (Corpus pancreatis), einen rechten, dem Zwölffingerdarm anliegenden Lappen (Lobus pancreatis dexter, „Duodenalschenkel“) und einen der Eingeweidefläche des Magens anliegenden und bis zur Milz reichenden linken Lappen (Lobus pancreatis sinister, „Milzschenkel“). Bei Pferden und Schweinen umschließt der Pankreaskörper ringförmig die Pfortader (Anulus pancreatis). Beim Nilflughund machen die Langerhans-Inseln fast neun Prozent der Organmasse aus, was mehr als doppelt so viel ist wie bei anderen Säugetieren.Aufgrund seiner Herkunft aus einer paarigen und einer unpaarigen Organanlage (siehe Abschnitt Entwicklung) besitzt das Pankreas je nach Spezies einen bis drei Ausführungsgänge. Der „zusätzliche Ausführungsgang“ ist bei Schweinen und Rindern der einzige, während Pferde und Hunde stets beide, einige Vögel (z. B. Entenvögel) alle drei ursprünglich angelegten Ausführungsgänge besitzen.
== Entwicklung ==
Beim Embryo entwickelt sich die Bauchspeicheldrüse aus dem inneren Keimblatt (Entoderm). Es entstehen zunächst zwei Epithelknospen im Bereich des Zwölffingerdarms, wobei sich die vordere in der bauchseitigen Darmaufhängung des Zwölffingerdarms (Mesoduodenum ventrale) nahe dem Gallengang, die hintere im rückenseitigen Mesenterium (Mesoduodenum dorsale) bildet. Die Hauptsprosse dieser Knospen werden durch Bildung eines Hohlraums (Kanalisierung) zu den Ausführungsgängen, ihre Verzweigungen zum eigentlichen Drüsengewebe.Die rückenseitige (dorsale) Pankreasanlage ist die größere und bildet den Hauptteil der späteren Bauchspeicheldrüse. Ihr Ausführungsgang ist der zusätzliche Bauchspeicheldrüsengang (Ductus pancreaticus accessorius). Die kleinere bauchseitige (ventrale) Pankreasanlage ist zunächst paarig. Bei Säugetieren vereinigen sich während der Embryonalentwicklung beide ventralen Sprosse und bilden den Bauchspeicheldrüsengang (Ductus pancreaticus). Bei Vögeln bleiben beide Sprosse der ventralen Anlage dagegen zeitlebens getrennt. Aus der ventralen Pankreasanlage entsteht der Processus uncinatus („Hakenfortsatz“) und der untere Anteil des Kopfes der Bauchspeicheldrüse.Mit der embryonalen Drehung des Magens um seine Längsachse gelangt die ventrale Anlage über rechts in eine rückenseitige Position. Der ursprüngliche Bauchfellüberzug verschmilzt mit dem der linken Leibeswand. Damit gelangt das zunächst innerhalb der Leibeshöhle gelegene Pankreas sekundär in eine Lage außerhalb des Bauchfells – in den sogenannten Retroperitonealraum. Mit dieser Drehung kommt es auch zur Vereinigung der beiden Hohlraumsysteme und damit beider Anlagen. Dies findet beim Menschen etwa in der sechsten bis siebenten Schwangerschaftswoche statt. Die zweite Magendrehung bringt die Bauchspeicheldrüse in die Querlage.
Die ursprünglich zwei Hauptausführungsgänge beider Anlagen bleiben nur bei einigen Säugetieren (z. B. Pferde, Hunde) erhalten. Beim Menschen sowie Schafen und Katzen verschließt sich (obliteriert) der direkt in das Darmrohr mündende (proximale) Abschnitt des Ausführungsgangs der dorsalen Anlage, so dass der Ductus pancreaticus zum gemeinsamen Ausführungsgang beider Anlagen wird. Bei Schweinen und Rindern bleibt dagegen nur der Ductus pancreaticus accessorius – also der der rückenseitigen Anlage – erhalten.Die Langerhans-Inseln – also der endokrine Anteil der Bauchspeicheldrüse – entstehen ebenfalls aus Epithelzapfen, die von den Sprossen des exokrinen Anteils ausgehen. Diese „Inselzapfen“ verlieren aber die Verbindung zum Gangsystem und werden durch gefäßreiches Bindegewebe vom exokrinen Anteil abgegrenzt. Für den ersten Schritt der Differenzierung der Vorläuferzellen für die späteren Inselzellen ist eine Aktivierung des Transkriptionsfaktors Neurogenin3 notwendig. Die weitere Differenzierung wird durch den Transkriptionsfaktor Rfx6 (Transcriptional regulatory factor X6) gesteuert. Darüber hinaus sind eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren (NeuroD1, Pax4, Nkx2.2, Nkx6.1, Arx, MafA, Pax6, Isl1 und andere) an der Zelldifferenzierung und Organogenese der Bauchspeicheldrüse beteiligt.
== Evolution ==
Vergleichende Studien legen nahe, dass sowohl endokriner als auch exokriner Anteil der Bauchspeicheldrüse phylogenetisch endodermal-epithelialen Ursprungs sind, obwohl diese Frage noch nicht abschließend geklärt ist. So lassen sich bei Lanzettfischchen Zellen innerhalb des Mitteldarmepithels nachweisen, die ein Insulin-Vorläufermolekül (Protoproinsulin) bilden und zusammen mit anderen Enzymen in das Darmlumen abgeben. Nach Spaltung im Lumen wird es aus dem Darm in das Blut aufgenommen und entfaltet eine Insulin-ähnliche Wirkung. Darüber hinaus lassen sich bei einigen niederen Wirbeltieren „gemischte“ Zellen nachweisen, die sowohl endo- als auch exokrine Funktionen wahrnehmen.Vermutlich ist sogar die Insulin-produzierende β-Zelle Ausgangspunkt der phylogenetischen Entstehung des Organs Bauchspeicheldrüse. Das Inselorgan der Rundmäuler besteht nahezu vollständig aus β-Zellen, bei Seekatzen treten α-Zellen dazu, bei Haien dann PP-Zellen – es kommt also zu einer schrittweisen Erweiterung der Organfunktion. Auch die Expression der an der Entstehung der Bauchspeicheldrüse beteiligten Transkriptionsfaktoren scheint diese Theorie der gemeinsamen phylogenetischen Herkunft zu bestätigen.
== Funktion ==
=== Funktion als exokrine Drüse ===
Als exokrine Drüse ist die Bauchspeicheldrüse eine rein seröse Drüse und die wichtigste Verdauungsdrüse. Sie produziert beim Menschen täglich bis zu zwei Liter Sekret, bei Pferden bis zu 35 l. Die Bildung des Verdauungssekrets (auch als Pankreassaft bezeichnet) wird durch Geruch und Geschmack der Nahrung und den Kauvorgang über den Nervus vagus stimuliert. Auch die Dehnung der Magenwand (ebenfalls über den Nervus vagus vermittelt) sowie die Hormone Sekretin, Cholecystokinin und vermutlich Gastrin steigern Bildung und Abgabe des Pankreassafts. Cholecystokinin stimuliert dabei gemeinsam mit dem Nervus vagus (über Acetylcholin) vor allem die Sekretion der Pankreasenzyme aus den Azinuszellen, während Sekretin die Gangepithelzellen des Pankreas zur Bildung eines Bikarbonat-reichen Sekrets anregt, der über einen Cl−/HCO3−-Antiporter Chlorid aus dem Sekret in dem Pankreasgang mit Bikarbonat austauscht. Ein Großteil des dafür verwendeten Chlorids wird über den CFTR-Kanal in das Lumen des Pankreasgangs befördert, was bei der Entstehung der zystischen Fibrose eine große Rolle spielt. Die Hormone Somatostatin, Glucagon, Pankreatisches Polypeptid, Peptid YY sowie der Einfluss des Sympathikus hemmen dagegen die Bildung und Abgabe des Pankreassafts.Das Bauchspeicheldrüsensekret enthält die Vorstufen eiweißspaltender Enzyme (Trypsinogen, Chymotrypsinogen, Procarboxypeptidasen, Proelastase), das stärkespaltende Enzym α-Amylase, Ribo- und Desoxyribonukleasen und zur Fettspaltung dienende Enzyme (Lipasen). Die eiweißspaltenden Enzyme liegen bei der Produktion in der Drüse in einer inaktiven Form vor, um eine Selbstverdauung des Organes zu verhindern. Das Trypsinogen wird erst durch gezielte Abspaltung mittels des Enzyms Enteropeptidase des Bürstensaums der Zwölffingerdarmschleimhaut in Trypsin umgewandelt und damit wirksam. Trypsin wiederum aktiviert die übrigen eiweißspaltenden Enzyme. Die Lipase wird erst durch das Protein Colipase aktiv. Letztere kommt ebenfalls als Vorstufe aus der Bauchspeicheldrüse und wird erst durch Trypsin aktiviert. Hinsichtlich der Enzymzusammensetzung des Pankreassaftes gibt es ernährungsbedingte tierartliche Unterschiede. So bildet die Bauchspeicheldrüse bei Tieren mit geringem Stärkeanteil in der Nahrung, beispielsweise reinen Fleischfressern wie Katzen oder Pflanzenfressern wie Pferde und Wiederkäuer, kaum stärkespaltende Amylase. Bei Monogastriern ändert sich je nach Zusammensetzung der Nahrung nach wenigen Tagen auch das Enzymmuster des Pankreassaftes.Die in den Epithelzellen der Bauchspeicheldrüsengänge produzierten Hydrogenkarbonat-Ionen (HCO3−) erhöhen den pH-Wert des Pankreassaftes auf 8. Das alkalische Pankreassekret neutralisiert den durch den Magensaft angesäuerten Darminhalt und schafft damit ein optimales Milieu für die Verdauungsenzyme.
=== Funktion als endokrine Drüse ===
Neben dieser exokrinen Drüsenfunktion werden vom endokrinen Drüsenanteil, den Langerhans-Inseln, Hormone direkt in das Blut abgegeben. In den α-Zellen wird Glucagon, in den β-Zellen Insulin, in den δ-Zellen Somatostatin, den PP-Zellen das Pankreatische Polypeptid und den ε-Zellen das Ghrelin synthetisiert.
Der Reiz für die Insulinausschüttung ist der Anstieg des Blutzuckers. Weitere Stimulation gibt es über den Parasympathikus und einige Darmhormone (Gastrin, Sekretin, GIP, Cholecystokinin und GLP-1). Durch das Insulin wird der Blutzucker wieder auf ein physiologisches Niveau gesenkt, indem Traubenzucker (Glucose) in Leber, Skelettmuskulatur und Fettgewebe aufgenommen wird. Zudem werden die Glucosespeicherung gefördert und die Glucoseneubildung gehemmt. Bei starkem Blutzucker-Abfall wird aus den α-Zellen Glucagon ausgeschüttet, welches zur Freisetzung von Traubenzucker aus der Leber und damit zu einem Anstieg des Blutzuckers führt.Somatostatin dient der Hemmung des exokrinen Anteils und der α-Zellen. In hoher Konzentration hemmt es auch die β-Zellen. Die Funktion des pankreatischen Polypeptids ist noch nicht ausreichend geklärt, es hemmt vermutlich den Appetit.Neben den klassischen fünf Hormonen wird von den Inselzellen eine Vielzahl weiterer Peptide gebildet, wie beispielsweise Cholecystokinin, Calcitonin Gene-Related Peptide, Insulinähnliche Wachstumsfaktoren, Peptid YY, Cocaine and amphetamine regulated transcript und Thyreoliberin, bei Fröschen auch Sekretin.
== Erkrankungen ==
=== Erkrankungen des exokrinen Anteils ===
Eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis) verursacht starke Schmerzen im Oberbauch („Gummibauch“), Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung und Fieber. Die häufigste Ursache für eine akute Pankreatitis beim Menschen sind Gallensteine, für eine chronische ist es der Alkoholmissbrauch. Auch eine traumatisch bedingte Pankreasruptur kann eine Pankreatitis auslösen. Bei einer akuten Pankreatitis oder Pankreasruptur kommt es zur Selbstverdauung des Organs durch freiwerdende Enzyme und dadurch zu einer starken Entzündungsreaktion.Die ungenügende Sekretion bzw. Ausschüttung von Bauchspeicheldrüsenenzymen bezeichnet man als exokrine Pankreasinsuffizienz. Sie kann durch Verlust von Bauchspeicheldrüsengewebe bei chronischer Pankreatitis oder Bauchspeicheldrüsenkrebs (s. u.) erworben, aber auch durch genetisch bedingte Erkrankungen wie Mukoviszidose angeboren sein. Die exokrine Pankreasinsuffizienz führt zu Verdauungsproblemen mit großvolumigem Fettstuhl und wird durch Verabreichung von Pankreatin oder Rizoenzymen mit den Mahlzeiten behandelt.Pankreaszysten und -pseudozysten, blasenförmige Bildungen in der Bauchspeicheldrüse, können als Entwicklungsstörung, durch Trauma, Entzündung oder Tumoren entstehen. Pankreaszysten verursachen häufig keine Beschwerden. Pseudozysten haben keine Epithelauskleidung und entstehen meist nach einer Pankreatitis durch Gewebseinschmelzung. Sie können mit Entzündungszeichen wie Fieber einhergehen und neigen zu Abszessbildung und anderen Komplikationen.Bösartige oder gutartige Pankreastumoren betreffen in 98 % der Fälle den exokrinen Anteil. In der Mehrheit sind es bösartige Adenokarzinome (duktale Adenokarzinome), die wegen ihrer hohen Sterblichkeitsrate gefürchtet sind.Einige Saugwürmer parasitieren im Gangsystem der Bauchspeicheldrüse. Der Pankreasegel (Eurytrema pancreaticum) tritt vor allem bei Paarhufern in Ostasien und Südamerika auf, kann aber auch den Menschen befallen. Der Waschbären-Pankreasegel (Eurytrema procyonis) kommt in den Vereinigten Staaten von Amerika vor und parasitiert bei Waschbären, selten auch bei Katzen. Lyperosomum intermedium tritt nur in den US-amerikanischen Südstaaten Florida und Georgia auf und befällt Reisratten.
=== Erkrankungen des endokrinen Anteils ===
Die häufigste Erkrankung des endokrinen Anteils ist die Zuckerkrankheit (pankreopriver Diabetes mellitus). Beim Diabetes mellitus liegen ein absoluter oder relativer Insulinmangel oder eine abgeschwächte Wirksamkeit des Insulins vor. Die Zuckerkrankheit ist eine weltweit verbreitete Massenerkrankung mit erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Etwa 380 Millionen Menschen (8,3 % der Bevölkerung) leiden an dieser Krankheit, allerdings sind nur etwa fünf bis zehn Prozent der Diabetes-Erkrankungen durch eine Unterfunktion der Langerhans-Inseln bedingt. Auch bei Haushunden und -katzen ist Diabetes mellitus eine der häufigsten endokrinen Erkrankungen.Bei der erblich bedingten Nesidioblastose ist das Inselzellgewebe vermehrt und die Insulinausschüttung erhöht, was bereits bei Säuglingen zu schwerer Unterzuckerung führt.Endokrine Tumoren machen nur etwa zwei Prozent der Bauchspeicheldrüsentumoren aus. Hier überwiegen Tumoren der Insulin-produzierenden β-Zellen (Insulinom) und Tumoren, die Gastrin produzieren (Zollinger-Ellison-Syndrom). Eine Häufung endokriner Bauchspeicheldrüsentumoren kommt beim Wermer-Syndrom vor.
== Fehlbildungen ==
Während der Entwicklung des Organs kann es zu verschiedenen Fehlbildungen kommen.
Wird die Bauchspeicheldrüse nicht oder nur unvollständig ausgebildet, spricht man von einer Pankreasagenesie. Während die totale Pankreasagenesie mit schweren Verdauungsstörungen und Zuckerkrankheit beim Neugeborenen einhergeht, bleibt die partielle meist symptomlos, da das vorhandene Gewebe eine ausreichende Synthesekapazität hat.
Das Pancreas divisum („geteilte Bauchspeicheldrüse“) beruht auf einer ausbleibenden Verwachsung der beiden Organanlagen. Hier besteht eine Neigung zu einer Verstopfung im Ausführungsgangbereich, da der Abfluss des Pankreassaftes der größeren rückenseitigen Anlage über den kleineren Gang (Ductus pancreaticus accessorius) erfolgt. Beim seltenen Pancreas bifidum („zweigespaltene Bauchspeicheldrüse“) ist der Hauptausführungsgang im Bereich des Schwanzes der Bauchspeicheldrüse wie ein Fischschwanz aufgespalten.Als Pancreas anulare („ringförmige Bauchspeicheldrüse“) wird eine seltene ringförmige Verwachsung um den Zwölffingerdarm bezeichnet, durch die es zu einer Duodenalstenose (Zwölffingerdarmeinengung) kommen kann. In der Literatur wird als Ursache eine nicht obliterierte (verödete) linke Knospe der ventralen Anlage bzw. eine generell abnormale Entwicklung einer zweigeteilten ventralen Pankreasanlage angegeben. Diese Anlage wächst um das Duodenum herum und verschmilzt mit der dorsalen Anlage. Therapiemöglichkeit ist eine Duodenojejunostomie, eine operative Verbindung des Zwölffingerdarms mit dem Jejunum (Leerdarm), oder eine kurze Überbrückung der eingeengten Stelle innerhalb des Zwölffingerdarms (Duodenum-Duodenum-Anastomose).Ektopes Gewebe des Pankreas (versprengtes Pankreasgewebe) kann u. a. im Magen, im Dünndarm (vor allem im Meckelschen Divertikel) oder in der Leber vorkommen.Im Rahmen seltener Syndrome kann das Pankreas mit beteiligt sein wie beim Mitchell-Riley-Syndrom.
== Verletzungen ==
Beschreibungen der seltenen Verletzung der Bauchspeicheldrüse erfolgten erstmals im 19. Jahrhundert, etwa durch den Londoner Arzt Tavers (1826) und Otis (1864), später unter anderem auch von Wandesleben und Werner Körte.
== Untersuchungsmethoden ==
Die Vorgeschichte und der körperliche Untersuchungsbefund ergeben bereits Hinweise auf das Vorliegen einer Pankreaserkrankung.
Zur Erkennung einer Pankreatitis hat sich die laborchemische Bestimmung der Pankreaslipase im Blut bewährt. Alternativ kann die Pankreas-Amylase im Serum bestimmt werden. Sie ist jedoch nicht so spezifisch und sensibel. In der Tiermedizin wird vor allem der PLI-Test angewendet. Zum Nachweis einer exokrinen Pankreasinsuffizienz werden in der Humanmedizin der Sekretin-Pankreozymin-Test oder die Bestimmung der Konzentration der Pankreas-Elastase im Stuhl angewendet, in der Tiermedizin vor allem der TLI-Test.
Zur Einschätzung der Funktion des endokrinen Anteils werden vor allem Blut- und Urinzucker, HbA1c, C-Peptid, Fructosamin und die verbliebene Eigensekretionsrate bestimmt. Autoimmunerkrankungen der Bauchspeicheldrüse können darüber hinaus durch die Bestimmung von Autoantikörpern diagnostiziert werden.Zur Erkennung von Tumoren der Bauchspeicheldrüse werden bildgebende Verfahren wie Sonografie, Computertomographie, Magnetresonanztomographie sowie ein kombiniertes endoskopisch-radiologisches Verfahren, die sogenannte Endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie, genutzt. Darüber hinaus kann mittels Bauchhöhleneröffnung (Laparotomie) und -spiegelung (Laparoskopie) das Organ direkt beurteilt werden. Die Flexible Transgastrische Peritoneoskopie ist ein im Experimentalstadium befindliches Untersuchungsverfahren. Auch Pankreaspseudozysten, Pankreassteine (deren sicherer Nachweis erst nach Einführung der Röntgendiagnostik, etwa durch Arthur Mayo-Robson, möglich wurde) oder Pankreasverkalkungen können mit den genannten bildgebenden Verfahren erkannt werden. Als brauchbarer Tumormarker hat sich CA 19-9 bewährt.
== Pankreastransplantation ==
Die kombinierte Pankreas- und Nierentransplantation ist die bisher beste Therapie für sorgfältig ausgewählte Patienten mit insulinpflichtigem Typ-I-Diabetes und dialysepflichtigem oder bevorstehendem Nierenversagen. Die Organvermittlung geschieht dabei zentral über Eurotransplant. Dort werden die Daten aller Patienten gespeichert und verfügbare Organe innerhalb Europas nach festgelegten Kriterien vermittelt. Seit der ersten Pankreastransplantation im Jahre 1966 sind weltweit bisher über 7000 Bauchspeicheldrüsen transplantiert worden. Die meisten Operationen, etwa zwei Drittel, fanden in den USA gefolgt von Europa statt. Nur wenige Transplantationen werden in allen übrigen Teilen der Welt durchgeführt. In Deutschland werden jährlich 150 bis 200 Pankreastransplantationen durchgeführt. Die Transplantation von Inselzellen ist derzeit immer noch als experimentelle Therapiemethode anzusehen.
== Verwendung ==
Bauchspeicheldrüsen von Schweinen werden bei der Schlachtung gewonnen und technisch aufbereitet. Als Pankreatin wird dieses Enzymgemisch zur Behandlung der exokrinen Bauchspeicheldrüsenunterfunktion eingesetzt. Pankreatin muss zusammen mit der Mahlzeit aufgenommen werden. Darüber hinaus wird aus Bauchspeicheldrüsen von Rindern und Schweinen auch Insulin für die Insulintherapie gewonnen. Die ersten Insulinpräparate aus Rinderbauchspeicheldrüsen kamen bereits 1923 auf den Markt. Durch die Möglichkeit der Herstellung von rekombinantem Insulin spielt aus dem Organ gewonnenes Insulin in der Diabetesbehandlung beim Menschen allerdings keine Rolle mehr.Vor allem in Asien wird die Bauchspeicheldrüse von Schweinen auch als Lebensmittel verwendet.
== Forschungsgeschichte ==
Das Pankreas wurde vermutlich erstmals von Herophilos von Chalkedon – auch als „Vater der Anatomie“ betitelt – etwa 300 v. Chr. beschrieben, obwohl er es nicht als solches bezeichnete und viele seiner Schriften nicht mehr existieren. Der Begriff „Pankreas“ existierte bereits zuvor. Schon in einem fälschlich Hippokrates zugeschriebenen Text (περί ἀδένων) wird das Wort verwendet, allerdings war es wohl für Lymphknoten üblich. Es ist unklar, ob es sich bei den in der „hippokratischen“ Schrift erwähnten, nach hippokratischer Vorstellung „ganz aus Fleisch“ (griechisch: πᾶν χρέας) bestehenden „Drüsen im Netz“ um die Bauchspeicheldrüse oder die Mesenteriallymphknoten handelt. Etwa zur gleichen Zeit wie Herophilos soll auch Eudemos von Alexandria eine Drüse, die ein speichelähnliches Sekret in den Dünndarm abgibt, erwähnt haben. Galenos (2. Jahrhundert n. Chr.) – auch als Princeps medicorum der Antike betitelt – bezieht sich auf Herophilos’ und Eudemos’ Schriften und die Bauchspeicheldrüse, hielt sie aber für ein Kissen der sie umgebenden Gefäße und anderer Strukturen. Aufgrund der hohen Reputation Galenos’ galt diese Auffassung bis in das 17. Jahrhundert als unumstößliche Tatsache.Die erste eindeutige Abgrenzung der Bauchspeicheldrüse von den Lymphknoten der Bauchhöhle und die Zuordnung des Begriffes Pankreas zu diesem Organ geht auf den Arzt und Anatomen Rufus von Ephesos zurück, der Ende des ersten Jahrhunderts die erste anatomische Nomenklatur erarbeitete. Dennoch gab es in der Mitte des 2. Jahrtausends erneut begriffliche Unschärfen. So bezeichnete Frederik Ruysch (1638–1731) die von Gaspare Aselli Anfang des 17. Jahrhunderts beschriebenen Mesenteriallymphknoten als „Pancreas Aselli“ und Johann Konrad Brunner die von ihm 1686 erstmals beschriebenen Brunner-Drüsen als „Pancreas secundarium“ („zweite Bauchspeicheldrüse“). Das Organ fand im Mittelalter kaum Beachtung. Jean François Fernel, der 1554 verschiedene Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse (zum Beispiel Scirrhi) nennt, hielt die Bauchspeicheldrüse für den Sitz der Melancholie, Hypochondrie und einen Hort für wiederkehrendes Fieber.
Jacopo Berengario da Carpi (1470–1550), der das erste gedruckte Anatomie-Lehrbuch herausgab, beschrieb die Bauchspeicheldrüse als sekretorische Drüse, ohne aber ihren Ausführungsgang zu erwähnen. Die älteste erhaltene Zeichnung der Bauchspeicheldrüse stammt von Bartolomeo Eustachi, dessen anatomische Tafeln aber erst 1714 von Giovanni Maria Lancisi publiziert wurden. In den detailreichen Zeichnungen Leonardo da Vincis ist das Organ nicht dargestellt, vermutlich wurde es bei den Sektionen zuvor mit dem Gekröse entfernt. Andreas Vesalius, der eine Renaissance der Anatomie einleitete, fertigte präzise anatomische Zeichnungen an und beschrieb erstmals die präzise Topografie des Organs. Er hielt die Bauchspeicheldrüse allerdings lediglich für ein Kissen des Magens.Einen im Rahmen einer Sektion gefundenen Pankreasabszess (Abszess der Bauchspeicheldrüse) beschrieb 1609 der Mediziner Johann Georg Schenck von Grafenberg. Im Jahre 1642 beschrieb Johann Georg Wirsung den von ihm entdeckten Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse, konnte aber seine Funktion nicht deuten. Wirsung fertigte einen Kupferstich der Bauchspeicheldrüse und des Ganges an und schickte Drucke an zahlreiche Anatomen, mit der Bitte um Hilfe bei der Interpretation seiner Funktion. Diese gelangte über Umwege auch an Thomas Bartholin, der in einem Brief an seinen Schwager Ole Worm den Gang als Ausführungsgang eines Pankreassekretes interpretierte und 10 Jahre nach Wirsung eine noch detailreichere Zeichnung von Bauchspeicheldrüse und ihrem Gang anfertigte. Obwohl die zahlreichen Briefe Wirsungs die Erstautorenschaft seiner Entdeckung untermauern, war es nach eigener Aussage, der seines Sohnes und der Ansicht einiger Medizinhistoriker vielleicht auch Wirsungs Schüler Moritz Hofmann, der den Gang 1641 (ein Jahr vor Wirsung) erstmals bei einem Truthahn fand, obwohl er diese Entdeckung niemals publizierte. Die Entdeckung des zusätzlichen Ausführungsgangs (Ductus pancreaticus accessorius) wird Giovanni Domenico Santorini zugeschrieben, allerdings wurde er bereits 1656 von Thomas Wharton beschrieben. Santorini erkannte aber als Erster, dass dieser zusätzliche Gang keine Fehlbildung, sondern eine „normale“ anatomische Struktur ist. Die ontogenetische Basis, nämlich die Embryologie der Bauchspeicheldrüse, wurde 1812 von Johann Friedrich Meckel d. J. beschrieben. Meckel klärte auch die Entstehung des zweigeteilten Pankreas (Pancreas divisum) auf. Die erste moderne pathologisch-anatomische Darstellung der Bauchspeicheldrüse publizierte 1842 H. J. Claessen. 1875 erfolgte eine Monographie von Nicolaus Friedreich zu den Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse. Im Jahr 1879 entdeckte Albert von Kölliker die beiden Pankreasanlagen. 1711 (erst 1720 publiziert) beschrieb Abraham Vater dann präzise die Anatomie der gemeinsamen Mündung von Gallen- und Bauchspeicheldrüsengang auf der heute nach ihm benannten Papilla Vateri. Bereits 1654 entdeckte Francis Glisson den kleinen Schließmuskel an der Mündungsstelle von Gallen- und Pankreasgang. Ruggero Oddi untersuchte 1887 dessen Existenz vergleichend-anatomisch und deutete ihn auch funktionell präziser, weshalb dieser Schließmuskel heute auch nach Oddi benannt wird (Musculus sphincter Oddi).
Mit der Entdeckung der Pankreasausführungsgänge sowie auch der Ausführungsgänge der Speicheldrüsen Mitte des 17. Jahrhunderts war der Weg zur funktionellen Deutung des exokrinen Anteils geebnet. Nachdem Thomas Bartholin bereits 1651 ein von der Bauchspeicheldrüse in den Darm abgegebenes Sekret vermutete, legte Reinier de Graaf 1664 die erste Pankreasfistel bei einem Hund und war so in der Lage, erstmals das Sekret aufzufangen. Die von De Graaf gefundenen Ähnlichkeiten der Speicheldrüsen- und Pankreasgänge inspirierten 1796 Samuel Thomas von Soemmerring zur Prägung der noch heute üblichen deutschen Bezeichnung „Bauchspeicheldrüse“. 1669 verarbeitete Marcello Malpighi diese Erkenntnisse in seinem Buch und schloss, dass das Sekret den Nahrungsbrei im Darm chemisch verändert – die Spaltung der Nahrungsbestandteile durch Pankreasenzyme war postuliert.Ende des 17. Jahrhunderts führte Johann Konrad Brunner bei Hunden Operationen mit Teilentfernung der Bauchspeicheldrüse und Abbinden der Ausführungsgänge durch. Er schloss aus seinen Experimenten allerdings, dass das Organ scheinbar keine essentielle Funktion bei der Verdauung hat. Leopold Gmelin und Friedrich Tiedemann erkannten 1826, dass der Pankreassaft den Nahrungsbrei in eine vom Darm aufnehmbare Form verändert. Allerdings vermuteten sie, dass Speichel die Proteine und Pankreassaft die Stärke spaltet. Wenig später erkannte Johann Eberle die stärkespaltende und Fette emulgierende Eigenschaft des Pankreassaftes. Im Jahre 1838, vier Jahre später, wies Jan Evangelista Purkyně mit Samuel Moritz Pappenheim nach, dass Fette nicht nur emulgiert, sondern gespalten werden, wenn sie mit Galle und Pankreassaft versetzt werden. Im Jahr 1844 hatten Gabriel Gustav Valentin und Apollinaire Bouchardat unabhängig voneinander die eiweißspaltende (diastatische) Wirkung des Sekrets des Pankreassaftes entdeckt. Diese Arbeiten waren Ausgangspunkt der umfangreichen Forschung von Claude Bernard, dem „Vater der Pankreas-Physiologie“. Im Jahre 1846 entdeckte er die Pankreaslipase und erkannte, dass Pankreassaft Stärke, Fette und Eiweiße in kleinere Moleküle spalten kann. Die proteinspaltende Komponente Trypsin wurde erstmals 1862 von Alexander Danilewski isoliert und 1867 von Wilhelm Kühne in einem verbesserten Verfahren nahezu in Reinform extrahiert. Iwan Pawlow und seine Schüler führten Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Experimente zur Steuerung der Bildung des Pankreassaftes, insbesondere durch den Nervus vagus durch. Pawlows Schüler Nikolai Schepowalnikow entdeckte 1899, dass Trypsin erst durch den Inhalt des Zwölffingerdarms aktiviert wird und damit die Enteropeptidase. William Bayliss und sein Schwager Ernest Starling fanden bei ihren Pankreas-Experimenten 1902 das erste Hormon überhaupt, das die Bauchspeicheldrüse anregende Sekretin. 1928/1929 entdeckten Andrew Conway Ivy und Eric Oldberg das zweite auf die Bauchspeicheldrüsensekretion wirkende Enterohormon, das Cholecystokinin, während die übrigen erst in den 1970er Jahren nachgewiesen wurden.
Mit der Verbesserung der Lichtmikroskope und der mikroskopischen Techniken im 19. Jahrhundert waren auch die technischen Voraussetzungen zur Erforschung des Feinbaus gegeben. Die erste histologische Beschreibung des Feinbaus des exokrinen Teils legte Moyse in seiner Dissertation 1852 vor, in der er auch erstmals die Acini beschrieb. 1869 entdeckte der deutsche Pathologe Paul Langerhans die später nach ihm als Langerhans-Inseln benannten endokrinen Zellverbände in der Bauchspeicheldrüse, konnte ihre Funktion aber nicht deuten.
Im Jahre 1880 erkannte Étienne Lancereaux, dass die seit dem Altertum bekannte Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) definitiv mit Veränderungen der Bauchspeicheldrüse in Beziehung steht. Im Jahre 1889 lösten Oskar Minkowski und Josef von Mering durch die Entfernung der Bauchspeicheldrüse bei Hunden einen Diabetes (die Zuckerkrankheit) aus, doch erst der Russe Leonid Sobolew erkannte 1900 die direkte Beziehung zu den Langerhans-Inseln, eine Beobachtung, die 1909 durch William George MacCallum experimentell bestätigt wurde. Georg Ludwig Zülzer unternahm 1904 bis 1908 zahlreiche Versuche zur Behandlung von Diabetes mellitus mittels Pankreasextrakten. Obwohl er eine Verbesserung der Symptome der Zuckerkrankheit erzielte, brach er aufgrund der starken Nebenwirkungen seine Versuche ab. Einen wertvollen Beitrag zur Diagnostik und Therapie von Pankreaserkrankungen und zum Zusammenhang mit Fettstoffwechselstörungen verfassten 1905 Fritz König und Theodor Brugsch am Krankenhaus von Altona. Michael Lane konnte anhand unterschiedlicher Fixierungen 1907 erstmals zwei Zelltypen (α- und β-Zellen) unterscheiden, δ-Zellen wurden von William Bloom 1931 entdeckt. György Gömöri entwickelte zwischen 1938 und 1950 die Färbeverfahren zur Zelldifferenzierung entscheidend weiter. Sie verloren erst mit dem Aufkommen immunhistochemischer Färbemethoden ab 1976 an Bedeutung.Frederick G. Banting und Charles H. Best gelten als die Entdecker des Insulins. Sie isolierten es 1921 aus Bauchspeicheldrüsen von Hunden und setzten es 1922 erfolgreich zur Behandlung eines zuckerkranken Jungen ein. Der Rumäne Nicolae Paulescu hatte zwar bereits 1916 ein insulinwirksames Extrakt aus Pankreasgewebe hergestellt und sich das Verfahren 1922 patentieren lassen, es jedoch nur bei Hunden eingesetzt. Im Jahre 1923 entdeckten Charles P. Kimball und John R. Murlin bei Extraktionsversuchen ein weiteres Hormon, das Glucagon. Das Vasoaktive intestinale Polypeptid wurde erstmals 1966 von Jerry D. Gardner und James J. Cerda aus einem Pankreastumor isoliert, Somatostatin in der Bauchspeicheldrüse erst 1977 aus Inselzelltumoren. Zu den bedeutenden Pankreaschirurgen des 20. Jahrhunderts zählt unter anderem Karl Vossschulte.
== Pankreaschirurgie ==
Im Jahr 1883 begründete Carl Gussenbauer die Pankreaschirugie. Werner Körte publizierte 1898 grundlegende Arbeiten zur Chirurgie der Bauchspeicheldrüse. Der erste operative Heileingriff an der Bauchspeicheldrüse wurde 1904 von Erwin Payr durchgeführt. Methoden der um 1900 entwickelten operativen Entfernung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatektomie) reichen je nach Ausdehnung einer Pankreaserkrankung von der subtotalen Pankreatektomie über die Hemipankreatektomie bis zur Duodenopankreatektomie bzw. Totalpankreatektomie. Eine Pankreasschwanzresektion schlug Pierre Mallet-Guy 1936 (bei linksseitiger chronischer Pankreatitis) vor. (Mallet-Guy führte zur Behandlung von bestimmten Fällen der schmerzhaften chronischen Pankreatitis auch 1950 die linksseitige subdiaphragmale Splanchnektomie (Durchtrennung eines Eingeweidenerven) mit Resektion des Ganglion semilunare ein).
== Literatur ==
Hans-Gunther Beger u. a.: The Pancreas: An Integrated Textbook of Basic Science, Medicine, and Surgery. 2. Auflage. John Wiley & Sons, New York City 2009, ISBN 978-1-4443-0013-0 (englisch).
Markus W. Büchler u. a.: Pankreaserkrankungen. Akute Pankreatitis, Chronische Pankreatitis, Tumore des Pankreas. 2. Auflage. Karger, Basel 2004, ISBN 3-8055-7460-6.
Detlev Drenckhahn (Hrsg.): Zellen- und Gewebelehre, Entwicklungslehre, Skelett- und Muskelsystem, Atemsystem, Verdauungssystem, Harn- und Genitalsystem. 16. Auflage. Urban & Fischer, München 2003, ISBN 3-437-42340-1.
K. Heinkel, H. Schön: Pathogenese, Diagnostik, Klinik und Therapie der Erkrankungen des exokrinen Pankreas. Schattauer, Stuttgart 1964.
Walter Hess: Die chirurgische Behandlung der Pankreaserkrankungen. Enke, Stuttgart 1954.
Walter Hess: Die Erkrankungen der Gallenwege und des Pankreas. Thieme, Stuttgart 1961.
John Malone Howard, Walter Hess: History of the Pancreas: Mysteries of a Hidden Organ. Springer, 2002, ISBN 0-306-46742-9 (englisch).
Benedikt Ignatzek: Pankreaserkrankungen. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1094 f.
Rudolf Nissen: Der chirurgische Eingriff am Pankreas. In: Der Internist. Band 2, 1961, S. 343 ff.
Franz-Viktor Salomon: Anatomie für die Tiermedizin. 2. Auflage. Enke, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-1075-1, S. 321–323.
K. Zimmermann: Bauchspeicheldrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 89–106.
== Weblinks ==
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Bauchspeicheldr%C3%BCse |
Hoden | = Hoden =
Der Hoden [ˈhoːdn̩] oder (seltener) der oder die Hode [ˈhoːdə] (über mittelhochdeutsch hōde und althochdeutsch hodo von indogermanisch *skeu(t)- „bedecken, verhüllen“) oder der Testikel (von lateinisch testiculus, Verkleinerungsform von testis „Zeuge [der Virilität], Hode“, Plural: testes; altgriechisch ὄρχις orchis), fachsprachlich auch Testis und Testiculus, ist ein paarig angelegtes, inneres männliches Geschlechtsorgan vieler sich geschlechtlich fortpflanzender Gewebetiere. Er gehört, wie der Eierstock der weiblichen Individuen, zu den Keimdrüsen (Gonaden) und produziert die Samenfäden (Spermien). Zudem werden im Hoden männliche Geschlechtshormone (Androgene), vor allem das Testosteron, gebildet. Die Hoden entstehen bei Wirbeltieren embryonal in der Bauchhöhle, wandern aber bei den meisten Säugetieren in den Hodensack (das Scrotum).
== Anatomie ==
=== Säugetiere ===
==== Größe und Lage ====
Der menschliche Hoden ist etwa pflaumenförmig, wiegt etwa 20 Gramm und hat ein mittleres Volumen von 20–25 ml. Die mittlere Länge beträgt 5 cm, die Dicke etwa 3 cm. Die Hoden entwickeln sich erst in der Pubertät zu ihrer vollen Größe und erreichen im 4. Lebensjahrzehnt ihre Maximalgröße. Im Alter nimmt die Hodengröße wieder ab. Das Hodenvolumen gibt unter anderem Aufschluss über den funktionellen Zustand des Hodens. Liegt das Hodenvolumen unterhalb von 8 ml, ist davon auszugehen, dass die Spermienproduktion nur eingeschränkt oder gar nicht funktioniert. Testosteron wird dagegen teilweise noch bis zu einem Volumen von 1,5 ml produziert; darunter ist der Hoden in der Regel funktionslos.
Bei den Säugetieren variiert die Hodenform von rundlich bis eiförmig. In der Größe gibt es deutliche Unterschiede, eine enge Beziehung zum Körpergewicht besteht jedoch nicht. Die größten Hoden in der Tierwelt besitzen Südkaper, sie machen mit je 500 kg 2 % des Körpergewichts aus. Relativ große Hoden haben Nagetiere, Schafe (bis zu je 300 g) und Hausschweine (bis zu je 750 g), relativ kleine dagegen die Raubtiere. Bei Tieren mit einer jahreszeitlichen Periodik in der Fortpflanzung unterliegt die Hodengröße darüber hinaus saisonalen Schwankungen, die Hoden sind in der Paarungszeit deutlich größer als in der Paarungsruhe.
Bei den meisten Säugetieren liegen beide Hoden bei geschlechtsreifen Individuen im Hodensack (Scrotum) oder in hodensackähnlichen Hauttaschen. Die Hoden entstehen zwar in der Bauchhöhle, wandern aber etwa zum Geburtszeitpunkt, bei Nagetieren erst zur Pubertät, durch den Leistenkanal in den Hodensack. Dieser Vorgang wird als Hodenabstieg (Descensus testis) bezeichnet. Bei einigen Säugetieren (beispielsweise Hamster, Fledermäuse) findet ein saisonaler Hodenabstieg statt, und die Hoden liegen nur zur Paarungszeit außerhalb der Bauchhöhle. Innerhalb der Säugetiere gibt es allerdings einige Tiergruppen, bei denen die Hoden generell in der Bauchhöhle verbleiben, die sogenannten Testiconda. Dabei können die Hoden am Ort der Anlage verbleiben (wie bei Elefanten) oder zwar absteigen, aber dennoch in der Bauchhöhle verweilen (beispielsweise bei Walen, s. a. Tabelle).
==== Anatomischer Aufbau ====
Die äußere anatomische Gliederung des Hodens erfolgt nach dem ihm anliegenden und mit ihm verwachsenen Nebenhoden. Der zum Nebenhodenkopf zeigende Hodenabschnitt wird als Kopfende (Extremitas capitata), der zum Nebenhodenschwanz zeigende als Schwanzende (Extremitas caudata) bezeichnet. Am Schwanzende befindet sich häufig ein funktionsloses, warzenförmiges Rudiment des sogenannten Müller-Ganges, das als Hodenanhang (Appendix testis, eine Morgagni-Hydatide) bezeichnet wird. Der zum Nebenhoden zeigende Rand ist der Nebenhodenrand (Margo epididymalis), ihm gegenüber liegt der freie Rand (Margo liber). Außerdem lassen sich eine zur Mitte zeigende (Facies medialis) und eine nach außen zeigende Fläche (Facies lateralis) unterscheiden.
Der Hodenabstieg erfolgt in eine Aussackung des Bauchfells und der inneren Rumpffaszie (hier als Fascia spermatica interna bezeichnet), den Scheidenhautfortsatz (Processus vaginalis). Der Scheidenhautfortsatz gehört zu den Hodenhüllen im Inneren des Hodensacks. Der Bauchfellanteil dieser Ausstülpung wird als Scheidenhaut (Tunica vaginalis testis) bezeichnet. Sie kleidet dabei das Hodensackinnere aus (sogenanntes Wandblatt, Lamina parietalis oder Periorchium), stülpt sich dann als Doppellamelle ins Innere und überzieht als Eingeweideblatt (Lamina visceralis oder Epiorchium) den Hoden. Zwischen den beiden Blättern befindet sich ein sehr enger Spaltraum, das Cavum vaginale, das die Verschieblichkeit des Hodens im Hodensack sicherstellt. Die Verbindungsstelle zwischen den beiden Blättern ist das Hodengekröse (Mesorchium), welches der Befestigung des Hodens im Hodensack dient. Der Hoden ist außerdem am Schwanzende mit einem kurzen Band mit dem Nebenhoden verbunden (Hodeneigenband, Ligamentum testis proprium). Dieses setzt sich vom Nebenhodenschwanz als Nebenhodenschwanzband (Ligamentum caudae epididymidis) fort und befestigt den Hoden zusätzlich indirekt am Boden des Hodensacks. Am Scheidenhautfortsatz setzt auch der Hodenhebermuskel (Musculus cremaster) an, der als Schutzvorrichtung den Hoden bei Berührung oder Kälte näher an die Bauchwand zieht. Bei Nagetieren und Säugetieren mit saisonalem Hodenabstieg, selten auch bei einzelnen Individuen anderer Säugetiere, kann der Muskel den Hoden gänzlich in die Bauchhöhle zurückziehen („Pendelhoden“).
Im Bindegewebe der männlichen Genitalien befindet sich eine Muskelschicht, die sogenannte Tunica dartos. Deren tonische Kontraktion sorgt für die „typische Kräuselung der Haut des Hodensacks und unterstützt das Heben der Hoden.“ Die zwei Hoden hängen zudem nicht auf gleicher Höhe, damit sie nicht so leicht gequetscht werden.Direkt unter dem Bauchfellüberzug des Hodens liegt eine dicke weißliche Bindegewebskapsel, die Tunica albuginea. Sie sorgt für die mechanische Festigkeit des Organs und hält einen gewissen Innendruck aufrecht. Von dieser Kapsel ziehen Septen in das Innere und unterteilen den Hoden in Hodenläppchen (Lobuli testis). Der Hoden des Mannes besitzt etwa 350 Hodenläppchen. Die Septen bilden zudem einen Bindegewebskörper, das Mediastinum testis, das in der Humananatomie auch Corpus Highmori genannt wird.
==== Gefäße und Nerven ====
Die Blutversorgung des Hodens erfolgt über die Hodenarterie (Arteria testicularis). Sie entspringt, entsprechend dem Ort der embryonalen Anlage des Hodens (s. u.), unmittelbar hinter der Nierenarterie direkt aus der Bauchaorta im Lendenbereich. Bei den Tieren mit Hodenabstieg muss sich die Hodenarterie entsprechend verlängern und verläuft an der rückenseitigen Bauchwand entlang, in einem kurzen Gekröse (Mesorchium proximale) zum Leistenkanal. Außerhalb der Bauchhöhle tritt sie in den Samenstrang. Hier legt sie sich in enge spiralige Windungen, das sogenannte Rankenkonvolut. Dabei ist beispielsweise beim Bullen ein zwei Meter langer Arterienabschnitt auf einer Samenstranglänge von 13 cm untergebracht. Das Rankenkonvolut ist vom Rankengeflecht (Plexus pampiniformis) der Hodenvene (Vena testicularis) umsponnen. Hierdurch entsteht eine große Kontaktfläche zwischen zu- und abführendem Blut, die als Wärmeübertrager fungiert. Im Hodensack liegt die Temperatur wenige Grad unter der Körperinnentemperatur, was für die Bildung fruchtbarer Spermien bei Säugetieren mit Hodenabstieg unerlässlich ist. Das ankommende Blut in der Arterie wird durch diese Anordnung vom abfließenden Blut der Vene heruntergekühlt.
Die Hodenarterie verläuft am Nebenhodenrand zunächst zum Schwanzende des Hodens. Von dort zieht sie innerhalb der Hodenkapsel am freien Rand bei den meisten Säugetieren (eine Ausnahme machen beispielsweise Wiederkäuer) wieder zum Kopfende. Ihre Aufzweigungen verlaufen geschlängelt in der Tunica albuginea über die Seitenflächen und treten über die Hodensepten ins Innere zum Mediastinum testis und von dort wieder zentrifugal zurück zu den Samenkanälchen, um die sie ein Kapillarnetz bilden.
Die Innervation des Hodens wird durch den Sympathikus, einen Teil des vegetativen Nervensystems, vermittelt. Die Nervenfasern kommen aus dem Grenzstrang des Lendenbereichs und ziehen, die Hodenarterie geflechtartig umspinnend (Plexus testicularis, Synonym: Nervus spermaticus superior), zum Hoden. Eine zweite Gruppe von Nervenfasern verläuft von Kreuzganglien des Grenzstrangs mit dem Samenleiter (Ductus deferens) zum Hoden (Plexus deferentialis, Syn. Nervus spermaticus inferior). Die efferenten Nervenfasern treten vor allem an die Blutgefäße und regulieren damit die Durchblutung und die Temperatur des Hodens. Eine Beteiligung an der Feinsteuerung der Spermienbildung, dem Spermientransport und der Hormonproduktion im Hoden einiger Säugetiere wird derzeit diskutiert, primär erfolgt diese Steuerung aber über Hormone. Die Zellkörper jener Nervenfasern, die Informationen zum Zentralnervensystem leiten (Visceroafferenzen), liegen in den Spinalganglien des Lendenbereichs. Sie übermitteln Schmerzempfindungen (Eingeweideschmerz), allerdings wird ein Großteil der hohen Schmerzempfindlichkeit des Hodens über die sensiblen Nervenfasern der Hodenhüllen (Äste des Nervus genitofemoralis) vermittelt. Die hohe Sensitivität gegenüber Berührungsreizen macht Hoden und Hodensack zu einer erogenen Zone. Andererseits wird die große Schmerzempfindlichkeit auch bei BDSM (cock and ball torture) und Folterungen ausgenutzt; Hodenquetschungen können zu einem Schock führen. Eine Neuralgie des Nervus genitofemoralis, die zum Beispiel nach chirurgischer Korrektur eines Leistenbruchs auftreten kann, äußert sich in Hodenschmerzen.Die Lymphgefäße des Hodens verlaufen zusammen mit den Hodenvenen zu den Lendenlymphknoten (Lymphonodi lumbales) rückenwärts der Aorta, bei Haussäugetieren auch zu den Darmbeinlymphknoten (Lymphonodi iliaci mediales) an der Aortenaufzweigung. In diesen, im Retroperitonäum des Bauchs liegenden Lymphknoten können bei Hodenkrebs Metastasen auftreten.
=== Übrige Chordatiere ===
Bei allen anderen Chordatieren liegen die Hoden in der Leibeshöhle und unterhalb der Nieren.
Bei den Schädellosen ist kein kompakter Hoden ausgebildet, die Gonaden sind noch segmental gegliedert, bei Asymmetron ist nur der rechte Hoden vorhanden. Bei Schleimaalen ist der langgestreckte Hoden ebenfalls nur einseitig in Form eines gelappten Bandes ausgebildet. Die Rundmäuler haben paarige Hoden, die über die gesamte Länge der Leibeshöhle reichen.
Innerhalb der Knorpelfische entwickelt sich nur beim Kragenhai, dem anatomisch und morphologisch urtümlichsten Hai, die gesamte Hodenanlage zur langgestreckten Keimdrüse, bei den übrigen Vertretern, wie bei den anderen Wirbeltieren, nur deren Mittelabschnitt (s. u.). Bei den Echten Haien sind die Hoden ebenfalls länglich, bei den Rochen kurz und platt. Bei Dornhaien und Zitterrochen liegen die Hoden weit vorn, nahe dem Herzbeutel, sonst im mittleren oder hinteren Rumpfabschnitt. Bei den meisten Knochenfischen sind die Hoden langgestreckt. Bei den Echten Knochenfischen liegen sie unterhalb der Nieren und der Schwimmblase und sind über ein Mesorchium befestigt. Bei einigen Barschartigen sind beide Hoden am hinteren Ende miteinander verschmolzen. Die dünne Tunica albuginea ist bei Knochenfischen gelegentlich pigmentiert. In den Hoden von Fischen kann gleichzeitig Eierstockgewebe auftreten (Zwittergonade, Ovotestis). Sägebarsche und Meerbrassen sind Hermaphroditen, besitzen also sowohl Hoden als auch Eierstöcke und können im Laufe ihres Lebens das Geschlecht wechseln.
Amphibien haben entweder längliche (Schwanzlurche, Schleichenlurche) oder rundliche (Froschlurche) Hoden. Sie sind über ein Mesorchium an der Rumpfwand oder der Urniere befestigt. Medial (in Richtung Medianebene) des Hodens ist ein deutlicher Fettkörper ausgebildet. Bei Salamandern sind mehrere Hodenabteilungen zu einem Lappen verschmolzen, die Anzahl der Abteilungen nimmt im Alter zu. Bei Amphibien zeigt sich die beginnende Trennung von Harn- und Samenweg. Die Nebenhodengänge (Ductuli epididymidis) münden erst kurz vor der Kloake in den Wolff-Gang. Männliche Kröten sind Hermaphroditen. Vor den Hoden liegt das sich aus der vorderen Gonadenanlage entwickelnde Bidder-Organ, ein primitiver Eierstock.Bei den Reptilien liegen die Hoden vor und unterhalb der Nieren in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Nebennieren. Die Hoden sind oval, bei Schildkröten eher rundlich, bei Schlangen langgestreckt. Die Nebenhoden liegen medial (zur Körpermitte hin) des jeweiligen Hodens. Das Bindegewebsgerüst des Hodens ist schwach entwickelt.
Auch bei den Vögeln liegen die Hoden vor den Nieren an den Nebennieren. Im Gegensatz zum Eierstock, der bei Vögeln nur einseitig ausgebildet wird, sind die Hoden stets paarig. Die Hodengröße weist die stärksten jahreszeitlichen Schwankungen innerhalb der Wirbeltiere auf, sie nimmt beispielsweise bei Sperlingsvögeln in der Paarungszeit um bis das 800-fache zu und zur Paarungsruhe wieder ab. Bei einem Hauserpel sind die Hoden in der Paarungszeit etwa 8 cm lang und 4,5 cm breit. Das Bindegewebsgerüst des Hodens ist bei Vögeln nur gering entwickelt, die Tunica albuginea ist dünn, ein Mediastinum testis fehlt. Die endoskopische Betrachtung des Hodens spielte früher eine große Rolle zur Geschlechtsbestimmung bei Arten, die keinen Sexualdimorphismus zeigen, ist heute aber weitestgehend durch molekularbiologische Methoden ersetzt.
=== Wirbellose ===
Innerhalb der Nesseltiere gibt es ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflanzung. Bei geschlechtlicher Fortpflanzung werden die Keimzellen durch Platzen des Epithels in das umgebende Wasser oder den Gastralraum entlassen. Rippenquallen sind generell Zwitter und haben unter den kammartigen Plättchen („Rippen“) sitzende, in die Mesogloea eingelagerte Hoden und Eierstöcke.
==== Urmünder (Protostomia) ====
Die meisten Plattwürmer (Plathelminthes) sind Zwitter. Sie besitzen keine Leibeshöhle (Coelom), die Hoden liegen den Eierstöcken benachbart in einem Bindegewebsraum (Interstitium) innerhalb des Tieres, bei Bandwürmern innerhalb eines jeden Bandwurmgliedes (Proglottide). Einige Plattwürmer (Catenulida und Acoelomorpha) besitzen keine Gonaden. Auch Bauchhärlinge (Gastrotricha) haben kein Coelom, die Süßwasserarten vermehren sich ungeschlechtlich über Jungfernzeugung. Die Salzwasservertreter sind Zwitter, funktionell sind aber nur die Gonaden eines Geschlechts aktiv. Die Abgabe der Keimzellen erfolgt über Spermienhaufen. Rädertierchen (Rotatoria) haben ein Pseudocoelom mit einem paarigen oder unpaaren Hoden, bei einigen Arten kommen sogenannte Zwergmännchen vor, bei anderen keine Männchen, die Vermehrung erfolgt dann über Jungfernzeugung. Cycliophora vermehren sich im sogenannten Fressstadium ungeschlechtlich. Bei der geschlechtlichen Vermehrung kommen Zwergmännchen vor. Sie besitzen zwei externe „Hoden“ und ein Kopulationsorgan neben der Haftscheibe. Bei Kratzwürmern (Acanthocephala) zieht ein sogenanntes Genitalband durch den Körper, an dessen unterem Drittel die beiden Hoden sitzen. Von den Hoden zieht je ein Samenleiter zum Penis.
Priapswürmer (Priapulida) und Korsetttierchen (Loricifera) haben paarige Hoden, die mit den Protonephridien zu einem Harn- und Geschlechtsapparat vereinigt sind. Bei Fadenwürmern (Nematoda) gibt es sowohl getrenntgeschlechtliche Arten als auch Zwitter. Der langgestreckte Hoden liegt unterhalb des Darms und mündet auch in diesen (s. Abb.). Saitenwürmer (Nematomorpha) haben paarige Hoden im Pseudocoelom. Bärtierchen (Tardigrada) sind getrenntgeschlechtlich. Während die Leibeshöhle ein Pseudocoelom darstellt, gibt es um den unpaaren Hoden ein echtes Coelom. Stummelfüßer (Onychophora) besitzen paarige Hoden, die über Ausführungsgänge in einen gemeinsamen Samenleiter münden. Bei den Gliederfüßern (Arthropoda: Tausendfüßer, Insekten, Krebstiere und Cheliceraten) besitzen Männchen paarige Hoden im blutgefüllten Pseudocoel (Haemocoel) des Hinterleibs bzw. der hinteren Rumpfsegmente. Bei einigen Gliederfüßern kommen auch Zwitter vor.
Die Ringelwürmer haben paarige Hoden. Gürtelwürmer sind zumeist Zwitter, befruchten sich aber gegenseitig. Die Hoden liegen im Coelom, bei Regenwürmern im 10. und 11. Körpersegment und der Samenleiter mündet im 15. Segment nach außen. Vielborster sind dagegen zumeist eingeschlechtlich und männliche Vertreter besitzen in jedem Körpersegment Hoden. Bei Weichtieren (Mollusca) kommen Zwitter, Zwittergonaden (Ovotestis) und getrenntgeschlechtliche Formen vor. Das Coelom ist auf zwei Hohlräume um die Gonaden (Gonadocoel) und um das dahinterliegende Herz (Perikard) reduziert. Bei Armfüßern (Brachiopoda) liegen die Hoden im Coelom (genauer im Metacoel), die Gameten werden über die Metanephridien abgeleitet.
==== Neumünder (Deuterostomia) ====
Innerhalb der Stachelhäuter (Echinodermata) haben Seewalzen nur einen Hoden, bei Seeigeln und Seewalzen füllen die Hoden nahezu das gesamte Metacoel aus, bei den Seelilien (drei bis fünf Gonaden) und Seesternen (zwei pro Arm) liegen sie in den Armen und münden zwischen diesen Armen mit jeweils einer Geschlechtsöffnung.
== Feinbau und Funktion bei Wirbeltieren ==
Die Hodenläppchen enthalten jeweils zwei bis vier gewundene Samenkanälchen (Tubuli seminiferi contorti s. convoluti), die das Hodenparenchym darstellen. Sie sind etwa 50 bis 80 cm lang und haben einen Durchmesser von 150 bis 300 µm. Ihre Wand besteht aus einer Bindegewebshülle mit kontraktionsfähigen Myofibroblasten, einer Basalmembran und dem Keimepithel (Epithelium spermatogenicum).
Dieses Epithel besteht aus Samen- oder Keimzellen (Cellulae spermatogenicae) und Sertoli-Zellen. Aus den Keimzellen bilden sich die Spermien (Spermatogenese). Da die Spermatogenese die wichtigste Aufgabe des Hodens darstellt, sind die Keimzellen auch mengenmäßig am häufigsten im Hoden vorhanden. Bei der Spermienbildung werden die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien der Keimzellen (Spermatogonien → Spermatozyten → Spermatiden → Spermien) allmählich in Richtung Lumen transportiert. Die Spermienbildung dauert zwischen 35 (Maus, Schwein) und 64 Tagen (Mensch), anschließend ist aber eine weitere Reifung in den Nebenhoden notwendig, damit die Spermien befruchtungsfähig werden. Diese dauert bei den meisten Säugetieren eine Woche, beim Menschen 8 bis 17 Tage. Pro Ejakulation werden beim Mann etwa 200 bis 300 Millionen Spermien aus dem Nebenhoden freigesetzt. Bei häufigerer Ejakulation sinkt die Spermienmenge, da die tägliche Spermienbildungskapazität begrenzt ist. Sie ist abhängig von der Hodenmasse und der Zahl der Sertoli-Zellen und beträgt beim Mann zwischen 45 und 200 Millionen Spermien pro Tag.Die zweite wichtige Komponente der Samenkanälchen sind die Sertoli-Zellen (Epitheliocyti sustentantes). Sie sind etwa 70 bis 80 µm lang und durchziehen radiär das gesamte Keimepithel bis zum Lumen. Die Sertoli-Zellen haben eine Stütz- und Ammenfunktion für die Samenzellen, sie ernähren die Samenzellen, sorgen für ihre richtige hormonelle Umgebung und bewerkstelligen über Plasmabewegungen deren Transport zum Lumen. Zudem phagozytieren die Sertolizellen degenerierte Samenzellen und Zellreste, die bei der Spermienentwicklung entstehen. Die Sertoli-Zellen werden durch das follikelstimulierende Hormon (FSH) der Hypophyse gesteuert, dessen Ausschüttung sie über die Bildung des Hormons Inhibin B beeinflussen. Zudem sezernieren sie das Androgenbindungsprotein, das Anti-Müller-Hormon und eine Kalium-reiche Seminalflüssigkeit.
Die Sertoli-Zellen besitzen zahlreiche Fortsätze, die die Keimzellen umgeben. Diese Zellfortsätze verbinden sich basal im Samenkanälchen über Tight junctions mit denen benachbarter Sertoli-Zellen und bilden so die sogenannte Blut-Hoden-Schranke. Dieser Begriff ist eigentlich irreführend, denn diese Barriere liegt nicht zwischen Blut und Hodengewebe, sondern verläuft zwischen den Spermatogonien und Spermatozyten, teilt also zirkulär die Hodenkanälchen in ein basales und ein zum Lumen gerichtetes (adluminales) Kompartiment. Die Blut-Hoden-Schranke ist für die meisten Eiweiße undurchlässig und schützt die Spermien vor Mutagenen und vor der körpereigenen Abwehr. Letzteres ist notwendig, weil die ersten Spermien erst nach Ende der Prägung der Lymphozyten entstehen (siehe Selbsttoleranz), das Immunsystem sie also für körperfremde Zellen halten würde. Allerdings spielen auch entzündungshemmende Zytokine, deren Ausschüttung vermutlich Androgen-abhängig ist, und die Zellen des Immunsystems im Hoden (dendritische Zellen, Makrophagen) eine Rolle beim Schutz vor Autoimmunreaktionen.Die gewundenen Samenkanälchen gehen bei vielen Wirbeltieren an beiden Enden in ein kurzes gerades Samenkanälchen (Tubulus seminifer rectus) über. Die geraden Kanälchen sind von einem einschichtigen Epithel ausgekleidet und münden in ein Kanälchensystem im Mediastinum, das Hodennetz (Rete testis). Das Kanälchensystem des Hodennetzes ist ebenfalls zumeist von einem einschichtigen Epithel ausgekleidet (bei Rindern zweischichtig). Beim Mann, Hengst und bei Nagetieren liegt das Hodennetz allerdings vorwiegend an der Hodenperipherie („extratestikuläres Rete“). Vom Hodennetz ziehen mehrere geschlängelt verlaufende Ductuli efferentes testis in den Nebenhodenkopf und vereinigen sich dort zum Nebenhodengang. Bei Säugetieren sind es etwa 15 Ductuli efferentes, die Zahl variiert innerhalb der Wirbeltiere zwischen einem (z. B. Rochen) und 32 (z. B. Axolotl).
Das Gewebe zwischen den gewundenen Samenkanälchen wird als Interstitium bezeichnet. Es macht bei den meisten Wirbeltieren etwa 10 bis 20 % des Hodengewebes aus, in Extremfällen wie beim Waldmurmeltier fast 70 %. Im Interstitium finden sich neben Bindegewebe, Blutgefäßen und Nervenfasern auch die Leydig-Zellen (Endocrinocyti interstitiales). Sie bilden über spezielle Zellkontakte (Gap Junctions) untereinander in Verbindung stehende Zellverbände, sogenannte funktionelle Synzytien. Die Leydig-Zellen produzieren, in Abhängigkeit vom luteinisierenden Hormon (LH), männliche Geschlechtshormone (Androgene wie Testosteron und Androstanolon) sowie Oxytozin, welches die Motilität der Samenkanälchen fördert. Der Hoden ist damit auch ein endokrines Organ. Testosteron bewirkt in den Samenkanälchen die Reifung der Spermatiden. Um durch die Blut-Hoden-Schranke an seinen Wirkungsort zu gelangen, benötigt es das Androgenbindungsprotein der Sertoli-Zellen. Die Androgene haben darüber hinaus vielfältige Wirkungen im Körper, unter anderem fördern sie die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, wirken anabol und steuern das Sexualverhalten. Außerdem bilden die Leydig-Zellen zahlreiche weitere hormonell wirksame Peptide, die auf Nachbarzellen (parakrin) oder auf die sie bildende Leydig-Zelle selbst (autokrin) wirken.
== Hormonale Steuerung ==
Die hormonelle Steuerung des Hodens erfolgt durch das stoßweise, von Nervenzellen in der Eminentia mediana im Hypothalamus gebildete Gonadoliberin (GnRH). GnRH wirkt allerdings nicht direkt auf den Hoden, sondern regt die Bildung der Hormone LH und FSH im Hypophysenvorderlappen an. Die Ausschüttung dieser Hormone wird über einen negativen Rückkopplungsmechanismus auch vom Hoden selbst gesteuert: Die FSH-Sekretion wird durch das von den Sertoli-Zellen produzierte Inhibin B, die GnRH-Sekretion durch das von den Leydig-Zellen produzierte Testosteron gehemmt. Die saisonalen Schwankungen der Größe und Aktivität der Hoden bei vielen Tieren werden durch Unterdrückung der GnRH-Sekretion während der Fortpflanzungsruhe unter dem Einfluss der Tageslichtlänge vermittelt. Der genaue Mechanismus ist noch nicht im Detail bekannt: Bei Säugetieren sind vermutlich Opioide, dopaminerge Neurone und Melatonin in diesen Regelkreis involviert, bei Vögeln auch die Hormone der Schilddrüse.
LH bindet an einen Membranrezeptor der Leydig-Zellen und induziert damit die Synthese von Androgenen. Dabei wird Cholesterin schrittweise, unter anderem über Pregnenolon und Progesteron, zu Testosteron umgesetzt, wobei zwei verschiedene Synthesewege (Δ4 und Δ5) möglich sind. Die LH-Wirkung auf die Leydig-Zellen wird durch Prolactin potenziert, bei einer Überproduktion von Prolaktin kommt es jedoch durch Herabregulation der LH-Rezeptoren zu einer Hemmung der Testosteronsynthese. Auch in der Nebennierenrinde kann LH die Bildung von Androgenen induzieren, das dort gebildete Dehydroepiandrosteron gelangt über das Blut in den Hoden und kann dort als Testosteron-Vorläufer genutzt werden. Etwa 97 % der Androgene werden im Hoden gebildet (beim Mann etwa 7 mg/Tag), der verbleibende Teil in den Nebennieren. Androgene wirken auf das Keimepithel und werden, an ein Protein gebunden, über das Blut auch zu ihren anderen Zielorganen transportiert.
FSH bindet an entsprechende Rezeptoren der Sertoli-Zellen. Sowohl FSH als auch das Testosteron steuern die Spermiogenese. FSH leitet die Spermiogenese ein, Testosteron fördert die mitotischen und meiotischen Zellteilungen und damit die Bildung von Spermatozyten aus den Spermatogonien, während FSH wiederum die endgültige Reifung der Spermatiden zu Spermien bewirkt.
Die Unterdrückung der hormonellen Anregung der Hodenfunktion wird auch bei der Entwicklung von Verhütungsmitteln für den Mann gegenwärtig intensiv beforscht. Dabei werden Testosteron oder dessen Kombination mit GnRH-Antagonisten oder Gestagenen wie Progestin gegenwärtig als aussichtsreichste Kandidaten angesehen. Sie führen zu stark erniedrigten Testosteron-Konzentrationen innerhalb des Hodens und damit zu einer starken oder vollständigen Reduzierung der Spermienbildung. In der Tiermedizin ist seit 2008 ein Präparat auf der Basis des GnRH-Analogons Deslorelin (Suprelorin®) zugelassen, das bei Rüden eine mehrmonatige Unterdrückung der Fruchtbarkeit bewirkt. Darüber hinaus ist ein Impfstoff für Schweine (Improvac®) zugelassen, der zu einer Antikörperbildung gegen GnRH führt und damit die Hodenfunktion unterdrückt.
== Entwicklungsgeschichte ==
Voraussetzung der geschlechtlichen Fortpflanzung ist die Trennung der zur Fortpflanzung spezialisierten Zellen (Keimzellen) von den gewöhnlichen Körperzellen (somatische Zellen). Diese Trennung ist bereits bei Wimpertierchen in Form eines Mikronucleus, deutlicher dann bei Kugelalgen vollzogen, wo dem Hauptzellverband der Körperzellen eine kleine Gruppe Keimzellen (Gonidien) gegenübersteht, die allerdings noch nicht in Form eines abgegrenzten Organs ausgebildet ist. Das Vorhandensein von Hoden (oder prinzipiell von Gonaden) ist kein Grundmerkmal der Vielzeller.
Bei den Bilateria treten erstmals ein drittes Keimblatt, das Mesoderm, und damit komplexe Organe auf. Allerdings ist die geschlechtliche Fortpflanzung bei vielen Wirbellosen noch mit der Möglichkeit der ungeschlechtlichen Fortpflanzung kombiniert. Hierbei findet sich häufig ein Generationswechsel, also der sexuelle folgt auf einen asexuellen Fortpflanzungszyklus.
Die Differenzierung der Gonaden in Hoden und Eierstöcke ist Kennzeichen getrenntgeschlechtlicher Arten. Bislang ist nicht geklärt, ob Zwittrigkeit oder Getrenntgeschlechtlichkeit das plesiomorphe Merkmal der Bilateria ist. Beide Keimdrüsen gehen in der Embryonalentwicklung aus derselben Anlage hervor. In vielen Tiergruppen ist trotz dieser vollzogenen Geschlechtertrennung auch Fortpflanzung ohne Befruchtung (Parthenogenese) möglich, die als reduzierte Form der sexuellen Fortpflanzung angesehen werden kann. Hier treten männliche Tiere nur ausnahmsweise auf. Parthenogenese findet man in zahlreichen Taxa, von den Rädertierchen bis hin zu einigen Eidechsen. Bis zu den Amphibien sind auch Zwitterformen oder eine Veränderung des Geschlechts (Dichogamie) während der Ontogenese anzutreffen. Dabei ist sowohl eine Umwandlung der Eierstöcke in Hoden (Proterogynie) als auch der Hoden in Eierstöcke (Proterandrie) möglich.
Ob aus der zunächst geschlechtsindifferenten Anlage der Gonaden ein Hoden oder ein Eierstock entsteht, ist bei den meisten Tieren genetisch determiniert. Bei Würmern und Fliegen ist das Geschlecht durch das Verhältnis von X-Chromosomen und Autosomen festgelegt. Bei staatenbildenden Insekten entstehen Hoden bei Nachwuchs aus unbefruchteten Eiern, Eierstöcke bei Tieren mit diploidem Chromosomensatz, also aus befruchteten Eiern. Bei Säugetieren wird das Geschlecht durch das Y-Chromosom bestimmt. Auf diesem Geschlechtschromosom (Gonosom) ist ein Gen (Sex determining region of Y, Sry) lokalisiert, das mit Genen anderer Chromosomen interagiert und (beim Menschen ab der 7. Woche nach der Befruchtung) zur Bildung des Hoden-determinierenden Faktors führt. Dieser leitet die Entwicklung zum Hoden und damit zum männlichen Geschlecht generell ein. Es codiert eine Reihe von Transkriptionsfaktoren, die sogenannten HMG-Proteine (high mobility group proteins). Diese Proteine haben zahlreiche weitere Funktionen in anderen Geweben, die genauen Mechanismen bei der Hodenentstehung werden gegenwärtig intensiv erforscht. Mit der Expression von Sry differenzieren sich die Sertoli-Zellen, welche unter anderem das Anti-Müller-Hormon bilden und damit die Rückbildung der Müller-Gänge bewirken. Die weitere Entwicklung des Hodens und die der übrigen Merkmale des männlichen Geschlechts wird durch Androgene gesteuert. Bei einigen Tiergruppen wird das Geschlecht dagegen durch Umweltfaktoren bestimmt. So ist bei einigen Amphibien und vielen Reptilien (Schildkröten, Alligatoren) das Geschlecht von der Bebrütungstemperatur abhängig. (Siehe auch Temperaturabhängige Geschlechtsbestimmung)
Bei vielen Tieren entstehen die Gonaden in enger Beziehung zum Exkretionssystem (Urniere, Nephridien), insbesondere die harnableitenden Wege werden als samenableitendes System mitgenutzt, weshalb man bei Wirbeltieren beide Organsysteme als Harn- und Geschlechtsapparat zusammenfasst. Bei den Wirbellosen sind Entstehungsort, Lage und Ausführungsgänge allerdings sehr verschieden ausgebildet, so dass man davon ausgeht, dass die geschlechtliche Fortpflanzung mehrfach und unabhängig voneinander in der Evolution entstanden ist. Die Komplexität des Geschlechtsorgane ist dabei nicht von der Evolutionsstufe abhängig, sie ist beispielsweise bei den Plattwürmern sehr hoch.
=== Embryologie bei Wirbeltieren ===
Hoden und Eierstock entstehen beim Embryo aus derselben Anlage, der sogenannten Genitalleiste. Sie bildet sich im Bereich der Urniere und reicht zunächst vom Thorax bis zur Lende. Bei den meisten Wirbeltieren wird nur der mittlere Teil dieser langgestreckten Anlage zur eigentlichen Keimdrüse, die übrigen Abschnitte entwickeln sich zu den Keimdrüsenbändern. In die Gonadenanlage wandern (beim Menschen in der 6. Embryonalwoche) unter dem Einfluss von Sry die Urkeimzellen aus dem Dottersack ein und das Epithel der primitiven Leibeshöhle (Coelom) wächst fingerartig als sogenannte primäre Keimstränge in die Anlage ein.
Die Keim- oder Hodenstränge dringen in die Gonadenanlage vor und umwachsen die Urkeimzellen. Dabei tritt vorübergehend eine Gliederung der Keimdrüsenanlage in Rinde und Mark auf, wobei sich bei männlichen Embryonen jedoch nur das Mark zum Hoden entwickelt, die Rinde dagegen wieder zurückgebildet wird. Bei genetisch weiblichen Individuen finden ähnliche Vorgänge statt, allerdings später und der Eierstock bildet sich aus der Rinde, während das Mark degeneriert. Die Verbindung der Hodenstränge zur Oberfläche geht schließlich verloren. Aus den Hodensträngen entwickeln sich über die Sry-exprimierenden Prä-Sertoli-Zellen die Sertoli-Zellen, die als Organisatoren der weiteren Hodenentwicklung angesehen werden und dabei mit den myoiden Zellen interagieren. Aus den Urgeschlechtszellen entstehen die Spermatogonien.
Im Inneren bilden die Hodenstränge ein Netz aus untereinander in Verbindung stehenden Strängen, das spätere Hodennetz (Rete testis). Das Hodennetz nimmt Verbindung zu einigen Urnierenkanälchen auf, die damit zu den Ductuli efferentes des Nebenhodenkopfes werden. Der Urnierenausführungsgang (Wolff-Gang) wird als Nebenhodenkanal und Samenleiter ebenfalls zum samenableitenden Weg umfunktioniert. Das Lumen der Samenkanälchen entsteht jedoch erst zur Pubertät, bei Amphibien nach der Metamorphose, bis dahin sind die Hodenstränge solide.
Aus dem mesodermalen Anteil der Hodenanlage entstehen die Tunica albuginea, das Bindegewebsgerüst des Hodens und die Leydig-Zellen. Die Leydig-Zellen sind ebenfalls bereits in der frühen Hodenentwicklung anzutreffen, sie exprimieren den Steroidogenic factor 1 (Sf1), und ihre Testosteronproduktion bestimmt maßgeblich die Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane.
=== Alterung ===
Beim Mann findet – im Gegensatz zur Frau (siehe Menopause) – kein plötzliches Aussetzen der Funktion der Keimdrüsen in einem definierten Lebensalter statt. Sowohl die Hormonproduktion als auch die Reifung der Keimzellen sind potentiell bis ins hohe Alter erhalten. Tatsächlich sind bis in die zehnte Lebensdekade Vaterschaften belegt. In der Realität bestehen jedoch ausgeprägte individuelle Unterschiede und viele Männer werden früher oder später infertil, was nicht mit Impotenz verwechselt werden darf. Die genauen Ursachen für diese Unterschiede sind im Einzelnen unbekannt, vermutet werden unter anderem vaskuläre Faktoren. Statistisch betrachtet kommt es etwa ab der vierten Lebensdekade zur sehr langsam voranschreitenden Involution des Hodens mit Abnahme von Gewicht, Größe und Spermienproduktion. Für den Einzelnen sind jedoch kaum Vorhersagen zu treffen.
Auch die strukturellen Veränderungen unterliegen demzufolge einer großen Bandbreite, als typisch kann jedoch ein Mischbild von normalen und deutlich atrophischen Hodenkanälchen angesehen werden. Ein bei manchen Männern zu beobachtender deutlicher Abfall der Testosteronproduktion kann zu einem Climacterium virile mit Hitzewallungen, Kopfschmerz und weiteren Symptomen führen.
== Erforschungsgeschichte ==
Der Hoden galt in Antike und Mittelalter nur als Durchgangsstation für den Samen. Alkmaion von Kroton (frühes 5. Jahrhundert v. Chr.) vermutete das Gehirn als Ursprung des Samens, der über Blutgefäße zu den Hoden gelange. Die Atomisten (Anaxagoras, Demokrit) und Aristoteles bezogen das Rückenmark in diesen Weg ein, Galenus (125–199) vermutete den Ursprung der Samenzellen in den Blutgefäßen, über welche sie in den Hoden gelangen. Diese Vorstellungen blieben bis ins Mittelalter erhalten. Die anatomischen Zeichnungen Leonardo da Vincis zeigen Verbindungen des Hodens zu Lunge und Gehirn, weil da Vinci die Herkunft der „geistigen Kraft“ des Samens im Gehirn vermutete, während die Hoden nur die stoffliche Grundlage für die „niederen Regungen“ beitragen.
=== Strukturelle Erforschung ===
Erst mit Beginn der Aufklärung im 17. Jahrhundert wurden die Vorstellungen vom männlichen Samen entmystifiziert und der direkte Zusammenhang zwischen Hoden und Fortpflanzung erkannt. Die erste moderne Beschreibung des Aufbaus des Hodens stammt von Reinier de Graaf (1641–1673). Nathaniel Highmore beschrieb 1651 den Bindegewebskörper des Hodens (Corpus Highmori), der 1830 von Astley Paston Cooper Mediastinum testis genannt wurde. Der Erfinder des Mikroskops, Antoni van Leeuwenhoek, entdeckte 1677 damit auch die Spermien, die er für miniaturisierte vorgebildete Lebewesen („Samentiere“) hielt.
Mit der Entwicklung histologischer Techniken konnte auch der Feinbau des Hodens aufgeklärt werden. 1841 erkannte der Schweizer Anatom Albert von Koelliker erstmals den direkten Zusammenhang zwischen Hodenkanälchen und Spermien und deckte auf, dass die Spermien in diesen Kanälchen als Produkte einer zellulären Differenzierung entstehen. 1850 beschrieb Köllikers Schüler Franz von Leydig erstmals die Zwischenzellen (Leydig-Zellen).
1865 entdeckte Enrico Sertoli die Stützzellen (Sertoli-Zellen). 1871 gelang es Victor Ebner, die Sertoli-Zellen von den Spermatogonien abzugrenzen und fünf Jahre später prägte La Valette St. George den Begriff „Spermatogonie“ und die noch heute übliche Einteilung der einzelnen Entwicklungsstadien der Samenzellen. Die Sertoli-Zellen wurden sehr lange als Synzitien betrachtet, erst 1956 konnten Don W. Fawcett und Mario H. Burgos nachweisen, dass jede Sertoli-Zelle eigene Zellgrenzen hat.
Bereits 1904 erkannte Hugo Ribbert, dass in das Blut verabreichtes Karmin nicht in das Lumen der Samenkanälchen und das Hodennetz gelangt. Dieser Entdeckung wurde lange Zeit keine Bedeutung zugemessen, obwohl sie der erste Nachweis der Blut-Hoden-Schranke war. Erst in den späten 1950er Jahren wurde diese Erkenntnis wieder aufgegriffen und 1963 gelang J. Brökelmann der Nachweis der Tight junctions der Sertoli-Zellen als der morphologischen Grundlage der Blut-Hoden-Schranke. Paul J. Gardner und Edward A. Holyoke konnten ein Jahr später die Feinstruktur der Blut-Hoden-Schranke aufklären.
=== Hormone ===
Obwohl die Auswirkungen von Kastrationen seit Jahrtausenden bekannt waren, gelang erst 1849 Arnold Adolph Berthold mittels Hodentransplantationen bei Hähnen der experimentelle Nachweis der Hormonbildung im Hoden. In hohem Alter unternahm Charles-Édouard Brown-Séquard Ende des 19. Jahrhunderts Selbstversuche mit Flüssigkeit aus Hoden von Hunden und Meerschweinchen, denen er eine verjüngende und stärkende Kraft zuschrieb, allerdings waren es eher homöopathische Hormonmengen, die er auf diese Weise gewann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt die Transplantation von Tierhoden unter die Bauchdecke als Verjüngungsmittel, insbesondere die Wiener Robert Lichtenstern und Eugen Steinach waren Protagonisten dieser Methode. Steinach wollte diesen Verjüngungsprozess auch durch Unterbindung der Samenleiter erreichen (sein berühmtester Patient war Sigmund Freud) und beschrieb die Hodentransplantation als „Therapie“ bei Homosexualität. Nach 1945 kamen diese umstrittenen Xenotransplantationen aus der Mode.1903 publizierten Pol Bouin und Paul Ancel erstmals die Erkenntnis, dass die Leydig-Zellen der Bildungsort der männlichen Geschlechtshormone sind. 1931 isolierten Adolf Butenandt und Kurt Tscherning Androsteron (ein Metabolit des Testosterons) aus Urin von Männern, 1935 konnte Ernst Laqueur das Testosteron selbst aus Stierhoden isolieren und prägte auch den Namen dieses Hormons (von testis „Hoden“ und „Steroid“).Die Existenz nichtsteroidaler Hormone im Hoden wurde bereits in den 1920er Jahren postuliert, aber erst 1932 von D. Roy McCullagh an kastrierten Ratten funktionell nachgewiesen und Inhibin genannt. Obwohl in den 1960er Jahren Bioassays für dieses Hormon entwickelt wurden, war dessen Existenz über einige Jahrzehnte umstritten und wurde erst 1979 allgemein akzeptiert. 1984/85 wurden die Struktur und die Untertypen des Hormons aufgedeckt. Mit der Aufklärung der das Hormon codierenden DNA-Sequenz wurde 1985 auch die Zugehörigkeit des Inhibins zur Gruppe der β-transforming-growth-factors erkannt.
Während die Beziehungen zwischen LH und Testosteron bereits in den 1960er Jahren bekannt waren, wurde die FSH-Abhängigkeit der Sertoli-Zellen erst 1984 durch Joanne M. Orth bewiesen.
=== Geschlechtsdifferenzierung ===
Die chromosomale Basis der Geschlechtsdifferenzierung wurde bereits zwischen 1910 und 1916, vor allem durch die Arbeiten von Thomas Hunt Morgan an Taufliegen aufgeklärt, wofür er 1933 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin bekam. Alfred Jost erkannte 1947, dass die Keimdrüsenanlage primär auf das weibliche Geschlecht determiniert ist und die Ausprägung des männlichen Geschlechts abhängig von Testosteron ist. Dennoch dauerte es bis in die frühen 1960er Jahre, bis das Y-Chromosom als maßgeblicher Faktor bei Säugetieren identifiziert wurde. Die genaue Lokalisation des Gens für den Hoden-determinierenden Faktor wurde erst 1990 ermittelt, seine vielfältigen Funktionen sind noch nicht im Detail bekannt und Gegenstand aktueller Forschung.
== Entwicklungsstörungen und Erkrankungen ==
Verletzungen des Hodens kommen beim Menschen als stumpfe Traumen vor allem bei Kampfsportarten und Schlägereien vor. Hier besteht die Gefahr der Einblutung unter die Hodenkapsel (Hämatozele), die in der Regel einer chirurgischen Versorgung bedarf. Verletzungen mit Eröffnung des Hodensacks (Stich- und Pfählungswunden, bei Tieren auch Bisse, Stacheldraht usw.) können Hodenentzündungen (s. u.) oder gar Abszesse verursachen, infolge der offenen Verbindung des Scheidenhautfortsatzes zur Bauchhöhle auch eine Bauchfellentzündung.
Kavaliersschmerzen, welche nach sexueller Erregung ohne folgende Ejakulation auftreten, sind nicht unbedingt eine Krankheit und meist kein Grund zur Sorge.
=== Fehlbildungen ===
Als Anorchie bezeichnet man das Fehlen beider Hoden, ist nur ein Hoden ausgebildet spricht man von einer Monorchie. Etwa 5 % der wegen eines ausbleibenden Hodenabstiegs operierten männlichen Kinder haben nur einen oder keinen Hoden. Bei ihnen findet man häufig kleine bindegewebige Knoten mit eingestreuten Leydig-Zellen. Da ein funktionell intakter Hoden für die männliche Geschlechtsausprägung zwingend erforderlich ist, muss in der Embryonalphase mindestens ein intakter Hoden vorgelegen haben, der sich dann später zurückentwickelt haben kann. Kommen überzählige Hoden, also mehr als zwei Hoden vor, nennt man dies Polyorchidie.
In seltenen Fällen können infolge von Entwicklungsstörungen auch beim Menschen und bei anderen Säugetieren neben Hoden gleichzeitig Eierstöcke auftreten (Hermaphroditismus verus – „echte“ Zwitter; siehe auch Intersexualität). Bei bestimmten Keimdrüsenfehlentwicklungen (Gonadendysgenesien) werden die Hoden nicht angelegt, bleiben unterentwickelt oder enthalten Eierstockgewebe (Ovotestis).
Eine sehr seltene Fehlentwicklung stellt die Splenogonadale Fusion mit einer Verbindung zwischen Hoden- und Milzgewebe dar.
Bei Störungen der Wanderung des Hodens (Maldescensus testis) können verschiedene Lageanomalien auftreten. Dabei kann der Hoden in der Bauchhöhle verbleiben (Kryptorchismus, „Bauchhoden“), im Leistenkanal stecken bleiben („Leistenhoden“, „Gleithoden“) oder eine falsche Route nehmen und beispielsweise unter der Haut der Leistengegend oder der Oberschenkelinnenseite zu liegen kommen (Hodenektopie). Der Maldescensus testis ist eine der häufigsten Fehlbildungen beim Menschen und tritt bei 3 bis 5 % der Neugeborenen und 33 % der Frühgeborenen auf, auch bei Haustieren treten Kryptorchiden in ähnlicher Häufigkeit auf und führen zum Ausschluss von der Zucht. Bei falscher Position des Hodens können sich aufgrund der Temperaturempfindlichkeit des Keimepithels keine fruchtbaren Spermien bilden, die Androgenproduktion bleibt jedoch erhalten. Ein länger als zwei Jahre ausbleibender Hodenabstieg kann zum Verlust von Spermatogonien und damit zu unumkehrbaren Veränderungen des Hodens führen.
Erblich bedingter Kleinwuchs der Hoden (Hodenhypoplasie) ist bei Haustieren relativ häufig. Hodenhypoplasien können auch durch Chromosomenstörungen (Klinefelter-Syndrom), Infektionen oder hormonelle Störungen verursacht werden.
Eine abnormale Vergrößerung der Hoden wird als Makroorchidie bezeichnet.
=== Hodenentzündung ===
Eine Hodenentzündung (Orchitis) kann bei Verletzungen des Hodensacks mit Eindringen von Bakterien oder bei einigen Infektionskrankheiten auftreten. Eine Orchitis ist beim Menschen eine mögliche Komplikation bei Mumps, Coxsackie-Virus-Infektionen und Windpocken. Auch Brucellose und Tuberkulose können sich am Hoden manifestieren. Bei Tieren können ebenfalls Tuberkulose und Brucellose sowie die Pseudotuberkulose (Schafe), die Ansteckende Blutarmut der Einhufer und die feline infektiöse Anämie (Katzen) mit einer Orchiditis einhergehen. Hodenentzündungen können zu einer Schrumpfung des Hodens (Hodenatrophie) und zu Unfruchtbarkeit führen, weil gar keine (Aspermie) oder keine funktionstüchtigen Spermien mehr gebildet werden können.
=== Zirkulationsstörungen ===
Als Varikozele bezeichnet man krampfaderähnliche Erweiterungen, die vor allem die linksseitigen Venen des Plexus pampiniformis im Samenstrang betreffen. Eine Varikozele kann zu einer eingeschränkten Spermienbildung des gleichseitigen Hodens führen.
Als Hydrozele oder Wasserbruch wird die Ansammlung seröser Flüssigkeit in den Hodenhüllen bezeichnet. Daneben kann sich die Flüssigkeit auch im Samenstrang ansammeln, dieses wird dann als Hydrocele funiculi spermatici bezeichnet.
Eine Hodentorsion ist eine abnorme Drehung des Hodens, wobei die spiralförmige Abklemmung des Samenstranges und der abführenden Venen zu einem Absterben des Hodens führen kann. Eine hochgradige Hodentorsion ist ein sehr schmerzhafter Notfall, bereits nach zwei Stunden ist mit dauerhaften Schäden des Hodens zu rechnen. Auch der Appendix testis kann eine sogenannte Hydatidentorsion vollziehen.
Zirkulationsstörungen mit der Gefahr der Entstehung von Nekrosen werden auch bei Erkrankungen der Blutgefäße wie Purpura Schönlein-Henoch, Endangiitis obliterans und Panarteriitis nodosa des Menschen, Arteritis der Pferde sowie generell bei Thrombosen beobachtet.
=== Tumoren ===
Als Hodentumor wird eine krankhafte Vergrößerung des Hodens bezeichnet. Hodentumoren können gut- oder bösartig sein.
Zumeist harmlose Hodenvergrößerungen sind Zysten. Am Hoden können zwei verschiedene Zystenarten entstehen. Hydrozelen sind Aussackungen der Tunica vaginalis testis, die eine klare bernsteinfarbene Flüssigkeit enthalten. Sie entstehen durch Verletzungen oder Entzündungen. Spermatozelen gehen vom Rete testis oder dem Nebenhoden aus und enthalten Spermien. Teratome sind zumeist gutartige Tumoren der Keimzellen.
Eine sehr seltene Ursache einer Raumforderung am Hoden kann die Splenogonadale Fusion sein.
Bösartige Hodentumoren (Hodenkrebs) werden in Entartungen der Keimzellen (germinale Hodentumoren: Seminome) und Nichtseminome untergliedert. Entartungen der Keimzellen sind die häufigste Krebserkrankung bei Männern im Alter zwischen 20 und 40 Jahren und machen etwa 90 % aller Hodentumoren aus. Den Hauptrisikofaktor stellen nicht in den Hodensack gewanderte Hoden dar. Die verbleibenden 10 % entfallen auf tumoröse Entartungen anderer Gewebsanteile (Sertoli-Zell-Tumor, Leydig-Zell-Tumor, Non-Hodgkin-Lymphom u. a.).
=== Funktionsstörungen ===
Neben den oben genannten Krankheiten können auch die Blut-Hoden-Schranke überwindende chemische Substanzen wie Umweltgifte (z. B. Cadmium), Zusätze zu Verpackungsmitteln (z. B. Phthalate, Diethylhexyladipat), einige Arzneimittel (z. B. Furazolidon) und Hormone (s. a. Endokrine Disruptoren) oder ionisierende Strahlung zu schweren Beeinträchtigungen des Epithels der Samenkanälchen führen. Da die Spermienbildung mit sehr hohen Zellteilungsraten (Mitose, Meiose) einhergeht, ist das Keimepithel gegenüber Zellgiften besonders empfindlich. Solche Schädigungen können zu mannigfaltigen Veränderungen bis zum vollständigen Fehlen der Spermien führen (siehe auch Spermiogramm).
Eine unzureichende Bildung von Androgenen wird als Hypogonadismus bezeichnet. Dieser kann angeboren sein, durch Erkrankungen des Hodens sekundär entstehen oder in einem Gonadotropin-Mangel (z. B. Unterfunktion der Hypophyse, Olfaktogenitales Syndrom) begründet sein.
== Untersuchung ==
Die Hodentastuntersuchung ist eine bei Mensch und Tieren mit Hodensack wichtige Grundlagenuntersuchung. Hier werden das Vorhandensein, Größe, Lage und Konsistenz des Hodens geprüft. Als bildgebendes Verfahren wird vor allem die Ultraschalluntersuchung angewendet. Die Bestimmung des Hodenvolumens erfolgt entweder durch Vergleich mit der sogenannten Prader-Kette oder mittels Ultraschallvermessung. Bei der Diagnostik der Hydrozele hat die Diaphanoskopie noch einen gewissen Stellenwert. Zur Entnahme von Gewebeproben kann eine Hodenbiopsie durchgeführt werden. Bei Tieren mit in der Bauchhöhle gelegenen Hoden wird neben der Ultraschalluntersuchung vor allem die Endoskopie eingesetzt.
Eine funktionelle Untersuchung ist die Erstellung eines Spermiogramms. Hier werden Anzahl, Gestalt und Beweglichkeit der Spermien beurteilt. Die Bestimmung des Gehalts von Inhibin B im Blut wird als Marker für die Sertoli-Zell-Funktion und Fruchtbarkeit genutzt, die Aussagekraft ist allerdings umstritten.
Zum Nachweis von mit bildgebenden Verfahren nicht nachweisbarem Hodengewebe kann der Leydig-Zell-Stimulationstest durchgeführt werden.
== Kastration ==
Als Kastration wird die Unterbindung der Hodenfunktion bezeichnet. Sie kann durch operative Entfernung des Hodens (Orchidektomie), Unterbindung der Hodengefäße („unblutige Kastration“), Bestrahlung oder chemische Substanzen erfolgen. Kastrationen werden beim Menschen vor allem bei Hodenkrebs durchgeführt. Chirurgisch entfernte Hoden werden aus kosmetischen Gründen meist durch eine Hodenprothese ersetzt.
Die Kastration spielt als Symbol der Entmachtung auch in der Mythologie vieler Kulturen eine Rolle (vgl. auch Kastrationsangst). In der ägyptischen Mythologie entreißt Horus seinem Kontrahenten Seth die Hoden. In der griechischen Mythologie entfernt erst Kronos seinem Vater Uranos die Hoden und wird später selbst von seinem Sohn Zeus entmannt. Zur Entsagung weltlicher Gelüste war die Selbstentmannung der Galloi (Priester) im Kybele-Kult der Phryger, der sich auch auf das antike Griechenland und Rom verbreitete, üblich, ebenso bei den Hijras in Indien. Im Judentum ist die Kastration, sowohl von Menschen als auch Tieren, dagegen strikt verboten. Im Christentum war die Kastration ebenfalls verpönt. Eunuchen durften nicht zum Priester geweiht werden, es gab jedoch Strömungen, in denen die Selbstkastration als Ritual vollzogen wurde (siehe Skopzen).
Historisch wurden auch Sklaven, Kriegsgefangene, Sänger oder die Bewacher von Harems (siehe Palasteunuch) kastriert. Die nichtmedizinisch begründete Kastration war insbesondere auf die Unterbindung der durch das Testosteron hervorgerufenen sekundären Geschlechtsmerkmale (Stimmlage, Sexualverhalten) gerichtet. Kastraten waren im europäischen Musikleben des 17. und 18. Jahrhunderts beliebt und genossen oft hohes Ansehen. Zu den berühmtesten Kastraten des 18. Jahrhunderts zählen Senesino, Farinelli, Caffarelli und Antonio Bernacchi.
Kastrierte Männer können sich nicht selbst fortpflanzen. Ähnlich wie freiwillig enthaltsam lebende Kleriker wurden sie als verlässlicher eingeschätzt und in verschiedenen Gesellschaften als Funktionäre und Diener eingesetzt. Die freiwillige Kastration von Sexualstraftätern ist in Deutschland sowie in einigen Bundesstaaten der USA noch eine, wenn auch umstrittene, Therapiemethode.
In der Tiermedizin werden Kastrationen, neben medizinischen Indikationen (Hodenkrebs, Prostata- und Analdrüsenerkrankungen), vor allem zur Vermeidung von Nachwuchs, zur besseren Handhabbarkeit von Haustieren (Wallach, Ochse), zur Erhöhung der Mastleistung und Fleischqualität, bei Hausschweinen auch zur Vermeidung des „Ebergeruchs“ des Fleisches durchgeführt. Kastrationen bei Tieren wurden vermutlich bereits zu Beginn der Jungsteinzeit durchgeführt. Die Kastration ist eine der wenigen nach dem Tierschutzgesetz (§ 6) in Deutschland heute noch erlaubten nichtmedizinisch indizierten Organentfernungen, bei sehr jungen Tieren sogar ohne Schmerzausschaltung, was allerdings nicht unumstritten ist.
== Kulturgeschichtliche Bedeutung ==
In der Japanischen Mythologie werden Tanuki, dem Marderhund ähnliche Dämonen (Yōkai), als Glücksymbol häufig mit übergroßen Hoden dargestellt. Im antiken Griechenland wurden Genitalien von Tieren, insbesondere Stieren (Taurobolium), als Opfer dargebracht. Hoden galten als Symbol der Manneskraft und auch der schöpferischen Potenz. Nach Taylor hatten sie bis in das späte 16. Jahrhundert noch eine stärkere Symbolkraft als der Penis.
=== Botanik ===
Den Pflanzen, die in ihrer Erscheinungsform männlichen Genitalien ähneln, wurde im Aberglauben eine aphrodisierende und fruchtbarkeitssteigernde Wirkung zugeschrieben. Aufgrund der Ähnlichkeit der beiden Wurzelknollen der Knabenkräuter mit den Hoden benannte sie der griechische Philosoph Theophrastos von Eresos Orchis, die griechische Bezeichnung für Hoden. Ihr Verzehr sollte angeblich der Geburt eines Knaben förderlich sein („Knabenkraut“). Orchis war später für die gesamte Familie der Orchideen namensgebend.
Der Name Avocado leitet sich von dem indianischen Wort ahuacatl (Hoden) ab, der auf die hodenähnliche Form der Frucht dieses Baumes Bezug nimmt.
=== In der Kunst ===
In der Kunst spielen Hoden, im Gegensatz zum Phallus, außerhalb der Erotik und Pornografie keine zentrale Rolle. „Blut und Hoden“, ein phonologisches Wortspiel zur Blut-und-Boden-Ideologie, wird in der Kunstkritik häufig abwertend verwendet.
Eine der Figuren in Thomas Manns Tristan ist Herr Klöterjahn („Klöten“ ist der niederdeutsche Ausdruck für Hoden, ein Symbol für Lebenstüchtigkeit und Vitalität). Im 2002 erschienenen Roman Sanningen om Sascha Knisch (dt. Titel Die Wahrheit über Sascha Knisch. 2003) des schwedischen Autors Aris Fioretos sind die Hoden das Leitmotiv. Der deutsche Film Eierdiebe thematisiert das Thema Hodenkrebs und Verlust eines Hodens.
Das Wappen des italienischen Adelshauses Colleoni aus Bergamo zeigt mehrere Paar Hoden und stellt vermutlich eine Anspielung auf coglione, eine italienische Bezeichnung für Hoden, dar. Eine Statue des Bartolomeo Colleoni mit diesem Wappen am Sockel betet die Hauptfigur im ersten Band von Heinrich Manns Romandreiteiler Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy an.
=== Als Lebensmittel ===
Hoden werden in vielen Regionen als Nahrungsmittel verarbeitet. Deutschland war das einzige Land in der EU, in dem Hoden als Lebensmittel verboten waren. Nach der EU-Verordnung Nr. 853/2004 vom 29. April 2004 gelten jedoch Hoden als einzige Geschlechtsorgane als Lebensmittel, alle anderen sind als ungeeignet zum Genuss (Konfiskate) eingestuft.
=== Sonstiges ===
Der US-Amerikaner Gregg Miller erhielt für die Entwicklung von Hodenprothesen für kastrierte Hunde 2005 den Ig-Nobelpreis für Medizin.
Volkswagen hatte im März 2006 in den USA den Golf GTI auf Plakaten mit „Turbo-Cojones“ beworben. Im Englischen steht der Begriff Cojones übertragen für Mut und Kühnheit, im Spanischen, wo cojones für „Hoden“ und umgangssprachlich für „Schneid“ oder „Mut“ steht, bedeutet die Wortkombination aber wörtlich „Turbo-Hoden“. Nach Protesten wurde die Werbeaktion zurückgezogen.
Die beutelförmigen, hühnereigroßen Drüsen (Kastorsäcke) unter dem Schambein des Bibers wurden früher auch als „Hoden“ bezeichnet.
Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols, Lied und Covertitel eines Albums der englischen Punkband Sex Pistols aus 1977. Um den Begriff Bollocs Hoden wurde wegen Obszönität prozessiert.
== Literatur ==
A. J. P. van den Brock: Gonaden und Ausführungswege. In: Bolk u. a. (Hrsg.): Handbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Band 6, Urban & Schwarzenberg, Berlin 1933, S. 1–154.
W. Busch, A. Holzmann (Hrsg.): Veterinärmedizinische Andrologie. Schattauer, Stuttgart 2001, ISBN 3-7945-1955-8.
U. Gille: Männliche Geschlechtsorgane. In: F.-V. Salomon u. a. (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. Enke, Stuttgart 2004, ISBN 3-8304-1007-7, S. 389–403.
R. Hautmann, H. Huland: Urologie. Springer, Berlin 2006, ISBN 3-540-29923-8.
H.-G. Liebich: Funktionelle Histologie der Haussäugetiere. 4. Auflage. Schattauer, Stuttgart 2003, ISBN 3-7945-2311-3.
J. D. Neill (Hrsg.): Knobil and Neill’s Physiology of Reproduction. 3. Auflage. Academic Press, Amsterdam 2005, ISBN 0-12-515400-3.
P. E. Petrides: Endokrine Funktionen IV. Hypothalamisch-hypophysäres System und Zielgewebe. In: G. Löffler, P. E. Petrides (Hrsg.): Biochemie und Pathobiochemie. 7. Auflage, Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-42295-1, S. 865–908.
U.-N. Riede u. a.: Männliches Genitalsystem. In: U.-N. Riede u. a. (Hrsg.): Allgemeine und spezielle Pathologie. Thieme, Stuttgart 1989, ISBN 3-13-683302-3, S. 768–779.
B. Vié: Testicules. Fête de paires, mythologie, les dessous, d’une curiosité culinaire, les attributs du sujet, lexique. Edition de l’Epure, Paris 2005, ISBN 2-914480-58-X (Zahlreiche Kochrezepte, angereichert mit kulturgeschichtlichen Informationen).
R. Wehner, W. Gehring: Zoologie. 23. Auflage, Thieme, Stuttgart 1995, ISBN 3-13-367423-4.
U. Welsch: Sobotta Lehrbuch Histologie. Urban & Fischer, München 2002, ISBN 3-437-42420-3.
== Weblinks ==
Differenzierung der Gonaden (Webarchiv)
Elektronenmikroskopischer Atlas des Hodens
== Einzelnachweise == | https://de.wikipedia.org/wiki/Hoden |